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ABHANDLUNGEN AUS DER NEUROLOGIE,
PSYCHIATRIE, PSYCHOLOGIE UND IHREN
GRENZGEBIETEN |
BEIHEFTE ZUR MONATSSCHRIFT FUR PSYCHIATRIE UND NEUROLOGIE
HERAUSGEGEBEN VON K. BONHOEFFER
HEFT 45
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Die wissenschaftlichen Grundlagen der
Psychoanalyse Freuds
Darstellung und Kritik
Dr. phil. et med. M. Nachmansohn
Nervenarzt in Luzern
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BERLIN 1928
VERLAG VON S. KARGER
KARLSTRASSE 39
für Abonnenten der „Monatsschrift für Psychiatrie und Neurologie“ Mk. 6,20
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Verlag von S. E in Berlin NW 6
ÜBER
PSYCHOANALYSE
EINLEITENDER VORTRAG VON
| RUDOLF ALLERS
s in Wien
| mit daran anschließender Aussprache im Verein für
angewandte Psychopathologie und Psychologie in Wien
Herausgegeben von |
| Prof. Dr. med. Dr. med. et jur. |
| ERWIN STRANSKY und BERNHARD DATTNER
1. Vorsitzender 1. Schriftführer
Lex. 8° II u. 119 S.
Mk. 3.60.
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Zeitschr. f. angewandte Psychologie: . .. Das Studium des Ruches |
vermittelt ein überaus lebendiges. farbiges Bild vom Verlaufe der Aussprache, vom
Stande der Meinungen und der Gegensätze ...... Im einzelnen wurde mancherlei |
Bedeutendes, Interessantes and Anregendes geäußert. So wird diese Veröffentlichung |
als Dokument zur Geschichte unserer Forschung auf lange hinaus wertvoll bleiben
auch dann, wenn sie später einmal sachlich und inhaltlich überholt sein sollte.
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| Jahrbücher f. Psych. u. Neur.: Zur Einführung in das Studium der
Psychoanalyse wird sich der Vortrag von Allers empfehlen, da er — bei aller
Achtung für Freud — doch die Kritik nicht außer Acht läßt, die auch dieser Methode
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Kursus der
Psychotherapie und des Hypnotismus
Von
San.-Rat Dr. Georg Flatau
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gegenüber am Platze ist.
Nervenarzt in Berlin |
Zweite durchgesehene Auflage. 175 S. 8% Geb. Mk. 5.—. |
Berl. klin. Wochenschr.: Das Buch bietet. weit inehr als der Titel erwarten |
läßt. Außer den praktischen Anweisungen gibt Verf. eine Darstellung des ge- |
samten Gebietes einschließlich der Geschichte. der psychologischen Grundlagen und :
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stellung ist Knapp, aber sehr leicht faßlieh und klar. sie wird belebt durch Bezugnahme
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ÜBER DIE AGRAPHIE|
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Von
Dr. Georg Herrmann u.a Prof. Dr. Otto Pötzl
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tiefung und Bereicherung unserer Kenntnisse auf hirnpathologischem und
lokaldiagnostischem Gebiete dar. |
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Verlag von S. KARGER in Berlin NW 6
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ABHAN DLUNGEN AUS DER NEUROLOGIE,
PSYCHIATRIE, PSYCHOLOGIE UND IHREN
GRENZGEBIETEN
BEIHEFTE ZUR MONATSSCHRIFT FUR PSYCHIATRIE UND NEUROLOGIE
HERAUSGEGEBEN VON K. BONHOEFFER
HEFT 45
Die wissenschafllichen Grundlagen der
Psychoanalyse Freuds
Darstellung und Kritik
Dr. phil. et med. M. Nachmansohn
Nervenarzt in Luzern
BERLIN 1928
VERLAG VON S. KARGER
KARLSTRASSE 39
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376970
. Alle Rechte, insbesondere das der Übersetzung
in fremde: Sprachen, vorbehalten
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Druck von Ernst Klöppel in Quedlinburg
Vorwort
Bei der wachsenden Bedeutung der Psychoanalyse und ihrer
immer umfangreicher werdenden Literatur tut Besinnung auf ihre
wissenschaftlichen Voraussetzungen not.
In dieser Schrift sollen nur die normal-psychologischen und bio-
logischen Grundlagen der Lehre Freuds dargestellt und vor allem
kritisch untersucht werden. Große Kapitel dieser Richtung, so die
ganze Psychopathologie, die geisteswissenschaftliche Betrachtungs-
weise usw. bleiben unbesprochen und können es auch bleiben, da es
an Darstellungen der Lehre ja keineswegs fehlt, und die so notwen-
dige, sachliche Kritik derselben in der Kritik der Grundlagen mit ent-
halten ist resp. leicht aus ihr entwickelt werden kann.
Luzern. den 1. September 1927.
Der Verfasser.
I. Kapitel: Die Trieblehre
a) Allgemeine Trieblehre
Darstellung: Bei der eigenartigen Persönlichkeit Freuds,
die bald von einer selten anzutreffenden Zähigkeit, bald von einer
außerordentlich geistigen Beweglichkeit ist, kann es nicht wunder-
nehmen, daß es an einer einheitlich durchgebildeten psychoanalyti-
schen Trieblehre fehlt. Immerhin lassen sich deutlich zwei Perioden
in der Entwicklung seiner Lehre unterscheiden, die auf den ersten
Blick dem Unbefangenen den Eindruck machen, als ob zwischen der
Theorie der ersten und der der zweiten Periode unüberbrückbare
Gegensätze bestünden, während der Meister selbst von ihnen be-
hauptet, daß beide Theorien zu Recht bestehen und daß die zweite
die organische Fortentwicklung der ersten ist. Um also die Theorie
der zweiten Periode, deren Beginn durch die Abhandlung „Zur Ein-
führung des Narzißmus“ markiert ist, zu verstehen, ist es notwendig,
zuerst einmal die ursprünglich von Freud vertretene Trieblehre dar-
zustellen, was auch deshalb unerläßlich ist. weil sie noch jetzt sowohl
von der engeren Schule, als von der offiziellen Psychiatrie als die
Grundlage der Psychoanalyse behandelt wird. .
Nach über zwanzigjähriger praktischer Arbeit suchte Freud in
einer Reihe von Abhandlungen, die ursprünglich unter dem Titel „Zur
Vorbereitung der Metapsychologie“ erscheinen sollten, „die Klärung
und Vertiefung der theoretischen Annahmen, die man einem psycho-
analytischen System zugrunde legen könnte“, herbeizuführen (I,
S. 339). In diesen Arbeiten, die in erster Linie der Grundlegung des
Triebbegriffes dienen, sucht er ihn zuerst von der Physiologie
aus inhaltlich zu fassen. Er subsumiert ihn unter den Begriff des
Reizes, dem im Gegensatz zu anderen Reizen folgende spezifische
Eigenschaften zukämen: 1. der Reiz muß aus dem Organismus
stammen; 2.er muß wie eine konstante Kraft wirken; 3. man kann sich
ihm nicht wie einem äußeren Reiz durch die Flucht entziehen. Ein
so charakterisierter „Reiz für das Psychische“, wie Freud sagt, sei
als Bedürfnis zu bezeichnen, das nur durch die Befriedigung auf-
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gehoben werden kann. Diese Triebauffassung sei nur unter bestimm-
ten Vorzussetzungen über das Zentralnervensystem möglich. Dessen
Funktion soll nach Freud darin bestehen, „die anlangenden Reize
wieder zu beseitigen, auf möglichst niedriges Niveau herabzudrücken
oder sich, wenn es nur möglich ist. reizlos zu erhalten“ (I, S. 255).
Den äußeren Reizen gegenüber habe dagegen das Zentralnerven-
system nur die eine Aufgabe, sich ihnen durch Muskelbewegungen zu
entziehen. Die inneren Reize lassen sich auf diese Weise nicht fern-
halten, da sie eine unvermeidliche, kontinuierliche Reizzufuhr unter-
halten. „Sie stellen somit weit höhere Anforderungen an das Zentral-
nervensystem, veranlassen es zu verwickelten, ineinander greifenden
Tätigkeiten. welche die Außenwelt so weit verändern, daß sie der
inneren Reizquelle die Befriedigung bietet und nötigen es vor allem,
auf seine ideale Absicht. der Reizfernhaltung, zu verzichten“
(I, S. 256). In den Lust- und Unlustempfindungen sieht Freud Indi-
katoren für die Art, wie die Reizbewältigung vor sich geht, „sicher-
lich in dem Sinne, daß die Unlustempfindungen mit Steigerung, die
Juustempfindungen mit Herabsetzung des Reizes zu tun hat“ (I,
S. 256).
Biologisch gesehen erscheint Freud der Trieb als ein „Grenz-
begriff zwischen Seelischem und Somatischem“, als „der psychische
Repräsentant der aus dem Körperinnern stammenden in die Seele
gelangenden Reize. als ein Maß der Arbeitsanforderung. die dem
Seelischen infolge seines Zusammenhanges mit dem Körperlichen auf-
erlegt ist“ (I, X. 257).
Nach dieser allgemeinen physiologisch-biologischen Begriffs-
bestimmung wendet sich Freud zur feineren Charakterisierung des
Triebes. Die Begriffe: Drang. Ziel. Objekt und Quelle schei-
nen ihm die Wesensmerkmale des Triebes zu sein.
DerDrang ist eine „allgemeine Eigenschaft, ja das Wesen des
Triebes überhaupt“. In ihm ist die Summe der Kraft. die der Trieb
aufwendet, psyehisch repräsentiert.
Das Ziel eines Triebes. das vom Objekt desselben streng ge-
trennt werden müsse. ist die Befriedigung, die nur durch die Auf-
hebung des Reizes an der Triebquelle erreicht werden kann. Doch ist
hervorzuheben. daß verschiedene Wege zum gleichen Endziel führen
können (etwa Onanie und Koitus) und «daß bei vielen Individuen
(vor allen latent Perversen) gewisse Triebe „zielgehenmt‘“ sein kön-
nen, d. h. nach einem gewissen Anlauf das Ziel aufgeben müssen.
Das Objekt des Triebes ist dasjenige. an welehen oder durch
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welches der Trieb sein Ziel erreichen kann. Es soll das Variabelste
am Trieb sein, nicht ursprünglich mit ihm verknüpft, sondern ihm
nur infolge seiner Eignung zur Ermöglichung der Befriedigung zu-
geordnet (1, S. 258). Es ist nicht notwendig ein fremder Gegen-
stand, sondern ebensowohl ein Teil des eigenen Körpers. Der Varia-
bilität wird durch die Fixierung des Objektes oft eine Grenze gesetzt.
d. h. gewisse Objekte können vom Trieb schon im frühesten Alter aus-
schließlich verlangt werden und sind dann durch nichts anderes er-
setzbar. Unter der Quelle des Triebes versteht man jenen somati-
schen Vorgang in einem Organ oder Körperteil, dessen Reiz im
Seelenleben durch den Trieb repräsentiert ist. Wenn auch das
Studium der Triebquellen nicht mehr in das Gebiet der Psychologie,
sondern in das der physiologischen Chemie und der inneren Sekre-
tion fällt, erblickt Freud in „der Herkunft aus der somatischen
Quelle dasschlechtweg Entscheidende fürden Trieb“,
wenn er auch im Seelenleben durch nichts anderes als durch seine
Ziele bekannt sein soll (I, S. 259).
Von Bedeutung ist es noch, daß nach Freud die Triebe psycho-
logisch alle qualitativ gleich sind und sich einerseits durch die Trieb-
quelle, andererseits durch das Ziel voneinander unterscheiden. In
der ersten Periode teilte Freud die Triebe in Selbsterhaltungs- und
Sexualtriebe ein; er betonte aber schon damals, daß die Einteilung
eine bloße Hilfskonstruktion sei, die nur solange festgehalten werden
soll, als sie sich nützlich erweist (I, S. 260).
Kritik: Die referierten Auffassungen Freuds fordern gebie-
terisch die Kritik heraus.
Der Begriff des Triebes kann nicht gut unter den des Reizes sub-
sumiert werden, da der eine die Voraussetzung des andern ist und
auch nicht partiell mit ihm identisch sein kann. Erläutern wir diesen
Unterschied etwa am Sexualtrieb. Als einer der vielen den Trieb
auslösenden Reize sei die innere Sekretion bestimmter Drüsen ge-
nannt. Fehlen infolge Kastration die inneren Reize, so entwickelt
sich auch nicht das sexuelle Triebleben, resp. wenn es schon ent-
wickelt ist, kommt dasselbe nicht zur vollen Aktion, worauf die Spät-
kastration hinweist, was auch zugleich dartut, daß die innere Sekre-
tion resp. die Einwirkung der Hormone der inneren Genitalien auf
das Zentralnervensystem nur einer der Reize zur Auslösung des
Sexualtriebes und nicht der einzige ist. Man könnte versuchen, die
Subsumierung dadurch zu rechtfertigen, daß man betont, der Trieb
sei zwar eine Reaktion auf einen Reiz, er trage aber phänomenolo-
gisch den Charakter eines Reizes; sein besonderes Spezifikum sei.
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daß er ein Reiz für das Psychische sei mit den drei genannten Charak-
teren. Doch dagegen ist zu sagen, daß die drei Charakteristika (aus
dem Organismus stammend, Konstanz und Unentziehbarkeit durch
Muskelaktion) das \Vesen sämtlicher inneren Reize treffen und folg-
lich nicht gut zur Charakterisierung bestimmter dienen können, die
als Triebe zu gelten hätten. Der Trieb wird ja mit seiner ausgiebigen
Reaktion auf den Reiz aufgehoben, während ein großer Teil der Reize
fortbestehen kann. Auf die inneren Reize, die einen Schmerz aus-
lösen und unterhalten — etwa die Druckreize eines Tumors — treffen
ja auch die genannten Charakteristika zu, deswegen ist ein solcher
innerer Reiz noch kein Trieb. Die Schmerzempfindung kann evtl.
einen Schutzreflex, der mit Recht als Äußerung eines Lebenstriebes
angesprochen werden kann, auslösen, sie kann auch einmal einen
Sexualtrieb auslösen, aber deswegen bleiben natürlich Reiz und Trieb
wesentlich voneinander geschieden.
Durch die weitere Charakterisierung ..der Trieb sei ein Reiz für
das Psychische“ ist aber noch viel weniger etwas für das Verständnis
des Triebes gewonnen. Der Begriff „Reiz für das Psychische“ ist doch
etwas höchst Schleierhaftes. Schließlich ist doch jeder Reiz ein Reiz
für das Psychische, der Retinal- so gut wie der Akustikusreiz.
Freuds Ausgangspunkt dürfte somit als falsch erwiesen sein. Der
Trieb kann eben nicht unter dem Gesichtspunkt des Reizes betrachtet
werden, sondern nur unter dem der Anlage, die auf Reize reagiert.
sich entwickelt und dazu dient. den Organismus des Individuums und
der Art zu erhalten und zu fördern.
Die von Freud gemachten Annahmen über die Aufgaben des
Zentralnervensystems, um durch sie die Tatsachen des Bedürfnisses
und der Bedürfnisbefriedigung zu erklären, lassen sich mit dem wirk-
lichen Geschehen nieht gut in Einklang bringen. Das Zentralnerven-
system strebt stets nach einem Reizoptimum und verträgt ein be-
stimmtes Reizminimum und -maximum. Von einem Streben nach
einem Reiznullpunkt, wie es Freud stets behauptet, kann keine Rede
sein. Es ist nur die richtige Folgerung aus einer falschen Prämisse,
wenn Freud jede Reizherabsetzung von Lust, jede Reizsteigerung
von Unlustgefühlen begleitet sein läßt. Diese Folgerung steht aber
trotz Fechner mit den Tatsachen im ärgsten Widerspruch. Sowohl
das eine wie das andere kann größte Unlust bringen. wenn das Reiz-
optimum über- oder unterschritten wird. Die Lust- und Unlustgefühle
sind ein wichtiger Indikator für die Annäherung resp. Entfernung
von dem Reizoptimum, nicht aber dafür. ob die Reizintensität ge-
steigert oder vermindert worden ist.
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Es ist Freud von ernstzunehmender Seite, so von Ludwig
Binswanger, hoch angerechnet worden, daB er den Trieb als
Grenzbegriff zwischen Seelischem und Somatischem auffaBt. Wir
können in dieser Formulierung leider nur eine Verschwommenheit
sehen. Sehen wir ab von der naiven Auffassung, die in der Vorstellung
von Reizen liegt, die vom Körperinnern in die Seele gelangen — man
könnte zur Not darin eine Annäherung an die vulgär-psychologische
Denkweise sehen — aber welchen Sinn soll man denn mit dem Grenz-
begriff verbinden? Ist der Trieb nach Freud der psychische
Repräsentant bestimmter Reize. ist er etwas Psychisches, d. h. ein
Erlebnis, so steht er dem Körperlichen nicht näher als ein anderes
Erlebnis auch. Alle Erlebnisse haben, abgesehen von ihrer anatomi-
schen Grundlage, körperliche Folgeerscheinungen, alle sind biolo-
gische Gegebenheiten, die ohne das Körperliche wissenschaftlich nicht
faßbar sind. Daß Denkprodukte rein geisteswissenschaftlich be-
trachtet werden müssen, soll unbestritten bleiben, das Denken im
Sinne des cögitare Descartes ist in erster Linie ein Lebensvorgang,
und als solcher ist es ein psychophysisches Geschehen und kein
Grenzbegriff zwischen Seelischem und Somatischem. Irgendwelche
Klärung ist also mit dem Terminus Grenzbegriff nicht gewonnen
worden.
Der Drang kann vielleicht als nie fehlendes psychologisches.
Aggredienz des Triebes bezeichnet werden. Als das Wesen des
Triebes kann er schon deswegen nicht angesehen werden, weil die
Triebhandlung ein biologisches Geschehen ist, das auch ohne jedes
Bewußtsein ablaufen kann: der Drang kann also durchaus fehlen, ohne
daß das Triebgeschehen, ja selbst dessen Auslösung aufgehoben wäre.
Die Unterscheidung von Objekt und Ziel des Triebes bedeutet sicher
eine feinere Nuancierung der allgemeinen Trieblehre. Es ist aber
eine offenbare Übertreibung, daß das Objekt relativ nebensächlich
sein soll. In normalen Fällen und beim Tier ist das Objekt keineswegs
variabel; selbst beim Perversen — und bei dem. oft in besonders
starrer Weise — ist das Objekt stets das Gleiche, genau wie das Ziel.
die Befriedigung, die ja durch eine bestimmte Aufeinanderfolge von
Retlexen festgelegt ist.
Es ist auch nur als eine theoretische Konstruktion zu bezeichnen.
daß alle Triebe qualitativ gleich seien. Ist der Hunger dasselbe Er-
lebnis wie der Sexualtrieb, nur daß die Triebquelle und das Objekt
verschieden sind? In der schlichten inneren Erfahrung findet diese
„metapsychologische‘‘ Behauptung gewiß keine Stütze.
Darstellung: Die zweite Periode in der Entwicklung
der Trieblehre Freuds ist bedingt durch neue Erkenntnisse. Er
machte nämlich die Erfahrung. „daß der Kranke von dem in ihm
Verdrängten nicht alles erfahren könne, vielleicht sogar das Wesent-
liche nieht. und daß er so keine Überzeugung von der Richtigkeit der
ihm mitgeteilten Konstruktion erwirbt“ (IT, S. 15). (Woher der Ana-
lytiker die Überzeugung von der Richtigkeit seiner Konstruktion
schöpft, erfahren wir allerdings auch nicht.) „Der Patient ist viel-
mehr genötigt. das Verdrängte als gegenwärtiges Erlebnis zu wieder-
holen, anstatt es. wie der Arzt es lieber sähe, als ein Stück seiner
Vergangenheit zu erinnern“ (IL, S. 15). Als eine Wiederholung in-
fantiler Erlebnisse, die nieht erinnert. sondern in der Behandlung
wiederholt werden. ohne daß sich beim Patienten auch nur der Schein
einer Erinnerung einstellt, sieht Freud es an, wenn sich der Kranke
trotzig und ungläubig gegen den Arzt benimmt, wenn er einen Haufen
verworrener Träume und Einfälle vorbringt, jammert. daß ihm nichts
gelinge usw. „Er erinnert nicht, daß er sich gewisser Sexualbestäti-
gungen intensiv geschämt, und ihre Entdeckung gefürchtet hat, son-
dern er zeigt, daß er sich der Behandlung schiimt, der er sich unter-
zogen hat und sucht diese geheim zu halten“ (I, S. 445). „Die Wieder-
holung hat immer ein Stück des infantilen Sexuallebens, also des
Ödipuskomplexes und seiner Ausläufer zum Inhalt und spielt sich
regelmäßig auf dem Gebiete der Übertragung. d. h. der Beziehung
zum Arzt ab“ (II, S. 15). Aus der Tatsache, daß auch das Unlust-
vollste wie etwa Verschüttungen. Eisenbahnunfälle usw. phantasie-
mäßig immer wieder erlebt wird, daß das Kind immer wieder die-
selben Märchen hören wolle, immer wieder dasselbe Spiel spiele und
vieles andere, zient Freud den Schluß. daß es einen „Wieder-
holungszwang“ gebe, der sich über das Lustprinzip hinwegsetzt, und
dieser Zwang erscheint ihm urspriinglicher, elementarer, triebhafter,
als das von ihm zur Seite geschobene Lustprinzip (II, S. 20), das
Lustprinzip. dem in früheren und späteren Schriften eine „all-
mächtige“ Stellung im seelischen Haushalt zugeschrieben wird.
Mit Hilfe des Begriffes des Wiederholungszwanges glaubt nun
Freud. dem allgemeinen Charakter der Triebe, vielleicht „alles
organischen Lebens überhaupt“ auf die Spur gekommen zu sein. Die
neue Einsicht lautet wörtlich: „Ein Trieb wäre also ein dem belebten
Organischen innewohnender Drang zur Wiederherstellung eines
früheren Zustandes, welches dieses Belebte unter dem Einfhisse
äußerer Störungskräfte aufgeben mußte. eine Art von organischer
Klastizität. oder wenn man will, die Äußerung der Trägheit im
En ae an
organischen Leben“ (IH, S. 34/35). „Im Phänomen der Erblichkeit
und den Tatsachen der Embryologie haben wir die großartigsten Be-
weise für den organischen Wiederholungszwang“ (II, S. 35). Aus dem
Streben nach Regression, nach Wiederherstellung des früheren leitet
Freud einen ganz neuen. bisher nicht gekannten Trieb ab: den
Todestrieb, das Streben zur Wiederherstellung des anorganischen
Zustandes, aus dem das Leben ja irgend einmal entstanden sein soll.
Wörtlich heißt es: „Das Ziel alles Lebens ist der Tod‘ (II, S. 36). Die
Selbsterhaltungstriebe sind nur „Umwege zum Tode“. Sie sind dazu
bestimmt, den Todesweg des Organismus zu sichern (II, S. 36).
Freud bemerkt aker, daß die Sexualtriebe in diese Auffassung nicht
sepreßt werden können, diese sind vielmehr die eigentlichen Lebens-
triebe und bilden den schärfsten Gegensatz zu den Todestrieben, da
sie ja das Leben fortsetzen, trotzdem das Individuum zugrunde geht.
Um aber die Tatsache, daß die Individuen im allgemeinen gar keine
Lust zum Sterben zeigen, mit seiner Theorie in Einklang zu bringen.
meint Freud. „daß es die in jeder Zelle tätigen Lebens- oder
Sexualtriebe sind, welche die anderen Zellen zum Objekt nehmen,
deren Todestriebe, d. h. die von diesen angeregten Prozesse teilweise
neutralisieren und sie am Leben erhalten“ (II, S. 49). Gewisse, noch
zu besprechende Überlegungen hatten aber inzwischen Freud ver-
anlaßt, auch die Ichtriebe zu den libidinösen zu rechnen, und um
diese Überzeugung mit seiner neuen Theorie in Einklang zu bringen.
erklärt er, „sie (die Ichtriebe) wären aus den Libidobeiträgen ab-
geleitet, mit denen die Somazellen aneinander haften“ (S. 52). Da-
mit stellt er sich auf den auch eindeutig formulierten Standpunkt, daß
sowohl die Arterhaltungs- wie die Ichtriebe libidinöser resp. sexueller
Natur sind. „Die Selbsterhaltungstriebe sind also auch libidinöser
Natur, es sind Sexuaitriebe. die anstatt der äußeren Objekte das
eigene Ich zum Objekt genommen hatten“ (Ill, S. 297). Wo bleiben
aber die Todestriebe?, auf die ja die allgemeine Definition des Triebes
überhaupt zugeschnitten ist. Selbst Freud fällt die Beantwortung
dieser Frage nicht leicht. Wie so oft hilft ihm ein „Einfall“, wie er
sagt, über die Schwierigkeit hinweg. Der Sadismus ist der Todes-
trieb! Nun richtet sich der Sadismus gar nicht gegen das eigene
Leben, wenn er sich überhaupt gegen dasselbe richtet. Doch über
diese Klippe kommt Freud mit Leichtigkeit hinweg: „Unter dem
Einfluß der narzißtischen Libido wurde er (der Sadismus) vom Ich
abgedrängt. so daß er erst am Objekt zum Vorschein kommt“
(I. S$. 53). An dieser Auffassung hat auch Freud in seiner 1926 er-
schienenen Schrift „Hemmung. Symptom und Angst“ festgehalten.
l gees
Wir dürfen sie als seine endgültige annehmen. Die jetzige Einteilung
der Triebe durch Freud sieht also so aus:
I. Lebenstriebe. II. Todestriebe.
nicht sublimierte
a) Objektlibido sublimierte a) gemilderter Sadismus
EN perverse (mit Ausnahme
des Sadismus)
b) Ichlibido = Selbsterhaltungstriebe. b) extremer Sadismus u.
noch aufzufindende
Todestriebe.
Kritik: Die Beobachtungen, die Freud zur Aufstellung des
Wiederholungszwanges veranlaßt haben, gehören so heterogenen Ge-
bieten an, daB sie sieher nicht unter einen Gesichtspunkt gebracht
werden können.
Daß Kinder ein neues Spiel oft wiederholen, ein einmal gehörtes
Märchen in genau der gleichen Fassung immer wieder hören wollen.
erklärt sich aus der biologischen Bedeutung des Spiels und der Ein-
übung. Mit dem Augenblick aber, in dem sich beim Kinde ein
stärkeres Bekanntheitsgefühl einstellt, pflegt auch oft der Reiz des
Spieles zu verfliegen, vorausgesetzt, daß das Spiel selbst nicht in sich
neue Variationen birgt. Gewiß sind Kinder darüber ungehalten, wenn
man ein bekanntes Märchen in abgeänderter Form erzählt. Der Kleine
protestiert oft mit der Bemerkung „ganz falsch“. Hier spielt aber das
Einübungsbedürfnis des Organismus die wesentliche Rolle und die
Tendenz, die mit dem Anhören wunderbarer Begebenheiten ver-
bundenen Lustgefühle immer wieder zu erleben. Das Streben nach
Gediichtnistreue, vor allem aber nach Koordination und Präzision der
Bewegungen beherrscht das Kind unermüdlich (ohne daß es sich
natürlich dieses Strebens klar bewußt ist). Wenn ein einjähriger Bub
zum erstenmal eine Treppe heraufkrabbelt, so wiederholt er dieses
Tun mit einer dem Erwachsenen unbegreiflichen Unermüdlichkeit.
er atmet und keucht und schafft im Schweiße seines Angesichts. und
wehe dem Störenfried. der auf die dumme Idee kommen sollte, ihm
zu helfen. Ein durehdringendes Gebrüll wird ihn empfangen. Er
will es halt „lein“ tun, und ist er oben, so schaut er sich stolz um
und läßt seine Heldentaten bewundern. Die Funktionslust des Er-
lernens und Einübens vital wichtiger Tätigkeiten erklärt ohne weiteres
das unermüdliche Wiederholen desselben Tuns. Von einem elementaren
Wiederholungszwang läßt sich aber nicht gut reden, denn dieses
tes -_ =
u —m——
dea, 20: ees
Wiederholen dauert ja nicht bis zum Tode an, sondern bis die Tätig-
keit voll erlernt ist, nachher verliert sich die Tendenz sehr bald, ja
es entsteht sogar eine Abneigung gegen das Wiederholen. Etwas
wesentlich davon Verschiedenes stellt aber das traumhafte Erleben
starker Emotionen dar, wie Eisenbahnunfälle u. ä. Das Verständnis
dieser Erscheinung hängt mit dem Traum- und Halluzinationsproblem
zusammen, das keineswegs die Annahme eines Wiederholungszwanges
fordert und durch die elementare Perseverationstendenz
starker Impressionen wohl die befriedigendste Erklärung findet. Die
Hypothese, daß starke emotionelle Erlebnisse, denen keine aus-
reichende Abfuhr entspricht, die Tendenz bekommen, sich im Wachen
oder Schlaf halluzinatorisch darzustellen, dürfte den Erscheinungen
zwar weniger anspruchsvoll, aber adäquater gerecht werden.
Daß der Unglaube des Pat. gegenüber analytischen Deutungen,
der Wunsch, daß niemand etwas davon wissen solle, daß er analytisch
behandelt werde, Wiederholungen des Ödipuskomplexes sein, daß sie
die Erinnerung an sexuelle Schandtaten in der Kindheit verdecken
sollen, ist eine Behauptung Freuds zur Erklärung ihm sehr un-
angenehmer Tatsachen — aber die Erinnerungen des Pat. fehlen doch
nun einmal, die Angehörigen wissen auch nichts davon — ob sich
diese „Tatsachen“ nicht als Verlegenheitskonstruktionen herausstellen
sollten?
Die Subsumierung endlich der Vererbungstatsachen unter den
Begriff des Wiederholungszwanges erscheint uns einfach als Ge-
dankenlosigkeit. Die Vererbung ist mit den Sexual- und Lebenstrieben
aufs engste verknüpft, der Wiederholungszwang soll jedoch auf den
Tod hintendieren ...
Der Wiederholungszwang steht ja übrigens nur in Beziehung zu
den Todestrieben, nicht aber zu den Lebens- und Sexualtrieben. Die
wichtigsten uns bekannten Triebe fügen sich also nicht der allgemei-
nen Definition. Es ist daher eine logische Unmöglichkeit, das Wesen
des Triebes überhaupt als Wiederholungszwang zur Wiederherstellung
eines früheren — letzten Endes anorganischen — Zustandes zu
definieren.
Der Sadismus dürfte wohl besser als Sexualtrieb bezeichnet
werden — was Freud ja sonst immer getan hat —, wenn man die
gutfundierte Hypothese vertritt, er sei als eine Abirrung der für den
geschlechtlichen Verkehr notwendigen Aggressivität aufzufassen.
Es bleibt noch übrig die Frage zu prüfen, ob vielleicht die
Postulierung von Todestrieben heuristischen Wert besitze. Als „stärk-
stes Motiv“ für das Postulat von Todestrieben nennt Freud ..die
= “EQ. a
herrschende Tendenz des Seelenlebens, vielleicht des Nervenlebens
überhaupt, das Streben nach Herabsetzung, Konstanterhaltung, Auf-
hebung der inneren Reizspannungen“. Die Formulierung des stärksten
Motivs ist von extremer Selbstwidersprochenheit. Denn Herabsetzung,
Konstanterhaltung und Aufhebung sind Begriffe, die sich einander
ausschließen und der Grundsatz aller Logik: A = A gilt wohl auch
für die analytische Forschung. Strebt das Zentralnervensystem nach
Konstanterhaltung, so kann es auch nicht zugleich.nach Aufhebung
der Reizspannungen streben. Ein Streben nach Konstanterhaltung
der Reize würde ja dem Todestrieb diametral entgegengesetzt sein.
Das stärkste Motiv, das wenigstens den heuristischen Wert des Todes-
triebpostulats begründen Könnte, ist also an seiner eigenen Selbst-
widersprochenheit zusammengebrochen. Es bleibt somit auch nicht
der Schein einer Berechtigung, von Todestrieben zu sprechen. Fallen
diese aber, dann liegt ein reiner Pansexualismus vor. Freud kennt
außer den nebulosen Todestrieben nur Sexualtriebe, von denen er
alles geistige Leben ontogenetisch ableitet. Da dieses
von Apologeten der Psychoanalyse merkwürdigerweise immer noch
bestritten wird, so sei er wörtlich zitiert: „Das, was man an einer
Minderzahl von menschlichen Individuen als rastlosen Drang zur
weiteren Vervollkommnung beobachtet, läßt sich ungezwungen als
Folge von Triebverdrängung verstehen. auf welche das Wertvollste
der menschlichen Kultur aufgebaut ist“ (Il, 8. 40). Also Verdrängung
von Sexualtrieben und Sublimierung im individuellen Leben erklären
nach Freud das rastlose Streben der menschlichen Geistesgrößen.
(Vgl. noch unsere späteren Ausführungen über die Sublimierungs-
theorie.) Eindeutiger kann wohl der Pansexualismus nicht gelehrt
werden. Daß er nieht haltbar ist. läßt sieh unschwer beweisen.
In seiner milderen Fassung besagt er, daß alle Triebkraft ursprüng-
lich sexueller Natur war, von der ein Teil im Laufe der phylogeneti-
schen Entwicklung desexualisiert worden ist. so daß die höher
organisierten Lebewesen schon mit desexualisierten Trieben zur Welt
kommen. In der von Freud bevorzugten strengen Form aber besagt
der Pansexualismus in Anlehnung an das biogenetische Grundgesetz.
daß die Libido im extrauterinen Leben den DesexualisierungsprozeB
durehmache, und daß sich auch das individuelle Geistesleben als
sublimierte Sexualität erweisen lasse. Während die mildere Fassung
(Jung) die Frage stellt. was früher war: das Ei oder das Huhn, und
ein unlösbares Problem aufwirft, steht die extreme Fassung mit den
banalsten empirischen Beobachtungen und inneren Erfahrungen im
äresten Widerspruch.
2 l
b) Spezielle Trieblehre
Darstellung: Die allgemeine Trieblehre Freuds hat sich
als in allen Punkten unhaltbar erwiesen. Nichtsdestoweniger könnte
seine spezielle Lehre, die selbst von nichtanalytischer Seite als grund-
legend dargestellt worden ist, fruchtbarere Gesichtspunkte aufweisen.
Sehen wir zu, ob das der Fall ist.
Der Sexualtrieb, jetzt mit Vorliebe Objektlibido genanri, bildete
zwanzig Jahre die fast einzige Arbeitsdomäne Freuds. Seine
Theorie stellt in der Tat ein unerhörtes Novum dar, das keine Vor-
läufer hat. Solche Nova, die traditionslos dem Gehirn eines einzigen
entspringen, müssen mit Recht mit besonderer Skepsis aufgenommen
werden. da die Wissenschaft sich nun einmal organisch entwickelt.
GewiB können neue, bisher unbekannte Gesetze entdeckt werden —
man denke etwa an die Mendelschen Vererbungsgesetze —, nie-
mals sind aber naturwissenschaftliche Gesetze, die nur durch Beob-
achtung und Experiment gefunden werden können, durch gedankliche
Konstruktionen entdeckt worden. Die Freudschen Nova sind aber,
wie der Meister immer wieder betont. von ihm nicht beobachtet, son-
dern „konstruiert“ worden. Allerdings behauptet er, daß seine Kon-
struktionen nachher durch die Beobachtung bestätigt worden sind.
Die Entstehungsweise seiner Theorie fordert jedenfalls größte Skepsis,
eine genaue Nachprüfung seiner angeblichen Beobachtungen ist un-
erlaBlich, falls man zur so einflußreichen Theorie Stellung nehmen will.
Sie läßt sich durch die folgenden Begriffe schlagwortartig kenn-
zeichnen:
1. Infantile und Säuglingssexualität.
2. Sexuelle Komponenten oder Partialtriebe.
3. Sublimierungsfähigkeit der Sexualität.
4. Endgültige Struktur unter dem Primat der Genitalien.
Mit diesen Schlagworten sind auch zugleich die Neuerungen be-
zeichnet, die Freud in die Sexuallehre, soweit sie die Objektlibido
betrifft, eingeführt hat.
Der erste und wichtigste Punkt. mit dem die Theorie steht und
fällt, ist aus den Analysen Erwachsener erschlossen, oder wie Freud
selber sagt, „konstruiert“ worden. Dabei ist zu beachten, dab die
Konstruktionen von den Patienten nicht bestätigt werden konnten.
Freud scheint selbst gefühlt zu haben. daß diese Methodik nicht ein-
wandfrei ist. Er freute sich deshalb sehr, als ein Schüler von ihm
Gelegenheit bekam. sein eigenes Kind auf dessen Sexualäußerungen
hin zu untersuchen. Auch andere seiner Schüler veröffentlichten nun
— 12 —
Beobachtungen über sexuelle Äußerungen von Kindern, und alle be-
stätigten unter lebhafter Genugtuung der psychoanalytischen Kreise
die Konstruktionen des Meisters, dessen geniale psychologische
Intuitionen den Leistungen eines Copernicus, Galileı, Dar-
win usw. gleichgesetzt wurden, in erster Linie von Freud selbst.
Was ist nun von Freud theoretisch postuliert, was ist durch die
Analyse der Kinder bestätigt worden?
Nach den im Jahre 1905 zum ersten Male veröffentlichten „Drei
Abhandlungen zur Sexualtheorie“ bringt der Neugeborene „Keime
von sexuellen Regungen mit, die sich aber erst um das dritte oder
vierte Lebensjahr in einer der Beobachtung zugänglichen Form zum
Ausdruck bringen“ (III, S. 42). In seinen 1916 gehaltenen Vor-
lesungen heißt es deutlicher, daß „das Kind von allem Anfang an ein
deutliches Sexualleben habe, das sich durch fünf Charakteristika von
dem des Erwachsenen unterscheide 1. durch das Hinwegsetzen über
die Artschranke (Kluft zwischen Mensch und Tier), 2. durch Über-
schreitung der Ekelschranke (Koprophilie), 3. durch Überschreitung
der Inzestschranke, 4. durch die Bisexualität. 5. durch die Über-
tragung der Genitalrolle auf andere Organe und Körperteile‘
(IV, S. 232).
Die Säuglingssexualität äußert sich vom ersten Tage der (Geburt
an im Ludeln und Lutschen. Das Motiv. darin ein sexuelles Phänomen
zu sehen, gewinnt Freud aus der angeblichen Tatsache, daB das
Ludeln nach der Sättigung stattfinden soll (was übrigens gar nicht
stimmt. Manche Kinder lutschen am stärksten. wenn sie Hunger
haben und schlafen nach dem Essen bald ein). Das Ludeln trete also
unabhängig von der Nahrungsaufnahme auf und diene nur der Lust-
bereitung (womit aber nach gewöhnlicher Auffassung noch nicht be-
wiesen ist, daß diese Lust sexueller Natur ist). Die Erfahrungen an
Erwachsenen aber seien es vor allem, die zum Sehluß drängen, das
Ludeln müsse sexueller Natur sein (Ill. S. 46). Leider sind aber mit
Ausnahme einer sehr anfechtbaren Veröffentlichung Galants. die
wohl die lustbetonte, aber nicht sexuelle Lutsehsucht eines erwachse-
nen Mädchens schildert. nirgends in der analytischen Literatur die
behaupteten Zusammenhänge zwischen Lutschen und späterer Neurose
aufgedeckt worden. so daß eine Nachprüfung nieht möglich ist. Doch
genügt ja nach Freud schon die bloße Beobachtung, um das Lut-
schen des Säuglings als sexuelle Handlung zu erweisen. „Das Wonne-
saugen ist mit voller Aufzehrung der Aufmerksamkeit verbunden,
führt entweder zum Einschlafen oder selbst zu einer motorischen
Reaktion in einer Art von Orgasmus“ (III, S. 47). Die sexuelle Be-
= AD. gu
tätigung des Lutschens zeigt alle wichtigen Charaktere der infantilen
Sexualität überhaupt: 1. Die Anlehnung an eine lebenswichtige
Körperfunktion, 2. die Autoerotik und 3. die Herrschaft einer sog.
erogenen Zone. Nur für die Säuglingssexualität gelten diese drei
Charakteristika streng. Mit dem 3.—4. Lebensjahre soll sich eine volle
Objektlibido herausbilden und die infantile Sexualität trage dann mit
Ausnahme der Genitalerregbarkeit alle Züge der Sexualität der Er-
wachsenen.
Eine weitere Äußerung der infantilen Sexualität spielt sich an
der After- und Urethralzone ab. Die sexuelle Erregbarkeit besonders
der Afterzone soll sehr groß sein und analerotisch veranlagte Kinder
verraten sich dadurch, „daß sie die Stuhlmassen zurückhalten, bis
dieselben durch die Anhäufung heftige Muskelkontraktionen anregen
und beim Durchgang durch den After einen starken Reiz auf die
Schleimhaut ausüben können“ (III, S. 51). Der Kot, der sich wie der
Penis der Erwachsenen benehmen soll, da er „ein Reizkörper für
eine sexuell empfindliche Schleimhautfläche ist“, wird vom Säugling
als Geschenk behandelt, das er nur den von ihm bevorzugten Personen
geben soll. Später gewinnen die Exkremente die Bedeutung des Kindes,
das nach einer infantilen Sexualtheorie „durch Essen empfangen und
durch den Darm geboren wird“ (III, S. 52). Zum Beweis dafür, daß
die Stuhlverhaltung der Kinder sexueller Natur ist, führt Freud an,
daß er auf dem Wege der Analyse Erwachsener von den Symptomen
aus über unbestreitbar sexuelles Material zu ihnen (den analeroti-
schen Lustbetätigungen) gekommen sei (IV, S. 372). Daraus leitet er
das Recht ab, auch die Wurzel, aus der das sexuelle Material er-
wachsen ist, zur Sexualität zu rechnen. Die Analerotik soll sich nun
besonders deutlich in den späteren neurotischen Symptomen zeigen
und selbst bestimmte Charaktereigenschaften zur Folge haben. So
sollen bei Leuten, „die in der Kindheit verhältnismäßig lange dazu
gebraucht haben, bis sie der infantilen ineontiventia alvi Herr ge-
worden sind und sich von ihren Geschwistern erinnern, daß „diese
mit dem Kot allerlei unziemliche Beschäftigungen vorgenommen
haben‘ — bei solchen Leuten sollen sich nun drei Charaktereigen-
schaften entwickeln, die als Verdrängungs- und Kompensations-
erscheinungen der verpönten Analerotik aufzufassen sind, nämlich:
Ordentlichkeit, Sparsamkeit und Eigensinn. Als weiteren Hinweis
darauf, daß es Analerotik gibt, bringt Freud die Tatsache, daß
manche Homosexuelle per anum verkehren, und daß auch im hetero-
sexuellen Verkehr der After von manchen Perversen bevorzugt wird.
Endlich soll jeder Säugling masturbieren.
Nachmansohn, Die wissenschaftlichen Grundlagen der Psychoanalyse Freuds. Abh.H.45, >
— 12 —
Beobachtungen tiber sexuelle AuBerungen von Kindern, und alle be-
stätigten unter lebhafter Genugtuung der psychoanalytischen Kreise
die Konstruktionen des Meisters, dessen geniale psychologische
Intuitionen den Leistungen eines Copernicus, Galileı, Dar-
win usw. gleichgesetzt wurden, in erster Linie von Freud selbst.
Was ist nun von Freud theoretisch postuliert, was ist durch die
Analyse der Kinder bestätigt worden?
Nach den im Jahre 1905 zum ersten Male veröffentlichten „Drei
Abhandlungen zur Sexualtheorie“ bringt der Neugeborene „Keime
von sexuellen Regungen mit, die sich aber erst um das dritte oder
vierte Lebensjahr in einer der Beobachtung zugänglichen Form zum
Ausdruck bringen“ (III, S. 42). In seinen 1916 gehaltenen Vor-
lesungen heißt es deutlicher, daß „das Kind von allem Anfang an ein
deutliches Sexualleben habe, das sich durch fünf Charakteristika von
dem des Erwachsenen unterscheide 1. durch das Hinwegsetzen über
die Artschranke (Kluft zwischen Mensch und Tier), 2. durch Über-
schreitung der Ekelschranke (Koprophilie), 3. durch Überschreitung
der Inzestschranke, 4. durch die Bisexualität. 5. durch die Über-
tragung der Genitalrolle auf andere Organe und Körperteile“
(IV, S. 232).
Die Säuglingssexualität äußert sich vom ersten Tage der Geburt
an im Ludeln und Lutschen. Das Motiv, darin ein sexuelles Phänomen
zu sehen, gewinnt Freud aus der angeblichen Tatsache, daß das
Ludeln nach der Sättigung stattfinden soll (was übrigens gar nicht
stimmt. Manche Kinder lutschen am stärksten. wenn sie Hunger
haben und schlafen nach dem Essen bald ein). Das Ludeln trete also
unabhängig von der Nahrungsaufnahme auf und diene nur der Lust-
bereitung (womit aber nach gewöhnlicher Auffassung noch nicht be-
wiesen ist, daß diese Lust sexueller Natur ist). Die Erfahrungen an
Erwachsenen aber seien es vor allem, die zum Schluß drängen, das
Ludeln müsse sexueller Natur sein (IlI. S. 46). Leider sind aber mit
Ausnahme einer sehr anfechtbaren Veröffentlichung Galants. die
wohl die lustbetonte, aber nicht sexuelle Lutschsucht eines erwachse-
nen Mädchens schildert. nirgends in der analytischen Literatur die
behaupteten Zusammenhänge zwischen Lutschen und späterer Neurose
aufgedeckt worden, so daß eine Nachprüfung nicht möglich ist. Doch
genügt ja nach Freud schon die bloße Beobachtung, um das Lut-
schen des Säuglings als sexuelle Handlung zu erweisen. „Das Wonne-
saugen ist mit voller Aufzehrung der Aufmerksamkeit verbunden.
führt entweder zum Einschlafen oder selbst zu einer motorischen
Reaktion in einer Art von Orgasmus“ (IH. S. 47). Die sexuelle Be-
u A
tätigung des Lutschens zeigt alle wichtigen Charaktere der infantilen
Sexualität überhaupt: 1. Die Anlehnung an eine lebenswichtige
Körperfunktion, 2. die Autoerotik und 3. die Herrschaft einer sog.
erogenen Zone. Nur für die Säuglingssexualität gelten diese drei
Charakteristika streng. Mit dem 3.—4. Lebensjahre soll sich eine volle
Objektlibido herausbilden und die infantile Sexualität trage dann mit
Ausnahme der Genitalerregbarkeit alle Züge der Sexualität der Er-
wachsenen.
Eine weitere Äußerung der infantilen Sexualität spielt sich an
der After- und Urethralzone ab. Die sexuelle Erregbarkeit besonders
der Afterzone soll sehr groß sein und analerotisch veranlagte Kinder
verraten sich dadurch, „daß sie die Stuhlmassen zurückhalten, bis
dieselben durch die Anhäufung heftige Muskelkontraktionen anregen
und beim Durchgang durch den After einen starken Reiz auf die
Schleimhaut ausüben können“ (III, S. 51). Der Kot, der sich wie der
Penis der Erwachsenen benehmen soll, da er „ein Reizkörper für
eine sexuell empfindliche Schleimhautfläche ist“, wird vom Säugling
als Geschenk behandelt, das er nur den von ihm bevorzugten Personen
geben soll. Später gewinnen die Exkremente die Bedeutung des Kindes,
das nach einer infantilen Sexualtheorie „durch Essen empfangen und
durch den Darm geboren wird“ (III, S. 52). Zum Beweis dafür, daß
die Stuhlverhaltung der Kinder sexueller Natur ist, führt Freud an,
daß er auf dem Wege der Analyse Erwachsener von den Symptomen
aus über unbestreitbar sexuelles Material zu ihnen (den analeroti-
schen Lustbetätigungen) gekommen sei (IV, S. 372). Daraus leitet er
das Recht ab, auch die Wurzel, aus der das sexuelle Material er-
wachsen ist, zur Sexualität zu rechnen. Die Analerotik soll sich nun
_ besonders deutlich in den späteren neurotischen Symptomen zeigen
und selbst bestimmte Charaktereigenschaften zur Folge haben. So
sollen bei Leuten, „die in der Kindheit verhältnismäßig lange dazu
gebraucht haben. bis sie der infantilen ineontiventia alvi Herr ge-
worden sind und sich von ihren Geschwistern erinnern, daß „diese
mit dem Kot allerlei unziemliche Beschäftigungen vorgenommen
haben“ — bei solchen Leuten sollen sich nun drei Charaktereigen-
schaften entwickeln, die als Verdrängungs- und Kompensations-
erscheinungen der verpönten Analerotik aufzufassen sind, nämlich:
Ordentlichkeit, Sparsamkeit und Eigensinn. Als weiteren Hinweis
darauf, daß es Analerotik gibt, bringt Freud die Tatsache, daß
manche Homosexuelle per anum verkehren, und daß auch im hetero-
sexuellen Verkehr der After von manchen Perversen bevorzugt wird.
Endlich soll jeder Säugling masturbieren.
Nachmansohn, Die wissenschaftlichen Grundlagen der Psychoanalyse Freuds. Abh.H.45. 2
ae YA 2:
Kritik: Von den fünf Charakteristika sind die ersten zwei über-
hanpt nicht begründet. Daß das Kind sich über die Artschranke
zwischen Mensch und Tier bei seiner Sexualbetätigung hinwegsetzt,
erscheint uns einfach als eine durch nichts gerechtfertigte ungeheuer-
liche Behauptung. Die „Koprophilie“ des normalen Kindes, die zu-
weilen beobachtet werden kann, indem man ein Kind mit seinen
eigenen Exkrementen spielend antrifft. trägt aber durchaus keinen
sexuellen Charakter, abgesehen davon, daß die Beschäftigung
mit dem Kot doch relativ selten ist und manche Kinder schon mit
einem Jahr einen ausgesprochenen Ekel davor an den Tag legen. Auf
die übrigen Punkte werden wir in späterem Zusammenhange ein-
gehen.
Die Gründe, die nach Freud für die sexuelle Natur des Ludelns
sprechen sollen, halten einer ernsteren Kritik nicht stand. Die biolo-
vische Bedeutung des Lutschens, die vielleicht einiges Licht auf das
spezifisch Triebhafte dieser Erscheinung hätte werfen können, ist uns
völlig unbekannt. Die Beobachtung hat die wenigsten, auch die-
jenigen, die der Analyse wohlwollend gegenüberstehen, im Lutschen
eine Art Orgasmus sehen lassen. So ganz eindeutig dürfte also der
Gesichtsausdruck des Säuglings nieht sein. Auch aus den Analysen
Erwachsener habe ich persönlich niemals auch nur mit einer gewissen
Wahrscheinlichkeit die sexuelle Natur des Ludelns erschließen können.
Und selbst wenn es schon wahr sein sollte, daß das Ludeln nur der
Lustbereitung dient, so könnte seine Subsumierung unter die sexuellen
Handlungen nur unter der Voraussetzung geschehen, daß jede Lust,
die nieht aus der Stillung des Hungers entspringt, sexueller Natur sei:
Diese Auffassung, die sich ausdrücklich zwar nirgends ausgesprochen
findet, aber wohl aus der allgemeinen Trieblehre Freuds notwendig `
ableiten läßt. steht aber mit den empirischen Tatsachen im krassesten
Widerspruch. Der Säugling freut sich, wenn er satt ist, am Licht, an
Tönen, am Versteckspiel und an tausend anderen harmlosen Dingen.
Liegt hier auch sexuelle Lust vor? Gewiß bereitet das Lutschen dem
Säugling Lust — aber warum sollen wir denn glauben, daß hier die
Sexualität mit im Spiele ist?
Das gleiche wie von der Oralzone gilt von der sexuellen Bedeu-
tung der Afterzone. Ob die Kinder den Stuhl aus erotischen Gründen
zurückhalten, ob sie die Exkremente als Geschenke und etwas später
als Kinder ansehen, erscheint uns einfach undiskutierbar. Kinder von
einem Jahre, die sich besehmutzen, zeigen nicht gerade große Freude
über die ihnen selbst gemachten „Geschenke“, sondern fühlen sich
meist sehr unbehaglich dabei, was keineswegs etwa auf Furcht vor
= MH ve
Strafe zurückgeführt werden kann. Daß mit der Defäkationstätigkeit
eine gewisse Lust verbunden ist, soll ja gar nicht bestritten werden.
Sie zeigt sich natürlich bei Kindern deutlicher als bei Erwachsenen.
denen sie selbstverständlich auch nicht fremd ist. Doch daß diese
Lust. sexueller Natur ist. ist damit noch nicht bewiesen. Bei der
relativen Schamlosigkeit der Kleinen sollte die sexuelle Natur der
Defäkationslust doch leicht zu beobachten sein. Selbst erfahrenste
Kinderkenner haben nichts davon gefunden und Freud selber hat
sich nie die Mühe genommen, Kinder zu analysieren, ja nur zu be-
obachten, jedenfalls nicht zur Zeit, als er seine Theorie niederschrieb.
Was seine Schüler unter dem Einfluß seiner Lehren gefunden, darauf
werden wir später noch ausführlich einzugehen haben.
Freud sucht die Säuglingssexualität biologisch verständlich zu
machen. indem er darauf hinweist, daß der Keim, aus dem die
Sexualität entstehe, ja auch sexueller Natur sein müsse. Wenn also
aus der Lust an der analen Reizung später sexuelles Erleben hervor-
gehe, so müsse auch die Ursprungsquelle als sexuell bezeichnet wer-
den. So zweifle ja auch niemand, daß der Keimling des Apfels sich
von dem der Bohne unterscheide, wenn auch der Unterschied nicht
wahrgenommen werden könne. Selbst wenn es auch richtig sein
sollte, daß aus der infantilen Lust an der Reizung der Analschleim-
haut sexuelles Erleben hervorgehen sollte, so wäre die Berufung auf
den ontogenetisehen Ursprung doch unhaltbar. Denn wollte man mit
diesem Gedanken ernst machen, so müßte man alles, was etwa aus
dem Ektoderm entsteht, mit dem gleichen Namen benennen. Die all-
gemeine Vitalität, die ursprünglich undifferenzierten Lust- und Un-
lustgefühle sind eben noch nicht sexuell; erst mit dem Erwachen und
der Ausbildung der spezifischen Funktionen, die mit der inneren
Sekretion, mit der vollen Ausbildung des Nervensystems in innigster
Verbindung stehen, entwickeln sich auch die spezifischen Erlebnisse,
die unter den Begriff der Sexualität subsumiert werden. Daß die
Funktionen unter pathologischen Umständen recht früh auftreten
können, ist eine ganz andere Frage. Es ist aber bisher von Freud
gar nicht bewiesen worden, daß die Reizung der analen Schleimhaut
durch die Kotstange (= Penis) später zu spezifisch sexuellem Erleben
führt. Sind denn Sparsamkeit, Eigensinn und übertriebene Ordnungs-
liebe sexuelle Eigenschaften, selbst wenn man schon zugeben wollte,
daß sie ala Kompensationserscheinungen der infantilen übermäßigen
Unsauberkeit aufzufassen sind, was aber noch zu beweisen ist. Daß
die Zwischenstufen der Entwicklung sexuelle waren, wie Freud
meint, ist auch nicht andeutungsweise plausibel gemacht worden. Ja
9#
ais AG
noch mehr: Freud selbst schreibt im Jahre 1916, also nach mehr
als zwanzigjähriger psychoanalytiseher Forschungsarbeit: „Man sollte
meinen, es könne an Material für die Beantwortung dieser Frage nicht
fehlen, da die betreffenden Vorgänge von Entwicklung und Um-
setzung sich bei allen Personen vollzogen haben müssen, die Gegen-
stand der analytischen Untersuchung werden. Allein dieses Material
ist so undurchsichtig, die Fülle von immer wiederkehrenden Ein-
drücken wirkt so verwirrend, daß ich auch heute noch keine voll-
ständige Lösung des Problems geben kann“ (IV, S. 141). |
Daß gewisse Homosexuelle — ganz gewiß nur eine Minderheit —
durch den Verkehr per anum in große sexuelle Erregung geraten, be-
weist doch nur, daß ihr genital-sexueller Trieb auf diese Weise am
stärksten gereizt. werden kann, nicht aber daß die Analschleimhaut
als solche sexuell erregt wird. Beim Kinde fehlt ja nach Freud in
normalen Fällen die Genitalerregbarkeit und für die oft wieder-
kehrende Behauptung, daß zu jener Zeit die Analschleimhaut die
Rolle der Genitalien spiele, liegt auch nicht der Schein eines Beweises
vor. Nicht die Reizung der analen Schleimhaut als solche bereitet ja
dem Homosexuellen Lust, sondern die durch diese Reizung hervor-
gerufene genital-sexuelle Erregung. Fehlt diese, so lehnt er auch die
Reizung der analen Schleimhaut ab.
Und dennoch läßt sich nicht bestreiten, daß die Analgegend mit
der Sexualität in enger Beziehung steht, der wohl auch die Lehre von
der sog. Analerotik ihren Ursprung dankt. Es ist eine altbekannte
Tatsache, die zuerst wohl durch die Bekenntnisse Rousseaus
literarisch belegt worden ist: daß frühreife neurotische Kinder dureh
Prügel ad nates nudos in- sexuelle Erregung geraten und dabei sogar
Erektionen bekommen können. Man kann ferner anamnestisch un-
schwer eruieren, daß sadistisch veranlagte Leute dem Gresäße des
sexuellen Partners ein besonderes Interesse entgegenbringen und
dureh den Anblick resp. durch die Reizung «dieses Körperteils stark
sexuell erregt werden. Diese Leute pflegen in der Kindheit oft ver-
prügelt worden zu sein und haben, als durch die schmerzliche Reizung
der nates der sexuelle Trieb in ihnen vorzeitig geweckt wurde, auch
oft halb unbewußt die Prügel provoziert. Die späteren sadistischen
Praktiken, seien sie rein phantasiemäßig beim Onanieren vorgestellt.
seien sie praktisch durchgeführt. gleichen, oft bis aufs Haar, dem Ge-
schehen in der Kindheit. Jede Prostituierte hat auf diesem Gebiete
reichliche Erfahrungen. Diese Tatsachen aber beweisen nur. daß bei
neurotischen Kindern die Sexualität durch fehlerhafte pädagogische
Maßnahmen vorzeitig geweckt werden kann. und daß die frühesten
as. I, ee
Jugendeindrücke von grundlegender Bedeutung für die spätere
Neurose sind. Eine Analerotik deswegen zu postulieren, d. h. eine
Erotik, die an der Analschleimhaut haftet, und unabhängig von
der Genitalität ihr Wesen treibt, dazu liegt aber nach dem bisher
Eruierten kein Grund vor. Woher Freud weiß, daß alle Säuglinge
masturbieren, da er doch gar keine beobachtet hat, sagt er uns nicht.
Die offizielle Säuglingswissenschaft hat eine solche Behauptung auch
nicht aufgestellt.
Darstellung: Nach Ablauf des ersten Jahres soll die Sexuali-
tät in die Latenz treten, um mit dem 3.—4. Lebensjahr wieder zu
erscheinen. Um diese Zeit „zeigt das Sexualleben des Kindes viel
Übereinstimmung mit dem der Erwachsenen“ (IV, S. 374). Die
Sexualität dieser sog. zweiten Phase, auch die prägenitale ge-
nannt, ist von der der Erwachsenen durch den Mangel einer festen
Organisation unter dem Primat der Genitalien und durch die „un-
vermeidlichen Züge der Perversion“ verschieden. Diese multiple Per-
version ist nach Freud eine absolute Notwendigkeit, da die Genital-
aktivität fehlt und nach ihm mit Recht jede Sexualbetätigung, die
nicht letzten Endes den Geschlechtsakt erstrebt oder zur Folge hat,
pervers ist. Die kindliche prigenitale Sexualität ist also ex-
definitione, als prägenitale, eine perverse. „Im Vordergrund der-
selben stehen die sadistischen und analen Partialtriebe“ (IV, S. 375).
„Es fehlt den Trieben dieser Phase nicht an Objekten, aber diese
Objekte fallen nicht notwendig zu einem Objekt zusammen“ (IV,
5. 375). Das ist so zu verstehen, daß die Objekte auch unabhängig
von der Persönlichkeit erstrebt werden, wie etwa der Fetischist den
weiblichen Schuh als solchen liebt. So sind nach Freud Brustwarze
und Genitalien deseigenen Körpers prädestinierte Stellen für
das Wonnesaugen! (III, S. 49). Hat Freud jemals ein Kind beob-
achtet, das an seinen eigenen Brustwarzen oder Genitalien
wonnesaugt? Wer solche Behauptungen in der 4. Auflage eines seiner
grundlegenden Bücher stehen läßt, braucht sich wahrlich nicht zu
wundern, daß die Wissenschaft seinen übrigen Aufstellungen zum
mindesten sehr kritisch gegenübersteht.
Doch schon früh beginnt das Kind eine bestimmte Persönlichkeit
als Sexualobjekt zu wählen. Das gefundene Objekt erweist sich „als
fast identisch mit dem ersten durch Anlehnung gewonnenen Objekt
des oralen Lusttriebes. Es ist, wenn auch nicht die Mutterbrust, so
doch die Mutter“ (IV, S. 375). (Und die armen Flaschenkinder?)
Diese Liebe zur Mutter hat für den Knaben die bedeutsamsten Folgen.
Er beginnt bald zu erkennen resp. zu fühlen, daß der Vater ein ernster
— 18 —
Rivale ist, und fängt an, ihn zu hassen und ihm den Tod zu wünschen.
Dieser Haß richtet sich aber auch gegen Geschwister, mit denen er
sich in der Liebe der Mutter teilen muß. So entsteht im Drei- bis
Vierjährigen ein schwerer Konflikt, der dadurch besonders verstärkt
wird. daß der Kleine vom Vater auch sehr abhängig und gegen dessen
evtl. Züchtigung machtlos ist. Alles dies weckt eine Ambi-, besser
noch Polyvalenz der Gefühle. Er haßt, fürchtet und liebt den Vater
zu gleicher Zeit. Furcht und Liebe verdrängen aber den Haß, der
nun im Unbewußten sich weiterentwickelt und sich in Träumen und
Symptomhandlungen äußert. Diese postulierte Entwicklung ist mit
biologischer Notwendigkeit allen Kindern gemeinsam. Der Unter-
schied zwischen den Erkrankten und den Gesundgebliebenen besteht
darin, daß die einen den Haß überwinden, resp. sublimieren, während
die anderen unter Hinzutritt auxiliirer Momente an ihm erkranken.
Der Ödipuskomplex fehlt auch keiner Neurose, ja er kann gar nicht
fehlen, er ist der Grundkomplex jeder Neurose. Nach Freud liegt
hier ein biologisch-psychologisches Geschehen vor, dessen Bedeutung
nicht nur für den einzelnen, sondern auch für die ganze Menschheit
gar nicht hoch genug eingeschätzt werden kann, und es war für ihn
von großer Bedeutung, als er in der Ödipussage eine völkerpsycholo-
gische Parallele zu dieser gesetzmäßigen menschlichen Entwickelung
gefunden zu haben glaubte.
Doch abgesehen von der Ödipussage: die „direkte Beobachtung“
soll den Ödipuskomplex leicht feststellen können. „Nun, man sieht
leicht, daß der kleine Mann die Mutter für sich allein haben will, die
Anwesenheit des Vaters als störend empfindet, unwillig wird, wenn
dieser sich Zärtlichkeiten gegen die Mutter erlaubt, seine Zufrieden-
heit äußert, wenn der Vater verreist oder abwesend ist“ (IV, S. 380).
Er verspricht sogar manchmal, die Mutter zu heiraten. Im Zusammen-
halt mit noch unverhüllteren erotischen Äußerungen des Kindes
glaubt Freud an der sexuellen Natur dieser Erscheinungen nicht
zweifeln zu dürfen. Diese sind: „Unverhüllte sexuelle Neugierde des
Knaben für die Mutter, Verführungsversuche, das Verlangen, nachts
bei ihr zu schlafen, gesuchte Anwesenheit bei ihrer Toilette, endlich
Bevorzugung des Vaters durch die Tochter und der Mutter durch den
Sohn.“ Freud findet es als eines der größten Rätsel, daß die
Menschheit vor ihm alle diese grobsexuellen Äußerungen übersehen
und sich in die Idee der sexuellen Reinheit des Kindes verbohren
konnte.
Besonders charakteristisch für die infantile Sexualität sollen ihre
„Quellen“ sein, worunter in diesem Zusammenhange die Reize zu ver-
— 19 =
stehen sind, die eine sexuelle Erregung beim Kinde auslösen. „Unter
diesen heben wir vor allem die Temperaturreize hervor; vielleicht
wird auch so unser Verständnis für die therapeutische Wirkung
warmer Bäder (!) vorbereitet“ (III, S. 65), ferner: Rhythmische und
mechanische Erschütterungen des Körpers, also Schaukeln, Wiegen.
Eisenbahnfahren. Doch die Reihe ist noch nicht zu Ende: Muskel-
titigkeit, Affektvorgänge, intellektuelle Arbeit, bei der es unver-
kennbar sein soll, „daß die Konzentration der Aufmerksamkeit auf
eine intellektuelle Leistung und geistige Anspannung überhaupt eine
sexuelle Miterregung zur Folge hat“ (III, S. 67).
= Wegen des Fehlens der Genitalerregbarkeit aber treten in dieser
Phase die sog. erogenen Zonen hervor, die sich wie „Ersatzgenitalien‘
benehmen, d. h. die Erregung, die nach der Pubertät an den Geni-
talien auftritt, tritt, psychologisch qualitativ gleich, an den erogenen
Zonen auf. Diese sind „Haut oder Schleimhautstellen, an denen
Reizungen von bestimmter Art eine Lustempfindung von bestimmter
Qualität hervorrufen“. „Die erogenen Eigenschaften können einzel-
nen Körperstellen in besonderer Weise anhaften, doch ist die Erogeni-
tät allen Körperstellen und inneren*) Organen zuzusprechen“
(III, S. 49, Anm.). Vor allem sind es aber die Organe der Nahrungs-
aufnahme und Exkretion, die zu Trägern der Sexualerregung werden
können. Wird das Kind nun an diesen Stellen gereizt, so treten je
nach der Art des Reizes, je nach der Empfänglichkeit des Organs an
den erogenen Zonen Empfindungen auf, die identisch sind mit den
sexuellen Empfindungen an den Genitalien in der Nachpubertätszeit.
So reizt die Kotstange die Afterschleimhaut wie der Penis die Vagi-
nalschleimhaut. Diese Behauptung stammt von Freud.
Kritik: Um uns nicht in Einzelheiten zu verlieren, wollen wir
nur die Begriffe der erogenen Zonen, der Partialtriebe, der sexuellen
Quellen und des Ödipuskomplexes einer Kritik unterziehen. Alles
übrige steht oder fällt mit ihnen.
Alle diese Aufstellungen sind nur möglich geworden dadurch, daß
Freud es strikte ablehnt, eine Definition der Sexualität zu geben,
ein Vorgehen, das in der Wissenschaft einfach unerhört ist. Nach
seiner pansexualistischen Einstellung ist es aber erlaubt, zu behaup-
ten, daß für ihn jede Lust entweder ich- oder objektlibidinös ist,
wobei für ihn Libido „der dynamische Ausdruck für Sexualität‘ ist.
Nun, von diesem Standpunkt ist die Behauptung, daß das Kind ein
starkes Sexualleben habe, wahrlich eine lächerliche Banalität. Für
die Erweiterung des Sexualbegriffes gibt Freud als Grund an. daß
*) Von uns unterstrichen.
nur bei seiner Fassung erstens die infantile und zweitens die perverse
Sexualität verständlich wird und vor allem dıesem Begriff subsumiert
werden kann. Einerseits liegt hier eine logische Erschleichung
primitivster Art vor, andererseits eine unberechtigte Behauptung.
Wenn Freud Sexual- und Lustgefühl identifiziert, dann braucht er
auf seine „galileische‘‘ Entdeckung der infantilen Sexualität wirklich
nicht stolz zu sein. Denn daß das Kind Lustgefühle hat, haben wir
armen Sterblichen auch vor ihm gewußt. Hier zeigt sich so recht. die
Notwendigkeit eines Kriteriums der Sexualität, sonst muß jede Dis-
kusion ins Lächerliche ausarten. Freud beruft sich auf seine ana-
lytischen Erfahrungen an Erwachsenen, die die Annahme einer in-
fantilen Sexualität erheischen. Doch sind diese Erfahrungen, wie
Freud selbst sagt, Konstruktionen. Denen kommt aber nur dann
beweisender Wert zu, wenn sie durch die Erfahrung bestätigt werden.
Fehlt aber ein Kriterium der Sexualität resp. wird jedes Lustgefühl
zu ihr gerechnet, dann wird die Beobachtung zwar zu einem positiven
Resultat führen; dieses wird aber nur für den Gläubigen beweisenden
Wert haben. Die Wissenschaft kann aber mit Resultaten, die auf
Grund undefinierter Begriffe gewonnen sind, nichts anfangen. Doch
de facto kennt Freud zum mindesten in der Periode bis 1916 sehr
wohl ein Spezifikum der Sexualität. Wenn er auch die Zärtlichkeit
des Knaben zur Mutter usw. evtl. auch als Äußerung des infantilen
Egoismus gelten lassen will, sein Interesse für deren Genitalien
scheint ihm als spezifisches Merkmal unbestreitbar. Hiermit gibt er
aber doch bis zu einem gewissen Grade zu, daß die Hauptsache an der
Sexualität ihre Beziehung zurGenitalität, wennauch nicht immer
zuden Genitalien, ist. Ohne diese Beziehung verliert der Begriff der
Sexualität Jeden Sinn und Halt und fällt mit jedem Lustgefühl, ja mit
dem Gefühlsleben überhaupt zusammen. Nicht der Begriff der Fort-
pflanzung ist für den der Sexualität unentbehrlich — darin ist Freud
ohne weiteres recht zu geben. Er rennt damit aber offene Türen ein,
denn niemand hat seine Unentbehrlichkeit behauptet. Stets wurde
z. B. der Sadismus zur Sexualität gerechnet, obwohl er mit der Fort-
pflanzung nichts zu tun hat, falls er in klassischer Form auftritt.
Wohl aber darf der Begriff der Genitalität als differentia specifica in
der Definition der Sexualität nicht fehlen. Mit der Fassung Freuds,
die diese Beziehung fallen läßt, haben wir weder für das Verständ-
nis der infantilen noch für das der perversen Sexualität etwas ge-
wonnen. Denn für das Infantile fehlt uns jedes Kriterium, daß das
als sexuell bezeichnete Erleben auch ein solches sei und dem Perver-
sen darf die Beziehung zur Genitalität auch nicht fehlen und tut es
=D ae
auch bei Freud nicht. Der Sadist kommt genau so wie der Normale
in einen genital-sexuellen Orgasmus, und um dieses Orgasmus willen
nimmt er die perverse Handlung vor. Ohne diese Beziehung würde
man gar nicht berechtigt sein, von einem sexuellen Erleben zu
sprechen.
Um wenigstens irgendeinen Hinweis zu geben, was er denn unter
Sexualität versteht, erklärt Freud, Sexualität sei für ihn gleich-
bedeutend mit dem deutschen Wort Liebe im weitesten Sinne. Diese
Identifizierung wird von ihm entwicklungsgeschichtlich gerechtfertigt.
Nie zeigt aber einen erschreckenden Mangel an psychologischer Nuan-
cierung und ist genau so berechtigt, wie wenn man Haut und Zentral-
nervensystem mit demselben Namen bezeichnen wollte, weil sie vom
selben Keimblatt abstainmen. Dabei ist noch die entwicklungs-
geschichtliche Begründung von höchster Unwahrscheinlichkeit. Brut-
ptlegeinstinkt, Herdeninstinkt und Sexualinstinkt treten in der Tier-
welt durchaus unabhängig voneinander auf, oft sogar auf verschie-
dene Geschlechter verteilt. Auf den Menschen angewandt würde sich
mit einer gewissen Berechtigung der Schluß ergeben, daß Elternliebe,
soziale Hingebung und erotische Liebe etwas ursprünglich gegebenes
ist und besondere, von Fall zu Fall variierende Anlagen sind. Die
Identifizierung von Liebe und Sexualität wäre also auch entwick-
lungsgeschichtlich unhaltbar. Doch in praxi läßt Freud gar nicht
die Beziehung zur Genitalität fallen, bezeichnet er doch die erogenen
Zonen, die in der Vorpubertätszeit die alleinigen Träger der Sexualität
sein müssen, als Ersatzgenitalien und die Erregung derselben soll
(immer?) mit der sexuellen Erregung qualitativ gleich sein.
Mit dem Hilfsbegriff der erogenen Zonen steht
und fällt die Konzeption Freuds von derinfantilen
Sexualität. Mit seiner Hilfe kann Freud bei der Definition der
Sexualität auf die Beziehung zur Genitalität verzichten. Die eroge-
nen Zonen sollen, wie wir gehört haben, bestimmte Haut- oder
Schleimhautstellen sein. Zu den erogenen Zonen gehören nun auch
sämtliche inneren Organe, die als Ganze erotisiert werden sollen.
Damit stimmt zwar die zitierte Definition nicht überein, die noch
mehr an Präzision verliert, wenn man bedenkt, daß die gesamte Haut-
oberfläche zur erogenen Zone erklärt ist. Der Begriff der Zone wird
etwas überflüssig, doch bleibt noch immerhin der Begriff der Erogeni-
tät, die bestimmte Körperstellen bevorzugt. Dieser hat aber bei
Freud eine eigene vom allgemeinen wissenschaftlichen Sprach-
gebrauch abweichende Bedeutung. Man sollte darunter eigentlich nur
Reizpforte verstehen. Während die Reizpforte für die visuelle Er-
regung das Auge und die optischen Bahnen sind usw. und sich das
Gesetz von den spezifischen Sinnesenergien bilden konnte, stehen der
sexuellen Erregbarkeit eine recht große Zahl von Reizpforten zur Ver-
fügung. Das Rauschen eines Damenkleides, der Anblick einer Hand,
der Geruch eines bestimmten Duftes und unendlich vieles mehr kann
erogen wirken. Sämtliche Sinne nehmen daran teil. Die Reizung
der Genitalien spielt hierbei nur in sehr seltenen Fällen eine Rolle.
Bei Freud ist aber die „erogene Zone“ durchaus nicht Reizpforte,
sondern sexuelle Zone, die in der Vorpubertätszeit Genitalfunktion
erhält. um sie nachher in normalen Fällen an die Genitalien abzu-
treten. Die Reizung der Analschleimhaut soll ja ohne Miterregung
der Genitalität eine sexuelle Empfindung auslösen. Den Beweis
aber für diese Behauptung hat Freud auch nicht andeutungsweise er-
bracht. Damit fällt aber auch die Berechtigung dahin, von erogenen
Zonen im Sinne Freuds zu sprechen. Dieser Begriff ist nur im
Sinne der Reizpforte berechtigt. Damit wäre aber wirklich nichts
Neues gesagt, denn wenn auch das Wort von Freud stammen mag,
sachlich war er aber immer bekannt. Mit dem Begriff der Reizpforte
in unserem Sinne läßt sich auch nicht eine infantile prä- resp. ageni-
tale Sexualität begründen.
Der Begriff der Partialtriebe scheint uns keineswegs berechtigter
zu sein als der der erogenen Zonen. Oral- oder Kannibal-, Anal-,
Urethral-, Haut-, Muskel-, Gesäß-, Darm- usw. Erotik sollen ursprüng-
lich einzelne voneinander unabhängige, ihr eigenes Wesen treibende
Triebe, die, ohne daß die Genitalität erregt zu werden braucht, sich
durch die Erregung der genannten Zonen äußern, aber sogar unab-
hängig von den erogenen Zonen leben können, wie viele Perver-
sionen, die von Freud auch zu den Partialtrieben gerechnet
werden. obgleich sie nicht an die erogenen Zonen gebunden zu sein
brauchen, wenn sie es auch nach analytischer Auffassung meistens
sind. So sollen z. B. Analerotik und Sadismus stets gemeinsam auf-
treten. Sehen wir hier, wo wir nur die normalen Voraussetzungen
der Lehre besprechen, von der Unhaltbarkeit ab, die Perversion als
Partialtriebe zu bezeichnen. Mit der Kritik der erogenen Zonen ist
auch die der an sie gebundenen Partialtriebe gegeben. Die Berech-
tigung ihrer Postulierung haben wir wohl mit guten Gründen bestrit-
ten, fallen sie aber dahin, dann verlieren die Partialtriebe jeden Sinn.
Sie sind Ja, genauer besehen, nichts anderes als Hypostasierungen der
erogenen Zonen. Der Begriff der Partialtriebe, den Freud in die
Sexualwissenschaft einführte, ist höchst irreführend. Der Sexual-
trieb äußert sich wohl in den verschiedensten Erscheinungsweisen. er
— 23 —
setzt sich aber nicht mosaikartig aus verschiedenen Trieben zusam-
men. Es läßt sich gar nicht gut — und das dürfte sich aus dem Vor-
hergehenden mit Stringenz ergeben haben — von einer Analerotik
sprechen, sondern doch nur von einer Erotik, die durch die Reizung
der Analschleimhaut erregt werden kann, so gut wie durch andere
Reize auch. Diese Erkenntnis ist ja nicht gerade neu und berechtigt
nicht zur Annahme von Partialtrieben. Und wollte man mit dieser
Auffassung Ernst machen, so müßte man eine unbestimmbar große
Zahl von Partialtrieben annehmen, da ja sämtliche Hautstellen, sämt-
liche inneren und äußeren Organe erogen wirken können.
Daß durch die Lehre von den Partialtrieben, die Perversionen
biologisch begreiflich werden, wie Freud behauptet, ist als falsch
leicht nachzuweisen. Sie sollen nämlich nichts anderes sein „als die
vergrößerte in ihre Einzelregungen zerlegte infantile Sexualität‘ (IV,
S. 354). Welche der Perversionen sollen nun der Anal- oder Oral-
erotik entsprechen? Für die Oralerotik, der Repräsentantin der
Säuglingssexualität, gibt Freud folgendes an: „Grade das Küssen
kann aber leicht zur vollen Perversion werden, wenn es nämlich so
intensiv ausfällt, daß sich Genitalentladung und Orgasmus direkt
daran schließen“ (IV, S. 368). Wir haben absichtlich wörtlich zitiert.
Ejaculatio praecox soll also eine Perversion sein. Nun — der Kuß
ist als solcher nicht pervers, auch wenn er infolge einer zu schlechten
Beherrschung der Genitalfunktion zu einem unerwünscht frühzeitigen
Orgasmus führt. Die vorzeitige Entladung ist aber doch nichts
triebmäßig Erstrebtes. Nur dann könnte doch von einer Perversion ge-
sprochen werden. Doch zugegeben, die ejaculatio praecox sei eine
Perversion — in rebus terminologicis gibt es ja schließlich nur Oppor-
tunitätsstreitigkeiten — so kann sie doch nicht gut als vergrößerte
Öralerotik gelten, die den Anschluß an die Sexual-
organisation unter dem Primat der Genitalien
nicht gefunden hat. Im Gegenteil, die Dominanz derselben
springt ja hier besonders in die Augen. | |
Die Analerotik soll nun den Sadismus erklären. Nun ist aber
gerade der Begriff des Sadismus, auch in der Periode vor der Lehre
vom Todestrieb, bei Freud ein höchst unklarer und schillernder. Er
ist vor allem der Aggressionstrieb, der Ausdruck der Aktivität, des
männlichen Prinzips. Er äußert sicn als Wissenstrieb, als Wille zur
Macht. Ihm fehlt der Charakter des Partialtriebes, schon weil ihm
die zugehörige erogene Zone fehlt, die ja nach Freud das Wesent-
lichste des Partialtriebes ausmacht. In dieser weiten von Freud
bevorzugten Fassung kann der Sadismus natürlich auf den infantilen
as DA a
zurückgeführt werden; aber zu diesem Zwecke ist die Postulierung
von Partialtrieben wohl überflüssig, da hier gar keine Perversion, son-
dern eine allgemeine Entwicklungstendenz charakterisiert wird. Was
aber gewöhnlich unter Sadismus verstanden wird, auf den „infantilen
Sadismus‘“ zurückzuführen, der sich im Quälen kleiner Tiere, im Zer-
stören von Gegenständen und Spielsachen u. ä. äußern soll, ergibt
auch keine Klärung des Algolagnieproblems. Dem kindlichen Tun,
dessen biologische Bedeutung von Forschern wie GroB weitgehend
verständlich gemacht ist, fehlt ex definitione jegliche Beziehung zur
Genitalität, während diese beim Sadismus im Vordergrund steht.
Tritt bei den sadistischen Manipulationen keine genitalsexuelle Er-
regung ein, so werden sie unterlassen. Und nur um dieses Zieles
wegen nimmt der Sadist sie vor.
Nun soll der kindliche Wißtrieb ein sublimierter Sadismus sein
— so behauptet es wenigstens Freud. Uns erscheint diese Behaup-
tung einfach falsch! Der Wißtrieb, der schon mit dem ersten Lebens-
jahr deutlich in die Erscheinung tritt, ist viel zu elementar und bio-
logisch in sich so gut verständlich, wie das Fliegenlernen der Vögel,
ist so sehr anlagebedingt, daß die Erklärung, er wäre sublimierter
Sadismus, gequält, und man möchte fast sagen, absurd, erscheint.
Endlich bleibt noch der sexuelle Schautrieb und der Exhibitionis-
mus, die wenn auch in Widerspruch mit der gegebenen Definition als
Partialtriebe gekennzeichnet werden. Im Alter von 3—5 Jahren be-
zeigen Kinder oft Lust, die Genitalien des anderen Geschlechtes zu
schauen und die eigenen anderen zu zeigen. Selbst wenn diese Er-
fahrung allgemein wäre, so läge keine Veranlssung vor, den Sexual-
begriff zu modifizieren. Denn am frühzeitigen Auftreten sexueller °
Äußerungen hat niemand je gezweifelt, höchstens an der Häufigkeit
der Erscheinung. Daß Freud die Häufigkeit überschätzt, wenn auch
manche andere Forscher sie unterschätzt haben, läßt sich aber auch
nicht mehr bezweifeln.
Wir haben bisher nicht den geringsten Grund gefunden von Par-
tialtrieben und erogenen Zonen zu sprechen. Nur in der Postulierung
dieser Gegebenheiten bestand das Neue der psychoanalytischen
Sexualtheorie, nicht aber, wie es auch oft von Analytikern behauptet
wird, in der Aufzeigung infantiler Sexualität. Das Neue bestand in
der Annahme von Partialtrieben, die unabhängigvonder Ge-
nitalität, an erogenen Zonen sich betätigen. Nur unter dieser
Voraussetzung konte von einer gesetzmäßigen Säuglings- und infan-
tilen Sexualität gesprochen werden.. Der Verzicht auf die Beziehung
zur Genitalität hat sich aber als verhängnisvoll erwiesen. Er hat zu-
— 3 —
letzt dazu geführt. Libido und Lebenstriebe, ja psychophysische
Energie überhaupt zu identifizieren und den Sexualbegriff ins absolut
Uferlose auszudehnen.
Die Lehre von den Quellen der Sexualität fordert nicht notwen-
dig die Annahme von Partialtrieben. Wenn es wahr wäre, dab warme
Bäder, Schaukeln, Turnen, geistige Arbeit, Affekte usw. Reize für die
infantile Sexualität. wären, so müßte das arme Wesen sich dauernd in
sexueller Erregtheit befinden. Und dabei soll ja gerade nach Freud
die frustrane Erregung so schädlich sein. Gewiß macht Buben und
Mädels das Schaukeln und Springen, Klettern und Ringen Lust und
Freude — aber ganz gewiß nicht, weil sie dadurch sexuell erregt wer-
den, sondern weil auf diese Weise unerledigte aber gewiß nicht
sexuelle Kräfte befreit und eine rhythmisch koordinierte Abfuhr er-
fahren. Darin und in tausend anderen Dingen besteht die vitale Be-
deutung des tierischen und menschlichen Spiels, nicht aber in einer
sexuellen — und notwendig frustranen Erregung.
Die völkerpsychologische Parallele, die in der Ödipussage vorlie-
gen soll. läßt sich auch nicht für die Existenz einer infantilen Sexu-
alität verwerten. Der reife Ödipus hat ja seine Mutter geheiratet,
womit also doch höchstens angedeutet sein kann, daß die erwachte
Sexualität als erstes Objekt die Mutter wählt, aber durch die Inzest-
scheu daran gehindert wird. und daß die Überschreitung der Inzest-
schranke von stärksten Schuldgefiihlen begleitet ist, nicht aber, daß
der Drei- bis Vierjährige ein Inzestverlangen verspürt. Ganz eindeutig
wird aber diese Behauptung von Freud aufgestellt. „Der Odipuskom-
plex bot dem Kinde zwei Möglichkeiten der Befriedigung, eine aktive
und eine passive. Es konnte sieh in männlicher Weise an die Stelle des
Vaters setzen und wie er mit der Mutter verkehren, wobei der Vater
bald als Hindernis empfunden wurde, oder es konnte die Mutter er-
setzen und sich vom Vater lieben lassen, wobei die Mutter überflüssig
wurde. Worin der befriedigende Liebesverkehr bestehe, darüber
mochte das Kind nur sehr unbestimmte Vorstellungen haben — ge-
wiß spielte aber der Penis dabei eine Rolle. denn dies bezeugen
seine Organgefühle‘“ (V, S. 284).
Nach diesen aus den letzten Jahren stammenden Äußerungen
läßt sich an der genital-sexuellen Natur des Odipuskomplexes nicht
zweifeln. Wenn die Lehre vom Ödipuskomplex ihre Berechtigung hat,
sO kann ihr wissenschaftlicher und praktischer Wert gar nicht hoch
genug angeschlagen werden. Spielt sich wirklich ein solcher Konflikt
im infantilen Seelenleben ab, der gemischt ist aus sexuellem Begehren.
sexueller Eifersucht und erotischem Haß. so wäre es ohne weiteres
a Di
verständlich. daß der Charakter. das spätere Liebesleben, die Gatten-
wahl und die Ehegestaltung von diesem Erleben aufs stärkste beein-
flußt werden. Die Lehre vom Odipuskomplex setzt so wenig wie die
von den Sexualquellen, eine neue Sexualtheorie voraus und läßt sich
immanent prüfen. Nehmen wir zuerst das Wertvolle voraus. Die
ersten gefühlsmäßigen Beziehungen zwischen Eltern und Kindern sind
gewiß von der nachhaltigsten Bedeutung für die Gestaltung des
Charakters und die seelische Gesamtentwicklung. Es ist auch richtig.
daß besonders innige Beziehungen zwischen Mutter und Kind die In-
zestscheu wecken können, daß Ehezerwürfnis in der Familie in Gegen-
wart jüngerer Kinder in bestimmter Weise deren spätere Gattenwahl
und Ehegestaltung beeintlussen, daß unbewußte Beziehungen und Ver-
gleiche der Frau mit der Mutter et. viceversa gestiftet werden, und daß
die Analyse manches dazu beigetragen hat, im einzelnen Falle feinere
Zusammenhänge zwischen frühestem Familienleben und späterem Liebes-
leben aufzudecken. So ganz neu sind aber diese Erkenntnisse nicht,
jedenfalls nicht in dieser allgemeinen Fassung. Jeder Deutschlehrer hat
uns gelehrt, wie wichtig die Kenntnis der Kindheit eines Dichters ist.
um sein späteres Erleben und Dichten zu verstehen. Das besondere ist
aber, wie wir gesehen haben, die grobsexuelle Beziehung des
Kindes zu den Eltern als gesetzmäßige Entwicklungserscheinung. Das
war ja das unerhörte Novum, das die so wenig wissenschaftliche
Opposition gegen Freud auslöste. Die Kritik kann daher eigentlich
nur an diesem rein analytischen Gut ansetzen. Da die Lehre vom
Ödipuskomplex im Mittelpunkt des ganzen Systems steht, ist es bei
der großen Bedeutung der Analyse von unbedingter Notwendigkeit.
sie empirisch nachzuprüfen. Hier haben sich die von Freud so viel
berufenen nackten und direkten Beobachtungen zu bewähren. Diese
sind niedergelegt in der Abhandlung Freuds „Analyse der Phobie
eines fünfjährigen Knaben‘, welche 1909 erschienen und von Meister
und Schülern als Markstein bezeichnet worden ist, weil hier die
_Antizipationen und Konstruktionen an der schlichtesten Beobachtung
ihre Bestätigung gefunden haben sollen.
Darstellung: Der kleine Patient — Hans genannt — stammt von
Eltern ab, die beide zum engern Schülerkreis Freuds gehören, und ihren
Sohn nach psychoanalvtischen Grundsätzen erzogen. Dieser kleine aufge-
weckte Bub zeigte auch zur Zeit. da er gesund war, ein auffallendes Interesse
für seinen Wiwimacher (Penis) und fragte sogar einmal seine Mutter, ob sie
auch einen Wiwimacher habe. Alle Erscheinungen, die entfernt ans Urinieren
erinnerten, wie etwa das Melken einer Kuh, das Herauslassen des Wassers
aus einer Lokomotive, riefen in ihm den Gedanken an den Wiwimacher wach,
und er stellte entsprechende Fragen. Mit 3% Jahren findet ihn die Mutter,
a NOT ga
die Hand am Penis haltend, und verweist ihm das barsch mit der Drohung.
ihm würde, falls sie ihn noch einmal so treffe, der Penis abgeschnitten (was
übrigens sehr unanalytisch war). Doch meinte der Kleine gemütlich, dann
würde er mit dem Popo Wiwi machen. Er hat dabei, wie ausdrücklich an-
gegeben wird, gar keine Angst vor der von ihm nicht ernst genommenen
Drohung, dennoch behauptet Freud, daß er bei dieser Gelegenheit den
Kastrationskomplex erworben habe.
Zu diesen und ähnlichen „autoerotischen“ gesellten sich noch ein Heer
von angeblich objekterotischen Äußerungen. Er „verliebt“ sich in ein zehn-
jähriges Mädchen, küßt, wenn er mit Knaben und Mädchen zusammen kommt,
diese promiscue ab, was aber sehr selten geschieht, sagt sogar einmal zu
einem fünfjährigen Cousin, „ich hab dich lieb“, wozu Freud die ernst ge-
meinte Bemerkung macht: „Es ist dies der erste, aber nicht der letzte Zug
von Homosexualität, den wir bei Hans begegnen.“ Mit einem 14jährigen
Maried] will er sogar schlafen und ihretwegen seine erste große, angeblich in
höchster Blüte stehende Liebe, seine schöne Mutter, verlassen.
Dieser kleine Hans erlebte nun als 3%jähriger Junge einen Pferdeunfall,
hei dem ein großes Lastwagenpferd hinfiel und vor den Augen des Knaben
mit den Beinen um sich schlug. Im Anschluß an dieses nicht geringe
Schreckerlebnis hatte er Angst vor Pferden, vor allem vor Lastwagenpferden.
Er muß bei deren Anblick immer daran denken, so ein Pferd könne wieder
hinfallen und vor seinen Augen mit den Beinen Krawall machen. Nun
wohnte er unglücklicherweise genau gegenüber einem großen Güterhaus in
Wien, so daß wochentags ununterbrochen große Güterwagen vorüberfuhren
und immer wieder im Kleinen die erlebte Angst weckten, so daß er nicht
dazu zu bewegen war, selbst an der Hand des Vaters über die Straße zu
gehen, wenn ein Lastwagen vorüberfuhr. Nach einigen Monaten verschwand
diese Furcht, ob unter dem Einfluß der Behandlung, wie Freud meint, bleibe
dahingestellt.
Lag hier wirklich eine Phobie vor? Die Angst war gut verständ-
lich, sie trat nur vor vorüberfahrenden Pferden auf, und das lange
Andauern erklärt sich gut aus der unglücklichen Lage der elterlichen
Wohnung. Die Labilität und geringe Resistenzfähigkeit der kind-
lichen Zentralnervensysteme, das leichte Auftreten von angstvollen
Fluchtreflexen in diesem Alter lassen die Struktur dieser Neurose gut
verstehen. Sie ist übrigens sehr häufig und heilt immer auch
von selbst.
Was finden aber Meister und Schüler bei der Analyse dieser
„Phobie‘“?
Freud gibt allerdings selber zu, daß die Aussagen von Hans
nicht naiv erfolgt sind, „es muß ihm zu vieles gesagt werden, was er
selbst nicht zu sagen weiß, es müssen ihm Gedanken eingegeben wer-
den, von dem sich bisher nichts bei ihm gezeigt hat, es muß seine
Aufmerksamkeit die Einstellung nach jener Richtung erfahren, von
der her der Vater das Kommende erwartet“. Diese
— 2 —
Worte stammen von Freud! Selbst das Interesse für den Wiwi-
macher war nach Freud von den Eltern gezüchter worden. „In-
dessen müssen wir uns sagen, daß es die Eltern waren, welche aus
dem im Hans wirksamen Material das Thema der Beschäftigung mit
dem Wiwimacher hervorgeholt haben“ (VI, S. 100). Mit dieser
methodologischen Einstellung läßt sich aus einem Fünfjährigen noch
viel Wunderbareres eruieren. Jede weitere Diskussion über das
methodologische Vorgehen muß ja zu Banalitäten führen. So ergab
denn auch die Analyse folgendes:
Der in höchster Ausbildung begritfene Ödipuskomplex ist die
letzte und tiefste Ursache der Phobie. „Hans ist wirklich ein kleiner
Ödipus. der den Vater weg, beseitigt haben möchte, um mit der
schönen Mutter allein zu sein, bei ihr zu schlafen“ (VI, S. 93). Diese
Behauptung stellt Freud deswegen auf, weil Hans sich vor allem
während seiner Angstperiode gern zur Mutter ins Bett nehmen ließ.
wogegen der Vater aus pädagogischen Erwägungen protestierte.
Hans wünschte nun, es möge doch so sein, wie in Schönbrunn, wo der
Vater abwesend war, so daß die Mutter ihn ungehindert ins Bett
nehmen konnte. Er kommt aber auch (bei seiner Bisexualität kein
Wunder) gern zum Papa ins Bett, den er innig liebt und nach dem
bekannten Ambivalenzgesetz tödlich haßt. Nun ist die Angst für
Freud verständlich: „Der Zusammenhang ist der, daß das Pferd
(der Vater) ihn beißen werde, wegen seines Wunsches, daß er (der
Vater) umfallen möge“ (VI. 5. 39). Trotz seiner Jugend, trotz der
Äterlichen und professoralen Autoritäten sträubt sich Hans, diese
eingegebenen Gedanken zu akzeptieren. Er gibt naiv an, daß er den
Vater lieb habe. daß er nie von ihm geziichtigt worden sei: er steht
zu ihm in kameradschaftlichem Verhältnis — aber hier werden wir
auf das Unbewußte des Kindes verwiesen. in dem sieh die Haß- und
Todeswünsche abspielen sollen. Dafür werden auch „Beweise“ er-
bracht. Haus erzählt dem Vater, er habe sich vorgestellt. er und der
apa hätten in der Bahn eine Fensterseheibe zerschlagen und malt
sich ergötzlich den Spektakel aus. (Vielleicht hat der Knabe einer
ähnlichen Szene beigewohnt, jedenfalls ist niehts weiter über die Ent-
stehung der Phantasie in Erfahrung gebracht worden.) Ein anderes
Mal erzählt er. daß er in Schönbrunn in einem geschlossenen Raum
war. Näheres erfahren wir auch nicht. Freud bemerkt dazu wört-
lich: „Das Verständnis der beiden verbrecherischen Phantasien
bietet uns keine Schwierigkeiten. Sie gehören zum Komplex des
Besitzergreifens von der Mutter. In dem Kinde ringt es wie eine
Ahnung von etwas. was er mit der Mutter machen könnte. womit die
— 9 —
Besitzergreifung vollzogen werde und er findet für das Unfaßbare ge-
wisse bildliche Vertretungen, denen das Gewaltsame, Verbotene ge-
meinsam ist. Wir können nur sagen, es sind symbolische
Koitusphantasien und es ist keineswegs nebensächlich, daß
der Vater dabei mittut. Ich möchte mit der Mama etwas tun, etwas
Verbotenes, ich weiß nicht was, aber ich weiß, du tust es auch“ (VI,
S. 102). Für den anderen Teil der Ödipusphantasie, den Todeswunseh
gegen den Vater, bringt Freud folgenden Beweis: Als der Vater.
während Hans mit seinem Pferdchen spielt, ihn unaufhörlich damit
quält, er möchte doch sagen, ob er ihm nicht doch den Tod gewünscht
habe, wodurch seine Angst entstanden sei, verneint Hans diese Mög-
lichkeit und dem Anscheine nach mit bestem Gewissen, aber dem
psychoanalytisch geschulten Blick des Vaters entgeht nicht eine
„Fehlhandlung‘“ Hansens: „Durch eine andere wie zufällig erfolgende
Symptomhandlung gibt er zu, daß er den Vater tot gewünscht. hat,
indem er ein Pferd, mit dem er spielt, umfallen läßt, d. h. umwirft in
dem Moment, da der Vater von diesem Todeswunsche spricht“
(VI, S. 109). Sein gesamter Odipuskomplex wird durch das im folgen-
den genannte Spiel Hansens für Freud unzweideutig symbolisiert.
Der Knabe steckte einer Gummipuppe, der am Kopf das Blech-
pfeifehen fehlte, ein kleines Taschenmesserchen durch die so ent-
standene Öffnung, riß der auch an den Oberschenkeln defekten Puppe
die Beine auseinander und freute sich sehr, wenn das Messerchen
unten herausfiel. Das soll nun „eine unzweideutige Symptomhandlung
sein, womit Hans der Umgebung leicht verhiillt zeigen will, wie er
sich eine Geburt vorstellt, aber wenn wir genauer zusehen, zeigt er
noch mehr, deutet auf etwas hin, was in der Analyse nicht mehr zur
Sprache kommt. Durch die runde Lücke im Gummileibe seiner Puppe
steckt er ein kleines Messerchen, das der Mama*) (Hört, hört!
Der Verf.) gehört und läßt es wieder herausfallen, indem er die Beine
auseinanderreißt‘“ (VI, S. 108).
Aus dem verdrängten Haß und Todeswunsch gegen den Vater
soll nun im Anschluß an das Unfallerlebnis, dem aber Freud nur
eine nebensächliche Bedeutung zuschreibt, die „Phobie‘ entstanden.
und mit der Aufhebung des Unbewußten und seiner glücklichen Ver-
arbeitung verschwunden sein.
Kritik: Da das Interesse am Penis künstlich großgezogen
wurde, so ist es nicht weiter auffallend. Bei einem aufgeweckten
Knaben, der täglich geistig ein neues Stück Welt erobert. immer neue
*) Von Freud unterstrichen.
Nachmansohn, Die wissenschaftlichen Grundlagen der Psychoanalyse Freuds. Abh.H.45. 3
=s ee
Vergleiche anstellt, immer neue Beobachtungen macht. ist es fast
selbstverständlich, daß er den Penis oft als Vergleichsobjekt benutzt.
wenn die Eltern immer wieder dessen Aufmerksamkeit darauf hin-
lenken. Diese Vergleiche sind allen normalen Kindern gesetzmäßig
eigen. Selbst die entfernteste Ähnlichkeit mit einer Sache genügt
einem Kinde, um zwei verschiedene Dinge mit dem gleichen Namen
zu benennen. So sagte ein Kind z. B. auf Hüte, Kochtöpfe und ver-
schiedene andere Hohlräume huta = Hut (Bühler, Die geistige
Entwicklung des Kindes, 1924). Bei dem großgezüchteten Interesse
für den Penis fällt die Auffassung einer Kuheuter als Wiwimacher
nicht weiter auf. Diese Vergleiche berechtigen noch keineswegs, in
ihnen Symptome autoerotischen Interesses zu sehen. In dieser
Skepsis werden wir noch bestärkt, daß er die Kastrationsdrohung
ganz kalt hinnahm. Diese Gleichgiiltigkeit steht mit der Theorie der
Komplexbildung und der Komplexwirksamkeit in stärkstem Wider-
spruche. Nur bei Annahme einer pathologischen sexuellen Apathie
(wir reden natürlich vom analytischen Standpunkt aus) ist diese
Kälte verständlich. Denn wenn das sexuelle Interesse und der Penis
stolz wirklich so groß wären, wie es Freud bei allen Knaben dieses
Alters postuliert, so hätte Hans ein schweres psyehisches Trauma er-
leben müssen. zumal die Drohung so direkt, so in flagranti aus-
gesprochen wurde. Nichts dergleichen, weder jetzt noch später. Was
Freud zur Behauptung berechtigt, Hans hätte sich bei der Drohung
dureh die Mutter den Kastrationskomplex geholt, bleibt unerfindlieh.
Diese Annahme wäre vielleicht berechtigt, wenn der Knabe in
Angst geraten wäre.
Ob das Kind onaniert habe, scheint uns keineswegs erwiesen,
trotzdem der Vater und Freud es als selbstverständlich annehmen.
Ein Kind hält oft die Hand am Penis, genau wie er sie am großen
Zeh hält. Die Mutter hatte ein sehr ernstes Gesicht gemacht, hatte
mit Abschneiden des Gliedes gedroht. Es ist daher gar nieht wunder-
bar. daß dem Knaben eine schuldhafte Handlung suggeriert worden
ist. Doch sprechen die Frische und Munterkeit des Knaben vor und
während der Neurose sehr gegen ein tägliches, monatelanges Ona-
nieren. Selbstverständlich ist es in unserem Falle besonders gut denk-
bar, daß beim großgpezüchteten Interesse für den Penis und die Geni-
talien der Mutter die innere Sekretion der Keimdriisen auf psychi-
sehem Were vorzeitig angeregt wurde. Eine solche seelische An-
regung ist sicher möglich. Die Basedowsche Krankheit, der Diabetes
mellitus u. v. a. sprechen dafür. Aber weder ist bei Hans eine Erek-
tion. noch sonst irgend etwas beobachtet worden, was auf die Onanie
hinweisen Könnte.
Zs, i £2:
Untersuchen wir jetzt seine objekterotischen AuBerungen. Nun,
wir fühlen uns wahrlich nicht von der Fülle der neuen Beobachtungen
überwältigt. Jedes halbwegs normale Kind, das ohne Spielkameraden
aufwachsen muß, bietet ähnliche Erscheinungen. Zärtlichkeitsgefühle,
(remeinschaftsbedürfnisse sind auch vor Freud beobachtet und be-
schrieben worden.
Der Ödipuskomplex ist überhaupt nicht beobachtet
worden. Dabei sollte er ja zur Zeit der Behandlung in höchster
Blüte stehen. Keine einzige Äußerung Hansens weist auf ihn hin. Er
ist sogar bereit, die Mutter um der Mariedl willen aufzugeben, er liebt
den Vater herzlich und kameradschaftlich und das umgefallene Pferd-
chen, dessen Standfestigkeit wohl nicht allzu groß war, kann wirk-
lich nicht die direkte Beobachtung ersetzen. Bei einer Kinderanalyse
kommt es uns ja nicht auf Deutungen an, sondern einzig und allein
auf die Beobachtungen.
Kurz vor Ausbruch der „Phobie‘ trat bei Hans eine Angstneurose
auf, die sich darin äußerte, daß Hans auf der Straße plötzlich objekt-
lose Angst. zeigte, nicht weiter gehen wollte, sondern nach der Mutter
rief, um mit ihr zu „schmeicheln“. Die Angst soll nun nach Freud
verdrängter Sehnsucht nach der Mutter entsprechen. Dagegen spricht
zwar der Augenschein, denn der Junge äußerte ja die größte Sehn-
sucht, doch die Theorie fordert nun einmal diese Auffassung und so
schreibt Freud wörtlich: „Die verdrängte Libido, die verwandelt als
Angst erscheint, wirdinderVerdrängungzurückgehalten“
(VI, S. 18). Allerdings gibt Freud in einer Anmerkung den offen-
baren Widerspruch zu, sieht sich aber bis heute nicht veranlaßt, seine
Angsttheorie zum mindesten zu modifizieren. In einer seiner letzten
Schriften „Hemmung, Symptom und Angst“, 1926, weist er auch auf
die vielen Widersprüche seiner Auffassung über die Entstehung der
Phobie des kleinen Hans hin: Nichtsdestoweniger läßt er seine Grund-
thesen unberührt.
Die „verbrecherischen‘ Phantasien tragen für uns erstens keinen
verbrecherischen Charakter und beweisen zweitens durchaus keine
Koitus- und. Ödipusphantasien. Was sie bedeuten, wissen wir natür-
lich nicht. Doch liegt uns ja auch nicht die Beweislast ob, sondern
Freud, bei dem sich ein Beweis für seine Deutung auch nicht an-
deutungsweise findet.
Diese Kinderanalyse, die ja für den Analytiker das Vorbild aller
ähnlichen darstellt, hat nichts für die von Freud aufgestellten
Konstruktionen vom Wesen der infantilen Sexualität erbracht.
3*
u es
Freud selbst hat denn auch später den Wert der Kinderanalyse.
die doch die einzige Stütze der hauptsächlichsten psychoanalyti-
schen Theorien ist, sehr eingeschränkt. „Die Analyse, die man am
neurotischen Kinde selbst vollzieht, wird von vornherein vertrauens-
würdiger erscheinen, aber sie kann nicht sehr inhaltsreich sein. Man
muß dem Kinde zuviel Worte und Gedanken leihen und wird vielleicht
doch die tiefsten Schichten undurchdringlich für das Bewußtsein
finden“ (VII, S. 580). Dieses Bekenntnis ist um so bemerkenswerter.
als Freud noch im Jahre 1924 versicherte, die Kinderanalysen
hätten eine direkte Bestätigung des aus den Analysen Erwachsener
Erschlossenen erbracht (V). Es bleibt uns nichts anderes übrig, als
die Analyse eines Erwachsenen zu untersuchen, die Freud veröffent-
licht hat. um die Berechtigung seiner Konstruktionen nachzuprüfen,
denn die Möglichkeit bleibt ja immerhin bestehen, daß das Kind
wegen seiner mangelnden Ausdrucksfähigkeit der Untersuchung
seines Sexuallebens große Schwierigkeiten bereitet. Wenn auch so
gewonnene Resultate keinen absolut beweisenden Wert haben, so
können sie wenigstens von heuristischer Bedeutung sein.
Darstellung: Es handelt sich um einen ca. jährigen Menschen,
der sich erinnert, im 4.—5. Lebensjahr eine Charakterveränderung durch-
gemacht zu haben, die darin bestand, daß er von einer bestimmten Zeit. ab
unzufrieden, reizbar, heftig wurde, sich durch jeden Anlaß gekränkt fühlte
und dann wie ein Wilder tobte. Bis dahin soll er friedliebend, ja direkt
mädchenhaft gewesen sein. Er litt damals an Angst vor bestimmten Bildern
in seinem Bilderbuche, vor allem vor einem Wolf und vor anderen kleinen
Tieren. Etwas später brach bei ihm eine für ein etwa sechsjähriges Kind auf-
fallende Zwangsneurose aus. So fühlte er sich gezwungen, im Anschluß an
religiöse Übungen gotteslästerliche Gedanken zu denken, wie Gott-Schwein.
Gott-Kot. Sah er Bettler auf der Straße, so mußte er geriiuschvoll aus-
atmen, um nicht so wie sie zu werden. Alle diese Symptome sollen vom
8. Lebensjahr ab nicht mehr aufgetreten sein, was der Patient darauf zurück-
führt, daß er von jener Zeit ab männliche Erzieher erhalten hatte. Für die
Charakterveränderung im 4.—5. Lebensjahre wurde von der Familie eine eng-
lische Gouvernante verantwortlich gemacht. Der ca. ”Mjährige weiß außer
zwei „Deckerinnerungen“ nichts von ihr zu berichten. Diese beiden Er-
innerungen scheinen Freud von besonderer Bedeutung zu sein. Die Gouver-
nante hatte emmal zu den binter ihr Gehenden gesagt: Schaut doch auf
meine Schwänzehen. Ein andermal war ihr zum großen Gaudium der Kinder
der Hut weggetlogen. Nach Freud deuten diese beiden Erinnerungen auf den
Kastrationskomplex und gestatten die Konstruktion, „eine von ihr an
den Knaben gerichtete Kastrationsdrohung hätte zur Entstehung seines ab-
normen Benehmens viel beigetragen“. (L S. 541.) Einen Beweis für die
Richtigkeit der Konstruktion sieht Freud darin, daß der Patient sich erinnert.
sich für die Genitahen der Schwester interessiert zu haben. Von den übrigen
Nachkonstruktionen, die alle aufzuzählen sekr ermüdend wirken würde, sei
— 338 —
nur noch ein Beispiel gebracht. Aus einem Traum, den der Zwanzigjährige
aus seinem dritten Lebensjahre reproduziert, schließt Freud, daß der Patient
mit 1% Jahren (!) die Eltern beim Koitus a tergo belauscht und damals
dabei den Kastrationskomplex davongetragen habe. In diesem Alter soll er
nämlich den Schluß gezogen haben, daß das Fehlen des Penis bei der Mutter
daher komme, «aß sie vom Vater kastriert worden sei: Trotzdem habe er sich
mit der Mutter identifiziert, um sich vom Vater koitieren zu lassen. Aber
er sträubte sich natürlich innerlich gegen den für den Koitus zu zahlenden
Preis der Kastration. Freud legt nun dem Kleinen von 18 Monaten folgende
Gedanken in den Mund: „Wenn du vom Vater befriedigt werden willst, mußt
du dir wie die Mutter die Kastration gefallen lassen, das will ich aber nicht.
Also ein deutlicher Protest der Männlichkeit.“ (So zu lesen in I S. 628!)
Kritik: Freud zieht es vor, sich nur auf die Angaben des
Patienten zu verlassen und lehnt es ab, Lücken in der Erinnerung
des Patienten durch Erkundungen bei älteren Familienmitgliedern
auszufüllen. Er kann „nicht entschieden genug davon abraten“.
„Man bedauert es regelmäßig, sich von diesen Auskünften abhängig
gemacht zu haben, hat dabei das Vertrauen in die Analyse gestört
und eine andere Instanz über sie gesetzt“ (I, S. 586). In diesen
Worten liegt eine methodologische Ungeheuerlichkeit, die nicht ent-
schieden genug bekämpft werden kann und die den Wert der Kon-
struktionen von vornherein illusorisch macht. Will die Analyse
Wissenschaft sein, so muß sie sich in Gottes Namen die von der
Wissenschaft geforderten kritischen Instanzen gefallen lassen, oder
Hoche einräumen, daß sie eine therapeutische Sekte ist. Nach einer
Periode von 15 Jahren pflegen die Erinnerungen nicht mehr so deut-
lich zu sein, hauptsächlich wenn es sich um Erlebnisse aus dem
4.—5. Lebensjahr handelt. Aus ihnen gar ätiologisch die Symptome
erschließen zu wollen, dürfte fast unmöglich sein. Doch Freud be-
nutzt auch gar nicht die Angaben, mit denen nicht viel anzufangen
ist. Zwei Erinnerungen werden dagegen zu ,,Deckerinnerungen“ um-
gedeutet, ein Traum, der vor 15 Jahren geträumt wurde, wird ohne
„Einfallsmaterial‘“ gedeutet. Und aus solchen Prämissen werden dann
Schlüsse gezogen. Ein Beweis dafür, daß die beiden Erinnerungen
andere verdecken sollen, wird gar nicht erbracht. Komische
Situationen, wie das Wegfliegen des Hutes usw. einer Gouvernante,
werden auch so behalten. In der ganzen Arbeit findet sich auch nicht
die geringste Andeutung, daß durch diese Erinnerungen der
Kastrationskomplex angerührt worden ist. Daß Hut im Traum unter
Umständen für das Genitale stehen kann, mag zugegeben sein. Aber
hier liegt ja kein Traum, sondern eine durchaus mögliche Erinnerung
vor. Für weggeflogenen Hut hier abgeschnittenes Glied zu setzen, ist
denn doch reichlich gewagt. Und daß ein IV» jähriger so merkwürdige
— 34 —
‘Schltisse betreffs der Kastration der Mutter ziehen kann, dürfte wohl
von allen, welche sich eingehend oder oberflächlich mit Kindern be-
schäftigt haben, glatt als undiskutierbare Absurdität abgelehnt wer-
den. Freud demonstriert mit solchen Behauptungen seine er-
schreckende Unkenntnis des infantilen Seelenlebens. Auf diese „Tat-
sachen“ baut er ein sehr kompliziertes ätiologisches System auf, führt
sie als Beweise für den Kastrations- und Ödipuskomplex an und er-
klärt durch sie die Charakterveränderung. Bei einer zweiten Heraus-
gabe des Aufsatzes ändert er am Text nichts, fügt aber in Klammern
hinzu: „Es war vielleicht nicht ein Koitus der Eltern, sondern ein
Tierkoitus, den das (11»jährige?) Kind beobachtet und dann auf die
Eltern geschoben. als ob er erschlossen hätte, die Eltern machten es
auch nicht anders“ (I, S. 641). Jetzt müßte allerdings von Freud
noch zum mindesten plausibel gemacht werden, daß auf die Beobach-
tung eines Tierkoitus der Ödipus- und Kastrationskomplex zurück-
geführt werden kann. Doch dürfen wir hier nieht mehr fortfahren, da
wir den wissenschaftlich zu nennenden Boden zu lange verlassen
haben. Man muß auch Freud gegenüber jetzt den Mut haben, Hirn-
gespinste als Hirngespinste zu bezeichnen, und nicht als geniale In-
tuitionen, die ja in seinen Schriften auch vorhanden sind.
Das wenige, das wir aus der schr umfangreichen Analyse gebracht
haben, dürfte genügen, um darzutun, daß das Freudsche Beweis-
material für die Existenz einer prägenitalen Sexualität in ihrer von
ihm gezeichneten Eigenartigkeit völlig unzureichend ist. Etwas ganz
anderes ist es, wenn zugegeben wird, daß man anamnestisch sehr
häufig bei Neurotikern genital-sexuelles Material aus der Kindheit
eruieren kann, was dadurch leicht verständlich ist, daß spätere Neu-
rotiker wohl stets (mir ist noch keine Ausnahme begegnet) schon in
der Kindheit schwere neurotische Züge aufweisen, zu denen in erster
Linie eine prämature Sexualität gehört. Diese hat aber niehts mit
einer postulierten prägenitalen, mit voneinander unabhängigen
’artialtrieben zu tun, deren Annahme gerade mit gewissen grund-
legenden Lehren Freuds in striktem Widerspruch steht. Für ihn
ist die Hauptquelle der Sexualität eine rein somatische, nämlich ge-
wisse chemiseh-physikalische innere Vorgänge, die im innersekretori-
schen Geschehen gegeben sind. Mit dieser Lehre stehen die biologi-
schen Erfahrungen der letzten Jahrzehnte in bestem Einklang. Da-
nach hängt, wenn aueh nieht ausschließlich. so doeh zu einem wesent-
lichen Teil das sexuelle Leben — sowohl das physische wie das psy-
ehische — von der Funktion der inkretorisehen Drüsen ab. Die Früh-
kastration, die Maskulinierungs- und Feminierungsexperimente haben
u: 95, zu
aufs deutlichste gezeigt, wie innig verbunden auch die Psycho-
sexualität mit der Funktion der inneren Genitalien ist, und daß in
normalen Fällen im extrauterinen Leben der Mensch mono- und nicht
bisexuell ist. Wenn auch die Spätkastration zeigt, daß es nicht die
Sekretion der inneren Genitalien allein ist, die die Erotisierung des
Zentralnervensystems besorgt und unterhält, und wenn auch die
Lehre vom inkretorischen Drüsensystem mit seinen teils antagonisti-
schen, teils synergistischen Wirkungen noch recht weit von einer rest-
losen Klarheit ist, darüber herrscht jedoch volle Einigkeit, daß in der
Vorpubertätszeit normalerweise die inkretorische Tätigkeit der
inneren Genitalien fehlt, worauf ja neben dem histologischen Befund
auch das Fehlen der Menstruation usw. hinweist. Somit fehlt auch die
somatische Hauptquelle der Sexualität und ein reiches Sexualleben ist
daher in dieser Zeit schon aus dem Grunde nicht zu erwarten. Daß
in dieser Zeit sexuelle Interessen vorhanden sind und vor allem ge-
weckt werden können, ist niemals bestritten worden. Mit der apriori-
schen Bemerkung, daß doch die Sexualität nicht plötzlich entstehen
könne, ist doch nichts weiter gesagt, als daß es doch sehr wunderbar
sei, daß die Sexualität sich erst mit ca. 15 Jahren zu äußern beginne.
Daß eine solche Behauptung genau so sinnlos sei, wie wenn jemand
sagen wollte, die Genitalien wüchsen erst in der Pubertätszeit, wie
Freud, Schilder u. a. meinen, läßt sich mit guten Gründen
widerlegen. Tatsache ist, daß sich nur dann eine Funktion ausbildet,
falls die nötigen Vorbedingungen für sie gegeben sind. Ein Kind
„denkt“ auch nicht daran zu gehen, bevor es nicht ordentlich sitzen
und stehen kann. Gewisse Erb-Eigenschaften treten erst in einem
gewissen Alter in die Erscheinung, sowohl psychotische wie normale.
Bevor der Körper nicht für die normalen Folgen sexueller Erregung
und Betätigung vorbereitet ist, pllegen diese auch nicht einzutreten
und nur in pathologischen Fällen kommt es zu einer schädlichen prä-
maturen Funktion. Die Menstruation usw. setzt ja auch relativ plötz-
lich ein, warum sollte nur die psychosexuelle Erregung. die ja nur ein
Glied im gesamten organischen Geschehen ist, von allen Erschei-
nungen alkin so früh auftreten? Ohne eine genügende Sicherung
und Stärkung des Einzelindividuums ist eine menschliche Fortpflan-
zung nicht möglich. Biologisch muß eine seelische und Körperliche
Entwicklung des Individuums vorangehen, aus dem Kind muß ein
Mann oder Weib geworden sein, bevor das Sexualleben, sowohl das
somatische wie das psychische, im eigentlichen Sinne beginnen kann.
Es hieße der innigen Abhängigkeit der seelischen und körperlichen
Vorgänge schwere Gewalt antun, wollte man die Psyehosexualität
— 36 —
völlig unabhängig von der somatischen sich entwickeln lassen. Bei der
mangelnden Entwicklung der sekundären Geschlechtsmerkmale liegt
kein Grund zur Annahme psychosexueller Erlebnisse vor, hauptsäch-
lich da die direkte Beobachtung wohl häufig prämature genital-sexu-
elle Äußerungen schon feststellen, aber keine prägenitalen bisher
finden konnte. Was als solche ausgegeben wurde, ist gedeutet aber
nicht beobachtet worden. Selbstverständlich würden wir uns vor den
Tatsachen beugen und auch gerne eine normale infantile Sexualität
akzeptieren — aber die Psychoanalyse hat in zwanzigjähriger Arbeit
bisher keine einzige erbracht, die einer wissenschaftlichen Kritik
standhielte.
Die Lehre von der infantilen Sexualität ist, wie Freund es selber
betont, das Fundament der Psychoanalyse. Mit ihr stürzt die Libido-
theorie, fallen wichtigste Stücke seiner Neurosen- und Perversions-
theorie zusammen, verliert die Lehre von der Sublimierung in der
Form, die Freud ihr gegeben, ihre Grundlage. Das ist auch der
Grund, weshalb wir diesen Punkt des Systems so eingehend behan-
delt haben.
Darstellung: Die zweite Phase der infantilen Sexualität —
die priigenitale — tritt mit dem 6.—7. Lebensjahre in die Latenz.
Diese Latenzperiode ist aber nach Freud nicht eine Folge des
Ruhestadiums des sexuellen Triebes. Dieser bleibt noch weiter tätig,
aber die sexuellen Energien wechseln ihre Ziele. Sie dienen ganz
anderen Aufgaben. „Während dieser Periode totaler oder bloß par-
tieller Latenz werden die seelischen Mächte aufgebaut, die später dem
Sexualtrieb als Hemmnisse in den Weg treten und gleichwie Dämme
seine Riehtung beengen werden (der Ekel, das Schamgefühl, die ästhe-
tischen und moralischen Idealanforderungen).“ „Mit welehen Mitteln
wurden diese für die spätere persönliche Kultur und Normalität so
bedeutsamen Konstruktionen aufgeführt? Wahrscheinlich auf Kosten
der infantilen Sexualerrerung selbst. deren Zutluß also auch in dieser
Latenzperiode nicht aufgehört hat. deren Energie aber ganz oder
zum größten Teil von der sexuellen Verwendung abgeleitet und an-
deren Zwecken zugeführt wird. Die Kulturhistoriker scheinen einig
in der Annahme, daß durch solche Ablenkung sexueller Triebkräfte
von sexuellen Zielen und Hinlenkung auf neue Ziele — ein Prozeß,
der den Namen Sublimierung verdient — mächtige Komponenten
für alle kulturellen Leistungen gewonnen werden. Wir würden also
hinzufügen. daß der nämliche Prozeß in der Entwicklung des
einzelnen: Individuums spielt und seinen Beginn in die sexuelle
Latenzperiode der Kindheit verlegen“ (II. N. 43—44).
Danach sieht Freud die geistige Entwicklung als einen sexuel-
len SublimierungsprozeB an und steht auch nicht an, den kindlichen
Wißtrieb, der mit 4—5 Jahren (in Wirklichkeit schon früher) mit
elementarer Wucht auftritt, als eine Folge der Sublimierung anzu-
sehen. „Der Wißtrieb kann weder zu den elementaren Triebkompo-
nenten gerechnet noch ausschließlich der Sexualität untergeordnet
werden. Sein Tun entspricht einerseits einer sublimierten Weise der
SemACNDBUNE: andererseits arbeitet er mit der Energie der Schau-
lust“ (III, 5. 45). Ursprünglich scheint nach dem oben Zitierten der
Mensch reines Sexualwesen zu sein, und erst durch Sublimierung wird
er ontogenetisch zu einem Wesen mit intellektuellen, ethischen usw.
Interessen. Die Höhe seines humanen Niveaus hängt von der Plasti-
zität seiner Libido ab. Je größer die Transformationsfähigkeit, desto
bedeutsamere Abspaltungen können vorgenommen werden. Diese
finden alle — und das ist das Spezifikum der Freudschen Lehre —
imindividuellen Leben statt. Wovon allerdings die von Indivi-
duum zu Individuum wechselnde Plastizität abhängt. darüber hat
sich Freud nicht ausgesprochen.
Die Sublimierungsfähigkeit hat aber noch eine weitere wichtige
Folge. Sie ist eine der Mechanismen, mit der der menschliche Orga-
nismus sich gegen psychische Erkrankungen schützen kann. Die
sexuelle Abstinenz pflegt oft von nervösen Störungen gefolgt zu sein,
die sieh in Angstzuständen, aber auch in Hysterie und Zwangsneuro-
sen äußern kann. „Die Menschen erkranken neurotisch, wenn ihnen
die Möglichkeit benommen ist, ihre Libido zu befriedigen, also an der
Versagung. wie ich mich ausdrücke, so daß ihre Symptome eben der
Ersatz für die versagte Befriedigung sind.... In allen untersuchten
Fällen von Neurose war das Moment der Versagung nachweisbar“
(IV, 5. 397). Gegen die aus der Versagung sich ergebenden Gefahren
schützt sich der menschliche Organismus durch die Sublimierung in
der Weise, daß er die unbefriedigte sexuelle Triebkraft anderen Zielen
zuführt. Der Prozeß der Sublimierung besteht darin, „daß die Sexual-
strebung ihr auf Partiallust oder Fortptlanzungslust gerichtetes Ziel
aufgibt und ein anderes annimmt, welches genetisch mit dem auf-
gerebenen zusammenhängt, aber selbst nicht mehr sexuell, sondern
sozial genannt werden muß“ (1V, 8. 398). Dieser Schutzmechanismus
reicht nicht in allen Fällen aus, hauptsächlich wenn die sexuelle An-
lage besonders stark entwickelt und die Libido sich wenig plastisch
erweist und zumal dann, wenn sie „Fixierungen‘“ an frühere Phasen
erlitten hat. Die Fixierung hängt von der angeborenen Sexualkonsti-
tution ab, d. h. von der Stärke der einzelnen voneinander unabhän-
— 38 —
gigen Partialtriebe. Ist der eine Trieb besonders stark angelegt, so
macht er die Entwicklung zur hierarchischen Organisation nicht mit
und treibt als Perversion sein eigenes Wesen. Diesen angenommenen
Zustand bezeichnet Freud als Fixierung. So wird es erklärlich,
wieso es kommt, daß der Schutzmechanismus gegen die Gefahren der
Versagung so oft nicht ausreicht.
Kritik: Wir glauben nicht, daß die Lehre von der Sublimie-
rung in der Freudschen Form sich halten läßt. Der Gedanke, daß
der kindliche Wißtrieb, daß der Ekel, das Schamgefühl die ästheti-
schen und moralischen „Idealanforderungen“ auf Kosten der infantilen
Sexualregungen selbst aufgeführt werden, ist schon deshalb abzuleh-
nen, weil der Beweis von der Existenz einer normalen infantilen
Sexualität ja gar nicht erbracht ist. Die Tatsache, daß der Mathe-
matiker GauB schon als Vierjähriger bedeutsame mathematische Ein-
sichten entwickelte, daß Mozart im gleichen Alter schon bemerkens-
werte Melodien erfand, läßt sich nicht gut auf die Sublimierung ihrer
Sexualibido, auf deren Plastizität zurückführen. Die Begabungen als
solche haben ihre Eigenenergie; sie regen sich aber abgesehen
davon: der 2jährige kleine Kerl, der unermüdlich den Schlüssel in
das Schlüsselloch steekt — und es ist von den verschiedensten Kin-
derkennern gerade diese Tätigkeit als besonders häufig hervorgehoben
worden — und eine große Siegerfreude empfindet, wenn ihm diese
schwierige Operation einmal gelingt, bevor ihn die immer störende
Mama mit Rücksicht auf die schöne Politur daran hindert — tut es
nicht deshalb, weil er mit dieser Handlung seinen unbezähmbaren
Koitusdrang symbolisieren will, sondern deswegen. weil er ein Be-
dürfnis hat, koordinierte Tätigkeiten einzuüben. Der Wißtrieb, der
sich schon sehr früh äußert und sieh im Interesse für sich 6ffnende
Türen und Fenster manifestiert, ist nicht ein desexualisierter Trieb,
sondern er tritt in die Erscheinung, weil der wachsende Mensch
die Welt geistig zu erobern strebt. Für die Tätigkeit des Sexual-
triebes ist der menschliche Organismus noeh gar nicht vorbereitet.
Nur bei einer völligen Nichtberücksiehtigung der menschlichen von
Individuum zu Individuum so variablen Anlagen konnte diese Lehre
überhaupt aufgestellt werden.
Nun kann man zwar die Lehre fallen lassen, daß die geistige Ent-
wicklung dureh Sublimiernng der sexuellen Triebkräfte in der prä-
genitalen Phase vor sich gehe, und dennoch daran festhalten, daß die
reife Sexualität ‘sublimierbar ist. indem man etwa mit Pfister er-
klärt, daß bei der Sublimierung die libidinöse Energie den verschie-
denen Anlagen zuströmt. Diese Ansicht widerspricht aber der Auf-
— 39 —
fassung, daß die einzelnen Anlagen ihre Eigenenergie besitzen, die
keineswegs an andere Anlagen abgegeben werden kann. Nehmen wir
an, daß jemand mit einer stärkeren musikalischen und einer gerin-
sen wissenschaftlichen Begabung ausgestattet ist, so streben beide
Anlagen in ungleicher Weise nach Betätigung. Wird die stärkere
nicht befriedigt, so entsteht ein seelischer Spannungszustand, der
eine allgemeine Hemmung zur Folge haben kann, was aus der innigen
Abhängigkeit, in der die einzelnen seelischen Funktionseinheiten zu-
einander stehen, zu begreifen ist. Nach Überwindung der allgemeinen
Störung können sich die intellektuellen Anlagen betätigen und ent-
wickeln, aber sie tun es keineswegs auf Kosten der musikalischen,
sondern aus sich heraus nach ihren eigenen Gesetzen. Gewiß ist es
denkbar, daß bei einer vollen Entwicklung der musikalischen Bega-
hung die übrigen Anlagen sich nicht in dem Maße betätigt hätten,
aber doch nur deswegen, weil sie nicht so geübt worden wären, wenn
die Musikalität ausgebildet worden wäre. Bekanntlich schwankte
Goethe bis zu seinem 30. Lebensjahre zwischen Malerei und Dicht-
kunst. Hätte er seine dichterische Betätigung aus irgendeinem
Grunde einstellen müssen, so wäre er deswegen kaum ein größerer
Maler geworden. Seine dichterischen Fähigkeiten würden verküm-
mert sein, wie ein Organ, das infolge von nicht genügender Inan-
spruchnahme an Inaktivitätsatrophie leidet, die ungenützte Energie
wäre aber schwerlich an die malerische Begabung abgegeben werden.
Nach diesem Schema haben wir uns auch das Verhältnis des
Triebes zu den übrigen ethischen und intellektuellen Anlagen vor-
zustellen. Wird derselbe übermäßig in Anspruch genommen, so wer-
den die anderen Anlagen nicht geübt und entwickelt; wird er da-
gegen ganz vernachlässigt, so tritt wohl in allen Fällen eine gewisse
— bald größere bald geringere — allgemeine Störung auf, die von
den meisten zur Abstinenz Gezwungenen früher oder später überwun-
den wird, während ein Bruchteil daran erkrankt. Die Überwindung
geht leichter vonstatten. wenn dem Sexualabstinenten reiche An-
lagen zur Verfügung stehen. da sie nach Überstehen der ersten allge-
meinen Hemmung eine reiche Betätigungsmöglichkeit finden. Dies
geschieht aber keineswegs auf Kosten der Sexualität, sondern trotz
der von ihr ausgehenden Störung, die in Schach zu halten einen Auf-
wand an psychophysischer Energie verlangt. Die Leistung Luthers
war nach seiner Verheiratung wohl nicht geringer wie früher — nach
seinen Angaben ist das Gegenteil anzunehmen. Die normale Betäti-
gung aller Anlagen ihrem Kräfteverhältnis entsprechend dürfte für
den menschlichen Organismus das Förderliehste sein. Bei der unge-
== A0 Zei
heuer großen intellektuellen und volitionalen Begabung Luthers wäre
es unverständlich, wie eine Sexualbetitigung, durch die ja bisher
„desexualisierte‘‘ Energie wieder sexualisiert wird, zu einer größeren
intellektuellen Leistungsfähigkeit führte, wenn mit der Sublimierungs-
theorie, in weleher Form auch immer, Ernst gemacht würde. Diese
Förderung durch normale Sexualbetätigung wird auch von vielen
andern stärksten Geistesarbeitern bestätigt. Wenn auch Berichte
vorliegen, daß die Einschränkung der sexuellen Betätigung von gün-
stigen geistigen Folgen gewesen ist, so läßt sich das dadurch erklä-
ren, daß infolge zu starker Inanspruchnahme der Sexualität die tibri-
gen Anlagen nicht genügend entwickelt resp. betätigt werden konn-
ten, nicht aber dadurch. daß ihnen sexuelle Energie zur Verfügung
gestellt wurde. Beim Fehlen der Sexualität infolge von Kastration
tritt eine allgemeine Herabsetzung der geistigen Leistungsfähigkeit
ein. Dieses Faktum ist vom Standpunkt der Sublimierungstheorie
völlig unverständlich. Was durch die Kastration außer Funktion ge-
setzt ist, sind die Genitalien. Die ihnen sonst vom Organismus zur
Verfügung gestellte Energie sollte jetzt ganz den geistigen Anlagen
zufließen können — und trotzdem eine allgemeine Herabsetzung des
Leistungsniveaus. Vom Standpunkt dagegen, daß sämtliche Organe,
die ihre Eigenenergie besitzen, sich gegenseitig fördern. falls sie
harmonisch zusammenarbeiten, während eine allgemeine Störung ein-
tritt. falls ein wichtiges Organ ausfällt. läßt sich die Erscheinung sehr
gut verstehen. Wie wichtig gerade für das dichterische Schaffen die
Sexualbetätigung sein kann, hat Goethe in den Römischen Elegien
dargestellt. „Raubt die Liebste dann gleich mir einige Stunden des
Tages, gibt sie Stunden der Nacht mir zur Entschädigung hin. Wird
doch nicht immer geküßt, es wird auch vernünftig gesprochen. Über-
fällt sie der Sehlaf, lieg ich und denke mir viel. Oftmals habe ich
auch sehon in ihren Armen gedichtet und des Hexameters Maß ihr auf
den Rücken gezählt.“ „Dann versteh” ich den Marmor erst recht, ich
denk’ und vergleiche, Seh mit fühlendem Aug’, fühle mit sehender
Hand.“ In diesen einzig dastehenden Versen ist ergreifend vor Augen
geführt, wie eine gesunde Sexualbetätigung das gesamte Geistesleben
so außerordentlich fördern kann. Das wird auch von der Analyse
behauptet. die aber dennoch an der Sublimierungstheorie festhält und
auf sie onto- und phylogenetisch die höchsten Leistungen zurück-
führt. Sie erklärt keine einzige Erscheinung und führt zu schweren
inneren Widersprüchen. So behauptet Freud. daß die sexuellen
Triebe plastischer. d. h. von ihren Zielen leichter ablenkbar seien, als
die anderen Triebe. Er sieht sogar in der Lenkbarkeit der Libido
= #41: Ze
ihren wesentlichen Grundcharakter. Er muß das tun, da es sonst
unbegreiflich wäre, wie derselbe Sexualtrieb im selben Individuum
bald als Begattungstrie), bald als Wißtrieb, bald als sozialer auftreten
kann. Uns scheint es, als ob die Dinge gerade umgekehrt. liegen.
Nichts dürfte schwerer von seinem Ziel abzulenken sein, als der
sexuelle Trieb. Und dieser seiner Zähigkeit ist es wohl zu verdan-
ken. daß er eine so große Rolle in der Ätiologie der Neurosen spielt.
Und zwar dürfte er bei Leuten mit starken Anlagen, bei denen doch
die Sublimierung leichter sein sollte, keine geringere Rolle spielen,
als bei schwachbegabten Menschen. So sehen wir uns gezwungen.
den Begriff der Sublimierung in seinem ganzen Umfang abzulehnen.
Versteht man unter Sublimierung dagegen das Insspieltretenlassen
anderer Anlagen und Tätigkeiten an Stelle der Sexualtriebe, so ist die
Ausdrucksweise inopportun, da der von Freud geschaffene Begriff
eben eine andere Bedeutung hat.
Darstellung: In der sog. zweiten Latenzperiode hat das In-
dividuum Zeit gehabt, sich innerlich zu entwickeln, körperlich und
geistig zu erstarken, um dem ungeheuren inneren Geschehen, dem er
mit Beginn der Pubertät entgegengeht, gewachsen zu sein. Was sich
jetzt in ihm zu vollziehen anfängt, ist von einer erschütternden Wucht
und Größe, wenn man das Geschehen mit den Augen des Biologen
anschaut. Es ist kein Wunder, daß gerade in dieser Zeit die Neu-
rosen und Psychosen am häufigsten ausbrechen. Es ist so, als ob der
Organismus dem Neuen nicht gewachsen wäre und über die An-
strengung, es zu bewältigen, zusammenbricht. Wird nun diese Zeit
glücklich und ohne bleibenden Schaden durchlebt, so hat auch die
Sexualität jetzt ihre endgültige Struktur erhalten.
Nach Freud zeigt sie jetzt die folgenden Charaktere. Das
Sexualziel besteht jetzt „beim Manne in der Entladung der Ge-
schlechtsprodukte* (IIT, S. 71). Der Trieb stellt sich in den Dienst
der Fortpflanzungsfunktion. Zu diesem Zweck ist der Zusammen-
schluß aller Partialtriebe zu einer einheitlichen Organisation not-
wendig, die, falls sie nicht voll gelingt, krankhafte Störungen zur
Folge hat. Durch exogene und endogene somatische und psychische
Reize wird der Zustand der sexuellen Erregtheit ausgelöst. Das seeli-
sche Anzeichen derselben besteht in einem eigentümlichen Spannungs-
gefühl, das für Freud ein unlösbares Problem darstellt. Nach seiner
(refühlstheorie löst ja Herabsetzung der Spannung Lust, Herauf-
setzung Unlust aus. Dennoch wird die Spannung gesucht, was auch
von Freud hervorgehoben wird, obgleich er im selben Zusammen-
hang schreibt: „Ich muß daran festhalten, daß ein Spannungszustand
— 42 —
den Unlustcharakter in sich tragen muß. Für mich ist entscheidend.
daß ein solches Gefühl den Drang nach Veränderung der psychischen
Situation mit sich bringt, treibend wirkt, was dem Wesen der emp-
fundenen Lust völlig fremd ist“ (III, S. 73). Wie wir schon früher
gesehen haben, die Vernachlässigung des Reiz- resp. Spannungs-
optimismus bereitet Freud die unlösbaren Schwierigkeiten. Es ist
aber für die Zähigkeit, mit der er an seinen Konstruktionen hängt.
charakteristisch. daß er an ihnen auch dann festhält, wenn sie mit
dem eigenen Erleben in Widerspruch stehen.
An der Sexuallust unterscheidet er nun zwei Formen: die Vorlust
und die Befriedigungslust. Die Vorlust reicht vom Beginn der sexu-
ellen Erregung bis und mit dem Orgasmus, die Befriedigungslust stellt
die Phase der Spannungslésung, die Endlust dar. Die Vorlust. ist
dasselbe, was bereits die infantile Sexualität ergeben konnte, natür-
lich ohne diejenige Vorlust, die mit der Erregung der Genitalien bis
zum Orgasmus gegeben ist. Aufgabe der erogenen Zonen ist es, mit-
telst der von ihnen in der Kindheit zu gewinnenden Vorlust die Her-
beiführung der größeren Befriedigungslust zu ermöglichen.
Die Quellen der Sexualerregung sucht Freud in innersekretori-
schen resp. chemischen Vorgängen innerhalb des Organismus, womit
er sich der modernen biologischen Forschung nähert. Freud glaubt
nun durch Akzeptierung der innersekretorischen Sexuallehre für seine
ursprüngliche Libidotheorie, die noch Sexualitätstriebe von anderen
Trieben qualitativ trennte, eine Grundlage gefunden zu haben. Die
verschiedenen Arten der chemischen Reizwirkungen berechtigen zur
Absonderung einer sexuellen Energie von der übrigen psychophysi-
schen Energie. „In der Sonderung von Hbidinéser und anderer psy-
chischer Energie drücken wir die Voraussetzung aus, daß sich die
Sexualvorgänge des Organismus durch einen besonderen Chemismus
von den Ernährungsvorgängen unterscheiden“ (IH, S. 75).
Kritik: Die Einteilung in Vorlust und Endlust ist nicht gut
haltbar. Der Orgasmus wird als die Erregungsakme, als die höchste
Lust, angegeben. Das, was Freud Vorlust nennt, ist die eigentliche
sexuelle Lust, die wohl noch eine Zeitlang nach dem Orgasmus ab-
klingt, um einer allgemeinen Wohhgkeit oder vielleicht auch in
manchen Fällen einer gewissen Gleichgültigkeit Platz zu machen. Das
omne animal post. coitum triste dürfte in den meisten Fällen wohl
nicht zutreffen. Daß die Vorlust dasselbe sei. was „bereits der in-
fantile Sexualtrieb ergab" (III. S. 75). dürfte aueh aus den Voraus-
setzungen Freuds sich als unrichtig erweisen. Denn in der prä-
genitalen Phase fehlen ja die Genitalsensationen und der Orgasmus,
die doch erst dem sexuellen Erleben die eigentümliche Note geben.
Seine Berufung auf die innersekretorischen Vorgänge als die
Reizquellen der Sexualität ist für seine übrige Lehre — man möchte
fast sagen — verhängnisvoll. In der Kindheit funktionieren ja,
wie wir gesehen, gar nicht die Keimdrüsen. Damit fällt aber
durch die Aufstellungen Freuds selbst seine Lehre von der
infantilen Sexualität in sich zusammen und mit ihr das ganze
übrige System. Gegen die Theorie vom sexuellen Chemismus spricht
auch seine ganze spätere Theorie, die die Objektlibido von der Ich-
libido ableitet und die Lebenstriebe mit den Sexualtrieben identifi-
ziert. Die Berechtigung, von einem Primat der Genitalien zu spre-
chen. fällt nach unseren bisherigen Darlegungen auch dahin, da es
nur einen Sexualtrieb gibt und zur Annahme von Partialtrieben sich
kein triftiger Grund ergeben hat. Diese Annahme beruht ja auf der
Verwechslung von Reizpforte und Trieb.
Die bisher von Freud aufgestellten Nova bildeten mehr oder
weniger einschneidende Modifikationen des bisherigen in der Wissen-
schaft verstandenen Sexualbegriffes. Dagegen war der Begriff einer
Ichlibido, abgesehen von der sehr seltenen Perversion des Narzißmus,
etwas Unbekanntes. Unter dieser sexuellen Abirrung verstand man
ein sexuelles Verliebtsein in den eigenen Körper, dessen Anblick
sexuelle Erregung ausléste. Freud hat nun den Terminus Narziß-
mus übernommen, verbindet aber mit diesem Begriff etwas völlig
anderes. das mit dem ursprünglichen nichts als den Namen gemein
hat. Dabei steht jetzt der Narzißmus oder die Ichlibido im Brenn-
punkt der psychoanalytischen Forschung und bedentet eine neue
Epoche dieser Richtung.
Darstellung: Beim Studium der Psychosen, vor allem der
Dementia praecox, stieß Freud auf psychische Triebrepräsentanzen,
die auf das eigene Ich gerichtet waren und die er als narzißtische
Triebe bezeichnete, ohne auch zu untersuchen, ob diese Triebe sexu-
eller Natur seien. Der Größenwahn des Schizophrenen wurde als
eine Abziehung der Libido von der Außenwelt und Hinwendung der-
selben auf das eigene Ich ausgelegt. Damit glaubten Freud und
seine Schüler dem Wesen der Krankheit näher gekommen zu sein.
Zusammengefaßt sind die Ideen über den Narzißmus in seiner Ab-
handlung „Zur Einführung in den Narzißmus“ 1914. Hier dehnt er
nun den Geltungsbereich des narzißtischen Triebes außerordentlich
aus, um ihn in späteren Arbeiten als die Urquelle aller Libido über-
haupt anzusprechen. Der Narzißmus ist nach Freud „die libidinése
— 44 —
Ergänzung zum Egoismus des Selbsterhaltungstriebes“ (ebenda).
Diese Wendung bedeutet, daß das Individuum sich selbst zum sexu-
ellen Objekt nehmen kann. Diese Erscheinung ist aber für ihn nichts
Unnormales, sondern gehört zur normalen Entwicklung der Sexuali-
tät. Das Kind zeige normalerweise narzißtische Züge, indem es seine
Libido zuerst seinem eigenen Körper zuwende und seinem eigenen
ich erhöhte Bedeutung zuschreibe. Die Allmacht der Gedanken soll
beim Primitiven und Kinde das Normale sein (I, S. 81). Das Kind
hat in erster Linie eine narzißtische Libido, der Ödipuskomplex stellt
die erste Regung der aus dem Narzißmus erwachsenen Objektlibido
dar. Die narzistische Libido soll nun in einem proportionalen Ver-
hältnis zur Objektlibido stehen. „Je mehr die eine verbraucht, desto
mehr verarmt die andere“ (1V, S. 81). „Im Zustande des Narzißmus
sind die verschiedenen Energien beisammen und als solehe ununter-
scheidbar. Erst mit der Objektbesetzung wird es möglich, eine
Serualenergie, die Libido, von einer Energie der Ichtriebe zu unter-
scheiden“ (I, S. 82). Aus dieser Konzeption ergaben sich für Freud
weitere wichtige Fragen: 1. „Wie verhält sich der Narzißmus zum
Autoerotismus? 2. Wenn wir dem Ich eine primäre Besetzung mit
Libido zuerkennen, wozu ist es überhaupt noch nötig, eine sexuelle
Libido von einer nichtsexuellen Energie der Iehtriehe zu trennen?“
(1,S. 82).
Die erste Frage beantwortet Freud damit, daß er sagt. es „sei
eine notwendige Annahme, daß eine dem Ich vergleichbare Einheit
nicht von Anfang an im Individuum vorhanden ist. Das Ich muß
entwickelt werden. Die autoerotischen Triebe sind aber uranfiing-
lich; es muß also stets etwas zum Autoerotismus hinzukommen, eine
neue psychische Aktion, um den Narzißmus zu gestalten“ (I, S. 82).
Die zweite Frage löst bei Freud, wie er selbst sagt, ein „merkliches
Unbehagen“ aus. ‘Nach ihm soll sich aber „eine empirische
Wissenschaft“ mit .nebelhaft versehwindenden, kaum vorstell-
baren Grundgedanken gern begnügen“ (I, S. 83). wenn sie nur ge-
eignet sind, die empirischen Tatsachen einheitlich zusammenzufassen.
Doch ließ er sich noch von biologischen Rücksichten leiten. als er
die Zweiteilung der Triebe vornahm. „Das Individuum führt wirk-
lich eine Doppelexistenz als sein Selbstzweek und als Glied einer
Kette“. Die Sonderung der Sexualtriebe von den Ichtrieben würde
nur diese doppelte Funktion des Individuums spiegeln (I. 5. 84).
Dann glaubte er auch. der verschiedene Chemismus der Triebquellen
bedinge die Notwendigkeit, zwei Triebarten anzunehmen. meint aber.
psyehologisch läge keine Notwendigkeit vor. zwei Triebarten zu
setzen und ist gern bereit, den Triebdualismus gegen einen Monismus
einzutauschen, was er ja, wie wir gesehen haben, auch getan hat.
Nach Freud läßt sich der Narzißmus an drei Quellen studieren.
Diese sind: die organische Erkrankung, die Hypochondrie und das
Liebesleben der Geschlechter. Der organısch Kranke verliert leicht
sein Interesse an der Außenwelt. Der Kranke zieht seine Libido-
besetzungen auf sein Ich zurück, um sie nach der Genesung wieder
auszusenden (I, S. 89). Der Schlaf ist auch nur ein narzißtisches
Zurückziehen der Libidopositionen auf die eigene Person. „Der Hypo-
chondrische zieht Interesse wie Libido — die letztere besonders
deutlich — von den Objekten der Außenwelt zurück und konzen-
triert beides auf das ihn beschäftigende Organ“ (1. S. 89—90). Das
Liebesleben der Geschlechter endlich in seiner Differenzierung bei
Mann und Weib und die Einsicht in die ontogenetische Entwicklung
der Homosexualität gestatten die feinere Psychologie des Narzißmus
zu studieren. Viele Homosexuelle sollen ihr späteres Liebesobjekt
nicht, wie die Psychoanalyse ursprünglich lehrte, nach dem Vorbild
ihrer Mutter nehmen, sondern nach dem ihrer eigenen Person. .Sie
suchen offenkundigerweise sich selbst als Liebesobjekt, zei-
gen den narzißtisch zu nennenden Typus der Objektwahl. In dieser
Beobachtung ist das stärkste Motiv zu erkennen, welches uns zur An-
nahme des Narzißmus genötigt“ (I, S. 95).
Die Art, wie das Weib liebt, ist nach Freud vorwiegend nar-
zißtischh während der Mann vorwiegend altruistisch lieben soll.
Beim Mann „verarmt das Ich an Libido zugunsten des Objektes“
(I, S. 96). Das Weib dagegen liebt in der echtesten und reinsten
Form wesentlich sich selbst und erlebt die Liebe zum Mann haupt-
sächlich in dem Glücksgefühl, vom Maune geliebt zu sein (I, S. 96).
In der Liebe der Eltern zu den Kindern findet Freud am deut-
lichsten den ursprünglichen Narzißmus ausgedrückt: „Wenn man die
Einstellung zärtlicher Eltern gegen ihre Kinder ins Auge faßt, mub
man sie als Wiederaufleben und Reproduktion des eigenen längst auf-
gegebenen Narzißmus erkennen“ (IV, S. 98).
Trotzdem der Mann wesentlich objekterotisch liebt. wird durch
diese Liebe in normalen Fällen nicht die ganze Ichlibido aufgezehrt.
Der größte Teil verbleibt im „Ich“ und richtet sich auf das eigene
Ich, — soweit dieses über sich selbst hinausgewachsen ist, d. h. ein
Ideal von sich selbst errichtet hat. Diesem Ichideal soll sich nun die
übrig gebliebene narzißtische Libido zuwenden. „Dem Idealich gilt
nun die Selbstliebe, welche in der Kindheit das wirkliche Ich genoß“.
„Der Narzißmus erscheint auf dieses neue ideale Ich verschoben.
Nachmansohn, Die wissenschaftlichen Grundlagen der Psychoanalyse Freuds. Abh.H.45. 4
sy. A, ss
welches sich wie das infantile im Besitze aller wertvollen Vollkom-
menheiten befindet“ (I, S. 102). Das Gewissen, eine Instanz des
Idealichs, nach Freud entstanden durch Mythisierung der Stimme
des Vaters und dessen Stellvertreter. der Gesellschaft, hat das aktive
Ich unausgesetzt zu beobachten und an den Forderungen des Ideal-
ichs zu messen, wodurch „die aus dem Idealich erwachsende narziß-
tische Befriedigung in ihren Ansprüchen gesichert wird“ (I, S. 103).
Von hier aus ergibt sich auch ein psychoanalytisches Verständnis für
das menschliche Selbstgefühl, das zur narzißtischen Libido in be-
sonders inniger Beziehung stehen soll. Den Beweis dafür sieht
Freud darin, „daß bei den Paraphrenien das Selbstgefiihl gesteigert,
bei den Übertragungsneurosen herabgesetzt ist, und daß im Liebes-
leben das Nichtgeliebtwerden das Selbstgefühl erniedrigt, das Ge-
liebtwerden dasselbe erhöht“ (I, S. 107).
Im Laufe der Zeit ist Freud noch weiter gegangen, hat einer-
seits alle erkennbaren psychophysischen Energieäußerungen als
Manifestationen der Libido erklärt, ohne andererseits die Definition
der Libido als den dynamischen Ausdruck der Sexualität fallen zu
lassen. Ausdrücklich hat er den jahrelang bekämpften Standpunkt
Jungs akzeptiert, wobei er bloß die Einschränkung macht, daß noch
eine psychische Energie entdeckt werden könne, die nicht libidinöser
Natur ist (Handwörterbuch der Sexualwissenschaft 1924).
Die Ichlibido hat aber eine ganz andere Struktur wie die Objekt-
libido und darum ist es für das Verständnis der F reu d schen Trieb-
lehre wichtig. seine Ichlehre kennen zu lernen. Sie ist es auch, die
die Psychoanalyse in den Stand setzen soll, die Psychosen zu be-
arbeiten.
Unter Ich versteht Freud „eine zusammenhängende Organisa-
tion der seelischen Vorgänge in einer Person, an dem das Bewußt-
sein hängt, das die Zugänge zur Motilität, d. h. zur Abfuhr der Er-
regung in die Außenwelt beherrscht“ (VII, S. 14). „Es ist diejenige
seelische Instanz, welche eine Kontrolle über alle ihre Partialvorgänge
ausübt, welche zur Nachtzeit schlafen gehen, und die dann immer
noch die Traumzensur handhabt“ (VII, S. 15). Von diesem Ich gehen
auch die Verdrängungen aus, indem es das nicht von ihm resp. seinem
Idealich Gebilligte entweder vom Bewußtsein ausschaltet resp. gar
nicht bewußt werden läßt.
. Die Genese des Ich leitet Freud vom „Es“ ab. Dieses ist ein
„Individuum, unerkannt und unbewußt“ (VII, S. 25). Aus diesem
ursprünglichen Es, der Gesamtheit der psychophysischen Energie,
entwickelt sich nun das Ich durch den direkten Einfluß der
ze. AT za
Außenwelt unter Vermittlung der Wahrnehmung. Das Ich „be-
müht sich auch, den Einfluß der Außenwelt auf das Es und seine
Absichten zur Geltung zu bringen, ist bestrebt, das Realitätsprinzip
an Stelle des Lustprinzips zu setzen, welches im Es uneingeschränkt
regiert“ (VII, S. 27); einfacher ausgedrückt: es ist bestrebt, sich den
Anforderungen der Außenwelt anzupassen. „Das Ich repräsentiert,
was man Vernunft und Besonnenheit nennen kann, im Gegensatz zum
Es. welches die Leidenschaften enthält“ (VII, S. 27). Außer der
Wahrnehmung trägt noch der eigene Körper zur Bildung des Ichs
bei. Alles, was mit unserem Körper zusammenhängt, gehört zum Ich.
„Das Ich ist vor allem ein körperliches“ (VII, S. 28). Erst nach
Vernichtung des Ödipuskomplexes bildet sich das Ideal- oder Über-
ich, indem sich nämlich das Idealich mit dem Vater identifiziert.
Doch handelt es sich jetzt um den „vollständigen“ Ödipuskomplex.
In seiner späteren Fassung, die erst nach den im Jahre 1916 gehalte-
nen Vorlesungen entstanden ist, bedeutet der Ödipuskomplex nicht
nur die Liebe des Knaben zur Mutter und seine ambivalente Ein-
stellung zum Vater, sondern: „der Knabe benimmt sich auch gleich-
zeitig wie ein Mädchen, er zeigt die zärtlich feminine Einstellung zum
Vater und die ihr entsprechende eifersüchtig-feindselige gegen die
Mutter“ (VII, S. 39). Der Begriff der Identifizierung erfordert eine
gewisse Erläuterung. Der Mensch soll mit seinem’ Haß am besten
fertig werden, wenn er sich mit dem Gehaßten identifiziert, d. h. wohl.
in sich das gefühlsmäßige Bewußtsein groß werden läßt, er sei ja der
GehaBte, der Rivale, wodurch der Haß gegenstandslos werden soll —
wir müssen allerdings gestehen, daß der Begriff sehr wenig klar dar-
gestellt ist, denn nach Freud bedeutet er auch das Umgekehrte. So
soll gerade die Identifizierung mit dem Vater zum Vaterhaß führen,
denn wenn sich auch neben dem Ödipuskomplex die Identifizierung
entwickelt, so „nimmt sie eine feindselige Tönung an“ wegen des
Odipuskomplexes, denn „sie wendet sich zum Wunsche. den Vater zu
beseitigen und ihn bei der Mutter zu ersetzen“ (VII, S. 37). Doch
zuletzt soll — man erfährt leider nicht wie und warum — doch die
haßfreie Identifizierung zurückbleiben. Daraus resultiert das „Über-
ich, das dem übrigen Ich entgegentritt‘“ (VII, S. 40). Das Überich ist
aber nicht einfach ein Residuum der ersten Objektwahlen des Es,
sondern es hat auch die Bedeutung einer energischen Reaktions-
bildung gegen dieselben. Seine Beziehung zum Ich erschöpft sich
nicht in der Mahnung „So wie der Vater sollst du sein“; sie umfaßt
auch das Verbot „So wie der Vater darfst du nicht sein“ d. h. nicht
alles tun. was er tut, manches bleibt ihm vorbehalten“ (VII, S. 40).
4*
Das Uberich wirkt sich um so stärker aus. je stärker ursprünglich
der Ödipuskomplex gewesen, zu dessen Verdrängung ja Ina das
Ichideal ausgebildet worden sein soll.
Soweit über die Genese des Cherich. Seine Beziehungen zur
Religion und Moralbildung übergehen wir, da wir ja nur die wissen-
schaftlichen Grundlagen darstellen wollen.
Aus seiner Ichlehre zieht Freud die Berechtigung, seine beiden
Triebarten: Lebens- und Todestrieb aufzustellen. Das Ich leitet ja.
wie wir gesehen, die Sublimierung der Libido ein. d. i. ihre De-
sexualisierung, indem es sie ans lehideal bindet. „Indem nun das Ich
in solcher Weise sich der Libido der Objektbesetzungen bemächtigt.
sich zum alleinigen Liebesobjekt aufwirft, die Libido des Es de-
sexualisiert oder sublimiert, arbeitet es den Absichten des Eros ent-
gegen und stellt sich in den Dienst. der gegnerischen (d. h. Todes-.
Verf.) Triebregungen“ (VII, S. 57). Das Ich also strebt zum Tode —
seine Anpassungen an die Realität sind nur Umwege dahin.
Kritik: Die Lehre vom Narzißmus krankt wie die ganze psy-
choanalytische Trieblehre am Mangel einer irgendwie faBbaren Defini-
tion der Sexualität. Sie strotzt aber auch so voll innerer Wider-
sprüche, die sich selbst aufheben. Wir fassen es noch, wenn es einer-
seits heißt, die narzißtische Libido sei das Ursprüngliche, das große
noch unaktivierte Reservoir, aus dem sich erst die Objektlihido ent-
wickelt, und in derselben Arbeit gesagt wird, das Ich sei das Objekt
der narzistischen Libido. Erst mit dem Auftreten des Ich kann die
Autoerotik zum Narzißmus werden. Man braucht ja nur Autoerotis-
mus als objektlosen NarziBmus aufzufassen und die Autoerotik als
die ursprüngliche Libidoäußerung ansehen. Aber daß diese Libido
zu gleicher Zeit Todestrieb sei, fassen wir nieht mehr.
Ob man das Verhalten des Kindes unter den Begriff des Narziß-
mus pressen kann, ist schließlich eine terminologische Geschmacks-
frage. Das Bewußtsein einer Allmacht der Gedanken haben gewöhn-
liche Kinder nach meiner Erfahrung gar nieht. Die Psychologie der
Primitiven ist einerseits viel zu wenig erforscht und andererseits ist
sie keineswegs mit der der Kinder identisch. Ja beide Gebiete sind
streng genommen inkommensurabel. So wenig es richtig ist, daß ein
Greis verkindet oder ein zwanziejähriger Imbeziller die Altersstufe
eines sagen wir Achtjiihrigen hat.
Das angenommene umgekehrt proportionale Verhältnis zwischen
narzißtischer und objekterotischer Libido ist niehts anderes als eine
tatsachenfremde Kontruktion. Das Selbsteefühl glücklich Lieben-
der ist durchaus erhöht. Sie sind zwar „demütig“ aber als Herr-
= 40 m
seher sozusagen. Unfaßbar bleibt es uns, wie ein Forscher von der
psychologischen Begabung Freuds behaupten kann, psychologisch
läge keine Notwendigkeit vor, verschiedene Triebe anzunehmen, son-
dern nur physiologisch infolge des verschiedenen Chemismus, der den
verschiedenen Trieben zugrunde liege. Auch bevor die Menschen
etwas vom Chemismus wußten, ist zwischen „Hunger“ und „Liebe“
rein psychologisch aufs deutlichste unterschieden worden.
Daß der organisch Kranke und der Hypochonder narzißtisch wer-
den sollen, ist nur durch eine logische Erschleichung primitivster Art
möglich geworden. Wenn man Libido mit Interesse gleichsetzt, kann
man wenigstens sagen, der Kranke zieht seine Libido von der Außen-
welt zurück. Aber daraus folgt doch noch nicht ohne weiteres, daß
die Libido sich auf das Individuum selbst wendet, oder daß die In-
teressebetontheit des kranken Organs resp. des Gesamtorganismus
beim Hypochonder im Wesen identisch sei mit narzißtischer Verliebt-
heit. Es liegt doch nichts anderes vor, als daß die Körpervorgänge
infolge der schmerzhaften Sensationen stärker im Blickpunkt des
Bewußtseins stehen, als sonst, und daß infolge allgemeiner Schwä:
chung des Organismus das aktive Interesse an der Außenwelt ab-
nimmt. Daß das Interesse dem eigenen Körper zugewandt wird, er-
gibt sich aus dem Walten des Selbsterhaltungstriebes, der nichts mit
dem Narzißmus zu tun hat. Aber der an Zahnschmerzen Leidende
(ein Beispiel Freuds!) beachtet zwar permanent seine Zahnschmer-
zen, aber darin Können wir nichts sehen, daß in irgendwelcher Form
dem Sexualerleben untergeordnet werden kann, geschweige dem
XNarzißmus. ja nicht zumal dem Begriff der Eigenliebe, mit dem der
des Narzißmus im Sinne Freuds identisch resp. verwandt ist. Die
Tatsachen sind ja reichlich bekannt. Sie können aber nicht gut in
die narzißtische Theorie gepreßt werden. Jedenfalls ist kein Gewinn
ersichtbar, wogegen der Verlust an psychologischer Nuancierung
wissenschaftlich einen großen Rücksehritt bedeutet. Es ist nur eine
ganz vage, bisher noch keineswegs erwiesene Hypothese, daß die
Homosexuellen sich selbst als Liebesobjekt suchen. Und eine solche
Hypothese gibt Freud das „stärkste Motiv“ für die Postulierung
des Narzißmus ab. Theorien können durch Tatsachen, aber nicht
durch unbewiesene Annahmen gestützt werden: abgesehen davon, daß
diese spezielle Annahme schon das, was sie begründen soll, vor-
aussetzt.
Selbst wenn die Liebe des Weibes wesentlich darin bestehen
sollte, daß sie sich lieben läßt, und sieh im Glücksgefühl des Geliebt-
werdens erschöpfen sollte. so könnte man eine solche Haltung noch
er BO Sa
nicht direkt als narzißtisch bezeichnen. Es fehlte ja die Hinwendung
der Libido auf das Ich als Objekt, während die gekennzeichnete
Attitude höchstens als Autoerotismus zu bezeichnen wäre. Was aber
an der ganzen Freudschen Auffassung stört, ist der konstruktionelle
Schematismus, der der Fülle der Tatsachen nicht im entferntesten
gerecht wird.
Das gleiche gilt von dem, was er über die narzißtische Liebe der
Eltern zu ihren Kindern sagt. Gewiß lieben die Eltern in ihren
Kindern auch sich selbst. Die Subsumption der elterlichen Liebe
unter die Sexualität ist aber biologisch und psychologisch unhaltbar.
da biologisch diese Liebe ganz andere Funktionen hat und ihre Wurzel
im Brutpflegetrieb haben dürfte, und psychologisch sich der naiven
Betrachtung eben die fundamentalen Unterschiede beiderlei Erlebens
aufdrängen. Genau so wie ich den Unterschied zwischen weiß und
schwarz nicht anders als durch Hinweis und Vergleich begreiflich
machen kann, kann die Wissenschaft hier nur auf die schlichte Selbst-
beobachtung rekurrieren und diese hat niemals an die biologische
und psychologische Unterschiedenheit gezweifelt.
Bei der gegenseitigen umgekehrt proportionalen Abhängigkeit
der narzißtischen Libido von der Objektlibido sollte man glauben, daß
bei starker Entwicklung der Objekterotik. das „narzistische“ Erleben,
also auch die Liebe zum Idealich, abnehmen sollte. Gerade das Gegen-
teil ist aber der Fall. Gerade wenn der Mensch liebt, ist er für das
„Edle“ und „Gute“ am empfänglichsten.
Daß das Idealich aus der Identifizierung mit den Eltern ent-
standen ist, ist auch nur eine Scheinwahrheit. Schließlich sind es die
ererbten ethischen Anlagen. die Ideale entstehen resp. erfassen lassen,
es sind die in jedem Individuum waltenden Entwieklungstendenzen.
GewiB können die Eltern zu ihrer Ausbildung beitragen, doch ent-
wickeln sie sich auch oft gegen deren Einflüsse. Der Begriff der
Identifizierung ist so fließend und unklar, daß durch ihn die Ideal-
bildung, die kritische, selbstbeobachtende und korrigierende Instanz,
an deren Walten nieht zu zweifeln ist. nieht verständlicher gemacht
wird. Schließlich handelt es sieh bei allen Untersuchungen über das
Idealich nieht um neue Erkenntnisse und Tatsachen. Die alte Ein-
sicht vielmehr. die Freud schlicht formuliert hat, daß gar mancher
an seiner zu hoch gespannten Ethik erkrankt, die auf einer Fülle von
tatsächlichen Beobachtungen beruhte. ist in das narzißtische Begriffs-
system gepreßt worden. Die Personilizierungen des TIdealichs, des
Es usw. sind aber von gummibandartiger Demnbarkeit, sie sind
Popularisationen. die bald wissenschaftlich in eime Sackgasse führen
u, Bi. ew
müssen, da ihnen die begriffliche Klarheit und Umschriebenheit fehlt,
so daß dem Vorbeireden Tür und Tor geöffnet ist.
Mit diesen psychoanalytischen Begriffen lassen sich die großen
religiösen und ethischen Menschheitsprobleme überhaupt nicht lösen.
Weder die Lehre vom Ödipuskomplex noch die vom Es, Ich und
Überich sind dazu die geeigneten Werkzeuge: Der Odipuskomplex hat
für Freud nur eine sexuelle Bedeutung. Nur darin kann die Be-
reicherung unserer Auffassung des Verhältnisses zwischen Eltern und
Kindern gesehen werden, denn daß die Kinder überhaupt ihre Eltern
lieben, auf die Geschwister neidisch sind, dem Vater, wenn er straft,
zürnen und manchmal recht froh sind, wenn er weg ist, daß bald das
eine Kind von der Mutter, das andere vom Vater bevorzugt wird, hat
die Menschheit auch vor Freud gewußt. Daß diese und ähnliche
Äußerungen sexueller Natur sind, hat sich in normalen Fällen auch
nicht andeutungsweise beweisen lassen. Die neueste Fassung des voll-
ständigen Ödipuskomplexes gar hebt seine Bedeutung vollständig auf.
Was von Bleuler, wenn auch unter dem Einflusse der Psycho-
analyse als Ambivalenz der Affektivität, die sich auch den Eltern
gegenüber zeigt, erkannt und gelehrt worden ist, ist hier in sexuelle
Terminologie gefaßt. Freud führt den vollständigen Ödipuskomplex
auf die Bisexualität des Menschen zurück, die doch im extrauterinen
Leben in jedem Falle eine relative Rarität ist, während der Ödipus-
komplex ja die normale Entwicklung darstellen soll. Liebt der Sohn
in der prägenitalen Phase sowohl Vater und Mutter und hat
gegen beide auch je nach den individuellen Erlebnissen eine Ab-
neigung, so besteht wirklich kein Grund, unter Beziehung auf die
alte Sage von einem Ödipuskomplex zu reden. Dann liegt nur ein
zähes Festhalten an einer liebgewordenen Terminologie vor.
Auch die spezielle Ichlehre Freuds krankt an inneren Wider-
sprüchen. Einerseits soll das Ich das Bewußte xar "e£uyyv, das Ver-
drängung und Zensur ausübt, andererseits ist der Widerstand, also
eine Tätigkeit des Ich doch sehr oft unbewußt. Diesen Widerspruch
erkennt auch Freud, geht aber über ihn stillschweigend hinweg. Die
Genese des Ich aus dem Es ist rein philosophische Spekulation und
Umschreibungen der Tatsache, daß das Ich eine Entwicklung durch-
macht, und daß die psychophysische Energie des Individuums, die
schlichtere bisherige Ausdrucksweise für das etwas geheimnisvolle
„Es“, das Kraftreservoir desselben ist. Die Behauptung, daß im Ich Ver-
nunft und Besonnenheit, d. h. das Realitätsprinzip, im Es die Leiden-
schaften und das Lustprinzip herrsene, steht im Widerspruch damit.
daß die Leidenschaften durchaus bewußt sind und das Ich keineswegs
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nur die Besonnenheit und Vernunft repräsentiert. Das Ich ist auch
nicht vor allem ein Körperliches. Aus der Wendung etwa: „Mir tut
der ganze Körper weh“ geht hervor, daß schon die Sprache die Unter-
scheidung von Ich und Körper macht. Wir können hier nicht auf das
Ichproblem, dessen psychologische Seite nicht ohne vorherige Be-
handlung der erkenntnistheoretischen besprochen werden kann,
eingehen (s. unsere Abhandlung: Instinkt und Wille, Zeitschr. f. d. g.
Neurol, u. Psychiatrie, 1927). Das aber dürfte auch aus unseren paar
Bemerkungen hervorgehen, daß der Ichbegriff Freuds widerspruchs-
voll ist und ohne jede Kenntnis der vorhandenen reichen Literatur.
die weit tiefere und sauberere Erkenntnisse über das Ichproblem ent-
hält, konzipiert und ausgearbeitet ist.
Daß die Erkrankung des Selbstgefühls, daß die Erscheinungs-
weisen der Schizophrenie durch die Ichlehre Freuds einem Ver-
ständnis nähergebracht seien. muß schon aus dem Grunde verneint
werden, als Freud bisher diese Dinge schr schematisch behandelt
hat. Bei der Schizophrenie ist das Selbstgefühl keineswegs immer ge-
steigert und der schizophrene Größenwahn wird nicht begreiflicher da-
durch, daß man sagt, der Schizophrene ziehe seine „Libidopositionen“
von der Außenwelt zurück und seine narzißtische Erotik wachse auf
Kosten seiner Objekterotik. Das mag eine geistreiche Konstruktion
sein — doch haf sie sich auch nicht heuristisch bewährt. Es ist auch
var nieht richtig. daß bei den Übertragungsneurosen. der Hysterie
und Zwangsneurose. das Selbstgefühl auch nur in der Regel herab-
gesetzt ist. Im Gegenteil. die Hysterie zeigt oft ein überspanntes
Selbstgefühl (trotz und vielleicht wegen der vielen Übertragungen).
das natürlich auch ins Gegenteil umschlagen kann. Keineswegs ist
aber den genannten Krankheiten eine bestimmte Störung des Selbst-
zefühls zugeordnet, wie es Freud zur Begründung seiner NarziBmus-
lehre glauben macht.
Abschließend müssen wir sagen, daß die Trieblehre Freuds
wohl befruchtend gewirkt hat. indem sie die Geister auf das Trieb-
problem gelenkt und dessen Bedeutung herausgestellt hat. Neue Ein-
sichten hat sie aber niebt gebracht. denn das Neue ist nieht haltbar
und das Haltbare ist nieht neu, was von manch anderen sprunghaften
und brückenlosen Neuerungen in der Wissenschaft gilt.
II. Kapitel: Die Psychologie
Nach einer langen Entwicklung glaubte Freud die „zwei Prin-
zipien des psychischen Geschehens“ gefunden zu haben. Diese sind:
das Lust-Unlustprinzip und das Realitätsprinzip.
Die primären psychischen Vorgänge des Neugeborenen sollen dem
Lustprinzip unterstehen, die späteren des reifen Menschen zwar letzten
Endes auch durch dasselbe regiert werden; sie lassen sich aber vom
Realitätsprinzip in ihren Ablauf beeinflussen, um besser der zu er-
reichenden Lust teilhaftig zu werden. „In Wirklichkeit bedeutet die
Ersetzung des Lustprinzips durch das Realitätsprinzip keine Ab-
setzung des Lustprinzips, sondern nur eine Sicherung desselben. Eine
momentane, in ihren Folgen unsichere Lust wird aufgegeben, aber
nur darum, um auf dem neuen Wege eine später kommende, aber ge-
sicherte zu gewinnen“ (IV, 8. 276). Wer nun jeweilig nicht auf Lust-
vewinnung verzichten kann, erleidet leicht einen psychischen Kontlikt.
der zur Neurose führen kann, wenn die übrigen Bedingungen für die
Neurosenbildung günstig sind. Zur Begründung dieser Theorie weist
Freud auf das Leben des Säuglings hin (ein Objekt, das er zwar nie
persönlich studiert, aber immer wieder .beurteilt). Dieser soll nun
wahrscheinlich die Erfüllung seiner inneren Bedürfnisse (des Hungers
vor allen) halluzinieren: bei steigendem Reiz und ausbleibender Be-
friedieung soll er seine Unlust hierüber dureh motorische Abfuhr des
Schreiens und Zappelns und darauf „.halluzinierte Befriedigung“ er-
leben (so zu lesen in VI, 5. 273). „Erst das Ausbleiben der erwarteten
Befriedigung, die Enttäuschung hatte zur Folge, daß dieser Versuch
der Befriedigung auf halluzinatorischem Wege aufgegeben wurde.
Anstatt seiner mußte sich der psyehische Apparat. entschließen, die
realen Verhältnisse der Außenwelt vorzustellen und die reale Ver-
änderung anzustreben“ (VI, S. 272).
Kritik: Diese Neuauflage eines Hedonismus zeichnet sich
wenigstens dureh die Originalität der Begründung vor den bisherigen
aus. Daß der Säugling aber anfänglich seine Bedürfnisse halluzina-
torisch befriedigt, stimmt nicht. Manche „Saugstarken“ trinken bald
nach der Geburt und „suchen“ sogar die Brust nach kurzer Zeit. Er-
u IB ss
hält so ein Geschöpf nicht rechtzeitig die Nahrung, so macht es nicht
gerade den Eindruck, als ob es eine Fata morgana erlebt, nein, es
schreit mächtig, doch findet mit diesem Schreien keine „motorische
Abfuhr“ statt, denn es schreit noch mehr und zuletzt wimmert es
nur noch, weil zum Schreien die Kraft nicht mehr reicht und endlich
stirbt es. Es klingt fast, als ob Freud sich über den armen kleinen
Kerl lustig machen wollte. |
Nun könnte ja der Beweis Freuds mißraten, die Konzeption
könnte doch richtig sein. Ist denn wirklich die Erlangung von Lust
resp. die Vermeidung von Unlust der einzige Motor des seelischen
Geschehens (das Realitätsprinzip steht ja im Dienste des Lust-
prinzips)? Diese Frage kann nur beantwortet werden, wenn man sich
das Wesen und die Funktion der Lust-Unlustgefühle klar macht. Schon
Spinoza formulierte Lust als einen Hinweis auf den Übergang des
Menschen von geringerer zu größerer Vollkommenheit (Ethik II.
Def. d. Affekte). In modernerer Sprache ausgedrückt besagt dieser
Satz, daß biologisch gesehen die Lust ein beim Menschen nicht mehr
voll zuverlässiger Indikator ist für den augenblicklichen Zustand und
das Gedeihen des Individuums. Beim Tier z. B. ist der Wohlgeschmack
der Speisen ausschlaggebend für deren Bekömmlichkeit. Es ißt aber
wohl nicht um der Lustgefühle willen, sondern weil es Hunger hat
und auch dann nicht um den Unlustgefühlen des Hungers zu entgehen.
sondern immer nur, weil der Hunger etwas Treibendes hat. Dasselbe
gilt vom Säugling. Dieser strebt nicht danach, Lust zu erlangen oder
Unlust zu vermeiden. Nur wer bewußt eine lustvolle Handlung er-
lebt hat, kann danach streben, um der zu erwartenden Lust wegen.
Der Säugling ist ganz „Realist“ und läßt sich auf gar keine Hallu-
zinationen ein. Erst. später, wenn er schon der Mutterbrust längst
entw6hnt ist, lernt der Mensch sich auf eine Speise freuen, aber auch
dann ißt er sie gewöhnlich, weil er Hunger hat. und Hunger hat wahr-
scheinlich deswegen. weil sein Organismus Bedürfnisse hat und diese
Bedürfnisse sich u.a. in Form des Hungergefiihls, das als Appetit auch
sehr lustvoll sein kann, äußern. Schaut man etwas genauer hin, so ist
ja das Hungergefühl eigentlich das psychische Geschehen und nicht
das Essen. Nach Freud müßte dann der Motor dieses Unlustgefühls
ein Lustgefühl sein das dürfte auch er als unsinnig ablehnen, es
ist aber bei strenger Fassung die notwendige Konsequenz seiner Kon-
zeption. Der Organismus verfügt über eine unübersehbare Zahl von
psychischen und physischen Einrichtungen, durch deren Funktion der
Organismus des Individuums und der Art erhalten und entwickelt
wird. Diese Erhaltungs- und Entwicklungstendenzen sind der Motor,
si BR, an
das Prinzip auch des psychischen Geschehens. Die Lust- und Unlust-
sefühle sind „nur“ als die Indikatoren für den ungehinderten Ablauf
des Gesamtgeschehens aufzufassen. Ein Verlust der Schmerzempfin-
dung, doch wohl eine Form der Unlust, hat für den Organismus genau
so fatale Folgen, wie ein Verlust der Lustempfindungen. Erst spät
stellen sich beim erwachsenen Menschen psychische Funktionen ein,
die nur auf Gewinnung von Lust tendieren. Doch selbst der größte
Wüstling muß unter dem Drang der inneren Lebensnotwendigkeiten
handeln, ansonst er stirbt. Daß ein reibungsloses Geschehen von Lust-
gefühlen begleitet ist, beweist doch nicht, daß es um dieser Lust willen
erstrebt ist. „Wenn Raphael armlos geboren wäre, er würde mit den
Beinen malen.“ Dieser Satz gilt für alle Anlagen jedes Menschen.
Die Sprechfähigkeit, wie die Musikalität, regen im Zusammenwirken
mit den Umweltsfaktoren die psychische Tätigkeit an, und regen sie
auch dann an, wenn die Betätigung von stärkster Unlust begleitet ist.
Mit welcher unendlichen Mühe macht ein Kind seine Geh- und Lauf-
versuche. wie oft fällt es hin, aber es achtet nicht der schmerzhaften
Beulen und beginnt von neuem; die sich regende Anlage treibt es.
Gewiß strahlt es, wenn es sein Ziel erreicht hat, aber es tat es nicht
um der Lust willen, es dachte nicht an sie, es trieb sozusagen l'art
pour l'art. Es „wollte“ eine schwere koordinierte Bewegung „ein-
üben“ und „nahm die schwersten Gefahren auf sich“. Ist aber die
Sache eingeübt, so verliert die „Übung“ für es an Wert. Der „innere
Bauplan“ des Organismus, die Tendenz zur Entwicklung der in ihm
liegenden Potenzen ist der treibende Mcior jedes Also auch des
psychischen Geschehens. Die beiden Prinzipien Freuds atmen den
(reist wirklichkeitsfremden Rationalismus. Was in ihr richtig ist. ist
durch das sog. Gesetz der Entwicklung nach dem Prinzip des gering-
sten Widerstandes viel adäquater zum Ausdruck gebracht, auf dessen
Besprechung wir hier nicht weiter eingehen können. So läßt sich die
Konzeption des Hedonismus, noch weniger aber ihre Begründung aus
dem Leben des Säuglings, nicht halten.
Darstellung: Freud rühmt sich, der Vater der dynamischen,
ökonomischen und topischen Psychologie zu sein. Richtig ist nur,
daß er den topischen Gesichtspunkt neu konzipiert hat. Schon Her-
barts Psychologie ist nach streng dynamischen Prinzipien aufgebaut,
und hat die Begriffe der Verdrängung, des Widerstandes, des Un-
bewußten zum größten Teil in der Terminologie Freuds gelehrt.
Dieser Standpunkt ist niemals verlassen worden. Th. Lipps Lehre
von der psychischen Kraft, Wundts Voluntarismus. um nur zwei
hervorragende Vertreter der neueren Psychologie kurz vor Freuds
— 56 —
eigenem Wirken zu nennen, sind ebenso dynamisch wie ökonomisch.
da beide Begriffe ja voneinander abhängig sind. Die Dynamik fordert
die Ökonomik. Steht dem Organismus nur eine bestimmte
psychische Kraft zur Verfügung, üben die Vorstellungen aufeinander
bald eine fördernde. bald eine hemmende Wirkung aus, hängt die
Verteilung der Kraft von der Summe der im Augenblick wirkenden
psychischen Funktionen ab, so ergibt sich das Prinzip einer dyna-
misch-ökonomischen Psychologie von selbst. Dies alles ist aber mit
vollendeter Klarheit von Herbart ausgesprochen und von den
späteren nie aufgegeben worden. Die Anwendung von Mathematik auf
Psychologie setzt eine solche Auffassung voraus. Der tropische Ge-
sichtspunkt allerdings ist Freudsches Gut, er wird aber von ihm
selbst als rohe Hilfshypothese, die versagt, wenn man mit ihr Ernst
machen will. bezeichnet. (Hemmung, Symptom und Angst, 1926.
Vorl. 1916.) Am allerwenigsten ist der Begriff des Unbewußten von
Freud zuerst konzipiert worden, wenn er auch das Verdienst hat.
ihn in der Psychiatrie zur Diskussion gebracht zu haben, die noch
jetzt nicht angeschlossen ist.
Die Theorie des Unbewußten allerdings und die Charakterisierung
desselben hat er originell ausgebaut. Bis Freud sah man in un-
bewußten Vorgängen solche seelischen Akte, die der inneren Wahr-
nehmung nicht zugänglich waren, sich sonst aber in niehts von den
bewußten Vorgängen unterschieden. Da man mit guten Gründen den
Wahrnehmungen. Vorstellungen, Gedanken, Willensakten als psy-
ehisehen Abläufen, die etwas erfassen. denken wollen, um etwas
Wissen usw. den Gattungsbegriff des Bewußtseins nicht gut vorenthal-
ten konnte, nannte man solche Vorgänge auch unterbewußt, bewußt-
seinsverwandt. binnenbewußt u. ä. und meinte damit dasjenige, was
Freud u. a. unter dem Begriff unbewußt verstanden hat, nämlich
psychische Geschehnisse, die von der Selbstwahrnehmung nicht be-
merkt wurden. Sie sind unbewußt im passiven Sinne, d. h. sie sind
zwar bewußte Vorgänge im aktiven Sinne, insofern als sie wahr-
nehmen, vorstellen usw., aber von diesem Vorstellen usw. weiß das
Individuum nichts. sie sind ungewußt, sie entgehen der Selbstwahr-
nehmung. Diese Auffassung findet sieh bei Herbart, bei Lipps.
sie findet sich bei Forel, bei Janet und bei vielen anderen. Die
Tatsachen der Hypnose, der Inspiration. die Erscheinungen der
Hysterie und vieles andere forderten diese Annahme, die auch von
Freud akzeptiert wurde. Im Laufe seiner Forschungen glaubte er
nun. neue, bisher unbekannte Charakteristika des Unbewußten ent-
deekt und die Entstehung und Seinsbedingungen desselben erforseht
[nn
Ss). DT gen
zu haben, worüber bis dahin völliges Dunkel resp. ungenügende
Hypothesen geherrscht hatten. |
Die Seinsbedingungen sind nach drei Gesichtspunkten zu ordnen.
die Freud zwar unterscheidet, aber leider nicht streng genug ausein-
anderhält. Der eine Gesichtspunkt kann als der metaphysische be-
zeichnet werden. „Es bleibt uns in der Psychoanalyse gar nichts
anderes übrig, als die seelischen Vorgänge für an sich unbewußt zu
erklären und ihre Wahrnehmung durch das Bewußtsein mit der
Wahrnehmung der Außenwelt durch die Sinnesorgane zu verglei-
chen. Die psychoanalytische Annahme der unbewußten Seelen-
tätigkeit erscheint uns ... als die Fortsetzung der Korrektur, die
Kant an unserer Auffassung der äußeren Wahrnehmung vor-
genommen hat. Wie Kant uns gewarnt hat, ... unsere Wahr-
nehmung nicht für identisch mit dem unerkennbaren Wahrgenomme-
nen zu halten, so mahnt die Psychoanalyse, die Bewußtseinswahr-
nehmung nicht an die Stelle des unbewußten psychischen Vorganges
zu setzen, welcher ihr Objekt ist“ (1, 8. 301). Das innere Objekt ist
nun allerdings „minder unerkennbar als die Außenwelt“ (I, S. 301).
Wenn auch Kant zu Unrecht zitiert ist, da das Kantsche Ding an
sich mit den zuletzt doch erkennbaren Unbewußten aber auch.
garnichts zu tun hat, worauf wir hier nicht mehr einzugehen
brauchen*), so läßt die Meinung Freuds sich dahin verstehen, daß
die psychischen Vorgänge ursprünglich unbewußt. sind, um bei ge-
gebener Gelegenheit bewußt zu werden. Und zwar unbewußt in dem
Sinne, daß sie bei ihrem Wahrgenommenwerden von dem ursprüng-
lichen unbewußten Zustand verschieden und in ihrem wahren Cha-
rakter vom bewußt Wahrgenommenen abweichen. Unter einem
zweiten Gesichtspunkte rechnet Freud „dieererbten psychischen
Bildungen, das dem Instinkt. der Tiere Analoge“ zum Kern des Un-
bewußten. Zu ihm gehören auch sämtliche nicht aktivierten Ge-
dächtnisdispositionen, sowohl die angeblich ererbten, die das „Kollek-
tive Unbewußte“ ausmachen, als die erworbenen, die die individuel-
len im Augenblick nicht funktionierenden Gedächtnisgrundlagen dar-
stellen.
* Unter einem dritten Gesichtspunkt sieht Freud im Unbewußten
das Verdrängte, das sich auch nach ihm wesentlich von den beiden
ersten Formen unterscheidet. Die zweite Form des UnbewuBten als
ererbte oder erworbene Gedächtnisdisposition ist von allen Forschern
* Siehe Nachmansohn, Das Binnenbewußte Schweiz. Arch. f.
Neurol. u. Psych. 1926.
gleichmäßig anerkannt worden und es handelt sich um eine rein
metaphysische, also mit empirischen Mitteln gar nicht lösbare Streit-
frage, ob diese „ruhenden“ Residuen Spuren, Dispositionen, Repro-
duktionsgrundlagen Engramme oder wie man das Potentielle sonst
bezeichnen will, als psychisch oder physisch aufzufassen sind. So-
lange die Dispositionen nicht aktiviert sind, üben sie keine Wirkung
im einzelnen aus, wenn es auch keinem Zweifel unterliegt, daß der
vorhandene Gedächtnisschatz in seiner Gesamtheit von grundlegenden
Einfluß auf das ablaufende psychische Geschehen ist. Er wirkt so-
zusagen durch sein Sein und nicht durch seine Aktiviertheit. Um
dieses „Unbewußte“ ist ja nur ein metaphysischer oder terminolo-
gischer Streit geführt worden, an der Sache selbst wurde ja nie ge-
zweifelt oder gerüttelt. l
Dieses Unbewußte ist jedoch toto coelo verschieden von dem
durch Verdrängung entstandenen Unbewußten, das nicht nur latent,
sondern auch von stärkster Wirksamkeit sein soll. Dieses Unbewußte
ist es, das für die Erscheinungen der Hypnose und für die Psycho-
analyse die entscheidende und erklärende Bedeutung hat. Nicht
Freud hat dieses unbewußt Wirksame entdeckt, sondern schon
Herbart, der in klarster Weise beide Formen auseinanderhält und
unabhängig von ihm die Erforscher der Hypnose — Freud hat aller-
dings das große Verdienst, die Bedeutung dieses Begriffes für alle
Gebiete der Psyehopathologie erkannt zu haben. Während die
Hypnose mit diesem Begriff nichts anderes anzufangen wußte, als ihn
zur Erklärung der posthypnotischen Erscheinungen heranzuziehen,
machte ihn Freud zur Erklärungsgrundlage aller psychopathologi-
schen Gegebenheiten, so daß mit Recht die Bedeutung der Psycho-
analyse in der Fruchtbarmachung des Unbewußten gesehen werden
kann.
Doch Freud ging noch weiter und stellte auch eine neue Theorie
über dieses dynamische Unbewußte auf.
Die bisherigen Theorien lehrten, daß das Unbewußte durch Ab-
spaltung eines Bewußtseinkomplexes vom normalen Bewußtsein ent-
stehe und sahen die Bedingungen für diese Abspaltungen entweder in
einer konstitutionellen Schwäche zur geistigen Synthese (Janet)
oder in hypnoiden Erlebnissen (Breuer), die aber schon 1890 von
Moebius eingehend beschrieben worden sind. Dieser Forscher hatte
geschrieben: |
„Die Voraussetzung des pathogenen Wirkens der Vorstellungen
ist eine angeborene, d. h. die hysterischen Anlagen einerseits — und
ein besonderer Gemütszustand andererseits. Von diesem
wer, "SO. ze
Gemiitszustand kann man sich nur eine unklare Vorstellung machen.
Er muß dem hypnotischen ähnlich sein, er muß einer gewissen Leere
des Bewußtseins entsprechen, in der einer auftauchenden Vorstellung
von seiten anderer kein Widerstand entgegengesetzt wird, in der so-
zusagen der Thron für den ersten besten frei ist. Wir wissen, daß
ein solcher Zustand außer durch Hypnotisierung durch Gemüts-
erschütterungen (Schreck, Zorn) und durch erschöpfende Ein-
tlüsse herbeigeführt. werden kann“ (Moebius, Neurol. Beiträge, zitiert
bei Breuer und Freud, Studien über Hysterie, 1. Aufl., S. 188).
In solchen Erlebnissen soll es zu den genannten seelischen Abspaltun-
gen kommen, die tnbewuBt werden und wie ein Fremdkörper das Be-
wußtsein als wirksame Kraft beeinflussen.
Dieser Konstitutions- und Hypnoidtheorie setzte Freud seine
Verdrängungstheorie entgegen. Um sie zu verstehen, müssen wir
seine Verdrängungslehre, die nach der Überzeugung des Schöpfers
das psychologische Fundament. der Psychoanalyse ist, kennen lernen.
Die Verdrängung ist nach Freud ein psychischer Vorgang,
dessen Wesen nur in der Abweisung und Fernhaltung gewisser psy-
chischer Akte vom Bewußtsein besteht (I, S. 281). Von der eigent-
lichen Verdrängung trennt Freud die Urverdrängung ab, „eine erste
Phase, die darin besteht, daß der psychischen Vorstellungsrepräsen-
tanz des Triebes die Übernahme ins Bewußtsein versagt wird. Mit
dieser ist eine Fixierung gegeben; die betreffende Repräsentanz bleibt
von da ab unveränderlich bestehen und der Trieb an sie gebunden“
(I, S. 281). Die zweite Stufe der Verdrängung, die eigentliche Ver-
drängung, betrifft psychische Abkömmlinge der verdrängten Reprä-
sentanz, oder solche Gedankenzüge, die anderswoher stammend, in
assoziative Beziehung zu ihr geraten sind. Wegen dieser Beziehungen
erfahren die Vorstellungen dasselbe Schicksal wie das Urverdrängte“
(I, S. 282). Nicht nur eine AbstoBung durch das Bewußtsein findet
statt, sondern auch eine Anziehung durch das Urverdrängte auf alles,
womit es sich in Verbindung setzen kann“ (1, S. 282). Das Verdrängte
besteht im Unbewußten fort, organisiert sich weiter, bildet Abkömm-
linge und knüpft Verbindungen an (I, 8. 282). Die verdrängte Trieb-
repräsentanz entwickelt sich um so ungestörter und reichhaltiger, je
mehr sie dem Einfluß des Bewußtseins entzogen ist. „Sie wuchert so-
zusagen im Dunkeln, findet extreme Ausdrucksformen, welche, wenn
sie dem Neurotiker übersetzt und vorgehalten werden, ihm nicht nur
fremd erscheinen müssen, sondern auch durch die Vorspiegelung einer
außerordentlichen und gefährlichen Triebstärke schrecken. Diese
täuschende Triebstärke ist das Ergebnis einer ungehemmten Ent-
— 60 —
faltung in der Phantasie und der Aufstauung infolge versagter Be-
friedigung’ (I, S. 283). Nicht alle Abkömmlinge des Urverdrängten
werden nach Freud vom Bewußtsein abgehalten. Sobald sie nur
genügend entstellt sind, steht ihnen auch der Zugang zum Bewußt-
sein frei.
Mit der Verdrängung allein ist es nicht getan: „sie erfordert näm-
lich einen anhaltenden Kraftaufwand, mit dessen Unterlassung der
Erfolg in Frage gestellt wäre. so daß ein neuerlicher Verdrängungs-
akt notwendig würde. Wir dürfen uns vorstellen. daß das Verdrängte
einen kontinuierlichen Druck in der Richtung zum Bewußtsein hin
ausübt, dem durch unausgesetzten Gegendruck das Gleichgewicht ge-
halten werden muß (I. S. 285).
Bemerkenswert ist ferner, daß die Verdrängung der Vorstellung
einen wesentlich anderen Charakter trägt, als diejenige, die den dem
Trieb anhaftenden Affekt trifft. Die Vorstellung verschwindet einfach
aus dem Bewußtsein. Das Schicksal des „quantitativen Faktors“ der
Triebrepräsentanz (des „Alfektbetrages“) kann ein dreifacher sein.
Er wird entweder ganz unterdrückt, so daß er auch die dynamische
Wirksamkeit verliert, oder er Kommt als irgendwie qualitativ ge-
färbter Affekt zum Vorschein oder er wird in Angst verwandelt. „(re-
lingt es der Verdrängung nicht, Unlust. oder Angst zu verhüten. so
dürfen wir sagen, sie sei mißglückt‘“ (I, S. 258).
Mit der Lehre von der Verdrängung hängt die Theorie der
Topik aufs engste zusammen, die auch als psychische Systemlehre
bezeichnet worden ist. Sie schafft nämlich das System Ubw., dem
Vbw. und Wbw. gegenüberstehen, die schon vou Anfang der psychi-
schen Entwicklung an, sobald nur etwas wie Gedächtnis gegeben ist.
vorhanden sind. Das System Wbw. repräsentiert diejenigen psychi-
schen Funktionen, die wahrnehmen. vorstellen, denken, fühlen usw..
das Vbw. ist als solehes funktionsfrei. Die psychischen Gegebenheiten
befinden sich im Stadium der Latenz, ohne besondere Wirkungen aus-
zuüben, es ist niehts anderes als die Summe der jederzeit aktivier-
baren Dispositionen. Das System Ubw. „enthält“, wie Freud aus-
drücklieh betont, nur die verdrängten psychischen Akte, die in ihrer
Wirksamkeit nicht aufgehoben sind und „ungewußt“ (IV, S. 10) den
Ablauf des psyehischen Geschehens beeinflussen. Die Vorstellungen
wandern je nach den Bedingungen von einem System ins andere.
Doch gilt das nur von den Vorstellungen; die Affekte sind nur in
bewußter Form möglich. „Ich meine wirklich, der Gegensatz von
bewußt und unbewußt, hat auf den Trieb keine Anwendung ... denn
zum Wesen eines Gefühls gehört es doch, daß es verspürt. also dem
ef u
Bewußtsein bekannt wird. Die Möglichkeit einer Un-
bewußtheit würde also für Empfindungen, Gefühle,
Affekte völlig entfallen‘*) (I, S. 307). So wird zwar die
Affekt- oder Gefühlsregung wahrgenommen, aber verkannt. Sie ist
durch ‘Verdrängung der ihr zugehörigen Vorstellungen zur Ver-
knüpfung mit anderen Vorstellungen genötigt worden. „Wenn wir
den richtigen Zusammenhang wieder herstellen, heißen wir die ur-
sprüngliche Affektregung eine unbewußte, obwohl ihr Affekt nie-
mals unbewußt war, nur ihre Vorstellung der Verdrängung erlegen
ist“ (I. S. 308). Wird aber der Affekt doch unterbunden, dann ist
er im strengen Sinne unwirksam; während die verdrängte Vorstellung
als dynamisch wirksame psychische Funktion unbewußt in Tätig-
keit bleibt.
Die Dynamik der Verdrängung spielt sich nach Freud wie
folgt ab:
Bei der Verdrängung handelt es sich um eine „Entziehung von
Besetzung“, worunter Freud psychophysische Energie resp. wenn es
sich um sexuelle Energie handelt, Libido versteht (I, S. 313). Doch
da die unbewußten Vorstellungen wirksam sind, nimmt Freud an.
daß sie vom Ubw. her Besetzung erhält, oder sie schon früher erhalten
hatten. Damit aber das Unbewußte nicht mit der erhaltenen Besetzung
zum Bewußtsein dringe, findet eine „Gegenbesetzung“ statt, wozu die
entzogene Besetzung verwendet wird. Diese Annahmen begründen vor
allem die Topik und Ökonomik. Das Austauschen der psychischen
Energie beweist das ökonomische, die Besetzungen und „Gegen-
besetzungen“ an der Grenze das systematische Prinzip des seelischen
(reschehens. Fassen wir die Freud sche Verdrängungslehre in einigen
Sätzen zusammen: Vorstellungen, die geeignet sind, Unlust hervor-
zurufen, werden verdrängt und damit unbewußt. Der ihnen anhaftende
Affekt wird entweder unterbunden oder auf andere Vorstellungen ver-
schoben oder in Angst verwandelt. Die Wirksamkeit der verdrängten
Vorstellungen wird durch „Besetzungen“, die ihnen im System Ubw.
zufließen, hergestellt und durch .„Gegenbesetzungen“ im Vbw., die
Zensur, in Schach gehalten. Je nach der Stärke der beiden Besetzun-
gen ist die Verdrängung mehr oder weniger geglückt.
Kritik: Unsere Kritik hat am Ubw., das durch Verdrängung
entstanden ist, anzusetzen, da über die metaphysische Fassung ein-
fach deshalb nicht diskutiert werden kann, weil sie unbegründet da-
steht und ihre Berechtigung auch nicht andeutungsweise dargetan ist.
*) Von uns unterstrichen.
Nachmansohn, Die wissenschaftlichen Grundlagen der Psychoanalyse Freuds. Abh.H.45. 5
Die Fassung als Disposition spielt, wie Freud selbst betont, für sein
System keine Rolle und ist auch nicht psychoanalytisches Gut. Ist
nun die Lehre Janets von der konstitutionellen Schwäche zur
geistigen Synthese überflüssig, ist die Hypnoidtheorie (Moebius-
Breuer) durch die Verdrängungstheorie ersetzt worden, wie Freud
meint? Nein! Die Erlebnisse nach Eisenbahnunfällen und sonstigen
langdauernden Emotionen rechtfertigen die Hypnoidtheorie voll-
kommen, wenn sie auch keineswegs ausreicht, sämtliche Erscheinun-
gen der Hysterie zu erklären, worauf Breuer ausdrücklich hinweist.
Die Theorie der konstitutionellen Schwäche dürfte für die Degene-
rationshysterie volle Bedeutung haben und im übrigen die Ver-
drängungstheorie ergänzen resp. für die Verdrängungslehre eine der
notwendigen Voraussetzungen bilden. Da nicht alle Menschen gleich
stark verdrängen, darf der konstitutionelle Faktor nicht außer acht
velassen werden, den Freud zwar theoretisch anerkennt, wenn er
ihn in der Praxis auch vernachlässigt. Die Verdrängungslehre kann
also nur als Ergänzung der beiden genannten Theorien gelten. Das
ist allerdings ihr großer Vorzug, da unerhörte Nova, die in der vor-
hergehenden wissenschaftlichen Forschung keine Anhaltspunkte
haben, immer sehr verdächtig sind.
Was wertvoll ist, ist der Begriff der Verdrängung als solcher.
doch nicht in der Freudschen Fassung. Hier ist es mit verblüffen-
den Widersprüchen behaftet. Daß nur Vorstellungen unbewußt resp.
verdrängt werden, während „Empfindungen, Gefühle und
Affekte nur als bewußte existieren können, will nicht einleuchten,
denn es wird sehr rätselhaft, woher denn dann die unbewußten Vor-
stellungen ihre Wirksamkeit beziehen. Sie sollen sie im Unbewußten
erhalten, nachdem sie ihre Energie durch die Verdrängung verloren
haben. Doch im Unbewußten dürfen ja nach Freuds Behauptung
nur qualitative Vorstellungen sein, der quantitative Betrag
erlitt ja eine Lösung und Abfuhr. Was ist das für eine unbewußte
psychische Energie, die sich nur in qualitativen Vorstellungen
äußern kann, während Gefühle. Empfindungen und Affekte ihr
vorenthalten sind? Nach dem ökonomischen Prinzip darf ja die Wirk-
samkeit nur vom quantitativen Faktor ausgehen, dieser ist aber nach
der Freudschen Lehre entweder unwirksam oder bewußt. Der Be-
griff „Besetzung“, die eine Vorstellung im Ubw. erhält, ist doch nicht
eine vis occulta, denn psychophysische Energie kann sich doch nur in
Empfindungen, Gefühlen, Affekten und Vorstellungen äußern. Fehlt
aber den Vorstellungen der quantitative Faktor und existieren die
übrigen Manifestationen der psychophysischen Energie nur im Be-
FE > ER
wußten, ja dann wird die Wirksamkeit der verdrängten Vorstellungen
zum Wunder. Die Lehre von der Gegenbesetzung wird aber auch
gegenstandslos, wenn im Ubw. nur qualitative Vorstellungen sein
können. Ohne die Annahme, daß die affektvolle Vorstellung, die ein
einheitliches Geschehen darstellt, als ganzes verdrängt wird, hat die
Verdringungslehre gar keinen Halt. Die Freudschen Lehren geben
aber noch weitere unlösbare Rätsel auf. Wenn die Verdrängung zur
Folge hat, daß die verdrängte Vorstellung ihre Energie verliert, die
zur Herstellung einer Gegenbesetzung verwandt wird, wie kommt es,
daß die eine qualitative energiefreie Vorstellung wieder „besetzt“, die
andere es nicht wird? Darauf findet sich bei Freud keine Antwort.
Gibt es keine unbewußten Gefühle und Affekte, so hängen die
Freudschen Hysterieforschungen in der Luft, fällt die Lehre von
der Katharsis, resp. der Abreaktion „eingeklemmter Affekte‘“ in sich
zusammen, bleiben seine und Breuers Erfahrungen in der Hypnose
unbegreifliche Rätsel. Auf die Frage, welche Kraft denn verdrängend
wirke, antwortet Freud: das „Ich“, resp. bestimmte Ichakte, die
zum Verdrängten in scharfem, unvereinbarem Widerspruch stehen,
Wenn von dieser Funktion die verdrängende Kraft ausgeht, so er-
scheint die Lehre von den „Gegenbesetzungen“, die auf Kosten des
Verdrängten errichtet werden, etwas überflüssig und vor allem
unbegreiflich. Es macht ja direkt den Eindruck, als ob die ver-
drängten Vorstellungen sich Kraft ihrer eigenen Energie verdrängt
haben und diese Energie sich als Gegenbesetzung organisieren mußte,
da die verdrängte, rein qualitative Vorstellung es verstanden hat,
eine vis occulta sich zuzulegen, weil ja voraussetzungsgemäß im Un-
bewußten Empfindungen, Gefühle und Affekte nicht existieren
können. Wir wissen bloß, daß gewisse Vorstellungen unbewußt wer-
den können, ohne ihre Wirksamkeit einzubüßen, — das wuBten wir
auch bisher. Die Freudsche Theorie der Dynamik der Verdrängung
ist aber nur dazu angetan, das ganze psychoanalytische System in
seiner wesentlichsten Grundlage: dem verdrängten Unbewußten zu
erschüttern.
Die „Topik“ erklärt ja überhaupt nichts, sondern dient ja nur
zur Veranschaulichung, und zwar ist diese eine recht grobe und
arbeitet mit den denkbar rohesten Hilfsbegriffen, was Freud selber
zugibt. Selbst ein didaktischer Wert ist ihnen abzusprechen, weil die
räumlichen Begriffe, wie „Entree“, .,Empfangszimmer“ und „Aller-
heiligstes‘“‘ bildliche Ausdrücke für Wbw., Vbw. und Ubw., dem
eigentlichen dynamischen und biologischen Geschehen völlig inadä-
quat sind und dem Leser ein ungebetenes testimonium paupertatis
y 5°
ee HRA, nate
ausstellen dadurch, daß man bei ihm die Notwendigkeit mit solch
rohen Hilfsvorstellungen zu arbeiten, voraussetzt. Die Vorstellung.
die Seele sei ein Taubenschlag mit vielen Fächern und die Vorstellun-
gen wären Tauben zu vergleichen, steht auf keinem höheren wissen-
schaftlichen Niveau als die psychische Systemlehre Freuds. Sie
kann nur zur Vergröberung des psychologischen Denkens beitragen.
Solange sich Freud „die Sache weniger wissenschaftlich“, wie
er ‘selbst in seiner Abhandlung „Zur Geschichte der psychoanalyti-
schen Bewegung“ sagt, „zurechtlegte, überall Tendenzen und Neigun-
gen witterte, analog denen des täglichen Lebens, und die psychische
Spaltung selbst als Ergebnis eines AbstoBungsvorganges auffaBte (I.
S. 7), befand er sich auf gesichertem psychologischen Boden. Sein
psychologischer Scharfblick hatte ihn den Widerstand, die Abwehr
direkt mit Händen greifen lassen. Erst als er daran ging, diese Erfah-
rungen theoretisch zu verarbeiten, ersann er seine psychologische
Systemlehre, glaubte er den Empfindungen, Gefühlen und Affekten den
Charakter des Unbewußten absprechen zu müssen, konstruierte er das
Hin- und Herschieben der „Besetzungen“ und brachte damit seine
besten empirischen Erkenntnisse ins Wanken. Dabei waren die
Elemente zur Aufstellung einer widerspruchsfreien Theorie der Ver-
drängung einfach gegeben und hatten schon vor über hundert Jahren
in Herbart eine klare Darstellung gefunden. Es hat nicht nur ein
hohes historisches Interesse, sondern ist auch von rein sachlicher.
großer Bedeutung, die Verdrängungslehre dieses großen Psychologen
kennen zu lernen: Wir wollen ihn möglichst in seinen eigenen Worten
zitieren: „Vorstellungen werden Kräfte, inden sie einander wider-
stehen. Dies geschieht, wenn ihrer mehrere entgegengesetzte zu-
sammentreffen“ (VIII, S. 15). „Widerstand ist Kraftäußerung; dem
Widerstehenden aber ist. sein Wirken ganz zufällig, es richtet sich
nach dem Grad der Anfechtung, die unter Vorstellungen gegen-
seitig ist und durch den Grad ihres Gegensatzes bestimmt wird“...
„Was geschieht nun durch den angegebenen Widerstand? Vernichten
sich die Vorstellungen ganz oder teilweise? Oder bleiben sie unver-
ändert. trotz dem Widerstande? ... Das Vorstellen muß nachgeben.
ohne vernichtet zu werden. Das heißt. das wirkliche Vor-
stellen verwandelt sich in ein Streben, vor-
zustellen“ (also genau umgekehrt, wie Freud es theoretisch
lehrt, wenn auch ganz im Sinne der Empirie Freuds). „Hier sagt
schon der Ausdruck, daß sobald das Hindernis weicht. die Vor-
stellung durch ihr eigenes Streben wieder hervortreten wird“ (S. 16).
Herbart unterscheidet dann zwei Arten von Schwellen des Bewußt-
ee G
seins, die er als statische und mechanische oder dynamische be-
zeichnet. Auf der statischen Schwelle befinden sich die Vorstellungen,
wenn sie latent und unwirksam sind, wobei sie aber jeder Zeit be-
wußt werden können, auf der dynamischen Schwelle, wenn sie ver-
drängt sind und man sich der Vorstellung nicht durch innere Wahr-
nehmung bewußt werden kann (VIII, S. 18). „Nun kann es sich er-
eignen, daß einige der älteren Vorstellungen durch eine neue... auf
eine Zeitlang völlig aus dem Bewußtsein verdrängt werden. Als-
dann aber ist ihr Streben nicht als unwirksam zu betrachten, sondern
es arbeitet mit ganzer Macht wider die im Bewußtsein befindlichen
Vorstellungen. Sie bewirkt also einen Zustand des Bewußtseins, wäh-
rend ihr Objekt keineswegs wirklich vorgestellt wird. Man be-
nenne die Art und Weise. wie jene Vorstellungen
aus dem Bewußtsein verdrängt und doch darin
wirksam sind. mit dem Ausdruck: sie sind auf der
mechanischen Schwelle. die obige Schwelle (auf der die ge-
hemmten Vorstellungen unwirksam sind) heiße dagegen zum Unter-
schied die statische Schwelle“ (VIII, S. 19:20). Diese Lehre, von der
wir hier ein paar wichtige Sätze herausgehoben haben, hat bis in
unsere Tage offizielle wissenschaftliche Vertreter gehabt. Wir sind
uns ihrer Schwächen wohl bewußt. Dennoch müssen wir sagen, daß
sie das psychische Geschehen wesentlich klarer und einfacher meistert
als die ungeheuer komplizierten Gedankensprünge Freuds, bei
dessen Lektüre man unwillkürlich an den jüdischen Witz denken muß
„Wenn ich kann gehen krumm. warum soll ich gehen grad?“ Die
Herbartsche Lehre hat dureh die modernen psychopathologischen
Erfahrungen ihre Bestätigung gefunden. Die hypnotischen und
hysterischen Phänomene forderten eine Wirksanıkeit des Gehemmten
und riefen die Einsicht hervor, daß den verdrängten Vorstellungen
nicht die Aktivität genommen zu sein braucht. Es ergab sich auch
ılie weitere Erkenntnis, daß gerade diesen Vorstellungen infolge des
Druckes und Gegendruckes. unter dem sie stehen, eine hohe psycho-
pathogene Bedeutung zukommt und daß alle psychopathologische
Forschung hier ihren Ausgangspunkt nehnien müsse. Der Ver-
drängungstheorie, wenn auch nicht in der Freudschen Form, dürfte
früher oder später in der Psvchopathologie und Psychotherapie die-
selbe Bedeutung zukommen wie der Infektionslehre bei der Ent-
stehung fieberhafter Erkrankungen. Und darin dürfte denn auch das
Hauptverdienst Freuds zu sehen sein, daß er trotz seiner unhalt-
baren Theorien praktisch die uniibersehbare Bedeutung des Begriffes
der Abwehr oder der Verdrängung erkannt und ihm empirisch mit so
großer Energie nachgegangen ist.
Darstellung: Freud glaubt, dem durch Verdrängung ent-
standenen Unbewußten besondere Charaktere zuschreiben zu müssen,
die sich im BewuBten nicht finden sollen. „Widerspruchslosigkeit,
Primärvorgang (Beweglichkeit der Besetzung), Zeitlosigkeit und Er-
setzung der äußeren Realität durch die psychische sind die Charak-
tere, die wir an zum System Ubw. gehörigen Vorgängen zu finden
erwarten dürfen“ (I, S. 319). Damit will Freud eine besondere Psy-
chologie des Ubw. begründen, von der er glaubt, daß sie der bisherigen
Psychologie entgangen sein müsse, da diese Eigenschaften dem Be-
wußtsein völlig fremd sein sollen.
Zunächst seien die einzelnen Merkmale des Ubw. erläutert. Unter
„Widerspruchslosigkeit im Ubw.“ versteht Freud die Tatsache, daß
sich dort psychische Vorgänge abspielen Können, die sich logisch ein-
ander ausschließen müßten. Die beiden Vorgänge laufen aber dennoch
nebeneinander ab, ohne sich gegenseitig zu stören. Gemeint ist also
innere Widersprochenheit. Im Begriff Primärvorgang werden die bei-
den Erscheinungen der Verschiebung um Verdichtung zusammen-
gefaßt. Es ist ein großes Verdienst Freuds, auf die Gesetze der
Affektverschiebung und Vorstellungsverdiehtung hingewiesen zu
haben, wenn er auch nicht der erste gewesen ist. — Herbart hat
es schon auch in sehr ähnlichen Worten getan, aber dieser Teil seiner
Lehre war in Vergessenheit geraten. Freud nennt diese Gescheh-
nisse deshalb Primiirvorgiinge, weil sie im nächsthöheren System, in
dem sich die sekundären Vorgänge abspielen. nicht vorkommen sollen.
Der Begriff der Zeitlosigkeit besagt, daß die Vorgänge des Systems
Ubw. zeitlos sind, d. h. „sie sind nicht zeitlich geordnet, werden durch
die verlaufende Zeit nicht abgeändert und haben überhaupt keine Be-
ziehung zur Zeit. Auch die Zeitbeziehung ist an die Arbeit des Wbw.-
Systems geknüpft (I, S. 318). Die Ersetzung der äußeren Realität
dureh die psychische soll wohl heißen. daß das Ubw. keine Rücksicht
auf die äußere Realität nimmt und die psyehischen Erlebnisse nicht
mit ihr vergleicht, um sie an ihr zu korrigieren.
Kritik: Die Eigenschaft der inneren Widersprochenheit fehlt
dem Bewußtsein keineswegs. „Der Mensch mit seinem Widerspruch“
ist als solcher auf Grund seiner bewußten Äußerungen erkannt wor-
den. Es gibt überhaupt keinen Menschen. der nicht gelegentlich das
sich Widersprechendste denkt. und sagt. ohne die logisehe Haltlosig-
keit zu merken. In jeder Gerichtsverhandlung wird versucht, dem
Angeklagten den Widerspruch in seinen eigenen Aussagen nach-
— 67 —
zuweisen, der Begriff der contradietio in adjecto beweist ja aufs
schlagendste, daß das Vorkommen sich widersprechender Äußerungen
im selben Gedankengang etwas sehr häufiges ist, sonst wäre der Be-
griff nicht so populär geworden. Ob die innere Widersprochenheit im
Ubw. häufiger vorkommt als im Wbw. ist, abgesehen von der prin-
zipiellen Bedeutungslosigkeit, überhaupt nicht erweisbar. Daß im
Ubw. auch in der strengsten Weise gearbeitet wird, beweist jedes
produktive Schaffen. So dürfte die „Widerspruchslosigkeit‘ durchaus
nicht nur dem Ubw. eigen sein.
Die Vorgänge der Verschiebung und Verdichtung sind ebenfalls
nicht dem Bewußtsein fremd, wie Freud behauptet. Daß mit der
fortschreitenden seelischen Entwicklung die Begriffe immer kompli-
zierter werden, daß in einer einzigen Vorstellung ein ganzes kompli-
ziertes Erleben, eine gewaltige Summe von Vorstellungen zusammen-
gefaßt sein kann, ist eine äußerst wichtige Einsicht, die in der wissen-
schaftlichen Psychologie noch nicht genügend behandelt worden ist,
weil die experimentelle Untersuchung solcher Vorgänge mit großen
methodologischen Schwierigkeiten verbunden sind. Dieses Geschehen
ist aber gewiß nicht nur dem Ubw. eigen. Das gleiche gilt auch vom
Begriff der Verschiebung. Die von ihrem Manne geärgerte Frau
reagiert bekanntlich ihren Zorn am Dienstmädchen ab. Ihr Affekt
gegen den Mann braucht dabei aber keineswegs. bewußtseinsunfähig
zu sein, wie er als Vorgang im „System Ubw.“ doch der Voraus-
setzung gemäß sein müßte. Die „Frau“ weiß auch oft ganz genau,
daß der „Mann“ der Schuldige ist — aber er ist jetzt gerade im
„Büro“. Also entlädt ihr Zorn sich zuerst am Dienstmädchen. Die
Vorstellung von diesem so nützlichen Wesen bekommt eine affektive
Tönung, die sie nicht bekommen hätte, wenn ihre Vorstellung vom
Mann nicht auch diese Tönung gehabt hätte. Der Affekt hat sich
„verschoben“. Kommt der Arme heim, dann entlädt sich der Zorn
auch gegen ihn. Die „Mobilität“ der Affekte ist sicher — und wohl
in erster Linie — eine Eigenschaft des bewußten Seelenlebens; ob sie
überhaupt im Ubw. stattfindet, ist gerade nach Freuds Voraus-
setzungen fraglich, da „dort“ überhaupt keine Affekte sein sollen.
Was Freud über die im „System Ubw.“ herrschende ,,Zeitlosig-
keit“ sagt, trägt den Charakter schwerster Begriffsvermengung. Ein-
mal sollen die Vorgänge durch die Zeit nicht verändert werden. Ob-
gleich diese Behauptung erweislich falsch ist, so hätte das — selbst
wenn sie richtig wäre — mit Zeitlosigkeit nichts zu tun. Dann sollen
sie nicht zeitlich geordnet sein — alle (?), doch dieses würde auch
keine Zeitlosigkeit beweisen. Die unbewußten Vorgänge sind aber im
— 868 —
selben Maße zeitlich geordnet wie die bewußten, ja nach den Er-
fahrungen der Hypnose ist das, was an unbewußt gewesenen Vor-
stellungen in diesem Zustand gesagt wird, besser und richtiger zeit-
lich geordnet als die bewußten Erinnerungen im nichthypnotischen
Zustande. Die Verschiebung des zeitlichen Zusammenhanges findet
sich bei bewußten Erinnerungen wesentlich häufiger. Jedes Zeugen-
verhör bestätigt diese Behauptung.
Daß die unbewußten Vorgänge keine Beziehung zur Zeit haben
sollen, ist aber ein Unding, das einen erschreckenden Mangel an er-
kenntniskritischer Besinnung an den Tag legt. Empirische Vorgänge
sind ohne diese Beziehung einfach gar nicht denkbar.
Eine besondere Psychologie des Ubw. hat Freud sicher nicht
entdeckt und das, was er bei der Analyse des Traumes als besondere,
dem Bewußtsein fremde Charaktere des Ubw. glaubte ansprechen zu
müssen, wird sich, wie wir bei der Behandlung seiner Traumpsycho-
logie werden zu beweisen haben, als Eigenschaft des Traumbewußt-
seins und nicht als solche des Ubw.. was für Freud nicht dasselbe
ist. entpuppen. Seine Psychologie des Ubw. ist eine Folge seiner
„System‘-Lehre. die dadurch in ihrer Haltlosigkeit erwiesen ist. Die
Zimmer- und Grenzentheorie Freuds forderte für die einzelnen
Kammern besondere Eigenschaften ihrer Insassen. Der Gedanke je-
doch, daß die Erlebnisse je nach der Gesamtsituation und nach dem
gerade wirkenden Gegendruck, der von bestimmten anderen Erleb-
nissen ausgeht, bald gehemmt oder verdrängt und bald gefördert wer-
den können, so daß das eine Erlebnis zu einer Zeit bewußt, zu einer
anderen wirksam unbewußt. zu wieder einer anderen als Disposition
weiterlebt und in diesem von vitalen Lebensnotwendigkeiten und
äußeren Faktoren bedingten psychischen Geschehen, das James
treffend als Bewußtseinsstrom bezeichnet hat. das seelische Leben
gesehen wird — dieser Gedanke läßt eine besondere Psychologie des
Ubw. gar nicht aufkommen. Von diesem Gesichtspunkt aus muß die
Freudsche Systemkonzeption als Seelenmythologie gröb-
ster Art abgelehnt werden.
Darstellung: Aus der Verdriingungslehre glaubte Freud
neue Gesetze über das Behalten und Vergessen ableiten zu können.
Die Tendenz. Unangenehmes zu verdrängen. soll dazu führen, daß das
Unangenehme leichter vergessen wird als das Angenehme.
Auch die sog. infantile Amnesie, der er so große ätiologische
Bedeutung beimißt, schreibt Freud der Verdrängung zu und zwar
sieht er im sexuellen Leben der Kinder den Grund für ihre Ver-
drängungstätigkeit. Diese soll sich am deutlichsten durch die Ana-
ee) se
lyse von „Deckerinnerungen‘“ äußern. Zwar ist es nach Freud sehr
schwer, ein Beispiel einer sicheren Deckerinnerung anzuführen.
Dennoch bringt er ein Beispiel einer solchen mit der Bemerkung, daß
es nur selten möglich ist, ein so hübsches zu finden (IX, S. 58).
„Ein 24jähriger Mann hat folgendes Bild aus seinem fünften Lebens-
jahr bewahrt. Er sitzt im Garten eines Sommerhauses auf einem
Stiihlchen neben der Tante, die bemüht ist, ihm die Kenntnis der
Buchstaben beizubringen. Die Unterscheidung von m und n bereitet
ihm Schwierigkeiten und er bittet die Tante, ihm doch zu sagen,
woran man erkennt, was das eine und was das andere ist. Die Tante
macht ihn aufmerksam, daß das m ein ganzes Stück, den dritten
Strich. mehr hat als das n. Es fand sich kein Anlaß, die Zuverlässig-
keit dieser Kindheitserinnerung zu bestreiten; ihre Bedeutung hatte
sie aber später erst erworben, als sie sich geeignet zeigte, die symbo-
lische Vertretung für eine andere Wißbegierde des Knaben zu über-
nehmen. Denn so wie er damals den Unterschied zwischen m und n
wissen wollte. so bemühte er sich später, den Unterschied zwischen
Knaben und Mädchen zu erfahren und wäre gewiß einverstanden ge-
wesen, daß gerade diese Tante seine Lehrmeisterin werde. Er fand
dann auch heraus, daß der Unterschied ein ähnlicher sei, daß der
Bub wiederum ein ganzes Stück mehr habe als das Mädchen, und zur
Zeit dieser Erkenntnis weckte er die Erinnerung an die entsprechende‘
kindliche WiBbegierde“ (IX, S. 59).
Kritik: Zur neuen Lehre des Vergessens ist zu sagen, daß sie
mit den Tatsachen im Widerspruch steht. Wir behalten das An-
genehme und Unangenehme gleich gut, was durch einwandfreie
experimentelle Untersuchungen sichergestellt. ist. Von einer Gesetz-
mäßigkeit im Sinne Freuds ist überhaupt nicht die Rede. Auf die
Bedingungen des Behaltens und Vergessens einzugehen, verbietet
natürlich der Ort. Nur darauf sei hingewiesen, daß Vergessen und
Erschwerung der Reproduktion streng voneinander zu unterscheiden
sind und das gleiche gilt von Vergessen und „Nicht gerne an etwas
denken“. Daß alles Namenvergessen, wie Freud behauptet, auf
Verdrängung beruht. ist auch nicht andeutungsweise plausibel ge-
macht worden. Mir persönlich ist der Nachweis nie einwandfrei ge-
lungen. Die Lehre von den Deckerinnerungen ist ein nettes Beispiel
für die Konstruktionsfähigkeit Freuds. Seiner Erklärung, warum
die harmlose Begebenheit aus der Fülle der Erlebnisse behalten wor-
den ist, kommt nicht einmal der Wert einer Hypothese zu, da auch
eine Hypothese der Begründung bedarf. Gewiß wirkt es oft ver-
blüffend, daß manche „unbedeutende“ Erlebnisse aus der Kindheit
sx YQ. ze
von den Erwachsenen behalten werden, während „wichtigere“ Ereig-
nisse spurlos vorübergehen. Doch was dem Erwachsenen als wichtig
erscheint, braucht dem Kinde nicht so zu scheinen. Das arme Bübchen
mag sich tagelang den Kopf darüber zerbrochen haben, woran denn
die beiden Buchstaben voneinander zu unterscheiden seien, vielleicht
verwunderte es sich über seine ältere Schwester, daß sie in der Unter-
scheidung eine so absolute Sicherheit an den Tag legen konnte,
während sich die Zeichen doch so ähnlich sehen und es bedeutete für
ihn eine große Erleichterung, als er nun von der Tante ein so ein-
faches und sicheres Kriterium erhielt. Es ist müßig, weiter fort-
zufahren, wir wissen nichts sicheres, jede Hypothesenbildung muß
zur Farce ausarten deswegen. Weil uns aber die Wichtigkeit eines in-
fantilen Erlebnisses gering erscheint, für das Behalten besondere all-
gemeingültige Hypothesen aufstellen, erscheint nicht zweckmäßig, da
der Wert einer Hypothese, in ihrem Erklärungswert und ihrer Wahr-
scheinlichkeit, vor allem aber in ihrer Notwendigkeit besteht. Keine
der drei Eigenschaften besitzt aber die Hypothese der Deckerinne-
rungen; vor allem fehlt ihr das Moment der Notwendigkeit. Sie ist
einfach überflüssig.
Freud sieht in der kindlichen „Amnesie“ ein großes psycho-
logisches Rätsel, das nur durch die Annahme einer Verdrängung aus
sexuellen Ursachen gelöst werden kann. Eigentlich sollte doch das
Nichtsexuelle um so besser behalten worden sein — aber wir können
diese Annahme schon deswegen nicht akzeptieren, weil wir in nor-
malen Fällen nicht an die so große Bedeutung des infantilen Sexual-
lebens glauben. Die kindliche „Amnesie“ erklärt sich viel unge-
zwungener, wenn man bedenkt, daß wir das am besten behalten, was
wir denkerisch in einen Zusammenhang bringen können. Darauf
beruhen ja auch die meisten muemotechnischen Regeln. Disjecta
membra, einzelne zusammenhanglose Zahlen, behalten wir meist über-
haupt nicht. Die Fähigkeit zur synthetischen Zusammenfassung er-
werben wir uns aber ziemlich spät, die ersten Anfänge fallen wohl ins
2. bis 3. Lebensjahr. Mit einem Umzug in eine neue Wohnung ver-
knüpfen sich eine Masse neuer Eindrücke und werden im Zusammen-
hang mit dem oft bedeutsamen Erlebnis behalten. Außer den Be-
ziehungen zwischen dem Gedächtnismaterial spielt noch der konsti-
tutionelle Faktor eine maBecbende Rolle. So läßt sich die infantile
„Amnesie“ besser aus den Entwicklungsgesetzen des Gedächtnisses
verstehen und aus dessen allgemeinen Eigenschaften. Die Theorie
der übrigen Fehlhandlungen bietet gegenüber der des Vergessens
prinzipiell niehts Neues.
=s ee
Darstellung: Eine zentrale Stellung im psychoanalytischen
System nimmt die Traumlehre Freuds ein. Sie hat sowohl größte
theoretische wie praktisch psychotherapeutische Bedeutung.
Es leuchtet ein, daß die während des-Schlafes ablaufende seeli-
sche Tätigkeit für die Erkennung des menschlichen Seelenlebens
einen besonderen Wert haben muß. Die Sinneswahrnehmung ist im
Schlaf eingeschränkt, Gesicht-, Gehör- und Körperempfindungen sind
stark herabgesetzt, die wache ordnende, hemmende, mit der Realität
vergleichende Denktätigkeit ist ausgeschaltet. Die Erlebnisse tragen
rein subjektiven Charakter, die auflebenden Vorstellungen, die durch
das wache Ich nicht kontrolliert und korrigiert werden, dürften in
mancher Hinsicht unser Seelenleben besser spiegeln als das im
Wachen ablaufende psychische Geschehen. Dichter wie Hebbel,
Tolstoi und Dostojewski haben unbahängig voneinander auf Grund
der naiven Betrachtung ihrer eigenen Träume diesen Gedanken aus-
gesprochen.
Damit ist aber der wissenschaftlichen Psychologie wenig gehol-
fen. Sie braucht Methoden zur Erforschung der Träume. Die Be-
deutung der Träume erkannt und für die Psychotherapie fruchtbar
gemacht zu haben, gehört zu den bleibenden Leistungen Freuds.
Damit beginnt in der Psychotherapie eine neue Epoche. Ein
guter innerer Mediziner soll einmal gesagt haben, wenn es kein Digi-
talis gäbe, würde er seinen Beruf aufgeben wollen — dasselbe Wort
wäre auch für die Traumanalyse in der Psychotherapie berechtigt.
Die besondere Bedingung des Traumerlebens ist der Schlaf.
Freud läßt nun das schwierige biologisch-physiologische Pro-
blem des Schlafes in voller Anerkennung seiner Bedeutung auf sich
beruhen und versucht, eine psychologische Charakteristik desselben
zu geben. Nach ihm ist der psychologische Charakter des Schlafes
„das Aussetzen des Interesses an der Welt“ (IV, S. 87). „Unser Ver-
hältnis zur Welt, in die wir so ungern gekommen sind, scheint es mit
sich zu bringen, daß wir sie nicht ohne Unterbrechung aushalten.
Wir ziehen uns darum zeitweise in den vorweltlichen Zustand zurück.
in die Mutterleibsexistenz also“ (sic). „Wir schaffen uns wenigstens
ganz ähnliche Verhältnisse, wie sie damals bestanden: warm, dunkel
und reizlos. Einige von uns rollen sich noch zu einem engen Paket
zusammen und nehmen zum Schlafen eine ganz ähnliche Körperhal-
tung wie im Mutterleibe ein“ (sic.). (Der Säugling und der Enure-
tiker bereiten wohl auch noch durch den Urin einen Ersatz für das
Fruchtwasser.)
Diese Auffassung vom Schlaf schließt nach Freud den Traum
aus, resp. Schlaf und Traum stehen in einem Gegensatz. Der Traunı
weist darauf hin, daß das Seelenleben doch tätig und der Schlaf nicht
voll eingetreten ist. Äußere und innere Reize wirken auf den Schlä-
fer ein und der Traum ist die psychische Reaktion auf sie.
Das Charakteristische des Traumlebens sieht Freud darin. „daß
man dabei vorwiegend in visuellen Bildern erlebt“ (IV, S. 89).
Die Reaktion des Schläfers auf äußere Reize läßt sich durch die
experimentelle Variation derselben studieren, was auch die experi-
mentelle Psychologie reichlich getan hat. Sie begnügte sich aber
damit, die traumhafte Beantwortung zu registrieren und rein deskrip-
tiv das Traumerleben vom Wacherleben abzugrenzen. Ein Beispiel
möge zur Erläuterung dienen. Maury Vold, der bedeutendste experi-
mentelle Traumforscher. ließ sich im Schlaf einen Wassertropfen auf
die Stime werfen. Er beantwortete diesen Reiz damit, daß er
träumte. er sei in Italien. schwitze und trinke weißen Wein von
Orvietto. Während sich Maury Vold nun mit der Registrierung die-
ser und ähnlicher Erscheinungen begnügte und aus ihnen allgemeine
Gesetzmäßigkeiten über die Eigentiimlichkeiten des Traumbewußt-
seins ableitete, stellte Freud die Frage: Wieso kommt es, daß der
Reiz gerade so beantwortet wird, oder allgemeiner: Lassen sich aus
der Reizbeantwortung vielleicht allgemeine Sehliisse auf das Seelen-
leben und Erleben des Träumers ziehen? Erst diese Fragestellung
hat es ermöglicht. den Traum für die Psychotherapie fruchtbar zu
machen.
Freud bestreitet es keineswegs, daß der Traum in einer Anzahl
von Fällen aus sich heraus voll verständlich ist und keiner weiteren
Aufhellung bedarf. In einer viel größeren Anzahl von Fällen steht
aber die traumhafte Reizbeantwortung zum Reiz nicht in einem adä-
quaten Verhältnis. Der Reiz erscheint wie ein Anreger, während die
Reaktion, einmal ausgelöst, sich sozusagen an sich selbst entzündet.
Um dieser Tatsache gerecht zu werden versuchte Freud den Traum
als sinnhaftes seelisches Gehilde zu verstehen und seine Sprache zu
erforschen, indem er sich vom Prinzip leiten ließ, daß alles bewußt
Psyehische, wozu auch Freud den manifesten Traum rechnet, wie
jede organische Äußerung. ein sinnhaftes Gebilde sei, das als psy-
ehisches auch psychologisch erforscht werden müsse. Doch galt es
in erster Linie eine Methode zu finden. um diese Traumsprache, die
oft sinnlos erscheint, in die Sprache des Wachlebens zu übersetzen
und dadurch Seelenregungen kennen zu lernen, die am Tage sich
nicht äußern können. Eine solehe Uhersetzungsmethode glaubte er
in der sog. freien Assoziation gefunden zu haben, die darin besteht,
daß der Träumende unter Ausschaltung jeder konativen, gerichteten
Aufmerksamkeit sich die einzelnen Traumstücke vorstelle und ohne
Kritik jeden „Einfall“, sei es was es sei. — Erinnerung, Sachvorstel-
lung, Gedanke usw., sei er angenehm oder unangenehm, laut aus-
spreche. Die Summe der Einfälle sollen es dann dem Untersucher
ermöglichen, den Sinn des Traumes zu verstehen. Ohne uns hier auf
die Berechtigung dieser Methode einzulassen, auf die wir später näher
eingehen werden, wollen wir uns gleich den angeblich mit ihr er-
reichten Resultaten zuwenden, die ja auch unabhängig von dieser
speziellen Methode betrachtet werden müssen. Ob ich eine Lungen-
tuberkulose mit Hilfe der Auskultation und Perkussion oder der
Durehleuchtung diagnostiziert habe. bleibt sich für den Obduzen-
ten gleich.
Als allgemeinstes Ergebnis der Freudschen Traumforschung
darf der Satz gelten „Der Traum ist der entstellte Ersatz für etwas
anderes, Unbewußtes“ (Vorl. 118). Der Ersatz wird als der mani-
feste Traum und das andere Unbewußte als die latenten Traum-
gedanken bezeichnet. Diese beiden Reihen stehen sich gegenüber,
wenn sie sich auch nicht Glied für Glied entsprechen aus Gründen,
die wir gleich kennen lernen werden. Je größer die Entstellung,
desto schwieriger natürlich die Eruierung des Ubw. Da nun glück-
licherweise nicht alle latenten Traumgedanken gleich stark entstellt
sind und manche Träume kaum der Übersetzung bedürfen, so läßt
sich von hier aus ein Ausgangspunkt für die Erkennung der Bezie-
hungen zwischen manifesten und latenten Trauminhalten gewinnen.
Solche Träume sollen die meisten Kinderträume sein. Sie sollen das
Gemeinsame haben, daß sie unter relativ geringer Entstellung eine
= Wunscherfiillung darstellen und vollgültige verständliche Akte sind.
Ein unerledigter Wunsch bildet eine Schlafstörung und die Reaktion
auf diesen inneren Reiz besteht darin, daß der Schläfer diesen
Wunsch als erfüllt träumt. Daraus ergibt sich, daß nicht der Traum
den Schlaf stört, sondern der innere Reiz. Der Traum als Reizbesei-
tiger, insofern er ja den Wunsch erfüllt, ist als Schützer des Schla-
fes aufzufassen, als Beseitiger von Schlafstörungen. Wunscherfüllung
und halluzinatorisches visuelles Erleben sind die beiden konstanten
Sharaktere der Kinderträume. Im Schlafe macht sich eine störende
und eine gestörte Tendenz geltend. Das Schlafbedürfnis ist die ge-
störte, der unerledigte Wunsch die störende Tendenz. Der Traum
ist die Resultante dieser beiden Strömungen, er ist ein Kompromiß.
Gabe es nur Kinderträume, so wäre das Traumproblem leicht gelöst
sso A ze
und zwar „ohne den Träumer auszufragen, ohne das Ubw. heran-
zuziehen und ohne die freie Assoziation in Anspruch zu nehmen“
(IV, 5. 139). Den Kinderträumen ähnlich sind die Körperreizträume.
So träumt man oft von Essen, wenn man während des Schlafes Hun-
ger hat, man uriniert halluzinatorisch, wenn man Urindrang verspürt.
Während nun diese Träume den Erfüllungscharakter deutlich
zeigen, wenn atich nicht gerade eines Wunsches, so doch eines Be-
dürfnisses, was gewiß nieht dasselbe ist, läßt sich das gleiche von den
meisten übrigen nieht sagen: und dennoch meint Freud, daß alle
Träume Wunscherfüllungen sind; besser Erfüllungen unerledigter
Tendenzen. Er stützt sich dabei einmal auf den Sprachgebrauch.
Die Spriehwörter: „Das Huhn träumt von Hirse“ usw. sollen darauf
hinweisen. Vor allem sind es aber rein theoretische Überlegungen,
die ihn zur Aufstellung der Wunschtheorie geführt haben. Er sieht
im Wunsch oder dem Bedürfnis die Quelie des Traumes, den Motor
desselben, ohne den eben der Traum trotz aller Reize nicht hätte zu-
stande kommen können, es hätte dem „Unternehmer“ sozusagen, dem
Schlafbedürfnis, an „Kapital“, an Material gefehlt, um den inneren
Reiz in schlafsehützender Weise zu erledigen. Da bei den Erwachse-
nen, wohl infolge ihrer seelischen Kompliziertheit, eine starke Ent-
stellung des Traumes stattgefunden hat, läßt sich aber die Erfüllung
des Wunsches nur durch riehtige Übersetzung des manifesten Traumes
erfassen: Bevor wir daher die allgemeine Begründung besprechen,
müssen wir die psychoanalytische Übersetzungstechnik kennen lernen
und die Hilfsbegriffe, die sie voraussetzt.
Zum Verständnis der latenten Traumgedanken muß der Begriff
der Zensur näher erläutert werden. Die Veränderungen. die mit dem
unbewußten Material vorgenommen werden. werden durch eine be-
sondere seelische Instanz. die von Freud mit dem Namen „Zensur“
bezeichnet wird, besorgt, indem diese entweder gewisse anstößige
Regungen selbst im Schlaf zurückhält, so daß sie auch im Traum
nicht erscheinen können oder sie so entstellt. daß ihre anstößige
Herkunft und Art gar nicht als solehe erkannt wird. So stellt die
Zensur das Ganze durch einen dem Bewußtsein unwichtig erscheinen-
den Teil dar, benutzt eine Anspielung. deren Sinn aber dem Schlaf-
hewußtsein entgeht oder gebraucht für abstrakte Begriffe bildliche
Darstellungen. So wurde von einem Patienten Freuds der Wunsch,
sein Bruder möchte sich doch einschränken, dadurch im Traum dar-
gestellt, daß er ihn in einem Kasten. der in den Einfällen durch einen
Schrank ersetzt wurde, liegen sah. Der abstrakte Begriff des Ein-
schränkens wurde also dureh das Bild der Bruder ist eingeschrankt‘*“
u MT a
ersetzt. Setzt sich das Unbewußte aber doch durch und erscheint
im manifesten Traum in fehlender oder geringer Entstellung, so kann
die Zensur eine Akzentverschiebung vornehmen, so daß im mani-
festen Traum das Hauptgewicht auf etwas gelegt wird, was im Ubw.
sehr unwichtig ist und umgekehrt. Man darf sich nach Freud
die Zensur nicht als eine besondere seelische Instanz vorstellen.
„Es ist vorläufig nichts weiter als ein gut brauchbarer Terminus
für eine dynamische Beziehung. Dieses Wort hindert uns nicht
zu fragen, von welchen Tendenzen solcher Einfluß geübt wird und
auf welche“ (IV, S. 151). Die Zensur ist also auch und zwar in
erster Linie im Wachen tätig. Im Schlafe ist ihre Tätigkeit stark
herabgesetzt, so daß sich in diesem Zustand der Ubw. freier als
im Wachen äußern kann. Die zensurierenden Tendenzen, die das
Ubw. entweder ganz vom Bewußtsein zurückhalten oder es ent-
stellen, sind diejenigen, die vom Wachbewußtsein des Träumers
anerkannt werden, mit denen er ‚sich einig fühlt. Die zensurierten
Tendenzen sind, vom Standpunkt des wachen Urteils gesehen, „die
anstößigen in ethischer, ästhetischer und sozialer Hinsicht, Dinge, an
die man nicht gerne zu denken wagt oder nur mit Abscheu denkt“
(IV, S. 152). Sie sollen Äußerungen eines schrankenlosen Egoismus
sein, der im ärgsten Widerspruch zu unserem Ich und Überich steht.
Es ist daher auch gar kein Wunder, daß selbst die richtige Deutung
bei der Traumanalyse vom Analysanden nicht akzeptiert wird. Denn
im Wachen sorgt die viel stärker tätige Zensur dafür, daß gerade das
Richtige, dem Unbewußten Entsprechende dem Ich fremd erscheint,
das in voller Aktivität. mit dem Bewußtsein der Wahrhaftigkeit, die
ihm zugeschriebenen häßlichen Wünsche als ihm wesensfremd ab-
weist. Das Ich hegt nämlich die Tendenz, sich selbst an Stelle des
Gesamtindividuums resp. der Gesamtpsyche zu setzen.
Außer der Zensur gibt es noch ein zweites Moment, das den
Traum schwer verständlich macht, und der als autonomer Faktor an-
zusehen ist: die Symbolik. Sie ist nicht etwa eine Folge der
Zensur, wenn sich diese auch ihrer bedienen mag, sondern sie ist
die dem Traume eigene Sprache, die nicht weiter zurückführbar ist
und zuder man nicht mit der Assoziationsmethode
die Übersetzung finden kann. Ohne Kenntnis der Traum-
symbolik ist also ein Verständnis des Traumes nicht möglich. Man
muB nämlich die Symbole direkt in die Sprache des Alltags über-
setzen und die Bedeutung der Symbole schon vor der Traumanalyse
kennen. „Auf diese Weise erhält man für eine Reihe von Traum-
elementen konstante Übersetzungen, also ganz ähnlich, wie man
a
es in unseren populären Traumbüchern für alle geträumten Dinge
findet (IV, S. 161). „Die Symbole gestatten unter Umständen einen
Traum zu deuten, ohne den Träumer zu befragen, der ja zum Symbol
ohnedies nichts zu sagen weiß“ (1V, S. 162). Doch wamt Freud
davor, von dieser Übersetzungskunst zu reichlich Gebrauch zu
machen. Nur im Zusammenhalt mit der Assoziationsmethode würden
die Resultate sichere sein und ferner im Zusammenhang mit den son-
stigen Kenntnissen der Lebensverhältnisse der Analysanden. Das
Symbol ist nach Freud als eine Art Vergleich aufzufassen, der ge-
wisse latente Traumgedanken zur Darstellung bringt. Auffallend
ist aber, daß trotzdem „der Traum ein Vergleich ist, dieser Vergleich
sich nicht durch Assoziation bloßlegen läßt, auch daß der Träumer
den Vergleich nicht kennt. sich seiner bedient, ohne um ihn zu wissen.
Ja noch mehr, daß der Träumer nicht einmal Lust hat, diesen Ver-
gleich anzuerkennen, nachdem er ihm einmal vorgeführt worden ist“
(IV, S. 164). |
Symbolisch dargestellt werden im Traum relativ wenige Dinge:
„Der menschliche Leib als Ganzes, die Eltern, Kinder, Geschwister.
Geburt, Tod, Nacktheit“ (IV, S. 164). Das Symbol für den mensch-
lichen Körper ist stets ein Haus. Die Eltern werden unter dem
Symbol des Kaisers und der Kaiserin, des Königs usw. dargestellt.
Kinder finden durch kleine Tiere oder Ungeziefer, die Geburt durch
Wasser, Sterben durch Abreisen mit der Eisenbahn, Nacktheit durch
Kleider und Uniformen ihre symbolische Vertretung. Daß die Sexu-
alität eine äußerst mannigfaltige Symboldarstellung hat. darf als be-
kannt vorausgesetzt werden.
Wenn durch die Assoziationsmethode die Symbole nieht über-
setzt werden können, so erhebt sich die Frage, „woher wir denn
eigentlich die Bedeutung dieser Traumsymbole kennen sollen?“ (IV.
S. 172). „Ich antworte: aus sehr verschiedenen Quellen, aus den
Märchen und Mythen. Schwänken und Witzen, aus dem Folklore.
aus dem poetischen und gemeinen Sprachgebrauch. Wenn wir diesen
Quellen im einzelnen nachgehen, werden wir so viele Parallelen zur
Traumsymbolik finden, daß wir unserer Deutungen sicher werden
müssen“ (VI, S. 172/73). Zu den einzelnen Gebieten seien einige Bei-
spiele genannt. „Altes Haus“ bedeutet in der Volkssprache den
Menschen, „im Oberstübehen“ steht für im Kopf usw. In den Mär-
chen stehen Kaiser und Könige eigentlich für die Eltern. Wir heißen
die Kinder scherzhaft Prinzen und Würmer. Die Sprachvergleichung
weist nach, daß madeira, das portugiesische Wort für Holz, von
materia stammt und dieses von mater abgeleitet ist. „In dem sym-
bolischen Gebrauch von Holz für Weib, Mutter lebt also diese alte
Auffassung fort“. Wir wollen uns mit diesen paar Beispielen begnü-
gen, da sie das Prinzip, auf das es uns in dieser Arbeit einzig an-
kommt, genügend klar verdeutlichen.
Dem Träumer sind natürlich nicht alle diese schwierigen Gebiete
vertraut. Wie kann er nun mit den Symbolen so sicher arbeiten?
„Wir können nur sagen, die Kenntnis der Symbolik ist dem Träumer
unbewuBt; sie gehört seinem unbewuBten Geistesleben an“ (IV,
S. 180/81). Da nun die Symbolik nicht nur im Traume eine Rolle
spielt, sondern in allen menschlichen Schöpfungen, so nimmt Freud
an, „daß hier eine alte aber untergegangene Ausdrucksweise vor-
liegt“ (IV, S. 181). Besonders auffallend erscheint es auch Freud,
daß, während auf allen anderen Gebieten die Symbolik nicht nur die
Sexualität betrifft, im Traume die Symbole fast ausschließlich zum
Ausdruck sexueller Objekte und Beziehungen verwendet werden. Zur
Erklärung dieser auffallenden Annahme (oder nach Freud eigent-
lieh: Tatsache) zieht er die Forschungsergebnisse Sperbers heran.
nach denen sexuelle Bedürfnisse an der Entstehung und Weiter-
bildung der Sprache größten Anteil gehabt hätten. Im Laufe der Zeit
wäre die ursprüngliche sexuelle Bedeutung der Worte vergessen wor-
den. Im Traum nun sollen diese ältesten Verhältnisse wieder auf-
leben und so werden die Gegenstände, die ursprünglich sexuelle Be-
deutung hatten, wie Waffen für das männliche, Stoff für das weibliche
Genitale, als der direkte alte Ausdruck für diese Dinge wieder aus
phylogenetisch alten Schichten heraufgeholt, so daß eine Übersetzung
gar nicht möglich ist. Hier spricht das sog. kollektive Unbewußte
(was mit dem System Ubw., das durch Verdrängung entstanden ge-
dacht ist, nichts zu tun hat). Es muß sozusagen nach „vorne“ in
die Sprache des Bewußtseins übersetzt werden — wogegen die übri-
gen manifesten Gebilde des Traumes nach ..hinten“ in die Sprache
des Ubw. transponiert werden müssen.
Nach dem bisher Dargestellten finden wir also vier Beziehungen
zwischen manifestem Traum und latenten Traumgedanken: 1. die des
Teils zum Ganzen, 2. die der Annäherung oder Anspielung, 3. die der
plastischen Wortdarstellung (Zensurfolgen) und 4. die der symboli-
schen Darstellung. Die Traumarbeit wird von Freud als das-
jenige psychische Geschehen bezeichnet, das diese Beziehung her-
stellt und durch sie für die nötige Entstellung sorgt. Ein sehr wich-
tires ökonomisches Mittel der Traumarbeit ist die Verdiehtung. Das
Zusammenballen mehrerer Vorstellungen in eine Mischbildung resp.
in eine komplexe Vorstellung, die erst durch psychoanalytische Zer-
Nachmansohn, Die wissenschaftlichen Grundlagen der Psychoanalyse Freuds. Abh.H.45. 6
— 78 —
legung aufgelöst werden muß, um das unbewußt Gemeinte zu ver-
stehen. Auch die Verdichtung ist nach Freud ein autonomer Fak-
tor, der unabhängig von der Zensur tätig sein kann. Sie hat zur
Folge, daß die Elemente des manifesten Traumes mit den latenten
Traumgedanken nicht kongruent sein können. „Ein manifestes Ele-
ment entspricht gleichzeitig mehreren latenten und umgekehrt kann
ein latentes Element an mehreren manifesten beteiligt sein“ (IV,
5. 190).
Die vorwiegend visuelle Darstellungsweise des Traumes hat eine
ganz besondere Behandlung logischer Beziehungen zur Folge. Rede-
teile wie „weil“, „da“ werden überhaupt nicht ausgedrückt, Neben-
sitze in den latenten Traumgedanken werden durch einen einge-
sehalteten Szenenwechsel im manifesten Traum dargestellt. Der Un-
sinn der Träume ist unbewußt absichtlich erzeugt, um damit auszu-
drücken, eine bestimmte durch die unsinnige Darstellung gemeinte
Sache sei wirklich ein Unsinn. So träumt eine Patientin Freuds.
ihre Freundin habe 3 Theaterplätze für 1 fl. 50 kaufen können, was
deswegen unsinnig ist, weil sie ja nur zwei brauchte. Dieser Unsinn
soll aber auf Grund der Analyse besagen: Es war ein Unsinn, so früh
zu heiraten. Gegensätze können durch dasselbe Traumelement zum
Ausdruck gebracht werden. Ins Wasser gehen und aus dem Wasser
kommen bedeutet: gebären oder geboren werden.
Das Wesentliche an der Traumarbeit ist ihre archaische Aus-
drucksweise: „Die Vorzeit, in welche die Traumarbeit uns zurück-
führt, ist eine zweifache, erstens in die individuelle Vorzeit. die Kind-
heit, andererseits, insoferne jedes Individuum in seiner Kindheit die
ganze Entwicklung der Menschenart irgendwie abgekürzt wiederholt,
auch diese Vorzeit, die phylogenetische“ (IV, S. 215). So soll die
Traum-Symbolik das sicherste Zeichen unseres inhaltlichen phylo-
genetischen Erbgutes sein.
Zu den Besonderheiten des Traumlebens gehört die Verfügung
über längst vergessene Erlebnisse und Wünsche. Daher darf aus den
häßlich erscheinenden egoistischen Zügen des Traumlebens kein
Schluß auf das gegenwärtige Seelenleben gezogen werden. Die
Todeswünsche gegen die Eltern, die Inzestwünsche, die GroBmanns-
sucht u. v. a. sind ja nieht Regungen der im Wachen bewußt wirken-
den Psyche, sondern verdrängte und gut im Schach gehaltene Kinder-
wünsche. Im Kind soll sich in erster Linie nur krasser Egoismus
regen, der sich gegenüber den Geschwistern zum Haß steigern kann
— dieser werde dann von Zärtlichkeitsgefühlen überlagert aber
Im Ubw. wuchere er weiter und erscheine im Traume.
— 79 —
Eine ganz besondere Rolle soll in den Träumen der Ödipus-
komplex spielen, und regelmäßig an ihn geknüpft finde sich auch der
„Kastrationskomplex“. Die exzessiven Sexualregungen, die häufig
im Traume auftreten, führt Freud ebenfalls auf die infantilen Par-
tialtriebe zurück. Sie treten wieder gesondert hervor; der Traum-
resp. der Schlafzustand hat auch auf diesem Gebiete den Rückschritt
zum infantilen Zustand vollzogen. Die Regression ist also nicht nur
formaler Natur, sie holt auch ganz bestimmte materiale Inhalte
hervor. All das Infantile, was einmal herrschend und alleinherrschend
war, müssen wir heute dem Unbewußten zurechnen“ (IV, S. 236).
Dieses erwacht „aus einerh besonderen Reich mit eigenen Wunsch-
recungen, eigener Ausdrucksweise und ihm eigentümlichen seelischen
Mechanismen“ (ebenda). Die latenten Traumgedanken gehören aller-
dings nicht zu dem Reich, was auch Freud unterstreicht; sie bedie-
nen sich bloß, falls sie im Traume angeregt werden, der Ausdrucks-
weise, die als ererbtes phylogenetisches Gut dort ruht und im Schlaf
sich zu regen beginnt. Die Regression hat es vorwiegend mit dem
kollektiven Unbewußten zu tun, das durch die Tätigkeit des durch
Verdrängung entstandenen Unbewußten aktiviert wird. Damit
also ein Traum entstehe, muß ein „Tagesrest“, d. h. das, womit wir
uns in letzter Zeit beschäftigt haben, das Verdrängte erregen, das
seinerseits das kollektive Unbewußte ins Spiel treten läßt, wodurch
es dem Verdrängten ermöglicht wird, in archaischer Form seine
Wünsche zum Ausdruck zu bringen und sie in entstellter Form zu
befriedigen. Die Entstellung ist biologisch notwendig, da sonst der
Schlaf gestört würde und wird durch die Zensur mit Hilfe der for-
malen und materialen Archaismen (Symbolik) und der übrigen Tech-
nik (Anspielung, Verschiebung etc.) erreicht.
Nachdem nun Freud die Mechanismen des Traumes dargestellt
hat. glaubt er jetzt, seine Behauptung rechtfertigen zu können, daß
jeder Traum eine Wunscherfüllung sei. Eine Ausnahme hiervon
machen auch nach ihm die Angstträume, aus denen wir plötzlich er-
wachen. Auch sie hatten einen unerledigten Wunsch zum Motor, die
Tendenz des Schlafwunsches ging auch darauf hin, diesen Wunsch als
erfüllt darzustellen. Doch die mit diesen Wünschen verbundenen
peinlichen Regungen führen zum Erwachen, bevor die Entstellungen
so weit gediehen sind, daß sie das Peinliche auslöschen. Diese
Träume sind als nicht beendete aufzufassen und so fügen sie sich der
Wunscherfüllungstheorie gut ein.
Folgende Momente dienen nun zur Verdeckung des Charakters
der Wunscherfüllung: Erstens gelingt es der Traumarbeit viel schwe-
G*
— 80 —
rer, Affekte als Inhalte in ihrem Sinne zu verändern; „die Affekte
sind manchmal sehr resistent. So geschieht es denn, daß die Traum-
arbeit den peinlichen Inhalt der Traumgedanken zu einer Wunsch-
erfüllung umgearbeitet hat, während sich der peinliche Affekt noch
unverändert durchsetzt“ (IV, S. 241).
Ein zweites Moment, das den Wunscherfüllungscharakter so ver-
hüllt, ist, daß die Erfüllung oft mit Unlustgefühlen verbunden auf-
tritt, was dem gewöhnlichen Denken widerspricht. Doch der Laie,
wozu Freud auch den jetzigen Schulpsychologen rechnet, bedenkt
hierbei nicht, daß der Träumer „nur einer Summation von zwei Per-
sonen gleichgestellt werden“ darf. Was dem einen System Unlust be-
reitet, bereitet dem anderen Lust. So ist auch ein Angsttraum oft
eine unverhüllte Wunscherfüllung, natürlich nicht eines genehmen,
sondern eines verworfenen Wunsches. Die Zensur ist sozusagen von
ihm überrumpelt worden. Sie hat daher die Alarmglocke der Angst
gezogen, wie etwa ein Nachtwächter Lärm schlägt, falls er vom
Dieb hintergangen worden und dieser ins Haus eingedrungen ist.
Die Peinlichkeit mancher Träume ist endlich auch auf die in uns
wirksamen Straftendenzen zurückzuführen. „Die Strafe ist eine
Wunscherfiillung, die der andern zensurierenden Person“ (IV, S. 246).
Mit diesem Rüstzeug versehen soll sich jeder Traum als Wunsch-
erfüllung nachweisen lassen. So greift Freud einen Traum heraus,
um daran seine Theorie zu demonstrieren. Wir bringen den Passus
wörtlich: Der Traum hatte folgenden Inhalt: „Eine Dame, der ihr
Mann am Tage mitgeteilt, daß ihre nur drei Monate jüngere Freun-
din Elise sich verlobt hat, träumt, daß sie mit ihrem Manne im
Theater sitzt. Eine Seite des Parketts ist fast leer. Ihr Mann sagt
ihr, die Elise und ihr Bräutigam hätten auch ins Theater gehen wol-
len, konnten aber nicht, da sie nur schlechte Karten bekamen, drei
um 1,50 Gulden. Sie meint, es wäre auch kein Unglück gewesen.
— Wir hatten erraten, daß sich die Traumgedanken auf den Ärger,
so früh geheiratet zu haben und auf die Unzufriedenheit mit ihrem
Mann beziehen. Wir dürfen neugierig sein, wie diese trüben Ge-
danken zu einer Wunscherfiillung umgearbeitet worden sind und wo
sich deren Spur im manifesten Inhalt findet. Nun wissen wir schon.
daß das Element. „zu früh, voreilig’ durch die Zensur aus dem Traum
eliminiert wurde. Das leere Parkett ist eine Anspielung darauf. Das
rätselhafte „3 um einen Gulden fünfzig“ wird uns jetzt mit Hilfe der
Symbolik, die wir seither gelernt haben, besser verständlich. Die
drei bedeuten wirklich einen Mann und das manifeste Element ist
leicht zu übersetzen: sich einen Mann für die Mitgift kaufen (‚einen
— 81 —
zehnmal besseren hätte ich mir für meine Mitgift kaufen können‘).
(Es ist aber zu bemerken, daß die Pat. bis zuletzt die Richtigkeit
dieser Deutung bestritt und sich auch objektiv kein Anhaltspunkt
für sie ergab. Der Verf.) „Das Heiraten“ ist offenbar ersetzt durch
das Instheatergehen. Das „zu früh Theaterkarten besorgen“ steht ja
direkt an Stelle des zu frühen Heiratens. Diese Ersetzuńg ist aber
das Werk der Wunscherfüllung. Unsere Träumerin war nicht immer
so unzufrieden mit ihrer frühen Heirat wie am Tage, da sie die Nach-
richt von der Verlobung ihrer Freundin erhielt. Sie war seinerzeit
stolz darauf und fand sich vor der Freundin bevorzugt. Naive Mäd-
chen sollen oft nach ihrer Verlobung ihre Freude darüber verraten
haben, daß sie nun bald zu allen bisher verbotenen Stücken ins Thea-
ter gehen, alles mitansehen dürfen. Das Stück Schaulust oder Neu-
gierde, das hier zum Vorschein kommt, war gewiß anfänglich sexuelle
Schaulust, dem Geschlechtsleben, besonders der Eltern, zugewendet,
und wurde dann zu einem starken Motiv, das die Mädchen zum frühen
Heiraten drängte. Auf solche Art wird der Theaterbesuch zu einem
naheliegenden Andeutungsersatz für das Verheiratetsein. In dem
gegenwärtigen Ärger über die frühe Heirat greift sie also auf jene Zeit
zurück, in welcher ihr die frühe Heirat Wunscherfüllung war, weil
sie ihre Schaulust befriedigte, und ersetzt, von dieser alten Wunsch-
regung geleitet, das Heiraten durch das Instheatergehen“ (IV,
S. 246/7). Aus dieser Stelle geht hervor, daß das unbewuBte Material
des Traumes Geständnisse, Besorgnisse, Warnungen, unliebsame Er-
kenntnisse sind. Diese brauchen aber. um zu einem Traum gestaltet
zu werden, eines unbewußten Wunsches, der als Motor wirkt, und die
Traumarbeit hat die Tendenz, ihn als erfüllt im manifesten Traum
erleben zu lassen. Nur bei Heranziehung des manifesten Traumes
soll der Erfüllungscharakter nachweisbar sein. „Ein Traum ist also
nie ein Vorsatz, eine Warnung schlechtweg, sondern stets ein Vor-
satz, eine Warnung mit Hilfe eines unbewußten Wunsches in die
archaische Ausdrucksweise übersetzt und zur Erfüllung dieser
Wünsche umgestaltet. Der eine Charakter, die Wunscherfüllung, ist
der konstante, der andere mag variieren“ (IV, S. 256).
Kritik: Was im Gegensatz zur Sexualtheorie Freuds so wohl-
tuend absticht, ist, daß uns bei allen Schwierigkeiten das Bewußtsein
überkommt, daß der Autor den Traum selbst reichlich untersucht hat,
dessen Theorien er konstruiert. Man spürt es in jeder Zeile, daß
Freud sich mit eigenen und fremden Träumen reichlich und naiv
beschäftigt hat, was von seinen kinderpsychologischen Theorien ein-
gestandenermaßen nicht gilt.
— g2 —
Wenn wir uns seinen theoretischen Lehren auch größtenteils
nicht anschließen können, so ist das aus der Neuheit des Themas, an
das Freud herantrat, verständlich. Selten oder wohl nie in der
Geschichte der Wissenschaft hat ein Autor, der neue resp. wenig be-
arbeitete Gebiete erforschte, selbst schon die widerspruchslose theo-
retische Verarbeitung des Materials gegeben und erst im Laufe der
Entwicklung bildete sich diese unter mannigfachen Rückschlägen
heraus. Nichtsdestoweniger behalten die empirischen Tatsachen ihre
große Bedeutung.
Nach diesen allgemeinen Vorbemerkungen wollen wir die
wesentlichsten Aufstellungen Freuds über den Traum einer
Kritik unterziehen.
Die psychologische Charakteristik des Schlafes erscheint uns
schon deshalb unhaltbar, weil es eben keine Psychologie des Schlafes
— auch nach den Voraussetzungen Freuds — geben kann. Ge-
rade Freud stellt den Traum als ein seelisches Geschehen dar, das
nur zum Schutze des Schlafes da, aber dem Schlaf entgegengesetzt ist.
Das Wesen des Schlafes soll seelische Ruhe sein. Hier handelt es
sich um einen Zustand, der rein biologisch zu betrachten ist und so
wenig wie die Verdauung einer psychologischen Analyse zugänglich
ist. Unser Organismus hat ein periodisches imperatives Schlafbedürf-
nis, das seine große biologische Bedeutung hat. Der Schlaf als
soleher steht außerhalb jeder psychologischen Diskussionsmöglichkeit
— er ist ein rein physiologisches Phänomen. Erst mit dem Traum,
der ja aber im Gegensatz zum Schlaf steht, beginnt ja ein Psychisches
sich bemerkbar zu machen. Mit der fortschreitenden Müdigkeit wird
das Interesse an der Welt kleiner. Das ist eine Funktion der Müdig-
keit und hat leicht begreifliche Bedeutung im Stoff- und Kraft-
wechsel des Organismus. Ob „unser Verhältnis zur Welt. in die wir
so ungern gekommen sein sollen, daran schuld ist, daß wir sie
nicht ohne Unterbrechung aushalten können. ist ein Gedanke, der den
Psychologismus in der Biologie ad absurdum zu führen geeignet ist.
und noch mehr tut es die Behauptung. daß wir uns „also“ (!) in den
vorweltlichen Zustand, in den Mutterleib zurückziehen, was selbst
dann wie ein nicht allzu geistvoller Witz anmutet, wenn man die Be-
hauptung auch nieht allzu ernst nimmt. Freud und seine Schüler
sehen aber in dieser Behauptung eine Tatsache, die sieh logisch er-
schließen läßt. Daher das „also“. Wir verzichten dagegen gern auf
eine Widerlegung dieser Behauptung. weil wir eine Schlafpsychologie
im strengen Sinne nicht anerkennen können. weil wir ihren Wert
— 83 —
nicht einsehen und weil die physiologischen Verhältnisse im Mutter-
leib sich doch von denen im Bett ziemlich unterscheiden.
Wenden wir uns der Behauptung Freuds zu, daß der Traum
der entstellte Ersatz für etwas anderes Unbewußtes ist, das gleich-
zeitig mit dem manifesten Traum abläuft. Zu dieser Hypothese
fehlt uns die Berechtigung. Freud argumentiert, daß das.
was im Traum bewußt wird, erst übersetzt werden muß, und
glaubt zu dieser Annahme sich deswegen berechtigt, weil der
Traum sich oft als ein sinnvolles Ganzes entpuppt und er ursprüng-
lich doch sinnlos erscheint. Also müsse man zum manifesten un-
sinnigen Traum unbewußte sinnhafte Gedankengänge postulieren. Die
Hypothese, daß der Traum ein sinnhaftes Ganzes sei, dürfte zu Recht
aufgestellt sein und als heuristisches Prinzip gute Dienste leisten, da
es einerseits recht. viele sinnvolle Träume gibt und andererseits das
leichte Vergessen großer Traumteile, das eine auffallende unbestrit-
tene Funktion des „Ich“ in seinem Verhältnis zum Traume ist, den
Sinn oft ‘entstellt. Aber ebenso, wie es im Wachen „sinnloses“
psychologisches Geschehen gibt, so kann ein solches auch für den
Traum nicht bestritten werden. Doch das darf uns nicht hindern, von
vornherein die Sinnhaftigkeit eines Traumes vorauszusetzen, auch
wenn er auf den ersten Blick sinnlos erscheint.
Das Nichtverstehen des Sinnes fordert aber keineswegs die An-
nahme. daß der Traum ein Ersatz für etwas anderes UnbewuBtes ist,
genau so wenig, wie wenn wir etwa im Wachbewußtsein Geäußertes
nicht verstenen. Deswegen brauchen aber noch nicht dem mani-
festen Trauminhalt latente Traumgedanken gegenüberzustehen. Der
Traum hat ja nach Freud eine eigene von uns noch wenig gekannte
Sprache. Es ist deshalb gar kein Wunder, wenn wir ihn nicht ver-
stehen. Wir haben die verschiedensten Instanzen kennen gelernt, die
zur Bildung eines Traumes nötig sind und das Traumbewußtsein kon-
stituieren. 1. Das manifeste Traumgeschehen, 2. das verdrängte
Ubw., 3. das. kollektive Unbewußte, das in Symbolen sich äußert,
4. die Zensur, 5. die Tagesreste, die rezenten Anlässe. Was uns
unberechtigt scheint, ist die Gegenüberstellung des manifesten Trau-
mes den beiden Arten des Unbewußten. Auch im Wachbewußtsein
stehen sich Wort, Bild und das mit ihnen Gemeinte, der Gedanke so-
zusagen, gegenüber, aber doch nicht derart, daß das eine bewußt und
das andere unbewußt ist. Sie bilden in normalen Fällen ein einheit-
liches, verschmolzenes psychisches Erlebnis. Genau das Gleiche gilt
von den manifesten Traumbildern. Auch sie sind der direkte Aus-
druck der Traumgedanken. Auch im Traum bildet Bild und Gedanke
ca DA et
eine komplexe Einheit. Zur Annahme besonderer unbewußter, auch
im Traum unbewußter Gedanken in besonderen Systemen liegt gar
kein Grund vor. Unsere Auffassung ist mit der Hypothese eines Un-
bewußten gut vereinbar. Denn die Annahme des Unbewußten besagt
ja nur, daß durch die normale Bewußtseinstätigkeit im Wachen viele
psychische Akte von starker Wirksamkeit von der inneren Wahr-
nehmung ferngehalten werden. Daraus folgt nur, daß im Schlaf, wo
das Wachbewußtsein weitgehend herabgesetzt ist, sich die binnen-
bewußten Vorgänge leichter regen, was den Traum zur Folge hat.
Zur Annahme eines Unbewußten während des Traumvorganges wäre
also gar kein Grund. Da die Ausdrucksmittel im Sehlaf andere sind
als im Wachen und noch außerdem große wichtige Teile leicht ver-
sessen werden, so würde sich Ja die schwere Verständlichkeit des
Traumes zur Genüge erklären.
Das Traumdenken muß unter anderen Gesetzen verlaufen als
das Wachdenken, da es ja unter ganz anderen Bedingungen steht.
Die Korrektur an der Wirklichkeit durch die äußere Wahrnehmung
fehlt, die Logizität ist weitgehend ausgeschaltet. Die Sprache fehlt
auch meistens, und damit die Fähigkeit des abstrakten Ausdrucks.
Fast alles muß dureh visuelle Halluzinationen dargestellt werden.
All das erschwert so sehr das Verständnis dessen, was geträumt wird.
Doch sehen wir in all dem gerade einen Beweis dafür. daß es nicht
bewußte und unbewußte Reihen im Traum gibt, sondern wie im Wachen
nur eine Reihe, in der die am Tage unbewußten Gedanken in einer
besonderen Ausdrucksweise zur Darstellung kommt. Die Komplizie-
rung Freuds führt auch zu inneren Widersprüchen. Zum Symbol
darf ja voraussetzunesgemäß nichts einfallen, er ist Ja der direkte
archaische Ausdruck für das im System Ubw. Gedachte. Es steht ja
nicht für etwas anderes. Nach Freuds Lehre dürfen also gar keine
latenten Traumgedanken zu den Symbolen angenommen werden.
Auch der Vergleich, die Anspielung stellt bestimmte Gedanken dar,
mit dessen Hilfe sie sieh darstellen. Es besteht infolgedessen kein
Unterschied zwischen symbolischer und anderer Darstellung in bezug
auf das gleichzeitige Ablaufen einer latenten Reihe. Die Annahme
solcher ist also völlig überflüssig, genau so überflüssig, wie wenn wir
sagen sollten, daß unserem bewußten Denken stets ein unbewußtes
parallel läuft, das es noch zu eruieren gilt. Aufgabe der Forschung
wäre es, den Sinn dieser im Wachen unbewußten Vorgänge, die aber
im Traum die bewußten sind, zu verstehen. Hierbei ist noch zu sagen,
‘daß sich in vielen Fällen gar nicht nur das Verdrängte, sondern das
im Wachen Ruhende. das Dispositionelle, regt und sich im Traum
darstellt. In keinem Falle kann aber der Traum als solcher für die
Annahme eines aktivierten Unbewußten ins Feld geführt werden, da
man niemals sagen kann, ob Verdrängtes oder Dispositionelles im
Traum sich darstellt. Nicht der Traum fordert die Annalıme eines
Verdrängten, sondern ganz andere Erscheinungen, die wir an anderer
Stelle ausführlich dargetan haben.
Wenn wir auch die Traumtheorie Freuds nicht anerkennen
können, so wäre damit noch nichts gegen die von ihm aufgewiesenen
Charaktere des manifesten Traumes gesagt. Das, was er über die
Verdichtung, Verschiebung usw. sagt, hat seine Traumtheorie gar
nicht zur Voraussetzung. Freud glaubte nun, diese Charaktere nur
dem Ubw. zuschreiben zu dürfen. Damit. daß er sie im manifesten
Traum aufzeigt, den er ausdrücklich als Bewußtseinsvorgang be-
zeichnet, widerlegt er sich selbst. Aber er irrt auch, wenn er glaubt,
daß diese Vorgänge nur dem Schlafbewußtsein eigen sind, und zwar
hat er selbst den Beweis für die Unrichtigkeit seiner Behauptung er-
bracht. Diese Verschiebungen, Verdichtungen. Ersetzungen und An-
spielungen gehören ja nach seiner Lehre zu den Mechanismen des
Witzes. Der von Freud so ausführlich behandelte Heinesche
Witz „er behandelt mich famillionär“ spielte sich im Bewußtsein des
Dichters ab. Er nahm die Kontamination ganz bewußt mit einer ganz
bestimmten Absicht vor, um damit sein unsympathisches, zweideutiges
Verhältnis zu seinem Onkel zu charakterisieren. Das kontaminierte
Wort „famillionär‘“ soll etwa dem Gedanken Ausdruck geben: „zwar
ein Onkel. aber dennoch ein protziger Millionär“. Latente Gedanken
und manifester Ausdruck stehen sich hier ja nicht gegenüber, sondern
ein einziges Wort für eine ungcheuere Menge seelischer Impressionen,
die alle bewußt waren und bewußt sein können. Das gleiche gilt vom
Schlafbewußtsein. Richtig ist nur, daß die Verdichtungen, die wir
bewußt. vornehmen, oft einen anderen Charakter tragen, als die des
Schlafbewußtseins. Dieses arbeitet wesentlich plumper und korrigiert
nicht so unausgesetzt an der Realität. Die Mischfiguren des Traumes
kommen im Wachbewußtsein auch vor, aber der Unterschied besteht
darin, daß sie in normalen Fällen mit der Korrektur auftreten, sie
wären nur Phantasieprodukte, die dem Traum meist fehlt. Ihm fehlt
auch diejenige Verdichtung. die in abstrakten Begriffen niedergelegt
ist, weil ihm diese fast ganz abgehen. So erklärt sich die anders-
artige Verdichtung des Traumes aus dessen besonderen Bedingungen.
Dasselbe gilt von der Verschiebung, über die wir uns schon früher bei
der Lehre von der Verdrängung geäußert haben.
as YB. eee!
Ob der Traum mit Auslassungen arbeitet, erscheint sehr unwahr-
scheinlich. Die Auslassungen können ja infolge des leichten Ver-
gessens vorgetäuscht sein. Mir ist esin allen Fällen gelungen, Aus-
lassungen mit Hilfe der Hypnose aufzufinden. Fordert man den
Hypnotisierten auf, den erzählten Traum nochmals zu erleben, ohne
irgendwelche Richtungssuggestionen zu geben, so gibt er bald an, er
sei im gehabten Traum. Er weiß auch in der Hypnose, daß er den
Traum schon einmal geträumt, und daß er im wachen Zustand
manches vergessen, was er jetzt wieder erlebt. Gibt man ihm noch
den Befehl, er solle den in der Hypnose wiedergeträumten Traum auch
im Wachen behalten, so tut er das auch und kann auch wach bewußt
die ursprüngliche Erinnerung an den Traum mit dem wirklich ge-
habten Traum, den er jetzt vollständig vor sich sieht, vergleichen. In
allen Fällen bekam der Traum durch die späteren Erinnerungen einen
viel klareren Sinn und die Auslassungen wurden ergänzt. So erzählte
mir eine Patientin, sie habe geträumt, sie wäre mit ihrem Manne im
Schlafzimmer und läge im Bett. Neben dem Bett des Mannes befinde
sich eine Frau, die sie geniere. Sie gab auf Befragen an, an das Aus-
sehen der Frau könne sie sich nieht erinnern. Einfälle halfen nicht
weiter, die Patientin produzierte keine. In der Hypnose erlebt sie
denselben Traum, sieht wieder die Person und bezeichnet sie als ihre
frühere Haushälterin, die sie entlassen, weil sie sie des illegitimen
Umganges mit ihrem Manne verdächtigte. Die Auslassungen dürften
die Folge der wachen Hemmungen sein, die wohl das so schnelle
Vergessen bedingen und nicht der Traumzensur, deren Tätigkeit oft
nieht allzu hoch anzuschlagen ist.
Daß der Begriff der Zensur nicht von Freud stammt, da er sich
nach dessen eigenen Ausführungen mit den Verdrängungstendenzen
deckt. haben wir schon oben dargelegt. Ob der Ausdruck, der sehr
einprägsam ist, auch sehr glücklich ist, lassen wir dahingestellt. Er
birgt die Gefahr in sich, das mythologische Denken in der Psycho-
logie zu fördern. Daß dagegen nur das Unethische von der „Zensur“
unterdrückt wird, ist ganz gewiß nicht richtig. Oft wird auch gerade
das Edelste und Beste in uns verdrängt und lebt unter der „Schwelle“
weiter. Unter dem Haß waltet oft die Liebe und beeinflußt die HaB-
handlungen, so daß diese oft grotesken Charakter annehmen und die
in der Seele waltenden Liebesregungen verraten, die nur vom Haß
in Schach gehalten werden. Die Inhalte des Verdrängten lassen sich
gar nicht a priori bestimmen, das kulturell hoch Geschätzte wird eben-
so häufig gehemmt sein, wie das Umgekehrte. Der sehr wechselnde
„Kampf ums Dasein“ bedingt unübersehbare Möglichkeiten.
- u lo.
— 87 —
Ob es eine Symbolik als autonomen Faktor gibt, oder ob sie
nicht mit der Anspielung, Vergleichung zusammenfällt, läßt sich nicht
so ohne weiteres sagen. Die von Freud aus der Autonomie der
Symbolik gezogenen Folgerungen, daß sie sowohl inhaltlich als auch
formal den phylogenetischen Charakter des Traumes beweise, dürfte
nicht begründet sein. Eisenbahnen, Zeppeline, Revolver sind sicher
keine Erfindungen des vorgeschichtlichen Menschen. Alle von Freud
genannten Beispiele erschöpfen sich aber entweder in Gegenständen
der modernen Kultur oder betreffen Naturgegenstände, die auch dem
modernen Menschen vertraut sind, so daß ein Rekurs auf die Phylo-
genie überflüssig ist. In einem bestimmten von Freud gebrachten
Traum sollte das Bild, der Bruder befindet sich in einem Schrank,
den Wunsch bedeuten, dieser möchte sich einschränken. Danach
sollte hier eine Verbildlichung vorliegen. Dagegen soll das Abfahren
eines Menschen mit der Eisenbahn ein Symbol für den Tod desselben
sein. Freud gibt uns für die Unterscheidung zwischen Symbol und
zensurbedingter Anspielung resp. Verbildlichung kein Kriterium. Wir
halten diese Differenzierung auch nicht für gefordert und identifizieren
beide Begriffe. Wir sehen in der Verbildlichung ein weiter nicht
zurückführbares Ausdrucksmittel des Traumes, das deswegen so
häufig gebraucht wird, weil das abstrakte Denken während des
Schlafes in nur sehr geringem Maße möglich ist.
Die Verbildlichung zu verstehen ist oft sehr schwer, doch ist sie,
wie auch Freud zugibt, mit Hilfe derselben Denkoperationen zu er-
fassen, wie wir auch bewußte Verbildlichungen verstehen. „Aha, das
ist gemeint“, pflegen wir zu sagen, wenn wir eine bildliche Dar-
stellung eines abstrakten Gedankens sehen und sie von Anfang nicht
begreifen konnten.
Wenn auch eine inhaltliche archaische Denkweise nicht an-
genommen werden kann, so könnte das Traumdenken wenigstens
formal eine Regression in das archaische Denken sein. Eigentlich ist
nur die Darstellung abstrakter Gedanken durch visuelle Vorstellungen
als einziges tertium comparationis für den Vergleich zwischen archai-
schem und Traumdenken übrig geblieben. Das allein genügt aber
nicht. Denn erstens ist auch jetzt das Bedürfnis nach bildmäßiger
Ausdrucksweise sehr groß, weil die Anschaulichkeit eine starke ge-
dankliche Erleichterung ist — es ist also keineswegs nur ein Aus-
drucksmittel des Archaischen, und zweitens sollte dieses zugleich das
Primitive sein. Nun ist aber die Traumarbeit gerade nach Freud
das raffinierteste seelische Geschehen. Die Anspielungen, Umkehrun-
gen, Darstellung durch das Gegenteil. Darstellung von Unsinn, um
aA a=
Kritik zu üben nach Art der Dunkelmänner, sind alles andere als
primitiv.
Und dennoch läßt der Gedanke sich nicht. von der Hand weisen,
daß im Traum so gut wie in der Neurose und Psychose älteste Denk-
weisen erwachen können. Die Art der anschaulichen Darstellung im
Traume weicht denn doch von der Art. wie wir uns im Wachen Ge-
dankliches bildlich verdeutlichen, stark ab. Man bekommt bei lang-
dauernder Beschäftigung mit dem Traumleben doch den Eindruck,
daß infolge der fehlenden Korrektur und der Ausschaltung der
Logizität sich ein Denken regt, das ehemals vielleicht das „normale“
war. So bestehen — wenn auch vielleicht nieht in dem Maße. wie
Storch”) es haben will — sicher Beziehungen zwischen dem archai-
schen und schizophrenen Erleben. und auch dieses hat. wie schon oft
betont worden ist, große Ähnlichkeit mit dem manifesten Traum-
denken (ein latentes Traumdenken anzunehmen, haben wir ja gar
keine Veranlassung). Doch daran muß wohl mit voller Strenge fest-
gehalten werden: ein materiales kollektives Unbewußtes anzunehmen.
haben wir nicht die geringste Veranlassung: formal gesehen ist es
zwar plausibel, die traumhafte Verbildlichung resp. Symbolik zwar
als Archaismus aufzufassen; was aber an „Beweisen“ von seiten
Freuds und seiner Schüler vorliegt, ist blutigste Dilettantenarbeit,
die nicht geeignet ist. Vertrauen in die Exaktheit dieser so schwieri-
gen völkerpsychologischen Wissenschaft zu erwecken.
Daß der Traum der Erwachsenen immer eine Regression ins in-
fantile Leben darstellt. falls man ihn nur genau untersucht, ist eben-
falls nicht begründet. Weder können wir die exzessiven Sexual-
regungen, die im Traum oft auftreten, auf die im Schlaf selbständig
gewordenen infantilen Partialtriebe zurückführen, da sich entweder
die gesamte, wenn auch manehmal pervers gefärbte Sexualität regt,
noch können wir dem Kastrationskomplex die von Freud an-
genommene Bedeutung einräumen.
Schließlich hat Freud in den dreißig Jahren seiner Tätigkeit
auch nicht ein einziges einwandfreies Beispiel für die Existenz eines
Kastrationskomplexes veröffentlicht. und das von ihm in der Ge-
schichte einer infantilen Neurose gebrachte hat er selbst widerlegt.
wie wir oben gesehen haben. Wir selbst haben in jahrelangem vor-
urteilsfreiem Forschen nichts dergleichen gefunden, und das, was
Abraham, Schilder, Ferenezi u. a. als Kastrationskomplex
*) Storch. Das archaisch-primitive Erleben und Denken der Schizo-
phrenen. 1122.
— 89 —
ausgeben, läßt sich — was nicht hierher gehört — besser anders ver-
stehen. Wir gehen deshalb nicht darauf ein, weil wir uns die Aufgabe
gestellt haben, nur Freuds Lehren kritisch darzulegen. Eine Be-
schäftigung mit der Psychoanalyse als ganzem verbietet sich schon
deshalb, weil man dadurch dem Begründer der Lehre großes Unrecht
tun müßte, da für die Abstrusitäten der Schüler der Meister nur zum
geringen Teil verantwortlich ist.
Was das Vorkommen des Ödipuskomplexes im Traume betrifft,
so läßt sich natürlich bei der weiten Fassung des Begriffes nicht be-
streiten, daß er in den Träumen eine Rolle spielt. Sieht man aller-
dings selbst die von analytischer Seite veröffentlichten Träume durch,
so kann man nicht gerade sagen, daß er in ihnen sehr häufig an-
zutreffen ist. In den von Köhler, Hacker u. a. veröffentlichten
Träumen spielt er eine noch geringere Rolle und unter den vielen
Träumen, die ich nach analytischer Methode analysiert habe, habe ich
ihn zwar angetroffen, aber nicht als konstantes Element, sondern
durchaus in der Minderzahl der Fälle.
Sind nun alle Träume als Wunscherfüllungen resp. Tendenzen
hierzu aufzufassen? Das von Freud gebrachte Beispiel leuchtet
nicht gerade ein. Die Deutung scheint uns zu sehr an den Haaren
herbeigezogen. Die Patientin bestreitet, daß sie bedauert, so früh ge-
heiratet zu haben. Das Ins-Theater-gehen im Traum ist durch die
Tagesreste genügend begründet. Ob durch das Theaterbesuchen über-
haupt der sexuelle Schautrieb so gefördert wird und der Wunsch
danach im Ubw. so stark gewesen ist. daß er zum Motor des Traumes
werden konnte — scheint uns auch nicht andeutungsweise bewiesen
zu sein.
Es ist eine eigentümliche wissenschaftliche Methode, eine Kon-
struktion zu ersinnen und diese deswegen als den Tatsachen ent-
sprechend anzugeben, weil sie eine theoretische Hypothese bestätigt.
Es muß ja erst von Freud bewiesen werden, daß das Theater-
besuchen bei dieser Frau einst diese sexuelle Wunschbedeutung hatte, ©
es muß ferner bewiesen werden, daß dieser Wunsch unbewußt weiter-
lebte, trotzdem die Frau schon seit zehn Jahren verheiratet ist und
ihren Schautrieb reichlich befriedigen konnte. Es muß endlich be-
gründet werden, daß das Theaterbesuchen symbolisch das Heiraten-
wollen vertritt. Das alles fehlt. Freud behauptet es — aber schlieB-
lich ist doch die Psychoanalyse keine Glaubenslehre. |
Doch unabhängig von diesem Beispiel läßt sich die Haltlosigkeit
der Wunscherfüllungstheorie darlegen.
za OF. -=
Aus den Freudschen Darlegungen geht hervor, daß er zu den
Wünschen auch sämtliche Bedürfnisse, sämtliche längst überwundenen
Tendenzen rechnet; dieses Hinwegsetzen über den primitivsten
Sprachgebrauch ist nur geeignet, MiBverstindnisse und unnütze
Diskussionen hervorzurufen. Aber setzen wir uns darüber hinweg.
Selbst wenn wir den Begriff des Impulses, der überwundenen Kinder-
regung usw. dem des Wunsches subsumieren — auch dann ist eine
unerfüllte seelische Tendenz nicht als einziger Motor des Traumes zu
rechtfertigen. Denn es bleibt noch immer der Einwand, daß eine
Wunscherfüllung nicht gut von schweren Unlustgefühlen begleitet
sein kann, während doch viele Träume, abgesehen von den Angst-
träumen, die zum Erwachen führen. stark unlustbetont sind. Die Ant-
wort Freuds, die Wunscherfüllung sei für das System Ubw. lust-
voll und nur im bewußten Traum treten die Unlustgefühle auf, ist
unhaltbar. Die Entstellung ist doch in diesen Träumen als besonders
groß anzunehmen, da von einer Wunscherfüllung nichts zu bemerken
ist und sie dennoch laut Voraussetzung Freuds geglückt und nach-
zuweisen ist. Wozu also die Entstellung, deren biologische Bedeutung
so ausführlich dargelegt worden ist? Sie wird ja zum Schutze des
Schlafes und zur Unterdrückung der Unlust im manifesten Traum
vorgenommen. Nun soll gar im System Ubw. die Wunscherfüllung
Lust bereiten. Freud lehrt aber doch, daß Affekte und Gefühle
dort nieht möglich sind. Von unserm Standpunkt aus ist aber die
Annahme, daß außer dem manifesten Traum noch unbewußte Ge-
danken und Gefühle in einem besonderen seelischen System gleich-
zeitig ablaufen, völlig unbegründet und so würde die Freudsche
Rechtfertigung als nicht stichhaltig abzulehnen sein.
Nicht alle Kinderträume, auch nieht die von Freud veröffent-
lichten, tragen Wunscherfüllungscharakter, und sie bereiten dem Ver-
ständnis nicht geringere Schwierigkeiten wie die Träume Er-
wachsener. Die Träume des kleinen Hans, der Traum in der Ge-
schichte der infantilen Neurose sind alles andere als manifeste
Wunscherfüllungen.
Richtig dürfte nur sein, daß irgendwelche unerledigten psychi-
schen Vorgänge sich in Träumen zu manifestieren suchen, aber solche
Vorgänge können so gut ein wissenschaftliches Problem, eine mathe-
matische Aufgabe, eine Sorge, eine Warnung und eine rein künst-
lerische Phantasie sein. Bei einiger Anstrengung kann man ja alle
diese Möglichkeiten unter den Begrilf der Wunscherfüllung bringen —
aber wir würden dabei nur einer vorgefaßten Konstruktion zuliebe
auf die Erkennung aller feineren sachlichen Unterschiede verzichten
== Hh Ze
müssen. Übrigens räumt Freud ein, daß die Träume nach Eisen-
bahnunfällen nicht als Wunscherfüllungen aufzufassen sind, da sie
dem „Wiederholungszwang“ gehorchen. Warum sollte nicht auch
eine hartnäckige Sorge etwa im Traume perseverieren, ihn auslösen
und gestalten, wo doch Perseverationen eine so überragende Rolle
im Traume spielen. Mit der Einräumung Freuds ist aber sein
Prinzip zusammengebrochen. Diese Feststellung hat auch praktische
Bedeutung. Wir wissen nämlich, wieviel Mühe und Zeit auf Kosten
des Patienten aufgewendet wurde, um aus jedem Traum die Wunsch-
erfüllung herauszuknobeln.
Aus den Traumuntersuchungen hat Freud die große Bedeutung
des Begriffes der Regression für die Psychopathologie erkannt. Die
Bedeutung dieser Einsicht scheint uns unübersehbar groß zu sein so-
wohl für das Verständnis der Neurosen wie für das der Psychosen.
Die Lehre von der „psychogenen Enthemmung“, wie sie von Bing
vertreten wird, die Lehre vom Abbau der Funktionen v. Monakows,
die von ganz anderen Voraussetzungen aus aufgestellt wurden, sind
interessante, von hirnanatomischen Untersuchungen getragene Be-
stätigungen der psychologischen Intuitionen Freuds, welch letztere
nur den Fehler haben, daß sie einseitig auf die Sexualität konzentriert
sind und die Bedeutung der phylogenetischen Regression für die Ent-
stehung der Hysterie nicht genügend berücksichtigten. Selbstverständ-
lich hat auch die Sexualtheorie Freuds seine Regressionslehre
grundlegend beeinflußt und alles, was wir kritisch gegen seine Auf-
fassung der Sexualentwicklung vorgebracht haben, müßte hier wieder-
holt werden. Es bleibt hier nur wieder die wissenschaftliche Intuition,
daB es Regression gibt, nicht aber die Lehre im einzelnen zu Recht
bestehen. Wenn sich die Annahme einer normalen Infantilsexualität
als unberechtigt erweist. so kann auch nicht gut von einer Regression
auf die Stufe der kindlichen Sexualität die Rede sein.
III. Kapitel: Die Methodik
Die psychoanalytische Methodik baut sich auf ganz bestimmten
psychologischen Voraussetzungen auf und steht und fällt mit der Be-
gründetheit ihrer Prämissen. Trotzdem uns viele der mit ihrer Hilfe
gefundenen Resultate als unhaltbar erscheinen, so sind wir damit
— 92 —
nicht der Verpflichtung enthoben, sie doch auf ihre Berechtigung zu
prüfen. da die Ergebnisse zwar mit ihr gefunden sind, aber doch erst
nach der Bearbeitung des durch die psychoanalytische Technik er-
haltenen Materials. Die Fehlerhaftigkeit der Resultate könnte also
auch auf die mangelhafte Verwertung der Erfahrung zurückgeführt
werden. Die Röntgentechnik etwa kann wichtiges diagnostisches
Material liefern und die gestellten Diagnosen können doch falsch sein,
falls die Bilder nicht richtig gedeutet werden. Selbstverständlich
müssen unhaltbare Resultate auch auf die Methodik ein gewisses Licht
werfen. Doch sind sie allein nicht aussch.aggebend. Für uns handelt
es sich jetzt darum, prinzipiell die Frage zu untersuchen, ob die
psychoanalytische Technik überhaupt geeignet ist. verwertbare
Resultate zu liefern.
Vorausgesetzt sel, daß die Psychoanalyse nicht von einem be-
schäftigten Kassenarzt betrieben wird, sondern von einem Manne, der
keine Eile hat, keine Zeit kennt, sondern mit idealer wissenschaft-
licher Gründlichkeit mit völliger Hingegebenheit seiner Tätigkeit ob-
liegt. Ein derartiger „Nervenarzt“ nehme zuerst die denkbar ge-
naueste Anamnese auf, die ihm ein vollkommenes Bild vom Leben
des Patienten, seinen Absichten und Wünschen, seinen Attituden und
Liebhabereien gibt. Auch ein soleher Arzt wird bald ein gewisses
Verständnis für manche Symptome gewonnen haben, aber es wird
stets ein großer Rest zurückbleiben, der sehr wenig befriedigend wirkt.
Die Geschichte der Psyehopathologie lehrt es mit eindringender Deut-
lichkeit. So lange es keine Lehre von der Verdrängung gab, glaubte
man an der Psychopathologie als einer medizinischen Wissenschaft
verzweifeln zu müssen. Seit bald 2000 Jahren sprachen tiefbliekende
Menschen es immer wieder aus, daß außer den bewußten seelischen
Vorgängen es noch unbewußte geben müsse, die für das gesunde und
kranke Seelenleben von entscheidender Wichtigkeit seien. Breuer
hat das große Verdienst. mit Hilfe der Hypnose eine Technik gefunden
zu haben, die es dem Arzt ermöglicht, das Verdrängte kennen zu
lernen, die er die kathartische nannte. Damit waren der Psycho-
pathologie neue Wege gewiesen. so daß es wohl berechtigt ist, mit
ihm eine neue Epoche in der Psychopathologie beginnen zu lassen.
Ohne sich über die Tragweite seiner Entdeckung bewußt zu sein.
forderte Breuer die hypnotisierten Patienten auf, diejenigen Im-
pressionen und Erlebnisse bewußt werden zu lassen, die bei der Bil-
dung der gegenwärtigen Symptome wirksam sind. Dieser Aufforde-
rung während der Hypnose waren Besprechungen mit den Patienten
— 93 —
im Wachen vorangegangen, die den gesamten mit der Krankheit im
Zusammenhang stehenden Komplex angeregt hatten, ohne daß diese
sich jedoch infolge der vom Wachbewußtsein ausgehenden Hemmun-
gen äußern konnten. Durch solche Besprechungen wurde aber in der
Hypnose eine seelische Konstellation geschaffen, die gerade die in
Betracht kommenden Komplexe zum Bewußtsein kommen ließ. Hier-
für waren durch die Hypnose günstige Umstände geschaffen worden:
Das Wachbewußtsein war, wenn auch zwar nicht völlig, so doch
weitgehend ausgeschaltet, so daß die von ihm ausgehenden Hemmun-
gen herabgesetzt waren und das Verdrängte sich ungehinderter regen
konnte. Es wurde mit Hilfe der hypnotischen Suggestion voll bewußt,
konnte auf Befehl des Hypnotiseurs auch im Wachzustande erinnert
werden und wirkte nicht mehr als „Fremdkörper“. Wenn auch in
einigen Fällen die Aufhebung des Verdrängten größte therapeutische
Wirkungen hatte, so geschah es nicht in allen. Aber auch dann durfte
man mit Recht erwarten, daß. sobald das pathogene Material der
Selbstwahrnehmung zugänglich wurde, es auch dem Einflusse des
Arztes, der Selbsterziehung des Patienten und der allmählichen Kom-
pensation durch andere bewußte Vorgänge nicht mehr so hartnäckigen
Widerstand leisten würde. Diese Annahme hat sich auch für nicht
zu weit fortgeschrittene Neurosen bestätigt. Die kathartische Methode
hat den großen Vorzug, im besten Sinne des Wortes rational zu sein
und tiefe, unter Umständen sogar letzte Einsichten in die Struktur
und Genese der Krankheit zu gewähren.
Die Breuersche Methode ist nicht zu verwechseln mit der
hypnotischen, die ja nicht das Verdrängte eruieren, sondern im Gegen-
teil noch stärkere Hemmungen gegen sie errichten und alle Tendenzen
gegen das Verdrängte mobil machen will. Gewiß lassen sich mit ihr
in vielen leichteren Fällen verblüffende Dauererfolge erzielen, wenn
das Verdrängte nicht übermäßig stark ist und die Situation derart
sich gestaltet, daß das Unbewußte später, wenn die hypnotischen
Suggestionen ihre Wirksamkeit zu verlieren anfangen, nicht mehr
die gleiche Bedeutung hat, wie zur Zeit. der floriden Symptombildung.
(Eine unverheiratete Jungfer aus einem bigotten Milieu hat vor der
Ehe andere Hemmungen und Verdrängungen als nach der Ehe.) In
vielen Fällen aber treten unter leicht verständlichen Bedingungen die
Symptome mit dem Nachlassen der hypnotisch-suggestiven Wirkung
verstärkt auf. Das Verdrängte, das inzwischen sieh organisiert und
seelische Energien gebunden hat, setzt sich gegen die Hemmungen
in Form von neurotischen Symptomen durch.
Nachmansohn, Die wissenschaftlichen Grundlagen der Psychoanalyse Freuds. Abh.H.45. 7
Die kathartische Methode geht ja den umgekehrten Weg, macht
das Verdrängte bewußt und nimmt sogar eine mit dieser Aufwühlung
notwendige verbundene vorübergehende Versehlechterung in den Kaul.
Sie handelt aber nach dem Spruch. Ubi pus ibi evacua. So groß auch
die biologische Bedeutung des Verdrängten für die Anpassung,
Schaffenskraft und Sehatfensfreude ist. als zusammenhängender psy-
chischer- Komplex kann er unter bestimmten Umständen pathogen
werden. Die kathartische Methode steht mit den besten Einsichten
psvchologischer Denker, wie Herbart, Schopenhauer und
Bergson, sowie mit den Erkenntnissen der Hypnose in schönstem
sinklang und zeichnet sich dureh eine wissenschaftliche ratio aus.
Nicht zu vergessen ist. daß die Hypnose nur ein Hilfsmittel ist.
das dureh ein anderes ersetzt werden kann, falls es sich geeignet er-
weist. das Verdrängte der bewußten Beeinflussung zugänglich zu
machen.
Dieses ist auch heute das Prinzip der gesamten Therapie
Freuds, wenn er auch die Theorie der Katharsis resp. der Ab-
reaktion wieder verlassen hat. Zum Begriff der Katharsis gehört die
Affektentladung. Da er mit seiner Technik oft das Ubw. eruiert zu
haben glaubte, ohne daß eine kathartische Reaktion eintrat und der
Patient oft auch Besserung zeigte, wenn auch nicht direkt im An-
schluß an die Aufdeckung, so glaubte er, daß die Affektentladung
nur zufällig ist und als Bedingung der Remission nicht in Betracht
kommt. Die Hauptsache blieb aber aueh ihm die Bewußtmachung des
pathogenen Materials.
Schon zur Zeit. als er auf dem Breuerschen Standpunkt stand.
hatte Freud die Erfahrung gemacht. daß viele Patienten nicht
hypnotisierbar waren. Er gestaltete in solchen Fällen die Anamnese
immer feiner, sein psvehologiseher Spürsinn versehmiihte keine
Äußerung des Seelenlebens und so Heß er sich aueh, ohne zu ahnen.
welche Bedeutung es für seine Lehre gewinnen würde, die Träume er-
zählen. In dieser unbeirrten Naivität, alle Äußerungen des Seelen-
lebens zu durchforsehen und aus ihnen Erkenntnisse zu gewinnen,
let das Genialische Freuds. Schon vorher hatte er unaufhörlich
die Patienten gefragt. was ihnen zu ihren Symptomen in den Sinn
komme und hatte dureh dieses unaufhörliche Drängen manches hyste-
rische Erbreehen. manehe Kontraktur als sinnnaften. verhüllten Aus-
druck verdrängter Regungen erkannt. Dieselbe Methode wandte er
auch anfänglich auf die Träume an, und als er deren Bedeutsamkeit
für das Verständnis des Seelenlebens erkannt hatte. untersuchte er
mit unermüdlichen Forsehereerst seine eigenen Träume und so stellte
— 95 —
sich bei ihm bald die Gewißheit ein, die Traumuntersuchung sei die
via regia ins Ubw. Die theoretische Begriindung ergab sich fast von
selbst. Der Schlaf ist ein der Hypnose zum mindesten vergleichbarer
Zustand. Die Bedingungen für das BewuBtwerden des Verdrängten
liegen sogar in mancher Hinsicht giinstiger, insofern als die Hemmun-
gen im Schlaf noch stärker herabsgesetzt zu sein pflegen und die
Abwesenheit des Hypnotiseurs in gleicher Richtung wirkt. Die An-
regung der Komplexe durch die bewuBten Besprechungen konnte sich
im Schlaf so gut geltend machen wie in der Hypnose, wozu noch
kam, daß im Traum sich vieles spontan regen konnte, was im gleichen
Maße in der Hypnose nicht erwartet werden durfte. Gar mancher
Traum, der während der Behandlung geträumt wird, spricht dem er-
fahrenen Arzt eine deutliche Sprache, er läßt neue Fragestellungen
aufkommen, verrät die noch vorhandenen halb bewußten, halb un-
bewußten Konflikte und wirkt heuristisch befruchtend. So wurde die
Traumanalyse zur eigentlichen psychoanalytischen Technik. Die
künstlich geschaffenen Schlafzustände wurden von Freud mit den
natürlichen vertauscht, anstatt des in der Hypnose bewußt Geworde-
nen wurde das Traumbewußte untersucht.
Die Unterschiede dieser beiden Bewußtseinszustände sind aller-
dings noch recht groß. In der Hypnose erlebt man ein Stück ver-
drängter Vergangenheit mit dem ganzen ihr anhaftenden Affekt, das
Erlebte ist in sich verständlich, der Traum läßt zwar auch ein Stück
verdrängten Seelenlebens auftauchen, aber die Darstellung ist nicht
ohne weiteres verständlich. ohne Kenntnis der Sprache des Traumes
bleibt der Sinn unbeachtet und verschlossen. Es gait nun die Traum-
sprache zu erlernen. Freud berichtet (IV. S. 101). daß er die
Patienten zur Aufklärung eines Symptoms so lange gefragt hatte, bis
sich ihm dessen Sinn enthüllte. Das gleiche machte auch Freud
anfänglich bei der Traumuntersuchung aber, und hier wollen wir
ihm das Wort geben, „so einfach geht das bekanntlich beim Traum
nicht . . . Der Träumer sagt immer, er weiß nichts“ (IV, 5. 102).
Freud wußte aber von seinen Studien in Nancy her, daß man
manchmal nur glaubt, man wisse etwas nicht, obgleich man es doch
weiß. Dort hatte er bei Bernheim sehr oft den Versuch mit an-
gesehen. daß ein Mann während einer Hypnose das Verschiedenste
halluzinatorisch erlebte und nach dem Erwecktwerden nichts von
alledem zu wissen behauptete. Als aber Bernheim unaufhörlieh in
ihn drang, erinnerte er sich doch Stück für Stück des Erlebten.
Freud glaubte nun — wie wir im kritischen Abschnitt sehen wer-
den mit Unrecht —, daß beim Traum die Verhältnisse genau die
7
sleichen waren. Der Träumer wisse nicht nur um seinen Traum.
sondern auch um dessen Bedeutung. und diese kann von ihm trotz
seines anfänglichen Leugnens durch Beharrlichkeit und Ausdauer er-
fragt werden. Zwar verlangt er nieht. daß der Träumer ihm gleich
den Sinn des Traumes sage. „aber die Herkunft desselben, den Ge-
danken- und Interessenkreis, aus dem er stammt. wird er auffinden
können“ (IV, NX. 107). „Wir fragen den Träumer, wie er zu dem
Traum gekommen ist, und seine nächste Aussage soll wieder als Auf-
klärung angesehen werden“ (IV, N. 107). Die bekannten Einwände.
daß zu jedem reproduzierten Traumstück alles mögliche einfallen
könne, glaubt Freud damit erledigen zu können. daß er sich auf die
Determiniertheit. alles seelischen Geschehens beruft. Da der Traum
ein komplexbedingtes Geschehen sei, darf angenommen werden, dab
beim Auftauchen eines Elementes. das mit dem Komplex in einem
psychischen Zusammenhang steht. auch die übrigen Elemente des-
selben reproduziert werden (IV. 5. 113). Freud glaubt daher, es
wäre nur nötig, alle zu den „Traumelementen“ gebrachten „Einfälle“
zu sammeln, um zugleich auch die zum Traum gehörigen verdrängten
Komplexe zu haben, wobei allerdings noch zu berücksichtigen wäre.
daß die Einfälle infolge der Zensurwirkung auch nur „Komplex-
abkömmlinge“ sind, aus denen der Komplex selbst zu „erraten“ und
zu erdeuten ist. Aus der Theorie, daß dem manifesten Traumelement
ein während des Schlafes latenter Traumgedanke geeentibersteht. er-
gibt sich für Freud eine feinere Präzisierung der Technik. Nieht nur
die Komplexe als Ganzes, die sieh in verschiedener Form äußern
können, sondern auch die aus diesen erwachsenen latenten Wünsche
und Gedanken, die in den manifesten Traum transponiert worden
sind, sollen dureh die Einfallmethode gefunden werden können. Er
stellt daher die folgenden Regeln auf, denen er große methodologische
Wichtigkeit beilegt. „1. Man kiimmere sieh nicht um das, was der
Traum zu besagen scheint. sei er verständie oder absurd. klar oder
verworren, da es doch auf keinen Fall das von uns gesuchte Un-
bewußte ist (eine naheliegende Einschränkung dieser Regel wird sich
uns später aufdriingen); 2. man beschränke die Arbeit darauf, zu
jedem Element die Ersatzdarstellungen zu erwecken, denke nicht
über sie nach, prüfe sie nicht, ob sie etwas passendes enthalten.
kümmere sich nieht darum., wie weit sie vom Traumelement abführen:
3. man warte ab. bis sich das verborgene gesuchte Unbewußte von
selber einstellt“ (AV. S. 118). Es sei auch völlig gleich. ob viel oder
wenig vom Traum erinnert wird. ob der wirkliche Traum entstellt er-
zählt wird oder nieht, denn wenn die Erinnerung ungetreu ist, so liegt
einfach eine Fortsetzung der Zensurtätigkeit im Wachen vor — der
entstellte manifeste Traum ist wie der unentstellte zu behandeln. Das
wesentliche ist, alle Einfälle zu sammeln und keinen als unwichtig
beiseite zu lassen. Allerdings genießen manche Einfälle eine be-
sondere Beachtung, nämlich diejenigen, die scheinbar nicht zur
„Sache“ gehören und vom Patienten ungern gesagt werden, oder vor
allem diejenigen, die nach langen Pausen kommen. Diese Einfälle
sollen deshalb mit den genannten Erschwerungen gebracht werden.
weil sie die intimsten Beziehungen zum Verdrängten besitzen und
der Widerstand gegen sie sich besonders regt. Also heißt es auf-
passen und sich durch das Schafskleid nicht täuschen lassen. |
Von entscheidender Wichtigkeit soll noch die besondere Ein-
stellung des Patienten während der Produktion der Einfälle sein. Von
ihm wird nämlich zweierlei verlangt: .‚eine Steigerung seiner Auf-
merksamkeit für seine psychischen Wahrnehmungen und eine Aus-
schaltung der Kritik, mit der er die ihm auftauchenden Gedanken
sonst zu sichten pflegt“ (X, S. 70). Er muß alles, was kommt, mit
gleicher Liebe wahrnehmen und laut wie ein Phonograph aussprechen,
die selektive Funktion soll ausgeschaltet sein. Dieser Zweck soll
leichter erreicht werden, wenn man im halbverdunkelten Zimmer auf
einem Sofa liegt und sich seinen Einfällen überläßt mit der Aufgabe,
alles innerlich auch zu beachten. Diese Einstellung ist aber nur nach
sehr langer Übung und bei großer psychologischer Begabung mög-
lich. Auch Freud weiß das und gibt in sehr beredten Worten darüber
Auskunft. Es will ihm nicht in den Sinn, daß oft die begabtesten
intelligentesten Patienten mit dem besten Gesundungswillen die
simple Regel, einfach alles zu sagen, nicht befolgen können. Freud
erklärt dieses scheinbare Rätsel aus dem Wirken des Widerstandes.
Die Kräfte, die die Verdrängung bewirkt haben, äußern sich jetzt als
Widerstand gegen deren Bewußtwerden. Dieser hat auch zur Folge,
daß selbst die Einfälle zunächst noch sehr weit entfernt vom Un-
bhewuBten sind, was weiter zur Folge hat, daß die Zahl der nötigen
Einfälle ins Ungemessene und Untibersehbare steigen kann.
So ergibt sich als zweite Aufgabe der psychoanalytischen Technik,
den Widerstand zu überwinden. Dieses kommt nicht nur der Traum-
deutung zugute, sondern der Therapie überhaupt, da der Widerstand
sich auch dem Gesundwerden entgegenstellt. Die Krankheit wird
durch dieselben Kräfte, die die pathologisenen Verdrängungen be-
wirkt haben, weiter unterhalten, und diese setzen dem Bewußtwerden,
ja auch nur der Änderung des Symptomenkomplexes einen spürbaren
Widerstand entgegen. „Der Widerstand des Kranken ist sehr mannig-
— gg —
faltig, höchst raffiniert, oft schwer zu erkennen. wechselt proteus-
artig die Form seiner Erscheinung“ (IV, S. 326). Bald fällt dem
Patienten nichts ein, dann soviel, daß er nicht weiß womit anfangen.
dann hat er bald dieser, bald jener kritischen Einwendung nachgege-
ben usw. Die Art des Widerstandes wechselt von Neurose zu Neu-
rose, von Individuum zu Individuum. Zwangsneurotiker sind über-
gewissenhaft und überskeptisch, Angsthysteriker produzieren Ein-
fälle, die vom Ubw. so weit entfernt sind. daß sie ertraglos werden.
der intellektuell gut Veranlagte bringt so viele kritische Einwendun-
gen gegen die Methodik vor, daß darüber die Zeit vergeht usw. Die
wichtigste Form des Widerstandes soll aber die Übertragung sein.
„Anstatt sich zu erinnern wiederholt er (der Patient) aus seinem
Leben solche Einstellungen und Gefünlsregungen, die sich mittelst der
sog. „Übertragung“ zum Widerstand gegen Arzt und Kur verwenden
lassen. Er entnimmt dieses Material, wenn er ein Mann ist. in der
Regel seinen Verhältnissen zum Vater, an dessen Stelle er den Arzt
treten läßt und macht somit Widerstände aus seinem Bestreben nach
Selbständigkeit der Person und des Urteils. aus seinem Ehrgeiz, der
sein erstes Ziel darin fand, es dem Vater gleichzutun oder ihn zu
überwinden, aus seinem Unwillen, die Last der Dankbarkeit ein zwei-
tes Mal in seinem Leben auf sich zu laden. Streckenweise empfängt
man so den Eindruck, als hätte beim Kranken die Absicht, den Arzt
ins Unrecht zu setzen, ihn seine Ohnmacht empfinden zu lassen, über
ihn zu triumphieren, die bessere Absicht, der Krankheit ein Ende zu
machen, völlig ersetzt. Die Frauen verstehen es meisterhaft, eine
zärtliche, erotisch betonte Übertragung auf den Arzt für die Zwecke
des Widerstandes auszubreiten. Bei einer gewissen Höhe dieser Zu-
neigung erlischt jedes Interesse für die aktuelle Situation der Kur.
jede der Verpflichtungen und die nie ausbleibende Eifersucht, sowie
die Erbitterung über die unvermeidliche. wenn auch schonend vor-
gebrachte Abweisung müssen dazu dienen. das persönliche Einverneh-
men mit. dem Arzt zu verderben und so eine der mächtigsten Trieb-
kräfte der Analyse auszuschalten“ (IV. S. 329/30).
Dem Analytiker bleibt nichts übrig, als den Widerstand aus all
den genannten und ungenannten Anzeichen zu erraten und zu er-
deuten und ihn dem Patienten vorzuhalten. wodurch dessen „Ich ver-
anlaßt wird, ihn aufzugeben“. Ist der Widerstand überwunden, dann
sind mit Hilfe der psychoanalytischen Grundregel die Traumdeutung
ebenso wie die Fortschritte der Therapie leicht herstellhar. Bei der
Traumanalyse fallen dann dem Patienten wirklich dem Unbewußten
nahe Komplexabkömmlinge ein. Allerdings liefern ja, wie wir gehört
— 99 —
haben, die Symbole keine Einfälle, da sie ja die direkte Sprache des
Ubw. sind. Doch sollen jetzt die Verhältnisse so liegen, daß die
Symbolsprache des Traumes sehon im wesentlichen bekannt ist. Mit
Hilfe der Grundregel, unter Berücksichtigung aller von Freud er-
rungenen Kenntnisse von den Mechanismen der Verdichtung, Ver-
schiebung, Auslassung, Umkehrung usw. und nach Übersetzung der
Symbole ergibt sich der Sinn des Traumes von selbst.
Doch mit der Traumdeutung und der Überwindung des Wider-
standes ist die psychoanalytische Methodik noch nicht erschöpft. Als
drittes Moment (und wichtigstes) kommt noch die richtige Ausnut-
zung der negativen und positiven Übertragung.
Entweder bildet sich beim Patienten eine starke Abhängigkeit
oder eine Gleichgültigkeit oder eine Opposition dem Arzt gegenüber
heraus. Das erstere ist die positive, die beiden letzteren die nega-
tive Übertragung. Die Gefährlichkeit aller dieser Situationen ist
oben bei der Besprechung des Widerstandes geschildert worden. Das
Eigentümliche dieser Übertragung soll deren Ambivalenz sein, nega-
tive und positive Gefühle beherrschen den Patienten zu gleicher Zeit,
wobei die feindlichen Gefühle ebenso „eine Gefühlsbindung bedeuten“
wie die zärtlichen. „Daß die feindlichen Gefühle gegen den Arzt den
Namen einer Übertragung verdienen, kann uns nicht zweifelhaft sein,
denn zu ihrer Entstehung gibt die Situation der Kur gewiß keinen
Anlaß“ (IV, S. 519).
Zur Ausnutzung und Überwindung der negativen Übertragung
rät Freud, dem Kranken nachzuweisen, „daß seine Gefühle nicht
aus der gegenwärtigen Situation stammen und nicht der Person des
Arztes gelten, sondern daß sie wiederholen, was bereits früher
einmal bei ihm vorgefallen ist. Dann wird die Übertragung, die, ob
zärtlich oder feindselig in jedem Falle die stärkste Bedrohung der
Kur zu bedeuten schien, zum besten Werkzeug derselben, mit dessen
Hilfe sich die verschlossensten Fächer des Seelenlebens eröffnen las-
sen“ (IV, S. 520). Die Übertragung ist nach Freud als Neuauflage
der bisherigen Neurose aufzufassen. Alle Kontlikte, die bisher das
Seelenleben durchtobten. leben sich in ihr aus. Mit ihrer Überwin-
dung ist auch die Neurose erledigt. Die Ausnutzung der Übertragung
ist deshalb so wichtig, weil sie erst dem Arzt beim Patienten Glauben
verschaffen soll, der Intellekt der Patienten, vor allem der begabten
männlichen, soll dazu nicht geeignet sein, da er ja „im Dienste des
Widerstandes“ stehen soll. „Der Glaube wiederholt. dabei seine eigene
Entstehungsgeschichte, er ist ein Abkömmling der Liebe und hat
zuerst der Argumente nicht bedurft“ (IV, S. 522).
— 100 —
Damit glauben wir das Prinzipielle der Methodik Freuds dar-
gestellt zu haben (die Neuerungen Ferenezis u. a. betreffen unseres
Erachtens nur technische Einzelheiten).
Kritik: Das Fallenlassen der Katharsis scheint uns für die
Entwicklung der Psychoanalyse verhängnisvoll geworden zu sein.
Dadurch wurde es dem Psychoanalytiker möglich, auf die Zustim-
mung des Patienten zu seinen Deutungen zu verzichten. Denn diese
galt ja jetzt, auch wenn die Erinnerung nicht geweckt wurde, wenn
mit der Deutung seiner Symptome auch keine affektiven Entladungen
verbunden waren. Damit hat Freud das wichtigste und im Grunde
einzige Kriterium für die Richtigkeit seiner Deutungen aus der Hand
gegeben und sich um das bedeutsamste therapeutische Mittel, eben
der Katharsis, der inneren Befreiung. beraubt.
Solange der Patient dem Analytiker nur glauben muß. daß sich
in ihm diese und diese unbewußten Vorgänge abgespielt hatten, er
selbst aber von ihnen nichts erlebnismäßig erfährt, solange hat ein
solches Wissen weder theoretischen noch therapeutischen Wert, da
wir für die Richtigkeit unserer psychologischen Nachkonstruktion
nicht die geringste Gewähr haben, falls wir nieht die gröbsten logi-
schen Erschleichungen begehen wollen. Ja, wenn das Erleben, das
erschütternde Aufwühlen des Ubw. fehlt, haben wir allen Grund, an-
zunehmen, daß die Konstruktion falsch ist. Diejenigen Komplexe. die
die Krankheit bedingen, pflegen trotz ihrer UnbewuBtheit sehr emp-
findlich zu sein. Spricht man sie in adäquater, der Mentalität des
Patienten angepaßten Form aus, so pflegt der Komplex unter starker
Affektentwicklung sich schon zu äußern: oft bestreitet der Patient
anfänglich, daß in ihm die angenommenen Vorgänge sich abspielen.
aber bald gibt er sie zu. Tut er es nieht, so kann wohl in einzelnen
Fällen dennoch das Richtige vom Arzt erfaßt worden sein, aber diese
Erkenntnis läßt sich nicht beweisen und führt auch zu keinem thera-
peutischen Erfolg. Sie kann also keinen wissenschaftlich brauch-
baren Wert haben. Schließlich kommt doch der Patient in den mei-
sten Fällen mit dem bewußten Wunsch zum Arzt, gesund zu werden.
wenn er auch die inneren Gesundungswiderstände überwinden muß.
Hat aber der Arzt. sein Vertrauen erlangt. so belügt er ihn höchstens
über manche tatsächliche äußere Vorkommnisse, nicht aber über seine
inneren Erlebnisse, jedenfalls nieht dauernd. Werden also die Sym-
ptome, die Träume, richtig erfaßt und spricht der Arzt das aus, was
sich unbewußt im Seelenleben des Patienten abspielt. so muß dieser
auch die innere Wahrheit der ärztlichen Erkenntnis unter starken
Emotionen erleben. Diese Affektregungen dürfen in keinem Falle
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fehlen, denn ohne verdrängte Affekte ist ein pathogenes Unkewußtes
nicht denkbar. Bloß qualitative Vorstellungen, wie Freud es wik,
dessen quantitativer Faktor abgeführt ist, haben nach allen unseren..
Kenntnissen des menschlichen Seelenlebens nicht die Kraft, krank-; .-
hafte Symptome auszulösen. Das bloße Deuten, ja auch die Akzep- ` -`
tierung des Gedeuteten durch den Patienten, kann zwar Arzt und
Kranken das Bewußtsein geben, tiefste und letzte Schau vom Seelen-
leben empfangen zu haben, hauptsächlich, da ja die Deutungen bis
auf die entfernteste Urgeschichte der Menschheit zurückgehen — aber
bei diesen erschauerlichen Erlebnissen pflegt es auch zu bleiben. Ein
begabter Analytiker sagte mir einmal, selbst wenn sich alle Annah-
men der Psychoanalyse als falsch herausstellen sollten. so wäre doch
deren Konzeption, die Weite und Tiefe ihrer Betrachtungsweise der
Bewunderung der Mit- und Nachwelt wert. Ich mußte dabei an
einen bekannten jüdischen Witz denken: Abraham: Höre, Jakob,
was unser Rabbi für Gesichte hat. Gestern wurde er plötzlich ver-
zückt und sagte dann, in Brody, also doch 200 Meilen von hier,
brenne jetzt die Synagoge. Uns standen die Haare zu Berge vor dem
Unglück und dem Fernblick des Rabbi. — Jakob: Und hat es sich
auch bestätigt? — Abraham: Das nicht gerade. Heute war jemand
aus Brody da, der sagte, die Synagoge stehe noch — aber was sagst
du überhaupt zum Fernblick?“ — Die Ersetzung der hypnotischen
Erlebnisse durch den Traum ist als großer methodischer Fortschritt
anzusehen. Es ist auch richtig. daß der Träumer im Wachen von
seinem Traume wesentlich mehr in Erinnerung rufen kann, als er
glaubt, falls man ihn dazu in der Beruheimschen Weise drängt.
Doch bei Freud handelt es sich ja um etwas ganz anderes. Nicht der
manifeste Traum soll genauer erinnert werden, sondern die latenten
Traumgedanken, die auch während des Traumes nicht bewußt waren.
An diese soll sich ja der Patient „erinnern“. Die Parallele zur Hyp-
hose versagt also vollkommen. Nach dem Erwachen aus der Hypnose
sollte ja nur das in diesem Zustand bewußt Erlebte genauer reprodu-
ziert werden, eine weitere unbewußte Reihe wurde ja gar nicht ange-
nommen. Selbst wenn der manifeste Traum in noch so großer Voll-
ständigkeit vorläge, würde Freud sien nicht damit begnügen. son-
dern von den einzelnen .Traumelementen“ aus das Unbewußte
suchen. Die Annahme von Parallelreihen hat sich aber auch als in
sich widerspruchsvoll und überflüssig erwiesen, so daß mit ihr die
Berechtigung der Einfallsmethode auch nicht bewiesen werden kann.
Doch damit ist noch nichts gegen die Grundregel gesagt. Diese
könnte sieh doch bewähren, indem sie wenigstens das vorläufige Ziel
— 102 —
erfüllt; ‘die Herkunft des Traumes, seinen Gedanken- und Interessen-
kreis aufzufinden“, womit schon fiir das Seelenleben viel gewonnen
wäre. In vielen Fällen trifft diese Erwartung sicher zu und darin
„sehen wir die große Bedeutung der Traumanalyse. Die Lehre von der
- wechselnden Determiniertheit des psychischen Ablaufes dient der
Methode der freien Assoziation als Begründung. Wenn ich im Café
mit einem Freunde alte Erinnerungen austausche, stellen sich mir
andere Assoziationen ein, als wenn ich über ein bestimmtes Thema
einen zusammenhängenden Vortrag halten soll. Die selektiven Funk-
tionen sind in beiden Fällen andere. Genau so in der ärztlichen
Sprechstunde. Ist man einmal auf den Traum eingestellt, so gehen
von ihm Tendenzen aus, den gesamten zu ihm gehörigen Komplex
zur Reproduktion zu bringen. Das geschieht auch in vielen Fällen —
aber keineswegs in allen. Die Verhältnisse bei der Traumanalyse
liegen nämlich wesentlich komplizierter als in den oben angedeute-
ten Situationen. Dort handelte es sich ja um „ichgerechte‘‘ Assozia-
tionen, die sich, einmal in Fluß, von selbst anbieten, bei dem schlecht
aber selbst gut erinnerten Traum soll aber Material geholt werden.
das im Wachzustand verdrängt ist. Hier reichen die Reproduktions-
tendenzen, die von den behaltenen Traumsiücken ausgehen, oft kei-
neswegs hin, um nur den vergesssenen Rest, noch weniger die mit
dem Traum zusammenhängenden Komplexe zu holen. Die Einfälle
brauchen keineswegs „Komplexabkömmlinge“ zu sein, auch wenn sie
einen guten Sinn ergeben. Die erinnerten Traumbilder ordnen sich
in einen ganz anderen Assoziationszusammenhang ein, sind vom ur-
sprünglichen Komplex, durch den sie bedingt sind. durch Hemmun-
gen abgeschnitten und so geschieht es sehr leicht. daß die zu den
Traumelementen gebrachten Einfälle mit dem ursprünglichen Traum-
komplex nicht das Geringste zu tun haben. Durch künstlich er-
zeugte Träume, in denen ein vorher bestimmter Inhalt dargestellt
wird, läßt es sich sehr leicht beweisen. daß die Einfälle zu einem
solehen Traum sich keineswegs immer auf den in dem Traum dar-
gestellten Inhalt beziehen. obgleich das gebrachte Material einen
ganz ausgezeichneten Sinn ergibt. Richtig ist nur. daß in den Fäl-
len. wo der Gesundungswille groß ist, die Komplexe durch die Be-
sprechungen im Wachen angeregt sind und sich auch deutlich in den
„manifesten“ Traumvorstellungen (andere als manifeste kennen wir
ja nicht) spiegeln, daß in solchen Fällen die „Einfälle“ aus den Kom-
plexen stammen und der Traum das ganze unbewußte Seelenleben
verrät. Sicher abzulehnen ist, daß jeder nächste Einfall zum Kom-
plex hinführt. Die von Freud immer wieder angerufene Determi-
— 103 —
niertheit unseres Seelenlebens wird durch unsere Kritik ja gar nicht
angetastet, denn es kommt auf die determinierenden Faktoren an, und
diese können ja wirksam sein, auch wenn wir sie nicht kennen. Der
Sinnzusammenhang verbiirgt keineswegs den Kausalzusammenhang.
Aus der Tatsache aber, daß zu einem Traumelement gerade dies ein-
fällt, läßt sich nicht der Schluß ziehen, daß nun dieser Einfall auch
im kausalen Zusammenhang mit dem Traumbild während des Träu-
mens gestanden habe, falls dieser Zusammenhang nicht durch andere
Faktoren wahrscheinlich gemacht wird. Doch Freud fordert ja
nicht zumal einen Sinnzusammenhang, sondern behauptet, daß auch
völlig sinnlose Einfälle, wenn sie nur im Anschluß an das wieder
reproduzierte Traum, element“ gekommen sind, die latenten Traum-
gedanken repräsentieren resp. „Abkömmlinge‘“ von ihnen sind. Die
Begründung lautet immer wieder bei Freud, in der Seele könne
nichts zufällig geschehen, so wenig wie in der Physik. Aber ohne
jetzt viel auf philosophische Diskussiönen einzugehen, braucht ja nur
auf das auch jedem Mediziner geläufige post hoc und propter hoc
hingewiesen zu werden. Keinem Schulpsychologen ist es jemals ein-
gefallen, die psychische Determiniertheit zu leugnen. Gewiß ist jeder
Einfall streng determiniert, aber deswegen brauchen doch nicht
gerade die Einfälle die Determinanten zu sein. Diese können uns
völlig unbekannt sein, genau so wie in der Physik das Kausalgesetz
nicht bestritten wird, wenn zugegeben wird, daß uns zu einer be-
stimmten speziellen Erscheinung die Ursachen nicht resp. noch nicht
bekannt sind. Die Forderung Freuds und seiner Schüler, alle
Einfälle zu sammeln, alle zu verwerten, steht mit dem Gesetz seeli-
scher Determiniertheit direkt im Widerspruch und verführt mit Not-
wendigkeit zu gedankenlosen. wenn auch .„geistreichen‘“ „esprit-
vollen“ Konstruktionen.
Die Schwerverständlichkeit des Traumes beruht zu einem großen
Teil auf der Funktion des Vergessens, das wohl als Folge der Hem-
mungen anzusehen ist. Je genauer aber der manifeste Traum bekannt
ist. um so eher kann man Aufschluß über die Komplexe erhalten.
Deshalb ist es als schwerer Irrtum zu bezeichnen, wenn Freud auf
die Erinnerungstreue gegenüber dem manifesten Traum kein Ge-
wicht legt.
Die „latenten Traumgedanken‘“ sind zwar nach unserer Darstel-
lung in dem manifesten Traum zum Ausdruck gebracht. Es hat aber
einen guten Sinn, vom manifesten Traum aus auf latente Komplexe
zu fahnden, weil das Wachbewußtsein nach Beendigung des Schlafes
wieder seine verdrängende Funktion ausübt. Der Traum gibt nun
— 104 —
die Möglichkeit, durch Übersetzung der Traumsprache das Unbewußte
zu heben. In vielen Fällen bringen die „Einfälle“, wenn wir schon
das mißverständliche Wort beibehalten wollen, tatsächlich Einsicht
in das Wesen des Traumes und verraten deutlich die zum Teil auch
bewußt tobenden Konflikte des Patienten. Aber diese Einfälle sind
nur unter ganz bestimmten Umständen erhältlich. Meistens pflegen
die Einfälle dann besonders durchsichtig zu sein. wenn die bewußten
Konflikte schon reichlich besprochen sind. Die mit ihnen im Zu-
sammenhang stehenden unbewußten Komplexe regen sich dann leich-
ter und die Einfälle sind infolgedessen ertragreicher. Manchmal
wird der Patient so außerordentlich von seinen Komplexen be-
herrscht, daß die Träume von ihnen erfüllt sind und jeder Einfall
durch sie bedingt ist. In solchen Fällen läßt sieh der Sinn der Ein-
fälle unschwer verstehen. Eine Kurze Traumanalyse möge das Vor-
stehende erläutern.
Eine schwere Hysterika träumt, daß sie ein ganzes Bündel Briefe
bekommen habe, sie mache aber keinen auf, da alle Adressen zwar
richtig auf ihren Namen lauten aber doch nicht die richtige Hand-
schrift zeigen. Sie fahre im Schlafabteil ins Ausland. Zum Ver-
ständnis des Traumes sei bemerkt, daß die Patientin mehrere Male
von Männern gekränkt und im Stiche gelassen worden ist. Sie hatte
allmählich die Hoffnung aufgegeben, einen Mann zu bekommen, nach
dem sie größtes Verlangen hat. Übermäßiz empfindlich „verachtet‘
sie die Männer, die nur den Koitus verlangen und weiter Keine Ver-
pfliehtungen eingehen wollen. Einfälle will sie anfänglieh nicht
haben. Endlich: „Ich denke jetzt daran. daß ich beschlossen habe.
meine Wäsche und Möbel zu verkaufen. da ieh Ja nieht mehr heiraten
will“. Ich „deutet die vielen Briefe als Bewerbungsbriefe von Ver-
ehrern. die sie aber alle ablehne zur Strafe für die männliche Treu-
losiekeit. „Im Traume lehnen Sie sozusagen ab, während bisher die
Männer abgesprungen sind“. Trotz des schwer kränkenden Inhaltes
meiner Deutung kommt es zu einem befreienden Lachen, gemischt
allerdings mit einem Erröten und einem sehweren Kampf um die Be-
herrschung der Tränendrüsen. Die Kompensationshedtirfnisse der
-atientin den verschiedenen Männern gegenüber wagten sich hier in
verhüllter Form vor. Im Wachbewußtsein ist sie zu solchen „Kindi-
schen‘ Rachephantasien sozusagen zu vernünftig. Sie werden ver-
drängt und regen sich im Traum in nicht allzu schwer verhüllter
Form. An diesen Traum schloß sieh die Aussprache über die ganze
Lebenstragödie des Mädchens an, es sehloß sieh daran eine ein-
echende Darlegung ihres überspaunten Seelenzustandes. was eine sehr
— 105 —
merkliche Besserung ihrer allgemeinen depressiven Hemmung zur
Folge hatte.
Irreführend scheint uns das Kriterium Freuds für die Wertig-
keit der Träume. Die Kritik, die nicht zufäilig gerade von intelli-
genten männlichen Patienten geübt wird, ist keineswegs ein Zeichen
des Widerstandes, sondern oft sehr berechtigt. Glaubt ein Patient,
ein Einfall gehöre nicht zur Sache, so kann das auch durchaus der
Fall sein. Oft nur zu berechtigte Selbstkritik, augenblickliche Scham
usw. beweisen noch nicht, daß der Einfall eine besondere Bedeutung
hat. Solche Kriterien haben den Analytiker verführt, dem Patienten
Unreeht zu tun, haben hinter den unbedeutsamsten Einfällen tiefe
Geheimnisse wittern lassen und verständiiche Opposition von seiten
des Patienten geweckt.
Besondere Schwierigkeiten bietet die Lehre von der Symbolik.
Die Symbole sollen keine Einfälle liefern, sie müssen direkt übersetzt
werden, aber wann ist denn etwa ein Stock als Genitalsymbol und
wann ist er als ein Stock aufzufassen? Der Unterschied zwischen
Anspielung und Symbol, der ja für die Technik grundlegend sein
sollte, ist nirgends herausgearbeitet und existiert auch nicht. Wir
verweisen hier auf unsere Kritik zur Traumpsychologie. So muß
offen bekannt werden: Eine Methode der Traumdeutung, die den An-
spruch auf Wissenschaftlichkeit erheben könnte, fehlt. Wenn trotz-
dem mit Hilfe der Traumanalyse äußerst viel vom Unbewußten des
-atienten erkannt wird, so geschieht das auf Grund psychologischer
Intuition und Einfühlungsfähigkeit, und nicht auf Grund der Methode
der sog. freien Assoztation. Dieser Teil der Psychoanalyse ist. Sache
der künstlerischen Fähigkeit des Analytikers. Diese Fähig-
keit im Psychotherapeuten geweckt zu haben. ist das bleibende Ver-
dienst Freuds.
Der Rat zur Bekämpfung des Widerstandes. der jetzt in der
Psychoanalyse die hauptsächlichste Aufgabe sein soll (VI, S. 291)
ist zwar gut, aber nicht leicht ausführbar, da man im allgemeinen
einen Dieb nur dann verhaften kann, wenn man ihn hat. Wie wir
gesehen haben, werden vom Analytiker oft Diebe unter dem Bett
gesucht, wo gar keine Veranlassung «dazu vorliegt und umgekehrt
vielleicht Widerstände übersehen, wenn der Patient nicht allzu kri-
tisch veranlagt ist. Oft aber ruft die Freudsche Regel, alle Kritik
als Widerstand anzusehen. eine wesentlich vermehrte Opposition
hervor. Es erscheint uns gar nicht wunderbar. daß Deutungen. wie
wir sie früher kennen gelernt haben, etwa die Erinnerung an den
weegeflogenen Hut der Lehrerin als Äußerung des Kastrations-
— 106 —
komplexes aufzufassen, bei kritischer Veranlagten die anfängliche
positive Übertragung in die geschilderte negative umschlagen läßt.
Die Behauptung Freuds, daß die negative Übertragung sich nicht
aus der Situation erkläre, ist sicher falsch. Diese und nicht das Er-
wachen prägenitalen Trotzes gegen den Vater erklärt meist die nega-
tive Einstellung recht befriedigend. Daß die Beziehungen trotzdem
einen ambivalenten Charakter tragen, ergibt sich daraus, daß der
Patient dem Arzt auch wichtige Einsichten zu verdanken hat.
Die positive Übertragung ist eine Erscheinung, die in der Haupt-
sache nicht mehr analytisches Gut ist. Soweit sie es aber ist, soweit
sie als Wiederholung inzestuöser Beziehungen und Erlebnisse auf-
gefaßt wird, entbehrt sie der Begründung.
Die Lehre von der Verdrängung und die Erkenntnis der Bedeu-
tung des Traumes für das Verständnis des Seelenlebens scheinen uns
die bleibenden Ergebnisse der Forschertätigkeit Freuds zu sein.
Damit hat er sich einen dauernden Platz in der Psychopathologie ge-
sichert. Die weitere Aufgabe der Forschung wird es sein, seine mehr
intuitiven Anregungen zu einer rationalen Wissenschaft auszubauen.
Literaturverzeichnis
1. Freud, S. Sammlung kleiner Schriften zur Neurosenlehre. 4. Folge.
1918. — 2. Derselbe, Jenseits vom Lustprinzip. 2. Auth 1921. —
3. Derselbe, Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie. 4. Aufl. 1920. —-
4. Derselbe. Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse. 2. Auil.
1918. — 5. Intern. Zeitschrift für Psychoanalyse. 1924. — 6. Sammlung kleiner
Schriften zur Neurosenlehre. 3. Folge. 1913. — 7. Das Ich und das Es. 1923.
— 8 Herbart, J. F. Lehrbuch zur Psychologie. 7. Aufl 195. —
9 Freud. A. Zur Psychopathologie des Alltagslebens. 9. Aufl. 1920. —
10. Derselbe, Die Traumdeutung. 6. Aufl. 1921. — 11. Derselbe.
Hemmung, Symptom und Angst. 1926. — 12. Bing. R. Schweiz. Med.
Wochenschrift 1925. No. 44.
ABHANDLUNGEN AUS DER NEUROLOGIE,
PSYCHIATRIE, PSYCHOLOGIE UND IHREN
GRENZGEBIETEN
BEIHEFTE ZUR MONATSSCHRIFT FUR PSYCHIATRIE UND NEUROLOGIE
RAUSGEGEBEN VON K. BONHOEFFER
(Aus der II. tschechischen psychiatrischen Klinik [Vorstand 7 Prof. Dr. A. Heveroch]
und aus der I. tschechischen medizinischen Klinik [Vorstand Prof. Dr. L. Syllaba]
“in Prag)
DIE PAROXYSMALE
LÄHMUNG
EINE STUDIE ÜBER IHRE
KLINIK UND PATHOGENESE
VON
Dr. OTAKAR JANOTA vxo Doz. Dr. KLEMENT WEBER
Assistenten der Klinik
*
MIT 7 ABBILDUNGEN IM TEXT
BERLIN 1928
VERLAG VONS. KARGER
KARLSTRASSE 39
Preis Mk. 11.—
fur Abonnenien der „Monatsschrilt für Psychiatrie und Neurologie“ Mk» 9.&.
Medizinischer Verlag von S. Karger in Berlin NW 6
Abhandlungen aus der Neurologie, Psychiatrie,
Psychologie und ihren Grenzgebieten
Heft 1: Typhus u. Nervensystem. Von Prof.Dr.G. Stertz in Marburg. Mk.6.—
Heft 2: Ueber die Bedeutung v. Erblichkeit u. Vorgeschichte für das klinische
Bild der progressiven Paralyse. Von Dr.J.Pernet in Zürich. (Vergriffen.)
Heft 3: Kindersprache und Aphasle. Gedanken zur Aphasielehre auf
Grund von Beobachtungen der kindlichen Sprachentwickelung und
ihrer Anomalie. Von Priv.-Doz. Dr. EmilFröschels in Wien. Mk. 7.80
Heft 4: Epilepsie und Dementia praecox. Von Prof. Dr. W. Vorkastner
in Greifswald (Vergriffen.)
Heft 5: Forensiseh-psychiatrische Erfahrungen im Kriege. Von Priv.-Doz.
Dr. W. Schmidt in Heidelberg. Mk. 8.—
Heft 6: Verbindung endogener und exogener Faktoren in dem Symptomen-
bilde und der Pathogenese von Psychosen. Von Priv.-Doz. Dr. Hans
Seelert in Berlin. Mk. 5.40
Heft 7: Zur Klinik und Anatomie der reinenWorttaubheit, der Heilungsaphasie
| und der Tontaubheit. Von Prof. Dr.Otto Pötzl in Prag. Mit2 Taf. Mk. 6.—
Heft 8: Die Spielbreite der Symptome beim munisch-depressiven Irresein.
Von Prof. Dr. P. Schröder in Greifswald. Vergriffen.)
Heft 9: Die symptomatischen Psychosen und ihre Differentialdiagnose.
Von Priv.-Doz. Dr. Hans Krisch in Greifswald. (Vergriffen.)
Heft 10: Die Abderhaidensche Reaktion mit bes. Berücksichtigung ihrer Er-
Bak real .d.Psychiatrie. Von Priv.-Doz.Dr.G.Ewald in Erlangen. Mk.9.—
Der extrapyramidale Symptomenkomplex (das dystonische Syn-
drom) und seine Bedeutung in der Neurologie. Von Prof. Dr. G.
Stertz in Marburg. (Vergriffen.)
Heft 12: Der anethische Symptomenkomplex. Eine Studie zur Psychopatho-
Heft 1
logie d. Handlung. Von Priv.-Doz. Dr.O. Albrecht in Wien. (Vergriffen.) -
Heft 13: Die neurologische Forsehungsrichtung in der Psychopathologie
und andere Aufsätze. Von Prof. Dr. A. Pick in Prag. (Vergriffen.)
Heft 14: Ueber die Entstehung der Negrischen Kérperchen. Von Prof. Dr.
L. Benedek u. Dr. F.O. Porsche in Debreczen. Mit 10 Tafeln. Mk. 15.—
Heft 15: Ueber die Bedeutung und Entstehung der Stereotypien. Von Priv.-
Doz. Dr. Jakob Kläsi in Basel. Mk. 5.60
Heft 16: Ueber Psychoanalyse. Von Dozent Dr. R. Allers in Wien. Mk. 3.60
Heft 17: Die Zergliederung des psychischen Krankheitsbildes bei Arterio-
sklerosis- cerebri. Von Nervenarzt Dr. S. J. R. de Monchy in
Rotterdam. Mk. 3.—
Heft 18: Epilepsie u. manisch-depressives Irresein. Von Dr. Hans Krisch
in Greifswald. Mk. 3.—
Heft 19: Ueber die paranoiden Reaktionen in der Haft. Von Dr. W. För-
sterling in Landsberg a.d. W. Mk. 3.60
Heft 20: Dementiu praecox, intermedißre psyehische Schicht und Kleinbirn-
Basalganglien-Stirnhirnsysteme. Von Prof. Dr. Max Loewy in
Prag-Marienbad. Mk. 4.20
Heft 21: Metaphysik und Schizophrenie. Eine vergleichende psychologische
Studie. Von Dr. G. Bychowski in Warschau. Mk. 5.—
Heft 22: DerSelbstmord.VonPriv.-Doz.Dr.R.WeichbrodtinFrankf.a.M.Mk.1.50
Heft 23: Ueber die Stellung der Psychoiogie im Stammbaum der Wissen-
schaften und die Dimension ihrer Grundbegriffe. Von Dr. Heinz
Ahlenstiel in Berlin. Mk. 1.80
Heft 24: Zur Klinik der nichtparalytischen Lues-Psychosen. Von Dozent
Dr. H. Fabritius in Helsingfors. Mk. 4.—
Heft 25: Herzkraukheiten und Psychosen. Eine klinische Studie. Von
Dr. E. Leyser in Giessen. Mk. 4.—
Heft 26: Die Kreuzung der Nervenbahnen und die bilaterale Symmetrie des
tierischen Körpers. Von Prof. Dr.L. Jacobsohn-Lask in Berlin. Mk. 5.40
Heft 27: Kritische Studien zur Methodik der Aphasielehre. Von Priv.-Doz.
Dr. E. Niessl von Mayendorf in Leipzig. Mk. 6.—
Heft 28: Wesen u. Vorgang d.Suggestion.VonDr.Erwin Strausin Berlin. Mk.4.80
Fortsetzung siehe > nächsie e Selte.
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PSYCHIATRIE, PSYCHOLOGIE UND IHREN
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und aus der I. tschechischen medizinischen Klinik [Vorstand Prof. Dr. L. Syllaba]
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EINE STUDIE ÜBER IHRE
KLINIK UND PATHOGENESE
VON
Dr. OTAKAR JANOTA unp Doz. Dr. KLEMENT WEBER
Assistenten der Klinik
ak
MIT 7 ABBILDUNGEN IM TEXT
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tw
aoe
BERLIN 1928
VERLAG VONS. KARGER
KARLSTRASSE 39
Alle Rechte, insbesondere das der Übersetzung
in fremde Sprachen,vorbehalten
Buchdruckerei Ernst Klöppel, Quedlinburg a. H.
Unserem hochverehrten Lehrer
Herrn Prof. Dr. Anton Heveroch Y
zur Erinnerung
Inhaltsverzeichnis
Einleitung
i. Das klinische Bild der Krankheit .
A) Eigene klinische Beobachtungen .
B) Aufbau des klinischen Bildes nach eigener Beobach-
or
tung und Vergleichung unserer Befunde mit den aus
der Literatur bekannten Erfahrungen .
. Hereditärer und familiärerCharakter der Krankheit
.Vorbedingungen für das Auftreten der Erkran-
kung in der Familie
. Die somatische und psychische Konstitution
der Kranken.
. Dic Beziehungen der Altersperioden zum Aus-
bruch und zum Verlauf der Krankheit.
. Die Paroxysmen.
a) Die Prodrome der Paroxysmen
b) Der Anfall selbst . ;
c) Dauer und Ende der Dimau.,
dì Symptome, die sich unmittelbar nach dei Abklingen der Läh-
mung zeigen .
e) Mittel, die während is Antalis eine Hersbscizung ler ein
Schwinden der Lähmung herbeiführen
i) Häufigkeit der Paroxysmen und ihre inmiltelbaren Ursachen
nach den Angaben der Kranken und der klinischen Beobachtung
&) Ungewöhnlich lange Pausen zwischen den Paroxysmen .
,Der Zustand der Kranken in der Zeit zwischen
den Paroxysmen
. Versuche, die Lähmungsanfälle künstlich aus-
zulösen.,
. Die Therapie.
9. Die Prognose
. Differenzial-diagnostische Bemerkungen
. Beziehungen der paroxysmalen Lähmung zuan-
deren Krankheiten.
bo
s V =
II. Die Pathogenese
A) Die pathologisch-anatomischen Befunde und ihre Be-
deutung für die Erklärung des Wesens und der Ge-
nese der paroxysmalen Lähmung
1. Nekropsie
2. Biopsie.
B) Bisherige Hypothesen Aber das Wesen, dee paroxys-
malen Lähmung und über die Ursachen und die Genese
der Anfälle SE fe Soc e tat
C) Unsere Aaachaunagen über die Paone der paro-
xysmalen Lähmung .
1. Wie erklären wir den Mechanismus des Antalles?
a) Erklärung der Lähmung . i
b) Die Erklärung übriger Aami ;
2. Das Wesen der paroxysmalen Lähmung als
Krankheit eG. A A l
3. Entstehungsbedingungen der Krankheit und
der Lähmungsparoxvsmen...
Zusammenfassung
79
. 2 107
. . 1166
Einleitung.
Die paroxysmale Lähmung, zuerst von Westphal im Jahre
Iss} beschrieben, bietet auch heute noch ein fruchtbares Feld
sowohl für die klinische Erforschung dieser seltenen Erkrankung
als auch — und dies ganz besonders — für das Studium ihrer
Pathogenese. Sie stellt ein ganz eigenartiges und scheinbar ein-
faches Experiment der Natur dar, dessen Ergebnis wir sehen,
dessen Entwicklung und dessen Entstehungsbedingungen aber
nicht von vornherein durchsichtig sind. - Es entsteht natürlich
das Bestreben, die einzelnen Stadien des Vorganges, dessen
letzte Phase die vorübergehende Lähmung — die auffallendste
Erscheinung der in Frage stehenden Krankheit — ist, zu erforschen
und zu verstehen. Seit dieses Krankheitsbild bekannt ist, wurde
in verhältnismäßig kurzer Zeit eine große Menge von Theorien auf-
gestellt, die ihr Wesen erklären sollen. Wenn wir dieselben chrono-
logisch verfolgen, sehen wir, daß sich m ihnen die Art des biologi-
schen Denkens der jeweiligen Zeit wiederspiegelt. Es ist begreiflich.
daß auch die heutige Denkweise über die biologischen Vorgänge,
speziell die Muskel- und Innervationsprozesse, uns ihre eigene Lösung
des Problems der Pathogenese der paroxysmalen Lähmung an die
Hand gibt. eine Lösung, die im Sinne neuerer Ansichten konkreter
ist und vielleicht auch dem wahren Wesen der Sache viel näher
steht. Vier von uns beobachtete Fälle aus drei verschiedenen
Familien haben uns nieht nur den Anlaß zur Revision und Vertiefung
des klinischen Bildes dieser seltenen Krankheit gegeben, sondern
auch den Anlaß. die Lösung ihrer Pathogenese zu versuchen.
I.
Das klinische Bild der Krankheit.
A. Eigene klinische Beobachtungen.
1. Fall*. E. W. 18 Jahre alt. Realschüler, leidet seit dem 14. Jahre an
zeitweilig sich einstellenden Lähmungszuständen der Extremitäten und des
Rumpfes.
Von derselben Krankheit wurden einige Blutsverwandte betroffen. Als
erster hatte — soweit dies sicherzustellen war — Lihmunesanfiille der Groß-
vater des Kranken väterlichterseits (von Beruf Bergmann). Wann die Krankheit
bei diesem begann und bis wann sie dauerte — die Anfälle stellten sich angeb-
lich sehr selten ein — ließ sieh nieht ermitteln, Er war ein mäßiger Alkoholiker.
Beide Söhne des Großvaters, der Vater und der Onkel des Patienten (weitere
Kinder hatte er nicht). litten gleichfalls an anfallsweise sich einstellenden
Lähmungen. Der Onkel wurde angeblich nur einmal im Leben gelähmt. und
zwar ungefähr in seinem 20. oder 21. Lebensjahre. Er starb ungefähr mit
40 Jahren an einer nieht näher zu ermittelnden Krankheit. Er hatte 12 Kinder.
überwiegend Söhne. Einige starben in der Kindheit. Von den am Leben ge-
bliebenen bekamen nur zwei Söhne anfallsweise Lähmungen. die Tochter nieht.
Zum erstenmal stellte sich bei ihnen die Lähmung nach dem 20. Lebensjahre
ein. Einer von ihnen starb im 24. Jahre: die Ärzte waren angeblich der Meinung.
die Todesursache sei Epilepsie (?) gewesen: der zweite, von Beruf Fleischhauer,
ist derzeit 32 Jahre alt. kräftig und von robustem Aussehen. Anfangs hatte er
fast jede Woche Lähmungsanfälle, die einen oder mehrere Tage dauerten. In
den letzten Jahren wurden die Anfälle seltener und treten schon lange nicht
mehr auf. Im Kriege hielten ihn die Militärärzte für einen Simulanten. Er
wurde wegen der Lähmungsanfälle im Kriege einige Male bestraft, aber schlieb-
lich doch entlassen. Er ist verheiratet une hat vier bisher gesunde Kinder im
Alter von unter tf Jahren,
Der Vater des Patienten bekam zum ersten Male mit 21Jahren die Lähmung.
Die Anfälle traten einmal im Monat bei ilon auf, später kamen sie halbjährig
wieder. Gewöhnlich stellte sich die Lähmung in der Nacht zwischen 12 und
2 Uhr ein und dauerte 1 bis 2 Tage. Im Alter von 34 Jahren hörten die Anfälle
von selbst auf. Der Vater machte die Erfahrungs. daß es durch Arbeit oder
durch Bewegung manchmal möglich war. der beginnenden Lähmung Kinhalt zu
tun. Er glaubt auch, daß das vollständige Schwinden der Anfälle vielleicht
damit zusammenhine, daß er in der Grube, wo er als Bergmann beschäftigt
t) Dieser Fall ist aus der Privatpraxis des San.-Rates Dr. Janota. Wir
sind ihm Dank dafür schuldig, daß er uns auf den Patienten aufmerksam ge-
macht und es uns ermöglicht hat. den Fall genauer zu verfoleen und ihn zu
veröffentlichen.
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war, eine schwerere Arbeit zugeteilt erhielt. Zeitweise, besonders in jüngeren
Jahren. pflegte er sich zu betrinken. Die Anfälle zeigten aber angeblich keinen
Zusammenhang mit der Betrunkenheit.
Die Schwester des Kranken (mehr Geschwister waren nicht vorhanden)
starb mit 3 Wochen an Fraisen (Kinderkrämpfe). Die Mutter und die Ver-
wandten mütterlicherseits sind gesund.
Der Kranke selbst war bis zum 14. Lebensjahre stets gesund. Nur in der
Kindheit hatte er Fraisen.
Mit 14 Jahren, gerade am Tage seines 14. Geburtstages, bekam er zum
erstenmal einen Lähmungsanfall, der zwei Tage dauerte. Von dieser Zeit an
wiederholen sich die Lähmungsanfälle in unregelmäßigen Intervallen. Zuerst
stellten sie sich gewöhnlich einmal oder einigemal in der Woche, später einmal
im Monat oder noch seltener ein; in der letzten Zeit sind sie wieder häufiger
geworden,
Beschreibung der Anfälle. Dem eigentlichen Anfall pflegen
folgende Erscheinungen vorauszugehen: Gewöhnlich am Nachmittag fühlt der
Kranke eine allgemeine Müdigkeit und Schwere in den Füßen und ein un-
angenehmes Gefühl von Steifheit und Spannungen in den Waden. Am Abend
ist er manchmal bereits nicht mehr imstande, eine Plantarflexion des Fußes
auszuführen. Außerdem hat er in den Extremitätenmuskeln und hauptsächlich
in den Halsmuskeln das Gefühl, als ob er „innerlich geschwollen wäre“. Mit dem
Gefühl einer großen Ermüdung und Schwere im ganzen Körper, und als ob er
erschlagen wäre, verfällt er in einen tiefen und traumlosen Schlaf, ungefähr bis
Mitternacht.
Dann wacht er gewöhnlich zwischen 12 und 2 Uhr nachts auf — zur
gleichen Zeit, wie dies bei seinem Vater der Fall war —, an den Extremitäten
und am Rumpfe gelähmt. Manchmal ist die Lähmung schon von Anfang an eine
vollständige, so daß der Kranke nicht einmal die Extremitäten und den Rumpf
bewegen kann, ein andermal kann er mit den Gliedern noch schwache Be-
wegpungen ausführen und am Morgen erreicht die Lähmung ihren Höhepunkt.
Ist die Lähmung eine teilweise, so sind die Bewegungen in den Schulter- und
Hüftgelenken am schwierigsten. am leichtesten in den Fingern. Die Intensität
der Lähmung ändert sich auch im Verlaufe der Dauer derseiben.
Während der Lähmung hat der Kranke besonders anfangs das Gefühl von
Fieber. „die Hitze zersprenge ihn“; seine Mutter gibt an, daß er erhitzt zu
sein pflegt. Er schwitzt viel, und zwar am Anfang und vor dem Ende der
Lähmung. Er hat großen Durst, uriniert aber weniger als sonst. Der Stuhl
ptlegt auch während der Lähmung regelmäßig zu sein. Der Appetit ist oft
geringer als gewöhnlich, die Verdauung aber im ganzen nicht gestört. Der
Kranke schluckt gut und spricht auch ohne Beschwerden, aber schreien oder
laut singen kann er nicht. Er hustet schwer ab. atmet obertlächlich, aber nicht
dyspnoisch. Während der Lähmung hatte er niemals eine Erektion.
Solange er gelähmt ist. schläft er schlecht, da ihn zeitweilig unangenehme
Gefühle in den Muskeln aufwecken. Er fühlt sich vom Liegen wie abgeschlagen.
so daB er manchmal bitten muß. man möge ihn umlagern. Wenn es ihm «lückt.
fest einzuschlafen, so pflegt das ein Zeichen zu sein, daß die Lähmung
schwindet. Vor dem Ende des Anfalles schwitzt er in der Regel stark. Dann
schläft er ein.
Wie sich die Lähmung während des Schlafes einstellt, so vergeht sie in der
Regel auch im Schlafe, und zwar gewöhnlich am Morgen des zweiten oder
zu, A gi
dritten Tages. Ausnahmsweise trat ein schwacher Anfall in der Zeit zwischen
Mitternacht. und nächstem Morgen oder Nachmittag auf.
Das Bewußtsein ist während des Lähmungszustandes nicht getrübt. Niemals
hatte der Kranke Anfälle von Bewußtlosigkeit, niemals litt er an Kopfschmerzen.
Nach dem Paroxysmus fühlt er sich noch den ganzen Tag über schwach.
sieht verfallen aus und die Füße zittern ihm. Er hat in der Regel Durchfall
mäßigen Grades, täglich einige Stühle, dünner als die normalen. Am nächsten
Tag fühlt er sich wieder ganz gesund.
In der Zeit zwischen den Paroxysmen vermag er dann zu arbeiten wie
jeder Gesunde, er verträgt auch bedeutende physische Anstrengungen. unter-
nimmt lange Märsche, spielt ohne Beschwerde Fußhall. Sein Fortschritt in der
Schule ist gut.
Über äußere Ursachen der Anfälle gibt der Patient nichts Bestimmtes an.
Es scheine ihm jedoch, daß der Anfall manchmal durch eine bedeutendere
körperliche oder geistige Anstrengung, ein andermal durch große Aufregung
hervorgerufen werde. Vielleicht könne auch eine Verkühlung, besonders im
Winter, wenn er rasch aus der Wärme in die Kälte komme, den Anfall herbei-
führen. Aber keines von diesen Momenten sei imstande, den Paroxysmus mit
Sicherheit hervorzurufen,
Bei den Lähmungsanfällen haben angeblich Massage und ein künstlich her-
vorgerufener Schweißausbruch eine gute Wirkung. Nach dem Massieren und
gründlichen Kneten der Muskeln kehrt die Beweglichkeit mehr oder weniger
zurück. Wird der Kranke am Anfang des Anfalles massiert. so bessert sich die
Beweglichkeit gewöhnlich nur wenig und nur auf kurze Zeit, findet aber das
Massieren später statt. so pflegen die Erfolge besser zu sein. Bei schwächeren
Anfällen tun angeblich auch Bewegungen gut.
Der Kranke ist fröhlichen und geselligen Charakters, aber sehr sensitiv.
Im Jahre 1924 traten vom Mai bis zum September überhaupt keine Anfälle
auf. Im Mai entwickelte sich bei dem Kranken chronischer Ileus mit hart-
näckiger Stuhlverstopfung. zusammenschnürenden Schmerzen im Bauche, Darm-
steifung und Erbrechen. Er wurde zunächst im Pribramer Krankenhause, dann
auf der medizinischen Klinik des Prof. Syllaba behandelt und am 10. Sep-
tember auf der chirurgischen Klinik des Prof. Kukula in Prag operiert. Es
handelte sich um eine Stenose im oberen Teile des Dünndarms. Es wurden etwa
20 cm Darm reseziert. Die Wunde heilte glatt und die Beschwerden schwanden.
Das Wesen der Stenose blieb auch nach der Operation ungeklärt. Während
dieser Krankheit verlor der Kranke ungefähr 11 ke von seinem früheren Ge-
wichte (59 kg).
In der ganzen Zeit. in der er des Ileus halber und nach der Operation
krank lag. stellte sich keine Lähmung ein — außer am Tage vor der Operation.
Am Nachmittage des 9. September stellten sich bei dem Patienten die bekannten
Vorzeichen ein und die Lähmung trat diesmal schon abends auf, so daß er beim
Abendessen gefüttert werden mußte. Am nächsten Morgen bewerte er wieder
ein wenig die Extremitäten, aber als er auf den Operationstisch gelegt wurde.
war er vollständig gelähmt. Er wurde mit Chloroform und Äther narkotisiert.
Als er nach der Operation abends, ungefähr um 7 Uhr, erwachte, konnte er die
Extremitäten frei bewegen und fühlte sich wohl.
"Am 26. September 1924 wurde er aus der ehirurgischen Klinik mit dem
Rate entlassen. sich zu erholen. Ein neuerlieher Lähmungesanfall stellte sich
daheim in der Nacht vom 20. auf den 21. Oktober ein.
— .) —
Einer von uns (J.) besuchte den Kranken am 21. Oktober nachmittags und
fand folgendes:
Der Kranke ist mittelgroß, seinem Alter entsprechend entwickelt, von
grazilem Knochenbau, abgemagert und blaB, hat lichtes Lockenhaar: sein Aus-
sehen ist intelligent. Er lag mit verträumtem Gesichtsausdrucke bewegungslos
im Bett. Er sprach und bewegte die Gesichtsmuskeln gut. Am Gesichte war
überhaupt nichts Auffallendes zu bemerken. War der Patient bis an das Kinn
zugedeckt. so machte er überhaupt nicht den Eindruck eines ernstlich Er-
krankten. Mit Ausnahme des Gesichtes war der ganze Körper „wie tot“. Der
Kranke konnte weder die Extremitäten noch den Rumpf willkürlich bewegen
und nur das Seitwirtsneigen des Kopfes von der rechten auf die linke Seite
war im beschränkten Maße möglich (während die Neigung des Kopfes nach
vorn und hinten völlig unmöglich war). Wurde der Kranke aufgesetzt. so sank
ihm der Kopf auf die Brust und der Körper brach zusammen. Eine unbedeutende
Bewerungsmöglichkeit blieb auch in den Fingern und Zehen erhalten,
Passive Bewegungen konnte man völlige frei vornehmen. Die empor-
gehobenen Glieder fielen schlaff auf die Unterlage zurück. Die Muskelreflexe
waren erloschen, die idiomuskuliire Erregbarkeit war gesehwunden. Keine
Pyramiden-Symptome.
Es bestand keine Klopfempfindlichkeit des Schädels, keine Druckschmerz-
haftirkeit der Trigeminusaustrittsstellen. Die Innervation der Gesichtsmuskeln
war nicht gestört; Augenbewegungen frei, kein Nystagmus. Die Pupillen waren
rund. gleichweit, die Reaktion auf Licht und bei Konvergenz war vorhanden.
aber ein wenig träger als normal. Der Kornealreflex war normal.
Die Schleimhaut des Mundes war rosarot, das Gebiß mäßig defekt, die Zunge
etwas trocken: kein Abweichen beim Herausstrecken. Tonsillen nicht vergrößert.
Der weiche Gaumen war mäßig gerötet und bewegte sich nur wenig bei der
Phonation. Pharyngealreflex nicht herabgesetzt; der Kranke schluckte und
sprach gut. aber die Sprache hatte einen leichten näselnden Beiklang: Hals-
schmerzen hatte er nicht.
Keine Vergrößerung der Schilddrüse.
Der Brustkorb ist abgeflacht. Das Atmen zeigt abdominalen Typus, ist
obertlächlich. etwas angestrengt. beschleunigt: 34 Atemziige in der Minute. Ab-
husten konnte der Kranke nur mit größter Anstrengung, schreien oder laut
singen konnte er nicht. Perkutorisch und auskultatorisch war an den Lungen
nichts Krankhaftes nachzuweisen.
Der HerzspitzenstoB war kriiftig in dem 5. Interkostalraume in der Medio-
klavikularlinie tastbar. Die Herzdiimpfung reichte links bis zur Medioklavikular-
linie. Die Herzaktion regelmäßig, aber beschleunigt: 92 Pulse in der Minute.
Der erste Ton war an der Spitze unrein, der zweite über der Aorta etwas
verstärkt. i
Der Bauch wurde nicht eingehend untersucht (da der Kranke wegen der
Narbe nach der vor kurzem vorgenommenen Laparatomie einen Gürtel trug und
weder über Bauchsehmerzen noch überhaupt über Besehwerden des Gastro-
intestinaltraktes klagte).
Die Sensibilität war in allen Qualitäten ungestört. die Nervenstämme waren
nicht schmerzhaft.
Beim Urinieren und der Defäkation waren keine Störungen: nur urinierte
der Kranke weniger als gewöhnlich. Am gleiehen Tage (schon während der
Lähmung) Stuhl.
u
Der Appetit war recht gut, allerdings mußte der Kranke gefüttert werden.
Er schwitzte sehr und klagte über Durst. Die Temperatur war erhöht
(37.9° C). Das Bewußtsein völlig klar.
Dieser Lähmungsanfall verlief ähnlich wie die vorhergehenden, vom
Patienten geschilderten. In der nächsten Nacht schlief der Patient schlecht, er
wurde ständig durch unangenehme Sensationen in den gelähmten Muskeln
geweckt.
Am nächsten Tage (22. Oktober) war die Lähmung sowie das Gesamtbild
unverändert. Temperatur: früh 37.6 ° C, mittags 37.4 ° C, abends 37.2 ° C.
Abends wurde der Kranke massiert, schwitzte tüchtig (auf Tee und
Aspirin). dann schlief er fest ein. Bis Morgen kehrte die Beweglichkeit zurück.
Am dritten Tage (23. 10.) beherrschte der Kranke bereits wieder seine
Muskeln in fast normaler Weise, nur war ihre Kraft herabgesetzt. Die Patellar-
reflexe kehrten zurück, waren aber bedeutend abgeschwächt. Manchmal hatten
sie eine ungewöhnlich lange Latenzzeit. Der Patient konnte schon ausgehen.
fühlte sich aber den ganzen Tag noch recht hinfällig. Die Temperatur war
wieder normal. Die Sprache hatte den nasalen Beiklang verloren. Der Kranke
konnte schreien. ausgiebig abhusten. er
atmete regelmäßig mit normaler Fre-
quenz. Die Herzaktion war ruhig:
64 Schläge in der Minute. die Herztöne
vollständig rein. keine Spur von einem
verstärkten zweiten Aortenton.
Röntgenologisch wurde an der Lunge
und am Herzen normaler Befund er-
hoben (Dr. Sigmund, I. chirurgische
Klinik).
Am 27. 10. wurde der Kranke
(außerhalb des Anfalles) dureh einen von
uns (J.) in der Sitzung der Gesellschaft
der tschechischen Ärzte vorgestellt.
Am 30. 10. bekam er einen neuen
Lähmungsanfall und im Anfalle wurde
er auf die I. medizinische Klinik des
Prof. Syllaba gebracht.
Die Lähmung stellte sich nach Pro-
dromalsymptomen am vorhergehenden
Nachmittag wieder in der Nacht, und
zwar ungefähr um 1 Uhr ein. Der
Kranke hatte wieder anfangs das Ce-
fühl. als ob er im Fieber läge. und hatte
eroßben Durst. Er schwitzte stark.
Morgentemperatur 37.8 ° C.
Aus der klinischen Krankenge-
sehichte entnehmen wir:
Abb. 1. Die Beweelichkeit ist gerade so wie
in dem ersten beobachteten Paroxysmus
gestört. So wie damals kann auch jetzt der Kranke nur minimale Bewegungen
der Finger und Zehen und Bewegungen des Kopfes von rechts nach links aus-
a
führen. Die Innervation der Muskulatur des Gesichtes ist nicht gestört. Die
Patellarreflexe und die anderen Muskelreflexe sind vollständig erloschen.
Die idiomuskuläre Erregbarkeit fehlt, ebenso die elektrische Erregbarkeit
der Nervenstämme und der Muskeln an den unteren Extremitäten. die an den
oberen Extremitäten ist herabgesetzt. Am Fazialis und an der Gesichts-
muskulatur ist sie normal (Dr. Bereznicky). Die gelähmten Muskeln fühlen
sich nicht hypotonisch an.
Zur allgemeinen körperlichen Konstitution bemerken wir noch, daß die
Muskulatur des Ober- und Unterschenkels und besonders der Wade im Vergleich
mit den Muskeln der Arme auffallend gut ausgebildet ist (siehe Abb. 1) und
sich beim Bestehen recht derb und hart anfühlt.
Die Augenbewegungen sind vollkommen frei. Die Lichtreaktion der
Pupillen ist verlangsamt und wenig ausgiebig, die Konvergenzreaktion gut. Der
Kornealretlex lebhaft.
Der weiche Gaumen ist leicht gerötet und bewegt sich nicht bei der
Phonation. Die Tonsillen normal, die Zunge trocken, die Sprache leicht näselnd.
Die Atmung hat abdominalen Typus. Der Brustkorb dehnt sich beim Atmen
fast gar nicht aus. Der Kranke hustet schwer ab.
Die Bauchmuskulatur kann er willkürlich anspannen: die Bauchreflexe sind
auslösbar.
An den Lungen ist normaler Befund. Herz: der Herzspitzenstoß ist nicht
sichtbar. er ist im 5. Interkostalraum einwärts von der Medioklavikularlinie
schwach tastbar. Die Dämpfung beginnt in der linken Parasternallinie am
oberen Rande der IV. Rippe, die laterale Grenze überragt links nicht die
Medioklavikularlinie, MS = 8 cm; MD = 2.5 cm. Die Herzaktion ist regelmäßig.
beschleunigt, 90 Pulsschläge in der Minute. Der erste Ton an der Spitze dumpf.
Der zweite über der Aorta leicht verstärkt. Der Puls gut tastbar und regelmäßig.
Abdominalorgane ohne Besonderheit.
Die Oberflachensensibilitit ist normal. Der Plexus brachialis beiderseits
nicht schmerzhaft.
Das Bewußtsein ist klar.
Beim Urinieren keine Beschwerden. Im Urin weder Eiweiß noch Zucker.
‚auch keine Gallenfarbstoffe, dagegen reichlich Indikan.
Die Temperatur beträgt nachmittags 37.3 ° C, abends 37.4 °C.
Der Kranke schwitzt und hat viel Durst.
Elektrokardiographischer Befund an dem gleichen Tage
(Abb. 2a, b, ce):
In der I. Abteilung ist die Welle P klein, positiv, einfach. Das Intervall
P—R 0.15”. Der Initialkammerkomplex von supraventrikularem Typus mit
dominierendem Ausschlage R und kleinem, aber ganz deutlich ausgebildetem
Ausschlage S. Die Breite des Initialkammerkomplexes beträgt 0.09. Die
Linie 8, deutlich herabgesetzt, geht allmählich in eine sich nach der positiven
Seite zu neigende Welle über, an der man nicht mit Sicherheit den Gipfel
der Welle T bestimmen kann.
In der II. Ableitung ist die Welle P größer, von typischer Form. Kammer-
initialkomplex: Der Ausschlag R, von normaler Breite, geht sozusagen ohne
Entstehung eines Ausschlages S in die Linie f über, welche bedeutend unter
der isoelektrischen Linie verläuft. Die Welle T ist durch eine schräge Linie
ersetzt. durch welche die Linie £ in die Linie y übergeht.
ze, OK ne
In der II. Ableitung ist die Welle P positiv und typisch. Der Initial-
komplex ist in der Mehrzahl der Zyklen gespalten und bildet eine erste kleine
und eine zweite größere Zacke. Der nur angedeutete Ausschlag S geht in die
Welle T mit einer schrägen Linie über. an der bei manchen Zyklen ein?
Brechung festzustellen ist, offenbar dem Gipfel der Welle 7 entsprechend.
R
ß
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LARAAAARAAAAAAAAAAAAAAAAARAAAAAAAAAAAAAAAAAL
‘isl BS
RAAAAAAARARAAAADAAAAAAAADAARE AA AAADE ARDEA DEDS
Em liuii i
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PYYTTTTTTTTTUTTTTYYTUTYTYTYTUTTYVTTVUUTYTYTYTT |
Abb. 2. a (Ableitung I). b (Ableitung ID. e (Ableitung HI).
Besonders ist auf die bedeutende Höhe des positiven Ausschlages R in der
I. und H. Ableitung im Vergleich mit der unbedeutenden Höhe der Welle T
aufmerksam zu machen, ein Befund, der. zusammen mit den anderen behufs
Vergleiches mit dem in der Zeit außerhalb des Anfalles von uns registrierten
Bilde des Ekgms. im Gedächtnisse behalten werden möge.
31. 10.: Der Kranke. hat in der Nacht ziemlich gut geschlafen. Nach der
Angabe der Pflegerin schlief er mit offenem Munde und schnarchte laut (sonst
sehnarcht er angeblich nieht). Oft wachte er auf und bat. man möge ihn um-
hetten.
Bei der Morgenvisite konnte er die oberen Extremitäten ein wenig bewegen
und zwar am besten im Elibogengelenk und in den Handgelenken. Auch die
Rumpfmuskulatur beherrschte er etwas. so daß er sieh, wenn er leicht unter-
stützt wurde, aufsetzen konnte. Der Kopf sank ihm dabei nicht mehr herab.
Die unteren Extremitäten waren am wenigsten beweglich: Bewegungen im Hüft-
zs X;
velenk waren überhaupt nicht ausführbar. Ließ man die unteren Extremitäten
vom Bette herabsinken, so konnte der Kranke das Kniegelenk etwas beugen
und strecken. Kleine Bewegungen in den Sprunggelenken waren möglich. Am
besten bewegte er die Finger und Zehen. Die Beugung der Extremitäten er-
folete im allgemeinen besser als die Streckung.
Die Morgentemperatur: 36° C. Schweiß und Durst waren geringer.
Während des Vormittags besserte sich der Zustand des Kranken derart,
daß er mittags ohne Hilfe essen konnte.
Am Nachmittag war der Kranke aber wieder wie bei der Aufnahme ge-
lähmt. Er liegt kraftlos auf dem Bette. Die Beweglichkeit, die vormittags
zurückgekehrt war, schwand wieder. Der Kopf lag auf der Unterlage nach
rechts geneigt. Beim Emporheben des Rumpfes sank er kraftlos nach hinten.
Das Atmen war ruhig, fast nur abdominal. Die Herzaktion regelmäßig, be-
schleunigt, der Puls 98 in der Minute. Der Kranke hustete ohne Expektoration
mit sichtlicher Anstrengung.
Er urinierte regelmäßig. Die Urinmenge betrug tagsüber 420 cem. Die
Temperatur mittags 36 ° C, abends 36.8 ° C.
Am Vormittag dieses Tages wurde das Blutbild untersucht (Blut-
entnahme um 9 Uhr 30 Minuten im nüchternen Zustande):
Erythrozyten . . 2 . . . 3,870.000
Weiße Blutkörperchen . . . . 4.660
Mb (ahi) 3... ee dy 2% oe oe 79 %
F. Index... i a ee 1.0
Differentialzählung: Neutrophile . . . . . . . 74.5
Lymphozyten . . . . . . . 170
Monozyten........ 55
Evosinophile . .... . . 3.0
Basophile . . 2 . . . . . «O85
Blutbild nach Arneth.
] 11 III IV—V
M W T
0.98 098 33.92 51.94 12.74 0
Kernzahl nach Hynek = 177.38 (norm. = 250).
Resume des Blutbildes: Normozytose, Normochromämie, Normothrombo-
zytose. Bedeutende Linksversehiebung der Neutrophilen (Dr. Altsehuller).
Alimentäre Hyperglykimie nach Glykoseeinnahme.
Nach dem Genusse von 83 g Glykose (bei einem Gewicht des Kranken von
49 kg) wurden folgende Blutzuckerwerte gefunden: vor dem Versuche 105 mg.
30 Minuten nach der Verabreichung der Glykose 134 mg, nach 45 Min. 140 mg,
nach 60 Min. 142 mg, nach 90 Min. 158 mg, nach 120 Min. 125 mg.
Die elektrokardiographische Untersuchung (31. 10. vor-
mittags) bietet einen grundsätzlich gleichen Befund wie am vorhergehenden
Tage. Auch hier ist der Kammer-Initialkomplex typisch, aber auffallend hoch,
dafür ist die Linie 8 in der I. und II. Ableitung sichtlich tief (besonders in
der II. Ableitung), die Welle T ist in der ersten Ableitung kaum angedeutet,
in der II. Ableitung zweiphasig (die erste Phase negativ, die zweite schwach
positiv). Im ganzen aber zeigt sich hier, wie wir weiter sehen werden, eine
gewisse Andeutung eines Überganges zum ekgraphischen Bilde aus der Periode
zwisehen den Anfällen (Abb. 3a, b).
Pilokarpinversuch (am selben Tage nachmittags).
Nach subkutaner Injektion von 0.01 Pilocarpinum hydrochlor. stellte sich
die einfache normale Reaktion ein. Der Blutdruck stieg unbedeutend, die An-
zahl der Pulsschläge vermehrte sich von 80 auf 92 in der Minute und am gan-
zen Körper erfolgte SchweiBausbruch
FR RO ; (von der 12. Minute bis zum Ende des
l Versuches, d. h. wenigstens bis
24 Minuten). Die Pilokarpininjektion
schien keinen Einfluß auf die Läh-
Pu.
Fa ns ER ER mung zu haben.
S R f 1. 11. Bei der Morgenvisite war
i ; i i
der Kranke frisch, die Beweglichkeit
war in allen Extremitäten und am
PT Rumpfe bis zur Norm zurückgekehrt.
Ne ee ew Der Kranke gab an, daß er abends
| (nach der Massage) fest einschlief
| und bis Mitternacht ruhig schlief.
| dann, ganz in Schweiß gebadet. auf-
BBARRKANAKKKNKNKERKRKRRKRKERERNNEN wachte. Bewegen konnte er sich
nicht. Hierauf schlief er wieder ein
und wachte ungefähr um 4 Uhr mor-
gens auf. wobei er gewahrte, daß die
rennen wma ic ae
mi m | \ ' Beweglichkeit wieder zurückgekehrt
| ; gated nee, m War doch erfolgten die Bewegunge:
d a - mit einiger Schwierigkeit. Morgens
fühlte er sieh gesund.
Die aktiven Bewegungen waren
in allen Gelenken ganz normal, nur
die Muskelkraft war noch herabge-
Abb. 3, a (Ableitung 1. ID. setzt. Die Patellarreflexe waren aus-
b (Ableitung HI). lösbar, aber herabgesetzt und hatten
eine lange Latenzzeit.
Die Pupillen reagierten prompt auf Licht und bei Konvergenz. Der
weiche Gaumen bewegte sich normal. Die Sprache hatte den näselnden Bei-
klang verloren.
Der Kranke hustete gut ab. Das Atmen war kosto-abdominal.
Herz: der physikalische Befund war ganz normal. Pulsanzahl 84 in der
Minute. Der Blutdruck war der gleiche wie im Anfalle (109 mm Hg. RR).
Morgentemperatur 36.7° C.
Den ganzen Tag über änderte sich der Zustand des Kranken nicht. Er
hatte keine subjektiven Beschwerden und fühlte nur noch eine allgemeine
Mattigkeit und Abgespanntheit und beim Bewegen des Rumpfes einen mäßigen
Schmerz in beiden Seiten, wie „wenn er sich überhoben hätte“,
Nachmittagstemperatur: 37° C. Urinmenge 1150 cem. Im Urin ständig
Indikan. Stuhl in Ordnung.
Nachmittags wurde ein Versuch mit Adrenalin gemacht. Nach
subkutaner Injektion von 0.001 Adrenalinum hydrochloricum stieg der Blut-
druck in 6 Minuten von anfänglichen 109 mm Hg auf 150. worauf er langsam
wieder sank. Der Puls wurde rascher, er stieg von 64 Schlägen in der Minute
auf 90 und erlangte dieses Maximum ungefähr eine halbe Stunde nach der
š
FYVUUYYYVYYYYYVYVYYYYVVVVYYY
= A ae
Injektion. Gleich in der zweiten Minute nach der Injektion stellten sich zahl-
reiche Extrasystolen ein, worauf nach 10 Minuten die Herzaktion wieder den
regelmäßigen Rhythmus erlangte, bis sich in der 28. bis 30. Minute wieder
einige Extrasystolen zeigten. Der Kranke wurde gleich im Anfange blaß und
hatte das Gefühl des Einschlafens und zwar zuerst in der rechten Hand, dann
im ganzen Körper. Innerhalb 10 Minuten schwand das bleiche Aussehen.
Eine halbe Stunde lang hatte der Kranke Kältegefühl in den Händen. In der
35. Minute zeigten sich einige lichtrote Erythemflecke am Halse und an den
Händen.
2.11. Der Kranke war ohne Beschwerden. Er bewegte den ganzen Körper
frei und spürte nur noch eine unbedeutende Schwäche. Die Patellarreflexe
waren lebhaft, aber noch ein wenig herabgesetzt. Sonst war der körperliche
Befund im ganzen normal. Die Pulsfrequenz betrug 76 in der Minute, die
Atemfrequenz 24, die Temperatur war nicht erhöht.
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Abb. 4. a (Ableitung I, ID, b (Ableitung TIT).
Elektrokardiographische Untersuchung am 2. 11. (Abb.
da. b) außerhalb des Anfalles. Obgleich alle elektrokardiographischen Unter-
suchungen in technischer Beziehung jedesmal auf ganz gleiche Weise dureh-
geführt wurden, zeigte sich im elektrokardiographischen Bilde dieses Tages
(also 2 Tage nach dem Abklingen der Lähmung) ein in die Augen springender
Unterschied gegenüber den Ekgrammen, welche während des Anfalles regi-
striert wurden: in allen drei Ableitungen war das Elektrokardiogramm ganz
normal. Besonders muß der Umstand unterstrichen werden, daß die Welle T
in der ersten und zweiten Ableitung stark positiv war, daß die Linie 8 im
Janota-Weber, Die paroxysmale Lähmung (Abhadl. H. 46). 9
Niveau der isoelektrischen Linie qa und y war und daß das Verhältnis der
Höhe des Ausschlages R I II zur Höhe der Welle T zum Unterschied von den
vorhergehenden Befunden ein solcher war, wie wir ihn bei den typischen
Elektrokardiogrammen bei gesunden Personen sehen.
Da der Kranke nach Hause eilte, wurde er entlassen. Nach der
Schmidtschen Anleitung. ordinierten wir ihm Calcium lacticum.
Weihnachten teilte er mit, daß er das Calcium lzetieum und außerdem auf
eigene Faust Vitaminol eingenommen habe und daß man ihm '[risalininjektio-
nen gab. Sein Gewicht nahm zu, so daß er wieder 56 kg wog, wie vor dem
Deus. Aber bezüglich der Lähmungsanfälle war keine Besserung eingetreten:
fast jede Woche hatte er Anfälle, die zwei Tage dauerten. Die letzte Woche
vor Weihnachten trat eine Änderung ein: er bekam fast jeden Tag kurze und
schwache Anfälle, die in der Nacht begannen und bis 8—9 Uhr morgens an-
dauerten. Während dieser Anfälle bewegte er die oberen Extremitäten ganz
gut, nur über die unteren hatte er gewöhnlich keine Gewalt.
Im Frühjahr 1925 besserte sich die Krankheit. Die Anfälle pausierten
manchmal bis vier Wochen.
Im Sommer war der Kranke im Bad Podebrad: dort stellten sich ungefähr
einmal monatlich schwere, etwa dreimal leichte Anfälle ein.
Im Urin wurde auch außerhalb der Anfälle immer Indikan festgestellt.
Am 10. 4. 1925 und 11. 4. 1925 untersuchten wir (außerhalb des Anfalles)
die allergische Hautreaktion gegenüber einigen Nahrungs-Proteinen. wozu
wir die Hautteste der Firma Parke. Davis & Comp. verwendeten. Bei den
Gruppenreaktionen zeigte es sich, daß bis zur 15. Minute die Gruppen 1. 5 und
10 eine positive Reaktion zeigten. Durch die zugehörigen Spezialreaktionen
wurde festgestellt, daß die Proteine des Schweinetleisches und der Milch eine
positive Reaktion gaben, die Proteine des Rindfleisches und Schiépsentleisches
eine schwach positive Reaktion.
2. Fall. Nach der Demonstration des ersten Kranken in einer Sitzung
der Gesellschaft der tschechischen Ärzte meldete sich bei uns M. U. Dr. J. D.
48 Jahre alt, Spezialarzt, der gleichfalls an paroxysmaler Lähmung leidet, und
hatte die Freundlichkeit, sich zur eingehenden Untersuchung anzubieten*),
Die Großmutter mütterlicherseits des Arztes hatte Zustände von Be-
wegungslosigkeit, die nieht lange, vielleicht ein paar Stunden, dauerten. Es
läßt sich nicht mehr erheben, wie oft sich diese Zustände einstellten und von
welchem Alter an und bis wann sie sich zeigten. Die Großmutter war, wie
sie geschildert wurde, von mittelgroßer nnauffälliger Gestalt. Sie hatte 13
Kinder, von denen in früher Jugend 11 an Tuberkulose starben, eines im
mittleren Alter an Karzinom. Von den Gestorbenen hatte kemes Lähmungs-
zustände. Lange blieb nur die Mutter des Arztes am Leben. Diese litt un-
eefähr vom 20. Lebensjahre an bis zum 60. an Lähmungsanfällen der oberen
Extremitäten. Die Anfälle stellten sich in der Regel morgens ein: Beim Er-
wachen konnte sie die Hände schwer bewegen. Vormittags kehrte dann die
Beweglichkeit bis zur Norm zurück. Die unteren Extremitäten waren angeblich
+) Die Bereitwilliekeit und Opferwilligkeit, mit der sich der Herr Dr. D.
der Untersuchung unterzog, ist für uns und die Sache um so wertvoller, als dies
die erste paroxysmale Lähmung ist, die ein Arzt an sich selbst beobachtet hat.
u JS de
nicht ergriffen. Die Anfälle kamen einigemal im Jahre wieder, ausnahmsweise
auch einigemal in der Woche.
Die Mutter war äußerst schwach, groß, von schlanker Gestalt. Erst
im Klimakterium wurde sie stärker. Sie litt das ganze Leben hindurch an
hartnäckiger Stuhlverstopfung, schmerzhaften Koliken und Flatulenz. Sie
starb mit & Jahren an Marasmus.
Der Vater des Arztes hatte 11 Geschwister. In seiner Familie gab es
viele Tuberkulöse. Er war sehr groß, auffallend dick (Gewicht 120 kg). Mit
45 Jahren erlitt er eine Apoplexie und im 56. Jahre starb er an Encephalo-
malacie (er hatte damals keine auffallende Rigidität). Er trank wenig, war
aber ein sehr leidenschaftlicher Raucher.
Sonst gab es, soweit dies feststellbar war, in der Verwandtschaft keine
Geistes- oder Nervenkrankheiten.
Unser Kranker ist das einzige Kind.
Als Kind war der Kranke schwächlich. Auch später war er stets noch
schwach, mit 10 Jahren wog er nur 25 kg. Während der Pubertät und haupt-
sächlich im Alter von 25 bis 27 Jahren wurde er kräftiger. Damals nahm er
bei guter Kost angeblich um 2 kg per Woche zu. Ungefähr um das 30. Jahr
erreichte er das Maximum an Gewicht (98 kg). Während des Krieges magerte
er wieder ab und nun hält er sich auf 88 kg.
In der Kindheit hatte er oft Angina, im 5. Lebensjahre überstand er
Schafblattern. Mit 12 Jahren erkrankte er während der damaligen großen
Epidemie (1890) an Grippe mit heftigen Schmerzen im Kreuz und den unteren
Extremitäten.
Schon in der Kindheit litt er an einer großen Flatulenz und schmerzhaften
Koliken und hatte wie seine Mutter unregelmäßigen Stuhl.
Als Mediziner überstand er den Typhus (zur Zeit. als er schon an
Anfiillen litt).
Den ersten Lähmungsanfall bekam er mit 17 Jahren, als er eines Abends
vollständig durehnäßt wurde. Zu Hause zog er sich um, speiste mit Appetit
und schlief ein. Zeitig früh — ungefähr um 3 Uhr — wachte er auf, vollstän-'
die in Schweiß gebadet. Als durch das offene Fenster kalte Luft auf den
schwitzigen Körper kam, verursachte ihm der Luftzug, wie er sich gut er-
innert, ein ungewöhnlich angenehmes. bisher noch nicht gekanntes Wonne-
gefühl. Gleichzeitig aber fühlte er, daß er gleichsam „an das Bett angeklebt
sei“. Er wollte aufstehen. aber er konnte die Decke nicht gut abwerfen. Er
machte die Wahrnehmung, daß er die oberen Extremitäten in den Schultern
fast gar nicht bewegen konnte. In den Ellenbogen und den Handgelenken
cing dies noch ein wenig. Mit Anstrengung versuchte er aufzustehen und
schließlich gelang es ihm, das Bett zu verlassen. Er fühlte, daß ihm auch die
Füße den Dienst versagten. Er schleppte sich aber doch bis zur Tür, mit dem
Ellbogen des rechten Armes drückte er die Klinke nieder — den ganzen
Arm konnte er nicht mehr zur Klinke emporheben — und rief nach der Mutter.
Dabei spürte er bereits eine unüberwindliche Schwäche in den unteren Extre-
mitäten; er half sich noch humpelnd zum Bett zurück und nur mit Mühe
konnte er im Bett die Rückenlage einnehmen; die unteren Extremitäten waren
außer Bett; er konnte sie nicht mehr emporziehen. Auf sein Hilferufen kam
seine Mutter und half ihm ins Bett. Nach einer Weile war der ganze Körper
vollständig gelähmt. Er konnte nur die Gesichtsmuskeln, den Kopf in un-
bedeutendem Ausmaße von links nach rechts sowie die Finger und die Zehen
9x
ze 4 ss
bewegen. Damals war er 48 Stunden Jang gelähmt. Die Lähmung schwand
während der Nacht bis zum Morgen, gerade so wie sie gekommen war. und
zwar ohne Folgen.
Seit dieser Zeit wiederholen sich Ähnliche Anfälle in unregelmäßigen Inter-
‚allen. Die Paroxysmen kommen in zwei Formen vor: längere schwerere und
leichtere kürzere.
Die längeren Anfälle dauern in der Regel 48 Stunden, wobei der ganze
Körper gelähmt ist. Sie sind nicht hiutig: in der Jugend des Kranken kamen
sie je einmal während einer Zeit von sechs Monaten, die sieh aber bis auf
% Jahre erstrecken konnte. Manchmal waren sie noch seltener. Am häufig-
sten waren die Anfälle wohl in der Zeit um das 30. Lebensjahr. Späterhin
nahmen sie ab. Während des Weltkrieges — vom Jahre 1914 bis zum ‚Jahre
1918 — stellte sich überhaupt kein schwerer Paroxysmus ein. obwohl sich
damals der Kranke bemühte, auf alle mögliche Weise einen Anfall herbeizu-
führen. Er diente beim Militär als Zivilarzt bis zum Jahre 1918. Bald nach
der Rückkehr aus dem Kriege bekam er ungefähr im Dezember 1918 wiederum
einen Anfall. Hierauf kam nach einem ungewöhnlich kurzen Intervall schon
im Januar 1919 der zweite. Seit dieser Zeit aber stellte sich bis zum heutigen
Tage kein schwerer Anfall mehr ein.
Bei den kürzeren Anfällen ist die Lähmung nur eine teilweise und unvoll-
ständige und vergeht nach einigen Stunden. Leichtere Paroxysmen sind häu-
fiver als schwere: sie stellen sich immer nach einigen Monaten bis zum heutigen
Tage ein. Auch während des Krieges kamen sie öfters vor,
So wie bei anderen Patienten werden auch bei diesem die Lähmungs-
paroxvsinen gewöhnlich durch Vorzeichen angekündigt. Einen oder ein paar
Tage vor dem Anfalle schwitzt der Kranke stark, und zwar hauptsächlich an
den Füßen, worauf nachmittags oder abends vor der Lähmung das Schwitzen
plötzlich aufhört. In derselben Zeit hat der Patient 6—&mal während des Tages
Stuhldrange. Der Stuhl ptleet dabei knollenförmig zu sein. Der Appetit ist
auffallend vermehrt und gleichzeitig stellt sich Durst ein. Während mehrerer
Tage vor dem Paroxysmus scheint das Gesicht leicht gedunsen. Irgend-
welche Sensationen in den Muskeln hat der Kranke nieht. Vor den schwäche-
ren Paroxysmen sind auch die Prodromalerseheinungen schwächer.
Die Lähmung stellt sich immer in der Nacht gegen den Morgen zu ein.
gewöhnlich etwa um 3 Uhr, wie bei dem ersten Anfalle. Der Kranke wacht
in Schweiß gebadet auf: dieses Gefühl empfindet er als sehr unangenehm. Die
Abkühlung in diesem Zustand bewirkt dagegen eine besondere Wonne.
Die Lähmung ergreift niemals gleichzeitig den ganzen Körper. Sie be-
einnt an den oberen Extremmäten. und zwar zumeist erst an den Schultern. Die
Arme pfleren immer schwerer betroffen zu sein als die Hände. Bei leichten
Paroxysmen breitet sich die Lähnming nieht weiter aus und schwindet am
Vormittag des nächsten Tages,
Dabei kann der Kranke gehen. ja aueh manchmal die Praxis ausüben.
nur die oberen Extremitäten sind mehr oder weniger schlaf.
Bei den schweren Anfällen geht die Lihmune schnell auch auf die unteren
Extremitäten und den Rumpf über. Die Füße werden bald so schwer. daß
der Kranke nicht einmal die Schwelle überschreiten kann und „über ein Blatt
Papier stolpert“.
Nach einer oder mehreren Stunden ist die Lähmung gewöhnlich bereits
über den ganzen Körper ausgebreitet. Anf dem Höhepunkt erscheint oft auch
nn ge
die Beweglichkeit der mimischen Muskulatur herabgesetzt. Unvollständig sind
gewöhnlich die Lähmungen der Halsmuskeln und der Muskeln der Finger und
Zehen. Von den Kopfbewegungen gelingen die Bewegungen von rechts nach
links besser als die von vorn nach hinten. Der Kopf sinkt nicht herab, wenn
der Kranke aufgesetzt wird. In den Fingern bleibt eine unbedeutende Be-
weglichkeit der letzten Phalangen übrig, doch muß der Kranke zur Beugung
und Streckung der Endphalangen seine ganze Kraft aufwenden, Die Lähmung
wechselt in der Intensität.
Während der Dauer der Lähmung sind die Sehnenreflexe völlig erloschen.
Die idiomuskulire Erregbarkeit fehlt. Die elektrische Erregharkeit wurde
nicht geprüft.
Die Funktion der Sphinkteren ist immer intakt, die Sensibilität nicht ge-
stört. das Bewußtsein klar.
Bei den schweren Paroxysmen ist das Atmen etwas erschwert. obertläch-
lich und abdominal. Ein tiefes Ausatmen ist nicht möglich. Auch das Ab-
husten geht schwer vor sich und ist wenig ausgiebig. Das Ausschneuzen ist
erschwert. Das Niesen ist oberflächlich und bewirkt ein besonders unange-
nehmes Gefühl. Das Schlucken geht gut vor sich.
Die Sprache ist gleichfalls ohne Störung, nur kann der Kranke weder
schreien noch laut singen.
Der Appetit ist herabgesetzt. Dagegen quält der Durst, der bereits dem
Anfalle vorangeht, den Kranken den ganzen Lähmungsanfall hindurch. Er
trinkt tagsüber einige Liter Wasser.
Während der Lähmung erbrach er etwa zweimal. (Er meint, daß dies
nur deshalb geschah, weil er allzuviel Wasser getrunken habe.) Sonst er-
breche er überhaupt selten. Während des Erbrechens im Anfall war er toten-
bleich und hatte das Gefühl, als ob er ersticken müßte.
Der Stuhl stellte sich während der Zeit der Lähmungen und gewöhnlich
noch einen Tag darnach nicht spontan, sondern nur auf Klysmen ein.
Der Kranke uriniert während des Anfalles sehr wenig. Während zweier
Tage (so lange dauern die längeren Anfälle gewöhnlich) entleert er kaum
% Liter Urin. Im Urin ist weder Eiweiß, noch Zucker, noch Gallenfarbstoff.
aber reichlich Indikan. Indikanurie hat der Kranke auch außerhalb der
Paroxysmen.
bei keinem Anfalle hatte er eine Erektion.
Während der ganzen Zeit des Paroxysmus schwitzt der Kranke sehr stark.
In der Achselhöhle kristallisiert der Harnstoff. Auch während leichterer
Paroxysmen bricht Schweiß aus, allerdings in geringerem Maße.
Fieber trat niemals auf.
Durch das lange Liegen auf derselben Stelle während eines Anfalles stellen
sich sehr unangenehme Empfindungen und zwar hauptsächlich an den Fersen
ein. Der Kranke muß oft ersuchen, man möge ihn umbetten,
Die längeren Anfälle schwinden meist wieder im Schlafe, wie sie begonnen
haben, und zwar in der zweitnächsten Nacht.
Tags darauf ist der Kranke gewöhnlich wie „zerdroschen“. Manchmal hat
er die Empfindung eines dumpfen Schmerzes in den Waden.
Was die Ursachen des Paroxysmus betrifft, so hält der Kranke die starke
Durchnässung im Regen für das provozierende Moment des ersten Anfalles.
Er gesteht aber zu, daß er später niemals einen ungünstigen Einfluß auf die
Krankheit bemerkte, wenn er durchnäßt wurde. obgleich ihm dies oft (auf
=o T0 -==
Jagden) widerfuhr. Bei einer Abkühlung durch kalten Regen mache sich aber
immer eine besondere Unbehaglichkeit und eine unbestimmte Ängstlichkeit
geltend: dies sei nicht durch die Furcht bedingt, daß sich vielleicht die Lib-
mung einstellen könnte. Werde er von einem warmen Regen durchnäßt, so
überkomme ihn nicht diese Ängstlichkeit.
Er machte die Beobachtung, daß die Anfälle in einem Zusammenhange mit
dem Essen und mit Verdauungsvorgäneen stehen. Opulente Kost und Ver-
stopfung unterstützen ihre Entstehung. Er begann daher beizeiten im Essen
mäßig zu sein und auf Regelmäßigkeit des Stuhles zu achten. Wenn er viel
aß. an Gewicht zunahm, nicht Diät hielt und nicht für Stuhl sorgte, waren die
Anfälle häufiger (ungefähr im 30. Lebensjahr). Während des Krieges habe er
auch viel gegessen: er habe täglich Fleisch. außerdem auch viel Mais- und
Kleienbrot gehabt. Er habe jedoch an Gewicht abgenommen. Am leichtesten
habe er (zu Weihnachten) nach dem Genuß gebratenen Fisches und über-
haupt, sobald er Fisch aß, den Anfall bekommen. Auch Butter sei ihm nicht
bekömmlich. Den Stuhl reguliere er mit entsprechender Diät und verschiede-
nen Abführmitteln. Am besten gehe es ihm, wenn er täglich zwei Stühle habe.
Sobald der Stuhl unregelmäßig sei, trete die Gefahr ein, daß er einen Anfall
bekommen könnte,
Eine Herabsetzung der Lähmungserscheinungen könne er durch ein Klysma
und durch Bewegung erzielen, und zwar besonders in leichteren Paroxysmen.
Er könne oft die Beweglichkeit der oberen Extremitäten dadurch bessern, daß
er mit ihnen verschiedene Bewegungen ausführe. Sei er selbst nicht imstande.
Bewegungen auszuführen, so nütze es manchmal auch, wenn irgendein anderer
die Gliedmaßen in Bewegung setze.
Außerhalb der Paroxysmen fühle er sich gesund. Er ertrage alle Anstren-
gungen und versehe gut seine ausgebreitete Praxis.
Er hatte und hat noch auffallend entwickelte Muskeln und eine große
Körperkraft. (Früher vermochte er zwischen dem Daumen und dem Zeige-
finger eine Nuß aufzuknacken.) Als Besonderheit führt er an, daß er jedes
Ohr gesondert bewegen könne, daß er den Muskelbauch des Bizeps von einer
Seite auf die andere schnell, und zwar auf beiden Oberarmen verschieben und
daß er auch das letzte Fineerghed allein beugen könne, wenn die übrigen
Phalangen gestreckt seien. Er habe 33 "Zähne gehabt. Er war und ist seiner
Eigenart nach froh, lebhaft, gesellige. Er heiratete zweimal, hatte keine Kinder.
Die Kolleren im Krankenhause sahen bei ihm öfters die Lähmungsanfälle
und Prof. Heveroch und Prof. Starkenstein diagnostizierten bei ihm
bei der während des Krieges im Militär-Krankenhause erfolgten Untersuchung
paroxysmale Lähmung.
Außer an der paroxysmalen Lähmung leidet Dr. D. an einer Augenmigriine,
Die Mirräneanfälle hat er aber sehr selten. Sie stellten sich niemals gleich-
zeitig mit der Lähmung ein. Zu der Lähmung haben sie aber die Beziehung.
daß sie sich regelmäßig eine gewisse Zeit vor ihr einstellten, so daß der Kranke
sich daran gewöhnte, auf sie wie auf ein Signal im Organismus zu achten, „es
sei etwas nicht in Ordnung“, und es drohe ihm die Gefahr des Lähmungs-
paroxysmus. Die Migräne äußert sich in einem äußerst heftigen Kopfschmerz
mit Flimmern vor den Augen und linksseitiger Hemianopsie. Dabei erbricht
er nicht. Die Anfälle dauern % bis 172 Stunden.
Somatischer Zustand außerhalb des Paroxysmus (24. 4
1925),
Der Kranke ist von großer Gestalt, hat einen starken Knochenbau, der Er-
nährungszustand ist sehr gut, die Muskulatur ist außerordentlich entwickelt, be-
sonders an den unteren Extremitäten. Verhältnismäßig am mächtigsten ist die
Unterschenkel- und hauptsächlich die Wadenmuskulatur, die sich sehr derb
anfühlt. Das Unterhautfett, recht reichlich, es ist besonders am Rumpf und
zwar hauptsächlich an der Brust und den Bauchwänden angesammelt, weniger
am Rücken und Halse, am wenigsten an den unteren Extremitäten. Das Haar
ist dicht, etwas borstig, dunkelbraun, meliert. Der Bart ist eher schütter, teils
von blasser, teils von brauner Farbe, die Hautfarbe ist frisch, die Behaarung
normal.
Das Gesicht ist symmetrisch, die Ohren haben normale Form ohne Degene-
rationszeichen. Die Gesichtsmuskulatur ist entsprechend innerviert. Die Lid-
spalten gleich weit, die Regenbogenhäute sind lichtbraun, mit deutlicher Zeich-
nung. Die Pupillen rund, gleich weit. Die Lichtreaktion sehr lebhaft. Un-
rerelmäßiger, nicht rhythmischer Hippus, die Reaktion bei der Konvergenz ist
sehr ausgiebig; die konsensuelle lebhaft. Das Gebiß ist sehr gut erhalten,
etwas unausgeglichen. Die Zunge wird gerade vorgestreckt. Die Tonsillen
sind vergrößert, gefurcht, besonders die linke.
Der Hals ist etwas kurz, ziemlich stark, symmetrisch. Er zeigt keine aus-
geprägte Pulsation, auch keine Abweichungen bezüglich der Muskulatur. Die
Schilddrüse ist nicht vergrößert. Die oberen und die unteren Schlüsselbein-
gruben sind ausgefüllt.
Der Brustkorb ist mächtig gewölbt und breit. Über dem rechten Schlüssel-
bein sowie auch medial unter ihm besteht bei Perkussion leichte Dämpfung,
sonst ist der Lungenschall überall hell. Das Krönigsche Feld ist auf der
rechten Seite leicht eingeengt. Rechts unterhalb des Schlüsselbeines vesiku-
läres Atemgeräusch mit hörbarem Exspirium, rechts oberhalb der Spina
scapulae ein wenig verschärft. Sonst ist überall das Atmen vesikulär, rein, nur
an der Basis ein wenig rauh mit vereinzelten Rasselgeräuschen, besonders links.
Herz: Der Herzspitzenstoß ist weder sichtbar noch tastbar. Die obere
Dämpfungsgrenze liegt in der Parasternallinie am unteren Rande der dritten
Rippe. Die linke Grenze erreicht nicht die Medioklavikularlinie, Ms = 9 cm,
die rechte Grenze Md = 2,5 cm. Die untere Grenze liegt am unteren Rande
der 6. Rippe. Die Herzaktion ist regelmäßig, die Pulsfrequenz 82 in der
Minute. Reine Herztöne, keine Akzentuation. Der Puls normal gefüllt, leicht
gespannt, etwas schnellend. |
Die röntgenologische Untersuchung der Brustorgane zeigte, daß das
Zwerchfell an der rechten Seite in seiner lateralen Partie zipfelartig ausgezogen
ist. Die Zeichnung des rechten Hilus ist verstärkt. Die rechte Lungenspitze
ist diffus verschleiert, bis zur Höhe des ersten Interkostalraumes ohne sichtbare
Herde. Das Herz ist nicht vergrößert, die linke Kammer ist mäßig gerundet,
die Aorta überragt den linken Sternalrand beim dorsoventralen Strahlengang
und ist im aufsteigenden Teile gut zu sehen, aber nicht verbreitert.
Der Befund an den Organen der Bauchhöhle ist normal.
Das äußere Genitale ist entsprechend entwickelt.
Die Patellarreflexe sind herabgesetzt.
Die sogenannten Postural- (Stellungs-) Reflexe lassen sich am Bizeps der
oberen Extremitäten und an den Flexoren der unteren Extremitäten nicht
auslösen. Keine Pyramidensymptome. Sensibiltät normal. Im Urin Indikan.
dete „A. ee
Die elektrische Erregbarkeit der Muskeln (in der Zeit außer-
halb des Anfalles) wurde mit der Kondensatormethode*) in qualitativer Be-
ziehung ganz normal gefunden: besonders die Kontraktion und die Dekontrak-
tion sind sowohl bei der direkten als bei der indirekten Reizung völlig
prompt. die Kontraktionen fließen nicht ineinander, auch ist die Erregbarkeit
durch Reizung nicht leicht erschöpfbar. Quantitativ ist aber sowohl die direkte
als die indirekte Errerbarkeit leicht erhöht. Es wurden nachstehende Werte
festgestellt:
N. medianus sın. BS2DV=-K SZ
24 V = An SZ
N. facialis sin. 62 V =K SZ
9 V:= An SZ
2 Yz=R: A
t V = An SZ
Msc. temporalis sin, 8 X K SZ
8.75 V = An SZ
(Dr. Vitek)
Msc. brachio-rad sin.
|
Elektrokardiographische Untersuchung: Der Herzrhyth-
mus ist normal, die Koordination der Kontraktionen normal. Der Vorhof-
komplex ganz typisch, die Frequenz 77 in der Minute, ein leichtes Übergewicht
der linken Kammer. (Die Untersuchung wurde nur in der anfallsfreien Zeit
gemacht.)
Die Hautreaktion auf Cherempfindlichkeit für einige
Proteine wurde mit Stoffen von Parke. Davis & Co. durchgeführt und
zeigte folgende Resultate: Reaktion auf Stoffe der Gruppe I sehr stark positiv
(von Rind, Lamm, Schöps, Schwein), die auf Stoffe der Gruppe VIII positiv,
die auf Stoffe der Gruppe V und AX schwach positiv.
3. Fall#*.J. K. 34 Jahre alt, Eisenbahnangestellter in Pension, leidet
seit seinem 20. Lebensjahre an Lähmungsanfällen der Extremitäten und des
Stammes, die in der Regel 2—3 Tage andauern und sich in unregelmäßigen
Perioden wiederholen.
Ähnliche Anfälle hatte in der Familie als erste die Mutter des Kranken.
Weder der Großvater noch die Großmutter mütterlicherseits litten an solchen.
Der Großvater (ein Kleinhändler) war dem Trunke ergeben. Nach seinem
50. Jahre erblindete er vollständie und starb im Alter von etwa 70 Jahren.
*) Untersucht mit der Kondensator-Apparatur des Assistenten Dr. Pol-
rand mit einem Kondensator von der Kapazität 1 mf: die unpolarisierbaren
lektroden nach Bourguignon, 5 em? und 75 em? groß, die indifferente unter
den Glutiien,
**) Dieser Fall stammt aus der ambulanten Praxis Prof. Heverochs.
Prof. Heveroch hatte den Kranken in der Sitzung der Gesellschaft der
tschechischen Ärzte am 10. 11. 1913 demonstriert. Er richtete an uns die Bitte,
den weiteren Schicksalen des Patienten nachzugehen, ihn genau zu unter-
suchen, und hat uns entzegenkommenderweise die Erlaubnis erteilt, den Fall
in unsere Arbeit einzubeziehen.
— 19 —
Die Mutter des Kranken lebt noch heute; sie ist 65 Jahre alt. Im Alter
von 13 bis 14 Jahren, zur Zeit der ersten Menses, wurde sie angeblich einigemal
beim Heraufholen der mit Wasser gefüllten Brunneneimer von einer plötzlich
einsetzenden Schwäche der oberen, ab und zu auch der unteren Extremitäten
befallen. Einmal konnte sie angeblich vor Schwäche nicht die Stiege hinab-
sehen. Die unangenehmen Schwächezustände gingen jedoch nach einer Weile
recelinäßig vorüber, so daß ihnen die Kranke nicht einmal besondere Auf-
merksamkeit widmete und sie bald vergaß. Sonst war sie vollkommen gesund.
Sie heiratete mit 23 Jahren und hatte 5 Kinder. In ihrem 39. Lebensjahre,
gerade am Weihnachtstage, wurde sie am ganzen Körper lahın, nur das Ge-
sicht blieb „lebendig“. (Der Kranke weiß nicht, ob der Lähmungsanfall erst
nach der Fischmahlzeit kam oder schon früher.) Dabei konnte sie gut spre-
chen und schlucken. Das Bewußtsein blieb klar. Am zweiten Tage war sie
noch gelähmt, am dritten Tage begann die Lähmung nachzulassen, bis sie zu-
letzt ganz verschwand. Die Kranke, Waschfrau bei der Bahn, mußte angeblich
vor Weihnachten sehr schwer arbeiten. Die Lähmung schrieb sie der An-
strengung bei der Arbeit zu. Den zweiten starken Lähmungsanfall bekam sie
nach 2 Jahren wieder am Weihnachtstage. Die Lähmung dauerte 3 Tage und
verschwand wie das erstemal. ohne Folgen zu hinterlassen. Seit dieser Zeit
blieb sie bis heute von weiteren Anfällen verschont. Das Klimakterium stellte
sich bei ihr etwa im 45. Lebensjahre ein. (Damals wurde auch an ihr eine
leichte gynäkologische Operation ausgeführt.) Sie ist noch heute rege und hilft
in der Hauswirtschaft.
Der Vater des Kranken (ein Arbeiter, nunmehr 70 Jahre alt) hat von
Kindheit an eine sezernierende Fistel am rechten Schenkel.
Die älteste Schwester des Kranken starb mit 25 Jahren an Tuberkulose.
Anfälle von Lähmung hatte sie nicht. Sie war verheiratet und hinterließ ein
Kind. einen Knaben. der jetzt 17 Jahre alt und gesund ist.
Der 38jährige Bruder des Kranken, Verschieber von Beruf, ist ganz gesund,
hat ein zweijähriges Kind.
Die zweite Schwester des Kranken, 34 Jahre alt. leidet an ganz ähnlichen
Lähmungsanfällen wie der Patient (siehe unten Fall 4N.
Die dritte, jüngste Schwester starb im Alter von 2 Jahren nach einer
Verbriihung,
In der Familie sind weder Geistes- noch Nervenkrankheiten vorgekommen.
Der Kranke selbst war stets gesund. Er erinnert sich überhaupt nicht,
daß er bis zu seinem 20. Lebensjahre krank gewesen wäre. Er hat die Volks-
schule absolviert und lernte gut. Mit 14 Jahren trat er bei der Bahn als Arbei-
ter ein und alle schweren Arbeiten verrichtete er gut.
Den ersten Lähmungsanfall bekam er mit 20 Jahren im Winter des Jahres
1912. Den Tag vorher erkältete er sich stark an der Bremse, als er bei stren-
ger Kälte auf einem Lastzuge fuhr. Er war so durchgefroren, daß er kaum
von der Bremse herunterklettern konnte. 24 Stunden darauf kam der erste
Anfall. |
Seit dieser Zeit bestehen «die Anfälle. die sich anfänglich jeden zweiten
Monat einstellten. Später waren sie häufiger. am zahlreichsten wohl in seinem
27. bis 28. Lebensjahre, wo sie sogar allwöchentlich auftraten. Im Sommer
sind sie seltener als im Winter. Die längste Pause, etwa 7 bis 8 Monate, hatte
der Kranke im Jahre 1915. zur Zeit. als er sich als Soldat im Militärspital
befand,
Bevor die Lähmung eintrete, zeigen sich auch bei ihm prämonitorische
Symptome. Er spüre einen Druck auf der Brust, unangenehme Empfindungen
im Kreuz, Schwäche in den unteren Extremitäten und dumpfe Schmerzen in
den Füßen und Waden. Regelmäßig Stuhlverstopfung (er hatte überhaupt einen
unregelmäßigen Stuhl, alle 2-3 Tage). Infolge des geringen Speichelflusses
herrscht Trockenheit im Munde. Der Speichel ist auffallend dick. Gewöhnlich
stellt sich Durst ein. In den kühleren Jahreszeiten friere ihn vor dem Anfalle
stark an den Füßen. Manchmal zeige sich schon in den Prodromen ein Un-
Abb. 5.
vermögen zur aktiven Extension und Adduktion der kleinen Finger (s. Abb. 5)
und der groBen Zehen. Die Augen haben vor dem Anfalle einen eigenttim-
lichen Glanz. Manchmal habe er auch Kopfschmerz. Er sei gewöhnlich
schlecht gelaunt, niedergeschlagen oder reizbar. Er fühle sich abgespannt und
schläfrig. Im Schlafe vor dem Anfall habe er „wilde Träume“. Er träume,
daß er mit jemandem streite, oder daß er von der Höhe ins Wasser herabfalle,
daß er daran sei zu ertrinken und ähnl. (Vom Feuer habe er nie geträumt.)
Ein ganz sicheres Vorzeichen des Anfalles sei ein „wilder“ mit einer Pollution
einhergehender Traum.
Die prodromalen Erscheinungen zeigen sich in der Regel am Tage vor der
Lähmung, manchmal schon vormittags, ein andermal nachmittags. Manchmal
sind sie in größerer, ein andermal in geringerer Zahl vorhanden, manchmal
sind sie schwächer, ein andermal stärker. Die schwächeren und vereinzelten
Prodrome verschwinden manchmal wieder, ohne daß Lähmung eintritt.
Die Lähmung beginne immer während des Schlafes und zwar regelmäßig
in der Nacht. Nur ausnahmsweise sei es vorgekommen, daß er auch am Tage
nach dem prodromalen Müdigkeitsgefühle eingeschlafen und gelähmt erwacht
sei. Gewöhnlich sei er abends ermattet und schlecht gelaunt eingeschlummert
und etwa um Mitternacht, manchmal auch früher, erwacht mit dem Gefühl einer
größeren oder kleineren Schwäche im Rumpfe und in den Extremitäten. Er —
spüre, wie es ihn heiß „durchströme“, und er sei fieberig (die Temperatur wurde
nie gemessen). Früher war er auch beim Beginn der Lähmung in Schweiß ge-
badet und schwitzte auch stark während der Lähmung, besonders aber wieder
— 24 —
vor dem Ende. Etwa die letzten zwei Jahre war die Transpiration gewöhnlich
mäßiger.
Die Lähmung zieht den ganzen Körper mit Ausnahme des Gesichts in Mit-
leidenschaft. Sie ist nicht immer von gleicher Intensität: manchmal erwacht.
der Kranke schon ganz gelähmt, ein andermal ist er nur geschwächt, und es
kommt erst in einigen Stunden zur Lähmung. Manchmal ist die Lähmung den
ganzen ersten Tag nur eine teilweise und verschlimmert sich im Laufe der
folgenden Nacht. Bei unvollständiger Lähmung vermag der Kranke sogar oft
zu gehen und die Hände zu bewegen, besitzt aber beinahe gar keine Kraft;
über das kleinste Hindernis fällt er.
Die unteren Extremitäten werden gewöhnlich früher gelähmt als die
oberen und bleiben auch länger unbeweglich. Bei der teilweisen Lähmung
lassen sich am schlechtesten die Bewegungen mit den ganzen Extremitäten
ausführen, während die Hände und die Füße noch beweglich bleiben. Am läng-
sten bleibt die Beweglichkeit der Endphalangen der Finger und Zehen erhal-
ten: auf der Höhe des Paroxysmus verfallen auch diese gänzlich der Lähmung.
Den Kopf vermag der Kranke während der Lähmung nach vorne und nach
rückwärts etwas zu bewegen, seitwärts eher im Sinne der Rotation als der
Flexion.
Den Blick vermag er nach allen Seiten zu richten. E EE
Zunge und Lippen bleiben frei.
Das Sprechen ist nicht gestört, schreien und laut singen kann er aber
nicht, weil dazu der Atem nicht ausreiche. Er atmet oberflächlich; der Atem
ist kurz. Atembeschwerden hatte er niemals.
Wenn er den Schleim loshusten will, muß man ihm durch Zusammenpressen
des Brustkorbes nachhelfen. Das Niesen ist matt, Schlucken ohne Beschwerden.
Vom Essen hält er sich zurück (da er gefüttert werden muß und seine
Umgebung nicht belästigen will), aber der Appetit ist gut, besonders für
Fleischspeisen. Er verträgt nicht viel Essen auf einmal, da sein Magen dies
„nicht annehmen wolle“.
Er habe das Gefühl von Trockenheit im Munde und großen Durst, so daß
er viel und oft trinken müsse. Er uriniere leicht, aber wenig. In der Regel
finde während der Lähmung eine spontane Stuhlentleerung nicht statt, es sei
denn, daß er zufällig vorher ein Abführmittel genommen hätte. Einigemal
habe er auch während des Anfalles und zwar mit großer Anstrengung er-
brochen. Dabei habe er ein solches Schwächegefühl gehabt, daß er glaubte, er
werde ohnmächtig. Das Erbrechen trete nur dann auf, wenn während der
Lähmung bei einer unbequemen Lage ein Druck auf den Magen ausgeübt werde.
Die Libido verließe ihn während der Paroxvsmen nicht und Selbst auf
der Höhe der Lähmung trete Erektion ein.
Während des Anfalles schlafe er schlecht wegen der unangenehmen Emp-
findungen in den gelähmten Körperteilen: jeden Augenblick müsse man ihn
umbetten.
Die Sensibilität ist normal. Das Bewußtsein klar.
Die Lähmungsanfälle dauern gewöhnlich 48, längstens 72 Stunden.
In der Regel vergehen sie im Schlafe während der Nacht des zweiten oder
dritten Tages, manchina] aber auch am Vormittag oder Nachmittag des zweiten
oder dritten Tages. Auch dann, wenn der Anfall am Tage ende, gehe die
Lähmung immer während eines 1—3stiindigen Schlafes zurück.
— 92 —_
Während des Rückganges der Lähmung spüre er manchmal in den Füben
bis zu den Waden eine angenehme Wärme zum Unterschiede von den predro-
malen Kilteemptindungen.
Sobald die Lähmung vorüber sei, fühle er sich gesund und frisch. Nur
der Kopf schmerze manchmal. Wenn er sich bald nach dem Anfalle rasiere
und mit dem Rasiermesser die Haut vor dem Ohre berühre, so zucke die gleich-
seitire Wange bis zum Auge sowie der Mundwinkel, und er fühle ein Ameisen-
laufen in der ganzen Gesichtshälfte.
Beziiglich der äußeren Ursachen der Anfälle glaubt der Kranke, daß der
erste Anfall durch eine starke Erkältung ausgelöst worden sei. Eine Erkältung
ging seit dieser Zeit den Paroxysmen noch einigemal voraus, aber oft erkäl-
tete sich auch der Kranke, ohne darnach von der Lähmung befallen worden zu
sein. Provokatorisch wirke unmäßtgres Essen, ferner größere Mengen besonders
starken Alkohols. große körperliche Anstrengungen und Aufregungen, so z. B.
aufrerende Lektüre. Ebenso sei Verstopfung ein auslösendes Moment. Auch
Grippe und Schnupfen sollen des öfteren die Lähmung hervorrufen. Esse er
sich während des Paroxvsmus nach Lust an Fleisch satt. so scheine es ihm.
daß die Lähmung an Intensität zunehme und länger anhalte.
Er habe ausprobiert. daß er den Anfall einigemal durch Bewegung kupie-
ren konnte: wenn er beim Auftreten «der prodromalen Anzeichen recht viel
herumgehe oder arbeite (aber nicht allzu schwer), so solle es ihm manchmal
gelungen sein. den Anfall zu verhindern. Stublentleerung durch ein Klysma
oder Purgans wirke günstig auf die Lähmung in dem Sinne, dab diese ent-
weder an Intensität schwächer oder die Lähmungsdauer kürzer sei. Das Ende
der Anfälle lasse sich durch Duschen, Massage und Erwärmung des Körpers
unter einer Federdecke beschleunigen.
Der Kranke suchte bei manchen Ärzten Hilfe. von denen einige den Anfall
sahen und die Krankheit für Muskelrheumatismus, Hysterie, Epilepsie, Nerven-
schwäche und eine Rückenmarkskrankheit erklärten. Sie verordneten die ver-
schiedensten Arzneien: Jod. Brom, Chinin, Abführmittel, Moorbäder. Alles war
jedoch erfolglos.
Im Jahre 1914 wurde er assentiert und anfangs für einen Simulanten ge-
halten. 1915 wurde er im Garnisonspital in Prag von Prof. Dr. Oskar
Fischer beobachtet und danach im selben Jahre als Bahnangestellter vom
Dienste enthoben. (Superarbitriert wurde er aber nicht.) Im Jahre 1919 arbei-
tete er als Weichensteller. Da er aber infolge der Anfälle oft den Dienst ver-
säumte, wurde er am 1. April 1924 in den zeitweisen Ruhestand versetzt. Im
übrigen versah er den Dienst zur vollkommenen Zufriedenheit.
Seme Stimmung ist fröhlich, lebhaft, angeblich ein wenig „nervös“, reiz-
bar. Er heiratete mit 25 Jahren und lebt mit der Gattin in gutem Einverneh-
men, hat 4 gesunde Kinder (das älteste zählt 8 Jahre, das jüngste % Jahr).
Er ist ein mäßiger Raucher. Er versuchte drei Jahre überhaupt nieht zu
trinken. um zu sehen, ob er damit die Anfälle ausschalten könnte, was ihm
aber nichts nützte.
Auf unsere Aufforderung hin Tieb sich der Kranke freiwillig auf einige
Tage zur Untersuchung ins Krankenhaus aufnehmen.
Status praesens in der anfallsfreien Zeit: Der Kranke ist
mnittelyroB, von starkem Knochenban, gutem Ernährungszustand, hat eine ge-
sunde Hautfarbe. Das Haar ist braun, am Scheitel und an den Schläfen gelich-
tet. die Augenbrauen sind dicht. schwarz. die Wimpern lang. schwarz. Bart nor-
— 3 —
mal. Auf der Brust, in den Achselhöhlen, am Vorderarm und am Mons veneris
ziemlich dichte Behaarung. Die Nägel gut geformt, lang. Hyperhidrosis an den
Händen und Füßen. Die Hände fühlen sich kalt an.
Skelett: Es besteht leichte Skoliose, die Fingerendphalangen sind etwas
zugespitzt. Das Skelett der Hände und besonders der Füße ist verhältnis-
mäßig etwas mächtiger als es der Größe entsprechen würde (Schuhnummer 43).
Die Muskulatur ziemlich kräftig ausgebildet, von normaler Konfiguration und
Konsistenz, nirgends ist eine Hypertrophie bemerkbar (Abb. 6).
Der Kopf ist symmetrisch, die Stirne breit,
von Mittelhöhe: Schädel nicht klopfempfindlich.
Die Ohrmuscheln haben normale Form, die Ohr-
läppchen sind nicht angewachsen. Die Austritts-
stellen des N. trigeminus sind nicht druck-
empfindlich. Der Chvostek-Reflex nicht aus-
lösbar.
Die Augenspalten sind gleich breit. Die
Lider zittern beim Schließen. Bulbi sind sym-
metrisch gelagert, gut beweglich. Die Horn-
haut beiderseits klar, die Regenbogenhäute
oliven-grünbraun, in den Zentralparticn eher
hellbraun, an der Peripherie graugrünlich. Die
Pupillen gleich weit, leicht entrundet, besonders
die linke. Sie reagieren prompt auf Licht,
weniger, aber deutlich auf Konvergenz. Kon-
sensuelle Reaktion normal, der Hornhautreflex
lebhaft.
Die Innervation der Gesichtsmuskulatur ist
in Ruhe und bei Bewegung normal. Beim
Lippen- und Mundspitzen tritt leichtes Vibrie-
ren auf, wenn die Bewegung keine extreme ist.
Die Zunge zeigt keine Deviation aus der
Mittellinie, sie zittert leicht beim Hervor-
strecken. Der linke weiche Gaumenbogen ist
um etwa 3 mm höher als der rechte: das Zäpf-
chen gerade. Bei der Phonation hebt sieh der
ganze Gaumen gleichmäßig (so daß auch dann Abb. 6.
die linke Hälfte niedriger bleibt als die
rechte). Die Tonsillen sind klein. Die Sehleimhaut der hinteren Rachenwand
ist leicht granuliert. Der Würgretlex fehlt vollkommen.
Der Hals mittellang, die Schilddrüse nicht vergrößert. Durch Palpation
sind keine Iymphatischen Knoten nachweisbar. Weder die Pulsation der Karo-
tiden noch die der Venen ist auffallend. Die Supraklavikulargruben sind etwas
eingefallen.
Der Brustkorb ist symmetrisch, gut gewölbt, der angulus Ludovici tritt. her-
vor und mit ihm die Insertion des zweiten Rippenpaares. Die Atmung ist von
kostoabdominalem Typus: 16 Atemzüge in der Minute. Lungen: oberhalb des
rechten Schlüsselbeines leichte Perkussionsdämpfung. sonst überall heller Per-
kussionsschall. Das Atmen ist vesikulär, nur unterhalb des linken Schlüssel-
beines beim Inspirium leicht verschärft und über der spina scapulae dextrae
rauh.
Der Herzspitzenstoß ist nicht palpabel. Die obere Grenze der Herzdämp-
fung im Exspirium liegt am oberen Rand der III. Rippe. beim gewöhnlichen
Atmen an ihrem unteren Rande. Die untere Grenze am unteren Rande der
VI. Rippe. Die linke Grenze nach innen von der Medioklavikularlinie, MS =
7— em; MD = 1.5 cm. Die Herzaktion ist regelmäßig. Die Herztöne sind rein.
nirgends eine abnorme Akzentuation, 64 Pulse in der Minute. Blutdruck
105/75 nach Vaquez-Laubry.
Weder an der Leber noch an der Milz ist etwas Pathologisches zu finden.
Der Bauch von normalem Aussehen, die Bauchwand nicht gespannt. nir-
gends Druckempfindlichkeit. In der lleocöcalgegend ist das Coecum fühlbar;
links ist das kontrahierte Colon descendens wie ein starker Finger dick, tast-
bar, nicht schmerzhaft.
Bauchreflexe beiderseits lebhaft.
Das äußere Genitale normal entwickelt.
Normale Beweglichkeit in der gesamten Muskulatur.
Die Muskelkraft entsprechend ihrer Entwicklung (D. E. in der rechten
Hand 135. in der linken 100).
Die Bewegungen sind richtig koordiniert, kein Zittern. Die Sebnenretlexe
sind auslösbar: die Patellarretlexe lebhaft. auch oberhalb der Patella auslösbar.
Die Achillessehnenretlexe sind zwar auslösbar. aber nicht besonders lebhaft.
Keine Pyramidensymptome,
Im Harn weder Eiweiß, noch Zucker, noch Indikan.
Untersuchung der elektrischen Erregbarkeit (mit der
Kondensatormethode und der gleichen Kapazität wie im zweiten Falle). Es
wurden folgende Werte gefunden:
N. facialis, Oberast r tò V=K SZ
5 V = An SZ
L 5 V=K SZ
5 V:=AnSZ
N. medianus ti Te Ve kK 52
7 V = An SZ
L 6 V = K. SZ
a0 V == An SZ
Mse. frontalis r 6 V=K SZ
7 V = Kk SA
L 65 V=K SZ
7 V = An SZ
Msc. brachioradialis long. r. 7.25 V-=K SZ
11 V -= An SZ
In der Quantität der Reaktion ist also eine bedeutende Erhöhung sowohl
der direkten als auch der indirekten Erregbarkeit bemerkbar; manchmal tritt
bei indirekter Reizung die Zuckung an der differenten Anode früher auf als
an der Kathode. In bezug auf die Qualität bestehen bei indirekter Reizung
— 8% —
normale Verhältnisse: die Kontraktionen der betreffenden Muskeln sind ener-
eisch. mit einem ausgiebigen lokomotorischen Effekt verbunden, sie sind noch
bei Minimalreizen scharf ausgeprägt und weder durch Schwellen- noch durch
submaximale Reize erschöpfbar. Dafür zeigen sich bei direkter Reizung auf-
fallende Veränderungen: 1. Die Kontraktion sowie Dekontraktion ist verlang-
samt, was besonders bei der Reizung mit minimalen Impulsen und bei der
differenten Anode zutage tritt. 2. Wenn die Reize (und zwar hauptsächlich
höhere als Schwellenreize) in einer Folge von 5—6 in der Sekunde hintereinan-
der wirken, gehen die Zuckungen in Tetanus über, eine Erscheinung, die bei
der differenten Anode gleichfalls ausgeprägter ist. 3. Bei minimalen Reizen
kann schon nach einigen Impulsen die Elektroreaktion erschöpft sein.
Nach 2 Minuten dauernder Hyperventilation trat keine Änderung der elek-
trischen Reizbarkeit ein (Dr. Vitek).
Elektrokardiographische Untersuchung. Wir hatten
keine Gelegenheit, den Kranken zur Zeit eines Lihmungsanfalles elektrokardio-
graphisch zu untersuchen. Die unter normalen Verhältnissen ani 18. 6. 1925
vorgenommene Untersuchung zeigte ein ganz normales Elektrokardiogramm in
allen drei Ableitungen, nur war die Frequenz etwas verlangsamt (50—60 in der
Minute).
Am 22. 5. 1925 injizierten wir Adrenalin, um dessen Einfluß auf die
Herztätigkeit und den Tonus der beiden vegetativen Systeme kennen zu lernen.
Das Ergebnis des Versuches, bei welchem 1 cm?’ einer 1:80000 verdünnten
Adrenalinlösung intravenös injiziert wurde, war folgendes: 1. Frequenz: un-
mittelbar vor der Injektion 87 in der Minute (d. h. in je 10 Sekunden 14,5):
nach der Injektion änderte sich die Frequenz folgendermaßen:
In den Sekunden 1—10 11—20 21—30 31—40 1—50 51—60 61—70
Anzahl der Svstolen: 10 10 8 IL it 13 10
Im Verlaufe der zweiten Minute nach der Injektion betrug die Frequenz
ca. 56 in der Minute.
2, Veränderung in der Systolenkoordination: In der Zeit, in welcher sich
die Herzaktion am meisten verlangsamte (zwischen der 20. bis 30. Sekunde
nach der Injektion) beginnt sich die nodale (a—v) Automatie geltend zu
machen: es kommt zu ,échappements ventrieulaires“ sowie zu einer Serie
nodaler Kontraktionen (chevauchement auriculoventriculaire lent nach Va-
quez-Donzelot); von der 37. Sekunde an übernimmt der jetzt beschleu-.
higte Sinusrhythmus wieder die Führung des ganzen Herzens, um sie neuer-
dings nach der 60. Sekunde unter neuerlicher Verlangsamung der Herzaktion
zu verlieren (die Automatie a—v tritt wieder auf). Erst nach einigen Minuten
kehrt wieder der Sinusrhythmus zurück. 3, Formveränderungen im Elektro-
kardiogramm (Abb. 7 a, b): Um die 35. Sekunde wird die bisher stark positive
T-Welle plötzlich negativ und bleibt negativ bis beinahe zur Rückkehr der
normalen Herzaktion. Gleichzeitig mit dem ersten Auftreten der nodalen Auto-
matie wird die P-Welle in der Ableitung A atypisch, in Ableitung B außerdem
invertiert, und eine solche bleibt auch in der Periode der vorübergehenden
Sinusbeschleunigung der Herzaktion zwischen der 37.—60. Sekunde bestehen.
Mit der Rückkehr der positiven T-Welle wird auch die P-Welle typisch (resp.
positiv), und zwar noch zur Zeit, in welcher der nodale Herzrhythmus im Ab-
klingen begriffen ist.
= OG wi
A p Vor dem Versuche
2Sek.
RADAR RAAAEABRABRABAAABAALASLALAALAALAAAARAALA AEA KERR LI Zu
A Bei dern Versuche
eee emg ae a
— Para ted
i
ne | a
Abb. 7. a (thorakale Ableitung A. Bo. b (dieselben Ableitungen.
Adrenalinversuch am 21. 1. 1925 (0.001 g subkutan).
vor de m E i 12 I | 15 P] | 1 ‘ Jee | 37 4 60°
Versuche | | | |
A ee ste GG ne
| |
Blutdruck max. 105 | 9 98 gr 105,130 1150, 145 |140 ‚125 | 105
a eee ee | oe | aaa ARE BER} OO e u. Er ke | A Se
Blutdruck min. 7D | 6D 6S | 70 S5 7) 70 65 | 7)
ete a ae nn ee nm, | GY ee eh j Sraa E
Puls 4. 4&2 64 68 | 76 | Gf 76 | RO 78 St 86
: fe RE EEDESE at als, as, 4 Bre a Mg a
Pupillen . . . normal verengt normal |
Glvkosurie . . negativ
Ein gleiches Resultat verzeichnete in den Hauptumrissen auch die Unter-
suchung beim zweiten Aufenthalte an der Klinik.
Änderungen des Blutzuckerspiegels nach einer sub-
kutanen Injektion von 1 mg Adrenalin (am 22. 1. 1925).
a3) DI a
6
Glykämie vor dem Versuch: 81 mg in 100 cem Blut: nach der Injektion:
in 15. Minute 165, in 30. Minute 177, in 45. Minute 148, in 60. Minute 158, in
%. Minute 138, in 120. Minute 109. Glykosurie trat nicht ein.
Alimentäre Hyperglykämie (25. 6. 1925, anläßlich des zweiten
Aufenthaltes an der Klinik): Nach Einnahme von 112 g Glykose auf 66,10 kg
Körpergewicht stellten wir folgende Werte fest:
Vor dem Versuche 137 mg in 100 cem Blut; nach Aufnahme der Glykose
in 30. Minute 191, in 45. Minute 218, in 60. Minute 215, in 120. Minute 154.
Versuch mit Pilokarpin (23. 1. 1925). Nach der subkutanen In-
jektion von 0.01 g kam es zu einer unbedeutenden Erhöhung des Druckes (von
105.75 auf 110/80 zwischen der 20. und der 30. Minute), und zu einer unbedeu-
tenden Pulsbeschleunigung von 70 auf 84 (in der 12.—30. Minute). Das
Schwitzen dauerte von der 18. Minute bis zum Abschluß des Versuches (also
mindestens bis zur 58. Minute). `
Die Reaktion auf Anaphylaxie (am 17. 6. 1925) mit Protein-
Testen der Firma Parke, Davis & Co. fiel bestimmt positiv für „beaf“ aus.
Wir versuchten auch. den Anfall mittels einer starken Alkoholdosis (%
Liter Wein und '/, Liter Kognak) hervorzurufen — aber ohne Erfolg (abgese-
hen von der Betrunkenheit).
Nach 20minutiger Hyperventilation trat bloß die normale Reaktion auf
'Abgeschlagenheit. leichte Ermüdung).
4. Fall. A. 5., 34 Jahre alt, verheiratet, Schwester des vorangehenden
Kranken. Wurde am 15. Januar auf die Klinik Prof. Syllaba aufgenommen
und am 8. 2. 1926 entlassen.
Patientin hatte angeblich in der Kindheit blob Masern. sonst war sie
gesund. Nie hatte sie irgendwelche Krampfanfälle.
Seit ihrem 7. Lebensjahre wird sie von ännliehen Lähmungen wie ihr
Bruder heimgesucht. Als sie damals von der Mutter einmal morgens geweckt
wurde. bemerkte die Kranke, daß sie nicht aus dem Bette aufstehen könne.
Die Extremitäten. hauptsächlich die unteren. waren schwer, sie hatte keine
Herrschaft über sie. Nur mit Unterstützung der Mutter konnte sie sich ein
wenig vom Bette erheben. Dabei hatte sie klares Bewußtrein, konnte gut
sprechen und schlucken und die Sensibilität war nicht gestört. Die Lähmung
ließ bis zum Abend desselben Tages nach. so daß die Kranke wieder herum-
gehen konnte. Beim Gehversuch sehmerzten ihr anfanzs noch die Füße, aber
nach einer Weile „lief sie sich ein“. Von dieser Zeit an bis auf den heutigen
Tag stellten sich in verschiedenartigen Zeitabschnitten ähnliche Lähmungen
ein. Die Lähmung ist nicht immer von gleicher Stärke und von gleicher Dauer.
Bei manchen Anfällen ist der Körper mit Ausnahme des Kopfes „wie tot“.
ein anderes Mal ist die Motilität nur herabgesetzt und die Kranke kann sich
auch während des Anfalles wenigstens einigermaßen bewegen,
In den ersten 7 Jahren machten sich bei den Anfällen etwa IH4tägire
Intervalle geltend, manchmal kamen die Anfälle noch öfter. dauerten in der
Regel einen Tag.
Die Kranke absolvierte die Volksschule: ihre Lernerfoleve waren mittel-
miBie.
Die Menses bekam sie mit 12 Jahren. Sie erinnert sich nieht, daß das Auf-
treten der Menstruation von Eintluß auf die Anfälle gewesen wäre, Noch ehe
sie das 14. Lebensjahr erreichte, trat sie bei einem Landwirt in Dienst. wo sie
JIanota-Weber, Die paroxsvasmale Lähmung (Abhal. H. 460. 3
3 Jahre verblieb. Im Dienste ging es ihr sehr gut, sie aß viel und wurde auf-
fallend dick: ihr Gewicht betrug damals 68—72 kg. Während dieser 3 Jahre
bekam sie nur einen Anfall, dieser trat zu Hause ein und zwar zur Kirchweih.
Abends aß sie recht viel Fleisch (damals aß sie, wie gesagt, überhaupt viel), und
ging hierauf tanzen. Nach Mitternacht bemerkte sie eine Schwere und Schwäche
in den Beinen, so daß sie nach Hause gehen und sich niederlegen mußte. In der
Frühe trat vollkommene Lähmung ein, diesmal 2 Tage dauernd.
Mit etwa 17 Jahren kehrte die Kranke aus dem Dienst nach Hause zurück.
um der Mutter auszuhelfen. Zu Hause kam es wieder zu Anfällen, und zwar
mindestens einmal im Monat. Die Kranke wurde während dieser Zeit wieder
auffallend mager, obzwar sie angeblich auch zu Hause ausgiebige Kost hatte.
Mit 18 Jahren nahm sie einen Dienst in einer entfernten Stadt an, wo sie
etwa ein Jahr verblieb. Während dieser Zeit hatte sie nur einen einzigen An-
fall und der war so schwach. daß sie ihn. ohne sich niederzulegen, überstand.
Als sie nach einem Jahre wieder nach Hause zurückkam, stellten sich die An-
fälle wieder häufiger ein, aber, so weit sie sich erinnert, waren diese schwach.
Mit 20 Jahren heiratete sie. Gleich in der Hochzeitsnacht bekam sie einen
starken Anfall, der zwei Tage anhielt. Etwa nach einer Woche kam noch ein-
mal ein schwerer Anfall. Dagegen trat während der ganzen Dauer der
Schwangerschaft, die darauf folgte, kein Anfall auf. Die Entbindung war
normal; die Tochter, die damals zur Welt kam, ist jetzt 13 Jahre alt und
vollkommen gesund. Auch während der Laktation waren keine Anfälle zu ver-
zeichnen. Ein halbes Jahr nach der Entbindung wurde die Kranke zum
zweitenmal schwanger. Zu Beginn dieser Schwangerschaft bekam sie wieder
einen Anfall, der etwa einen Tag dauerte. Im weiteren Verlauf der Schwanger-
schaft kamen keine Anfälle, außer im 8 Monat. Damals erkrankte der Ehe-
mann der Kranken an Schwindsucht und starb. Vielleicht infolge der vorher-
gehenden aufreibenden Pflege und der Entsagungen, ferner infolge der seeli-
schen Erschütterung durch das Ableben ihres Ehegatten kam es noch am selben
Tage. an dem er starb, zu einem schwachen Anfall. Die Entbindung war
normal: die Tochter, heute im 12. Lebensjahre, ist gesund*).
Da die Kranke damals sehr geschwächt war, verbot ihr der Arzt das
Stillen.
Bis zu ihrer zweiten Ehe, damals war sie 27 Jahre alt. hatte sie nur ver-
einzelt schwere Anfälle. Die leichteren bestanden hauptsächlich nur in einem
(refühl der Schwere und Schlaffheit der Beine und wiederholten sich etwa alle
Monate. Die Kranke tiberwand sie in der Regei durch Gehen. ohne das Bett
aufsuchen zu müssen.
Seit einigen Jahren stellen sich jährlich eimge Male stärkere Anfälle ein
und zwar so, daß sie einige Monate aussetzen und dann öfter in etwa drei-
wöchentlichen Zwischenräumen wiederkehren.
In der zweiten Ehe wurde die Kıanke nur einmal schwanger: die
Schwangerschaft wurde aber im zweiten Monat durch einen spontanen Abortus.
angeblich aus unbekannter Ursache, unterbrochen.
*) Nach Abschluß der Arbeit erfahren wir, daß diese Tochter eben bei
ihrer 3. Menstruation einen Liihmunesanfall bekam, der sich nach 3 Monaten
wiederholte. Beim zweiten Anfalle, der stärker war als der erste, trat auch
grobe Atembeklemmung ein.
Die Lähmungsanfälle kommen gewöhnlich morgens, manchmal aber auch
zu einer anderen Tageszeit. Einige Stunden bis einen Tag vor dem Anfall
spüre sie eine eigentümliche Schwere auf der Brust und in der Magengrube,
manchmal auch im Kreuze. Manchmal fühle sie sich von irgendeiner inner-
lichen Wärme durchdrungen. Dem Anfall gehe immer Verstopfung voraus, die
zwei bis drei Tage anhalte und oft auch mit großer Flatulenz verbunden sei.
(Sie leide aber auch sonst an unregelmäßigem Stuhl.) In den Waden habe sie
ein dumpfes Gefühl und in den Füßen ein Gefühl der Schwere, besonders die
Fußspitzen seien wie mit Gewichten belastet. Manchmal habe sie Angst; „sie
werde zusammenbrechen‘“, „ihr Körper werde sie nicht tragen“. Im Munde habe
sie das Gefühl der Trockenheit und großen Durst. Sie sei verdrießlich, reizbar
und habe Kopfschmerzen.
Die Lähmung beginne regelmäßig so, daß sie in den früheren oder späten
Morgenstunden mit dem Gefühl eines dumpfen Schmerzes oder des Taubseins
in den Gliedern aufwache und die Bewegung der Extremitäten sowie des
Rumpfes und Halses mehr oder weniger eingeschränkt sei. Die Lähmung sei
anfangs selten ganz ausgebildet, in der Regel breite sie sich nach und nach
aus, Sie ergreife zunächst sehr oft einen einzelnen Finger oder eine einzelne
Zehe. und zwar am häufigsten die Kleinfinger und die großen Zehen; während
sie die anderen Finger und Zehen noch bewegen könne. könne schon der kleine
Finger oder die große Zehe den Bewegungen der übrigen Finger und Zehen
nicht mehr folgen. Besonders oft werde die Adduktion des kleinen Fingers
zum Ringfinger unmöglich (ähnlich wie dies der Fall bei ihrem Bruder ist —
Fall 3). Die Lähmung der erwähnten Finger greife schnell auf die übrigen
Finger und auf die ganze Extremität über. Sehr bald und stark sei die Motili-
tät im Schultergelenk in Mitleidenschaft gezogen: beim Kämmen könne sie
noch den Kamm in der Hand erhalten. aber den Ellbogen müsse sie auf ein
Möbelstück aufstützen. Die Lähmung beginne das eine Mal an den unteren. das
andere Mal an den oberen Gliedmaßen, manchmal auch gekreuzt und zwar an
einer oberen Extremität und einer unteren Extremität der anderen Seite. Von
den Extremitäten schreite die Lähmung bald auch auf den Rumpf und auf die
Halsmuskulatur fort. Je nach der Intensität der Lähmung spricht die Kranke
von starken oder schwachen Anfällen. Bei ersteren Anfällen liege sie ganz
unbeweglich da. ohne auch nur einen Finger oder den Kopf bewegen zu können.
Die Augenbewegungen seien frei, ebenso auch die Bewegungen der Gesichts-
muskeln und der Zunge.
Das Schlucken sei (wie bei den anderen Fällen) ungestört. Sie spreche
ohne Störung. wie gewöhnlich, nur könne sie weder schreien noch singen. Die
Atmung sei oberflächlich. In «der letzten Zeit empfinde sie bei den Anfällen
Stechen auf der linken Seite des Brustkorbes und wenn sie länger auf der
linken Seite liege. Atemnot. Sie könne weder husten noch niesen noch aus-
schneuzen.
Während der Lähmung bestehe immer Verstopfung: das Urinlassen sei
normal.
Regelmäßig habe sie einen guten Appetit und immer Durst.
Früher habe sie während der Lähmung sehr stark geschwitzt. hauptsächlich
auf der Höhe des Anfalles. In der letzten Zeit schwitze sie nur wenig, fühle
sich aber von .innerer“ Hitze durchströmt: vor dem Ende des Anfalles stelle
sich manchmal ein Kältegefühl ein.
ar
=. ee
Das Bewußtsein blieb während des Anfalles immer klar, die Sensibilität
normal.
Manchmal klart sie über Kopfschmerz. Sie hat unangenehme Empfindungen
des Eingesehlafenseins in den gelähmten Extremitäten und während des
Lähmungszustandes ist demnach der Schlaf nur ein obertlächlicher und oft
unterbrochen.
Die stärkeren Anfälle dauern regelmäßig zwei bis drei Tage, die leichteren
sind manchmal von kürzerer Dauer. Die Lähmung schwindet am häufigsten
während des Schlafes und zwar während des Nachtschlafes. Ihr Zurück zehen
beginnt an den zuletzt betroffenen Muskelgruppen. wogegen die Lähmung an
den zu Beginn betroffenen Muskeln zuletzt weicht. Sobald sie sich nur einiger-
maßen bewegen kann, bekommt sie gleich heftigen Stuhldrang. Nach dem An-
falle ptlegt die Mattigkeit noch einen Tag anzuhalten, in der Magengrube und
im Kreuze scheint ihr alles „wie wund“.
Sie glaubt. daß nach ihren Erfahrungen anf die Auslösung des Anfalles
Verstopfung — an der sie oft leide — und übermäßiges Essen von Einfluß
sind. vielleicht auch Alkoholgenuß, große Körperliche Anstrengung. eine
stärkere Erkältung. sowie auch heftige seelische Aufregung. In den letzten
Jahren kommen die Anfälle recht regelmäßig etwa eine Woche vor der
Menstruation. Im Herbste und zur Winterszeit pflegen sie auch häufiger zu sein
als im Frühjahr oder im Sommer. Auch in diesem Falle ist fortwährende Be-
wegung, soweit sie eben möglich ist. von günstiger Wirkung auf die Lähmung.
Außerhalb der Anfälle bewege sie sich ganz normal und könne wie ein
gesunder Mensch alle schweren Arbeiten verrichten. Sie halte auch lange
Miirsche ans.
Status somaticus außerhalb der Lähmune.
Die Kranke ist von mittelgroßer Gestalt und entsprechend kräftigem
Körperbau: Körpergewicht 57 kg. Die Haut ist von normalem Aussehen, an
der linken Schläfe ist eine kleine Narbe. davon herrührend. daß sie einmal bei
berinnender Lähmung über die Treppe herunterfiel. Die Wangen sind rosarot.
das Haar kastanienbraun. dieht. fein. Augenbrauen dicht. dunkel. Starke Be-
haarung der Achselhöhlen und des mons veneris.
Die Muskulatur zeigt normale Kontiguration und normalen Tonus.
Der Kopf symmetrisch. Die Innervation der Gesichtsimusknlatur in der
Ruhe und bei Bewegung gut. Die Augenbewegungen nach allen Richtungen
frei. die Pupillen rund. gleich weit. Die Lichtreaktion ist prompt, die Pupillen
erweitern sieh aber bald wieder. Konvergenz prompt. Die Iris ist von grau-
grüner Färbung. Die Schleimhaut der Mundhöhle ist rosarot. das GebiB stark
defekt. Die Bewegungen des weichen Gaumens sind auswiebig und gleich-
mäßig. der Pharvnrealretlex ist herabgesetzt und läßt sich manchmal überhaupt
nicht auslösen.
Der Hals ist symmetrisch. die Schilddrüse nicht vergrößert.
Der Brustkorb gut gewölbt. Der Lungenbefund ohne Besonderheiten.
Herz: Der Spitzenstoß nicht sichtbar, schwach. im V. Interkostalraum
palpabel, Die obere Grenze der Herzdämpfung legt in der linken Parasternal-
linie am unteren Rand der HI. Rippe. die linke Grenze erreicht nicht die linke
Medioklavikularlinie. MS -- 85 em. MD = 25 em. Die Herzaktion ist regel-
mäßie. 60 Pulse in der Minute. Herztöne rein. Blutdruck 109.65 Vaquez-Laubry,
An den Organen der Bauchhöhle normaler Befund.
— 31 —
Patellar- und Sehnenretlexe lebhaft.
Bauchretlexe gut auslösbar. Keine pathologischen Reflexe. Motilität normal,
Muskelkraft gut.
Givkimische Reaktion nach subkutaner Injektion von
I mg Adrenalin: Nüchtern vor der Injektion 146 mg, in 40 Minuten nach
der Injektion 215 mg. in 60 Minuten 220 mg, in 120 Minuten 154 mg. in
140 Minuten 132 mg. in 160 Minuten 127 mg.
Die Glykämiekurve nach Verabreichung von Glykose
konnte nicht untersucht werden, da die Kranke die Glykoselösung immer
erbrach.
Nach der Injektion von 0.01 Pilokarpin stellte sich eine im
eroßen und ganzen normale Reaktion ein. Der Blutdruck sank unbedeutend
ivon 109 auf 103, 98. 95. 105, 103), die Pulsanzahl verlangsamte sich etwas in
der ersten Minute (von 68 auf 64), worauf sie ein wenig anstier (72, 76); das
Schwitzen dauerte von der 9. bis zur 60. Minute. in der 12. Minute trat Speichel-
tub auf.
Die elektrodiagnostische Untersuchung nach der
Kondensatormethode (mit einer Apparatur derselben Konstruktion wie
in den vorigen Fällen). Außerhalb des Anfalles wurden folgende Werte ge-
funden:
N. VIE Oberast : r 8.5 V = Ka SZ
8 V = An SZ
. 7 V = Ka SZ
7.79 V = An SZ
N. medianus: r 6 V = Ka SZ
8 V = An ZT
Mse. temporalis : r 68.7) V = Ka SZ
10 V = An SZ
] 9 V = Ka SZ
12 Vv An SZ
Mse. brachioradialis longus: r. 6 V = Ka SZ
7 \ Sas An SZ,
Sowohl die direkte als auch indirekte elektrische Erregbarkeit ist also
erhöht. ähnlich wie beim dritten Falle (dem Bruder der Kranken). Diese
quantitative Veränderung tritt überwiegend an der differenten Kathode auf.
Die minimale Reaktion, besonders vom Nerven aus, ist recht klein, es gibt
keinen scharfen Übergang von der Erregbarkeit zur Unerrerbarkeit, ebenso wie
bei ihrem Bruder. Die Erregbarkeit des Fazialis ist nieht so auffallend erhöht
wie die der Extremitätennerven. In qualitativer Beziehung gibt es hier wieder
ähnliche Veränderungen wie beim dritten Falle:
1. Die Erregbarkeit vom Nerven aus weist keine schweren Veränderungen
auf. dagegen die Erregharkeit vom Muskel aus,
2, ist ein ausgesprochener tetanoider Charakter der Zuckung da: die Kon-
traktion und Dekontraktion sind verlängert, bei 5—6 Impulsen in der Sekunde
fließen die Zuckungen in einen Tetanus zusammen; die Erscheinung ist auf-
fallender bei der differenten Anode und zwar am rechten brachioradialis longus
deutlicher als am M. temporalis.
3. Die Differenz zwischen Kathoden- und Anodenwert ist sehr klein. links
besteht sogar eine Umkehrung des Pflüger schen Gesetzes.
4. Die Kontraktionen des Muse. brachioradialis lassen sich bei einem
Schwellenimpuls nach einer kleinen Weile erschöpfen (myasthenischer Typusi.
bei Impulsen von Überschwellenwerten dagegen nicht: hier ist vielmehr ihr
Kontraktionstypus mvotonisch.
5. Bemerkenswert ist auch, daB die elektromotorische Erregbarkeit beim
Msc. brachioradialis früher eintritt als die elektrosensitive an derselben Stelle.
Nach 2 Minuten Hyperventilation traten auch in diesem Falle keine
markanten Veränderungen der elektrischen Erregbarkeit auf, nur am rechten
N. VII (oberer Ast) wurde Umkehrung des Pflüger schen Gesetzes beobachtet.
8.00 V = (KaSZ)
7.50 V = (An SZ)!!!
Subjektiv fühlte die Kranke bei der Hyperventilation nur eine bedeutende
Ermüdung und Erschöpfung (Dr. J. Vitek).
Am 27. 1. (während der Beobachtung an der Klinik) früh ging die
Patientin mehr herum und fühlte von dieser Zeit an eine Schwäche in den
unteren Extremitäten. Sie bemerkte auch in den Armen einen gelinden Schmerz.
sobald sie eine Bewegung machen wollte. Sie führte zwar die Bewegungen
richtig aus, aber mit einer etwas größeren Anstrengung als sonst.
Am 28. 1., früh um 8 Uhr, entwickelte sich ein Anfall, der etwa um Mitter-
nacht begonnen hatte. Er erreichte nicht einen solchen Grad, wie andere An-
fälle. Die Beweglichkeit in allen Muskeln der Extremitäten, des Rumpfes und
des Halses war beträchtlich herabgesetzt, jedoch nicht unmöglich. Die Be-
wegungen mit dem Kopfe um die Vertikalachse geschehen nur in kleinem
Maße und dies nur dann, wenn der Kopf auf dem Polster aufliegt. Wenn wir
die Kranke ein wenig aufheben, sinkt der Kopf kraftlos nach rückwärts und
die Kranke vermag mit ihm nicht die geringste Bewegung auszuführen. An den
oberen Gliedmaßen sind die Bewegungen der Finger am besten erhalten: die
Abduktion und Adduktion der Finger gelingt zwar langsam und unvollständig.
ist aber möglich. Die Bewegungen in den Handgelenken sind stark ein-
geschränkt. Die Beugung in den Ellbogengelenken gelingt nur langsam und
nur in der Supinationsstellung. Bewegungen im Schultergelenk sind nur im
Sinne einer geringen Abduktion und Adduktion und zwar nicht höher als bis
zur Horizontalen möglich. Die Bewegungen des Schulterblattes sind ebenfalls
eingeschränkt. An den unteren Gliedmaßen sind die Bewegungen in allen
Gelenken erschwert: das in die Höhe gehobene Bein füllt kraftlos auf die
Unterlage zurück. Die Gesichtsmuskulatur ist frei. Die ganze übrige Muskulatur
ist schlaff, nirgends bemerkt man einen erhöhten Tonus. Die passiven Be-
wegungen sind in allen Gelenken ausführbar.
Die Sehnenreflexe an den oberen Extremitäten sind erloschen, die Patellar-
retlexe auslösbar, jedoch herabgesetzt.
Sowohl aktive als auch passive Bewegungen verursachen der Kranken
mäßigen Schmerz.
Herzbefund: Die Herzdämpfung im wesentlichen unverändert, MS = 8.8 cm.
(Die Differenz von 0.3 cm gegenüber den vor dem Anfall gefundenen 8.5 cm
ist eher der Ungenauigkeit der Methode als Veränderungen der Herzgröße zu-
zuschreiben.) Der erste Herzton an der Spitze dumpf, an der Bikuspisdalis
leicht gespalten, an der Basis dumpf, ungenau begrenzt. Der zweite Herzton
ist überall gleich stark; bei ruhiger Aktion sind die Herztöne sehr leise; die
Frequenz in der Minute 56—62 Schläge.
Im Laufe des Vormittags hatte die Kranke viermal spontanen Stuhlgang
(zunächst festen, später diarrhöischen); bisher hatte sie, wie sie angab, niemals
zur Zeit des Anfalles Stuhl gehabt. Nach dem Stuhl fühlte sie subjektiv Er-
leichterung und die Lähmung ließ nach. Objektiv hatte sich die Beweglichkeit
bedeutend gebessert, besonders die Muskulatur des Halses und der oberen
Gliedmaßen war beweglicher. Sie konnte schon im Sitzen den Kopf gerade
halten, konnte ihn ein bißchen nach vorn und rückwärts bewegen. Die Finger
hewegte sie viel leichter, auch die Arme emporzuheben gelang ihr, freilich nur
mit einiger Anstrengung. Die Muskelkraft war aber noch immer sehr herab-
gesetzt. Die idiomuskuläre Erregbarkeit war bei einigen Muskeln geschwunden,
hei anderen herabgesetzt.
Die Patellarreflexe waren auslösbar, aber weniger lebhaft als unter normalen
Verhältnissen; der rechte war schwächer als der linke. Nach dem Perkussions-
hammerschlage dauerte die Muskelkontraktion des Patellarreflexes länger;
durch schnelle Schläge ließ sich tetanische Kontraktion hervorrufen.
Der Achillessehnenreflex war ebenfalls auslösbar, doch dauerte die Dekon-
traktion des Gastrocnemius ebenfalls lange.
Die sogenannten Postural-Reflexe an den Schenkel-Flexoren fehlten rechts
gänzlich, links war der Reflex bedeutend herabgeseizt. Das Herabsinken der im
Knie gebeugten Extremitäten erfolgte nach 30—60 “.
Elektrodiagnostische Untersuchung im Verlaufe des
unvollständigen Lähmungsparoxysmus. Es wurden folgende
Werte gefunden:
N. VII. Oberast r. 11 \ Ka SZ
V An SZ
. 15 V = Ka SZ
V = An SZ
Msc. temporalis r.
þh um p jene
2 1 =
x} St
eg
x
N. medianus r.
~]
Jı
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|
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a)
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2 x +)
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SL L SLi TS.
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Msc. branchioradialis long r.
ene
“N= ©
st r
et et a
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S.
N
m
=—=—
.
a,
w!
— 34 —
Die direkte wie indirekte Erregbarkeit ist demnach gegenüber dem Erreg-
harkeitszustand in der Zeit zwischen den Anfällen herabgesetzt. Beim VH. N.
ist auch die Differenz zwischen dem Kathoden- und Anodenwerte größer als
bei der vorhergehenden Untersuchung. Am rechten Muse. brachioradialis liegt
die Reizschwelle bei einem höheren Potential als auf der linken Seite: freilich
ist auf dieser Seite auch die Muskelkraft etwas größer als auf der anderen
Seite. Es hat keinen Eintluß auf den Schwellenwert der direkten Muskelerreg-
barkeit, wenn die Kranke aktiv einige Bewegungen so schnell als möglich
ausführt.
In bezug auf die Qualität bemerken wir keine auffallenderen Abweichungen
von den Veränderungen, die bei der vorausgehenden in der anfallsfreien Zeit
vorgenommenen Untersuchung beschrieben wurden. Der N. VII weist einen
unscharfen Übergang vom Zustand der Unerrerbarkeit zur minimalen Reaktion
auf. Bei der minimalen Reaktion erschöpfen sich jedoch die Muskelkontraktio-
nen auch bei der indirekten Reizung bald. Beim N. medianus scheint die
Dekontraktion der Flexoren entschieden verlangsamt, hat aber keinen auf-
fallenderen tetanoiden Charakter. Die Zuckungen des Msc. temporalis haben
einen nahezu normalen Kontraktionstvpus, nur die Dekontraktion ist etwas
verlängert, aber die Kontraktionen fließen selbst bei den kürzesten Intervallen
(etwa 8 in der Sekunde) nicht zu einem Tetanus zusammen. Dagegen hat die
Erregbarkeit des Mse. brachioradialis longus einen ausgesprochen tetanoiden
Charakter und zwar besonders an der differenten Anode. Die Kontraktion ist
sowohl in der Kontraktion — als auch Dekontraktionsphase verlängert, so daß
die Zuckungen, wenn die Impulse etwa 5mal in der Sekunde aufeinanderfolgen.
zu einem Tetanus zusammenzuflieBen beginnen (Dr. J. Vitek).
29, 1. Die Kranke hatte ruhig geschlafen und fühlte sich morgens schon
vollkommen gesund. Die Motilität war vollkommen normal. Die Patellar-
reflexe noch immer etwas herabgesetzt.
Die elektrokardiographische Untersuchung wurde bei
der Kranken zweimal vorgenommen: einmal in der Zeit, da der einzige und
außerdem nur schwache Anfall schon im Abklingen war (28. 1. nachmittags).
das zweite Mal 3 Tage nach diesem Anfall, zu einer Zeit, da die Kranke angah.
sie fühle das Herannahen eines neuen Anfalles (der sich aber nicht einstellte).
Das Ekgm. vom 28. 1. 1926 war in allen drei Ableitungen ganz typisch und
unterschied sich in nichts Wesentlichem von dem Ekem. vom 1. 2. 1926, das
unter denselben untersuchungstechnischen Bedingungen aufgenommen wurde.
Auch bei diesem Falle, ebenso wie bei ihrem Bruder, glückte es uns nicht. das
Klektrokardiogranm während eines vollständigen typischen Anfalles zu
registrieren und leider haben wir auch bei dem einzigen. wenn auch nur ver-
hältnismäßig schwachen Anfall, den wir überhaupt beobachten Kounten, die
Gipfelphase elektrokardiographisch nicht aufnehmen können,
e
Werte des Kaliums und Kalziums im Blutserum (3. 25:
In 100 com Blutserum sind 20.28 mg K und 9.73 mg Ca enthalten.
Serologische Untersuchung: Reaktion Bordet-Wassermann im
bBlutserum negativ.
B. Aufbau des klinischen Bildes nach eigener
Beobachtung und Vergleichung unserer Befunde mit den
aus der Literatur bekannten Erfahrungen.
In den Grundzügen stimmt das Bild der Krankheit unserer
Patienten und ihrer Verwandten vollständig mit der klassischen
Westphalschen Beschreibung der paroxysmalen Lähmung über-
ein, welche aus der Arbeit „Über einen merkwürdigen Fall von perio-
discher Lähmung aller vier Extremitäten mit gleichzeitigem Er-
löschen der elektrischen Erregbarkeit während des Anfalles“ in der
Berliner klinischen Wochenschrift a. d. J. 1885 bekannt ist, sowie
auch mit den Beschreibungen, welche von nachstehenden Autoren
späterhin veröffentlicht wurden: Fischl, Cousot, Oppen-
heim, Greidenberg, Pulawsky, Goldflam, Hirsch,
Burr, Taylor, Mitchell, Putnam, Crafts, Donath,
Singer-Goodbody, Buzzard und Farquhar, Holtz-
apple, Oddo und Audibert, Infeld., Schlesinger,
Maillhous, Cramer, Orzechowsky, Gardner, Heve-
roch, Sugar, Gatti, Wexberg, A. Schmidt, Serko,
Kaufmann, Kastan, Neustädter, Nonne und Kisaku
Yoshimura. Unsere Fälle vermehren nicht nur die bisherige
groBe Reihe von typischen Fällen der paroxysmalen Lähmung, son-
dern tragen auch zur Erkennung und Abgrenzung einiger Spezial-
symptome dieser Krankheit bei. Ferner bieten sie auch einige Er-
gänzungen zur Symptomatologie dieser Erkrankung.
(sehen wir nun an die ausführliche Schilderung des klinischen
Bildes der Krankheit auf Grund unserer und fremder Beobachtun-
sen über:
1. Hereditärer und familiärer Charakter der Krankheit.
In den Familien aller unserer Patienten leiden immer mehrere
Mitglieder an dieser Krankheit. In der Familie des ersten Patienten
hatte sein Großvater väterlicherseits als erster die Lähmungsanfälle.
Von ihm erbten die Krankheit die beiden Söhne und drei ihrer
Kinder. zwei Vettern des Beobachteten und der Kranke selbst
(Tafel 1). In der Familie des 2. Patienten litt als erste seine Groß-
mutter mütterlicherseits an der Krankheit, dann seine Mutter und
der Kranke selbst (Tafel 2). In der Familie unseres 3. und 4. Falles
((seschwisterpaar) trat die Krankheit zuerst bei der Mutter auf
(Tafel 3).
— 36 —
Tafel |
€
Großvater.
hatte in seinem ganzen Leben nur einige Lähmungsanfälle
ee een,
a) @ Sohn b) @ Sohn
(Onkel unseres Kranken»). (Vater unseres Kranken‘.
hatte einen einzigen Anfall ungefähr Anfälle vom 21. bis 34. Jahre: lebt
im 20. oder 21. Jahre; starb um das |
40. Lebensjahr we \
j
\
bie be ©
der beobachtete starb mit
Kranke ; hatte in der 3 Wochen
Kindheit Fraisen: an Fraisen
Anfälle v. 14. Jahr an
`
\ Rx
oN
0000000000 ad ar €
Anfälle ungefähr vom Anfälle ungefähr vom
20. Lebensjahre an. 20, Lebensjahre (jetzt
Im 24. Jahre starb er zählt er 32 Jahre)
Angaben über diese Kinder an
sind ungenau. Es waren z
mehr Söhne als Töchter. f
Einige starben in der ad
Kindheit 7 i p
0000
t Kinder, jünger als
1 + Jahre, bisher gesund
Schematische Veranschaulichung der Krankheitsverbreitung in der Familie
des ersten Falles (Wi,
Tafel 2
®
Großmutter.
hatte Zustände, bei denen sie sich einige Stunden nieht bewegen konnte
= 7 ;
ERBEN, f | | a
Oe Gop et ae |
000000000000 b 4
a! Die Angaben über diese 12 Kinder b) Mutter.
sind ungenau. Alle starben im jugend- (itt ungefähr vom 20. bis 60. Jahre an
lichen Alter: 11 an Tuberkulose, 1 an [ähmungsanfällen der oberen Extremi-
Krebs. An Lähmungsanfällen litten sie täten. Starb mit 83 Jahren.
nicht: sie hinterließen keine Nachkommen.
é
bi) Der beobachtete Kranke hat seit dem
17. Lebensjahre Lähmungsanfälle.
Schematische Veranschaulichung der Krankheitsverbreitung
in der Familie des 2. Falles (Dr. J. D.).
Der hereditäre und familiäre Charakter der Krankheit war beim
Westphalschen Falle nicht ersichtlich. Zuerst machte auf diese
Beziehung Cousot (im Jahre 1886) aufmerksam und nach ihm wies
sie Goldflam in ganz überzeugender Weise nach. Wie oft in
einer einzigen Familie die paroxysmale Lähmung vorkommen kann,
zeigen am besten die Beobachtungen von Taylor und Holtz-
apple Taylor führt eine Familie mit 11 Fällen paroxysmaler
Lähmung. Holtzapple 17 Fälle (in 4 Generationen) an. Von den
bisher bekannten Fällen weisen nach Schmidt 81 Prozent das
familiäre und hereditire Auftreten der Krankheit auf, während auf
ihr sporadisches Vorkommen nur 19 Prozent entfallen.
In allen Familien unserer Kasuistik ist die Erblichkeit eine
direkte. Aus den größeren Stammbäumen ersehen wir jedoch.
daß sich die Krankheit auch indirekt vererben kann und daß sie
manchmal sogar 3 bis 4 Generationen überspringt. Sie scheint
demnach eher ein „rezessives" als ein „dominantes“ Merkmal im
Sinne der Mendelschen Theorie zu sein (Schmidt).
Zur BR se:
Tafel 3
®
Mutter,
in der Pubertät leichte Lihmungsantille ;
im 39. und tl. Lebensjahre zwei Lähmungs-
antille. Seit dieser Zeit gesund, frisch.
jetzt 65 Jahre alt
we x | N os
Q oe Q E $
P y ` (A h x el s > ie vay : -) ` . `
arep an Tbk.im bi 38 Jahre, © mit 2 di Fall 3, e Falle
Jr on eee ids A : igs is a
25. Jahre gesund Jahren nach L.ähmungs- l.ähmunes-
Ve rbrühung anläle anlälle
| begannen im begannen im
| | 20, Lebensjahre 7. Lebensjahre
| | i ;
| i |
cd O A | | |
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17 ührig. „weijährig
gesund gesund | i
OOCO |
do $ Kinder !
von Ya Jahr í
bis 8 Jahre,
gesund
|
ee |
© $
ey) 13 jährige, eo) 12 jährır.
gesund bekam den
ersten Antall
am Ende des
12. Lebens-
jahres bei der
Menstruation
Schematische Veranschaulichung der Verbreitung der Krankheit in der Famile des
3. und +. Falles.
Sie geht auf die Nachkommenschaft sowohl von den Männern
als auch von den Frauen als direkte Krankheitsträger in der gleichen
Weise über. Die Vererbung ist weder geschlechtsgebunden noch
zeschleehtsbegrenzt. Doch zeigt die Statistik. daß die Männer der
Krankheit mehr ausgesetzt sind als die Frauen — und zwar nach
— 39 — .
&
Schmidt (publizierte Fälle bis 1919) 64 Prozent Männer und nur
36 Prozent Frauen. In der späteren Kasuistik kommt auf die Männer
ein noch größerer Prozentsatz (78 Prozent).
Hinsichtlich des Betroffenseins der einzelnen (Geschwister Kann
keine allgemeine Regel aufgestellt werden (Schmidt). Es wäre
vielleicht interessant, der Frage nachzugehen, ob nicht die Erkran-
kung der Kinder auf irgendeine Art mit ihrer Geburt in bestimmten
Lehensperioden der Eltern zusammenhängt.
Die größere Intensität der Krankheit bei den
späteren (jüngeren) Gliedern der betroffenen
Familien. Wenn wir die Intensität der Krankheit bei den ein-
zelnen Familienmitgliedern beachten. bemerken wir. daß der Groß-
vater unseres ersten Patienten die Anfälle selten hatte (wie schwer
diese waren, wissen. wir nieht). Ein Sohn von ihm bekam nur
einmal im Leben einen Anfall von vollständiger Lähmung. Der zweite
Sohn hatte vom 20. bis 24. Lebensjahre häufige und schwere Anfälle.
ein Vetter des Kranken starb wahrscheinlich im Paroxysmus, der
zweite hatte nach dem 20. Lebensjahre fast wöehentlich schwere
Lähmungsanfälle, die nach dem 30. Lebensjahre abnahmen. Der
Kranke selbst hat schon seit seinem 14. Lebensjahre häufige und
ziemlich schwere Anfälle. Die Großmutter des zweiten Kranken
hatte kurzdauernde und nieht häufige Anfälle (von ihrer Stärke
wissen wir wieder nichts Bestimmtes). Bei der Mutter äußerte sich
die Krankheit in Anfällen, bei denen die oberen Extremitäten schlaff
wurden: sie traten einigemale im Jahre auf, und zwar vom 20. bis
60. Lebensjahre. Der Sohn (Dr. J. D.) bekommt sehon mit 17 Jahren
einen schweren Anfall einer allgemeinen Lähmung und leidet ab-
wechselnd an seltenen schweren und häufigen leichteren Anfällen.
Die Mutter unseres dritten und vierten Kranken hatte nur zur Zeit
der Pubertät leichte Erschlaffungsanfälle und um das 40. Lebensjahr
zwei Anfälle völliger Lähmung: die Tochter hat schwere Anfälle seit
dem 7. und der Sohn gleichfalls schwere Anfälle seit dem 20. Lebens-
Jahre. Die 12jihrige Tochter unserer vierten Kranken bekommt
schon bei ihrem 2. Anfalle eine Dyspnoe.
Bei den ersten Gliedern der von der Krankheit betroffenen
Familie ist also die Krankheit schwächer als bei ihren Nachkommen;
je weiter die Krankheit sich auf die Nachkommensehaft fortpflanzt.
durch um so schwerere Symptome äußert sie sieh: die Lähmungs-
paroxysmen pflegen häufiger. schwerer und länger zu sein. Diese
allgemeine Regel kann man auch aus den Beobachtungen von Gold-
flam, Mitchell, Taylor, Oddo-Audibert u. a. folgern.
— 40 —
d ,
Allerdings ist sie nicht ohne Ausnahme. Eine solche ist in unserer
Kasuistik der Onkel (a) des ersten Patienten. bei dem die Krank-
heit in bezug auf die Häufigkeit der Anfälle schwächer auftrat als
bei seinem Vater.
Es scheint uns auch, daß es eher bei den späteren Gliedern der
Familie zu deutlichen Abweichungen in der’ Konfiguration der Mus-
kulatur kommt, und zwar zu einer mäßigen Hypertrophie einiger
oder mehrerer Muskeln, die einer Pseudohypertrophie ähnlich ist.
So bemerken wir in den beiden ersten Familien unserer Kasuistik
diese Abnormitäten erst in der 3. Generation. Der klassische Fall
Westphal—Oppenheim zeigt jedoch klar, daß auch schon
hei dem ersten Kranken in der Familie Muskelanomalien und sogar
eine ausgesprochene Muskel-Dystrophie auftreten kann.
Besondere Charakterztige der. Krankheit in
verschiedenen Familien und Gleichartigkeit der
Krankheit bei den Gliedern derselben Familie.
Wie andere Familienkrankheiten bestimmte familiär-spezifische
Charakterziige aufweisen, so zeigt auch die paroxysmale Lähmung in
den verschiedenen Familien gewisse Gemeinsamkeiten, die konstant
bei allen betroffenen Familienmitgliedern vorhanden sind. So tritt z. B.
die Krankheit bei den Gliedern derselben Familie oft in dem gleichen
Alter auf, kulminiert und wird schwächer oder schwindet, beginnt
regelmäßig in annähernd der gleichen Tageszeit (bzw. Nachtzeit),
ergreift in der überwiegenden Zahl der Fälle die gleichen Extre
mitäten — in der einen Familie eher das obere, in der anderen
wieder das untere Extremitätenpaar —. hat die gleichen Prodromal-
symptome, sowie die gleichen Beziehungen zu Verdanungsstörungen
und zur Jahreszeit. So beginnen in der ersten beschriebenen Familie
die Lähmungsanfälle beim Vater und beim Sohne zur selben Tages-
zeit, in der Regel zwischen der 12. und 2. Nachtstunde: beim Vater
und Onkel und gleichfalls aueh bei beiden Vettern desselben Kranken
stellte sich die Krankheit nach dem 20. Lebensjahre ein; bei dem
Vater des Patienten hieß sie nach. als er 34 Jahre alt war, und bei
dem Vetter wurden mit 32 Jahren die Anfälle viel seltener und die
Krankheit ließ auch hier nach dem 30. Jahre sichtlich nach. — Die
Lähmung der Mutter in der 2. Familie ergriff nur die oberen Extre-
mitäten, bei dem Sohne pflegen in den leichteren Anfällen gleichfalls
nur die oberen Extremitäten betroffen zu sein und beim Auftreten
einer Lähmung werden sie immer früher, stärker und für längere
Zeit ergriffen als die unteren. Die Lähmung begann bei der Mutter
vegen Morgen, beim Sohne in den Nachtstunden gegen Morgen, in
eu A.
der Regel um die 3. Stunde. Wie die Mutter das ganze Leben hin-
durch an einer hartnäckigen Verstopfung, schmerzhaften Koliken
und Flatulenz litt, so hat der Sohn in ähnlicher Weise habituelle
Verstopfung und bei beiden zeigen die Verdauungsstörungen einen
engen Zusammenhang mit den Lähmungsparoxysmen. — Die vierte
Kranke, Schwester des dritten Patienten, hat auch Prodromal-
symptome, die denen des Bruders sehr ähnlich sind; ihre Anfälle
beginnen gleichfalls in der Regel gegen Mitternacht. Beide haben
im Sommer weniger Anfälle als im Winter und beide leiden an
Obstipation, die, wie es scheint, bei ihnen auf die Lahmungsparoxys-
men einen provokativen Einfluß hat.
Nach den Beobachtungen von Cousot und Schmidt können
manchmal Angehörige derselben Familie auch übereinstimmende
Anomalien des Wachstums aufweisen, oder — wie die Fälle von
Goldflam, Bernhardt beweisen — eine ähnliche Neigung zu
Muskeldystrophien haben.
2, Vorbedinyungen für das Auftreten der Erkrankung in der Familie.
Manchmal tritt die paroxysmale Lähmung in Familien auf, die
mit neuromuskulären oder (selten) Geisteskrankheiten belastet sind.
Sehr oft ist aber in den betroffenen Familien zur Zeit des Auftretens
der Krankheit bzw. vor ihrem Auftreten keine auffallende Belastung
vorhanden. Dem Alkoholismus, der manchmal vielleicht den Boden
der Krankheit zu schaffen scheint, kaun sicherlich kein wichtiger
Anteil an ihrer Entstehung zugeschrieben werden.
3. Die somatische und psychische Konstitution der Kranken.
Wenn wir uns an die Kretschmersche Einteilung halten, so
müssen wir die ersten zwei Kranken unserer Kasuistik nach ihrer
Konstitution am ehesten als „Dysplastiker‘“ bezeichnen. Der dys-
plastische Charakter geht freilich hauptsächlich zu Lasten der auf-
fallenden konstitutionellen Entwieklung der Muskulatur. Der erste
Kranke hat eine auffallend umfangreiche und sich fest anfühlende
Muskulatur der unteren Extremitäten, besonders der Waden, so daß
die äußere Erscheinung an eine mäßige Pseudohypertrophie, jedoch
ohne Funktionsbesehränkung, erinnert; beim zweiten sind die gesam-
ten Muskeln der Extremitäten und des Rumpfes leicht hypertrophisch.
Hierbei haben beide ein recht verschiedenes Aussehen: der erste ist
eher „asthenisch“, der zweite kräftig und „robust“. Ein im großen
und ganzen asthenisches Ausschen hatte nach der Schilderung auch
die Mutter des zweiten Patienten. robust wieder ist der Vetter des
ersten Kranken. Als eine kleine körperliche Abnormität kann man
den 33. Zahn des zweiten Kranken anführen. Beide Kranke aus der
dritten Familie zeigen (wenn wir davon absehen, daß die Hände und
die Füße des dritten Patienten etwas stärker entwickelt sind, als
seiner Größe entspricht), eine im ganzen normale körperliche
Konstitution.
Die Glieder der Familie Cousots, welche von der paroxys-
malen Lähmung befallen wurden, unterscheiden sich von den ge-
sunden Familienmitgliedern durch das auffallend Kleine Wachstum:
sie waren um einen Kopf kleiner. Im Gegensatz hierzu waren wieder
die Sehmidtsehen Kranken höher gewachsen (größer) als ihre
gesunden Geschwister. Eine mächtige Muskulatur. ein auffallend
guter Ernährungszustand (Thoma yer), ein robuster Bau (Heve-
roch) wurden bei den Kranken sehr oft festgestellt. . Bei vielen
Kranken kann man aber. ähnlich wie in der dritten Familie unserer
Kasuistik, keine ausgesprochenen Konstitutionsanomalien äußerlich
am Körper finden. Von sogenannten Derenerationszeichen verzeich-
net Hartwig und Singer und Goodbody Ungleichheit der
Pupillen und nystagmusartige Zuckungen. und Wexberg ange-
wachsene Ohrläppehen und femininen Typus der Schamhaare.
Ber psychischen Konstitution der Kranken wurde in den bis-
herigen Publikationen wenig Aufmerksamkeit gewidmet: die Autoren
begnügen sich gewöhnlich mit der Bemerkung. daß die Kranken
psyehiseh im großen und ganzen normal sind. Auch unsere Kranken
weichen nicht von den weitgesteckten Grenzen des Normalen ab.
Wenn wir aber auf ihre Psyche genauer achten. seheint es. dab
fröhliche, lebhafte, erethische, sanguinische Charaktere vorherrschen,
wie dies auch Singer und Goodbody schön schildern. Ein ander-
mal wieder finden wir einen emotiven. sensitiven Charakter wie in
unserem ersten Falle. Bei diesem Patienten machen wir an dieser
Stelle auch auf seinen besonderen Gesichtsausdruck aufmerksam. der
an den mancher Epileptiker, Narkoleptiker und Somnambulen er-
innert. Die Intelligenz ptlegt normal zu sein.
Was das Geschlechtslelen und die Fruchtbarkeit der Kranken
anbelangt. so seheint in der Mehrzahl der Sexualtrieb rege und die
Fruchtbarkeit recht ereß zu sein: so hatte der Onkel des ersten
’atienten 12 Kinder. der Vetter hatte bis zum 32. Jahre 4, die Groß-
mutter des zweiten Kranken hatte 13 Kinder, die Mutter des dritten
Kranken und der vierten Kranken hatte 5. der dritte Kranke selbst
s AS?
— das zweitemal verheiratet — hat 2 Kinder. Aus den von anderen
Autoren angeführten Stammbäumen sehen wir, daß das auch in
anderen Familien zutrifft.
4. Die Beziehungen der Altersperioden
zum Ausbruch und zum Verlauf der Krankheit.
Wenn wir die Beziehungen der paroxysmalen Lähmung zu be-
stimmten Altersperioden verfolgen, so scheint es, daß gewisse Pe-
rioden für diese Krankheit kritisch sind, sei es, daß sie in ihnen
beginnt, kulminiert oder endet.
Fällt der Beginn der Krankheit schon in die Kindheit, so stellt
sich der erste Anfall am ehesten im Alter von 7 bis 8 Jahren ein.
So ergriff den Westphalschen Kranken die Krankheit mit sieben
Jahren, einen von den Patienten Goldflams und den Kranken
Bornsteins mit acht Jahren, die Patientin Fischls und unsere
Kranke (Fall 4) zwischen dem siebenten und achten Jahre. Es ist
allerdings auch zeitlicherer Beginn bekannt: in den zwei Fällen
Buzzards und Farquhars zeigte sich die Krankheit in der
Zeit. als die Kranken zu laufen begannen. In ähnlicher Weise bekam
auch ihre Mutter die Krankheit in der Jugend. Bei einem Kranken
Golflams trat sie im 5., bei einem anderen im 6. Lebensjahre
auf. . Den Beginn der Erkrankung im 9., 10. und 11. Lebensjahre
sehen wir seltener.
Am allerhäufigsten beginnt die paroxysmale Lähmung in der
Pubertät und da wieder besonders um das 14. Lebensjahr. Gerade
mit 14 Jahren erkrankte ein Patient Cousots, der Mitchells
und seine Mutter, der Student Taylors, der Patient Singers-
Goodbodys, Neustädters und. unser erster Kranke: dieser
gerade an seinem 14. Geburtstage. Aueh die Mutter unserer beiden
letzten Kranken bekam die Lähmung zum ersten Mal mit 13 oder
14 Jahren, die Tochter unseres 4. Falles bei der dritten Menstruation
im 12. Lebensjahr. Holtzapple führt von seinen Fällen sieben an,
bei denen sich der erste Anfall zwischen dem 14. und 16. Lebensjahre
zeigte. Der Kranke Gardners bekam den ersten Anfall mit
15 Jahren, unser zweiter Patient allerdings erst mit 17 Jahren.
Nach der Pubertät sind das 20. und 21. Lebensjahr eine weitere
kritische Periode für die paroxysmale Lähmung. In dieser Zeit be-
ginnt in vielen Fällen die Krankheit — erinnern wir uns nur an den
Kranken Hirschs, Sachnovié, einige Kranke Goldflams.
zwei Patienten Holtzapples und fünf von uns selbst angeführte
Fälle — und in vielen anderen erreicht sie in dieser Zeit den Höhe-
Janota-Weber, Die paroxysmale Lähmung (Abhdl. H. 46). 4
ur AA ta
punkt (Schmidt); so ist es auch bei dem Vater unseres ersten
Patienten und bei seinen zwei Vettern der Fall, von denen einer
mit 24 Jahren wahrscheinlich im Lähmungsanfalle starb.
Im Mannesalter um das,30. bis 35. Jahr läßt in der Regel die
Krankheit nach. Das ist auch bei den Gliedern unserer ersten Fa-
milie der Fall. Bei dem Kranken der zweiten hingegen erreicht
die Krankheit erst ihren Höhepunkt vor dem 30. Lebensjahre.
Zwischen dem 30. und 40., oder in anderen Fällen auch erst im
50. und 60. Jahre, pflegen die Anfälle zu schwinden. Eine Ausnahme
ist Cramers Fall, wo die Krankheit erst im 60. Lebensjahre auf-
trat. In der ersten von uns beschriebenen Familie verschwindet die
Krankheit ungefähr um das 45. Jahr} in der dritten. insoferne man
aus dem bisher vereinzelten Falle Schlüsse ziehen kann, nach dem
40. Jahre und in der zweiten erst um das 60.
Manchmal tritt ein Anfall der paroxysmalen Lähmung vereinzelt
nur in kritischen Perioden auf, worauf die Krankheit für lange Zeit
oder überhaupt nicht mehr wiederkehrt. So bekam die Mutter
unserer letzten zwei Kranken die Lähmungsanfälle in der Pubertät
und dann erst wieder nach einer Pause von 14 Jahrhundert vor dem
40. Jahre (ungefähr 6 bis 7 Jahre vor dem Klimakterium). Der
Onkel unseres ersten Patienten hatte in seinem ganzen Leben um das
20. Lebensjahr einen einzigen Paroxysmus.
Zusammenfassend kann man sagen, daß die paroxysmale
Lähmung a) bestimmte Beziehungen zu den Lebensperioden hat. und
zwar in dem Sinne, daß den früheren Perioden eine auslésende, den
späteren eine hemmende Wirkung zukommt.
b) Es hat weiter den Anschein, daß der Krankheitsverlauf im
sroßen und ganzen ziemlich, auffällig vom Rhythmus der sieben-
jährigen Lebensperioden abhängig ist. Es handelt sich hier nicht
um eine absolute Regel (und es kann sieh auch nicht um eine solehe
handeln), aber wir haben gesehen, daß gerade die Zeit um das 7.. 14.
und 20. bis 21. Jahr für die Krankheit sehr oft kritiseh zu sein pflegt.
Wir nehmen also an, daß die paroxysmale Lähmung in dieser Be-
ziehung ein wertvolles Material für das Studium der Bedeutung der
siebenjährigen Perioden bieten kann, des siebenjährigen Rhythmus
im Menschenleben.
Die Beziehungen der paroxysmalen Lähmung zu den Lebens-
perioden erinnern an ähnliche Verhältnisse einerseits bei den
Myopathien, andererseits bei anderen paroxysmalen Krankheiten
und bei Erkrankungen des vegetativen Systems und des endokrinen
Apparates.
5. Die Paroxysmen.
a) Die Prodrome der Paroxysmen.
Als Prodromalsymptome gehen der Lähmung voraus:
a) verschiedene Parästhesien in den Muskeln und in den Glie-
dern: Gefühle der Steifheit, des Starrseins, von Spannung (z.B. in den
Waden bei unserem ersten Patienten), des Ziehens, des Geschwollen-
seins, der Schwere, der Schwäche, der Mattigkeit (namentlich der
Füße), dumpfe Schmerzen (in den Füßen und Waden bei unserem
dritten Patienten), Ameisenlaufen (Holtzapple), Schmerzen im
ganzen Körper und in den Gliedern (die Kranke Buzzards und
Farquhars hatte das Gefühl, als ob im Epigastrium etwas wühle
und als habe sie Nadeln im Rumpfe und in den Extremitäten), un-
angenehme Gefühle im Kreuz (bei unserem dritten Patienten), Ge-
fühle von Kälte in den Gliedern und Kopfschmerzen.
Ê) Eine allgemeine Abgeschlagenheit — manche Kranke sind
genötigt sich auszustrecken (Holtzapple) —, Schwäche, Er-
müdung, Verschlafenheit.
y) Erscheinungen ausgesprochenen vegetativen Charakters:
Herzklopfen, verminderte Speichelsekretion (bei dem Kranken
Serkos und unserem 3. und 4. Patienten), auffallende Erhöhung
des Appetites (Holtzapple führt an, daß bei manchen Patienten
abends Heißhunger auftritt, nach dessen ausgiebiger Stillung sich
dann in der Nacht sicher ein Anfall einstellt), großer Durst (bei dem
Kranken Westphals und unserem dritten Kranken), Verstopfung
(von unseren Fällen bei dem 2., 3. und 4.) und hierbei starker
Stuhldrang (bei unserem Falle 2), ein anderesmal wieder Durch-
fall (Hirsch); starker Schweiß hauptsächlich an den Füßen,
schon einige Tage und besonders am vorhergehenden Tag der Läh-
mung beginnend und bei unserem zweiten Patienten nachmittags
oder abends knapp vor deren Anfang aufhörend. Das Aufhören des
Schwitzens vor dem Lähmungsanfalle hat hier eine gewisse Analogie
mit dem Aufhören des Körperjuckens bei dem Patienten Gold-
flams, das ihn sonst außerhalb der Paroxysmen meist abends be-
lastigte. Nach der Angabe unseres zweiten Kranken — des Arztes
— kommt auch eine gewisse Gedunsenheit des Gesichtes vor (einige
Tage vor dem Anfalle).
6) Nach Serkos und unseren Beobachtungen geht dem Läh-
mungsanfalle auch ein Umschlagen der guten Stimmung in eine ver-
drossene, reizbare und schreckhafte, von Träumen, manchmal auch
von einer Pollution begleitete voraus (in unserem 3. Falle).
4*
das AG. ze
Ob in Wirklichkeit manchmal eine charakteristische Verände-
rung des Glanzes der Augen besteht (Erhöhung der Tränensekre-
tion?) wie sie von unserem dritten Kranken angeführt wurde, wagen
wir nicht zu behaupten, da wir selbst nicht die Möglichkeit hatten.
sie festzustellen.
Mit diesen Erseheinungen stellt sich oft bereits eine leichte Er-
schlaffung mancher Extremitätenmuskeln ein: bei unserem 3. und
4. Falle bestand die Unmöglichkeit der Adduktion des kleinen
Fingers und der großen Zehen und das Schwächerwerden der
Schnenreflexe mit einer Verlangsamung der Muskeldekontraktion.
Vor schweren Lähmunesanfällen sind in der Regel die Prodromal-
erscheinungen stärker. bei schwächeren geringer. Bei manchen
Kranken stellten sich manehmal Prodromalerseheinungen ohne nach-
folgende Lähmung ein.
b) Der Anfall selbst.
Auch bei unseren Kranken beginnen die Lähmungsanfälle
ebenso wie bei der großen Mehrheit der bekannten Fälle in der Regel
im Sehlafe, und zwar annähernd zur gleichen Nachtzeit — nur aus-
nahmsweise während des Schlafes am Tage —, seltener während
des Wachens. Wie wir gesehen haben. daß die Krankheit eine Be-
ziehung zu bestimmten Lebensperioden aufweist, so richtet sie sieh.
wie es scheint. auch nach dem nykthemeralen Rhythmus.
Unsere Kranken wachen aus dem Schlafe sehon teilweise oder
ganz gelähmt und gewöhnlich schweiBeebadet auf.
Beobachtenswert ist auch ein besonders wnangenehmes Gefühl.
welches dieser Schweiß unserem zweiten Kranken verursacht.
Während Sehmidt behauptet. daß die Kranken anfangs das
Gefühl der Kälte in den gelähmten Körperteilen haben (er schließt
hieraus auf eine anfängliche Ischiimie und zieht theoretische Schlüsse
auf das Wesen der Krankheit). so machen wir darauf aufmerksam.
daß nach unseren Beobachtungen das Kältegefühl keineswegs als
Regel angesehen werden kann: es fehlt nieht nur bei allen unseren
Fällen, sondern wir finden im Gegenteil ein Hitzegefühl. Außerdem
wurde in unserem ersten Falle bei den Anfällen schon morgens eine
Erhöhung der Temperatur objektiv festgestellt. welche wahrschein-
lieh gleieh zu Beginn der Lähmungserscheinungen vorhanden war.
Die Lähmung, das Hauptsymptom der Krankheitsparo-
xysmen, nach denen die Krankheit mit Reeht benannt wird, können
wir bei allen unseren Fällen in ihren wesentlichen charakteristischen
Erscheinungen, die bei der Krankheit auftreten. verfolgen.
=, AT ge
Die Lähmung hat auch in unseren Fällen einen peripheren Cha-
rakter. Ihre Intensität ist verschieden, sowohl was die einzelnen
Paroxysmen, als auch was den Verlauf des einzelnen Paroxysmus
betrifft. Bei schweren Anfällen pflegt die Lähmung gleich anfangs
eine ausgebreitete und starke zu sein und den Höhepunkt in der
Regel in einigen Stunden zu erreichen, nach dem häufig ein mäßiges
Nachlassen und dann wieder eine Verstärkung eintritt.
Während ihrer größten Ausdehnung und Intensität ergreift die
Lähmung fast die gesamte willkürliche Muskulatur, aber nicht gleich-
mäßig und mit gewissen Ausnahmen. Wie bei der Mehrzahl der in
der Literatur beobachteten Fälle bleibt auch bei unseren an der
Lähmung erkrankten Personen die Muskulatur des Gesichtes, der
Augen, der Sprachorgane und die Schluckmuskeln verschont — mit
Ausnahme des zweiten Kranken, bei welehem in manchen Paroxys-
men auch die Gesichtsmuskeln leicht betroffen sind — ähnlich wie
im Falle Taylor, aber weniger als bei dem Kranken Putnams,
hei dem nur eine Beweglichkeit der Augen und Lippen übrig blieb.
Schwächer pflegen die Halsmuskeln, die Atemmuskeln und die
Bauchmuskeln betroffen zu sein. Was die Halsmuskulatur anbelangt,
leiden in unseren, gleichwie bei der Mehrheit der anderen Fälle, am
meisten die Muskeln, welche den Kopf aufrichten. Die Inter-
kostalmuskulatur wird nur bei schweren Paroxysmen gelähmt,
das Atmen geschieht dann überwiegend mit dem Zwerchfelle,
das nach Buzzard und Farquhar immmer verschont
bleibt. selbst dann, wenn die Interkostalmuskeln gelähmt werden.
Durch die Lähmung der Expirationsmuskulatur erklärt sich das Un-
vermögen abzuhusten, zu räuspern. zu niesen, sich zu schneuzen, laut
zu sprechen und zu singen und wir fügen das erschwerte Erbrechen
hinzu. Bei unserem ersten Falle trat während der beobachteten
Paroxysmen keine Lähmung der Bauehmuskulatur auf und es war
möglich, die Bauchretlexe auszulösen. Wexberg löste bei seinem
dritten Patienten die Bauchrellexe nur auf einer Seite aus, Serko
fand sie herabgesetzt.
Die Lähmung hat in der Regel einen rhizomelischen
Charakter, nicht nur bei unseren Kranken, sondern auch bei
der Mehrzahl der publizierten Fälle. Die Muskulatur der Ex-
tremitätenwurzeln wird in der Regel am frühesten, am meisten und
am längsten von der Lähmung betroffen. während die Hand- und
Fußmuskeln verhältnismäßig wenig und zuletzt gelähmt werden.
Nur in den schwersten Paroxysmen schwindet die Beweglichkeit. auch
der Finger vollständig. Das gerade Gegenteil führt nur Goldflam
ee, AL, zn
an, der beobachtete, daB an den unteren Extremitäten gerade die
Muskulatur der distalen Teile am meisten gelähmt wurde. Beachtens-
wert ist es, daß die akrale Muskulatur in manchen Fällen im Pro-
dromalstadium oder zu Beginn der Lähmung oder auch die ganze
Dauer eines leichten Paroxysmus hindurch elektiv betroffen ist, und
hier leiden wieder am häufigsten die Extensoren und Adduktoren des
kleinen Fingers und der großen Zehe — so bei unserem dritten und
vierten Falle. Schon in dem Falle Westphals zeigte sich ein
schwacher Anfall nur in einem halbstündigen Unvermögen, die
kleinen Finger zu adduzieren. Aber auch bei jenen unter unseren
Fällen, bei denen die Lähmung anfangs einen akralen Charakter hat.
nimmt sie, während sich der Lähmungszustand entwickelt und den
Höhepunkt erreicht, einen rhizomelischen Charakter an. — Überein-
stimmend mit Schmidt können wir bestätigen, daß auch die
Beuger weniger betroffen werden als die Strecker.
In der Regel ist die Lähmung fast völlig symmetrisch. Es
kommt auch bei manchem Anfalle zu einem stärkeren Betroffensein
dieser oder jener Extremität oder Scite; aber diese Art der Ver-
teilung pflegt auch bei den verschiedenen Paroxysmen des gleichen
Kranken inkonstant zu sein. In der Mehrzahl der Fälle beginnt die
Lähmung am frühesten in den unteren Extremitäten, ist dort am
stärksten und dauert am längsten. Von unseren Kranken zeigen die
Mitglieder der ersten und dritten Familie diesen Charakter, während
in der zweiten Familie die oberen Extremitäten früher, mehr und
länger betroffen werden.
Wie bei anderen paroxysinalen Krankheiten, sind auch bei der
paroxysmalen Lähmung die Paroxysmen von verschiedener Intensi-
tät und Dauer, wonach man schwere und leichte Paroxysmen unter-
scheiden kann. Derartige Paroxvsmen zweierlei Art sind am schärf-
sten bei unserem zweiten Kranken voneinander abgegrenzt.
Mit der Abnahme der Beweglichkeit schwindet an den ge-
lähmten Muskeln auch die idiomuskuläre, die direkte
undindirekte elektrische Erregbarkeit. Bei unserem
ersten Kranken haben wir sogar die typische sogenannte Kadave-
reaktion geschen. Besonders machen wir anf die qualitativen Ände-
rungen der elektrischen Erregbarkeit aufmerksam. welche wir (mit
der Kondensatormethode) bei einem schwachen Paroxysmus unseres
dritten und vierten Falles verfolgt haben. Während bei indivekter
Reizung nur eine leichte Veränderung der Muskeldekontraktion zu
bemerken war. waren bei der direkten Reizung des Muse. brachi-
oradialis long. die Kontraktionen bei Unterschwellenwerten von
=; „AO, gan
myotonischem Typus und bei Schwellenwerten erschöpfte sich die
Erregbarkeit rasch (myasthenischer Typus), ein Charakter der Elek-
troreaktion, der im Wesen mit ihrem bei unserem 3. und 4. Falle
auch zwischen den Anfällen festgestellten Charakter übereinstimmt.
An den gelähmten Muskeln zeigt sich gewöhnlich keine deut-
liche Hypotonie. Wir haben keine vorübergehende Volumzunahme
im Sinne Wexbergs, Greidenbergs und Serkos ge-
sehen. Die Sehnen- und Periostreflexe sind auch in unseren Fällen
während der teilweisen Lähmung herabgesetzt, während der voll-
ständigen Lähmung sind sie erloschen.
Die Sprache wies in den von uns beobachteten Paroxysmen
bei unserem ersten Kranken neben einer Abschwächung, die durch
die bereits erwähnte Lähmung der Exspirationsmuskeln bedingt ist,
außerdem einen näselnden Beiklang auf, den wir uns durch die kon-
statierte vorübergehende Lähmung des weichen Gaumens erklären.
Eine Störung des Schluckens haben wir nicht gesehen. Schmidt
erklärt die hie und da angeführten Schlingstörungen durch Lähmung
der Halsmuskeln. Es ist jedoch zu erwägen, ob nicht vielleicht auch
in den genannten Fällen eine Lähmung des Gaumens ihre Ur-
sache war.
Die Atmung unserer Kranken war in den beobachteten Paroxys-
men während der stärksten Lähmung oberflächlich, beschleunigt
und von abdominalem Typus, was, wies chon erwähnt, wohl haupt-
sächlich eine Folge der Lähmung der Atemmuskulatur ist, die zu
einer leichteren oder schwereren Dyspnoe führen kann. Allerdings
haben in einigen Fällen wahrscheinlich auch Veränderungen der
Herzaktion an der Dyspnoe Anteil.
Die Lähmung des weichen Gaumens, welche bei
unserem ersten Kranken bei zwei Anfällen beobachtet wurde, konnten
wir in der Literatur der paroxysmalen Lähmung nirgends er-
wähnt finden. Der weiche Gaumen zeigte auch eine deutliche
Hyperämie bei sonst normalem Befunde in der Mundhöhle.
Die ungestörte Funktion der Sphinkteren, wie wir sie
bei allen unseren Kranken sehen, ist die Regel, von der es nur
wenige Ausnahmen gibt. Die Fälle, wo die Kranken nicht urinieren
können und evtl. auch katheterisiert wurden (der Kranke Gard-
ners). erklärt Schmidt einerseits durch die Lähmung der Bauch-
muskulatur, andererseits durch den Mangel an Urin in der Blase bei
reichlichem Schwitzen im Anfalle.
Die Möglichkeit der Erektion schwindet bei der Mehrheit
der Fälle gleichzeitig mit der Motilität der Muskeln. aber manchmal
ME. | e
kann sie, wie bereits Goldflam angeführt hat und wie dies unser
dritter Kranke bezeugt, auch auf dem Höhepunkt des Anfalles er-
halten sein.
Die ungestörte Sensibilität ist eine ständige Erscheinung
bei allen bisher beobachteten Fällen. Die dureh Fischl verzeieh-
nete Herabsetzung der Sensibilität an den gelähmten unteren Ex-
tremitäten stand wahrscheinlich mit gleichzeitiger Hypothermie der-
selben im Zusammenhange. In gleicher Weise wie die Sensibilität
bleiben auch alle Sinnesorgane von der Lähmung verschont.
Die Lähmung fängt immer ohne Schmerzen an. Während der
Lähmung sind nur unangenehme Empfindungen in den gelähmten
Gliedern, und zwar infolge der Unmöglichkeit, die Lage zu ändern,
rerehnäßige vorhanden. Diesen unangenehmen Empfindungen reihen
wir außerdem noch das unangenehme Gefühl beim Schwitzen bei
unserem zweiten Kranken am Anfange des Lähmungsanfalles an.
Das in keiner Weise gestörte Bewußtsein während der
Paroxvsmen kann man als eine ganz Konstante Erscheinung ansehen,
die differenziakdiagnostisch hauptsächlich epileptisehen Zuständen
gegenüber wichtig ist. Holtzapple konstatierte auch bei einem
Kranken, den er im Paroxysmus sterben sah, daß das Bewußtsein
bis zum letzten Augenblick klar blieb.
In bezug auf Veränderungen im Kreislaufapparät
sind die bisherigen Beriehte nieht klar genug. Deshalb haben wir
diesem Punkte eine erhöhte Aufmerksamkeit gewidmet. Am Zirku-
lationsapparat wurde bei vielen veröffentlichten Filler nichts Ab
normales beobachtet: einige Autoren haben dagegen verschiedene
Veränderungen konstatiert. Oppenheim berichtete hezüglich des
Falles Westphals von einer akuten Ilerzdilatation während des
Anfalles, einer Verbreiterung der IHerzlämpfung hauptsächlich nach
rechts. einem energisehen lHlerzspitzenstoß. einem gespaltenen ersten
Hlerzton. an dessen Stelle manehmal ein ausgesprochenes systolisches
Geräusch bemerkbar war, einem sehwachen diastolischen Geräusch
über der Pulmonalis. von unreinen Tönen über der Aorta und Triku-
spiedalis. von einer Verstärkung des zweiten Aortentones und Puls-
beschleunigung. Außerhalb des Anfalles konstatierte er einen nor-
malen Befund. Goldflam fand bei zwei Kranken während des
Anfalles gleichfalls ein systolisches Geräusch au der Basis und eine
Akzentuation des zweiten Tones: eine Dilatation stellte er nicht fest.
Der Puls war in einem seiner Fälle verlangsamt. in einem zweiten
beschleunigt. aber in beiden zeigte sich zeitweise Arythmie. Die
akute Herzdilatation wurde von Hirseh und hauptsächlich von
— 51 —
Fuchs bestätigt, von letzterem auch röntgenologisch. Holtz-
apple sah bei schweren Anfiillen Zeichen einer Herzdilatation und
Schwächerwerden des Pulses. Von Singer und Goodbody
wurde eine leichte Verbreiterung der Herzdämpfung, ein unreiner
erster und akzentuierter, gespaltener zweiter Herzton über der Aorta
sowie aussetzender Puls verzeichnet. Gardner fand eine Verlage-
rung des Herzspitzenstoßes außerhalb der Medioklavikularlinie, ein
schwaches systolisches Geräusch, einen verstärkten zweiten Aorten-
ton und Pulsverlangsamung, auf welche angeblich in kurzer Zeit eine
Dilatation des Herzens und der großen Gefäße erfolgte. Nonne be-
merkte Herzdilatation und ein leichtes systolisches Geräusch. Mit-
chell, Taylor und Crafts nahmen dikroten Puls wahr. Bei
dem Falle Mitehells war gleichzeitig der zweite Pulmonalton ge-
spalten und bei vollständiger Exspiration ein systolisches Geräusch
über der Aorta wahrzunehmen. Schlesinger und Wexberg
führen Bradykardie und Arythmie an. Der Patient Serkos klagte
bei den schweren Anfällen über „Herzklopfen“. Buzzard führt bei
den schweren Anfällen Zyanose und schweren Atem an. Wir selbst
haben bei unserem ersten Patienten während der Lähmung eine be-
schleunigte Herzaktion, einen dumpfen ersten Herzton an der Spitze
und einen verstärkten zweiten Aortenton wahrgenommen. Bei dem
4. Falle zeigte sich bei einem schwachen Anfalle über der Bikuspida-
lis eine Spaltung des ersten Tones.
Unter den zitierten Befunden fällt am meisten die vorüber-
gehende Veränderung der Perkussionsdämpfung des Herzens wih-
rend des Paroxysmus auf. Obwohl wir in unseren Fällen nichts
Ähnliches beobachten konnten, können wir die zahlreichen in dieser
Hinsicht so übereinstimmenden Beobachtungen anderer Autoren nicht
unbeachtet lassen. Wie könnte man nun zu einer Erklärung dieser
Erscheinungen kommen? Es geht zunächst nicht an, wie es in den
zitierten Publikationen meist geschieht, sich mit der Gleichung zu-
friedenzustellen: „vergrößerte Herzdämpfung = Dilatation des Her-
zens“. Man muß mit dem Urteile vorsichtig sein, so lange die Dilata-
tion des Herzens im Anfalle nicht durch wiederholte réntgenologisehe
Beobachtung sichergestellt ist. Es ist nämlich denkbar, daß die Ver-
breiterung der Herzdämpfung durch eine Velumverkleinerung der
Lunge‘) als Folge der Erschlaffung der Inspirationsmuskeln mit
') Diesbezüglich wäre es interessant. den Brustumfang im Anfalle und in
der Zeit zwischen den Anfällen zu messen, sowie eine respirometrische Unter-
suchung vorzunehmen.
— 52 —
Ausnahme des Zwerchfells verursacht wird oder durch die Tonus-
verminderung des Zwerchfells (ohne daß es zu dessen Lähmung
käme), dessen hoher Stand dann eine mehr quere Lage des Herzens
bedingt. Die Auffassung Buzzards und Farquhar, daß die
Verbreiterung der Herzdämpfung ein Zeichen einer Ansammlung
seröser Flüssigkeit im Herzbeutel sei, ist nur eine Annahme. Trotz
aller theoretischen Bedenken läßt sich die Möglichkeit einer wirk-
lichen Ausdehnung der Herzhöhlen im Anfalle nicht a limine aus-
schließen, denn ähnlich wie die Veränderung der Herztöne, die auch
von uns in zwei Fällen beobachtet worden ist, zeigt auch die be-
sondere Veränderung in der Form des Kammerkomplexes des Elek-
trokardiogramms, daß mit dem Myokard bei dem Anfalle „etwas
geschieht“.
Bei den innigen Beziehungen der paroxysmalen Lähmung zur
Dystrophia musculorum progressiva — von der wir unten Erwähnung
tun — ist es notwendig daran zu erinnern, daß auch bei der Dystro-
phia musculorum progressiva manchmal das Herz ergriffen wird und
daß in solchen Fällen einige Autoren (Bunting, Sachs und
Brucks, Goetz, Renecker und Haushalter, Globus)
am Myokard charakteristische Veränderungen gefunden haben.
Die während des Paroxysmus vorübergehend auftretenden Ge-
räusche muß man wohl für akzidentelle Geräusche halten. Ihre Er-
klärung ist schwer, wie es überhaupt bei akzidentellen Geräuschen
der Fall ist. Am ehesten handelt es sich hierbei, wenigstens Dei
Paroxysmen mit beschleunigter Herzaktion und mit Fieber, um Ge-
schwindigkeitsgeräusche. Die Entstehung der Spaltung der Töne
wird vielleieht klarer sein, wenn die betreffenden Personen auch im
Anfalle elektrokardiographisch untersucht werden. Es wäre kein
Wunder, wenn so grobe Veränderungen im Verlaufe der Kammer-
systolen, wie wir sie bei unserem Patienten registriert haben, sich
akustisch auch dureh Spaltung des ersten oder zweiten Tones ver-
raten würden. Die von einigen Autoren erwähnten Veränderungen
der Herzfrequenz und des Rhythmus sind zweifellos als Aube-
rung einer vorübergehenden Abweichung in dem betreffenden indivi-
duellen Gleichgewichte der vegetativen Herzinnervation aufzufassen.
Wir haben von vornherein erwartet, daß die elektro-
kardiographische Untersuchung, die bisher — soweit
uns aus der Literatur bekannt ist — in keinem Falle der paroxys-
malen Lähmung durehgeführt wurde, Licht in das Wesen der Störung
der Herztätigkeit während des Paroxysmus bringen könnte. In der
Tat hat uns diese Untersuchungsmethode zu emem höchst inter-
essanten Befund geführt, den wir auch als eine vorzügliche Stütze
unserer damals nur theoretisch konstruierten Anschauung über die
Pathogenese der Lähmung ansehen können. Die elektrokardiogra-
phische Untersuchung, die wir bei unserem ersten Patienten sowohl
außerhalb des Paroxysmus als auch zur Zeit eines starken Anfalles
vorgenommen haben, hat gezeigt, daß sich während des Anfalles der
Typus des Kammerkomplexes wesentlich ändert. Dieser Komplex,
der in der Zeit außerhalb der Anfälle völlig normal ist, zeigt im Paro-
xysmus in der I. und II. Ableitung eine stark abweichende Form: der
Ausschlag R ist in der I. Ableitung merklich vergrößert, aber nicht
verbreitet. Dagegen sind die Linie 6 und die Welle T bedeutend
erniedrigt, welch letztere eine Zweiphasenform erhält. (Siehe Abb. 2
und 3.) Diese Abweichungen haben weder den Charakter von denen,
welche durch das Übergewicht der Masse der einen Kammer bewirkt
werden, noch von jenen, die durch eine Störung der Koordination im
systolischen Akte verursacht werden. Vergleichen wir sie aber mit
der Form des Elektrokardiogramms, das Rothberger bei hohem
Vagustonus beschreibt („kleine Vorhofwelle, dagegen großer Aus-
schlag R und nur ganz kleine, am häufigsten 2phasige Finalwelle“),
so können wir die sichtliche Übereinstimmung beider Bilder nicht
übersehen. Die gefundenen Veränderungen des Kardiogrammes
ähneln am ehesten den Veränderungen, die durch Gleichgewichts-
störungen zwischen dem Vagus und dem Sympathikus oder im Sinne
der Krausschen und Zondekschen Betrachtungsweise durch
Kalium-Kalziumionengleichgewichtsverschiebung entstehen.
Gardner und Schmidt sprechen von einer Hypertonie
zu Beginn des Paroxysmus, ohne aber bestimmte Zahlen anzuführen.
Wir haben keine Erhöhung des Blutdruckes beobachtet, obwohl bei
dem ersten Patienten der Blutdruck schon morgens einige Stunden
nach dem Beginn der Lähmung gemessen wurde. Wir glauben
nicht, daß es häufig zu einer Erhöhung des Blutdruckes kommt, außer
soweit die Erhöhung des Blutdruckes mit der Beschleunigung der
Pulsfrequenz zusammenhängt. |
Eine aktive Vasodilatation wurde von Holtzapplein
der vermehrten Blutfülle der Schleimhaut der oberen Luftwege und
der Konjunktiven bemerkt. Wir sahen bei unserem ersten Patienten
eine Schleimhauthyperämie des Nasenrachenraumes. Schmidt
weist im Gegenteile auf das blasse Aussehen der Haut des Gesichts
im Beginne und am Höhepunkte der Lähmung hin. Wir haben auf-
fallend blasses Aussehen nie bemerkt.
u ee
Was den Verdauungsapparat anbelangt, so ist während
des Paroxysmus die Dyspepsie eine häufige Erscheinung. Ähnlich
wie bei unseren Fällen zeigt sich in der Mehrheit der Fälle in der
Literatur eine mehr oder weniger bedeutende Appetitsvermindeinng.
Manche Patienten vertragen während der Lähmungen nur leichte
Speisen oder. nur kleine Nahrungsmengen, so z. B. unser dritter
Patient, andere Patienten wieder essen überhaupt nicht. Manche
haben während der Lähmung ein besonderes Verlangen nach be-
stimmten Speisen. Der Patient Singers und Goodbodys hatte
ährend des Anfalles Verlangen nach Obst. Unser dritter Kranke
hat einen besonderen Appetit nach Fleisehspeisen (obwohl er die Er-
fahrung hat, daß vielleicht gerade Ficisehspeisen seine Lähmung
versehlimmern),
Das gleichfalls oft angeführte Belegtsein der Zunge haben wir
nieht beobachtet. Im einer bedeutenden Anzahl von Fällen stellen
sich Nausea und Erbrechen ein. Manchmal beginnt die Lähmung
mit Erbrechen (Goldflam). Bei unseren Kranken aber waren
diese stürmischeren Symptome von Verdauungsstörungen selten.
Obstipation und Flatulenz während der Lähmung ist eine sehr
häufige Erscheinung und zeigte sich auch bei den Gliedern unserer
zweiten und dritten Familie. Wir stimmen mit Schmidt darin
überein. daß die Ursache dieser Erseheinungen wahrscheinlich einer-
seits die Herabsetzung des Tonus und der Peristaluk des Darmrohres
ist, also eine Störung vegetativer Art, anderseits macht sieh sicher-
lieh in manchen Fällen auch «die Lähmung der Muskulatur der
Bauchwand geltend. Dafür, daß dem so ist. bringen wir als Beweis,
daß bei unserem ersten Patienten, bei dem der Stuhl während der
Lähmung ganz rerelmäßie war. zugleich die Banchmuskulatur von
der Lähmung verschont blieb. Das würde eher für die Abhängiekeit
der Verstopfung von der Lähmung der Bauehmuskulatur sprechen.
Den Einfluß der künstlichen Erregung der Darmtiitigkeit auf die
Lähmung erwähnen wir unten.
Chemische Untersuchungen und Versuche über die Toxizitäi
der Fäzes für Tiere haben bisher zu keinem eindeutigen Resultat ge-
führt. Crafts hat festgestellt, daß der Extrakt des Stuhles den
eharakteristischen Niederschlag mit den Briegersehen Alkaloid-
reagenzien gibt (zitiert nach Sehmidt) Atwood sprieht von
einer Ferment-putrefaetion zufolee von Infektion mit dem Baeillus
aerogenes eapsulatus, den er nieht nur bei den mit paroxysmaler
Lähmung, sondern auch bei den gesunden Familienmitgliedern ge-
funden hat.
ei S55 ee
Einer vorübergehenden Vergrößerung der Leber. welche gleich-
falls in seltenen Fällen während des Paroxysmus wahrgenommen
worden ist. sind wir nicht begegnet.
Großer Durst während des Paroxysmus, manchmal sogar eine
sehr trockene Zunge pflegt eine häufige Erscheinung zu sein. Das
Gefühl eingedickten Speichels bei unserem dritten Patienten ergänzt
dieses Syndrom.
Die kleine Urinmenge während der Lähmung (bei unserem
ersten Patienten 420 em* vom spezifischen Gewichte 1014, hei dem
zweiten 1} L. und bei dem vierten 200 cm? vom spezif. Gewichte
1024) stimmen mit den Erfahrungen überein, daß im Paroxysmus in
der Regel die Kranken wenig urinieren. Schmidt führt an, daß
sich Ischurie oder auch Anurie hauptsächlich zu Beginn der Lähmung
einstellen. Das läßt sieh wohl hauptsächlich mit den Schweiß-
ausbrüchen erklären, welche gerade am Anfange der Anfälle sehr
häufig sind. Mit dieser Annahme stimmt auch überein, daß beim
Katheterisieren der Blase nur eine geringe Menge konzentrierten
Urins gefunden wurde In unseren Fällen, wo das Schwitzen zu
Beginn und am Ende des Paroxysmus am häufigsten war, aber mehr
aler weniger den ganzen Anfall hindurch anhielt, sahen wir nach
dem Schwinden der Lähmung und dem Aufhören des Schweißes eine
deutliche Vermehrung des Urins. Im Falle Hirschs. wo es nicht
zum Schwitzen Kam, stellte sich bald eine starke Diurese ein.
Der Urin pflegt — wie auch bei unseren Fällen — in der Regel
frei von Eiweiß und Zucker zu sein. Nur selten erwähnen die
Autoren eine vorübergehende Albuminurie, sogar auch mit einem
Befunde von Erythrozyten. hyalinen Zylindern und Epithelien im
Sedimente (Goldflam, Atwood), Glykosurie (Cramer) und
Azetonurie (Schlesinger).
Schmidt berichtet. daß man während des Anfalles eine Um-
kehrung des Verhältnisses zwischen den Alkali- und Erdalkali-
Sulfaten im Urin, und zwar im Sinne des Chergewichtes der letzteren
findet. Von einer Erhöhung der Sulfatausscheidung spricht auch
Atwood.
Mitchell. Flexner und Edsall fanden, daß einige Tage
vor dem Anfalle und am Anfange des Anfalles die Ausscheidung des
Kreatinins durch den Urin verringert, nach dem Abklingen des
Anfalles aber normal war (zitiert nach Holtzapple).
Holtzapple beobachtete an Personen. die gerade an den
schwersten Anfällen litten. eine verringerte Ausscheidung des Harn-
stoffes. Er schreibt dieser Erscheinung eine große Bedeutung bei der
Erklärung der Pathogenese der Krankheit zu.
Es wurden auch verschiedene Veränderungen in der Ausschei-
dung der Purinstoffe gefunden. Nach Schmidt pflegen im Urin
während des Anfalles und außerhalb desselben die Harnsäure und die
Xanthinbasen fast immer vermehrt zu sein.
Schmidt führt weiter an, daß während der Paroxysmen die
zyklisch gebundene Schwefelsäure in erhöhter Menge ausge-
schieden wird.
Das Auftreten von Indikan im Urin während der Anfälle ist
ziemlich häufig. Wir selbst haben ihn bei unserem ersten. und
zweiten Patienten gefunden, bei beiden war aber Indikanurie auch
außerhalb der Anfälle vorhanden. In der Kasuistik Holtzapples
war Indikan in 49 Prozent der Fälle stark positiv, in 37 Prozent
positiv und in 19 Prozent negativ. (Bei den zur gleichen Familie ge-
hörigen Personen, die an typischen periodischen Kopfschmerzen
litten, was er in den mit paroxysmaler Lähmung belasteten Familien
als Äquivalent der Lähmungsanfälle ansieht, fand er die Indikan-
probe in 55 Prozent stark positiv, in 42 Prozent positiv und in
3 Prozent negativ.)
Goldflam und Crafts fanden während des Anfalles immer
die Briegersche Probe auf Alkaloide positiv.
Goldflam und Crafts stellten auch dureh die Bouchard-
sche Methode eine erhöhte Toxizität. des Urins während der Anfälle
fest. Hingegen kam Taylor zu negativen Ergebnissen. Fuchs
und Schmidt erachten deshalb mit Recht die Frage als ungelöst.
Wir selbst haben diesbezüglich keine Erfahrungen.
Was die erwähnten Befunde in Stuhl und Urin anbelangt, scheint
es uns, daß es angezeigt wäre, die Befunde, welche nur sporadisch
sind und mit dem Wesen der Krankheit keinen direkten Zusammen-
hang haben — wie etwa die Albuminurie, die Zylinderurie, die
Hiimaturie, die Glykosurie, die Azetonurie — von den Befunden zu
sondern, deren Beziehung zu dem Wesen der Krankheit wahrschein-
lich ist oder bei denen man eine solche wenigstens nicht a limine
ablehnen kann.
Vor allem muß hier die Aufmerksamkeit der Indikanurie zuge-
wendet werden. Der Umstand, daß sich bei einer großen Anzahl
von Personen, die an paroxysmaler Lähmung leiden, Indikanurie
während und außerhalb der Anfälle nachweisen läßt, weist allein
schon auf irgendeine spezielle wechselseitige Beziehung beider hin.
Die während der Paroxysmen und in den Intervallen auftretende
a, 357 ze
Indikanurie hängt so enge zusammen, daß wir gezwungen sind, sie
schon hier summarisch zu behandeln. Indikanurie ist ein Anzeichen
eines abnormalen bakteriellen Zerfalles von Eiweißstoffen in den
unteren Partien des Ileums. Da ein solcher Zerfall von Eiweib-
stoffen im Dünndarm am häufigsten als Folgeerscheinung einer
starken Stauung des Dickdarminhaltes bei Verstopfung auftritt, wäre
es leicht möglich, die Indikanurie während des Paroxysmus als Folge
der Verstopfung anzusehen; allerdings dürfen wir hier nicht die Tat-
sache vergessen, daß während des Paroxysmus Indikanurie auch
ohne Verstopfung auftreten kann, wie z. B. bei unserem ersten
Kranken. Dem bakteriellen Zerfall von Eiweißstoffen im Dünn-
darm, welcher demgemäß eine Folge der Lähmung wäre, dürfte
man keinen besonderen Anteil an der Entstehung der Lähmung
zurechnen. Aber es ist trotzdem noch möglich, ja wahrschein-
lich, daß irgendwelche Produkte des bakteriellen Zerfalles der
Eiweißstoffe im Dünndarm resorbiert: werden und daß sie einen
spezifischen Einfluß im Sinne der Autointoxikation auf diejenigen
(rewebe ausüben, die sich an dem Anfalle der paroxysmalen Lähmung
beteiligen. Eine andere — sich aus dem vorhergehenden direkt auf-
drängende — Frage ist es, weshalb es bei einer so großen Anzahl
von an paroxysmaler Lähmung leidenden Personen im unteren Teile
des Ileums zu einem solchen bakteriellen Zerfall von Eiweißstoffen
kommt. Bei gleichzeitiger chronischer Verstopfung kann man sich
diese Erscheinung auf die geläufige Art erklären, nämlich durch den
Übertritt gewisser Bakterien aus dem Diekdarm in den Dünndarm.
Ist keine Verstopfung vorhanden, könnte man daran denken, ob es
sich nicht um eine spezielle konstitutionelle Insuffizienz des Apparates
der Bauhinschen Klappe handelt, dureh die eiweißspaltenden Bak-
terien das Eindringen in den Dünndarm ermöglicht würde. Leider
hatten wir nicht die Möglichkeit, unsere Patienten auf Schluß-
fähigkeit der Bauhinschen Klappe und des Sphincter ileocolicus zu
untersuchen und sind daher gezwungen, uns auf bloße Annahmen
zu beschränken. Eine Tonuserschlaffung der glatten Darmmuskula-
tur, die man als die Ursache der chronischen Verstopfung der Pa-
tienten ansehen kann, und speziell eine Hypotonie des Sphineter
lleocolieus (n. splanchnicus) scheint uns als eine Erscheinung, die
mit einer angeborenen Anomalie der Skelettmuskulatur koordi-
niert ist.
Von anderen Harnbefunden sind eine verminderte Harnstoff-
ausscheidung, eine Vermehrung der Harnsäure, eine Anomalie in der
Ausscheidung der Alkali- und Erdalkalisulfate und eine Herab-
u Bg a
setzung der Kreatininausscheidung vor dem Anfalle und während
desselben, die man mit der anomalen Skelettmuskelfunktion in Zu-
sammenhang bringen könnte, zu erwähnen. Besonders das Verhalten
des Kreatinins könnte die Aufmerksamkeit auf sich lenken, wenn
wir bedenken, daß nach einigen Autoren (Pekelharing, Kure
und seinen Mitarbeitern u. a.) gerade die Muskeln mit überwiegend
statischer Funktion die Hauptquellen des Kreatinins sind und dab
gerade diese Muskeln, wie wir gezeigt haben, am häufigsten und
meisten von der Lähmung ergriffen werden.
Der starke Schweiß, wie wir ihn besonders bei unseren
zwei ersten Patienten sehen, ist ein fast regelmäßiger Begleiter der
Lähmung. Er kommt am reichlichsten zu Beginn und dann wieder
vor dem Ende der Lähmung vor. Manchmal ist er von einem be-
sonderen Charakter. Cousot sah am Gesicht einen 6lartigen
Schweiß, „une véritable séborrhéee huileuse“. Kaufmann führt
an, daß der Schweiß einen auffallend unangenehmen Geruch hatte.
Unserem zweiten Patienten. dem Arzte, verursachte der Schweiß ein
besonders unangenchmes Gefühl. Außerdem kKonstatierte der Kranke
ein Auskrystallisieren des Harnstoffes in der Achselhöhle.
Die Temperatur während der Paroxysmen wurde in der
Mehrzahl der publizierten Fälle normal gefunden. In einigen Fällen.
wie bei den Beobachtungen von Fischl. Singer-Goodbody
und Gardner war sie am Berinne der Lähmung subnormal. Unsere
vierte Kranke erwähnt ein Kältegrefühl am Ende der Lähmung.
Selten wird (und zwar auch schon von Westphal) eine vorüber-
gehende Temperatursteigerung verzeichnet. Sehmidt aber schreibt
alle beobachteten Temperatursteigerungen interkurrenten Krank-
heiten zu. Jedoch spricht unsere Beobachtung bei unserem ersten
Patienten dagegen, daß diese Erklärung von Sehmidt allgemein
gültig und ausreichend ist. Wir haben durch Messungen in der
Achselhöhle während zweier Paroxysmen eine Erhöhung der Tem-
peratur ungefähr um 1 Grad konstatiert. wobei die Temperaturkurve
beide Male einen im ganzen übereinstimmenden Verlauf hatte: zu
Beginn der Lähmung war das Fieber am höchsten und später sank
es allmählich. Wir haben aber keine interkurrente Krankheit gce-
funden, auf deren Rechnung wir die Erhöhung der Temperatur
hätten setzen können. Wir halten daher in unserem Falle das Fieber
für ein Symptom der paroxysmalen Lähmung selbst und nehmen an.
daß eine eventuelle Temperaturerhöhung gleich-
falls in die Symptomatologie der Paroxysmen
einzureihen Ist.
u (RO) “ee
Vom Blutbild während des Anfalles berichtet Wexberg,
daß es Ähnlich dem bei Basedow sei. Goldflam beobachtete im
Anfalle eine mäßige Neutrophilie mit Eosinophilie.e Taylor
(zitiert nach Schmidt) fand ein großes Übergewicht der weißen
lasophilen Blutkörperchen (51—57 Prozent). Wir selbst haben
während des Anfalles nur bei unserem ersten Patienten eine Links-
verschiebung der Neutrophilen bemerkt. Es handelt sich offenbar
stets um so geringfügige und inkonstante Abweichungen, daß man
von irgendeinem spezifischen Blutbilde bei paroxysmaler Lähmung
keinesfalls reden kann.
Der Blutzuckerwert war während des Anfalles bei unse-
rem ersten Kranken gegen die Norm etwas erhöht (105 mg in 100 cm’
Blut). Die glykämische Reaktion, die wir bei ihm während des An-
falles untersuchten, wies eine Erhöhung und Verlängerung der
Hyperglykämie auf, größer als de norma, wobei der Kurvengipfel
interessanterweise weit später erreicht wurde, als es in der Norm
zu sein pflegt. Von Hyperglykämie im Anfalle spricht schon Neu-
städter. Aus dieser kleinen Anzahl von Tatsachen kann man
allerdings keine weitgehenden Schlüsse ziehen. Wir werden von
ihnen noch summarisch bei der Beurteilung des Verhaltens des Blut-
zucker-Niveaus außerhalb der Anfälle Erwähnung tun.
Der Sehlaf während der Lähmung zeigte bei unseren Kran-
ken den gleichen Charakter wie bei der Mehrheit der publizierten
Fälle. Er war unruhig wegen der unangenehmen Empfindungen, die
das Aufliegen in den gelähmten Gliedern verursachte. Auffallende
Schläfrigkeit haben wir nur als Prodromalzeichen bemerkt, während
der Lähmung — wie Fischl und Goldflam — nicht mehr.
Auch bei unseren Kranken zeigt sich als Regel, daß die Lähmung
gewöhnlich im Schlafe beginnt und auch während des Schlafes
wieder aufhört. Wir können gleichfalls die Erfahrung bestätigen.
daß es die Umgebung als Symptom des sich nähernden Endes der
Lähmung ansehen kann, wenn der Kranke während des Paroxysmus
fest einschläft. Nur leichte Paroxysmen pflegen nicht durch Schlaf
beendigt zu werden. Durch die Beendigung der schweren Anfälle
durch Schlaf erinnert die paroxysmale Lähmung sehr an die Migräne
und Epilepsie. Nach den Beobachtungen Fischls scheint es, daß
der Schlaf auch irgendein Äquivalent des Anfalles sein kann. Die
Fischlsche Kranke pflegte plötzlich von Schlifrigkeit befallen zu
werden und sank in einen tiefen Schlaf, der 14 bis 15 Stunde dauerte.
worauf sie sich nach dem Erwachen mit einem kurzen Müdigkeits-
gefühl vollständig gesund fühlte.
Janota- Weber, Die paroxysmale Lähmung (Abhdl H. 46). 5
ur GQ. <is
Was den letalen Ausgang der Paroxysmen betrifft.
ist es schwer zu entscheiden, ob der Tod des 24jährigen Vetters
unseres ersten Kranken zufolge des Lähmungsparoxysmus eintrat
und ob man diesen Fall als weiteren Beleg dafür anführen darf, dab
der Anfall manchmal letal endet. Der Tod im Lähmungsanfall ist
stets sehr selten. Goldflam führte zwei Fälle an, von denen in
einem der Exitus nach einer Venaesectio erfolgte, die vom Arzte im
Anfalle vorgenommen wurde. und in einem zweiten ging angeblich
dem Anfalle eine „Verkühlung‘“ im Bade voraus. Die Angaben sind
hier aber so unsicher, daß Heveroch es nicht für möglich hält, in
diesen Fällen den Tod auf Rechnung der paroxysmalen Lähmung
zu setzen. Sechs Todesfälle während des Anfalles meldet auch
Holtzapple, der einen Todesfall selbst beobachtete: er erzählt.
daß es sich um einen 27jährigen Mann handelte. bei dem nach
30stündiger Dauer des Anfalles eine Erschwerung des Atmens (an-
geblich durch Verlegung der Atemwege durch Schleim), Zyanose,
physikalische Zeichen einer Herzerweiterung und schließlich ein
untastbarer Puls und Exitus eintraten. Aus der Verwandtschaft des
Kranken Atwoods starb ein Vetter im Anfalle beim Erbrechen.
ein anderer bei einer zur Blutuntersuchung vorgenommenen Venen-
öffnung. Zwei Todesfälle beschreibt Schmidt. Er ist der Mei-
nung, daß in einem seiner Fälle der Tod wahrscheinlich durch
Fleischvergiftung eingetreten sei. Im zweiten war es nicht möglich,
eine besondere äußere Ursache sicherzustellen. Der Patient bekam in
einem schweren Anfalle Dyspnoe: der Tod trat unmittelbar nach der
theurapeutischen Entnahme von 250 em? Blut ein.
\Wie wir schon erwähnt haben, pflegt die Todesursache während
des Anfalles am häufigsten entweder Lähmung der Atemmuskulatur
und Herzerschlaffung oder Erstickung durch Sehleim oder Magen-
inhalt zu sein, die der Kranke auszuhusten und durch Erbrechen zu
entleeren nieht imstande ist. Außerdem sind, wie es scheint, einige
— und zwar die nach operativen Eingriffen, besonders nach Blut-
entnahme eintretenden Todesfälle als Kollaps aufzufassen. Allem
Anschein nach haben die Kranken während des Anfalles
eine Kollapsbereitschaft, die in einem Falle nur Ohnmacht, in
einem anderen Exitus herbeiführen kann. So erwähnen wir den
Patienten Mitehells, der nach einer im Anfalle zu experimen-
tellen Zwecken vorgenommenen Venaepunktion einen vorübergehen-
den Kollaps bekam, und den Kranken Wexbergs, der bei einer
Lumbalpunktion ohnmachtie wurde. Dagegen beweist unser erster
a KO
Patient, an dem während der Lähmung eine Ileus-Operation vorge-
nommen wurde, daß die Kranken während des Paroxysmus in der
Chloroform-Äthernarkose auch eine schwere Bauchoperation ganz
gut überstehen können.
c) Dauer und Ende der Lähmung.
Die Dauer der Lähmungsanfälle bewegt sich auch bei unseren
Fällen. — wie dies die Regel ist — zwischen einigen Stunden und
einigen Tagen. Die leichteren Anfälle sind kürzer, die schwereren
Anfälle dauern 2—3 Tage. ‘Vor dem Ende der Lähmung stellt sich
dann manchmal — wie besonders bei unserem ersten Falle — eine
Erhöhung der Transpiration und mehrstündiger ruhiger Schlaf ein,
(wie wir bereits erwähnt haben), während dessen die Lähmung
schwindet, und zwar zuerst aus jenen Muskeln, die zuletzt ergriffen
wurden.
d) Symptome, die sich unmittelbar nach dem
Abklingen der Lähmung zeigen.
Hinfälligkeit, allgemeine Schwäche, das Gefühl des „Zerbrochen-
seins“, Schmerzen in manchen Partien des Körpers, leichter Kopf-
schmerz, herabgesetzte Patellarreflexe, was alles auch bei unseren
Fällen beobachtet worden ist, sind gewöhnlich die Nachklänge des
Paroxysmus nach dem Schwinden der Lähmung. Manchmal stellt
sich, wahrscheinlich dort, wo nur eine Erschlaffung der Bauch-
muskulatur die Ursache der Verstopfung war, gleich nach dem Ende
der Lähmung Stuhl ein, wie z. B. bei unserem letzten Falle, manchmal
aber dauert die Verstopfung, die während der Lähmung bestand,
noch einen Tag. Im Gegensatz hierzu verdient die Diarrhöe Er-
wähnung, die sich bei unserem ersten Kranken, der während des
Anfalles normalen Stuhl hatte, einen Tag nach der Lähmung ein-
stellt. Die vorübergehend erhöhte Erregbarkeit des Nervus facialis
(Chvosteks Symptom). wie wir sie bei unserem dritten Kranken
beobachten können, entspricht der Beobachtung Wexbergs, der
bei drei Gliedern einer Familie, welehe an paroxysmaler Lähmung
litten, in den Intervallen das Chvostek sche Symptom feststellte,
das während des Anfalles fehlte. Diese Erscheinung steht jedenfalls
im Zusammenhange mit der erhöhten elektrischen Erregrbarkeit. die
in der Zwischenzeit der Paroxysmen und auch bei einem schwachen
Anfall bestand.
-
5*
ha AGP ees
e) Mittel, die während des Anfalles eine Herah-
setzung oder ein Schwinden der Lähmung
herbeiführen.
Bei unseren Kranken bewährt sieh gerade so wie bei anderen
als Mittel zum Nachlassen der Lähmung oder zur vollständigen Be-
seitirung schwächerer Anfälle Bewegung der erschlaffenden Glieder
und zwar entweder aktive oder (wenn aktive nicht mehr möglich ist)
passive, Massage, Hervorrufung von Schweiß und die Entleerung des
Darms. Als einen markanten Beweis für den günstigen Eintluß der
Bewegung auf die Lähmung kann man den FallCousots anführen.
wo dem Kranken von allen Gliedmaßen zuletzt die Hand lahm wurde.
welche er gerade bewegte, als er Noten schrieb.
s
f) Häufigkeit der Paroxysmen und ihre unmittel-
baren Ursachen nach den Angaben der Kranken
und der klinischen Beobachtung.
Es scheint, daß sehr viele und sehr verschiedene Momente so-
wohl bei verschiedenen als aueh denselben Kranken bei gegebener
Disposition die Auslösung eines Anfalles bewirken. Vor allem ist
es wahrscheinlich, daß der Rhythmus der Anfälle in gewissem Mabe
von innerlichen Bedingungen abhängt. ähnlich wie wir uns das bei
der Epilepsie und bei anderen paroxysinalen Zuständen vorstellen.
Weiter hängt die Zahl und die Intensität der Anfälle von gewissen
Altersperioden ab. Aus den Angaben unserer vierten Patientin geht
hervor, daß vielleieht auch der Menstruationsrhythmus einen gewissen
Eintluß auf die Anfälle hat: bei dieser Kranken stellten sieh nämlieh.
wenn auch nur in der letzten Zeit. die Anfälle gewöhnlich eine Woche
vor der Menstruation ein. "
Freilieh kann man nicht ali dem, was die Kranken als ein
provokatives Moment angeben, einen ursächlicehen Zusammenhang
mit der Krankheit zuerkennen. Als erwiesen muß man aber ansehen.
daß Ruhe und Untätigrkeit einen provokativen Eintluß auf die
Lähmungsanfälle hat. Bei unseren Kranken springt dieses Moment
nicht so in die Augen, aber der Patient Serkos hatte mehr Anfälle
zu der Zeit, als er eine sitzende Beschäftigung hatte, als in der Zeit.
in der er sieh viel bewegt. Westphal ist es sogar geglückt.
dureh eine einstiindige Ruhe bei seinem Kranken den Anfall expe-
rimentell hervorzurufen. Mit der paradoxen Wirkung der Ruhe aul
die Lähmung stimmt auch die Erscheinung überein, daß die Kranken
BONE >
in der Regel imstande sind, durch ausgiebige Bewegung leichteren
Lähmungsanfällen vorzubeugen. Andererseits zeigt sich — wenn
auch seltener — ein gewisser provokativer Einfluß groBer körper-
licher und geistiger Anstrengungen, wie es bei unserem ersten und
dritten Kranken ersichtlich ist. Singer und Goodbody schrei-
ben nur der Anstrengung einen provokativen Einfluß zu; darin haben
sie sicher Unrecht und übersehen den Einfluß der Ruhe ganz.
Gardner schreibt der Anstrengung beim Fußballspiele einen Anteil
an der Entstehung der Anfälle zu, Buzzard und Farquhar be-
merken aber ausdrücklich, daß sich die Anfälle bei ihren Kranken
immer nur nach einer Anstrengung einstellten, niemals während
derselben. Und es scheint auch uns, daß sich die Anfälle niemals
auf den Höhepunkt einer Anstrengung einstellen, sondern eher
während der Ruhe nach regerer Tätigkeit.
Weleher Einfluß auf die Entstehung der Lähmung einem star-
ken Affekte zuzuschreiben ist — nach Cousot erkennen zahlreiche
Autoren einen solchen Einfluß an — ist schwer zu entscheiden. Bei
seiner Einschätzung ist zumeist der Umstand hinderlich, daß Reiz-
barkeit, Stimmungswechsel, Empfindlichkeit auch eine Prodromal-
erscheinung der Paroxysmen sein kann, und so kann man in der
Regel nicht mit Bestimmtheit behaupten. ob die Aufregung den
’aroxysmus verursacht oder schon durch denselben bedingt ist.
Trotzdem ist es wahrscheinlich, daß die Aufregung und die Angst
vor der Operation bei unserem ersten Kranken ebenso wie die An-
strengung und das Leid unserer vierten Patientin bei dem Tode ihres
Mannes (wozu noch die Schwangerschaft kam) an der Entstehung
der unmittelbar darnach eingetretenen Paroxysmen einen gewissen
Einfluß hatten. Hier führen wir auch an, daß sich bei unserer
Kranken der Anfall in der Brautnacht. einstellte.
Ein Einfluß auf die Lähmung wird auch in den vielen Fällen
einer bestimmten Kost und Verdauungsstörungen zugeschrieben. Bei
einigen Kranken — wie z. B. auch in unserem zweiten Falle — treten
diese Ursachen in einer besonders markanten Weise in den Vorder-
erund. Wie eben in diesem Falle, so pflegt auch bei anderen be-
sonders eine opulente Kost als provokative Ursache der Anfälle an-
geführt zu werden. Viele Kranke behaupten. es gehe ihnen besser,
wenn sie weniger essen. Goldflams Patient fastete sogar aus
diesem Grunde und magerte ab. Bei manchen Kranken haben schein-
bar bestimmte spezielle Speisen einen besonderen Einfluß auf die
Krankheit; so führt Gardner Käse und Selehwaren, Crafts
Käse und eingemachtes Obst. Serko Fische an. bei unserem zweiten
=e 0 ee
Patienten haben wahrscheinlich auch Fische und außerdem vielleicht
Butter einen ungünstigen Einfluß. Nach der Angabe unseres dritten
Kranken kann Fleisehkost während des Anfalles eine Verschlimme-
rung der Lähmung bewirken.
Die interessante Erscheinung, daß sieh der Anfall in der Regel
in einer Nacht einstellt. welehe einem Feiertage folgt oder über-
haupt an einem Tage. welcher weniger alltäglich ist (in der Nacht
vom Sonntag auf den Montag bei dem.Kranken Gardners, in der
Nacht von Sonnabend auf Sonntag beiden PatientenHoltzapples.
in der Nacht nach dem 14. Geburtstag bei unserem ersten Patienten.
nach dem Weihnachtsabend bei unserem zweiten Falle und bei der
Mutter unseres dritten und vierten Kranken und ähnlich), läßt sieh
einerseits durch relative Körperruhe an «diesen Tagen erklären.
andererseits gerade dureh ein opulenteres Essen oder dureh eine
bestimmte Speise, die nicht selten bei vielen Familien an bedeut-
sameren Tagen in stereotyper Weise zubereitet wird. So ist auch
unser zweiter Patient — der Arzt — der Ansicht. daß der Genuß
von Fischen die Ursache eines besonders häufigen Auftretens seiner
’aroxysmen gerade an den Weihnachtstagen war. Möglicherweise
war die provozierende Ursaehe auch bei den zwei schweren Pa-
roxvsmen bei der Mutter unserer dritten und vierten Kranken eine
ähnliche. Gardner meint. daß die provokative Ursache der
sonntigigen Paroxysmen bei seinem Patienten entweder die große
Anstrengung beim Fußballmatch war (an dem er sich Sonntag regel-
mäßig aktiv beteiligte) oder reichliches Essen.
Viele Patienten schreiben dem Genusse einer größeren Menge
Alkohols oder eines stark alkoholhaltigen Getränkes einen ungünsti-
een Einfluß auf die Krankheit zu. Alkohol führt auch unser dritter
Kranke als eine von den Ursachen seiner Paroxysmen, aber es ist
uns nieht gelungen. bei ihm den Paroxysmus durch Alkohol experi-
mentell hervorzurufen. Andere Kranke (z. B. auch der Vater
unseres ersten Kranken) betonen ausdrücklich. daß das Betrinken
keinen Anfall herbeiführt.
Aus dem Umstande, daß bei einer großen Anzahl Kranker dem
Anfalle eine Obstipation vorausgeht, die früher nicht vorhanden
war, oder daß sich eine Verschlimmerung einer ehronisehen Obsti-
pation einstellt — wie von unseren Fällen beim zweiten, dritten
und vierten und bei der Mutter des zweiten — kann man sehbeBen,
daß die Stockung des Darminhaltes gleichfalls ein provokatives
Moment der Anfälle ist. Bei manchen Kranken. wie bei unserem
ersten Fall. zeigt sich aber kein Einfluß der Verstopfung selbst anf
ir |
die Krankheit. Er bekam überhaupt keinen Lähmungsparoxysmus
während seines Ileus, der vier Monate dauerte, wodurch er dem
Kranken Goldflams gleicht, der in der Zeit einer Typhlitis
keinen Anfall hatte. Auf Grund dieser Beobachtungen schließen
wir uns der Meinung Goldflams an, daß die Bedeutung der Ver-
stopfung in der Ätiologie der Paroxysmen, wenn sie auch empirisch
bedeutend ist, nicht überschätzt werden darf, wie es manchmal
geschieht.
Nach der Mitteilung unseres zweiten Kranken — des Arztes —
könnten wir der Ansicht sein, daß vielleicht auch die starke Ge-
wichtszunahme eine Vermehrung der Paroxysmen bewirkt, während
das Abmagern ihre Anzahl herabsetzt. Demgegenüber hatte unsere
vierte Patientin drei Jahre hindurch während der größten Gewichts-
zunahme keinen Anfall, bekam aber die Anfälle wieder, als sie an
Gewicht abnahm. Es scheint also manchen Patienten das Dick-
werden nicht gut zu tun, anderen wieder das Abmagern, ganz analog
wie das bei manchen Epilepsie- und Migränefällen bekannt ist.
Unserer Meinung nach darf man auch die Temperatureinflüsse
als provozierende Momente der Krankheit nicht außer acht lassen.
Angaben über Erkältung, der wir auch bei allen unseren Kranken
begegnen, muß man allerdings mit einer besonders großen Reserve
aufnehmen. Unser zweiter und unser dritter Patient haben sich aller-
dings vor dem ersten Anfalle erkältet. In ganz ähnlicher Weise wie
unser zweiter Kranke hatte sich auch die von Mailhous erwähnte
Patientin stark verkühlt, jener im Regen, diese im feuchten Grase.
Einen ungünstigen Einfluß der Kälte auf die Krankheit führt außer
anderen Autoren auch Kastan an. Demgegenüber meint Gold-
flam,daß Wärme die Entstehung der Paroxysmen fördert. Gold-
flam schließt das daraus, daß er bei seinen Kranken im Sommer
öfters Anfälle bemerkte als im Winter. Unterschiede in der Häufigkeit
der Paroxysmen in den verschiedenen Jahreszeiten existieren —
wie es scheint — manchmal wirklich, eher aber scheinen die Anfälle
im Winter häufiger zu sein; so hatte die Kranke Kaufmanns im
Winter nach je 4—5 Tagen Anfälle, im Sommer dagegen nach je
4—6 Wochen. Atwood führt gleichfalls an, daß die Anfälle bei
seinem Fall im Winter häufiger waren. Schließlich geben auch
unser dritter Patient und die vierte Kranke an, daß sie im Winter
mehr Anfälle haben. Möglicherweise reagiert in diesen Fällen die
Krankheit wirklich nur spezifisch auf warm oder kalt, wir schließen
aber nicht aus, daß sich hier vielleicht Saisoneinflüsse geltend machen.
— 66 —
Auch Infektienskrankheiten können ein auslösendes Moment
sein, wie es besonders nach den Beobachtungen Westphals und
Fisehls zu sein seheint, wo dem ersten Anfall der paroxysmalen
Lähmung Scharlach vorausging. Bei der großen Kompliziertheit der
biologischen Veränderungen und Vorgänge. die die akute Infektion
kennzeichnen und begleiten. ist es allerdings sehwer, auch nur zu
ahnen, worin der provokative Einfluß der akuten Infektionskrank-
heiten bestehen könnte.
g) Unzrewöhnlieh lange Pausen zwischen den
Paroxysmen.
Im Verlaufe der Krankheit stellen sieh manehmal unter mehr
oder weniger merkwürdigen Umständen jange Pausen ein. So
führen wir eine viermonatige Pause zwischen den Paroxysmen
unseres ersten Kranken in der Zeit an. als er einen Heus hatte, beim
zweiten eine vierjährige Pause die Zeit des Weltkrieges hindureh. bei
dem dritten eine sieben- bis achtmonatige Pause gleichfalls während
des Krieges. während des Aufenthaltes in einem Krankenhause, dann
bei der vierten Kranken eine dreijährige und hierauf eine halbjährige
Pause während des Aufenthaltes in- der Fremde und während der
Schwangrersehaft und der Laktation. Von einer langen. vom 14. bis
39. Jahre sich erstreekenden Pause, die bei der Mutter unseres 3. und
4. Kranken auftrat, und die wir mit der Einwirkung der Alters-
perioden in Beziehung bringen, haben wir schon Erwähnung getan.
— Insofern es im großen und ganzen möglich ıst. über die Ursachen
dieser auffallend langen Pausen ein Urteil zu fällen. ist es in unserem
ersten Falle Klar, daß der Heus auf den Verlauf der paroxysmalen
Lähmung einen günstigen Einfluß hatte, sehwer ist es aber zu zaren.
auf welche Art sich derselbe geltend machte. A priori müßten wir
nach den Berichten aus der Literatur erwarten, daß Obstipation,
Stagnation des Darminhaltes und körperliche Ruhe eher eine Ver-
schlimmerung der Krankheit nach sieh ziehen werden — von dem
Falle Goldflams abgesehen. wobei dem Patienten die Anfälle
während emer Typhlitis aufhörten. Poeh trat genau das Gegenteil
ein. Es läßt sich vermuten. daß die Abmagerung auf das Sehwinden
der Paroxysmen einwirkte, am ehesten aber die Änderung der ge-
wohnten Kost und der Lebensweise, Auf die Entstehung der Anfälle.
die gerade vor der Heusoperation eintraten, hat dann wohl, wie
gesagt, die Einwirkung eines starken Affektes einen Hauptanteil.
Die Änderung der Lebensbedingungen., der Lebensweise und der
Nahrung fällt eher bei der Erklärung der langen Pausen zwischen
u AGT 2
den Paroxysmen bei unseren anderen Kranken ins Gewicht. Aber bei
keinem von ihnen dürfen wir uns die Ursache so einfach vorstellen,
daß es sich vielleicht nur um eine Einschränkung bezüglich des Essens
oder um Entbehrungen handelte, denn alle diese unsere Kranken
hatten in der Zeit der Pause Essen — auch was die Fleischspeisen
anbetrifft — zur Genüge, der zweite Kranke hat sich sogar während
einer langen Pause einige Male bemüht. durch eine opulente Mahlzeit
den Anfall bei sich hervorzurufen. Bei der vierten Kranken scheint
es. als ob die Gewichtszunahme die Hauptursache des dreijährigen
Ausbleibens der Paroxysmen gewesen wäre. Man muß auch an
eventuelle Klimatische Einflüsse denken, mit einer gewissen ..Um-
stimmung“ des Organismus infolge der Umgebungsänderung usw.
Bezüglich des Einflusses der Schwangerschaft und Laktation auf die
Anfälle hat schon Cousot bemerkt. daß bei Frauen die Paroxysmen
nach der Geburt verschwanden.
Die paroxysmale Lähmung erinnert uns hier durch ihr merk-
würdiges Verhalten an verschiedene Krankheiten des vegetativen
Nervensystems und an sogenannte anaphylaktische Erscheinungen,
auf die oft Ursachen einen Einfluß haben, die untereinander entgegen-
gesetzt, manchmal scheinbar unbedeutend, manchmal dunkel sind.
6. Der Zustand der Kranken in der Zeit zwischen den Parorysmen.
Außerhalb der Paroxysmen fühlten sich unsere Kranken — wie
auch sonst bei den meisten Fällen — gesund, ihre Bewegunesfähig-
keit ist normal und sie können auch wie jeder andere gesunde Mensch
schwere Arbeiten verrichten. Der objektive Befund weist keine
groben Abweichungen von der Norm auf. Trotzdem finden wir bei
feinerer Untersuchung gewisse Abnormitäten. und zwar vor allem
an den Muskeln.
Wir haben sehon erwähnt, daß manche Kranke eine äußerst
starke Entwieklung einzelner Muskelgruppen (so bei unserem ersten
Kranken die Flexoren der unteren Extremitäten, hauptsäehlieh die
Wadenmuskeln) oder der gesamten Skelettmuskulatur (wie bei
unserem zweiten Patienten) zeigen, die das eine Mal mit keiner Funk-
tionsbeschränkung, ein anderes Mal mit einer andauernden Herab-
setzung der Muskelkraft verbunden ist (z. B. im Falle Westphal-
Oppenheims). Im letzten Falle handelt es sieh höchst wahr-
scheinlich um eine Pseudohypertrophie. Es ist sehr schwer zu ent-
scheiden, ob man auch in den Fällen mit äußerst stark entwickelten
Muskeln ohne Funktionshesehriinkune von einer Pseudohyper-
trophie sprechen kann, oder ob man hier an eine eigenartige für
e SE as
paroxysmale Lähmung selbst charakteristische Muskelanomalie
denken soll. Es scheint uns, daß heute weder die klinische Beob-
achtung noch die bisherigen histologischen Befunde und die Unter-
suchung der elektrischen Erregbarkeit — wie wir noch weiter unten
zeiren werden — imstande sind, diese Frage definitiv zu lösen.
Wahrscheinlich kommt es in einigen Fällen der paroxysmalen Läh-
mung zu einer Kombination mit einer wirklichen Muskeldystrophie
(wie in den Fällen Westphal-Oppenheims und Bern-
hardts), aber die eigenartigen Differenzen der elektrischen Erreg-
barkeit, der wir (siehe unten!) in manchen Fällen begegnen. lassen
vermuten, daß es sich manchmal um eine eigenartige Muskelanomalie
handelt.
Mit den Muskelanomalien geht bei manchen Kranken ein Er-
löschen oder eine Herabsetzung mancher Reflexe, hauptsächlich der
Periost- und Sehnenreflexe, Hand in Hand. Eine Herabsetzung oder
ein Erlöschen der Patellarreflexe, wie wir es bei unserem zweiten
Kranken sehen, ist sehr häufig. In gleicher Weise können die soge-
nannten posturalen Reflexe betroffen sein, die bei unserem zweiten
Kranken vollständig fehlen und beim dritten bedeutend herabgesetzt
sind. Auch der Pharyngealreflex kann. wie wir bei unserem dritten
und vierten Falle sehen, fehlen.
Gewisse Abweichungen bezüglich der elektrischen Erregbarkeit
der Muskeln auch in der Zeit zwischen den Anfällen — bemerkte
Goldflam. Andere Autoren geben die elektrische Erregbarkeit. in
den Intervallen meist als normal an. Erwähnt muß werden, daß ge-
rade die Patienten Goldflams eine äußerst stark entwickelte
Muskulatur hatten, und manche Autoren fassen die von Goldflam
konstatierten Abweichungen der elektrischen Erregbarkeit so auf,
daß es sich vielleicht nur um eine zufällige Kombination mit Pseudo-
hypertrophie handeln könnte. Goldflam schließt bei seinen Pa-
tienten jedoch gerade auf Grund der Untersuchung‘ der elek-
trischen Erregbarkeit, sowie des histologischen Befundes eine ge-
wöhnliche Muskeldystrophie aus. Bezüglich der elektrischen Erreg-
barkeit fand er eine Herabsetzung sowohl der direkten als der in-
direkten faradischen und galvanischen Erreebarkeit, weiter eine
balq eintretende Erschöpfung der Muskeln bei Schwellenreizen (er
schreibt: „Dio Stromintensität,. die soeben genügte, eine Kontraktion
hervorzurufen, löst bald keine Zuckung mehr aus“). Bei Über-
schwellenwerten fand Goldflam den myotonisehen Typus der
Reaktion. ausgesproehener bei der direkten als bei der indirekten
Reizung: er meint aueh, daß es sich um eine partielle Entartungs-
==: 160. ae
reaktion handle. Unser Befund bei unserem dritten und vierten Falle
stimmt mit dem Goldflams überein, insofern als diese den
mvasthenischen Typus der Reaktion bei Schwellenwerten und den
myotonischen bei Überschwellenwerten zeigen. Außerdem haben wir
manchmal die Umkehrung des Pflügerschen Gesetzes beobachtet,
einen unscharfen Übergang von der Erregbarkeit zur Unerregbarkeit
und manchmal tritt die elektromotorische Erregbarkeit früher auf
als die elektrosensible. Im Gegensatz zu Goldflam haben wir
niemals eine partielle Entartungsreaktion gesehen, auch keine quan-
titative Herabsetzung der elektrischen Erregbarkeit, im Gegenteil —
die elektrische Erregbarkeit war bei allen (drei) untersuchten Fällen |
in den Intervallen zwischen den Paroxysmen erhöht. Die quanti-
tative Erhöhung der elektrischen Erregbarkeit war das einzig Ab-
weichende in der Reaktion bei unserem zweiten Falle.
Die Frage, ob die gefundenen Abweichungen auf die paroxysmale
Lähmung selbst zu beziehen sind, scheint durch unseren dritten und
vierten Fall im positiven Sinne beantwortet zu sein. In diesen
Fällen besteht nämlich keine klinisch nachweisbare Muskeldystrophie
oder eine sonstige Krankheit, auf deren Rechnung jenes abweichende
Verhalten gesetzt werden könnte.
Die erwähnten Abweichungen sind in manchen Punkten denen
der verschiedenen Muskelkrankheiten ähnlich. So gleichen sie
durch das Auftreten des myotonischen Typus dem der Thomsen-
schen Myotonie (bei der wir auch — wie bei paroxysmaler Lähmung
— neben dem mvotonischen Typus einer myasthenischen Komponente
begegnen) und durch die Erhöhung der elektrischen Erregbarkeit den
Peritzschen Befunden, die bei Dystrophia musculorum progressiva
an jenen Muskeln festgestellt wurden, welche von der Dystrophie
verschont geblieben waren. Doch scheinen sie, wenigstens in
manchen Fällen (so unser Fall 3 und 4) zu zahlreich und zu mannig-
faltig, um direkt auf eine von diesen Krankheiten bestimmt hinzu-
weisen. Wir wollen noch erwähnen, daß sie sehr den sarkoplas-
matischen Reaktionen ähnlich sind. die wir entweder bei fibrillen-
armen oder durch eine toxische Noxe (z. B. durch Veratrin) ge-
schidigten Muskeln finden.
Obwohl die Änderungen der elektrischen Erregbarkeit freilich
nicht bei allen Fällen komplett vorhanden sind (Fälle Goldflams
und unser 3. und 4. Fall) und die von Goldflam und uns ge-
fundene Befunde noch einer Bestätigung dureh gründliche Unter-
suchung anderer Fälle bedürfen. glauben wir, daß man kleine Ab-
normitäten der elektrischen Erregbarkeit. und zwar hauptsächlich
den Komplex: leichte Erhöhung der direkten sowie der indirekten
Erregbarkeit, der myasthenische Typus der Reaktion bei Schwellen-
werten und der myotonische bei Uberschwellenwerten, manchmal
auch die Umkehrung des Pflügersehen Gesetzes, ein unscharfer
Übergang von der Erreebarkeit zur Unerregbarkeit und früheres
Auftreten der clektromotorischen Erregbarkeit gegenüber der elektro-
sensiblen (wie wir bei unserem 3. und 4. Fall beobachtet haben)
gewissermaßen für paroxysmale Lähmung als typisch bezeich-
nen kann.
Wir selbst hatten keine Gelegenheit, Muskeln histologisch zu
untersuchen. Die Befunde anderer Autoren in dieser Richtung
werden wir später erwähnen.
Unter den Störungen des Vertlauungsapparates verdient die
Indikanurie ein besonderes Interesse, deren wahrscheinlichen Ent-
stehungsmechanismus und Bedeutung wir bereits früher besprochen
haben. Die röntgenologische Untersuchung des Gastrointestinal-
traktes ergab bei dem ersten Patienten (nach der Operation des
Ileus in der Zeit außerhalb des Anfalles) normale Verhältnisse. bei
dem zweiten die Symptome einer habituellen Obstipation.
Im morphologischen Blutbilde fanden Goldflam. Taylor.
Crafts.SinererundGoodbody in den Intervallen eine mäßige
Leukozytose. Aus diesen Befunden läßt sich aber kein bestimmter
Schluß ziehen, ebensowenig wie aus denen während der Anfälle.
Bezüglich der ehemisehen Zusammensetzung des Blutes finden
wir nur in der Arbeit Kisaku Yoshimuras eine sichtliche
Veränderung des Verhältnisses zwischen Mg und Ca, und zwar im
Sinne einer Mg-Vermehrung. Bei unserem vierten Falle wurde der
Ca-Wert im Blutserum in der Zeit zwischen den Paroxysmen herab-
gesetzt, der K-Wert normal gefunden (9.7 mg Ca und 20.3 mg K in
100 em? Serum).
Das Blutzuckerniveau im nüchternen Zustande wurde von uns
vrewöhnlieh etwas über die Norm erhöht gefunden. Das Ergebnis der
Untersuehungen über provozierte Hyperglykämie läßt
sieh folgendermaßen zusammenfassen: In der anfallsfreien Zeit erhöht
eine entsprechende Gabe von Glykose wie auch eine Adrenalin-
injektion das Blutzuekerniveau stärker und länger als normal. Der
Höhepunkt der Reaktion wird gewöhnlieh um die 30.—50. Minute
erreicht. Trotz der ziemlich hohen absoluten Blutzuckerwerte kam
es nie zu einer Glykosurie. Die Erklärung dieses Verhaltens ist
allerdings schwer. Wenn wir aber die einzelnen Bedingungen für
die Entstehung einer ähnlichen glykämischen Reaktion erwägen, so
gelangen wir zu der Ansicht, daß es sich hier wahrscheinlich nur
um zwei Möglichkeiten handeln kann: 1. Um eine leichte Störung
der neuro-vegetativen Regulation des Blutzuckerniveaus, 2. um einen
Einfluß einer Beteiligung, bzw. Nichtbeteiligung des Muskelgewebes.
Denn wir haben hier weder Symptome eines Dys- resp. Hyperthyreoi-
dismus, noch Zeichen einer Pankreasinsuffizienz (schon die Art der
glykämischen Kurve nach Glykose schließt sie aus), noch Anzeichen
einer gröberen Störung der Leberfunktion. Wie groß die Rolle einer
Störung der neurovegetativen Blutzuckerregulation in unseren Fällen
ist und wie weit wir berechtigt sind, eine solche zu supponieren, ist
natürlich fraglich. Es scheint uns jedoch die Vermutung recht an-
nehmbar, daß die von uns beobachtete Verlängerung der
Hyperglykämie einer verminderten Fähigkeit des Muskelgewebes.
den Blutzucker rasch genug zu verbrauchen. zuzuschreiben ist. Wir
kommen später noch auf diesen Punkt zurück.
Bei der bei unserem ersten und dritten Patienten vorgenommenen
(Götschschen Adrenalinprobe zeigte sich nach der Injektion von
Adrenalin ein im großen und ganzen normaler Einfluß anf den Blut-
druck und die Pulsfrequenz. Jedoch könnte vielleicht das Auftreten
von Extrasystolen bei dem ersten und leichte Blutdrucksenkung in
den ersten Minuten bei dem zweiten Kranken sowie eine Verzöge-
rung und längeres Andauern der Reaktion und die gleichzeitige
Verengerung der Pupillen auf eine erhöhte Erregbarkeit des Para-
sympathikus (im Sinne Dresels) hinweisen.
Die Pilokarpinprobe, die bei unserem dritten und vierten Falle
vorgenommen wurde, bot in der Zeit außerhalb der Paroxysmen keine
grundsätzlichen Abweichungen von der Norm, ebenso wie sie auch
hei unserem ersten Kranken während des Paroxysmus im großen
und ganzen normal war.
Bei der Prüfung der Widalschen Hämoklasie stellte sich bei
unserem dritten Patienten nach dem Genusse von 200 em? Milch ein
Sinken des Blutdruckes (von 10085 auf 92/65 nach 40 Minuten und
auf 85/60 nach 60 Minuten — gemessen nach Vaquez-Laubry) ein,
aber niemals eine Leukopenie.
Bei der Untersuchung auf Idiosynkrasie gegen Nahrungsmittel.
die wir mittels Kutanproben mit den „Diagnostie Protein Extracts”
von Parke, Davis & Co. bei unseren drei ersten Fällen durehgeführt
haben, zeigte sich, daß die stärkste Reaktion die Fleiseharten gaben,
und zwar bei dem ersten Kranken Schweinefleisch. beim zweiten ein
Proteinextrakt, der aus Rindfleisch. Kalbfleisch. Schöpsenfleiseh und
— 72 —
Schweinefleisch gemischt ist, beim dritten Proteinextrakt von Rind-
fleisch. Außerdem war auch bei dem ersten Kranken eine starke
Reaktion auf Kuhmilch vorhanden. Allerdings fordern die Erfah-
rungen, die man mit der Prüfung der Natur verschiedener krank-
hafter Symptome mit Hilfe von allergischen Hautreaktionen machte.
zu einer besonderen Vorsicht auf, sobald wir sie zur Erklärung der
Genese dieser Erscheinungen benützen wollen — was besonders
auch in unserem Falle gilt. |
Die elektrokardiographische Untersuchung in der Zeit zwischen
den Anfällen bot bei allen unseren Kranken ein normales Bild. Als
beachtenswert sehen wir die Veränderungen der Herztätigkeit und
besonders des Elektrokardiogramms bei unserem dritten Falle nach
intravenöser Injektion von Adrenalin, die wir bereits oben (Seite 25)
besprochen haben. Der Umstand, daß sich die Herzfrequenz am
Anfange der langsam verabreichten Adrenalininjektion auffallend
verlangsamte, daß sie in der Zeit der vollen Wirkung der applizier-
ten Dosis rascher wurde und sich aufs neue verlangsamte, als ihr
Einfluß im Abklingen begriffen war, bezeugt eine bedeutende Erreg-
barkeit des Vagussystems, der schon auf minimale Adrenalindosen
prompt reagiert, und ein relativ niederes Tonusniveau des
Sympathikus, welcher nicht einmal beim Maximum der Adrenalin-
wirkung die Herzfrequenz über die Ziffer vor der Injektion erhöht.
Das Übergewicht des Vagus kann man auch (wenn auch mit einer
bestimmten Reserve) darin sehen, daß während der Zeit, wo das
Adrenalin seine höchste Wirkung entfaltete, die Welle T stark
negativ war. Zusammenfassend kann man sagen, daß diese Ver-
änderungen der Herztitigkeit und die Änderungen des Elektro-
kardiogramms nach einer intravenösen Injektion von Adrenalin für
eine bedeutende Labilität der vegetativen Innervation des Herzens
sprechen, besonders aber für eine erhöhte Empfänglichkeit des Vagus-
apparates für den Einfluß des Adrenalins.
7. Versuche, die Lähmungsanfälle künstlich auszulösen.
Westphal ist es gelungen, einen Lähmungsanfall durch
Ruhe künstlich auszulösen, Orzechovski und Kastan durch
eine subkutane Adrenaliminjektion. Freilich sagt Orzeehovski.
daß es nur gelungen sei, den Anfall durch Adrenalin zu be-
sechleunigen. Der Anfall stellte sieh ungefähr 20 Minuten nach der
Injektion ein. Uns ist es nicht gelungen, weder dureh Ruhe, durch
subkutane oder intravenöse Injektion von Adrenalin. noch durch
eine größere Dosis starken. Alkohols oder Hyperventilation einen
Anfall hervorzurufen.
8. Die Therapie.
Bezüglich der Therapie müssen wir die Erfahrung bestätigen,
daß die bisherige spezielle medikamentöse Behandlung keine oder
nur bescheidene Aussichten auf Erfolg hat. Erfolglos waren bei
unseren Kranken Jod, Brom, Chinin, Trisalin, Vitaminol, Moorbäder
(was alles den Kranken durch andere Ärzte ordiniert worden war);
ebenso haben wir keinen günstigen Erfolg von dem durch Schmidt
empfohlenen Kalzium gesehen. Der Mißerfolg der Kalziumtherapie
ist jedoch begreiflich, da Überschuß an Kalzium gerade eine solche
Veränderung in der Grundeinstellung der Skelettmuskelzelle ver-
ursacht, die eine Tonusverminderung (Overton u. Simonsohn)
und Erregbarkeitsherabsetzung (N othman n) derselben herbeiführt.
Am ehesten erscheint uns noch ein therapeutischer Erfolg bei
jenen Fällen möglich, bei denen man eine opulente Kost oder be-
stimmte Speisen und die Obstipation als auslösende Momente der
Lähmungsanfälle erkennen kann. Hier tritt durch eine Regelung
der Lebensweise, durch eine entsprechende Diät und durch die
Regelung des Stuhles manchmal wirklich Verringerung der Zahl der
Anfälle oder wenigstens ihrer Stärke ein, wie das in unserem zweiten
Falle zutrifft. Auch kann man bei der Therapie die Erfahrung aus-
nützen, das eine Änderung des Körpergewichtes manchmal von Ein-
fluß auf die Anfälle ist. Freilich muß man hier individualisieren:
manchmal muß man sich bemühen, eine Abmagerung, manchmal eine
Zunahme herbeizuführen. Es ist auch eines Versuches wert, den Pa-
tienten auf eine Zeit den Aufenthaltsort wechseln zu lassen.
Bei der Lähmung selbst kann man sich vor allem die Erfahrung
zunutze machen, daß aktive und passive Bewegungen den Grad der
Lähmung herabsetzen. Man kann auch von der Massage und dem
Schwitzen Gebrauch machen. Wenn Obstipation besteht, so empfiehlt
sich ein Klysma. Die Lage der gelähmten Gliedmaßen muß wegen
der unangenehmen Gefühle oft geändert werden. Einen günstigen
Einfluß der Anwendung des Pilokarpins während der Anfälle, von
dem Orzechovski spricht, haben wir nieht beobachtet. Bei
unserem ersten Kranken hat scheinbar die Chloroform-Äthernarkose
das Ende des Anfalles beschleunigt. vielleieht dadurch. daß sie einen
tiefen Schlaf herbeifiihrte. Da man hier aber nicht mit Sicherheit
andere Einflüsse ausschließen kann. wagen wir nicht, in dieser Hin-
sieht bestimmte Schlußfolgerungen auszusprechen. Es wäre inter-
te. A dos
essant. sowohl den Einfluß der Narkose als den der Hypnotika auf
die Lähmung während des Anfalles zu prüfen. Wir selbst hatten
hierzu keine weitere (relegenheit.
9. Die Proynose.
Die Prognose ergibt sich aus dem geschilderten klinischen Bilde
von selbst. Quoad vitam ist sie, wie man bei der Mehrzahl der Fälle
sieht. gut. Bei der Beantwortung der Frage, wann die Anfälle mög-
licherweise nachlassen, wird uns in erster Linie die Erfahrung leiten.
daß dieselben im späteren, und zwar bei den Gliedern derselben Familie
in annähernd dem gleichen Alter zu schwinden pflegen. So Können
wir unserem ersten Patienten voraussagen, daß bei ihm, vielleicht
wenn er glücklich die Mannesjahre erlebt. die Krankheit um das
35. Jahr schwinden wird. bei dem dritten und vierten Kranken hin-
gegen um das 40. Lebensjahr herum: bei dem zweiten könnten wir.
wenn wir nach seiner Mutter urteilen, nicht ausschließen, daB mög-
lieherweise leichte Anfälle sieh auch noeh nach dem 50. Jahre ein-
stellen werden, aber es scheint. daß die Krankheit in diesem Falle
schon jetzt an Heftigkeit sehr abnimmt. Bezüglich der Eheschließung
müssen wir die Patienten allerdings immer darauf aufmerksam
machen. daß die Krankheit sieh auf die Kinder vererben kann.
10. Differenzialdiagnostische Bemerkungen.
Wir halten es nieht für notwendig. über die Differentialdiagnose
zwischen der paroxysmalen familiären Lähmung und anderen Krank-
heiten ausführlich zu sprechen. denn wir sind ganz der Meinung
Heverochs. daß „das Krankheitsbild ein so scharf ausgeprägtes
ist. daß die Krankheit nicht mit einer anderen verwechselt werden
kann, wenn man vollständig untersucht“. Gerade unvollständige
Untersuchungen sind die Hauptursache diagnostiseher Irrtümer. Die
Diagnose „Rheumatismus® kann nur bei sehr nachlässiger Unter-
suchung gestellt werden. Einer Hysterie oder Simulation ähnlich
kann die Krankheit bei einem Anfalle vielleicht beim ersten Anblick
aussehen, aber der Verlauf und die Anamnese müssen bald auf den
richtigen Wer lenken. Der Epilepsie gegenüber ist das hauptsäch-
lichste differentialdiagnostische Zeichen. daß bei den Anfällen das
Bewußtsein erhalten bleibt. Früher wurde gelegentlich die paroxys-
male Lähmung mit Malaria verwechselt. Heute kommt jedoch die
Differentialdiagnose gegen die „Malaria“ kaum in Betracht. Ziem-
lich schwer kann die Differentialdiagnose gegenüber der Landry-
schen Paralyse sein (Goldflam). Wenn zufälligerweise ein an
u “YR es
paroxysmaler Lihmung leidender Mensch plétzlich an einer Landry-
schen Paralyse erkrankte, die rasch zum Exitus fiihren wiirde, so
wäre cine richtige Diagnose, wenigstens ohne Prüfung der elek-
trischen Erregbarkeit, vielleicht überhaupt unmöglich. Nach
Schmidt könnte differentialdiagnostisch manchmal noch die tran-
sitorische Lähmung in Erwägung kommen, welche der Myotonie ver-
wandt ist, bei der aber Hypertonie besteht, weiter die Myasthenie, bei
der die Muskulatur in einem krankhaften Dauerzustand mit typischer
elektrischer Reaktion ist, Erbs Bulbärasthenie, die sich durch den
schleichenden Verlauf unterscheidet sowie durch den Umstand, daß
hauptssächlich die Hirnnerven ergriffen sind, und zuletzt die Ger-
liers-Krankheit (vertige paralysant), die gegenüber der paroxys-
malen Lähmung hauptsächlich durch Schwindel und Sehstörungen
charakterisiert ist.
11. Beziehungen der paroxysmalen Lähmung zu anderen
Krankheiten.
Schon auf Grund der klinischen Beobachtung ist es klar, daß die
paroxysmale Lähmung zu vielen Krankheiten in besonderen ver-
wandtschaftlichen Beziehungen steht.
Eine unbestreitbar innige Beziehung hat die paroxysmale Läh-
mung zu den Muskeldystrophien. Wollen wir auch die Anomalien
der Muskelkonfiguration, die Abnormitäten der elektrischen Erreg-
barkeit und der Sehnenretlexe, die sich bei den an paroxysmaler
Lähmung leidenden Kranken auch in den Intervallen zwischen den
’aroxysmen zeigen, als Erscheinung einer eigenartigen, der paroxys-
malen Lähmung selbst zugehörigen Muskelanomalie zuschreiben, so
bleibt es eine sichere Tatsache, daß es sich um Erscheinungen
handelt, die einer Pseudohypertrophie ähnlich sind. Ferner spricht
für die Verwandtschaft der paroxysmalen Lähmung mit den Muskel-
dystrophien der Umstand, daß sich im Verlaufe der Krankheit in
einigen Fällen eine ausgesprochene Muskeldystrophie entwickelt (wie
am deutlichsten der Fall Westphal-Oppenheims bezeugt)
oder innerhalb derselben Familie dem Auftreten der paroxysmalen
Lähmung bei solehen Mitgliedern vorangeht. die von paroxysmaler
Lähmung nicht ergriffen wurden, wie nach der Bernhardtsehen
Beobachtung. (Bernhardts Patient selbst. der die paroxysmalen
Lähmungsanfälle mit zehn Jahren bekam, litt schon seit seiner Kind-
heit an muskulärer Dystrophie.) Schmidt erkennt zwar den Bern-
hardtschen Fall überhaupt nicht als paroxysmale Lähmung an,
aber auf Grund der Beschreibung scheint es sieh doch um diese
Janota-Weber, Die parosysmale Lähmung (Abhadl. H. 46), 6
oa, WE ne
Krankheit zu handeln. — Endlich weisen wir auf die gleiche Art des
Betroffenseins der Muskeln bei beiden Krankheiten hin. und zwar
auf den rhizomelisehen Charakter. Aus allen diesen Tatsachen
sehließen wir. daB bei beiden Krankheiten vielleicht ein und derselbe
Apparat — das Muskelsystem selbst — freilich jedoch auf ver-
schiedene Art — in Mitleidenschaft gezogen ist.
Auch mit der Thomsenschen Myotonie ist die paroxysmale
Lähmung verwandt. Jedoch scheint die Verwandtschaft, die sich
fast: nur auf einige für die Myotonie tvpischen Abnormitäten der
elektrischen Erregbarkeit beschränkt (aus gewissen Ähnlichkeiten
des histologischen Befundes beider Krankheiten, die Goldflam zu
sehen glaubt, wäre es verfrüht, bestimmte Schlüsse zu machen), nicht
so innig zu sein als die mit der Muskeldystrophie, weil es — soweit
uns bekannt ist — niemals weder bei den an paroxysmaler Lähmung
leidenden Kranken noch in ihren Familien zu ausgesprochenen kli-
nischen Erscheinungen der Thomsenschen Myotonie kam.
Auch existieren zwischen der paroxysmalen Lähmung und der
Tetanie gewisse Berührungspunkte, so die erhöhte elektrische Erreg-
barkeit und das Vorhandensein des Chvosteks-Reflexes beim Kranken
Wexbergs in den Intervallen und bei unserem dritten Falle un-
mittelbar nach dem Anfalle. Die genannten Phänomene stehen wohl
mit der Hypokalzinämie (allerdings nach Zondek mit relativer
Kaliumvermehrung) im Zusammenhange, wie wir sie bei unserem
vierten Kranken festgestellt haben (in den anderen Fällen wurde nicht
auf Hypokalzinämie untersucht). Wir wollen jedoch daraus nicht
schließen, daß die paroxysmale Lähmung endokrin so wie die Tetanie
bedingt ist, sondern wollen nur darauf aufmerksam machen, daß in
beiden Fällen gewisse Züge in der Muskelbeschaffenheit ähnlich sind,
die wahrscheinlich auf ähnliche physikalisch-chemische Humeral-
oder Gewebsbedingungen zurückzuführen sind.
Saehnovic, Higier und Bornstein nehmen auf Grund
des Auftretens der paroxysmalen Lähmung und der Epilepsie bei
denselben Kranken oder in denselben Familien eine verwandtschaft-
liche Beziehung der paroxysmalen Lähmung mit der Epilepsie an.
Schmidt will hingegen diese Fälle von paroxysmaler Lähmung
nieht als solehe anerkennen. Higier propagiert sogar für die
paroxysmale Lähmung die Bezeichnung „Epilepsia paralytiea“, aber
sein Fall ist recht zweifelhaft; in Wirklichkeit handelte es sich
wohl um Epilepsie und keineswegs um paroxysmale Lähmung. Nicht
näher bekannte „Krampfanfälle“ hatte mit acht Jahren auch der
Kranke Singers und Goodbodys. Serkos Patient hatte in
en gg pees
der Kindheit Krampfanfälle. An spasmophilen Krämpfen im frühen
Kindesalter litten gleichfalls unser erster Kranke und seine
Schwester, die daran auch gestorben ist. Außerdem machen wir auf
den Umstand aufmerksam, daß die angegebenen provokativen Ur-
sachen der Lähmungsanfälle denjenigen ähneln, die wir als solche
bei epileptischen Anfällen kennen, so namentlich Exzesse im Essen,
bestimmte Speisen und Getränke, Verdauungsstörungen, die Men-
struation usw. Ruhe wird nicht so oft beim epileptischen Anfalle als
provokatives Moment erwähnt wie beim Anfalle der paroxysmalen
Lähmung; trotzdem gibt es genug Epilepsien, bei denen der Anfall
während der Ruhe eintritt. Wenn wir weiter bedenken, daß bei
der paroxysmalen Lähmung besonders die Ruhe nach starker körper-
licher Anstrengung für die Entwicklung eines Anfalles günstig ist,
und daß dasselbe für die Epilepsie zutrifft, so ist auch hier eine
Analogie zwischen beiden Krankheiten zu finden. Wenn wir also
auch von den Beobachtungen Sachnoviés, Higiers und
Bornsteins absehen, halten wir es doch für sehr wahrscheinlich,
daß eine gewisse Verwandtschaft zwischen der paroxysmalen Läh-
mung und der Epilepsie besteht.
Als sicher bewiesen kann man die Verwandtschaft der paroxys-
malen Lähmung mit der Migräne ansehen. Gardners Patient,
der die paroxysmale Lähmung mit 15 Jahren bekam, hatte von
Kindheit an Migräneanfälle, die mit dem Auftreten der paroxysmalen
Lähmung verschwanden. An Migräne litten auch seine Mutter und
ein Bruder. In der von Holtzapple beschriebenen Familie hatten
einmal die Eltern Migräne und ihre Kinder paroxysmale Lähmungen,
das andere Mal wieder kam bei den Eltern die paroxysmale Lähmung
und bei Kindern Migräne vor; einige Familienmitglieder litten so-
wohl an paroxysmaler Lähmung als auch an Migräne Mit 20 bis
30 Jahren stellten sich bei ihnen an Stelle der Kopfschmerzen An-
fälle von paroxysmaler Lähmung ein oder beide Paroxysmen alter-
nierten. Holtzapple meint, daß in seinen Fällen paroxysmale
Lähmung und Migräne nicht bloß zufällig nebeneinander bestehen,
sondern daß der periodische Kopfschmerz ein wirkliches Äquivalent
der Lähmungsparoxysmen darstellt und daß beide Krankheiten ge-
meinsame Ursachen haben. Wir haben bereits oben angeführt, daß
Holtzapple auch bei den an periodischen Kopfschmerzen leiden-
den Familienmitgliedern im Harne Indikan gefunden hat (stark
positiv bei 55% der Fälle, positiv bei 42%, negativ bei 3% ), Ähnlien
wie bei den an paroxysmaler Lähmung leidenden Mitgliedern. Mi-
gräne hatte auch die Mutter des Kranken Atwoods. Von der Ver-
6*
u G o s
wandtschaft der paroxysmalen Lähmung mit der Migräne macht
auch schon Mitchell Erwähnung. Zuletzt spricht für sie auch
unser zweiter Fall, bei dem wir neben Anfällen von paroxysmaler
Lähmung typische Migräncanfälle finden. Hier scheinen nun
die Migräneanfäle den Lähmungsparoxysmen einige Zeit
(gleichsam als Vorboten) voranzugehen. Endlich weisen die
provokativen Momente der paroxysmalen Lähmung und der Migräne
im großen und ganzen dieselbe Ähnlichkeit auf, wie wir sie bei der
Epilepsie gesehen haben.
Wir machen in diesem Zusammenhang auch darauf aufmerksam.
daß man bei der Migräne, ebenso wie bei der Epilepsie und wie bei
der paroxysmalen Lähmung allergisehe Hautreaktionen nachge-
wiesen hat. und daß Storm van Leeuwen in der Allergie die
Ursache mancher Anfälle von Migräne-Epilepsie sieht (Moog). So
weist auch Schmidts Beobachtung, daß einer seiner Kranken in
der Kindheit Disposition für Urtikaria hatte, sowie die Beobachtung
von Atwood, daß der Großvater seiner Kranken an Asthma litt.
auf eine gewisse Verwandtschaft der paroxysmalen Lähmung mit
allergischen Phänomenen hin. Wir erinnern hier an den bereits im
Jahre 1912 ausgesprochenen Gedanken Heads, daß die paroxvs-
male Lähmung auch Ausdruck der anaphylaktischen Reaktion auf
bestimmte Nahruneseattungen sein kann.
Selten ist das Vorkommen von Geistesstörungen in Familien.
deren Mitglieder an paroxysmaler Lähmung leiden. Nur Neu-
städter erwähnt, daß zwei Vettern seines von paroxysmater
Lähmung betroffenen Patienten geisteskrank waren”).
Während wir den Eindruck haben, daß bei den muskulären Dys-
trophien dasselbe Muskelsystem wie bei der paroxysmalen Läh-
mung (wenn auch in anderer Weise) ergriffen ist, hat es den An-
schein. daß die Epilepsie. Migräne und die allergischen Ersehet-
nungen mit der paroxysmalen Lähmung einen bestimmten vegetativen
Zug gemeinsam haben, der sich namentlich auch in der provokativen
Wirkung ähnlicher Momente auf die Anfälle äußert.
Zu Tuberkulose, Karzinom, Typhus., Angina, der Grippe, den
Varizellen. dem Seharlach, der Cholelithiasis und anderen Krank-
heiten, die bei Patienten mit paroxysmaler Lähmung vorkommen.
hat die paroxysmale Lähmung anschemend keine tieferen Be-
*, Leider gelang es uns nieht, Neustädters Originalarbeit zu er-
halten und festzustellen. um welche Geistesstörungen es sieh in seinen Fällen
handelte.
ur WG, ents
ziehungen. Das gleichzeitige Auftreten dieser Krankheiten halten
wir vielmehr für ein zufälliges Zusammentreffen.
Weder in den bisher publizierten Fällen noch auch in unseren
Fällen zeigt die paroxysmale Lähmung irgendwelche Beziehung
zur Lues.
ll.
Die Pathogenese.
Der Umstand, daß die paroxysmale Lähmung eine erbliche Er-
krankung ist, daß sie auch in den Familien nur einige Mitglieder
ergreift und daß die Heredität nicht nur eine direkte, sondern auch
eine indirekte ist — das alles spricht für eine Konstitutionsanomalie
als Grundlage der Krankheit. Diesen Charakter der paroxysmalen
Lähmung bezeugt auch die Tatsache, daß die von dieser Krankheit
befallenen Personen nicht selten noch andere Konstitutionsanomalien
zu erben pflegen, besonders Abweichungen im Körperbau von be-
stimmtem Typus oder Dispositionen zu anderen Konstitutionskrank-
heiten, so Migräne, Epilepsie, Urtikaria u. a. In der erblichen Kon-
stitutionsanomalie muß also der Grund gesucht werden, warum be-
stimmte Personen zur paroxysmalen Lähmung disponiert sind. Das
Bestehen einer Disposition an und für sich scheint bei der paroxys-
malen Lähmung also unbestreitbar. Einer Klärung bedarf aber
erstens die Frage: Welcher Teil des Organismus ist konstitutionell-
abnormal und bedingt die erwähnte Disposition? Zweitens: worin
besteht eigentlich diese, die Disposition bedingende konstitutionelle
Anomalie des betreffenden Organes oder Gewebes oder Systems?
Nach Beantwortung der die Disposition betreffenden Fragen
tritt an die Erwägungen über die Pathogenese der paroxysmalen
Lähmung die weitere Aufgabe heran: die Ursachen zu zeigen. warum
sich die Krankheit zu einer bestimmten Zeit zu äußern beginnt, sowie
aufzuklären, auf welche Weise es zum Anfalle kommt.
Vor allem wollen wir sehen, inwiefern die pathologisch-anato-
mischen Befunde auf diese Fragen Antwort geben, worauf wir die
Ansichten verschiedener Autoren über die Pathogenese der Krank-
heit und zuletzt unsere eigenen anführen werden.
— so —
A. Die pathologisch-anatomischen Befunde
und ihre Bedeutung für die Erklärung des Wesens
und der Genese der paroxysmalen Lähmung.
Für das Studium des Wesens einer Kraukheit ist das Urteil der
pathologischen Anatomie immer von grundlegender Bedeutung: des-
wegen wenden wir auch bei der paroxysmalen Lähmung unsere Auf-
merksamkeit zuerst der pathologischen Anatomie zu.
1. Nekropsie.
Die Anzahl der Sektionsbefunde bei der paroxysmalen Lähmung
ist sehr gering. Die Kranken sterben regelmäßig an einer banalen
interkurrenten Krankheit und werden nicht obduziert, oder wenn es
dazu kommt, unterbleibt eine spezielle Untersuchung. Wichtig sind
zwei Sektionsbefunde von Kranken Schmidts, die im Paroxysmus
gestorben sind. Soweit uns bekannt ist, sind es überhaupt die ein-
zigen verwertbaren Sektionsbefunde bei paroxysmaler Lähmung.
Im ersten Falle handelte es sieh um einen Kranken (Schmidt
führt dessen Lebensälter nicht an), der einige Jahre an schweren, aber
nicht allzuoft auftretenden Lähmungsparoxysmen litt und bei dem
sich der tödliche Paroxysmus nach dem Genusse einer verdorbeneu
Wurst unter den Anfanessymptomen einer Fleischvergiftung ent-
wickelte. Am dritten Tage der Lähmung trat Kollaps und Exitus
ein. Bei der Sektion fand man eine akute Gastroenteritis, eine akute
Dilatation des Herzens, an dem bis zum letzten Anfalle nie etwas
Pathologisches entdeckt worden war, und eine Hyperämie sämtlicher
inneren Organe. Am Zentralnervensystem waren weder makrosko-
pische noch mikroskopische Veränderungen wahrnehmbar (der Autor
macht von der Technik der histologischen Untersuchung keine Er-
wähnung). Der Sektionsbefund spricht also für eine akute Ver-
viftung und Tod durch Erstiekung. — Der zweite Fall betrifft den
Bruder des ersten Kranken, der häufige, lange und schwere Läh-
mungsanfiille hatte. Bei manchen Paroxysmen kam es zu schwerer
Prostration, zur Parese der Atemhilfsnuskulatur und zu Herz-
störungen. Einmal trat im Anfalle Albuminurie auf, einmal leichter
Ikterus und Leberschwellung. Der Kranke hatte sich zu Anfang des
Krieges freiwillig zum Militärdienst gemeldet und erlitt im Felde
einen schweren Lähmungsanfall. Sehmidt wurde zu ihm gerufen.
fand ihn aber schon in schwerer Dyspnoe. Dureh künstliche Sauer-
stoffzufuhr wurde eine vorübergehende Besserung erzielt, aber nach
einer Weile verlor der Kranke das Bewußtsein. Schmidt wollte
ihm eine Infusion von Calcium chloratum verabreichen und ließ
vorher 250 cm? Blut ab. Gleich nach dem Aderlaß schwand der
Puls, der bisher gespannt war, und bevor noch die Infusion verab-
reicht werden konnte, trat. Exitus ein. Bei der Sektion fand Prof.
Ricker das Herz mäßig vergrößert, die Lungen in den unteren
Partien sowie die übrigen inneren Organe blutiiberfiillt. Die Gallen-
blase war mit dickflüssiger Galle prall gefüllt. Die Magendarm-
schleimhaut war hier und da injiziert, am meisten im Duodenum.
Der linke Schilddrüsenlappen war zwei- bis dreimal größer als
de norma (der rechte war operativ entfernt worden). Im Thymus
wurde noch grau-rötliches Bindegewebe gefunden (auch hier gibt
der Autor das Alter des Kranken nicht an). Am Zentralnerven-
system wurde makroskopisch nichts Abnormes festgestellt. Hin-
‚sichtlich der paroxysmalen Lähmung wurde demnach wieder nichts
dafür Charakteristisches gefunden. Die Hyperämie der Organe war
wohl eine Folge der auf Lähmung der Atemhilfsmuskulatur und auf
Herzschwäche zu beziehenden Asphyxie. Wie groß die Bedeutung
ist, die der Angabe „Herz mäßig vergrößert“ zugeschrieben werden
kann, ist freilich schwer zu sagen.
Alles in allem sagt der Sektionsbefund demnach wenig Positives.
Wichtig ist jedoch der negative Befund, daß nämlich weder makro-
skopische noch mikroskopische Veränderungen am Zentralnerven-
system vorhanden waren. In den Kreis der Tatsachen, die wir in
das anatomische Bild der paroxysmalen Lähmung einbeziehen
könnten, Können wir nur die Herzvergrößerung anführen, obzwar
wir auch diese Beziehung cum grano salis nehmen.
Bei der Mannigfaltigkeit des klinischen Bildes ist die patholo-
gisch-anatomische Ausbeute also wirklich gering.
2. Biopsie.
Seitdem die Krankheit bekannt ist, wurde nach spezifischen
Veränderungen an den Muskeln gesucht. Deswegen wurden wieder-
holt exzidierte Muskelstücke untersucht. Oppenheim fand an
einem Deltoideusstück Verlust der Querstreifung, wachsartige
Degeneration und leichte Kernvermehrung. Er selbst aber schreibt
diesem Befunde keine große Bedeutung zu, da er nicht sicher war.
ob es nicht Artefakte seien. Ebenso vorsichtig gehen Singer und
Goodbody bei der Deutung des histologischen Befundes vor.
Goldflam führt folgende Veränderungen an: Auseinanderdrän-
gung der Primitivtibrillen, ein im allgemeinen ziemlich großes Kaliber
der Fasern, ohne daß daneben abnorm kleine angetroffen wurden,
82
Verbreiterung der Cohnheimschen Felder; Sarkolemmkerne nicht
stark vermehrt, wohl aber zuweilen abnorm verdickt; Vakuolen-
bildung in den Fasern; die rundlichen oder ovalen Hohlräume sind
mit einer scholligen oder blasigen Masse angefüllt. Das Interstitium
zeigte keine Hyperplasie. Von einer entzündlichen Reaktion war
keine Spur. Die auf Schnitten getroffenen Nerven wiesen keine
pathologische Veränderungen auf. Goldflam trennt diesen Be-
fund von dem histologischen Bilde bei Dystrophia musculorum
progressiva (bei der man viele schmale, auffallend dünne Fasern,
die Kernvermehrung, die Hyperplasie mit Kernwucherung des inter-
stitiellen Bindegewebes, die Fetteinlagerung, das Fehlen von
Vakuolen usw. findet), sieht darin aber bedeutende Ähnlichkeiten
mit der Thomsenschen Krankheit, in welcher von Erb ebenfalls
Vakuolenbildung und Hypertrophie der Muskelfasern ermittelt
wurden. |
Ähnliche Veränderungen an den Muskeln, wie Goldflam, ver-
zeichnet Schmidt, der an einem unmittelbar nach dem Anfalle
exzidierten Stück des rechten Deltoideus folgendes fand: „Das
Kaliber der Fasern wich von der Norm nicht erheblich ab. Ein Teil
der Fasern färbte sich nicht so intensiv wie die anderen, die Cohn-
heimschen Felder waren verbreitert, die Sarkolemmkerne standen
fast immer peripher, in manchen Fasern bestand eine Kernvermeh-
rung, die Kerne waren verdiekt'und oft nur verschwommen gefärbt.”
Auch Sehmidt fand keine Hyperplasie des Perimysiums. Er be-
tont aber „eine starke Injektion der kleinsten Gefäße und Kapil-
laren“. Die Kapillaren waren mit roten Blutkörperehen vollgestopft
und die Muskelfasern enthielten in reichlieher Menge Glykogen.
Sehmidt stellt diesen Befund sowohl zur musknlären Dystrophie
als auch zur Myotonie in Gegensatz. Von der Myotonie sagt er:
a.. im Gegensatz zur paroxysmalen Lähmung ist. für die Myotonie
das Vorkommen sehr kleiner Muskelfasern neben abnorm großen.
die Einlagerung dunkler Körnehen, die Faltung des Sarkolemma-
schlauches, die Infiltration und Vermehrung des interstitiellen Binde-
eewebes bezeichnend (nach Dejerine nnd Skotta).“ Betreffs
der Dystrophia musculorum progressiva führt er dann ähnlich wie
Goldflam aus: „. .. wohl sind bei diesem (i. e. Leiden) einzelne
hypertrophische Fasern zu sehen. die Mehrzahl der Fasern ist jedoch
abnorm klein, ihre Gestalt ist unregelmäßie: man sieht verschieden
veformte Fragmente; die Streifung ist verwaschen. Vakuolenbildung
im Sinne der oben beschriebenen Räume in der Muskelfaser wird
nicht beobachtet. Kleinzellige Wucherungen, Hyperplasie des Binde-
— 93 —
sewebes, Fetteinlagerung lassen vollends keinen Zweifel aufkommen,
daß es sich bei der Muskeldystrophie um einen wesentlich anders-
artigen Prozeß handelt als bei der paroxysmalen Lähmung.“ Da-
gegen behauptet Schmidt, daB der histologische Befund bei der
paroxysmalen Lähmung mit dem Bilde identisch ist, das wir bei (der
arteriellen Ischämie an den Muskeln sehen, und zieht daraus
Schlüsse über die Rolle der muskulären Ischämie bei der Entstehung
der Lähmung. Er sagt: „Es dürfte auf Grund dieser pathologisch-
anatomischen Tatsache der vorläufige Schluß erlaubt sein. daß auch
in der Muskelschädigung. die der paroxysmalen Lähmung zugrunde
liegt. ein vorübergehender Mangel der arteriellen Blutversorgung zu
sehen ist.“ Die Hyperämie, die er an seinen Präparaten fand. hält
er für eine sekundäre und führt diese Erscheinung gleichfalls zur
Unterstützung seiner Ischämiehypothese an.
Die vorliegenden histologischen Befunde lassen die Frage stellen,
ob man die gemachten Befunde überhaupt als charakteristische für
den Anfall selbst ansehen kann — wie es z. B. Schmidt macht,
oder ob man sie als Erscheinung einer dauernden Muskelanomalie
auffassen soll. Die Frage, ob es einen bestimmten histologischen für
den Anfall selbst charakteristischen Befund gibt, könnte auf sichere
Weise nur durch die zweimalige Untersuchung eines und desselben
Muskels bei einem und demselben Kranken im Anfalle und außer-
halb des Anfalles gelöst werden (was freilich auf gewisse
Schwierigkeiten stößt). Solange dies nicht geschehen ist, dürfen wir
natürlich die gefundenen Abweichungen nicht einzig und allein mit
dem Anfalle in Verbindung bringen und dies um so weniger, als sich
geradezu die Vermutung aufdrängt, daß die histologischen Verände-
rungen — soweit sie existieren — eher stationär sind. Dagegen finden
wir uns — in Übereinstimmung mit Heveroch und mit Singer
und Goodbody — nur schwer mit der Vorstellung ab, daß es
während eines paroxysmalen Lähmungsanfalles zu derart groben
vorübergehenden histologischen Veränderungen kommen sollte.
Weiter drängt sich uns die Frage auf, ob die Befunde als mit denen
einer bekannten Muskeldystrophie oder überhaupt einer Myopathie
(Myotonie) oder andererseits mit denen bei der Muskelischämie über-
einstimmend betrachtet werden können. Zur Beantwortung dieser
Frage kann man aus dem bisher Bekannten noch keinen sicheren
Schluß ziehen, da die vorliegenden Befunde überhaupt sehr gering
und unbestimmt sind. Von den letzteren Tatsachen gibt auch sehon
der Umstand ein gewiß beredtes Zeugnis ab. daß ein Autor sie mit.
der Myotonie vergleicht (Goldflam), während ein zweiter sie als
ze BE. 2
Folge einer Muskelischämie erklärt (Schmidt), ein dritter
(Holtzapple) sie als trophisch und noch andere als Artefakt be-
zeichnen. Bei einer so großen Zahl verschiedener Ansichten scheint
es uns unmöglich, die Befunde in einen speziell engen Zusammen-
hang mit einer einzigen von den genannten Krankheiten zu
bringen. A priori konnte man — wenigstens in den Fällen von
paroxysmaler Lähmung, bei denen es zu einigen Anomalien der
Muskelkonfiguration kommt, die wir als eine eigenartige Erscheinung
der paroxysmalen Lähmung selbst aufzufassen geneigt sind — einen
bestimmten histologischen Befund erwarten; jedoch sind die er-
wähnten Befunde wegen ihrer Vieldeutigkeit auch nicht dazu
geeignet, sie als ein eigenartiges pathologisch-anatomisches Bild
einer speziellen Myopathie zu bezeichnen.
- Für die Vermutung, daß die histologischen Veränderungen die
Folge einer Muskelischämie sind, scheint uns der histologische Be-
fund durchaus nicht von geniigender Beweiskraft zu sein*). Außer-
dem wäre es, wie wir weiter unten noch ausführlich auseinander-
setzen werden, unmöglich, daß nach häufigen Ischämien die histo-
logischen Veränderungen jedesmal so schnell ad normam zurück-
kehrten und sich nicht zu groben, in ernstlicher Weise bedrohenden
Störungen kumulieren sollten.
Hinsichtlich des Serkosschen Befundes einer Vergrößerung
des Umfanges der Muskeln während der Lähmung (welcher Befund
schon an und für sieh ebenfalls gegen die Ischämie spricht), ist wohl
die Möglichkeit irgendeiner vorübergehenden Vermehrung der Muskel-
flüssigkeiten, resp. einer Aufquellung zuzugeben. Es ist freilich not-
wendig, dieses Phänomen noch näher zu untersuchen.
B. Bisherige Hypothesen über
das Wesen der paroxysmalen Lähmung und über die
Ursachen und die Genese der Anfälle.
Je ärmer das Tatsachenmaterial ist. das bei der paroxysmalen
Lähmung anatomische und besonders Scktionsbefunde bringen, desto
zahlreicher sind die mannigfaltigen Hypothesen, die sieh mit der Er-
klärung ihres Wesens und dem Entstehen ihrer Anfälle befassen.
Es sollen im folgenden in einer kurzgefaßten Übersieht die
Haupthypothesen angeführt werden.
*) Für wertvolle Informationen in pathologisch-anatomischen Fragen spre-
chen wir Herrn Priv.-Doz. V. Jedlicka an dieser Stelle unseren Dank aus.
=, Rn 25
Daß die paroxysmale Lähmung eine Folgeerscheinung der
Malaria sei, und die Hypothese Samuelsohns, daß es sich um
Hysterie handle, hat nur mehr noch historisches Interesse.
Bezüglich der Frage nach dem anatomischen Wesen und Sitze
der Krankheit bewegen sich die Hypothesen in zwei Hauptrichtun-
gen: Die einen suchen das Wesen der paroxysmalen Lähmung in
Veränderungen des Zentralnervensystems, die anderen in solchen der
Muskulatur.
Veränderungen im Zentralnervensystem setzte als erster Hart-
wig*) voraus (i. J. 1874). Er ist der Ansicht, daß die Lähmungs-
paroxysmen durch Hyperämie und seröse Imbibition des Rücken-
marks bedingt seien. Cousot stellte sich vor, daß es zu einer
„Ausschaltung“ der Funktionen in der grauen Rückenmarkssubstanz,
hauptsächlich in den Vorderhörnern, komme („Pour expliquer nos
paralysies transitoires, ne pourrait on admettre qu’ il s’ opere
dans la moelle un arret des fonctions?*‘).
Diese „Rückenmarkstheorien‘“ wurden später hauptsächlich unter
dem Einflusse Oppenheims und Goldflams aufgegeben, bis
Holtzapple und Bornstein wieder auf sie zurückgriffen.
Holtzapple (i. J. 1905) glaubt, daß es sich um eine vasomoto-
rische Störung in der Blutversorgung der vorderen Rückenmarks-
hörner, die beinahe ausschließlich von der Art. spin. ant. ernährt
werden, handle. Die Veränderungen an den Muskelzellen, die er —
wie wir erwähnten — für trophische hält, seien vielleicht die Folge
einer Alteration trophischer Zellen. Über die Ursachen dieser vaso-
motorischen Veränderungen ist er der Ansicht, daß sie u. a. durch
Anomalien der Umwandlung der Stickstoffverbindungen bedingt sein
können. In ähnlicher Weise behauptet Bornstein (1908), daß es
sich um eine periodische Erkrankung der Rückenmarksvorderhörner
bei periodischer Anhäufung von Toxinen handelt. Er lehnt den aus-
schließlich muskulären Ursprung der Krankheit ab und führt für
ihren zentralen Ursprung neben anderen Gründen den an, daß die
Lähmung manchmal einseitig ist und die gelähmten Körperseiten
manchmal in Intensität der Lähmung abwechseln. Auch die Be-
obachtung, daß die paroxysmale Lähmung gewisse Beziehungen
zur Epilepsie hat. unterstützt. ihn in seiner Hypothese von der „zen-
tralen“ Natur des Leidens.
*) Die von Hartwig im Jahre 1874 beschriebene .Intermittierende
Paralysis spinalis“ wird von den Autoren für paroxysmale Lähmung gehalten.
Andere suchen den Sitz des Leidens noch „mehr zentral“. So
ist Higier (1899), in dessen Falle jedoch, wie wir bereits sagten,
kaum die familiäre paroxysmale Lähmung in Betracht kommt, der
Meinung, daß die paroxysmale Lähmung eine epileptische Erkran-
kung ist und daß es sich bei den Paroxysmen um eine Abschwächung
des Rindenimpulses im Sinne einer paralytischen Epilepsie handelt.
Putnam (1900) erwägt, ob nieht der Muskeltonus ein Kompromiß
zwischen zwei entgegengesetzten Kräften ist, von denen eine zur
Zusammenzichung, die andere zur Erschlaffung des Muskels führt.
Die normale Resultierende kann durch den Einfluß pathologischer
Bedingungen (von Toxinen u. ähnl.) verändert werden, und zwar im
Sinne einer Erschlaffung der Muskelfaser. Die Toxine sollen hier
durch eine Inhibition des Gehirnes oder Rückenmarkes wirken.
Goldflam (1890 und 1895) erklärt demgegenüber als Sitz
des Leidens ausschließlich die Muskeln, und zwar die Muskelfasern,
vielleicht auch die Nervenendigungen, und bezeichnet die paroxys-
male Lähmung als eine primäre Myopathie (ein primär myopathisches
Leiden). Das toxische Agens der Krankheit wirke auf die Muskeln
selbst ein. Die Mehrheit der Autoren ist der Ansicht Goldflams
und baut die Gedanken desselben weiter aus. Singer und Good-
body meinen, daß bei Personen, welehe von paroxysmaler Lähmung
befallen sind, die Muskulatur in irgendeiner. und zwar in hereditärer
oder in anderer Weise prädisponiert sei, so daß sie dem Einflusse
der Toxine erliege. Anhänger dieser — man kann sagen myopathiseh-
intoxikatorischen — Theorie sind von den neueren Forschern Wex-
berg und Serko (1919). Serko (1919) sagt. daß die Muskel-
substanz der „Angriffspunkt“ des hypothetischen Giftes sei.
Schmidt sucht (1919) das Wesen der paroxysmalen Lähmung
gleichfalls in einer Anomalie der Muskeln, aber keinesfalls in einer
primären Anomalie der Muskelzellen, sondern in einer Anomalie der
Muskelarterien. Er sagt ausdrücklich (auf Seite 51): „Die Konsti-
tutionsanomalie der paroxysmalen Lähmung kann demnach in einer
erhöhten Errerbarkeit des vasokonstringierenden Apparates der
Muskelgefäße erblickt werden. Er nimmt aber an, daß es in den
Muskeln infolge der paroxysmalen Verengerung der kleinen Muskel-
arterien zu einer Ischämie komme, die wahrscheinlich einerseits
durch eine erhöhte Aufnahmefiihigkeit dem Adrenalin gegenüber,
andererseits durch eine größere Adrenalinämie verursacht sei. Im
Sinne seiner Hypothese erklärt Sehmidt die Erscheinung, daf
manehe Muskeln (Zungen-. Gesiehts-, Augen-. Rachen- und Kehlkopf-
muskulatur, Zwerehfell) von der Lähmung weniger oder gar nicht
=A Ir 2
betroffen werden, dadurch, daß gerade diese Muskeln, dank ihrer
zahlreichen Kollateralen, besser mit Blut versorgt seien und auber-
dem eine permanente Funktion hätten, was freilich hauptsächlich
nur vom Zwerchfell gelte.
Die Herzstörungen während der Lähmung sind nach Schmidt
dadurch verursacht, daß an das Herz ein erhöhter Arbeitsanspruch
gestellt werde, und zwar einerseits infolge der Verengerung der
peripheren arteriellen Blutstrombahn (womit eine Blutdrucksteigeruny
Hand in Hand gehe), andererseits durch den Ausfall der Saugwirkung
der gelähmten Atemhilfsmuskulatur und infolge von Verschlechte-
rung der venösen Zirkulation nach Ausfall der vis a tergo. Der
Schmidtschen Hypothese ist (soweit man wenigstens aus dem
Referate schließen kann) die Hypothese Neustädters (1921,
1922) ähnlich.
Was das toxische Agens betrifft, dessen Existenz als erster
bereits Westphal voraussetzte, (der allerdings nur allgemein von
einer Toxämie sprach). so erhält sich seit Goldflam die Meinung.
daß es sich um eine gewisse Autointoxikation des Organismus handle.
Die Fragen nach dem Wesen dieses Agens werden aber verschieden
beantwortet. Vor allem wurde danach geforscht, ob es sich um irgend-
ein besonderes Toxin handle. Ein sicherer Nachweis dieses Toxins
ist bisher nieht gelungen. Ferner wurde erwogen. ob nicht die im
Darm resorbierten abnormen Zersetzungsprodukte oder abnorme
Produkte des inneren Stoffwechsels diese Rolle spielen. Sehließlieh
taucht die Ansicht auf. ob es sich hier nieht um die Wirkung eines
normalen Stoffwechselproduktes handle, sobald es in größerem Maße
gebildet werde. eines Produktes, demgegenüber ein bestimmtes
System zufolge einer Priidisposition eine spezifische Empfindlichkeit
besitze. Goldflam ist der Ansicht. daß es zu einer erhöhten
Produktion und einer verminderten Ausscheidung toxischer Stoll-
wechselprodukte komme. Nach Goldflam entwickle sich jenes
toxische Agens während der Ruhe. Demgegenüber urteilen Singer
und Goodbody., daß sieh dasselbe im Geeenteile während der
Bewegung, der Anstrengung der Muskeln entwiekle. und daß es sieh
um eine abnorme Aufnahmefähigkeit der Muskeln den Toxinen gegen-
über handle, die durch die normale Muskeltätirkeit entstehen (und die
Muskelermüdung und die Herabsetzung der Muskelkraft bewirken).
Von der Hypothese Singer-Goodbody kann man im vorhinein
sagen. daß sie nieht haltbar ist und daß die Lähmungsparoxysmen in
der Mehrheit der Fälle sieh gerade während der Ruhe einstellen.
während die Bewegung die Lähmung aufhält.
ate, ARS. tk
Holtzapple suchte Beziehungen zwischen der Herabsetzung
der Ausscheidung der Stickstoffsubstanzen und dem Lähmungs-
paroxysmus und denkt daran, daß es sich vielleicht bei der paroxys-
malen Lähmung um eine Intoxikation mit Stickstoffsubstanzen
handle.
Nach Buzzard und Farquhar (1901) sind die Anfälle von
paroxysmaler Lähmung durch eine Ansammlung von Lymphe in
den Muskeln während der Ruhe nach einer Anstrengung verursacht,
wobei die Lymphe irgendwelche abnorme Bestandteile oder toxische
Stoffe enthalte. durch welche. wenn sie sich in den Muskeln an-
sammeln, bei besonders disponierten Personen in der Muskelsubstanz
so bedeutende Veränderungen bewirkt werden, daß sie ihrer Funktion
nicht entsprechen können. Der Autor ist bestrebt, mit seiner Hypo-
these auch die Erscheinung zu erklären, daß das Zwerchfell und die
(resichtsmuskeln in der Regel von der Lähmung verschont werden:
die ständige Bewegung des Zwerchfells solle die Ansammlung von
Lymphe in diesem Muskel verhindern; die Gesichtsmuskeln dagegen
sollen eine bessere Drainage als andere Muskeln haben.
Gardner vergleicht (1912—1913) die paroxysmale Lähmung
mit anderen paroxysmalen Affektionen und meint, daß die Grundlage
der Autointoxikation irgendein kongenitaler Defekt des Metabolis-
mus sei. Er spricht dann auch den Gedanken aus, den er von Head
übernimmt, daß sich durch den Anfall eine anaphvlaktische Re-
aktion auf ein bestimmtes Nahrungsmittel. z. B. Schweinefleisch,
äußere.
Wexberg, der sich (1917) gleichfalls der Hypothese einer
Autointoxikation anschließt, meint, daß die Quelle des Giftes eine
endokrine Anomalie sei. Zur Unterstützung seiner „endokrinen“
Theorie führt Wexberg die Verwandtschaft der paroxysmalen
Lähmung mit der Tetanie an.
Den Hypothesen, die endokrine Störungen voraussetzen, muß
man auch die Annahme Schmidts und Neustädters bezüglich
der Erhöhung der Adrenalinproduktion, welche zu einer Muskel-
isehämie führt, anreihen.
Schmidt erklärt ausdrücklich die paroxysmale Adrenalin-
ämie als Ursache der Muskelischämie für eine Hypothese, während
er die Ischämie für eine erwiesene Tatsache hält. Er nimmt an, daß
es zu einer erhöhten Adrenalinämie auf die Weise komme, das viel-
leicht die Störung der Magendarmfunktion eine Erhöhung der Adre-
nalinsekretion in den Nebennieren hervorrufe, vielleicht unter Ver-
mittlung des sympathischen Systems. Zur Unterstützung dieser
— 89 —
Theorie führt er auch die Beziehungen der paroxysmalen Lähmung
zu anderen endokrinen Störungen an. indem er besonders auf die
Thymuspersistenz in seinem Falle und auf die Beziehungen zur
Pubertät verweist.
Zu den angeführten Hypothesen fügen wir diese kritischen Er-
wägungen hinzu:
Bezüglich der Frage, in welchem Abschnitte des ganzen neuro-
muskulären Apparates der Sitz der Läsion ist. nehmen wir mit
Heveroch und anderen Autoren an, daß man bestimmt eine
Störung des zentralen Neurons ausschließen kann. Abgesehen davon,
daß keine sogenannten „Pyramidensymptome‘“ vorhanden sind und
daß die Lähmung offenbar eine periphere ist, kann man sie auch
mit keiner zentralen Hypotonie oder mit sog. Willenslähmungen oder
sog. Jacksonschen schlaffen Paresen vergleichen, deren Vorkommen
bei einigen Gehirnaffektionen bekannt ist, da bei keiner zentralen
Störung sich derartige Veränderungen der elektrischen Erregbarkeit
zeigen. wie wir sie bei der paroxysmalen Lähmung finden. In ähn-
licher Weise schließen wir — namentlich nach dem Verhalten der
elektrischen Erregbarkeit — mit Goldflam, Heveroch,
Schmidt auch aus, daß es sich um eine Störung in den vorderen
Rückenmarkshörnern oder weiter im peripheren Neuron handelt.
Mit der Hypothese einer Störung der peripheren Nerven stimmt vor
allem das vollständige Schwinden der elektrischen Erregbarkeit am
Höhepunkte der Lähmung nicht überein; denn bei einer Störung im
Verlaufe der Nerven schwindet niemals vollkommen die direkte fara-
dische und galvanische Erregbarkeit der Muskeln. Aber auch die
Veränderungen der elektrischen Erregbarkeit während der unvoll-
ständigen Lähmung und in der Zeit zwischen den Anfillen sprechen
in ihrem Charakter gegen eine Läsion der peripheren Nerven. Wir
sind uns freilich dessen bewußt, daß es manchmal schwer ist, nur
nach der elektrischen Reaktion genau zu entscheiden, ob die alte-
rierende Läsion im Nerv oder im Muskel selbst sitzt, und zwar be-
sonders deshalb, weil man heute die direkte und indirekte Muskel-
erregbarkeit als ein Resultat einer Reizung ansieht, die immer vom
Nerven aus erfolgt. (Die direkte Erregbarkeit wird von den soge-
nannten Points moteurs [Nervenendplatte] aus hervorgerufen, d. h.
von der letzten Verzweigung des Nerven im Muskel oder von den
feinen Nervenfasern in den bisher nicht degenerierten Muskeln.)
Außerdem sind einige pathologische und experimentelle Zustände
— yQ —
bekannt, bei denen die Reaktionen infolge einer Nerven- und Muskel-
läsion bezüglich der Abweichung von der Norm qualitativ und
quantitativ fast übereinstimmt. Aber in dem gegebenen Falle
sprechen gegen eine Nervenläsion folgende Umstände:
1. Der Typus der Kontraktionen in unseren Fällen enispricht
weder qualitativ noch quantitativ dem sog. polyneuritischen Typus
(Capriati).
2. In der Zeit der teilweisen Lähmung ist fast keine Differenz
zwischen der direkten und indirekten Errerbarkeit vorhanden, eine
Erscheinung, der wir bei keiner Störung im Verlaufe des betreffenden
Nerven begegnen.
3. Schließlich ist keine pathologische longitudinale Reaktion vor-
handen. Dies allein schließt schon den Begriff einer partiellen Ent-
artungsreaktion aus, gegen die übrigens auch die Herabsetzung der
idiomuskulären mechanischen Muskelerregbarkeit spricht. die im
Gegenteile in Fällen neurogener Affektionen erhöht ist. Gegen die
Auffassung, daß es sich bei der paroxvsmalen Lähmung um einen
Sitz der Störung in den Nervenendigungen handelt. spricht auch der
Umstand. daß die paroxysmale Lähmung nicht jener bei der Ein-
wirkung von Kurare (typisches Gift der Nervenendigungen) Älnelt.
Auch bei der Lähmung dureh Kurare bleibt nämlich der Muskel für
direkte und indirekte Reizung dureh den galvanisehen und faradı-
schen Strom zum Teile erregbar, ohne daß es jemals zu einer voll-
ständigen „Kadaverreaktion® käme. Die Ursache der Her-
absetzunz oder des Schwindens der elektrischen
Krre@barkeit ist also noch peripherer zu suchen
als beider Lähmung durch Kurare (Heveroch. Buz-
zard-Farquhar, Schmidt). also erst in der die Funk-
tion vermittelnden Verbindung des Nerven mit
dem Muskel, eventuell noch hinter ihr. Man mub
demnach annehmen, daß die Grundstörung der Lähmungsparoxysmen
sich eben auch an dieser Stelle befindet. So geht. wenn man auen
die anatomischen Befunde nieht in Rechnung zieht. hervor, daß es
sich bei der paroxyvsmalen Lähmung um cine Myopathie handelt.
Trotzdem wir die Möglichkeit. daß es sieh bei der paroxysmalen
Lähmung um eine Läsion des zentralen und peripheren Neurons
handelt, ausschließen, so übersehen wir nieht die Bedeutung einiger
Tatsachen. welehe die Autoren zur Hypothese von dem Sitze der
Störung im Zentralnervensystem führten. Besonders erkennen wir
an, daß eine gewisse Verwandtschaft der paroxysmalen Lähmung
mit der Epilepsie und der Migräne und die ungleiche, manchmal
— 91 —
hemiplegische Lokalisierung der Lähmungen zu dem Postulat eines
gewissen zentralen Moments bei der paroxysmalen Lähmung führt.
Wir sind aber nicht der Ansicht, daß dieses Moment gerade durch
eine Affektion des Zentralnervensvstems bedingt sein muß.
segen die Hypothese, welche die Lähmungsparoxysmen durch
eine primäre, durch eine Adrenalinämie hervorgerufene Muskel-
ischämie erklärt, ergeben sich viele Bedenken. Wir haben bereits
gesagt, daB der histologische Befund in den Muskeln, auf den vor
allem Schmidt seine Hypothese stützt, als nicht genügend beweis-
kräftig für Ischämie angesehen werden kann, und das um so weniger,
als Schmidt nicht einmal dargetan hat, ob es sich bei dem histo-
logischen Bilde nur um vorübergehende oder dauernde Veränderungen
im Muskelgewebe handelt. Von klinischen Erscheinungen führt
Schmidt zur Unterstützung seiner Hypothese die Blässe der Haut
über den gelähmten Partien des Körpers an, weiter die Herab-
setzung der Temperatur an den gelähmten Gliedern, das subjektive
Kältegefühl, weiter den Umstand, daß die Muskeln, welche der Kälte
am meisten ausgesetzt seien, am frühesten von der Lähmung befallen
werden, während hingegen durch Erwärmung der Muskeln ein
Schwinden oder Schwächerwerden der Lähmung herbeigeführt
werden könne, daß eine gesteigerte und beschleunigte Zirkulation
(dureh aktive und passive Bewegungen, Massage) auf die Lähmung
günstig einwirke (und im Gegenteil die Ruhe der Muskeln, welche
die lokale Zirkulation herabsetze, ungünstig). und schließlich auch
die Tatsache, daß die Lähmungsanfälle dureh Adrenalin hervor-
gerufen werden können (welches die präkapillaren Arterien verenge).
während Pilokarpin (das die Gefäße erweitere) den Lähmungsgrad
herabsetze (Orzechowski). Schließlich meint Schmidt, daß
die paroxysmale Lähmung jenen Störungen der Motilität ähnele.
welche bei der Ischämie entstehen. wenn man aus verschiedenen An-
lässen auf Kurze Zeit den Zufluß des arteriellen Blutes absperre
(Esmarchsche Blutleere, Kälteischämie), wobei es zu einer
Herabsetzung bis Aufhebung der Beweglichkeit oder auch zum Er-
löschen jeder Muskelerrerbarkeit komme, ohne Beteiligung der
Nerven.
Man muB zwar zugeben, daß der Mangel an O, in den Muskel-
zellen bei der Ischämie durch Verhinderung des Oxydationsprozesses
im Muskel die Wiederherstellung der potentiellen Energie für die
Kontraktion unmöglich macht, so daß sich der Muskel nicht kon-
trahieren kann. Soweit stimmt die Ischimiehypothese.
Janota-Weber, Die paroaysmale Lähmung (AohdL H. 46),
=]
— 92 —
Wenn wir aber auf Grund des Verlaufes eines konkreten
Lähmungsanfalles näher zusehen, zeigt sich das Unzureichende dieser
Hvpothese. Eine vollständige Restitution eines ischämischen Muskels
ist nır dann möglich, wenn die Ischämie nicht lange (etwa ein paar
Stunden) dauerte; die Funktionsfähigkeit kehrt nach Hebung der
Ischämie sehr rasch zurück, wie es laut Schmidt Kraske und
Vollkmann beobachtet haben. Man kann sich also einen
Lähmungsanfall, der manchmal einige Tage dauert und dann fast
plötzlich endet, nicht als durch eine kurzdauernde (wenige Stunden
dauernde) Ischämie hervorgerufen vorstellen. Wollte man ander-
seits die mehrtägige Dauer einer kompletten Lähmung durch eine
ebenso lange dauernde Ischämie erklären, müßte man überrascht sein,
daB eine so starke Ischämie (und eine solche müßte man bei der voll-
ständigen Funktionsunfähigkeit der Muskeln voraussetzen) weder eine
grobe anatomische Zerstörung der Muskelsubstanz noch eine lang-
dauernde funktionelle Ausschaltung derselben zur Folge hatte. Es
liegen aber noch weitere Bedenken gegen gewisse Beweisgründe der
Schmidtschen Hypothese vor.
So ist vor allem anzuführen, daß die Blässe der Haut kein
sicherer Beweis der Ischimie der unter der betreffenden Haut-
stelle liegenden Muskeln sein kann. Abgesehen davon, daß die
Blässe der Haut keine in alien Fällen der paroxysmalen Lähmung
regelmäßig vorkommende Erscheinung ist, steht sie, wenn sie über-
haupt vorkommt. eher im Zusammenhang mit dem profusen
Schwitzen. Bei starkem Schweiße ist die Haut in der Regel blaß,
ohne daß dies aber ein Beweis der Muskelischämie wäre. Mit den
SchluBfolgerungen Schmidts stimmt auch die Tatsache nicht
überein, daß sich die Blässe hauptsächlich im Gesicht stark äußert,
obwohl doch gerade die Gesichtsmuskeln von der Lähmung verschont
werden. In den gelähmten Gliedmaßen fehlen während der Paroxys-
men nicht nur die von Schmidt angeführten Temperaturerniedri-
gungen und das Gefühl der Kälte, sondern es ist im Gegenteil
manchmal die Temperatur erhöht (wie wir selbst objektiv beobachtet
haben) und ein subjektives Hitzegefühl vorhanden. Wenn weiter die
Erwärmung und verschiedene mechanische Manipulationen, die die
Zirkulation erhöhen, auf die Lähmung günstir einwirken, so scheint
das noch kein ausreichender Beweis zu sein, daß früher in jenen
Teilen des Körpers eine Isehämie vorhanden war. Schließlich ist es
uns dureh Adrenalin nieht gelungen. Anfälle hervorzurufen. und
von Pilokarpin haben wir während der Anfälle keine günstige
— 93 —
Wirkung auf die Lähmung bemerkt; es scheint also, daß man die
Beobachtung Orzechowskis nicht als Regel auffassen darf.
Zu der Schmidtschen Erklärung der Herzstörungen führen
wir an, daß wir während des Paroxysmus den Blutdruck nicht
wesentlich erhöht gefunden haben; es erscheint daher nicht
möglich, daß die Herzstörungen darauf beruhen, daß das Herz
vegen einen erhöhten Blutdruck arbeite. Die normalen Werte
des Blutdruckes sprechen ferner auch gegen eine Muskelischämie,
die bei der Lähmung fast in der ganzen Masse der Skelettmuskulatur
— besonders setzte man gleichzeitige Hyperadrenalinämie voraus —
eine bedeutende Hypertension hervorrufen müßte. Die Erklärung
Buzzards-Farquhars und Schmidts, daß das Zwerch-
fell wegen seiner ununterbrochenen Funktion nicht gelähmt werde,
halten wir, wie wir noch später zeigen werden, für richtig. Wir
können uns aber nicht der Ansicht anschließen, daß die Verschonung
des Zwerchfelles und in ähnlicher Weise auch der Gesichtsmuskeln
von der Lähmung durch eine bessere Blutversorgung (Schmidt)
und eine bessere Drainage (Buzzard) bedingt sei.
Zuletzt aber noch folgendes: Aus der Schmidtschen Dar-
stellung wird nicht klar, wo er eigentlich das konstitutionell Anomale
supponiert, ob im vasomotorischen Nervenapparate der MuskelgefiBe
oder aber in der glatten Muskulatur der Gefäßwände. Denn einmal
spricht er von den „über die Norm erregbaren Vasomotoren der
Muskelgefäße‘‘, das andere Mal von den „erhöht erregbaren Muskel-
gsefäßen‘“. Bei der ersteren Auffassung müßte man auf die Tatsache
aufmerksam machen, daß es nicht klargelegt ist, ob sich die Muskel-
vefäße auf einen Sympathikusreiz kontrahieren (Schilf). Was die
zweite Auffassung betrifft, so spricht gegen die Schmidtsche
Hypothese, daß eine direkte Adrenalinwirkung auf die glatte Musku-
latur der Gefäßwände höchst unwahrscheinlich ist (Meyer und
Gottlieb).
Die Ansicht, daß eine primäre Muskelischämie die Grundlage
der Paroxysmen sei und daß die konstitutionelle Anomalie in einer
abnormen Empfindlichkeit der Muskelarterien gegenüber dem hypo-
thetischen provokativen Agens (Adrenalin nach Schmidt) beruht,
scheint uns also nicht genügend begründet.
Von den Intoxikationstheorien scheint uns am besten die Theorie
von der Autointoxikation des Muskelgewebes durch irgendwelche
Produkte einer abnormalen Zersetzung des Darminhaltes gestützt zu
sein. A priori kann man auch den Grundgedanken der Theorie von
dem toxischen Einflusse der nach einer Anstrengung in den Muskeln
7*
ze OY
angesammelten Lymphe nicht ablehnen. Von dem Einflusse der
Retention von Stickstoffsubstanzen kann man sich bis jetzt kein end-
gültiges Urteil bilden. Zweifellos muß man in der Pathogenese der
paroxysmalen Lähmung auch eine anaphylaktische Komponente an-
erkennen. Und schließlich nötigt schon der Umstand, daß die
paroxysmale Lähmung dureh ihren Verlauf mit der zyklischen Ent-
wicklung des Individuums verbunden ist. allein dazu, auch den
Einfluß der inneren Sekretion in Betracht zu ziehen. Allerdings muĝ
man erst entscheiden, welehen Anteil an den Krankheitsbedingungen
die einzelnen der angeführten Faktoren haben. Wir werden ver-
suchen. diese Sonderung unten im Rahmen unserer Konzeption über
die Pathogenese der paroxysmalen Lähmung vorzunehmen.
C. Unsere Anschauungen
über die Pathogenese der paroxysmalen Lähmung.
Um in die Pathologie der paroxysmalen Lähmung tiefer ein-
dringen zu können, scheint es uns angezeigt, zunächst dem Mechanis-
mus der Paroxysmen eine größere Aufmerksamkeit zu widmen und
ihn einer detaillierten Analyse zu unterwerfen. Es unterliegt keinem
Zweifel, daß eine zutreffende Erklärung des Mechanismus des An-
falles, und speziell der Lähmung, einerseits auch den richtigen Weg
für die Forschung nach dem Wesen der Disposition für die Anfälle.
d. h. dem Wesen der paroxysmalen Lähmung als Krankheit, mit-
bestimmen kann, andererseits die Art und Weise beleuchten, wie es
zum Ausbruch der Krankheit kommt und wie bestimmte Ursachen
den Anfall provozieren.
1. Wie erklären wir den Mechanismus des Anfalles?
Bei der Erklärung des ganzen Symptomenkomplexes. welcher
den Anfall der paroxysmalen Lähmung charakterisiert, wollen wir
zuerst die motorische Lähmung der Skelettmuskulatur, nachher
die anderen Symptome des Anfalles einer getrennten Betrach-
tung unterziehen.
a) Erklärung der Lähmung.
Von der Lähmung der Mehrzahl der Skelettmuskeln — die auf-
fallendste Erscheinung der Anfälle und der Krankheit überhaupt —
haben wir gesagt. daß es sich um eine „schlaffe“, „periphere“ Läh-
mung handelt. die nach verhältnismäßig kurzer Dauer spurlos ver-
=s VOR ae
schwindet, in keinem Anfalle von gleicher Stärke ist, sich kreszendo
entwickelt und dekreszendo abklingt. Wir glauben auch durch eine
kritische Auseinandersetzung bewiesen zu haben, daß die unmittel-
hare Störung, deren Ausdruck sie ist, ihren Sitz in den Muskeln selbst
hat. und zwar noch mehr peripher, als dies bei der Kurarevergiftung
der Fall ist, also in dem Übergange des Nervenendapparates in die
Muskelfaser, eventuell sogar in der Muskelzelle selbst. Es ergibt
sich nun die Aufgabe, den Charakter dieser Störung klarzulegen.
In dieser Hinsicht wäre es zweckmäßig, die einzelnen Phasen
des biologischen Vorganges bei der Kontraktion der quergestreiften
Muskulatur und die einzelnen Bedingungen und Teilerscheinungen
dieses Vorganges zu verfolgen, dessen Integrität es verbürgt, daß auf
einen motorischen Impuls die Muskelfaser sich zusammenzieht. So
könnten wir am ehesten jenes Glied finden, welches den krankhaften,
aber vollständig reversiblen Veränderungen zugrunde liegt (wie dies
der Charakter der paroxysmalen Lähmung erfordert) und dessen
Anomalie verursacht, daß es anfallweise weder auf Willens- und
reflektorische, noeh auf künstliche Impulse zu einer Muskel-
kontraktion komnit.
Um unseren weiteren Überlegungen eine konkretere Basis zu
schaffen, gehen wir von der Krausschen und Zondek schen
Konzeption über die Tätigkeit der quergestreiften Muskulatur aus.
Wir sind uns allerdings bewußt, daß beim Prozesse der physiolo-
gischen Muskelkontraktion noch eine große Reihe von unerledigten
Problemen besteht, die bisher keine Theorie befriedigend aufklären
kann. Demzufolge dient uns die betreffende Muskelkontraktions-
theorie bloß als ein „Modell“, auf Grund dessen auch unsere Lösung
allerdings nur eine spekulative sein kann.
Zondek und Kraus unterscheiden, was die der Zell-
funktion im allgemeinen zugrundeliegenden Prozesse betrifft, „das
vegetative und das fermentative bzw. oxydativ-
chemische Betriebsstück. Das erstere umfaßt in der
Hauptsache die Kolloidreaktionen und bestimmt den kolloidalen
Zustand, d. i. die tonische Einstellung der Zelle: das letztere bestimmt
den Ablauf des chemischen. für die Gestaltung der spezifischen
Funktion so bedeutungsvollen Stoffwechsels“. (Zondek, Die
Elektrolyte, S. 131.) Dasselbe gilt nach Kraus und Zondek
auch für den Skelettmuskel. Auch hier muß man zwischen dem
vegetativen Betriebsstück, welches dem Einflusse vegetativer Regu-
latoren (vegetativer Nerv. Außenelektrolyte und Gifte) unterworfen
ist und die Grundeinstellung der Muskelzelle bedingt und vorstellt,
u. ZOG: ax
und dem oxydativ-chemischen Betriebsstück. welches nur durch die
motorische Innervation in Gang gesetzt werden kann und sich einer-
seits durch fermentative (anoxybiotische), andererseits duren
oxydative (oxybiotische) Prozesse auszeichnet. Die vegetative
Komponente des Skelettmuskels (der „glatte“ Teil der quer-
gestreiften Muskelzelle) soll nach Kraus und Zondek das
Ursprüngliche im Muskel vorstellen, dasjenige, das auch die tonische
Funktion (d. h. vegetativ-tonische Funktion) des Skelettmuskels
besorgt, und zwar „auf Kosten der kolloid-chemischen bzw. physi-
kalisch-chemischen Energiequellen (z. B. Änderung der Oberflächen-
energie, des elektrischen Potenzials usw.“ [Zondek]). — Die
spezifische Funktion der Muskelzelle, d. i. die Zuckung und
die tetanische Kontraktion, ist sozusagen der vegetativ-tonischen
Funktion aufgesetzt. Die Energiequellen, aus denen die spezifische
Skelettmuskelfunktion bestritten wird, sind die fermentativen
Prozesse der Glykogenspaltung und die oxydativen Prozesse, durch
welche die gebildete Milchsäure teils verbrannt. teils aber zu ihrer
Muttersubstanz sofort wieder resynthesiert wird. Das ist das muskel-
spezifische, oxydativ-chemische Betriebsstück der Skelettmuskel-
funktion. Beide Betriebsstücke haben beim Skelettmuskel nach
Zondeks Auffassung ihre eigenen „Regulatoren“, durch die sie
modifiziert bzw. in Gang gesetzt werden: Das vegetative Betriebs-
stück wird durch Einflüsse allgemein-vegetativer Natur bestimmt
oder eingestellt, d. h. durch den vegetativen Nerv, durch Außen-
elektrolyte, durch vegetative und Zellgifte. Das spezifische Be-
triebsstück dagegen wird nur durch spinomotorische Innervation in
Tätigkeit gesetzt. Insoweit sind die zwei Betriebsstücke der Skelett-
muskelfunktion getrennt — im Gegensätze zur Funktion der echt
vegetativen Zellen (z. B. der Leberzelle), wo ein und derselbe EiniluB
(z. B. vegetative Nervenerregung) nicht nur die tonische. sondern
auch die spezifische (chemische) Funktion reguliert.
Jedoch auch beim Skelettmuskel greifen seine beiden Funktions-
komponenten ineinander — was für unsere Auffassung der paroxys-
malen Lähmung von besonderer Wichtigkeit ist. Denn das, was wir
suchen, ist die Ursache, warum im Lähmungsanfalle die Skelett-
muskeln unfähig sind. sieh auf beliebige Erregungsweise zu
kontrahieren. Wenn wir die einzelnen bis jetzt bekannten Glieder
des ganzen Kontraktionsgeschehens ins Auge fassen (fermentativer
Glykogen- bzw. Laktazidogenzerfall in Milehsäure [und Phosphor-
säure], das Freiwerden der CO, aus den intrazellularen Bikarbonat-
verbindungen. Diffusion derselben in die Zellumgebung. Oxydation
a OF aes
eines Teiles von der gebildeten Milchsäure und Resynthese der
übrigen Milchsäure [und Phosphorsäure]| zu ihrer Muttersubstanz
usw.). könnten wir erwarten, daß wir in dieser Reihe diejenigen
Glieder (bzw. dasjenige Glied) auffinden, die beim Ausfalle der
paroxysmalen Lähmung versagen. Ist es die Resynthese der Mutter-
substanz, das „Wiederaufziehen des Muskelräderwerkes“ (Zondek),
oder aber ist es die fermentative Glykogenspaltung, dessen Versagen
die Funktionsunfähigkeit der Muskeln verursacht? Leider kennen
wir noch bei weitem nicht alle Bedingungen, die den Ablauf des
Kontraktionsvorganges bestimmen und deren Kenntnis notwendig
wäre, um unter den einzelnen erwähnten Eventualitäten mit abso-
luter Sicherheit zu entscheiden. Trotzdem können wir zu einer sehr
wahrscheinlichen Erklärung des Lähmungsmechanismus auf Grund
folgender Überlegung gelangen: Die normale Skelett-
muskelfunktion setzt ein normales Zusammen-
spieldes vegetativen und oxydativ-chemischen
Betriebsstückes voraus. Dieses Zusammenwirken bezieht
sich scheinbar auf den ganzen Kontraktionsablauf, in erster Reihe
aber auf die Kontraktionsauslösung. So sagt Zondek: „Durch
welchen Mechanismus auch die Zuckung ausgelöst werden mag, ver-
ständlich ist es, daß die primäre Einstellung der kolloidalen Grund-
substanz, an der die Substanzen, die die Zuckung auslösen, ihre
Wirkung erst entfalten können, für das Zustandekommen, insbeson-
dere für den Erfolg der Zuckung von Bedeutung ist. Diese primäre
Einstellung ist aber zweifellos identisch mit der tonischen Funktion.
d. h. jenem Vorgange, der auf das Konto des vegetativen Betriebs-
stiickes zu setzen ist, und durch die Verteilungsart der antagonisti-
schen Ionen, bzw. die Wirkung der anderen vegetativen Regulatoren
(vegetativer Nerv, Gift) bestimmt wird.“ (L. e, 5. 137.) Ebenso
hängt der Kontraktionsablauf und die Erholung des Muskels und
die Resynthese der Muttersubstanz nach erfolgter Zuekung zweifels-
ohne von hauptsächlich physikaliseh-chemischen (kolloid-chemischen)
Momenten ab, wie es sich aus den Arbeiten mehrerer Autoren ergibt
(z. B. Rießer: Einfluß der Konzentration von H-Ionen im Sarko-
plasma, Einfluß der Permeabilität des Sarkolemms für Milchsäure;
Frey: Einfluß der Diffusionsgesehwindigkeit der CO, Emden
und Lehnhartz: Der Laktazidogenstoffwechsel wird geradezu
durch das Spiel und Gegenspiel der Ionen beherrscht (zit. nach
Zondek), usw.). Man kann also — wie Zondek auch vom
Skelettmuskel ‘behaupten. daß auch seine Funktion sich „ans dem
Zusammenwirken von rein vegetativen Vorgängen (Elektrolyt-
— 98 —
Kolloidreaktionen) und den an die spezifische Organfunktion ge-
knüpften chemischen Stoffwechselprozessen zusammensetzt“.
Wie wir gesagt haben, ist die Entscheidung nicht möglich. ob
es sich bei der Lähmung im Anfalle der paroxysmalen Lähmung —
schematisch gedacht — vielleicht um eine Hemmung der Laktas
zidogenspaltung oder eher um eine Störung im Wiederaufbau der
Muttersubstanz handelt. Wenn wir uns vergegenwiirtigen, daß im
Stadium einer absoluten Paralyse eine beliebige Reizung nicht einmal
die mindeste Zuckung auszulösen imstande ist, haben wir das Bild
typischer Unerregbarkeit vor uns. Man hat wenigstens den Ein-
druck. daß die Muskelfaser refraktär ist, vielleicht so, als ob die
quergestreiften Fibrillen, das Substrat der spezifischen Funktion im
Skelettmuskel, gegen die motorischen oder sonstigen Impulse
blockiert wären. Zu dieser „Blockadehypothese“ sind wir in
gleicher Weise durch die Analyse des Charakters der Änderungen
der elektrischen Erregbarkeit gelangt, aus der man übereinstimmend
schließen kann, daß speziell der Übergang der Erregung vom Sarko-
plasma auf die Muskelfibrillen betroffen ist. l
Wenn wir jedes weitere Bemühen nach näherer Präzision der
Störung beiseite lassen, so muß man doch immer davon ausgehen.
daß die Grundeinstellung des Skelettmuskels und der Ablauf der
Elektrolyt-Kolloidalreaktionen also das Vegetative in der Skelett-
muskelfunktion — für die resultierende Gesamtfunktion ausschlag-
gebend sind. Wir haben also nur zu entscheiden, ob es sich bei der
paroxysmalen Lähmung um eine Funktionsanomalie des Vegetativen
oder die des Spezifischen im Skelettmuskel handelt. Könnten wir diese
Frage beantworten, so wäre dies doch ein bedeutender Fortsehritt
in der Betrachtung der Pathogenese der paroxysmalen Lähmung.
Soweit es überhaupt erlaubt ist, aus Hypothesen eine neue
Hypothese zu konstruieren, glauben wir, daß die Kontraktions-
unfähigkeitderMuskelnbeimAnfallederparoxys-
malen Lähmung durch Änderung der Grund-
einstellung der Muskelzellen. resp. dureh eine
Störung im Ablaufe des sogenannten regetatiren
Betriebsstückes der Muskelleistung verursachtist.
Wir hoffen noch in folgenden Kapiteln zeigen zu können, wo-
dureh diese auf Grund theoretischer Überlegungen formulierte Auf-
fassung gefestigt werden kann, sowie klarzulegen, worin es liegt.
daß die erwähnte vegetative Komponente der Skelettmuskelfunktion
paroxvsmalerweise versagen kann.
— 99 —
b) Die Erklärung der übrigen Anfallssymptome.
Es kann nicht bestritten werden, daß die große Mehrzahl der
übrigen Erscheinungen, die den Lähmungsparoxysmus begleiten und
auszeichnen, offensichtlich eine neurovegetative Grundlage besitzt.
So läßt sich nur durch eine neurovegetative Störung das schon in
den Prodromen der Paroxysmen auftretende starke Schwitzen (oder
umgekehrt das unvermittelte Aufhören des in den Intervallen an-
dauernden Schwitzens) erklären, ebenso das Versiegen der Speichel-
sekretion, die Beschleunigung oder Verlangsamung des Pulses, die
dyspeptischen Beschwerden, oder andererseits wieder der abnorme,
bis zur Bulimie gesteigerte Appetit, die Verdauungsstörungen (Obsti-
pation oder Diarrhoe), die Pollutionen sowie auch die „Gedunsen-
heit“ des Gesichtes, vielleicht auch der. starke Durst, wenn auch
beim letzten der durch das Schwitzen verursachte große Wasser-
verlust mitspielt. Bei den anderen prodromalen Erscheinungen ist
ihr vegetativer Charakter und Ursprung nieht so auffällig: nichts-
destoweniger kann auch hier die Beteiligung des vegetativen Nerven-
systems keineswegs in Abrede gestellt werden: wir denken da
besonders an die aus den Bildern verschiedenartiger endokriner
Krankheiten und vegetativer Störungen bekannten Gefühle der allge-
meinen Erschlaffung, Schwäche, Ermüdung, Schläfrigkeit und der
Kopfschmerzen. Jene eigentümlichen spannenden, ziehenden Ge-
fühle, die Empfindung der Schwellung und Schwere in den Muskeln
stimmen gänzlich mit den sogenannten Saison-(Frühlings-)Jasthenien
mancher Personen überein. Diese Erscheinungen, ebenso wie die
mannigfaltigen Paraesthesien, als: Ameisenlaufen, Kribbeln, Stechen,
Bohren im Epigastrium, unangenehme Empfindungen im Kreuze,
lassen sich wohl nicht mit der vegetativen Innervation in direkten
Zusammenhang bringen, hängen aber wahrscheinlich mit ihr
indirekt zusammen. Unserer Meinung nach handelt es sich dabei
um eine Folge von Störungen der physikalisch-chemischen Verhält-
nisse auch in bestimmten sensiblen Rezeptionsapparaten, die dem
Einflusse von vegetativer Innervation sowie auch dem Einflusse von
Änderungen in der Elektrolytenverteilung des inneren (flüssigen)
Milieus gegenüber empfindlieh sind. Diese unsere Meinung stützen
wir auf Schades Entdeckungen und Anschauungen über die
Osmosesensibhilität und über das Wesen der Cönästhesie, nach denen
sich eine jede nichtphysiologische Veränderung des osmotischen
Gewehedrucks (besonders im Bindegewebe) sowie Veränderungen in
dem H- und OH-Ionenverhältnisse dem Bewußtsein unter Vermitt-
— 100 —
lung der Vaterschen Körperchen verrät, die auch mit vegetativen
Fasern reichlich versorgt sind.
Von den Symptomen des eigentlichen Anfalles zeigen die gleiche
neurovegetative Unterlage, wie die angeführten Prodromalerschei-
nungen, die profusen Schweiße, die Empfindungen von Kälte und
Hitze, die dyspeptischen und Verdauungsbeschwerden, Nausea, Er-
brechen, Obstipation oder Diarrhoe, Herabsetzung des Appetites.
spezielle Gelüste auf bestimmte Speisen, oftmals Störungen der
Geschlechtsfunktion [Unmöglichkeit der Erektion], ferner die Vaso-
dilatation oder Vasokonstriktion der Hautgefäße, die aktive
Hyperämie der Schleimhäute (des Nasopharynx, des Respirations-
traktes, der Konjunktiva) sowie auch die vorübergehenden
Störungen der Herztätigkeit (Abweichungen in der Frequenz, im
Rhythmus, in der Qualität der Herztöne), deren neurovegetativen
Ursprung wir — nach unserer Überzeugung — durch die elektro-
kardiographische Untersuchung besonders nachgewiesen haben.
Endlich haben möglicherweise eine ähnliche Grundlage auch die
vorübergehenden Schwankungen der Körpertemperatur. Das vor-
tibergehende Fieber ist jedoch nicht ohne Schwierigkeiten zu
erklären. Nach der Schmidtschen Hypothese von der Adre-
nalinämie und der Verengerung der Hauptgefäße wäre es möglich.
daran zu denken, daß es zu einer Störung der sogenannten physika-
lischen Wärmeregulierung (Rubner) deswegen zu einer Tempe-
raturerhöhung käme, weil die Wärmeabgabe aus dem Organismus
erschwert ist. Wir können jedoch auf Grund unserer Beobachtung
dieser Betrachtungsweise nicht beistimmen: unser im Paroxysmus
von Fieber befallene Patient wies keine auffallende Hautischämie
auf; im Gegenteil — es bestand während des Paroxysmus vom An-
fange an eine starke Trauspiration und somit bestimmt erhöhte
Wärmeabgabe. Wir müssen also eher an eine wahrscheinlich primär
zentrale Beteiligung der Wärmezentren denken.
Dieser große Komplex von neurovegetativen Störungen bei den
Anfällen beweist, daß hier das vegetative System im weiteren Sinne
(d. h. das vegetative Nervensystem, das koloidale und Elektrolyten-
system des kreisenden Milieus und das vegetative Organgewebe)
angegriffen wird. Es wird im nächsten Abschnitte eingehend be-
sprochen, wie es zu dieser auffallenden Außergleichgewichtsetzung
des ganzen vegetativen Systems kommt und welche Beziehungen
zwisehen der Lähmung selbst und den sie begleitenden übrigen Er-
scheinungen bestehen.
— 101 —
2. Das Wesen der paroxysmalen Lähmung als Krankheit.
Die Erklärung, die wir der eigentlichen Lähmung im Anfalle
zugrunde legen, betont die Störung im Ablaufe des vegetativen
Betriebsstückes der Skelettmuskelfunktion als das erste ursächliche
Moment der Lähmungsentstehung. Der familiäre und hereditäre
Charakter der Krankheit sowie noch andere Momente (Abweichungen
im Körperbau, Disposition zu anderen Manifestationen konstitu-
tionellen Charakters, wie Migräne, Epilepsie, Urtikarien) weisen auf
den Konstitutionellen Charakter der Disposition zur Krankheit hin.
Kraus und Zondek zufolge ist das Konstitutionelle im Organis-
mus durch das Vegetative bestimmt. Aus diesen Prämissen glauben
wir schließen zu dürfen, dad das paroxysmale Versagen
der Skelettmuskeln eben durch die konstitutio-
nelle Anomalie des materiellen Substrates für
das vegetative Betriebsstück der Skelettmuskel-
funktion zu erklären ist, mit anderen Worten, daß die
Disposition zu den Anfällen, das Wesen der
Krankheit, gerade in dieser Anomalie besteht
und daß die paroxysmale Lähmung. wirklich
als ein besonderer Typus von Myopathie aufzu-
fassen ist, wie es übrigens schon Goldflam behauptete.
Für die Annahme, daß es sich bei der paroxysmalen Lähmung
um eine Konstitutionsanomalie der Skelettmuskulatur, und zwar
vegetativer Natur, handelt, sprechen noch folgende Momente:
a) der Umstand, daß das einzige, was auch in
der anfallsfreien Zeit abnormal ist, fast aus-
schließlich die Skelettmuskulatur ist (abgesehen von
der oft vorkommenden Indikanurie und Darmmotilitätsstörung), und
zwar was die elektrische Muskelerregbarkeit und manchmal auch die
Konfiguration der Muskel anbelangt;
b) der Charakter der elektrischen Muskel-
erregbarkeit in den anfallsfreien Perioden. Es
ergibt sich aus dem in dem klinischen Teile Gesagten, daß der
Charakter der elektrischen Reaktion des Muskels von der Grund-
einstellung der Muskelzelle abhängig ist — die ihrerseits wieder das
Vegetative der Muskelzelle darstellt. Demzufolge sind wir berechtigt,
aus den dauernd bestehenden Abweichungen der elektrischen Muskel-
reaktion auf eine Anomalie in der vegetativen Komponente der
Muskelzelle und Muskelfunktion zu schließen, und auf Grund der
erhöhten Muskelerregbarkeit, sowie des myasthenischen und myoto-
22. 403) ze
nischen Zuges im besonderen, an Anomalien des Erregungsüberganıes
vom Sarkoplasma auf die Muskelfibrillen zu denken.
ec) Die rhizomelische Verteilung der Lähmung.
Nach Kure und seinen Mitarbeitern (besonders Shimbo, Hatano)
sollen die Muskeln der Extremitätenwurzeln und die Rumpfmuskeln
am reichsten mit sympathischen Nervenfasern versorgt sein. Der
Umstand, daß gerade diese Muskeln am stärksten von der Lähmung
betroffen werden, scheint also auch für eine Anomalie der veretativen
Komponente der Muskeln zu sprechen. Wir machen dabei noch
darauf aufmerksam, daß die .„idiomuskulären“ Dystrophien am
häufigsten aueh den. rhizomelischen Verteilungstypus aufweisen und
daß in der letzten Zeit immer deutlicher die Tendenz hervortritt,
dieselben mit einer Störung in der vegetativen Muskelinnervation in
Beziehung zu bringen.
Nun ist freilich der Einwand möglich, daß das Zwerchfell. der
am reichlichsten vom Sympathikus innervierte Muskel (Shimbo),
von der Lähmung — soweit bekannt — nicht merklich befallen zu
werden pflegt. Hinsichtlich dessen muß man aber bedenken. dab
dieser vital so wichtige Muskel sich auch bei einigen anderen Krank-
heitszuständen der Muskulatur (z. B. bei progressiver Muskel-
dystrophie, Myotonie, Myasthenie, bei der Myositis ossoficans progr.)
— anders verhält als die übrigen Muskeln. Worauf diese seine
Eigenheit beruht, wissen wir noch nieht bestimmt. Die Forschungen
Kures und seiner Mitarbeiter haben jedoch gezeigt, daß schon der
Metabolismus des Zwerchfells von dem Metabolismus anderer Skelett-
muskeln bedeutend abweicht. und es kann vielleicht die Ansicht aus-
gesprochen werden, daß auch die innere biochemische Organisation
der Zellen dieses Muskels seiner vitalen Bedeutung in ähnlicher Weise
angepaßt ist, wie es z. B. beim Herzen cer Fall ist. Die Haupt-
ursache aber. daß das Zwerehfell nicht der Lähmung anheimfallt, ist
vielleicht der Umstand. daß das Zwerchfell ununterbrochen und aus-
eiebir tätig ist, wodurch sich, wie wir gesehen haben. sehon
Buzzard-Fargqguhar und Sehmidt sein Versehontbleiben
von der Lähmung erklärten — freilich ein jeder, mit Rücksicht auf
seine Auffassung der Krankheit. auf andere Weise. Wir wissen Ja.
daß eine der wichtigsten Entstehungshedingungen der Lähmung die
Muskelruhe ist. Möge der Anteil, der der Muskelruhe bei der Ent-
stehung der Lähmung zufällt. welcher immer sein, geleugnet Kann er
nicht werden, und wir glauben, daß zwischen der steten „Unruhe“
des Zwerehfelles und seinem exzeptionellen Verhalten bei den Läh-
mungsparoxysmen eine enge Beziehung besteht.
— 103 —
Noch schwieriger aber wäre die Erklärung, warum die Gesichts-
muskeln und die äußeren Augenmuskeln verschont bleiben oder nur
unbedeutend ergriffen werden, wenn es sich bestätigen sollte, daß
auch diese Muskeln vom Sympathikus reichlich innerviert werden
(Cobb). Denn man kann hier nicht einmal stete Muskeltätigkeit
zur Erklärung des Verschontbleibens dieser Muskeln heranziehen.
Freilich können wir anführen, daß auch bei den Muskeldystrophien
die Gesichtsmuskeln nur äußerst selten in Mitleidenschaft gezogen
werden, während umgekehrt bei der Dystrophia myotonica die Ge-
sichtsmuskulatur und die akrale Muskulatur der Extremitäten mit
Vorliebe befallen werden.
Diese Ausnahmen sind unserer Meinung nach eben nur „Aus-
nahmen aus der Regel“, die wir zwar derzeit nicht ganz befriedigend
erklären Können, die jedoch, einmal erklärt, vielleicht noch die Regel
bestätigen könnten.
Der Umstand, daß die Lähmung einen rhizomelischen Zug auf-
weist und daß angenommen wird. daß eben die rhizomelischen Mus-
keln eine besonders reiche vegetative Innervation besitzen, hat von
vornherein unsere Aufmerksamkeit auf sich gelenkt und uns die
Überzeugung aufgezwungen. daß nichi nur beim Lähmungs-
mechanismus, sondern auch in der Frage nach dem Wesen
der Krankheit dem Vegetativen eine entscheidende Rolle zu-
kommt.
d) Die Veränderungen im Elektrokardiogramm
während des Anfalles. Die auffällige Veränderung in der
Form des elektrokardiographischen Kammerkomplexes während des
Anfalles kann nicht anders erklärt werden als durch eine Änderung
entweder der vegetativen Innervation des Herzens oder noch eher
durch eine .Snderung im K- und Ca-Verhiltnis an den Myokard-
zellen und spricht also für eine Änderung der Grundeinstellung der
Herzmuskelzellen.
e) Der paroxysmale Charakter der Krankheits-
iuBerungen. Es gibt keine paroxysmale krankhafte Erschei-
nung, bei deren Genese dem vegetativen System nicht eine wichtige
Rolle zufiele (z. B. Asthma bronchiale, Migräne, allerlei allergische Er-
scheinungen, Epilepsie, Tetanie, Angina pectoris, Colica pseudomem-
branacea, Gallensteinkolik usw.). Der paroxvsmale Charakter der
Krankheitsäußerungen drängt schon von selbst dazu, sieh nach einer
veretativen Komponente der betreffenden Funktion umzusehen. So wie
sich in der letzten Zeit die Tendenz bemerkbar macht, die flüchtigen
Zustände, die als vagotonisch und Ähnlich angesprochen werden, nicht
— 104 —
durch Änderung des vegetativen Nervensystems (-tonus), sondern
durch Abweichungen in den peripheren Organen zu erklären (von
Bergmann, Zondek, Schilf), glauben auch wir. daß der
paroxysmale Charakter der Lähmung ebenfalls dafür spricht, daß
die Disposition zu Lihmungsanfillen ihre Ursache in den Abweichiun-
sen der Grundeinstellung der Muskelzelle selbst hat.
f) Das Verhalten der glykämischen Reaktion in
der anfallsfreien Zeit. Daß die Muskeln selbst konstitutio-
nell abnormal sind, darauf scheint unserer Meinung nach auch die
Verlängerung der provozierten Hyperglykämie, von der wir auf
Seite 70 gesprochen haben, hinzuweisen.
Obwohl das bis jetzt Gesagte sicher sehr überzeugend dafür
spricht. daß die konstitutionelle Disposition der Krankheit dureh
abweichende funktionelle und wahrscheinlich auch materielle Grund-
einstellung der Muskelzelle selbst bedingt ist, dürfen wir folgenden
Umstand nicht außer acht lassen:
Die hie und da beobachtete unilaterale oder alternierende Halb-
seitenlähmung, weiter die Beziehungen der paroxysmalen Lähmung
zur Migräne, Epilepsie und ähnliches scheinen auf einen zentral-
nervösen Faktor in der Pathogenese der Krankheit hinzudeuten.
Da es, wie wir gezeigt haben, überhaupt nicht annehmbar ist, die
Lähmungsursache in irgendeiner Läsion des Zentralnervensystems
zu suchen, Können wir uns selbstverständlich mit der Annahme eines
zentralen Faktors im Sinne der Konzeptionen von Hartwig,
Cousot, Holtzapple, Bornstein und Putnam über Be-
tetltgung der motorischen Zentren und Bahnen im Rückenmark oder
Gehirn nicht einverstanden erklären. Wenn wir irgendeinen zentral-
nervösen Faktor überhaupt erwägen sollen, so können wir nur an
einen solchen vegetativer Natur denken. Nachdem sich die Unmöglich-
keit ergibt, das Vorwiegen der Muskellähmung in Anfällen unserer
Krankheit durch eine Anomalie des gesamten neuro-vegetativen
Zeutralapparates zu erklären, eröffnen sich unserer Überlegung zwei
Lösungswege. Die erste Möglichkeit wäre, daß es ein besonderes
Zentrum (Zentraleinrichtung) für die Regulation der vegetativen
Skelettmuskulfunktionskompenente gibt und daß eine konstitutionelle
Anomalie gerade dieses Zentrums einerseits das habituell abweichende
Verhalten der Skelettmuskeln (Konfiguration, elektiische Reaktion)
bedingt, andererseits erklärt, warum es unter Einwirkung von solehen
Noxen, die das gesamte vegetative System erschüttern, zum elektiven
paroxysmalen Versagen gerade der Skelettmuskeln kommt. Ange-
sichts der Verwandtschaften, die zwischen der paroxysmalen Läh-
— 105 —
mung und den Myopathien bestehen, erscheint es beachtungswert,
daß durch einen ähnlichen Gedankengang auch die Curschmann-
sche Konzeption der Pathogenese der Myotonie gekennzeichnet ist.
Curschmann ist eben der Ansicht, daß bei der Myotonie das
Wesen der sarkoplasmatischen Veränderungen in einer Schädigung
der vegetativen Zentren im Gehirn besteht und empfiehlt, nach Ver-
änderungen in den zentralen Ganglien zu fahnden. Aber ebenso wie
Peritz keine Hoffnung hegt, daß man bei der Myotonie in den
zentralen Ganglien irgendwelche krankhafte Veränderungen finden
werde, und den eigentlichen Sitz der Krankheit in den Muskeln sieht,
neigen auch wir dazu, bei der paroxysmalen Lähmung die Anomalie
eines besonderen vegetativen Zentralapparates für die Skelettmuskel-
funktion abzuweisen, und zwar auf Grund folgender Überlegungen:
Fassen wir die paroxysmale Lähmung als einen besonderen Typus
der Myopathie auf, so machen es schon die grundsätzlichen Unter-
schiede der einzelnen Myopathien (idiomuskuläre Dystrophien, Myo-
tonie, paroxysmale Lähmung) unwahrscheinlich, daß diese Poly-
morphie in den krankhaften Muskelzuständen durch eine verschiedene
Einstellung eines hypothetischen vegetativen Skelettmuskelzentrums
ausreichend erklärt werden könnte, da diese Einstellung nur in zwei
Richtungen (nach oben und unten) gerichtet werden kann. Anderer-
seits ist eine solche Supposition der heutigen Denkweise über den
zentralen Regulationsmechanismus doch zu fremd.
Die zweite Möglichkeit: der manchmal vorkommende hemi-,
para- oder monoplegische Charakter der Lähmung und die innigen
Beziehungen der paroxysmalen Lähmung zu Migräne, Epilepsie und
ähnlichen Zuständen wären noch folgendermaßen zu erklären: in
erster Reihe muß man darauf die Aufmerksamkeit lenken, daß die
Organdisposition der Muskeln in einzelnen Gliedern, besonders in
dem unteren oder oberen Extremitätenpaar, Konstitutionell verschie-
den sein kann, denn es gibt Familien, wo die Lähmung mit Vorliche
immer dasselbe Extremitätenpaar zuerst oder am stärksten betrifft.
Weiter muß man sicher damit rechnen, daß es peripher eingreifende
Einflüsse gibt. durch die in der einen oder anderen Extremität oder
in dem Extremitätenpaar günstigere Bedingungen zur Lähmungs-
entstehung geschaffen werden: an erster Stelle denken wir hier an .
den Umstand, daß das am meisten tätige Glied zuletzt von der Läh-
mung betroffen wird (siehe Fall Cousots). So könnte man sich
auch vorstellen, daß durch die verschiedene momentane Beschäf-
tigung der einzelnen Extremitäten (z. B. Handarbeit im Sitzen,
(sehen usw.) dieselben in verschiedenem Maße von der Lähmung
— 106 —
befallen werden. — Was die Verwandtschaftsbeziehungen der
paroxysmalen Lähmung mit der Migräne und anderen erwähnten Zu-
ständen anbelangt. kann hier das Verwandtschaftliche darin bestehen.
daß sich der vegetativen Muskelkonstitutionsanomalie eine konsti-
tutionelle Anomalie noch anderer vegetativer Organgebiete als koor-
diniert beigesellt (so eine Anomalie, die die Migräne, Epilepsie.
astrointestinale Funktionsstörungen bedingt). Die oft beobachtete
Tatsache, daß bei einer und derselben Person einmal eine Lähmung.
ein anderes Mal ein Migräneanfall eintritt oder mit anderen Worten.
daß sich diese beiden Erscheinungen substituieren können. kann ihre
Erklärung darin finden, daß vielleicht die einzelnen disponierten
Organgebiete auf dieselbe Noxe je nach Grad und Wirkunesdauer
derselben verschieden leicht reagieren. |
Eine solehe Erklärungsmögliehkeit zeigt, daß der „zentral-
nervöse Faktor“ der paroxysmalen Lähmung vielleicht nur schein-
bar ein zentraler ist. Wir wollen zwar die mögliche Existenz eines
besonderen vegetativen Zentrums der Skelettmuskelfunktion nieht
in Abrede stellen, es scheint uns jedoch nicht notwendig und genug
begründet, das konsitutionell Anomale der paroxysmalen Lähmung
in diesem Zentrum zu suchen. Die für einen zentralen Ursprung der
Krankheit angeführten Gründe sind also nicht imstande, unsere Kon-
zeption von der konstitutionellen Anomalie der Muskeln, u. zw. des
Substrates für das vegetative Betriebsstiick der Skelettmuskelfunk-
tion, als der wichtigsten Komponente im Wesen der paroxysmalen
Lähmung abzuschwächen.
Die Stellung des die Lähmung begleitenden
vegetativen Symptomenkomplexes im Problem
des Krankheitswesens.
Wir stellen uns das vegetative Begleitsyndrom der Lähmung als
eine überwiegend sekundäre Erscheinung vor. Wie wir im nächsten
Kapitel ausführlicher zu erklären versuchen. wirken die einzelnen.
den Anfall provozierenden Momente wahrseheinlich entweder auf dem
Wege über das vegetative Nervensystem (z. B. Anfälle nach heftiger
Erregung. nach Affekten u. Ä.). oder aber durch Änderungen kolloido-
klastischer Natur im inneren kreisenden Milieu (z. B. Anfälle nach
quantitativen oder qualitativen Diätfehlern, nach Erkältung usw.).
Ein solches im Grunde ganz banales Ereignis, das bei den meisten
Personen eine gewisse Ersehütterung im Gleichcewichte der erwähn-
ten Systeme hervorzurufen imstande ist, macht sich zuerst in dem
konstitutionell prädisponierten Skelettmuskeleewebe bemerkbar. und
zwar dadurch, daß es hier Veränderungen in der kolloidalen Grund-
einstellung derselben in Bewegung setzt, die wieder mit Verteilungs-
änderung der Binnenelektrolyte einhergeht. Da aber die gesamte
Skelettmuskulatur ein enormes Reservoir von Binnenelektrolyten
darstellt, und da weiter die Systeme von Binnen- und Außenelektro-
Iyten sich gegenseitig beeinflussen, ist es begreiflich, daß die Ver-
änderungen schon in der sich zur Lähmung vorbereitenden Musku-
latur notwendigerweise auch eine Änderung des Elektrolytengleich-
gewichtes im kreisenden Milieu und in den übrigen besonders vege-
tativen Organen ((seweben) nach sich zieht. Und so können wir
sehen, wie sich schon im Prodromalstadium der Lähmung gewisse
vegetative Erscheinungen bemerkbar machen und wie mit dem
Fortschreiten der Lähmung immer mehr Störungen vegetativer
Natur auftreten und an Intensität zunehmen. Obwohl also das Gros
von den vegetativen Funktionsstörungen. die die Muskellähmung
begleiten, genetisch der letzteren zuzuschreiben wäre, kann man nicht
die Möglichkeit von der Hand weisen, daß sie. besonders im Beginn
des Anfalles, teilweise auch dem den Anfall auslösenden Geschehen
ihre Entstehung verdanken. also der Lähmung genetisch koordi-
niert sind.
3. Entstehungsbedingungen der Krankheit und der Lähmungs-
purorysmen.
Die Bedingungen, welche — ätiologisch aufgefaßt — die Krank-
heitsäußerung bestimmen, können nach dem Vorschlage Herings
auch bei der paroxysmalen Lähmung in disponierende und provo-
zierende Koeffizienten geteilt werden. Nun ist bei der paroxysmalen
Lähmung die Hierarchie dieser Koeffizienten eine recht komplizierte.
Es läßt sich jedoch folgendes Schema der einzelnen ätiologischen
Bedingungen entwerfen, das ebenso praktisch (empirisch) wie theo-
retisch hinreichend begründet ist.
I. Disponierende Koeffizienten:
1. Der lebenslang bestehende disponierende
Koeffizient (der konstitutionelle Koeffizient).
2. Die dauernd bestehende konstitutionelle Disposition wird
dureh folgende vorübergehend wirkenden disponie-
renden Koeffizienten (die sich naturgemäß kombinieren
können und müssen) erhöht (oder auch gehemmt):
Janota-Weber, Die paroxsysmale Lähmung (Abhdl. H. 46). S
— 108 —
a) die Lebensperiode: die Lebensperiode von der ersten
Entwicklungskrise bis zum Klimakterium, wobei die einzelnen Ent-
wicklungskrisen besonders wichtig sind;
b) den Menstruationszyklus,
c) die Gravidität und Laktation,
d) die Saisonperioden,
e) dennykthemeralen Zyklus,
f) den Ernährungszustand,
g) Hypersensibilisation (alimentiiren, endogen-toxi-
schen u. a. Ursprungs).
Il. Die provozierenden Koeffizienten — Lähmung
auslösende Ursaehen.
(Diese können sich untereinander addieren, wie es in der Patho-
lorie überhaupt recht oft der Fall ist): |
a) Schockwirkungen (z. B. Anfall durch kolloidoklasti-
schen Schock nach Erkältung, durch quantitativen oder eher quali-
tativen Diätfehler);
b) primär neuro-vegetative Einflüsse (z. B. die
anfallprovozierende Wirkung von Adrenalin nach Orzechowski,
Affekte, Koitus);
ec) Einflüsse, deren Wirkungsweg nicht näher
präzisiert werden kann (körperliche Ruhe, dieselbe nach
körperlicher Überanstrengung, vielleicht etwaige Dissimilations-
produkte).
Wir wollen nun die Art, wie die einzelnen Koeffizienten in den
Krankheitsverlauf eingreifen, näher zu erläutern versuchen. Dabei
werden wir schen, daß es allerdings nicht immer möglich ist, zu
entscheiden, ob einem bestimmten Koeffizienten eine disponierende
oder eher eine provozierende Rolle zukommt, woraus sich auch die
Notwendigkeit ergibt, einige solche Koeffizienten von beiden Stand-
punkten aus gemeinsam zu betrachten.
Der lebenslang bestehende disponierende Koeffizient ist eben
die oben behandelte angeborene Konstitutionsanomalie der Skelett-
muskeln. Wir brauchen hier also diesen Punkt nicht näher zu
erläutern.
Von den Lebensperioden nehmen wir an, daß hier auf die
paroxysmale Lähmung Einflüsse der Hormone resp. Änderungen des
hormonalen Gleichgewichtes einwirken. Bei der bekannten nahen
— 109 —
` Beziehung des endokrinen und vegetativen Apparates liegt es auf
der Hand, daß die hormonalen Verhältnisse der einzelnen Alters-
epochen auf die bei der paroxysmalen Lähmung vorausgesetzte
Anomalie des vegetativen Apparates nicht ohne Einwirkung bleiben.
Nach Pende läßt sich als erste Entwicklungsepoche die Periode
bis zu sieben Jahren bezeichnen. In dieser Zeit hat die Gruppe der
Assimilationshormone das Übergewicht, die Assimilations- und
Energieaufspeicherungsprozesse haben die Oberhand über die kon-
sumierenden; es entwickelt sich mehr das viszerale als das animale
System und das parasympathische System hat das Übergewicht über
das sympathische. Von den endokrinen Drüsen sind hauptsächlich
der Thymus, die Epiphyse, die Nebennierenrinde, die Glandula inter-
stitialis, das Pankreas und teilweise die Hypophyse tätig. Hierauf
kommt es um das 7. Lebensjahr herum zur sogenannten ersten Ent-
wicklungskrise als Einleitung der zweiten Epoche, in welcher die
Gruppe der Dissimilationshormone das Übergewicht erlangt und die
hauptsächlich durch die Entwicklung der Formationen des anima-
lischen Systems charakterisiert ist. (Es beginnt das Längenwachs-
tum.) Von den innersekretorischen Drüsen beherrschen die Thy-
ruidea, die Hypophyse, das chromaffine Gewebe und die Geschlechts-
drüsen das Feld. Die zweite Entwicklungskrise, die Pubertät, leitet
die dritte Periode ein, die etwa bis zum 25. Lebensjahre reicht; in
dieser Periode kommt es zu einem noch bedeutenderen Überwiegen
der Dissimilationshormongruppe, was die schnelle und vollständige
Entwicklung des animalen Systems sowie der Geschlechtscharaktere
zur Folge hat, während der Tonus der Assimilationshormongruppe
sehr herabgesunken ist; physiologische Hyperaktivität zeigen hier die
Hypophyse, die Thyreoidea, die Nebennieren und die Glandula inter-
stitialis, während der Thymus zurückgebildet wird. In der vierten
Epoche kommt es zur Beendigung des Wachstums. Nach Beendigung
des Längenwachstums (in der dritten Epoche) zeigt sich hier haupt-
sächlich Wachstum in die Breite. Die viszeralen Höhlen und die
Eingeweide vergrößern sich. Anscheinend haben also auch da zu-
mindest irgendwelche Hormone der Assimilationsgruppe das Über-
gewicht, und zwar besonders diejenigen, die die Entwicklung des
viszeralen Systems bedingen. Als fünfte Epoche bezeichnet Pende
das „reife Alter“, die Periode, in welcher das hormonale Gleich-
gewicht am meisten und aın stabilsten ausgeprägt ist. In die sechste
Epoche rechnet er das Klimakterium und die senile Involution. Im
Klimakterium stellt sich im Gegensatz zu den endokrinen Drüsen
eine schnellere und vorgeschrittenere Hypofunktion des endokrinen
8*
— 110 —
(seschlechtsgewebes der Thyreoidea und Hypophyse ein, während die -
senile Involution durch die gleichmiBige Abnahme der Funktion und
der Materie aller Gewebe und endokrinen Organe charakterisiert ist.
Hier kommt es zu keiner Störung des hormonalen Gleichgewichtes
mehr, sondern bloß zu einem Sinken ihres Aktivitätsniveaus.
Wie ersichtlich, fallen Pendes „Entwicklungskrisen“ und die
Übergänge der einzelnen Epochen gänzlich oder beinahe gänzlich
mit „den Kritischen Perioden‘ der paroxysmalen Lähmung zusammen
und die Epochen 2—5, resp. die hormonalen Verhältnisse in diesen
Perioden, haben alles in allem einen unbestreitbar fördernden Ein-
flu auf das Manifestwerden der Krankheit sowie der einzelnen
Paroxysmen, während die 5. Epoche auf die Krankheit anscheinend
einen hemmenden Einfluß ausübt. Der hemmende Einfluß des reifen
Alters auf die Krankheit kann seine Erklärung in dem hormonalen
und neuro-vegetativen Gleichgewicht finden, welches diese Lebens-
periode auszeichnet und auch anderen Krankheiten, die sich durch
vegetative Paroxysmen äußern, einen ungünstigen Boden schafft.
In analoger Weise wie bei den Altersperioden wirkt. anscheinend
auch die Menstruation und Schwangerschaft und die Laktation durch
eine Änderung des Gleichgewichtes der Hormone und des Gleich-
gewichtes im vegetativen System auf die paroxysmale Lähmung ein.
Bekanntlich bekommt während der Menstruation, resp. schon im
Prämenstruum der Vagus das Übergewicht, so daß man sogar von
einer „vagotonia intermittens imenstrualis“ spricht (Frank).
Klaus hat die vagotonia praemenstrualis beschrieben und beleuch-
tet den Mechanismus dieser Vagotonie folgendermaßen: „Die Ab-
nahme der hormonalen Impulse des Corpus luteum bewirkt vielleicht
direkt, vielleicht auch indirekt eine Erhöhung des Cholinniveaus im
Blute; das Cholin reizt das parasympathische Nervensystem, dieses
dirigiert ionisiertes Kalium ins Gewebe. Die erhöhte Konzentration
der Kaliumionen an den Zellen führt die Zellen des betreffenden
Organs zu einer erhöhten Tätigkeit im parasympathischen Sinne.“
Und fügt hinzu: „So läßt sich das Entstehen von Störungen erklären,
die im Organismus bei der normalen Menstruation in physiologischen
(irenzen, bei der sog. Dysmenorrhoea nervosa in pathologischer Form
auftreten.“ Wenn wir erwägen, daß die von uns supponierte Kon-
venitale Anomalie der paroxysmalen Lähmung das Substrat der
sog. Grundeinstelung der Muskelzellen betrifft, daß diese Einstellung
gerade von den Kationen, speziell Ca und K, prinzipiell beeinflußt
wird, dann begreifen wir, daß so durchgreifende Änderungen des
Verhältnisses beider Ionen in den Säften und in den Geweben den
— 111 —
Anlaß zum Ausbruch der Krankheit oder zum Auftreten der einzelnen
Anfälle geben können.
Die Gravidität und Laktation ist auch durch Veränderungen der
hormonalen Verhältnisse sowie durch Veränderungen im Tonus beider
autonomen Systeme charakterisiert, die jedoch von denen, die wir
bei der Menstruation beschrieben haben, bedeutend abweichen. Es
kommt zu dauernden Störungen im Mineralhaushalt — wofür das
häufige Auftreten von Osteomalazie der beste Beweis ist. Man glaubt,
daß bei diesen Zuständen wieder die Ca-Ionen die Oberhand haben,
resp. daß der Sympathikustonus erhöht ist. Dresel erklärt damit
die Euphorie vagotonischer Frauen während der Gravidität. Mit
diesen Umständen hängt es vielleicht zusammen, daß die Gravidität
und Laktation einen anderen, und zwar hemmenden Einfluß auf die
paroxysmale Lähmung ausüben können als die Menstruation.
Betreffs der Saisoneinflüsse besteht kein Zweifel darüber, daß
sie das Gleichgewicht des vegetativen Apparates beeinflussen und
daß sie unter Vermittlung dieses Apparates auf den Organismus
einwirken. Ebenso ist bekannt, daß die von der Norm abweichen-
den Teile des vegetativen Apparates auf die Saisoneinflüsse lebhafter
reagieren. Aber von den Einzelheiten der Wirkungsweise dieser
Einflüsse wissen wir wenig Sicheres. Und so können wir uns sogar
nicht einmal bei der Erklärung der Saisoneinflüsse bei der paroxys-
malen Lähmung weiter wagen als zu der Annahme, daß die Saison-
einflüsse auf dem Umwege über das vegetative System zu einem dis-
ponierenden Koeffizienten bei der paroxysmalen Lähmung werden
können.
Als ungemein wichtige provozierende Momente der Paroxysmen
zeigen sich körperliche Ruhe, Schlaf und besonders nächtlicher
Schlaf. Die Folge, in welcher wir sie anführen, drückt auch den
Grad ihrer provokativen Wirkung aus. Die Frage, auf welche Weise
die körperliche Ruhe provozierend wirkt, läßt sich schwer befriedi-
gend beantworten. Man kann die von Buzzard und Farquhar
vertretene Ansicht nicht a priori verwerfen, daß es während der
Ruhe in den Muskeln zur Stagnation’ einer toxische Ermüdungs-
produkte enthaltenden Lymphe kommt und daß dadurch die Ent-
stehung der Lähmung ermöglicht wird. Wir lenken jedoch unsere
Aufmerksamkeit noch nach einer anderen Richtung. Es ist bekannt,
daß die körperliche, gegebenenfalls auch die geistige Ruhe, ebenso
die narkoleptische, manchmal auch genuin-epileptische Anfälle aus-
löst und — last not least — «daß Ruhe auch die Bedingung für das
Auftreten des Schlafes ist. In all diesen Fällen stellt die Ruhe, sei
sie körperlich oder geistig, gewissermaßen ein Rudiment, den ersten
Grad der Zustände vor, die sie einleitet. (Bei der Epilepsie könnte
man vielleicht einwenden, daB der Anfall durch hyperkinetische
Erscheinungen — also das Gegenteil von Ruhe — charakterisiert
wird. Aber trotz allen motorischen Erscheinungen besteht das Wesen
epileptischer Zustände hauptsächlich im Aufhören — also in abso-
luter Ruhe — der bewußten psychischen Tätigkeit.) Ähnlich kann
man sich auch bei der paroxysmalen Lähmung vorstellen, daß die
Muskelruhe gewissermaßen das Rudiment desjenigen Zustandes ist,
dessen Gipfelpunkt im Lähmungsanfalle die Unbeweglichkeit dar-
stellt. Ferner wissen wir, daß manche „rudimentäre‘ Manifestationen
des Organismus fähig sind, den ganzen Komplex auszulösen, dessen
Rudiment sie vorstellen: So z. B. geht Lidschluß in automatische
Kontraktion des Orbicularis oculi über und führt unter gewissen
Bedingungen den Schlaf herbei, das Heben der unteren Extremität
bei gewissen Läsionen der Frontallappen ermöglicht die krankhafte
Erstarrung der Gliedmaßen in dieser Lage (Pötzls Symptom)
u. s. 4. Wir haben den Eindruck, daß sich auch bei der paroxys-
malen Lähmung bezüglich der Wirkung der Ruhe ähnliche Mecha-
nismen geltend machen. Es sieht wenigstens so aus, als ob da die
Muskelruhe das Anfangsglied einer Kette von Veränderungen wäre.
deren Extrem die vollausgebildete Muskellähmung darstellt. Frei-
lich genügt die körperliche Ruhe allein nicht zur Hervorrufung der
Paroxysmen, sondern es müssen da mehrere Provokationsmomente
zusammenwirken.
Was die Bedeutung des Schlafes für die Lähmungsentstehung
betrifft, könnte dieselbe eben darin bestehen, daß sich während des
Schlafes der Einfluß der Muskelruhe besonders geltend macht.
Außerdem könnte man die provozierende Wirkung des Schlafes mit
einer Änderung im lonengleichgewicht des Blutes, die Heilig und
Hoff beobachtet haben, in Beziehung bringen, da eine solche Ände-
rung naturgemäß auch auf die Grundeinstellung der (rewebe rück-
wirken kann.
Weil sich die Paroxysinen am häufigsten gerade während des
nächtlichen Schlafes einstellen, könnte man denken, daß der
Schlaf während der Nacht am tiefsten ist und daß sich deshalb seine
Wirkung am meisten geltend macht. Man darf jedoch unserer An-
sieht nach keineswegs die Bedeutung der Nacht selbst für die
Manifestation der Lähmungsparoxysmen übersehen. Es hatte sich
gezeigt, daß die nächtliche Periode des nykthemeralen Zyklus sich
— 113 —
durch periphere Vasodilatation, durch die Herabsetzung der Harn-
absonderung sowie der Harnsäure- und Kreatininausscheidung, ja
möglicherweise auch durch die Motilitätsverlangsamung des Ver-
dauungssystems auszeichnet, womit vielleicht besonders günstige
Bedingungen sowohl für die Bildung als auch für die Einwirkung
von Stoffen gegeben sind, die fähig sind, schädliche Einflüsse auf
die Muskeln auszuüben. Außerdem muß man aber auch den Um-
stand in Erwägung ziehen, daß in der Nachtphase des nykthemeralen
Zyklus eine Änderung im Gleichgewichte des neuro-vegetativen
Nervensystems eintritt, wodurch Dresel und K. Weber zu er-
klären suchten, weshalb sich gewisse Krankheitszustände mit beson-
derer Vorliebe in der Nacht einstellen. Wir nehmen somit an, daß
der nächtlichen Phase in dem vegetativen Rhythmus ein nicht ge-
ringer Anteil auch bei der Entstehung der Anfälle der paroxysmalen
Lähmung zukommt. Sowie der nächtliche — nach Dresel para-
sympathische — Ausschlag des vegetativen nykthemeralen Rhyth-
mus bei der gegebenen Organdisposition der Bronchiolen das Bron-
chialasthma auszulösen imstande ist, so löst vielleicht derselbe Aus-
schlag bei einer bestimmten Organdisposition der Muskeln einen
Anfall von paroxysmaler Lähmung aus.
Wollen wir versuchen, die Bedeutung des Ernährungszustandes
für die Disposition zu den Paroxysmen dem Verständnis näher zu
bringen, so müssen wir von der Erfahrung ausgehen, daß einerseits
der Ernährungszustand dem Einflusse vegetativer und endokriner
Natur unterliegt, andererseits wieder, daß von dem Ernährungs-
zustand manchmal die Stabilität des vegetativen oder hormonalen
Gleichgewichtes abhängig ist (günstiger Einfluß der Mastkur bei
verschiedenen Neurasthenieformen). In diesem Lichte erscheint auch
ein gangbarer Weg zum Verständnis der Abhängigkeit der häufigeren
oder selteneren Anfälle der paroxysmalen Lähmung vom Ernährungs-
zustande. |
Wir haben an der betreffenden Stelle die alte Annahme von der
Bedeutung der Intoxikation für die Entstehung der Paroxysmen
berührt. Ihre ätiologische Bedeutung für die Lähmungsparoxysmen
ist vielleicht ähnlich zu bewerten, wie man das bei einigen Krank-
heiten vegetativen und gleichfalls paroxysmalen Charakters gewöhnt
ist, wie z. B. bei der Migräne, Epilepsie, Eklampsie, weiter bei der
Hypertension, Bradykardie und Arythmie, bei Dyspepsien und Er-
brechen usw. Wie allgemein bekannt ist, erklären sich diese Zu-
stinde nicht selten durch die Stagnation des Darminhaltes und
— 114 —
dureh die Resorption der Zerfallsprodukte im Darme, welehe auf den
dureh die Disposition gegebenen locus minoris resistentiae wirken.
Man darf jedoch die Bedeutung der Darmautointoxikation bei der
paroxysmalen Lähmung nieht überschätzen und in ihr die unentbehr-
liche Voraussetzung eines jeden Paroxysmus sehen. Jedenfalls
sind wir der Ansicht, daß auch im positiven Falle eine solche Auto-
intoxikation nur einen von jenen zahlreichen Faktoren darstellt.
welche geeignet sind. einen Anfall hervorzurufen, daß sie aber
nicht die Ursache der paroxysmalen Lähmung als Krankheit ist.
Bezüglich der Bedeutung des Genusses bestimmter Nahrungs-
mittel, der Erkältung und des Affektes, sind wir der Ansicht, dab
sie bei der paroxysmalen Lähmung dureh den Mechanismus eines
anaphylaktischen Schocks wirken. Aus allen drei angeführten Ur-
sachen kommt es nämlich nach Abrami und Pasteur Vallery
Radot bei hierfür disponierten Individuen zu einer Kolloidoklasie.
d. h. zu einer brüsken Alteration im Gleichgewichte der plasmatischen
Kolloide, deren Resultat eben die klinischen Erseheinungen des
Schocks sind. Die Kolloidoklasie tritt einerseits im Blute, anderer-
seits in den Geweben auf. (Laignel-Lavastine schreibt: „Le
plus souvent le déséquilibre ne reste pas cantonné aux colloides
collectés dans les vaisseaux; il se fait sentir dans tous les plasmas,
dans ceux qui inbibent ou même, qui constituent les organismes
cellulaires.) Je nachdem, welehe Gruppe von Zellen dank ihrer Prä-
disposition ergriffen ist, zeigen sich verschiedene klinische Formen
anaphylaktischer Reaktionen. Nach Tinel und Santenoise
beteiligen sich bei den anaphylaktischen Prozessen auch die vegeta-
tiven Nerven (la suseeptibilite anaphylaetique correspond a un
état special du tonus vagosympathique, de meme que le choc est
en somme manifesté par un ensemble des reactions du systeme
sympathique“). Sie sind der Ansicht. daß es beim Schock haupt-
siichlich zu einer Vagusreizung kommt. Diese letztere Auffassung
könnte eine plausible Erklärung der vegetativen Begleitsymptome
des Lähmunesanfalles bieten. deren größtenteils parasympathische
Natur aus dem oben gesarten hervorgeht. Für die Erklärung der Läh-
mung selbst brauchen wir aber den Eintluß eines koNoidoklastisehen
Schoek nicht auf dem Umwege über das vegetative Nervensystem zu
Hilfe zu nehmen. Die Kolloidoklasie des kreisenden Milieus ist im
Sinne der Anschauungen von Kraus und Zondek immer mit einer
Veränderung in der Elektrolvtenverteilung im Blutsystem verbunden.
welche ihrerseits wieder gemäß dem Gesetze des Elektrolytengleich-
— 15 —
sewichtes zwischen Blut und Gewebe einen direkten Einfluß auf die
Grundeinstellung der Organe ausüben kann und ausüben muß’).
In diesem Zusammenhang erwähnen wir die von uns bei drei
Patienten gefundene allergische Hautreaktion auf einige Nahrungs-
proteine. Nach heutiger Meinung ist die Positivität der allergischen
Reaktion polyvalent (Moog); sie bezeugt nur eine Umstimmung
des Organismus und beweist, daß sich bei der betreffenden Person
dank Einwirkung eines die Hypersensibilisation hervorrufendes
Agens eine Schockbereitschaft entwickelt. Es ist also anzunehmen,
daß bei Personen, die an paroxysmaler Lähmung leiden, eine solche
Schockbereitschaft bestehen und zu einem wichtigen disponierenden
Koeffizienten werden kann.
Wenn wir zusammenfassend die Art der Entstehung der Mani-
festationen der Krankheit sowie den Einfluß bestimmter sogenannter
provokativer Momente berücksichtigen, so sehen wir, daß die Mehr-
zahl von ihnen an den verschiedenartigsten Störungen neuro-vegeta-
tiver oder endokriner Natur in reichlichem Maße beteiligt. ist und
daB sie die Veränderungen, welche sie hervorrufen, unter Vermitt-
lung des vegetativen Apparates (im weiteren Sinne des Wortes) ins
Werk setzen. So zeigt sich auch hier unstreitig der vegetative
Charakter der Krankheit. Wenn wir dem Vegetativen keinen Anteil
1) Einen Hinweis darauf, daß sich bei der paroxvsmalen Lähmung eine
bedeutende Verschiebung in dem Elektrolytengleichgewicht des zirkulierenden
Milieus geltend macht, liefert auch die Beobachtung von Kisaku Yoshi-
mura, nach dem das Blut von Personen, die an paroxysmaler Lähmung lei-
den, eine abnorme Menge Magnesiumsalz enthält, wodurch das Verhältnis zwi-
schen Ca und Mg merklich geändert ist. Wir behaupten nicht mit Kisaku
Yoshimura, daß der Lähmungsanfall die Folge von Magnesiumvergiftung
sei. sondern wir sehen in dieser Beobachtung nur den Nachweis, daß eine
spezielle Störung des Verhältnisses gewisser Elektrolyte — darunter des Ca.
dessen Beziehung zur neuromuskulären Erregbarkeit gut bekannt ist — sich
bei den hierzu disponierten Personen in einem Lähmungsanfalle äußert. Wenn
es sich auch in diesem Falle um im Blute kreisende Elektrolyte handelte, ist
unserer Meinung nach unser Interesse an diesem Befunde dennoch voll be-
gründet. Nach Kraus bildet das System der Elektrolyten im Organismus ein
Ganzes. Die das Blut betreffenden Veränderungen sind ein Teil dieses Ganzen
und ein Indikator dafür, daß irgendwo (vielleicht in Geweben) Änderungen im
gegenseitigen Verhältnisse der Elektrolyten bestehen. In diesem Zusammen-
hange erwähnen wir, daß durch dauernde Störungen des Gleichgewichtes der
Ca- und K-Ionen im Sinne einer Hypokalzinämie (die wir auch wirklich in dem
einen Falle festgestellt haben, in welchem wir nach ihr fahndeten), auch die
tetanoiden Symptome ihre Erklärung finden könnten, die bei einigen Personen,
welche an paroxysmaler Lähmung leiden, u. zw. hauptsächlich auch in den
Anfallsintervallen. zur Beobachtung gelangen.
— 116 —
an der eigentlichen Muskellähmung zuerkennen würden. so stünden
wir vor der schwer zu beantwortenden Frage, wie es möglich sei.
daß hier auch die Muskeln auf so wichtige und gerade in der
Pathogenese der veretativen Störungen so häufige Faktoren reagieren.
Zusammenfassung.
Es werden vier Fälle von paroxysmaler Lähmung, die aus drei
versehiedenen Familien stammen, eingehend untersucht und be-
schrieben. Auf Grund dieser Beobachtungen wird einerseits die
Revision des gesamten klinischen Bildes der paroxysmalen Lähmung
vorgenommen, andererseits die Pathogenese der Krankheit im Sinne
der neueren Anschauungen erörtert.
Die paroxysmale Lähmung wird als eine Myopathie sui generis
aufeefaßt, deren Wesen in einer konstitutionellen familiär heredi-
tären Anomalie besteht. die das materielle Substrat für das vegeta-
tive Betriebsstück der Skelettmuskelfunktion betrifft. Durch diese
konstitutionelle Anomalie wird die Grundeinstellung der quer-
gestreiften Muskelzelle (Grundeinstellung, von der der Ablauf so-
wohl der vegetativen als aueh der spezifischen Muskelleistung ab-
hängie ist) labil, und zwar in dem Sinne, daß eine Ersehiitterung
des vegetativen Systems (des vegetativen Nervensystems und des
kolloidalen und elektrolyten Systems im kreisenden Milieu, Zonde ki.
den Ablauf des vegetativen Betriebsstiiekes stört und dadureh vor-
tibergehend den Ausfall der spezifischen Muskelleistung. d. h. der
Muskelkontraktion. herbeiführt.
Durch eine solehe Auffassung der paroxysmalen Lähmung finden
eine einfache Erklärung: die dauernden von den Verfassern als
charakteristisch angesehenen Abweichungen der elektrischen Skelett-
muskelerregbarkeit, (eine leichte Erhöhung der direkten sowie der
indirekten Erregbarkeit, der myasthenische Typus der Reaktion bei
Schwellenwerten und der myotonisehe bei Überschwellenwerten.
manehmal auch die Umkehrung des Pflügerschen Gesetzes, ein un-
scharfer Übergang von der Errerbarkeit zur Unerrerbarkeit und
früheres Auftreten der elektro-motorischen Erregbarkeit gegenüber
der elektro-sensiblen), die rhizomelisehe Verteilung der Lähmung.
die eigentümliche Veränderung des Elektrokardiogramms während
des Anfalles, der anfallsauslösende oder fördernde Eintluß soleher
Momente. die notorisch das vegetative System (im weiteren Sinne
des Wortes) aus dem Gleichgewichte setzen.
— 117 —
Der große Komplex von neuro-vegetativen Störungen, die die
Lähmung begleiten. ist größtenteils als ein Reaktionsphinomen auf
Veränderungen im Elektrolytengleichgewicht durch abnormales
Verhalten der umfangreichen Masse der Skelettmuskulatur aufzu-
fassen.
Die paroxysmale Lähmung hat eine auffallende Ähnlichkeit mit
manchen vegetativen Krisen, die gewöhnlich als auf dem Boden einer
vegetativen Dystonie (z. B. Vagotonie) entstanden betrachtet werden
(asthma bronchiale). Aber sowie für die Entstehung der klinischen
Äußerungen einer Vagotonie in der letzten Zeit nicht so sehr ver-
ändertes Gleichgewicht des vegetativen Nervensystems verantwort-
lich gemacht wird, sondern ihre Ursache eher in einer besonderen
Organdisposition gesucht wird, sind wir geneigt und berechtigt,
auch für die Krisen der paroxysmalen Lähmung eine Organdisposi-
tion der Skelettmuskulatur zu supponieren.
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HANDLUNGEN AUS DER NEUROLOGIE,
SYCHIATRIE, PSYCHOLOGIE UND IHREN
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| “HERAUSGEGEBEN VON K. BONHOEFFER
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‚Unterstützung der deutschen Gesellschaft der Wissenschaften und Künste für die
tschechoslowakische Republik)
4 OPTISCHE ALLAESTHESIE
| STUDIEN ZUR
- PSYCHOPATHOLOGIE DER RAUMBILDUNG
VON
Dr GEORG HERRMANN m Dr OTTO POTZL
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Mit 17 Abbildungen im Text
a ee BERLIN 1928
| VERLAG VON S. KARGER
NT KARLSTRASSE 39
ap | Preis Mk. 28.—
Bi" fiir Abonnenten der „Monatsschrift für Psychiatrie und Neurologie“ Mk. 25.20
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MEDIZINISCHER VERLAG VON S. KARGER IN BERLIN NW6
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Abhandlungen aus der Neurologie, Psychiatrie,
` Psychologie und ihren Grenzgebieten
Heft 1: Typhus u. Nervensystem. Von Prof.Dr.G. Stertz in Marburg. Mk.6.—
Heft 2: Ueber die Bedeutung v. Erblichkeit u. Vorgeschichte für das klinische
Bild der progressiven Paralyse. Von Dr.J.Pernet in Zürich. (Vergriffen.)
Heft 3: Kindersprache und Aphasie. Gedanken zur Aphasielehre auf
Grund von Beobachtungen der kindlichen Sprachentwickelung und
ihrer Anomalie. Von Priv.-Doz. Dr. EmilFröschels in Wien. Mk. 7.80
Heft 4: Epilepsie und Dementia praecox. Von Prof. Dr. W. Vorkastner
in Greifswald (Vergriffen.)
Heft 5: Forensisch-psychiatrische Erfahrungen im Kriege. Von Priv.-Doz.
Dr. W. Schmidt in Heidelberg. Mk. 8.—
Heft 6: Verbindung endogener und exogener Faktoren in dem Symptomen-
bilde und der Pathogenese von Psychosen. Von Priv.-Doz. Dr. Hans
Seelert in Berlin. Mk. 5.40
Heft 7: Zur Klinik und Anatomie der reinen Worttaubheit, der Heilungsaphasie
und der Tontaubheit. Von Prof.Dr.Otto Pötzl in Prag. Mit2Taf. Mk. 7.—
Heft 8: Die Spielbreite der Symptome beim munisch-depressiven Irresein.
Von Prof. Dr. P. Schröder in Greifswald. (Vergriffen.)
Heft 9: Die symptomatischen Psychosen und ihre Differentialdiagnose.
Von Priv.-Doz. Dr. Hans Krisch in Greifswald. (Vergriffen.)
Heft 10: Die Abderhaldensehe Reaktion mit bes. Berücksichtigung ihrer Er-
gebnissei.d. Psychiatrie. Von Priv.-Doz. Dr.G.E wald in Erlangen. Mk.9.—
Heft 11: Der extrapyramidale Symptomenkomplex (das dystonische Syn-
drom) und seine Bedeutung in der Neurologie. Von Prof. Dr. G.
Stertz in Marburg. (Vergriffen.)
Heft 12: Der anethische Symptomenkomplex. Eine Studie zur Psychopatho-
logie d. Handlung. Von Priv.-Doz. Dr.O. Albrecht in Wien. (Vergriffen,)
Heft 13: Die neurologische Forschangsrichtung in der Psychopathologie
und andere Aufsütze. Von Prof. Dr. A. Pick in Prag. (Vergriffen.)
Heft 14: Ueber die Entstehung der Negrisehen Körperchen. Von Prof. Dr.
L. Benedek u. Dr. F.O. Porsche in Debreczen. Mit 10 Tafeln. Mk.15.—
Heft 15: Ueber die Bedeutung und Entstehung der Stereotypien. Von Priv.-
Doz. Dr. Jakob Kläsi in Basel. (Vergriffen )
Heft 16: Ueber Psychoanalyse. Von Dozent Dr. R. Allers in Wien. Mk. 3.60
Heft 17: Die Zergliederung des psychischen Kraukheitsbildes bei Arterio-
sklerosis- cerebri. Von Nervenarzt Dr. S. J. R. de Monchy in
Rotterdam. Mk. 3.
Heft 18: Epilepsie u. manisch-depressives Irresein. Von Dr. Hans Krisch
in Greifswald. Mk. 3.—
Heft 19: Ueber die paranoiden Reaktionen in der Haft. Von Dr. W. För-
sterling in Landsberg a. d, W. Mk. 3.60
Heft 20: Dementia praecox, intermediäre psychische Schicht und Kieinhirn-
Basalganglien-Stirnhirnsysteme. Von Prof. Dr. Max Loewy in
Prag-Marienbad. Mk. 4.20
Heft 21: Metaphysik und Schizophrenie. Eine vergleichende psychologische
Studie. Von Dr. G. Bychowski in Warschau. Mk. 5.—
Heft 22: DerSelbstmord.VonPriv.-Doz.Dr.R.WeichbrodtinFrankf.a.M.Mk.1,50
Heft 23: Ueber die Stellung der Psychologie im Stammbaum der Wissen»
schaften und die Dimension ihrer Grundbegriffe. Von Dr. Heinz
Ahlenstiel in Berlin. . Mk. 1.
Heft 24: Zur Klinik der nichtparalytischen Lues-Psyehosen. Von Dozent
Dr. H. Fabritius in Helsingfors. Mk. 4.—
Heft 25: Herzkrankheiten und Psychosen. Eine klinische Studie. Von
Dr. E. Leyser in Giessen. Mk. 4.—
Heft 26: Die Kreuzung der Nervenbahnen und die bilaterale Symmetrie des
tierischen Körpers. Von Prof. Dr.L.Jacobsohn-Lask in Berlin. Mk. 5.40
Heft 27: Kritische Studien zur Methodik der Aphasielehre. Von Priv.-Doz.
Dr. E. Niessl von Mayendorf in Leipzig. Mk. 6.—
Heft 28: Wesen u. Vorgang d.Suggestion. Von Dr.Erwin Strausin Berlin. Mk.4.80
Heft 29: Derh en Symptomenkomplex und seine nosologische Stellung.
Von Dr. Kurt Pohlisch in Berlin. Mk. 6.—
Fortsetzung auf der 3. Umschlag-Seite.,
MEDIZINISCHER VERLAG VON S. KARGER IN BERLIN. NW.6
ABHANDLUNGEN AUS DER NEUROLOGIE,
PSYCHIATRIE, PSYCHOLOGIE UND IHREN
GRENZGEBIETEN
BEIHEFTE ZUR MONATSSCHRIFT FUR PSYCHIATRIE UND NEUROLOGIE
HERAUSGEGEBEN VON K. BONHOEFFER
HEFT 47
rm pa UF RuBEBEEEEGEEISENEE SREMEBEGEE DE
(Aus der Prager deutschen psychiatrischen Universitätsklinik; ausgeführt mit
Unterstützung der deutschen Gesellschaft der Wissenschaften und Künste für die
tschechoslowakische Republik)
DIE
OPTISCHE ALLAESTHESIE
STUDIEN ZUR
PSYCHOPATHOLOGIE DER RAUMBILDUNG
VON
Dr. GEORG HERRMANN vsv Dr. OTTO PÖTZL
*
Mit 17 Abbildungen im Text
BERLIN 1928
VERLAG VONS. KARGER
KARLSTRASSE 39
AlleRechte, insbesondere das der Übersetzung
infremdeSprachen, vorbehalten
Buchdruckerei Ernst Klöppel, Quedlinburg a. H.
HERRN
Horrat ProF. Dr. JULIUS WAGNER-JAUREGG
IN TIEFER VEREHRUNG GEWIDMET
VON SEINEN SCHULERN |
AUF DER
PRAGER DEUTSCHEN PSYCHIATRISCHEN KLINIK
Vorrede
Die vorliegende Arbeit bringt klinische und pathologisch-
anatomische Befunde über die optische Allästhesie (die: Ver-
tauschung der Lokalzeichen im Sehraum). Da diese zentrale optische
Störung bisher noch nicht eingehend bearbeitet worden ist und-da
ihre hirnpathologischen Mechanismen durch unsere Befunde bis zu
einem gewissen Grad aufgeklärt werden, bedarf der erste Teil dieser
Arbeit, der von unseren Befunden handelt, kaum einer Recht-
fertigung. Ebenso halten wir die Analogien, die sich aus dem Ver-
gleich zwischen der optischen Allästhesie und der experimentellen
spinalen Allästhesie (Versuch von Dus sser deBarenne) ergeben
haben, für allgemein wichtig.
Wohl aber bedarf es der Rechtfertigung, daß wir an die Be-
sprechung der optischen Allästhesie einen sehr ausführlichen Ver-
gleich dieser Störung mit einer großen Anzahl anderer zentraler
optischer Störungen (agnostischer und optisch-motorischer Natur) an-
geschlossen haben. Wir hätten dies vielleicht dem Leser überlassen
sollen.
Zur Durchführung des Vergleichs bedurfte es aber einer be-
sonderen, systematischen Anordnung der einzelnen Syndrome, von
Gesichtspunkten aus, die der eine von uns bei der Darstellung der
optisch-agnostischen Störungen eingehalten hat. Die Richtigkeit
dieser Gesichtspunkte scheint uns empirisch verbürgt zu sein; sie
stimmen aber in vielen Beziehungen mit den herrschenden Lehren
nicht überein. So glaubten wir, die Zusammenhänge, die sich hier er-
geben, selbst darstellen zu müssen; wir hoffen damit eine Erweiterung
und Vertiefung der Anschauungen zu erreichen, die in der zitierten
Bearbeitung der Seelenblindheit vertreten worden sind. Insbesondere
scheint uns das Verständnis der zentralen Störungen der Raum-
bildung nur dann möglich zu sein, wenn man dieagnostischen
Störungen der Raumbildung und die Störungen der Lokalzeichen
im Sehraum einander gegenüberstellt.
Der durchgeführte Vergleich hat auf eine Anzahl morphologisch-
physiologischer Parallelen aufmerksam gemacht; wir verfolgen sie in
ze IT m
ihren Konsequenzen; dies erforderte einen weiteren Abschnitt der
Arbeit (V). Wir wollen in ihm nichts Endgültiges bringen, am wenig-
sten eine geschlossene Theorie der zentralen Vorgänge bei der
optischen Wahrnehmung. ‘Was wir hier besprechen, halten wir nur
für Gesichtspunkte, die zu berücksichtigen sind, wenn sich derartige
Theorien nicht allzusehr auf die Betrachtung bestimmter Abschnitte.
Systeme und Schichten des zentralen optischen Apparates be-
schränken, sondern seine Zusammenhänge mit der großen Einheit des
zentralen Geschehens in ihre Einzelheiten verfolgen wollen. Daß sich
unsere Darstellung auf entwicklungsgeschichtliche Momente aus-
dehnen mußte, erscheint uns selbstverständlich. Was wir im einzelnen
hier heranziehen, haben wir durch eigene Arbeiten geprüft, deren Er-
gebnisse wir aber hier nur vorläufig zusammenfassen konnten.
Wir sind der deutschen Gesellschaft der Wissenschaften und
Künste für die tschechoslowakische Republik zu Dank verpflichtet
für die Förderung durch Geldmittel, die uns nicht nur die mikro-
skopische Serienuntersuchung unseres Hauptfalles ermöglicht hat,
sondern auch die Anlegung zahlreicher Serien an Feten, Kinder-
gehirnen, Vergleichsfällen von Erwachsenen, die herangezogen wer-
den mußten. Die klinischen Untersuchungen, über die hier be-
richtet wird, sind zum größten Teil in Wien auf der Klinik Wagner-
Jauregg gemacht worden. Wir danken unserem großen Lehrer für
die Förderung, die unsere Arbeit stets von ihm erfahren hat, in einer
Weise, die uns unvergeBlich ist, die sich aber in Worten nicht
schildern läßt. Wir danken Wagner von Jauregg insbesondere
noch dafür, daß er die Widmung dieser Arbeit angenommen hat, wenn
sie auch nur ein bescheidenes Zeichen unserer tiefen Verehrung für
ihn ist.
Prag, im März 1928.
Die Verfasser.
IV.
> £
Inhalts -Verzeichnis
Einleitung
. Einige klinische Beobachtungen und Versuche .
. Zur Pathogenese der optischen Allästhesie .
IM.
Zusammenhänge mit anderen Erscheinungen
1. Vergleichspunl:te mit der taktilen Allästhesie (Dusser de
Barenne) : ;
. Zur Theorie der Halluzinati ionen .
Vergleich der optischen Allästhesie mit anderen Symptomen der
okzipitalen Herderkrankungen
. Optische Agnosie .
. Die Seelenlähmung des Se hanes (R. ‘Balin t)
. Die zerebrale Metamorphopsie . 3
. Polyopie und polyopische Halluzinationen
. Flimmerskotom und optischer Nystagmus .
Die allgemeine Sehstörung bei lokaler Läsion der Sehsphäre ;
. Die zentralen Vorgänge bei der Wahrnehmung der Farben .
. Die zentralen Störungen der Adaptation .
. Die Störung des Formensinns bei Affektion des Pulvinar thalami
(Winkler)
(Gi —_
=I D Ot me w
. Morphologisch-physiologische Parallelen
. Die Vereinheitlichung des binokularen Gesichtsfeldes .
. Die Zentrierung der Area striata .
. Die Quellen der richtenden Zentrenwirkung . x
. Das erweiterte System der Bogenfaserzellen (W. His).
. Orientierung und propriorezeptive Reflexe .
. Die spinalen Rezeptoren der sensiblen Erregung .
. Die Spaltung der optischen Erregung in der Area striata .
. Die Spaltung der optischen Erregung im tachistoskopischen
Versuch
t om & NO =
“1 5:
W
Schlußbemerkungen
Zusammenfassung
Literaturverzeichnis
70
83
89
93
102
117
124
133
143
158
177
197
214
225
242
261
273
281
288
293
296
208
BEER by Google
Einleitung
Die Erscheinung der Allästhesie auf taktilem Gebiet ist
nicht häufig, aber allbekannt. Relativ am gewöhnlichsten ist sie, wie
man weiß, bei der Tabes (Allocheirie, Obersteiner), sowie bei
Brown-Sequardschem Symptomenkomplex, also unter dem Ein-
flu8 einer Erkrankung der hinteren Wurzeln oder einer Störung der
sensiblen Leitung in einem Seitenstrang. Indessen hat namentlich
Fr. Kramer an einem klinisch genau beobachteten Fall gezeigt, daB
auch unter dem Einfluß von Großhirnherden Berührungen, Stiche usw.,
die die rechte Körperseite treffen, auf die linke Körperseite verlegt
werden können; später hat Schilder eigene Beobachtungen von
zerebral bedingter Allästhesie beigebracht und sich mit der Theorie
dieser Erscheinung beschäftigt. Der eine von uns (P.) hat verwandte
Befunde (Verlagerung des Gesamteindrucks der linken Körperhälfte
nach rechts) beschrieben und an den Obduktionsbefunden zweier der-
artiger Fälle die Wichtigkeit einer Läsion der (rechtshirnigen) Inter-
parietalregion für derartige Verhältnisse hervorgehoben.
Minder bekannt, obgleich vielleicht nicht seltener, als die All-
ästhesie auf taktilem Gebiet ist eine Erscheinung, die man wohl als
optische Allästhesie bezeichnen muß: Sehdinge werden nicht
an ihrem richtigen Ort, sondern verlagert gesehen; sie erscheinen
dabei in vielen Einzelheiten lebhaft und deutlich. Dabei ist Unten
(im Sehraum) mit Oben vertauscht, oder Rechts mit Links, Rechts-
unten mit Links-oben usw. Es handelt sich — wenigstens in den Be-
obachtungen, von denen hier gesprochen werden soll — besonders um
Sehdinge, die im peripheren Gesichtsfeld gegeben waren, für den
Kranken. aber an ihrem wahren Ort unbemerkt geblieben sind; sie
konnten höchstens zufällig und nachträglich mit ihren realen Ur-
bildern identifiziert werden. So machte das Erlebnis derartiger ver-
lagerter Sehdinge den Eindruck einer Luftspiegelung; der eine
von uns (P.) hat deshalb vorgeschlagen, solche Erscheinungen als
Fata morgana des Sehraums zu bezeichnen, da diese Be-
nennung den bildhaften Charakter des Phänomens besser veranschau-
licht, als die bloße Angliederung an die Allästhesie.
et D
Die erste Beobachtung, die hierher gehört, ist von E. Beyer
veröffentlicht worden; sie enthält die Schilderung eigener Erlebnisse
während eines Anfalls von Hemikranie mit Skotombildung. Beyers
Selbstbeobachtung ist bis heute das inhaltsreichste und schönste Bei-
spiel einer Fata morgana des Sehraums. Dies hat schon A. Pick
hervorgehoben, als er sich gelegentlich seiner Untersuchungen über
Spiegelsprache auch mit solchen Phänomenen beschäftigte; ebenso wie
A. Pick müssen auch wir die Schilderung E. Beyers hier ausführ-
lich wiedergeben. da sie der Ausgangspunkt für die Beschreibung und
Deutung aller weiteren Beobachtungen bleiben muß.
Der Autor ging, als sein Migriineanfall begann, eben auf einer Straße.
die nur rechts von ihm durch Häuser flankiert war. Links von ihm befanden
sich nur Alleen und Parkanlagen. Wie stets begann das Flimmerskotom und
die Verdunkelung im‘ Vorstadium des Anfalls mit aufsteigenden Nebeln, die
von links unten her zu kommen schienen. Während die Nebel aufstiegen.
bemerkte er links oben über den Bäumen Mauerwerk, das von einem hohen
Gebäude, etwa von einer Kirche zu stammen schien. „Ich drehte den Kopf
nach links, um es mir anzusehen, aber da war es verschwunden. Als ich
dann weitergehend geradeaus sah, bemerkte ich wieder links oben die über
die Bäume hervorragenden Gebäude nach Bauart und Farbe wechselnd.
gerade als ob ich an einer Reihe hoher Häuser vorüberginge. Als dann ein-
mal ein auffallend gelbes Mauerwerk sich zeigte, da erkannte ich, daß es
Bruchstücke von Wahrnehmungen der Häuser zu meiner Rechten seien.
welche rechts ausfielen, die ich aber in meinem änßern (resichtsfeld links
oben sah.
Ich konnte jetzt im Weitergehen verfolgen, wie die Erscheinungen links
den in Wirklichkeit rechts liegenden Häusern entsprachen. Besonders deut-
lieh war die Farbe des Manerwerks, aber einigermaßen auch die Form der
Architektur (runde oder eckige Fensteröffnungen). Ob sie aufrecht oder um-
gekehrt waren, kann ich allerdings nicht angeben. Vollends klar wurde mir
der Zusammenhang. als ich oben links plötzlich etwas intensiv Blaues wahr-
nahm, als dessen Ursache ich einen frisch gestrichenen Briefkasten entdeckte.
rechts an dem Hause, an dem ich gerade vorüberging.“
Diese Verlagerungen dauerten einige Minuten und verschwanden mit dem
Flimmerskotom. Der Autor hatte schon vorher einmal im Beginn eines
Flimmerskotoms links unten eine weiße Fläche gesehen, die wahrscheinlich
von dem weißen Schleier einer Krankenschwester her stammte, die rechts
von ihm sich befand, ohne von ihm bemerkt zu yerden.
Beyer nennt die Erscheinung eine Dissoziation in den Vor-
gängen der Wahrnehmung. Er spricht bereits die Vermutung aus, dab
sie auch bei den Illusionen und Halluzinationen von Psychosen eine
Rolle spiele; ebenso äußert er die Ansicht. daß die verlagerten Bilder
nur innerhalb des Anteils des Gesichtsfeldes auftreten können. der
zu einer der beiden Hirnhemisphären allein gehört. Die letztere An-
schauung hat seither durch den Ausbau der Theorie der Retina-
ei Be
projektion im Sinne von Wilbrand und Henschen, sowie ins-
besondere durch eine Selbstbeobachtung von 0. Sittig weitere
Stützen gefunden. Sittig fand an dem Skotom seiner Hemikranie,
daß es im parazentralen Gesichtsfeld homonym-hemianopisch, im Be-
reich der temporalen Sichel aber gekreuzt-monokular angeordnet war.
Aus der bestimmten Richtung der Verlagerungen, die die Selbst-
schilderung Beyers enthält (Vertauschung von rechts und links.
von unten mit oben) zog der Autor keine Schlüsse. Er weist darauf
hin, daß die Verlagerung von rechts unten nach links oben die
extremste und daher die auffälligste ist. Er läßt es durchaus offen.
ob nicht neben ihr noch andere Verlagerungen aufgetreten sind, die
ihm entgangen sein können.
Doch enthält die Beobachtung Beyers immerhin die Mög-
lichkeit eines engeren Zusammenhangs zwischen der Richtung,
nach der sich das Flimmerskotom verbreitet, und der Richtung, nach
der sich die Sehdinge verlagert haben. Das Flimmerskotom begann
regelmäßig im linken unteren Quadranten des Gesichtsfeldes mit
Nebeln, die nach aufwärts steigen. Dann schob sich die Verdunklung
in einem Ziekzack nach rechts und nach oben vor. Das Hauptskotom
war im Blickpunkt selbst.
Da sich die Bilder von rechts unten nach links oben verlagert
haben, zur Zeit, als die Nebel bereits den linken unteren Quadranten
des Gesichtsfeldes erfüllten, ist es möglich, daß sie gewissermaßen
als Vorläufer dieser Nebel erschienen sind; ist das Flimmerskotom
selbst eine Aura, so ist die Fata morgana des Sehraums gleichsam
die Aura der Aura gewesen. Für diese Möglichkeit spricht auch,
daß in der zweiten Selbstbeobachtung Be yers die Verlagerung zwar
rechts mit links vertauscht, aber nicht oben mit unten, gleichfalls
während des Beginns eines Flimmerskotoms, wohl zu der Zeit, als die
Nebel eben im unteren Quadranten begannen. | |
Weitere Beobachtungen werden also zu zeigen haben, ob festere
Relationen zwischen Skotomrichtungen und Verlagerungsrichtungen
nachweisbar sind. Ferner wird besonders die Beziehung zu prüfen
sein, die zwischen der besprochenen Erscheinung und dem temporalen
Halbmond des Gesichtfeldes (im Sinne von E. Beyer selbst) an-
zunehmen ist. Hier muß noch eine wertvolle Selbstbeobachtung von
Ernst Freund erwähnt werden, die sich aber auf das zentrale
Sehen bezieht.
Der Autor hat von Kindheit auf ein zentrales Skotom am rechten Auge
allein, bedingt durch eine Ruptur der Chorioidea nach Steinwurf (Degene-
es ae
rationsherd, der der Macula lutea entspricht). Das Skotom ist zum größten
Teil absolut und mißt etwa 20° im Umkreis. Sehschärfe des rechten Auges:
Fingerzählen 3 m.
Das linke Auge ist intakt. Beim gewöhnlichen Sehen mit zwei Augen
fällt dem Autor das Skotom in keiner Weise auf: es ist im binokularen Sehen
also ein negatives Skotom.
Verdeckt der Autor dagegen das linke Auge, so wird ihm das Skotom
als ein dichter, dunkler Schatten bemerkbar, der vor den Gegenständen liegt.
Dieser Schatten erscheint ihm außerhalb des Auges: er wird also in den
Sehraum projiziert. Im monokulären Sehen ist das Skotom also ein
positives.
Wird das linke (gesunde) Auge geschlossen, aber nicht verdeckt. —
blickt er so gegen den weiBlich wolkenbedeckten Himmel, so erscheint ihm
das Skotom in einer leuchtend roten Farbe, wie man sie sieht, wenn
man mit leicht geschlossenen Lidern gegen Himmel blickt. Wird das linke
Auge durch leichten Druck anämisiert, so erscheint das Skotom in einer
entsprechenden Farbe, lichtgelb: wird das linke Auge bis zum völligen
Lichtabschluß verdeckt, so erscheint es schwarz.
Versuche des Autors, mit farbigen Flächen stellen folgendes fest:
Durch eine vertikale Scheidewand werden rechts- und linksäugiges
Gesichtsfeld voneinander geschieden. Dem linken Auge wird eine farbige
Wand in etwa 25 cm Entfernung vorgehalten. Das rechte Auge blickt gegen
eine weiße Fläche. Immer erscheint das Skotom in der Farbe, die dem linken
Auge dargeboten worden ist: Blau, grau, gelb, rot, schwarz. Diese Reaktion
tritt momentan ein: sie ist von Aufmerksamkeit und Willen unabhängig.
Das Gesichtsfeld des rechten Auges erscheint dabei. nicht wie aus zwei
Eindrücken zusammengesetzt. sondern als etwas Einheitliches. Die Er-
scheinung betrifft nur Farben: Konturen wurden nie im Skotom wahrge-
nommen, auch die einfachsten nicht.
Der Autor bezieht die Erscheinung auf die „anatomische Grund-
lage für die identischen Netzhautpunkte a priori“ und zieht die homo-
nymen parazentralen Skotome der Fälle von Wilbrand und
Henschen heran. „Teils auf dem Umwege durch die Assoziations-
fasern von der andersseitigen Sehsphäre her, teils auf dem Wege der
vekreuzten Fasern des andern Auges“ werden die Reize der andern
Seite übermittelt. Jedenfalls hält er die Erscheinung für zentral
bedingt.
Freund hebt auch bereits hervor, daß beim Gesunden im Prin-
zip die gleiche Erscheinung eintritt, aber nur momentan und an-
deutungsweise. Er zitiert Befunde von Fechner, Müller-
Pouillet usw. Die Wirkung des Skotoms bestehe also nur darin,
daß die Erscheinung für das Bewußtsein verstärkt ist und mehr an-
dauernd wirkt, sowie in der noch ausgesprocheneren Projektion in
den Außenraum.
aa; oe
Die Beobachtung Beyers betrifft also das periphere Gesichts-
feld; die Beobachtung E. Freunds, die ihr in mancher Beziehung
ähnlich ist, aber nicht mit ihr identifiziert werden darf, betrifft das
zentrale Sehen; beiden Erscheinungen wird eine Beziehung auf die
Doppelversorgung des zentralen Sehens (Wilbrand-Henschen)
zugeschrieben — wohl zweifellos mit Recht. Im Falle Beyer wird
die Lokalisation von Sehdingen zwischen beiden peripheren Seh-
feldern ausgetauscht; im Falle E. Freund diffundiert eine be-
stimmte Art von optisch Gegebenem (Flächenfarbe, bzw. Raumfarbe
im Sinne von Katz) in das zentrale Sehen des andern Auges hin-
über. Gemeinsam ist beiden Erscheinungen der Übergang des Sehein-
druckes auf das Sinnesorgan der andern Körperseite; es ist die Frage.
ob im Mechanismus der beiden Beobachtungen etwas gemein-
sames ist.
Nach der Anschauung Beyers betrifft die Vertauschung von
Lagen während der Aura nur Verhältnisse. in denen ein binokulares
Sehen nicht in Betracht kommt; an der Selbstbeobachtung von
E. Freund zeigt sich, daß jeder Vorgang, der das binokulare Sehen
in seiner Wirksamkeit herabsetzt, das optische Diffusionsphänomen
verstärkt. (Vgl. dazu den Versuch mit der Scheidewand und der
Wirkung heterogener Farbenflächen auf jedes Auge; diese Versuchs-
anordnung enthält einen gewissen Gegensatz zur binokularen Farben-
mischung im Stereoskop.)
Hier ist offenbar etwas Gemeinsames. Auch in der Aura (bisher
allerdings nur vor epileptischen Anfällen beobachtet) kann es zu
einer vorübergehenden Ausschaltung des binokularen Sehens und zu
einer Entmischung der einzelnen einäugigen Gesichtsfelder kommen.
Einen solchen Fall hat der eine von uns (P.) anderwärts beschrieben;
während der Aura hatte dieser Kranke das Gefühl, als ob eine ver-
tikale Scheidewand zwischen beiden Augen auftreten würde, ganz so,
wie sie im Versuch Ernst Freunds tatsächlich aufgerichtet wor-
den ist. In dieser Aura kam es aber zu keiner verlagernden optischen
Allästhesie, sondern zu einer Dehnung des einen Gesichtsfeldes
und aller Konturen in ihm. Immerhin aber zeigt die Beobachtung, daß
auch in den flüchtigen Erscheinungen einer Aura (also unter ganz ähn-
lichen Bedingungen, wie sie die Selbstbeobachtung E. Beyers ent-
hält) eine Ausschaltung der zerebralen Mechanismen des binokularen
Sehens stattfinden kann. An weiteren Beispielen wird also zu unter-
suchen sein, ob eine Schwächung, bzw. Ausschaltung des binokularen
Sehens durch Störung einer Leistung des Großhirns bei der optischen
Allästhesie von Wichtigkeit ist.
ze) O Ka
Dies waren ungefähr die Gesichtspunkte, von denen aus wir die
Untersuchung einiger eigener einschlägiger Beobachtungen durch-
geführt haben. Um ihre Besprechung einzuleiten, sollen diese Ge-
sichtspunkte hier noch einmal wiederholt werden:
1. ist zu untersuchen, ob sich bei der optischen Allästhesie festere
Beziehungen zwischen Richtungen von Skotomen und Verlagerungs-
richtungen finden;
2. werden evtl. zerebral bedingte Störungen des binokularen
Sehens besonders in Betracht kommen.
I. Einige klinische Beobachtungen
und Versuche
Die taktile Allästhesie enthält naturgemäß gewisse Analogien
mit dem hysterischen Transfert; wie dieser bereits auf gewissen
physiologischen Vorbedingungen aufgebaut ist (Landois), so ent-
hält auch die optische Allästhesie eine Grundbedingung, die der
Physiologie des zerebralen optischen Apparates angehören, nicht
seiner Pathologie. Diese Grundbedingung wird aber erst später zu
besprechen sein: ebenso, wie es notwendig ist, bei der Besprechung
der taktilen Allästhesie zunächst nur organische Erkrankungen zu
berücksichtigen und den hysterischen Transfert vorerst gesondert zu
halten, werden wir bei der klinischen Besprechung der optischen All-
ästhesie nur solche Fälle heranziehen, in denen die Erscheinung auf
(rund einer organischen Erkrankung zustande gekommen ist. Da-
gegen wird es vorerst für uns nicht so wichtig sein, ob es sich um
rein zentrale Störungen handelt oder ob eine Erkrankung des Seh-
nerven mitwirkt; auch für die taktile Allästhesie gelten ja sowohl
Störungsbedingungen, die den peripheren Neuronen angehören, neben
solehen, die einer gestörten Großhirntätigkeit entspringen.
Beobachtung 1. (P.; 1918, Klinik Wagner-Jauregg und
` Augenklinik weil. Bernheimer in Wien.)
L. D., 30 Jahre alt, ledig, Köchin. Bis Februar 1918 gesund. Vater
starb an Magenkrebs: er soll in den letzten Wochen seines Lebens erblindet
sein. Ein Bruder und eine Schwester der Pat. sollen ungefähr im gleichen
Lebensalter, wie die Pat., erblindet und bald nach der Erblindung ge-
storben sein.
Im Februar 1918 bemerkte Pat. plötzlich eines Morgens beim Aufstehen
eine Sehstörung. Unmittelbar nach dem Erwachen hatte sie „alles mit gelben
Rändern gesehen“, z. B. die Fensterrahmen, die in Wirklichkeit weiß lackiert
waren: auf Frage gibt sie an, daß die Betten in ihrem Zimmer gelb ange-
strichen waren.
Die gelben Fensterrahmen verschwanden dann und sie hatte nur Wolken
vor sich. Sie sah dann noch ein paar Tage wie im Nebel: nachher soll sich
das Sehvermögen wieder gebessert haben: immerhin habe sie seither schwach
und verschwommen gesehen. Zugleich hatte sie Haarausfall, Kopfschmerz
und Reißen in den Gliedern.
SE ee ee
Da das Sehen in den nächsten Monaten sich noch etwas verschlechterte.
ging sie am 25. 9. 1918 auf die Klinik Bernheimer. In der Ambulanz
bekam sie einen ähnlichen Anfall wie zu Beginn’ ‘der Krankheit. Sie sah
zerstreute, glitzernde Sterne; dann verdunkelte sich alles; nachher habe sie
durch 3 Stunden nichts von sich gewußt.
Am Morgen des 27. September 1918 begann wieder ein Anfall, der in
ein halluzinatorisches Delirium überging. Dieses Delirium dauerte bis zum
Morgen des 30. September, dann schnitt es plötzlich ab, mit einer vollen
Erinnerungslücke; während des Deliriums war sie auf der Klinik Wagner-
Jauregg: sie war vollkommen blind, mit reaktionslosen Pupillen; sie
sprach fast nichts; ihre Aufmerksamkeit war nicht zu wecken; sie blieb in
gebeugter Körperhaltung sitzen, wo man sie hinsetzte und zog mit den
Fingern unausgesetzt Fäden, wie ein Alkoholdelirant.
Aus diesem Zustand erwachte sie am Morgen des 30. September. Sie
war unvermittelt vollkommen luzid und gab eine sehr klare, retrospektive
Darstellung, aus der hervorgeht, daß ihr nur die Aura dieses Zustandes in
Erinnerung geblieben ist; diese Aura schildert sie sehr eingehend:
Sie sei am Morgen des 27. 9. im Krankensaal der Augenklinik auf ihrem
Bett gesessen. Es war nach 7 Uhr, als sie auf dem Fußboden schwarze Flecke
bemerkte. Sie sagte das einer Mitpatientin.
Dann war es so, wie wenn auf dem Plafond Figuren wären. Es waren
Figuren von Frauen, aufrecht, grcß und beweglich. Die Bewegung erschien
bald als ein Hin- und Hergehen: manchmal war es wie ein Durcheinander-
wimmeln.
Unten war alles schwarz; oben aber in der Gegend der Figuren sei
„etwas Weißes“ gewesen. „Es war gerade so, wie wenn die Figuren Schatten
in der Sonne wären“. Sie sah zwei weibliche Gestalten besonders deutlich
auf dem Plafond und erkannte in ihnen ihre beiden Bettnachbarinnen, die
auch damals rechts und links von der Pat. auf ihren Betten saßen. Auf
ihrem richtigen Platz habe sie aber die Nachbarinnen nicht gesehen; sie hörte
aber die Stimme der einen, die fragte, warum sie so schaue.
Pat. meint dazu, sie habe hinaufblicken müssen, um die Figuren anzu-
schauen. Da habe sich alles verdunkelt. Sie barg den Kopf in der Hand
und fühlte Herzklopfen. Von da ab fehlt ihr jede Erinnerung bis zum Er-
wachen am Morgen des 30. September.
Die Lichtreaktion der Pupillen war nach dem Delirium vorhanden: der
Augenhintergrund zeigte eine neuritische Optikusatrophie. Im übrigen
Nervenbefund war nichts Auffallendes.
1. Oktober 1918 stellt sich bei der Pat. eine rechtsseitige Hemi-
plegie ein.
Die weitere Beobachtung ist nicht von Belang: ein Obduktionsbefund
konnte nicht gewonnen werden.
Da die vorstehende Beobachtung nur das Bruchstück eines Krank-
heitsverlaufs betrifft und ohne Autopsie geblieben ist, soll die Art des
hier vorliegenden Leidens (Gliom mit regressiven Metamorphosen?
Erdheim-Tumor? Periaxiale Enzephalitis?), sowie das eigen-
tümliche familiäre Auftreten der Erblindung, auf das die Anamnese
z | ee
hinzuweisen scheint, hier nicht besprochen werden. Da eine neuri-
tische Optikusatrophie besteht und die Sehstörung sich in Anfällen
verschlechtert, wie sie auch sonst bei fortschreitendem Hirndruck als
Ausdruck einer Reaktion des Sehnerven nicht selten sind, ist es klar.
daß hier zerebrale und periphere Störungen in einer Weise zusammen-
treten, die einer Änalyse der pathologischen Verhältnisse des Falles
nicht günstig ist. Wir beschränken uns daher auf die Besprechung
der Auraerscheinungen, die eine optische Allästhesie deutlich ent-
halten. Wie in der Beobachtung Beyers, stellt sich diese über ein
positives Skotom hinweg ein; in unserem Fall allerdings schreitet das
positive Skotom weiter und führt zur Erblindung. |
Auch hier steigen die Nebel von unten nach oben. Sie treiben
gewissermaßen die verlagerten Bilder vor sich her. Im ersten Anfall
ist es auch hier (vgl. E. Beyer) eine Farbe (das Gelb der Betten),
die von ihrer richtigen räumlichen Verankerung losgelöst an un-
riehtiger Stelle verlagert erscheint. (Die weißen Fensterrahmen er-
scheinen gelb.) Daß das Gelb von den Betten herstammte, wurde ihr
erst nach der Besprechung bewußt. Das verlagerte Sehding scheint .
also (wie bei E. Beyer) vorerst unbemerkt geblieben zu sein. Auch
bei E. Be yer war die Farbe (Weiß des Schwesternschleiers, Gelb des
Mauerwerks, Blau des Briefkastens) der deutlichste Inhalt der schein-
baren Luftspiegelung.
Auch in unserer Beobachtung 1 ist das Erscheinen der verlager-
ten Figuren eine Aura der Aura. Das Skotom bewirkt sie im Ent-
stehen; die Richtung, in die sich das Skotom erst späterhin ver-
breitet, wird durch die verlagerten Bilder gleichsam angezeigt.
Die Bilder entsprechen (mindestens zum Teil, „Nachbarinnen‘‘)
den menschlichen Figuren, die in der Peripherie ihres Sehfeldes ge-
geben sind; nur sind sie um eine Etage gehoben. Daß die beiden
Nachbarfiguren am deutlichsten erscheinen, stimmt mit ihrer wirk-
lichen Lage im Sehraum überein, da sie ja am nächsten parazentral
gegeben sind. Über die Provenienz der anderen weiblichen Figuren
(die anderen Patientinnen des Zimmers? residuäre optische Ein-
drücke von früheren Tagen her? Polyopie?) läßt sich nichts Sicheres
aussagen. Bemerkenswert ist, daß der Hintergrund, auf dem sie diese
Figuren sieht, eine weißliche Helle darstellt, von der sich die
Figuren wie Schattenin der Sonne abheben. Dies erinnert
an die Art, wie in der Rückbildung der Blindheit nach SchuB-
verletzung der Hinterhauptslappen die Konturen der ersten gesehenen
Gegenstände „wie Silhouetten im Nebel“ erscheinen und der Nebel
sich häufig in unangenehm blendend helle weiße Wolken verwandelt.
Herrmann-Pötz!|, Optische Allästhesie (Abhdl. H. 47). 2
— 10 —
Selbstverständlich sind aber auch bei peripher bedingter Erblindung
ähnliche Erscheinungen vorhanden.
Daß die Richtung, nach der sich das Skotom ausbreitet, mit der
Richtung. nach der die peripheren Sehdinge aus der Umgebung ver-
lagert erscheinen, in unserer Beobachtung 1 ebenso wie in der Be-
obachtung Beyers identisch ist, ergibt sich von selbst. Es läßt sich
aber daraus vorläufig kaum noch eine Folgerung ableiten, weil es
mindestens ebenso wichtig ist, daß das Erscheinen der Figuren in der
oberen Hälfte des Gesichtsfeldes eine Zustandsänderung ein-
leitet, die mit einer völligen Ausschaltung des Sehens endet. Es liegt
zunächst die Frage näher, ob man über die Art der Zustands-
änderung in der oberen Hälfte des Gesichtsfeldes, die zur optischen
Allästhesie führt, irgend etwas aussagen kann.
Dies scheint uns vorläufig nieht möglich zu sein; wir können uns
aber an die Erscheinungsweise dgs Ganzen halten, die einer physi-
kalisch bedingten Luftspiegelung, der Fata morgana, Ähnlich ist.
Die letztere entsteht bekanntlich als Folge verschiedener Brechungs-
verhältnisse der verschieden durchwärniten Luftschichten. Wenn wir
den Sehraum als etwas nehmen, das in einem gewissen Sinne real
gegeben ist, so können wir — selbstverständlich nur gleichnismäßig
— an Veränderungen in diesem Raum denken, die ihn gleichsam in
Schichten von verschiedener Brechkraft für die Strahlenwirkung
zentripetaler Erregungen aus optischer Quelle teilen. Freilich wird
nicht dieselbe elementare Zeichnung hier anwendbar sein, die eine
physikalische Fata morgana leicht. verständlich macht; man darf
aber daran denken, daß der Sehraum auch beim physiologischen
binokularen Sehen keineswegs isotrop ist für die zentripetalen opti-
schen Erregungen, bzw. für deren zentrale Verarbeitung; diese scheint
sich ja im Bereich des zentralen direkten Sehens zu konzentrie-
ren und von den peripheren Anteilen des Sehraums abgezogen zu
werden.
Eine Umkehrung dieser Verteilung scheint in beiden besproche-
nen Beispielen (in unserer Beobachtung 1 wie in der Beobachtung
Beyers) mit im Spiele zu sein. Bei Beyer drückt sich das darin
aus, daß das Migräneskotom, wie der Autor selbst hervorhebt, sich
über den Blickmittelpunkt ausdehnt. In unserem Fall
verschwindet das Sehen in der unteren Hälfte des Sehraums, wie in
dessen Mitte gänzlich zu der Zeit, in der die verlagerten Figuren
oben erscheinen.
Es ist, als ob sich bei einer optischen Allästhesie dieser Art auch
die Kigensehaften des zentralen direkten Sehens auf periphere An-
=s A ze
teile des Sehraums vorübergehend verschoben hätten, im Falle
Beyers in Form eines leicht reversiblen Vorgangs. in unserem Bei-
spiel als Vorstadium eines Erlöschens der Sehkraft. Dieser Eindruck
wird dadurch noch gefestigt, daß es (zweimal im Falle Beyer, in
unserem Beispiel allerdings nur das erstemal) gerade Farben
sind, die an den verlagerten Figuren besonders deutlich wahr- .
genommen werden. Eine solche vorübergehende Verschiebung
von Eigenschaften des zentralen Sehens auf periphere Anteile des
Sehraums ist im Prinzip nicht so schwer verständlich, da sie eine
Analogie hat in einer mehr dauernden, zu reparatorischen
Zwecken sich vollziehenden Verschiebung derselben Art, die bereits
bekannt ist.
In zwei Fällen mit doppelseitiger Zerstörung des Okzipitalpols
durch Schußverletzung und konsekutiver dauernder Auslöschung der
Gesichtsfeldmitte (dem Falle Poppelreuters, sowie im Falle
Obszut des einen von uns, P.) hat das Sehen im peripheren Rest-
gesichtsfeld schließlich alle jene Eigenschaften gezeigt, die in der
Norm nur dem zentralen direkten Sehen zukommen: die Farben-
tüchtigkeit, das intakte Formensehen, die Lesefähigkeit etc. Der eine
von uns (P.) hat daraus geschlossen, daß sich eine entsprechende
Energieverschiebung im Okzipitalhirn vollziehen muß, die ihre neuen
Angriffspunkte an den erhaltenen Anteilen der Area striata, dem
Projektionsfeld der mehr peripheren Anteile des Sehraums sucht und
findet. Es scheint sich also hier eine Analogie darzubieten zwischen
der vorübergehenden Energieverschiebung im Falle der optischen
Allästhesie und einer — vielleicht analog gerichteten — Energie-
verschiebung reparatorischer Art in den bezeichneten Fällen von.
Hirnverletzung. Dies führt wieder auf die Frage zurück, die schon
eingangs gestellt worden ist: Ob und inwiefern zentrale Störungen
des physiologischen binokularen Sehens an der optischen Allästhesie
beteiligt sind. Doch kann diese Frage aus den bisher besprochenen.
Beispielen noch nicht weiter verfolgt werden.
Die nächste Beobachtung, die hier besprochen werden muß, be-.
trifft jenen Fall von traumatischem Abszeß im Pol des linken Okzi-.
pitallappens, den der eine von uns (P.) seinerzeit gemeinsam mit:
A.Fuchs veröffentlicht hat. Die optische Allästhesie, die der Kranke:
darbot, war nur in einer früheren Krankheitsphase vorhanden; sie ist
in der ersten Veröffentlichung nicht erwähnt worden, da sie einer
gesonderten Besprechung in einem anderen Zusammenhang zu be-
dürfen schien. Seither hat der eine von uns (P.) sie zur Erklärung
I
— 12 —
der Wechselwirkungen zwischen meso-dienzephalen Schlafzentren
und zerebraler Sehsphäre herangezogen.
In bezug auf die ausführliche Krankengeschichte soll auch hier
auf die erste Veröffentlichung verwiesen werden. Nur das Nötigste
aus der Krankheitsgeschichte wird hier kurz rekapituliert.
Beobachtung 2. Pl., Reserveleutnant, 1914—1916 auf der neuro-
logischen Schädelschuß-Station Prof. A. Fuchs beobachtet.
Unmittelbar nach der Schußverletzung bestand Blindheit, die indessen
nur 14 Tage andauerte. Stationäre restliche Haupterscheinung war ein rechts-
seitiges parazentrales Skotom von zirka 20° im Umkreis, symmetrisch über
den oberen und unteren Quadranten des Gesichtsfelds verteilt, nahe bis an
den Fixierpunkt heranreichend. Das Skotom war an keiner Stelle ein
absolutes. Formensehen und Farbensehen waren allerdings (scharf umgrenzt)
in seinem Bereich aufgehoben: er sah aber beispielsweise im Skotombereich
eine Flamme als einen „matten Lichtschein, wie von dunklem Flor um-
hüllt“. So war es schon in den Monaten Oktober bis Dezember 1914, der
Zeit. in der die optische Allästhesie auftrat. Über die letztere berichtete Pat.
damals und weiterhin konstant folgendes:
Er hatte damals noch häufig Doppelbilder (von den Gasflammen.
auch von Personen, wenn sie etwas entfernter standen). Zu dieser Zeit war
es, daB er oft am Abend. im Bette liegend. „die Leute auf dem
Plafond spazieren sah“ „Patienten, Schwestern. wer halt im
Zimmer war. Es sei ihm vorgekommen, als ob sie schief wären“
„Waren sie mit dem Fuße am Plafond oder nicht? Ich weiß es nicht.“ Er
habe die Leute nicht erkannt, die oben herumspazierten. Wenn er sie sah.
sei er vollkommen wach gewesen. „Sie waren mehr schattenhaft.“
Ob sie in Farben gewesen seien oder nicht, könne er sich nicht erinnern. Ob
es ein Mann oder eine Schwester gewesen sei, habe er aber unterscheiden
können. Diese Schattenfiguren seien nur in den ersten Wochen gekommen,
immer am Abend, wenn das Licht brannte, bei Tag nicht.
Zu dieser Zeit war das Skotom bereits stabil. Eine Tendenz zu episo-
discher Vergrößerung desselben nach oben war, soweit dies beobachtet oder |
erfragt werden konnte, niemals bemerkbar gewesen. Damals war das Skotom
für die Wahrnehmung des Kranken nie positiv: auch später kam es nie
zum Positivwerden des Skotoms. Es war für ihn ein „Nichts“, niemals eine
schwarze, graue oder flimmernde Wesenheit.
Es ist aber festgestellt, daß schon zu dieser Zeit die Amaurose im
Bereiche des Skotoms keine völlige mehr war; er sah nicht nur eine Flamme
bereits als Lichtschein. sondern auch bei gewöhnlichem Tageslicht Gegen-
stände in diesem Bereich als „etwas Dunkles“.
Viel später (November 1916), als mit den stärkeren Erscheinungen des
Hirnabszesses auch Delirien auftraten, spielten im Inhalt der Delirien eigen-
tümliche Verlagerungen eine Rolle; sie betrafen die relative Lage seines
Körpers zur Außenwelt. In der Nacht auf den 9. November 1916 z. B. steht
er auf, kriecht auf den Knien zum Ofen hin. „weil das Gas ausströme“; als
Licht gemacht wird, besinnt er sich, geht zu Fuß ins Bett zurück und schläft
wieder ein. Am nächsten Morgen berichtet er. daß er in der Nacht auf der
u. AI: er
Wand herumgekrochen sei und sich auf das Kopfende des Bettes
gesetzt habe. Über verlagerte optische Bilder aber berichtet er in dieser
Zeit nichts. Er hatte auch schon längst keine Doppelbilder mehr.
Hervorzuheben ist, daß bei ihm horizontaler Nystagmus im Seitwärts-
blicken und ein vertikaler Nystagmus beim Blick nach oben bestand.
Patient kam bald darauf zum Exitus. Es fand sich eine Zerstörung
des linken Okzipitalpols durch die SchuBverletzung, eine ausgedehnte AbszeB-
höhle, die den dorsalen Anteil des linken Okzipitallappens erfüllte und den
vorderen Anteil der Area striata, sowie der Sehstrahlung stark zusammen-
drückte. Auch die linke Kleinhirnhälfte war durchschossen; mitten in ihrem
Mark befand sich ein kleiner, abgekapselter AbszeB.
Wir befassen uns hier nur mit der episodischen Fata morgana
aus der Anfangszeit der Beobachtung. Sie ist in diesem Fall nicht
an eine Aura gebunden; wohl aber scheint sie Beziehungen mit dem
eintretenden hypnagogen Zustand zu haben, dem sie als Vor-
läuferin voraneilt, ähnlich, wie in der Beobachtung Beyers und in
unserer Beobachtung 1 die Fata morgana eine Aura der Aura war.
Daß sich aber etwa in dieser Zeit Vergrößerungen des Skotons nach
oben hin eingestellt hätten, dafür findet sich kein Anhaltspunkt; es
wäre das eine ganz willkürliche Annahme, die dem einen von uns (P.)
schon damals überflüssig erschienen ist.
Es wurde vielmehr folgende Erklärung gegeben: Zerstört war
durch die Schußverletzung (und durch die spätere Abszedierung) der
linke Okzipitalpol, also die linke Hälfte der doppelseitig angelegten
Zentren des makulären Sehens; selbstverständlich bestand nicht diese
Zerstörung allein, sondern (abgesehen von der Kleinhirnläsion, die
hier durchaus nicht vernachlässigt werden durfte) auch eine Destruk-
tion in den kunealen Nachbarpartien der Area striata (vgl. die Be-
schreibung und die Abbildungen des Herdes in der zitierten ersten
Veröffentlichung).
Verletzte dieser Art wiesen häufig Störungen der Primär-
stellung der Augen auf. Insbesondere bei doppelseitigen
Verletzungen des Okzipitalpols (wie am Falle Obszut) kam es zu
Divergenzeinstellungen der Augen und zur Gegen-
drehung von Kopf und Augen (asymmetrische Konvergenz)
an Stelle der gewöhnlichen Primäreinstellung. Daß auch bei Pl. eine
Schwäche im Halten der primären Wachstellung der Augen bestand,
ist schon an den Doppelbildern ersichtlich. die gerade zur selben Zeit
bei ihm häufig waren, in der auch die optische Allistheste auftritt,
später aber verschwunden sind.
Diese Schwäche im Halten der primären Wachstellung der
Augen konnte (in den ersten Zeiten nach der Verletzung) es mit sich
z JH,
bringen, daß ein latent wirkender Zug, mit dem sich schon lange vor
Eintritt des Schlafs die Reflexumkehr in die Schlafstellung der Augen
allmählich vorbereitet (das „Müdewerden‘ der Augen) schon zu einer
Zeit sich geltend machte, während deren Patient sich noch voll-
kommen wach fühlte. Umbemerkte oder auch bemerkte periphere
Sehdinge, vielleicht auch optische Residuen vom Tage her, sind —
wenn diese Erklärung zutrifft — vorübergehend jenem verlagernden
Zug nach oben gefolgt, wie er der langsam sich durchringenden
Neigung zu Divergenz und Ablenkung nach aufwärts entsprach, der
Tendenz zur Schlafstellung der Augen. Es wären hier
also zuerst die peripheren Sehdinge nach oben abgelenkt worden.
viel später, während des Schlafens selbst, erst die Augen.
Die eingehende Begründung dieser Erklärung soll an dieser
Stelle nicht wiederholt werden. Ob man sie annimmt oder nicht:
jedenfalls bestand bei Pl. ein weitgehendes zeitliches Zusammenfallen
der optischen Allästhesie mit Störungen des binokularen Sehens in-
folge einer linkshirnigen Läsion der Großhirnzentren des zentralen
Sehens. So ist der Befund geeignet, jene Analogie zu stützen, die im
vorigen zwischen einer episodischen Energieverschiebung bei
optischer Allästhesie und zwischen der dauernden Energie-
verschiebung bei zerebral bedingtem Verlust des zentralen Sehens
aufgestellt worden ist; der Fall belegt die Analogie mit einem anato-
mischen Beispiel, das auch noch für eine eingehendere Betrachtung
herangezogen werden könnte; es erscheint uns aber für sich allein
nicht rein genug. da eine Kombination von Großhirnwirkungen mit
Kleinhirnwirkungen, wie sie hier vorliegt, schwer übersehbare Ver-
hältnisse schafft (vgl. dazu die Beobachtungen von v. Weizsäcker
und die seither veröffentlichten Fälle von Goldstein mit Metamor-
phopsien bei fraglichen zerebellaren Erkrankungen!).
Das Wesentliche am Inhalt der Fata morgana stimmt mit den
beiden früheren Beispielen überein; auch hier fällt das Wort
„Schattenfiguren“ Wenn der Kranke hier nieht anzugeben
weiß, ob die verlagerten Figuren in Farben zu sehen waren oder
nicht, so muß erwähnt werden, daß es sich in diesem Fall um einen
kongenital Rot-grün-Blinden von deuteranopem Typus gehandelt hat.
Etwas Prinzipielles wird aber aus diesem Zusammentreffen kaum ab-
zuleiten sein, da — wie die folgende Beobachtung zeigen wird — der
Typus der .„Schattenfiguren“ auch unter anderen Bedingungen sich
wiederlindet.
Wie in unserer Beobachtung 1. so ist es auch im Falle Pl. nicht
klar, ob der Inhalt der Verlagerungen ausschließlich den Sehdingen
zu. ih ie
aus der jeweils gegenwärtigen Umgebung entstammt oder ob auch
optische Residuen von früher her dabei mitwirken. Bemerkenswert
ist. daß sowohl bei Beyer, wie in unserer Beobachtung 2 der Zweifel
geäußert wurde, ob die verlagerten Gegenstände aufrecht oder ver-
kehrt zu sehen waren. Wahrscheinlich interferiert in beiden Fällen
eine starke Tendenz zum Aufrechtsehen, wie sie ja aus vielen physio-
logischen Versuchen bekannt ist, mit einer anderen Tendenz, die zum
beschriebenen pathologischen Phänomen gehört und die dahin strebt.
nicht nur im Sehraum die Hauptrichtungen miteinander zu ver-
tauschen, sondern auch die Bilder der verlagerten Figuren um-
zukehren. Doch läßt sich darüber wohl kaum etwas Sigheres sagen.
Zu beachten ist ferner, daß in unseren beiden ersten Beispielen
nur die Vertauschung von unten mit oben im Sehraum zur Geltung
kommt. nicht aber, wie in der Beobachtung Beyer, außerdem noch
die Vertauschung von rechts mit links. Es wäre allerdings möglich, `
daß in unserer Beobachtung 2 die Äußerung, daß die Figuren wie
schief erschienen seien, doch auf das Bestehen einer diagonal ver-
schiebenden Komponente zu beziehen wäre. Auf jeden Fall aber kann
man sich — vorläufig schematisch — eine etwaige solche diagonale
Verschiebung ebenso wie die Vertauschung der Lage rechts unten mit
der Lage links oben aus zwei Komponenten zusammengesetzt denken:
die eine würde die Vertauschung von rechts und links anstreben, die
andere die Vertauschung von oben und unten; wechselnde Kräfte-
verhältnisse dieser beiden Komponenten würden dann bei ihrem Zu-
sammentreten jede Schrägvertauschung und Diagonalrichtung der
Figuren verständlich machen.
In unserer Beobachtung 1 also kommt vor allem eine Zustands-
veränderung in der oberen Hälfte des Sehfeldes in Betracht, der das
Erscheinen der verlagerten Figuren zugeordnet ist: wir haben sie
vorläufig mit einer Verschiebung von Eigenschaften des zentralen
Sehens auf einen peripheren Bereich des Sehfeldes in Zusammenhang
zu bringen versucht. In unserer Beobachtung 2 fällt vor allem eine
Schwäche der Fusion des Doppelauges, also eine Insuffizienz der
Einstellung des binokularen Sehens ins Gewicht. Der Autopsiebefund
unserer Beobachtung 2 vermittelt den Übergang zwischen diesen bei-
den Faktoren: Da der polare Anteil der linken Area striata zerstört
ist. liegt die Anschauung nahe, daß die Veränderung im Sehfeld und
die Veränderung der Bliekhaltung nur zwei Seiten desselben Grund-
vorgangs sind, der sich hei der klinischen Beobachtung in eine sen-
sorische und in eine motorische Komponente zerlegt; im klinischen
=. |
Bild ist bald die eine deutlicher nachzuweisen, bald die andere. ohne
daß man etwa ausschließen kann, daß beide vorhanden seien.
Die nächste Beobachtung, von der wir berichten, betrifft streng
genommen nicht eine optische Allästhesie, da es sich nicht um
Simultanwirkungen eben gegebener optischer Reize, sondern um
Nachwirkungen optischer Residuen handelt. Die von
uns vorgeschlagene Bezeichnung Fäta morgana im Sehraum läßt sich
aber leicht auf sie anwenden. Es handelt sich um tachistoskopisch
provozierte optische Halluzinationen unter dem Zusammentreffen
mehrerer besonderer Bedingungen.
Beobachtung 3. (P., Klinik Wagner-Jauregg, Oktober 1913
bis März 1914.)
H. Akademisch gebildet, intelligent, Jurist ohne Prüfungen, der sich als
Hauslehrer durchbrachte. Zur Zeit der Untersuchungen 36 Jahre alt, starker
Trinker. 1901 luetischer Primäraffekt.
Mitte August 1905 begannen bei ihm heftige Kopfschmerzen, die sich in
der Nacht verstärkten. 28. August 1905 nach einem AlkoholexzeB traten bei
Patienten ohne Bewußtseinsverlust linksseitige Lähmungen ein, die rasch
hintereinander in mehreren Attacken einsetzten: Zuerst Tastsinnsstörung der
linken Hand, eine Stunde später Dysarthrie der Sprache und linksseitige
Lähmung des Mundfazialis, sowie Parese des linken Beins.. Am nächsten
Tage folgte komplette linksseitige Hemianästhesie, dazu das Unvermögen.
den Blick nach links zu wenden. Ob damals eine Henianopsie bestand, ist
unerwiesen; die Krankheitsgeschichte aus dieser Zeit vermerkt darüber nichis:
Pat. selbst gibt an, er habe links nichts gesehen, weil er nicht nach links habe
schauen können.
Diese Blicklähmung war nach zwei Tagen spurlos verschwunden. Die
Hemianästhesie blieb verhältnismäßig lange und erhielt sich in geringen
Resten. Alle übrigen Herderscheinungen besserten sich unter spezifischer
Kur bis Ende September 1905 sehr weitgehend.
Zur Zeit der optischen Versuche (Herbst 1913) fand sich noch eine
leichte Hyperästhesie der linken Körperhälfte und eine Verschlechterung
der Lokalisation taktiler Eindrücke an den distalen Partien des linken Arms.
Die linke Hand zeigte eine geringe Beweglichkeitsbeschränkung vom gewöhn-
lichen zentralen Typus, das linke Bein eine leichte, aber deutliche spastische
Parese. Von einer Hemianopsie oder Blieklähmung war auch bei den feinsten
Prüfungen keine Spur nachweisbar. Eine „Sekundärkontraktur nach Blick-
lähmune“ (Baranv) bestand nicht').
Mai 1911 machte Pat. eine etwa 8 Tage dauernde Alkoholhalluzi-
nose durch. 1913 im Januar folgte ein episodischer Zustand der gleichen
Art. Seit Anfang September 1913 bestand ein mehr subehronischer Zustand
mit Gehörstäuschungen („Vorsprechen“, „Einsagen“). Der Inhalt der
akustischen Halluzinationen entsprach seinem Typus nach dem Gedanken-
lautwerden: dazu kam ein dürftiger episodischer Beziehungswahn.
') Barany hat dies selbst auf Bitte des einen von uns nachgeprüft.
u. IT -e
1. Oktober 1913 auf die Klinik Wagner-Jauregg gebracht,
wird er von P. wegen der seinerzeitigen Blickstörungen besonders
genau auf das Symptom des Gedankensichtbarwerdens befragt. Er
gibt auch tatsächlich an, daß er zuweilen Bilder vor sich sehe, aber
immer nur ganz flüchtig; gewöhnlich seien es Dinge, die ihm lebhaft
einfallen. Wenn er solche Bilder habe, so kämen sie immer „ganz auf
der linken Seite“.
Es wird nun sofort versucht, durch gewöhnliche Expositionen
von Bildern derartiges Gedankensichtbarwerden hervorzurufen. Dies
gelingt niemals.
Dagegen gelingen die Versuche sofort, wenn man flüchtig (tachi-
stoskopisch) Expositionen von Objekten oder Bildern gab.
Eine große Anzahl von solchen Versuchen (viele Hundert) er-
vab konstante Verhältnisse, die sich folgendermaßen zusammen-
fassen lassen:
1. Dauerexpositionen von Objekten und Bildern provozieren nie-
mals Halluzinationen. Die Halluzinationen stellen sich aber regel-
mäßig ein, wenn eine zu kurze Dauer der Exposition den optischen
Erfassungsakt beeinträchtigt, also unter derselben Bedingung, unter
der gesunde Versuchspersonen (auch der untersuchte Patient)
agnostische Fehler machen.
Die optischen Halluzinationen, die unter dieser Be-
dingung (besonders bei tachistoskopischer Exposition von Bildern
oder von Schriftzeichen) entstehen, treten als eine streng diskon-
tinuierliche Folge von Einzelphänomenen auf. Die
einzelnen Halluzinationen einer solchen Reihe sind durch Pausen von
mehreren Sekunden (zumeist 10 Sekunden und mehr) getrennt. Der
ganze Rhythmus im Wechselspiel der Halluzinationen und Pausen
entspricht etwa dem Rhythmus des sekundären Bildes nach flüchtiger
Belichtung der Netzhaut. Die Zeiten zwischen den einzelnen Hallu-
zinationen solcher Reihen variieren je nach Dauer und Intensität des
Gesamtphinomens. Diese hängen von der Art des Erfassungsaktes
ab, außerdem aber noch von allen Vorgängen, welche den Aufmerk-
samkeitszustand affizieren. Anspannung der Aufmerksamkeit beein-
trächtigt das Halluzinieren und verlängert die Pausen; Zerstreuung
begünstigt das Halluzinieren und kürzt die Pausen ab.
Ebenso fördert eine Verkürzung der Expositionszeit oder eine
größere gestaltliche Komplikation des exponierten Bildes das Hallu-
zinieren und Kürzt die Pausen. Verlängerung der Expositionszeit und
Vereinfachung des exponierten Bildes wirkt im umgekehrten Sinne;
entsprechend kombinieren sich diese Faktoren etc. Diese Kompli-
kationen lassen eindeutige meßbare Verhältnisse dieser Variabili-
tät nicht gewinnen.
2. Das sekundäre Bild nach flüchtiger Belichtung der Netzhaut
erscheint subjektiv wesentlich intensiver als unter normalen Verhält-
nissen (im Gegensatz zu den Angaben einiger damals mituntersuchter
Kranker "mit Hemianopsie nach Großhirnherden; später, bei der
Untersuchung von Hinterhauptschüssen, hat P. die gleiche gesteigerte
Lebhaftigkeit des sekundären Bildes und der positiven Nachbilder
sehr häufig gefunden).
Bei H. hat das sekundäre Bild eigentümliche konstante Begleit-
erscheinungen:
Es wird immer nach der linken Seite des Gesichtsfeldes hin
projiziert. Im Augenblick, in dem es erscheint, hat Patient die Sen-
sation, als ob von links her eine dunkle Wand aufstiege. die von ihm
weg schräg nach außen bis zur Projektionsfläche hin (also z. B. bis
zur Tafel) reicht. Damit verschwindet ihm ein Teil der linken Ge-
“sichtsfeldhälfte. An der Grenze zwischen diesem positiven Skotom
und dem erhaltenen Gesichtsfeld erscheint ein heller, graner Streifen.
einem Halbschatten vergleichbar. In dem Grau dieses Streifens. nahe
seiner Grenze gegen das sehende Gesichtsfeld, immer aber deutlich
von dem klaren Bereich des erhaltenen Gesichtsfeldes getrennt. er-
scheinen die sekundären Bilder.
Dieses ganze positive Skotom kam aber immer nur flüchtig, zu-
gleich mit einem sekundären Lichtbild: es verschwand alsbald wieder.
zugleich mit dem Scheinbild, um erst mit dem nächsten Scheinbild
wieder zu erscheinen und zu verschwinden. In den Pausen zwischen
den oszillierenden Scheinbildern war für Patienten keine Spur des
positiven Skotoms nachzuweisen, ebensowenig in der Zeit außer-
halb der Versuche.
3. Auch die Serien der tachistoskopiseh provozierten optischen
Halluzinationen verbanden sich ausnahmslos mit demselben positiven
Skotom in der Anordnung, wie sie eben geschildert worden ist. In
dem Grau des (rrenzstreifens nahe dem sehenden Gesichtsfeld er-
schien jede einzelne Halluzination einer solehen Serie: „Wenn sie
mehr im Hellen wären, könnte ich sie besser ausnehmen.“
In den Pausen zwischen den Halluzinationen einer solehen
Reihe ist auch das Skotom spurlos verschwunden: es entsteht und
verschwindet mit jeder Halluzination der Serie. Wenn aber nach
mehrfachen diskontinuierlichen Aufeinanderfoleen die Sukzession der
Scheinbilder sich zu erschöpfen beginnt, dann „bewegt sich“ gewöhn-
lich die letzte deutliche der projizierten Halluzinationen: sie ..ver-
AG. ass
schwindet“ von ihrer ursprünglichen Stelle „nach außen hin
ins Dunkle“. Nach der nächsten (stets relativ langen) Pause er-
schien nunmehr „ein Ruck, ein Huschen, das gleich vorüber war“
oder die schwarze Wand stieg flüchtig auf. aber ohne Scheinbild.
oder der Kranke meldete ein „Kurzes, schwarzes Zucken links“.
4. Der Inhalt der tachistoskopisch provozierten optischen
Halluzinationen war in seiner Gesetzmäßigkeit am leichtesten zu
studieren nach kurzer Darbietung von figurenreichen und farben-
reichen Bildgruppen (Ansichtskarten, Gemälde usw.). Die diskonti-
nuierliche Folge von Visionen, die eine solche Exposition auslöste.
enthielt ganz regelmäßig nur das und gerade das, was bei der Expo-
sition nicht erfaßt worden war, während alles, was er optisch erfaßt
und beschrieben hatte, in den folgenden Visionen vollkommen unter-
drückt blieb. |
Jede der einzelnen Halluzinationen einer solchen Reihe reprodu-
zierte aber nur irgendeinen kleineren Teil der nicht bewußt wahr-
genommenen Partien aus jenen optischen Gruppierungen, die die
Exposition enthalten hatte. Die Nachentwicklung des Nichterfaßten
geschah also in einzelnen Quanten, die die Exposition mosaikartig
zerstückten, aber ganz anders, als sie der Gesunde während einer
gewöhnlichen Betrachtung zerlegt hätte; sie glich vielmehr der Art,
wie positive Nachbilder unbemerkte Teile des Originals wiedergeben
(Purkinje, Helmholtz). Der größte Teil dieser Halluzinationen
zeigte eine geometrische Treue mit den Konturen des Originals, sowie
eine Treue der Farbengebung, die oft frappierte; es wurde aber stets
ein anderer Sinn unterlegt, wie er aus der isolierten Betrachtung des
betreffenden Teilstücks nachträglich leicht verstanden werden
konnte, ohne Zerlegung und Verdeckung der übrigen Teile des expo-
nierten Bildes aber oft völlig unverständlich war. Oft hatte die Zer-
stückung des Bildes, die sich in diesen einzelnen Halluzinationen voll-
zog, einen ganz vexierbildhaften Charakter.
Daneben kamen (in einer Minderzahl der Beispiele und in den
Serien verstreut) verdichtende Mischeffekte von Farben, Formen.
Richtungen. insbesondere aber Verlagerungen vor. stellenweise auch
Vereinfachungen komplizierterer Konturen: derart veränderte
optische Residuen wirkten dann oft traumhaft verschwommen und
bewuBtseinsfremd.
Auch waren die einzelnen Bruchstücke sowohl vom Original-
eindruck wie voneinander vollkommen losgelést und ohne Zu-
sammenhänge. die sich im bewußten Erleben gebildet hätten; sie
kamen wie passiv, dem Anschein nach, ohne daß der Wille der Ver-
s. “Oi See
suchsperson ihren. Rhythmus verändert hätte (vgl. dazu das Ein-
schlägige aus der Selbstbeobachtung von Ernst Freund). Wohl
aber veränderten Aufmerksamkeitsschwankungen diesen Rhythmus.
Je mehr von der Exposition erfaßt worden war, desto spärlicher
kamen diese Halluzinationen; je weniger aufgefaßt worden war,
desto lebhafter, bestimmter und reicher waren sie. Sie ergaben
mosaikartig zusammengeflickt somit gewissermaßen das Negativ des
Erfaßten. Jedoch entsprach ihr Inhalt niemals dem Mechanismus
negativer Nachbilder oder des Kontrastes, sondern stets dem
Mechanismus der positiven Nachbilder.
Unter den Verlagerungen, die sich an einzelnen derartigen Trug-
bildern fanden, gab es oft Spiegeldrehungen, aber auch Vertauschun-
gen von oben mit unten, diagonale Schrägrichtungen (vgl. dazu das
Einschlägige aus Beobachtung 2 usw.). Im ganzen fanden sich so
ziemlich alle Fehlertypen wieder, die Urbantschitsch in seinen
Studien über die subjektiven Anschauungsbilder beschreibt. Wir
sehen deshalb hier von der Angabe besonderer derartiger Beispiele
aus den Protokollen ab.
5. Das sekundäre Bild nach flüchtiger Belichtung (vgl. sub 2)
mit allen seinen Begleiterscheinungen (vgl. sub 1 und 2), ebenso aber
auch die geschilderten halluzinatorischen Serien, zeigten gewisse
gesetzmäßig erscheinende Verschiebungen.
In den Versuchen, in denen der Blick der Vp. in der gewöhn-
lichen Primärstellung unbewegt seinen Fixierpunkt hielt, während
die Richtung der flüchtigen Belichtung variiert wurde, ergab sich nur
zuweilen deutlich eine Verschiebung in der Projektionsrichtung der
optischen Nachentwickelungen. Wenn eine solche vorhanden war,
so geschah sie etwas weiter nach links hin, wenn die Belichtung von
rechts her stattfand; zuweilen auch verschob sich das nach außen
projizierte sekundäre Bild nach oben, wenn von unten her belichtet
wurde, niemals umgekehrt.
Ein Teil dieser Versuche wurde exakt mit punktförmigen Licht-
reizen und perimetrisch im Dunkelzimmer gemacht; gerade diese An-
ordnung ergab nur schlechte und verspätete Nachentwicklungen.
Für das Zustandekommen der Verschiebung in der Projektion der
Trugbilder schien die Anwendung punktförmiger Lichtreize prin-
zipiell nicht notwendig zu sein; es genügte die Verschiebung der
Richtung, von der aus belichtet wurde. Flüchtige Belichtung mit
einer stärkeren Lichtquelle (z. B. von rechts) brachte weit deutlichere
Nachentwicklungen und damit klarere Angaben, als schwächere
2. d
Lichtwirkungen, die ein isoliertes Areal der Netzhaut möglichst iso-
liert trafen.
Versuche der ersteren Art brachten zuweilen und inkonstant
auch Verschiebungen der Skotomwand (vgl. sub 2). Wenn solche
angegeben wurden, so war es stets in folgendem Sinne: Wurde von
einer Richtung extrem links her belichtet, so erreichte die Skotom-
wand fast die Mitte der Projektionsfläche (Tafel). Von der rechten
Peripherie des Gesichtsfeldes her bewirkte die Belichtung das Auf-
tauchen der Wand „weiter links“ und die Angaben einer Verschie-
bung des grauen Streifens samt Trugbild weiter nach links hin. Zu-
weilen aber bewirkte der Versuch nur ein Augenflimmern im ganzen
Bereich, in dem sonst das Skotom aufstieg; manchmal wieder äußerte
Vp. bei Belichtung von rechts her, daß die ganze imaginäre Wand
viel heller erscheine, als jemals sonst. Bewegungserscheinungen der
Trugbilder wurden in diesen Versuchen nicht vermerkt. Vp. hielt die
Fixation gut.
Die Versuche mit Wechsel der Richtung einer flüchtigen Be-
lichtung waren also nicht völlig konstant und die Verschiebungen,
die sich ergaben, können höchstens. bei einer Minderzahl der Reak-
tionen als subjektiv eindeutig bezeichnet werden.
6. Vollkommen konstant und subjektiv ganz eindeutig waren
hingegen die Verschiebungen in den geschilderten subjektiven Phäno-
menen, wenn man nicht die Lichtrichtung änderte, sondern die
Bliekeinstellung, indem man z. B. die Augen mit einer Licht-
quelle (gewöhnliche elektrische Taschenlampe bei Tageslicht) voll be-
lichtete, während sie durch einige Zeit (ca. 30 Sek. und länger) bereits
möglichst extrem nach rechts gewendet standen, während der Kopf in
gerader Haltung fixiert war‘). Man konnte dann gleich nachher den
Patienten wieder zu der gewöhnlichen Mittelstellung der Augen über-
gehen lassen (in analoger Weise, wie man nach Drehung auf dem
Drehstuhl eine veränderte Kopfstellung einhalten ließ und dann wie-
der die normale Kopfhaltung herstellt”). Es zeigten sich dann kon-
stant folgende Verschiebungen: |
') Ein Fixierpunkt zum Halten der Rechtseinstellung wurde immer ge- |
geben; fehlte er, so wurde das Ergebnis inkonstant und weniger deutlich.
2) Bei unserer Vp. wurden nur Änderungen der Augenstellung bei fester
Kopfhaltung (Gesicht geradeaus) untersucht. Ließ man auch Änderungen
der Kopfhaltung zu, oder kombinierte man die Haltungen, so ergaben sich
komplizierte, nicht übersehbare Verhältnisse. Ließ man die gewöhnliche
aktive Wendung von Kopf und Augen zu, so ergab sich kein sicherer Unter-
schied gegen den Effekt bei Mittelstellung und Belichtung von vorne.
Nach einer derartigen Belichtung bei gehaltener Rechtswendung
der Augen erschien zugleich mit dem sekundären Lichtbild die dunkle
Wand; sie reichte aber nicht sehr weit; sie erfüllte etwa eine Aus-
dehnung des Sehraums, die der Ausdehnung des temporalen Halb-
monds im Gesichtsfeld entspricht; grauer Streifen samt Scheinbild
erschien auf der Projektionsfläche entsprechend weit links. Wurden
die Augen in analoger Weise bei extremer Linkshaltung (und fixier-
tem Kopf) flüchtig belichtet, also bei Blickwendung nach der Seite
der einstigen Blicklähmung hin, so nahm das Skotom fast die ganze
linke Hälfte des Sehraums ein und das Trugbild zeigte sich fast in
der Mitte der Projektionswand.
Die Belichtung in gewöhnlicher Mittelstellung der Augen ergab
eine Ausdehnung des positiven Skotoms bzw. eine Projektion von
Grenzstreifen und Trugbild, die zwischen den beiden angedeuteten
Extrembefunden die Mitte hielt. Die Angaben über alle diese Variatio-
nen waren konstant.
Der weitere Verlauf des Falles war ein subchronischer. Pat. wurde im
März 1914 entlassen; alle spontanen Halluzinationen hatten aufgehört: die ge-
schilderten Erscheinungen im Versuch aber ließen sich auch in dieser Zeit
noch stets prinzipiell in der gleichen Weise (in unwissentlichem Verfahren.
was den Inhalt der exponierten Bilder betrifft) hervorlocken.
Im Jahre 1917 und 1919 kam Patient mit Rezidiven der Alkoholhalluzinose
wieder in Beobachtung; die geschilderten Phänomene waren noch dieselben
und konnten neuerlich demonstriert werden. In den Zwischenzeiten ver-
diente Pat. seinen Lebensunterhalt als Hofmeister oder Hauslehrer. Seit 1919
erschien er nicht mehr; wir wissen über seine weiteren Schicksale nichts.
Wir haben im vorigen lediglich die Befunde geordnet und zu-
sammengefaßt, die sich aus unserer Beobachtung 3 ergeben haben und
die in einer ganz außerordentlich zahlreichen Menge von genau proto-
kollierten Versuchen immer wieder gleich geblieben sind. Soweit die
Einzelheiten sich nur aus den Angaben des Kranken über subjektive
Phänomene ablesen lassen, dürfen wir ruhig behaupten, daß sie den
Anforderungen entsprechen, die A. v. Tschermak-Seysenegg
an das Prinzip eines exakten Subjektivismus stellt; man darf
aber nicht vergessen, daß die Angaben des Patienten über die Hallu-
zinationen der einzelnen Serien sich objektiv aus den exponierten
Bildern durch entsprechende Zerstückung und Verdeckung ablesen
ließen und daß sich durchwegs Leistungen des vorbewußten Sehens
ergaben, die Keine der mituntersuchten gesunden Versuchspersonen
jemals getroffen hätte, die auch nach Inhalt und Art einer Willkür
seitens der Versuchsperson entrückt waren. Der eine von uns (P.)
hatte später (1918) durch die Güte von weil. Urbantschitsch die
Gelegenheit, dessen beste Versuchsperson zu untersuchen; auch diese
blieb in ihren reproduktiven Leistungen ganz unverhältnismäßig weit
hinter unserer Versuchsperson in Beobachtung 3 zurück. Falls daher
jemand aus der Schilderung der Versuche hysterische Mechanismen
oder willkürliche Vortäuschungen seitens der Vp. herauslesen will, so
dürfen wir dies als irrig bezeichnen; höchstens der Mechanismus, den
seither Kretschmer als Reflexverstärkung bezeichnet und
den hysterischen Mechanismen zugerechnet hat, käme hier in Betracht,
zumal für die zahlreichen Wiederholungen der Versuche in späterer
Zeit. Wir glauben nicht, daß diese Annahme an der sinnesphysiolo-
gischen Bedeutung der hier angeführten ‚Ergebnisse etwas zu ändern
vermag; wir meinen daher, daß wir für die weitere Besprechung die
Frage, ob und wieweit hier eine hysterische Reflexverstärkung den
organischen Kern der geschilderten Symptome unterstützend heraus-
gehoben hat, als unwesentlich beiseite lassen dürfen.
Entsprechende Versuche, die an den akustischen Halluzinationen
des Patienten angestellt worden sind, lassen wir ebenfalls unbespro-
chen; wir wenden uns zu der Interpretierung der sub 1 bis 6
berichteten Versuchsergebnisse.
(Ad 1., 3. und 4.) Daß die optischen Halluzinationen nur unter
Bedingungen auftreten, bei denen die Aufmerksamkeit verringert oder
der Erfassungsakt durch sonstige Bedingungen beeinträchtigt ist, ent-
spricht einer bekannten allgemeineren Eigenschaft der Halluzinatio-
nen und Illusionen. Der Sonderfall, der hier vorliegt (Provokation
durch tachistoskopische Expositionen), entspricht optimalen Bedin-
gungen für die Auslösung positiver Nachbilder. Man kann
jede einzelne Serie von optischen Halluzinationen als eine Serie posi-
tiver Nachbilder auffassen, die aber besonders lebhaft und in einer
eigenen Art in den Außenraum projiziert sind, die also wegen dieser
beiden Eigenschaften Halluzinationen genannt werden müssen.
Auch der Rhythmus einer solchen Serie gleicht dem Rhythmus
einer Serie positiver Nachbilder, unter Bedingungen, die deren Ent-
wieklung besonders steigern. Vergleichen wir die hier beschriebenen
Phänomene mit der optischen Allästhesie, wie sie die zuerst besproche-
nen Beispiele enthalten, so ergibt sich zunächst der Unterschied, daß
bei der einen eine Verlagerung von Sehdingen eingetreten ist, die
sichtbar waren. während sie verlagert worden sind, daß dagegen
bei diesem halluzinatorischen Phänomen eine nachträgliche Ver-
lagerung optischer Residuen der Exposition stattgefunden hat.
Da aber das Material dieser Halluzinationen optische Residuen be-
troffen hat, die schon in der unmittelbaren Nachphase der originalen
— 24 —
Erregung aufgetaucht sind, glauben wir, daß der bezeichnete Unter-
schied kein wesentlicher ist; drücken wir ihn in der Benennungsweise
Semonsaus, so entsprechen die Phänomene der optischen Allästhe-
sie vom Typus der E.Beyerschen Beobachtung dersynchronen
Phase der Erregung; die Serienhalluzinationen unserer Beob-
achtung 3 entsprechen der akoluthen Phase der Erregung.
Diesen beiden Phasen’ stellt bekanntlich Semon die folgende Latenz-
zeit und die späteren Ekphorien der Engramme gegenüber, die die
originale Erregung gesetzt hat.
Eine Anwendung der gleichen Versuchsanordnung am Gesunden
hat seither gezeigt, daß im Prinzip die gleichen serienweise und zer-
stückt vor sich gehenden Nachwirkungen tachistoskopisther opti-
scher Expositionen auch am Gesunden auftreten, daß aber das hal-
luzinatorische Zutagetreten dieser Nachwirkungen — zwar nicht
ausschließlich, aber doch ganz vorwiegend — im Traum-
zustand erfolgt, nicht im Wachen. Demgemäß fallen die Phäno-
mene hier in Zeiten, die bereits zu der Latenzzeitnach der Origi-
nalerregung (im Sinne von Semon) zu rechnen sind, vor allem in
die hypnagogen Zustinde z. Z. der auf den Versuch folgenden Nacht.
Mit diesen Parallelbefunden am (Gesunden, also mit den tachisto-
skopisch provozierten Traumbildern wollen wir uns hier, bei der Dis-
kussion über die optische Allästhesie, nicht befassen; wir verweisen
auf die eingehende Darstellung, die der eine von uns (P.) darüber
gegeben hat.
Die Traumversuche am Gesunden konnten bildlich reproduziert
werden. indem man durch entsprechende Verdeckung des photographi-
schen Negativs der Originalexposition und durch Wiedergabe der
einzelnen im Traumbild reproduzierten Teilstücke die einzelnen in-
duzierten Träume getreu nach der Erinnerung der Versuchsperson
wiedergab. Genau dieselbe Reproduktionsweise würde selbstverständ-
lich auch für jede halluzinatorische Serie unserer Beobachtung 3 mög-
lich sein; wir sehen aber hier davon ab, da sich dadurch nichts prin-
zipiell Neues ergeben würde, das nicht schon in der Darstellung der
Traumversuche enthalten gewesen wäre. Wir müssen noch auf einige
Eigenschaften der halluzinatorischen Serien unserer Beobachtung 3
hinweisen, die uns für die Diskussion der optischen Allästhesie teils
unmittelbar, teils mehr mittelbar von Wichtigkeit zu sein scheinen.
Vergleichen wir die rhythmisch wiederkehrenden Nachentwick-
lungen in unseren Versuchen mit anderen subjektiv exakt beobach-
teten rhythmischen Nachwirkungen eines Sinnesreizes, z. B. mit den
von M. H. Fischer und Wodak seither überaus genau verfolgten
— 25 —
subjektiven Nachwirkungen der Drehempfindung,
so findet sich ein sehr bemerkenswerter Unterschied. Während z. B. in
den Nachwirkungen der Drehempfindung (ebenso wie im rhythmischen
Wechsel der Nachbilder nach Belichtung beim Gesunden) Phasen, die
einem negativen Nachbild entsprechen, in der bekannten gesetz-
mäßigen Weise abwechseln mit Phasen, die positiven Nachbildern
entsprechen, finden sich in den Serien unserer Versuche aus-
schließlich lebhafte, zu Halluzinationen gewordene positive
Bilder. Wir können selbstverständlich nicht ausschließen, daß nega-
tive Bilder während der Beobachtungszeit bei unserer Versuchsperson
zwischendurch vorhanden waren und daß sie von ihr nur unvermerkt
geblieben sind; aber mit Bestimmtheit läßt sich sagen, daß unter allen
halluzinatorischen Wirkungen, die in den Außenraum proji-
ziert wurden, derartige negative Bilder sich nicht fanden.
Berücksichtigen wir, daß auch die Bedingungen, unter denen diese
Halluzinationen überhaupt hervorzulocken waren (verkürzte Exposi-
tion usw.) offenbar mit Bedingungen identisch sind, die die positiven
Nachbilder fördern, die Produktion negativer Nachbilder aber ver-
ringern, berücksichtigen wir ferner, daß die Erscheinung sofort ge-
sperrt war, wenn eine Dauerbeobachtung oder eine entsprechende
Wahl des Untergrundes den Kontrast und die Bildung negativer Nach-
bilder gefördert hatte, so kommen wir zu dem Schluß, daß eine
wesentliche Grundbedingung zur Erzielung der projizierten
Halluzinationen hier in der Verminderungeines Vorgangs
bestanden hat, der Kontrastphänomene und nega-
tive Nachbilder hervorbringt.
Diese Grundbedingung ist in unserem Fall durch das Zusammen-
treffen mehrerer Faktoren geschaffen worden, von denen nur ein Teil
in die Versuche eingeführt worden ist, ein anderer Teil aber der be-
stehenden Alkoholhalluzinose, bzw. einer von ihr hinter-
lassenen dauernden Disposition zugeschrieben werden kann. Erschei-
nungen, die darauf hinweisen, sind bei Halluzinanten schon öfter fest-
gestellt und genauer. untersucht worden (vgl. dazu z. B. die Unter-
suchungen von Schüller und G. Alexander über die verlänger-
ten Nachwirkungen von Sinneseindrücken bei Stimmenhalluzinanten).
Ob und wieweit auch die Wirkung des alten Hirnherdes hier mit-
beteiligt war, kann erst später erörtert werden.
Jedenfalls hat unter dieser Bedingung (wenn auch vielleicht nicht
durch sie allein) eine Projektion der einzelnen optischen Hallu-
zinationen inden Außenraum stattgefunden, die nach ihrer
Art und Richtung vollkommen vergleichbar ist mit der Projektion
Herrmann-Pötz|, Optische Allästhesie (Abhdl. H. 47). 3
optischer Trugbilder bei halluzinierenden Hemianopikern. Unser
’atient hatte aber keine dauernde Hemianopsie; selbst für die floride
Zeit seiner organischen Hirnerkrankung steht jeder Beweis für das Be-
stehen einer solchen aus.
Sehen wir vorerst von diesem Unterschied ab, so können wir das
hier beobachtete experimentell bedingte Phänomen jenen gerichteten
optischen Halluzinationen angliedern, mit denen sich insbesondere
Henschen eingehend befaßt hat und aus denen er Schlüsse über die
Hirnvorgänge bei der optischen Halluzination ableitet. Wir brauchen
hier nicht auf die Kontroverse einzugehen, die sich in dieser Beziehung
jüngst zwischen Henschen und Schröder entsponnen hat. In
unserem Zusammenhang Kommt es zunächst nur auf die Projektions-
richtung dieser Halluzinationen an; daß diese mit besonderen zen-
tralen Verhältnissen zusammenhängt. nicht aber mit dem Bestehen
eines Deliriums, ist hier wohl offenbar.
Henschen (ebenso Eskuchen) hat aus seinem Beobachtungs-
material die Annahme abgeleitet, daß die hemianopisch projizierten
optischen Halluzinationen „vorzugsweise an die laterale Okzipital-
rinde gebunden sind. Sie haben demnach eine bestimmte Lokalisation,
nämlich in der den Erscheinungen entgegengesetzten Okzipitalrinde.“
Weiter hat Henschen aus seinen eigenen Fällen, sowie aus
klinischen Beobachtungen von Berger, Uhthoff und Lehr
(Quadrantskotomen) als „unzweifelhaft“ abgeleitet, „daß in der
lateralen Okzipitalrinde die Auffassung nieht nur von rechts und
links, sondern auch von oben und unten verschieden lokalisiert ist
und daß also... die Vorstellungen von verschiedenen Richtungen in
der Rinde verschieden lokalisiert sind“. In der Projektion der opti-
schen Halluzinationen unserer Beobachtung 3 spielen tatsächlich Ver-
schiebungen im Sehraum von rechts nach links, sowie auch (wenn-
gleich in beschränkterem Maß. vgl. sub 5 und 6) Verschiebungen von
unten nach oben eine Rolle. Dies gleieht unser Ergebnis einerseits
sehr an die Verlagerungen im Sehraum an, die bei der optischen All-
ästhesie im engeren Sinne (in den zuerst referierten Beobachtungen)
während einer originalen Erregung vor sich gehen; andererseits
wird die Art, wie sich in unserer Beobachtung 3 die Halluzinationen
in den Raum projizieren, dadurch noch mehr an die Mechanismen an-
geglichen., die Henschen dargestellt hat. Unsere Beobachtung 3 er-
scheint so als eine Art von Zwischenbefund zwischen den ge-
wöhnlicheren gerichteten optischen Halluzinationen bei Hirnherden
und zwischen der optischen Allästhesie.
Dadurch gewinnt es an Bedeutung, daß nach den konstanten An-
gaben unseres Patienten die optischen Halluzinationen stets nur in
dem grauen Randstreifen erschienen sind, der den klaren, durchsichti-
gen (rechts liegenden) Teil des Sehraums von dem dunklen positiven
Skotom (von der links gelegenen Wand) in einem allmählichen Über-
gang von Schwarz über Grau begrenzt hat; sie lagen im helleren
Teil dieses Streifens. Dies erinnert einerseits daran, daß mit der opti-
schen Allästhesie (vgl. unsere Beobachtung 2) zuweilen eine weiß-
liche Helle als Untergrund der verlagerten Figuren gegeben
war: andererseits erscheint dadurch das Phänomen fast wie eine
schematische Abbildung der von Henschen dargestellten Verhält-
nisse. Denn, wie Pat. angibt, verschwindet die letzte Halluzination
einer solchen Serie nach links hin „ins Dunkel hinein“; es ist, wie
wenn sie in den Bereich des Sehraums zurückkehren wollte, die der `
Okzipitalrinde der Gegenseite (Henschen) entspricht.
Sehr häufig sind die letzten rhythmischen Nachwirkungen nur
mehr ein „Aufsteigen der schwarzen Wand“ oder ein „flüchtiges
schwarzes Zucken“. In diesem Beispiel hat sich gewissermaßen die
optische Halluzination in ein positives Skotom verwandelt. Dies
erscheint wieder ganz konform den Befunden bei der optischen All-
ästhesie, in denen das Erscheinen verlagerter Figuren die Aura einer
Aura ist und früher oder später in ein positives Skotom (in unserer
Beohachtung 2 in das Dunkelgesichtsfeld der geschlossenen Augen im
hypnagogen Zustand) übergeht.
Alle diese gleichartigen Züge scheinen uns zu rechtfertigen, daß
wir hier die Verlagerung unmittelbar gesehener Figuren (die optische
‚Allästhesie im engeren Sinne) und die verlagerte Projektion optischer
Residuen nach flüchtigen Expositionen als Fata morgana des
Sehraums zusammenfassen. In beiden Vorgängen ist das Substrat
der Verlagerung am real gegebenen Ort unbemerkt geblieben; in beiden.
Fällen erscheint es deshalb für das unmittelbare Erleben wie eine
physikalische Luftspiegelung.
Was den Inhalt der einzelnen Halluzinationen in unserer Beobach-
tung 3 betrifft, so greifen wir hier nur jene Haupteigenschaft heraus,
die er mit den tachistoskopisch provozierten Traumbildern der Ge-
sunden teilt: das absolut ausschließende Verhältnis, in dem
er. zum Inhalt der bewußten Wahrnehmung steht, sowie die Rezi-
prozität zwischen Inhalt der bewußten Wahrnehmung und Inhalt
der Halluzinationen, die sich in dem einfachen Satz aussprechen läßt:
Je mehr von dem Komplex, der die Originalerregung veranlaßt hatte,
3*
— 9 —
in die bewußte Wahrnehmung Eingang findet, desto weniger erscheint
von ihm im Bereich der Halluzinationen und umgekehrt.
Daraus ergibt sich, daß (selbstverständlich zunächst nur unter
den besonderen Bedingungen, die die zitierten Versuche enthalten) die
zentrale Veränderung, die die Originalerregung setzt (wenigstens so-
weit sie einer Beobachtung zugänglich ist), in zwei getrennte Bereiche
zerfällt. Der eine Bereich füllt sich mit reicherem Inhalt, wenn der
andere spärlicher bedacht wird und umgekehrt. Wir können den zen-
tralen Vorgang, der diesem Befund zugrunde liegt, uns vorstellen als
eine Spaltung der zentripetalen Erregungenin zwei
getrennteFraktionen. Jede der beiden Fraktionen können wir
uns vorläufig einfach versinnbildlichen, wenn wir sie schematisch
unter dem physikalischen Bild einer gerichteten Kraft darstellen,
deren eine wächst, wenn die andere abnimmt usw.
Um ein möglichst elementares Gleichnis hier anzuwenden, ge-
nügt es, die Zerlegung der Schwerkraft bei der Pendelbewegung
heranzuziehen. Dann zerlegt sich die vertikal wirkende Kraft in eine
Kosinuskomponente (cosa ), die den Faden spannt und in eine Sinus-
komponente (sing ), die bewegende Kraft. Wenn wir also das ge-
wöhnliche elementare Schema der Pendelbewegung bei geringer Elon-
gation zeichnen, so können wir — selbstverständlich nur gleichnis-
mäßig — die vertikale Kraft, die in zwei Komponenten zerlegt wird,
mit der Wirkung der zentripetalen Erregung in Analogie bringen,
während es naheliegt, als die spannende, „tonisierende“ Kosinus-
komponente jenen Anteil der zentripetalen Einflüsse zu bezeichnen,
der für die Wahrnehmung scheinbar verloren gegangen ist; die trei-
bende Sinuskomponente stellt dann den Anteil dar, der bewußte Er-
lebnisse veranlaßt. Dann ist im Schema auch das reziproke Verhältnis
der beiden Fraktionen abgebildet: wächst die Kosinuskomponente, so
nimmt die Sinuskomponente ab usw. Es zeigt sich also, daß der Rhyth-
mus der Pendelbewegung, der im beobachteten Vorgang ohnehin schon
sich abzubilden scheint, ein einfaches Schema für das erste Verständ-
nis des hier vorliegenden zentralen Vorgangs bereitstellt; es würde
natürlich nahe liegen, die Phasen, in denen jede einzelne Halluzination
der Serie erscheint, mit den Umschlagstellen der Pendelbewegung im
Schema irgendwie in Verbindung zu bringen.
Wir wollen indessen ein Schema, das nichts anderes sein soll, als
ein möglichst einfacher Notbehelf, nicht weiter ausgestalten; nur das
eine muß selbstverständlich hinzugefiigt werden, daß nicht das Schema
der Pendelbewegung im leeren Raum hier in Betracht kommt, sondern
das Schema der gedämpften Pendelschwingungen mit logarithmi-
e Do ‚ir
schem Dekrement, da sich ja der Vorgang nach einer Serie von Hallu-
zinationen in der beschriebenen Weise erschöpft. Es ist auch zu ver-
merken, daß die Dämpfung im entsprechenden Pendelschema als
schwächer gewählt werden muß, wenn die bewußte Erfassung sinkt
und umgekehrt.
Man kann sich das beobachtete Phänomen verursacht
denken durch Verminderung einer zentral bedingten dämpfenden
(regenwirkung auf die Veränderungen, die durch die jeweilige zentri-
petale Erregung gesetzt worden sind. Da der kurze tachistoskopische
Ausschnitt aus einer Zeitwirkung der Erregung ein Optimum des
Phänomens dargestellt hat, läßt sich unter dieser besonderen Be-
dingung die Momentanwirkung der zentripetalen Erregung bis zu
einem gewissen Grade als ein Erregungs st o B im Schema veranschau-
lichen, die zentrale Verarbeitung der Erregung aber als eine Umwand-
lung des ErregungsstoBes in eine Wellenbewegung.
Die Verminderung der zentralen dimpfenden Gegenwirkung (die
man wohl der von dem einen von uns beschriebenen Gegen-
reaktion der Zentren zuschreiben darf) wird hier zu einem Teil
durch die bestehende Alkoholhalluzinose klinisch erklärt, zu einem
andern Teil vielleicht auch durch die Wirkungen des alten Hirnherds,
die nunmehr betrachtet werden müssen.
(Ad 2., 5. und 6.) Die organische Hirnerkrankung liegt (in Be-
obachtung 3) 8 Jahre hinter der Zeit der referierten Versuche zurück;
die Erscheinungen waren in dieser langen Zeit vollkommen stationär;
sie sind es auch weiterhin geblieben bis zum Schlusse der Beobach-
tung. Es ist also ersichtlich, daß die Einflüsse der Herderkrankung
auf die beschriebenen Phänomene als Narbenwirkungen auf-
zufassen sind.
Ob sie in irgendeiner Weise dazu beitragen, die Tendenz zum
Halluzinieren zu steigern, muß wohl als unsicher bezeichnet werden.
Desto besser ersichtlich ist ihr Einfluß auf die Projektions-
richtung der Halluzinationen und der sekundären Bilder nach
flüchtiger Belichtung: es handelt sich zweifellos um Wirkung einer
Herderkrankung der rechten Großhirnhälfte und diese Projektion
erfolgte ausnahmslos nach links. Auch für die Begleiterscheinungen
dieser Projektion (für das Auftauchen eines positiven Skotoms von
links her samt Randstreifen) wird die alte Herderkrankung verant-
wortlich zu machen sein; denn erstens sind solche Erscheinungen bei
halluzinierenden Psychosen ohne eine derartige Komplikation un-
bekannt; zweitens deutet auch hier die strenge Beschränkung des
— 80 —
positiven Skotoms auf die linke Gesichtsfeldhälfte auf die Wirkung
der Herde in der rechten Großhirnhälfte hin.
Betrachten wir zunächst die Erscheinungen bei gerader Blick-
richtung und Beleuchtung in Mittelstellung der Augen, so erfüllt (nach
den Aussagen des Patienten) das dunkle positive Skotom ein Areal
der linken Gesichtsfeldhälfte, das nicht viel größer ist, als der tempo-
rale Halbmond (Wilbrand und Sänger, Henschen). der Anteil
des binokularen Gesichtsfeldes, der nur der gekreuzten Sehsphäre, der
Seite des Herdes zugehört. Damit stimmt auch einigermaßen überein.
daß bei monokularer Prüfung die Erscheinung geringer wurde (ohne
indessen ganz zu verschwinden), wenn man das rechte Auge allein
‚prüfte; da sekundäre Wirkungen auf das linke Auge im Bereich der
peripheren Neurone hier unmöglich zu vermeiden waren, glauben
wir, daß ein völliges Verschwinden des Phänomens bei rechtsmono-
kulärer Prüfung auch dann nicht zu erwarten war, wenn man dieses
gerichtete Skotom auf die Theorie der Doppelversorgung und der pro-
jektiven Beziehungen zwischen Retina und Area striata im Sinne von
Wilbrand-Henschen bezieht. Bei einem Migräne-Skotom, das
lediglich aus zentralen Ursachen ausgelöst wird (Selbstbeobach-
tung von Sittig), ist eine strengere Übereinstimmung mit den
srundphänomenen der Retina-Projektion zu erwarten als hier, wo die
Wirkung peripherer Sinnesreize und besonderer zentraler Bedingungen
sich kombinieren.
Mit den Einschränkungen, die sich auf diese Weise aus der Ver-
suchsanordnung ergeben, kann man aber das auftauchende Skotom
als en angenähertes Modell der Retinaprojektion be-
zeichnen. Die ganz dunkle Partie würde dann jenen Teil des Gesichts-
feldes darstellen, der nur von der gekreuzten (rechten) Großhirnhälfte
abhängt. Seine Verdunkelung. die nur flüchtig unter dem Einfluß ganz
bestimmter Bedingungen stattfindet (zugleich mit flüchtigen unter-
brochenen optischen Reizen, bzw. im Augenblick eines zur Halluzina-
tion gesteigerten positiven Nachbildes), würde signalisieren, daß sich
unter diesen besonderen Verhältnissen die rechte Großhirnhälfte ihres
Einflusses auf das Gesichtsfeld begeben hat oder daß dieser Einfluß
wenigstens in einer ganz eigenartigen Weise herabgedrückt ist.
Daß die rechte Hälfte des Sehraums unter allen Umständen so
klar und durehsiehtig geblieben ist, wie in der Norm, entspricht nach
dieser naheliegenden Auffassung einem unverändert aufrecht bleiben-
den, von den physiologischen Verhältnissen sich in keiner feststell-
baren Weise entfernenden Einfluß der linken Großhirnhälfte auf die
Bildung, bzw. auf die Konstanz des Sehraums im Wachzustande. Daß
un le eee
der klare Anteil des Sehraums über die Medianebene hinaus ein wenig
-nach links reicht, deutet die Doppelversorgung des zentralen Sehens
ganz im Sinne von Wilbrand und Henschen in unverkennbarer
Weise an. Es gibt ja sogar hemianopische Gesichtsfelder bei okzipi-
talen Herden, deren Ausdehnung sich den Verhältnissen annähert. wie
sie das hier beschriebene positive Skotom in seiner Weise abbildet').
Auch die eigentümliche Formation des grauen Randstreifens
zwischen dem sehenden und dem dunklen Areal läßt sich ungezwun-
gen nach der Theorie der Doppelversorgung deuten, gerade wenn man
an den Auffassungen von Wilbrand und Henschen festhält.
Denn nach diesen ist die Doppelversorgung nicht ausschließlich für
den Bezirk des zentralen Sehens allein vorhanden; sie erreicht nur für
diesen ein Maximum, während sie, in ihrer Wirksamkeit graduell sich
vermindernd, auch noch für die parazentralen und mehr peripheren
Anteile des Gesichtsfeldes gilt mit Ausnahme des temporalen Halb-
mondes, für den sie gleich Null wird. So kann man den grauen Rand-
streifen als ein Abbild jenes allmählich vom Zentrum gegen die
Peripherie hin sich steigernden Einflusses der linken, gesunden Groß-
hirnhälfte auffassen, der den allmählich sinkenden Einfluß der rechten
geschädigten Hemisphäre naturgemäß immer wirksamer kompensiert.
Gerade der Umstand, daß der graue Randstreifen in fließendem Über-
gang alle Abstufungen zwischen dem dunkelsten Grau bis zu dem
hellsten Grau hin zeigt, ist einer solchen Deutung günstig. Die Um-
wandlung der Nachbilder und der optischen Residuen zu Halluzina-
tionen würde nach dieser Auffassung gerade in jenem Grenzbereich
des Sehraums erfolgen, in dem ein Minimum der Störung durch die
Narbenwirkung in der rechten Hemisphäre gerade noch ersichtlich
‘ist, weil der Einfluß der linken Großhirnhälfte zwar schon mächtig
genug ist, die Helle zu erzwingen, aber noch nieht mächtig genug Ist.
den Sehraum zu klären’).
Der eine von uns (P.) hat die Erscheinungen bei der Rückbildung
der Blindheit nach Hinterhauptschüssen genau beschrieben und darauf
aufmerksam gemacht, daß sich bei ihr in den Stadien, die aufeinander
folgen, im ganzen Sehraum dieselben Abstufungen von Schwarz
über graue und weiße Nebel hinweg bis zur schließlichen Klärung
des Sehraums nacheinander erscheinen, die zuweilen bei unvoll-
ständigen, begrenzten Skotomen als Randerscheinungen neben-
') Vgl. dazu Pétzl: Über die Rückbildung einer seiner Wortblindheit.
Ztschr. f. d. ges. Neur. u. Psych., Bd. 52, N. 245.
*) Vgl. dazu Pötzl: Über das Tyndall- Phänomen des Sehraums.
Vgl. Klin. Wochenschrift 1920.
einander zu finden sind. Das letztere zeigt sich auch in dem hier
geschilderten grauen Randstreifen dieser flüchtigen positiven Skotome;
es ergibt sich auch — wie schon früher hier hervorgehoben worden
ist — an den weißlichen Flecken, die man bei Migräneskotomen recht
häufig sieht und die zuweilen (unsere Beobachtung 1) den Hinter-
grund für die verlagerten Figuren bei optischer Allästhesie bilden.
Alle diese Übereinstimmungen erleichtern es uns, die Skotomwirkun-
gen bei unserer Beobachtung 3 mit der Retinaprojektion in jene an-
schauliche Wechselbeziehung zu bringen, die hier ausgeführt
worden ist.
Auch hier drängt sich dem Vergleich ein einfaches physikalisches
Modell auf. Wenn ein einzelner Lichtpunkt einen Körper beleuchtet,
so erscheint auf der Projektionswand der dunkle Kernschatten des
Körpers. Handelt es sich um eine räumlich ausgedehnte Lichtquelle.
so entspricht die Gestalt des Kernschattens nur mehr jenem Anteile
des Körpers, der die Lichtstrahlen aufhält, die von allen Punkten
der Lichtquelle herkommen. Um den Kernschatten aber bildet sich
der heller graue Halbschatten, jenem Anteil des Körpers ent-
sprechend, der das Licht von einzelnen Punkten der Lichtquelle ab-
hält, von anderen nicht. Dem Kernschatten also wäre der dunkle An-
teil des Skotoms vergleichbar, dem Halbschatten der graue Rand-
streifen. Es ist das einfache Schulmodell einer Sonnenfinsternis, das
hier zum Vergleich herangezogen werden kann.
Es ist vielleicht bemerkenswert, daß einzelne Verletzte für die Wirkungen
eines Hinterhauptschusses spontan denselben Vergleich gefunden haben,
gerade dann, wenn der Schuß nicht völlige Blindheit, sondern nur eine plötz-
liche Herabsetzung des Sehvermögens zur Folge hatte. So hat Kr. der
Patient mit parazentralem Skotom und gerichteter Metamorphopsie, den der
eine von uns (P.) anderweits ausführlich geschildert hat, in seinem Eigen-
bericht diesen Ausdruck gebraucht: dieser Kranke, ein hochintelligenter In-
genieur, hatte einstens eine wirkliche Sonnenfinsternis gesehen; er führte den
Vergleich in seinen Einzelheiten durch und sprach besonders von „asch-
farbenem Licht“. Wenn also dieser Vergleich sich für den Erlebenden
so sehr aufgedrängt hat, so rechtfertigt es sich vielleicht, ihn darauf durch-
zusehen, ob er für den hier gestörten zentralen Mechanismus etwas wesent-
liches enthält.
Selbstverständlich läßt sich hier nicht die schematische Zeichnung
unverändert anwenden, wie sie jedes elementare Lehrbuch der Physik
enthält. Es ist vor allem klar, daß das, was in einer solchen Zeich-
nung als Lichtquelle dargestellt ist, nicht der Belichtung von außen
entspricht, die in unseren Versuchen ausgeführt worden ist; wohl aber
kann man die Belichtung, die das Schema zeigt, mit einer Wirkung
vergleichen, die von okzipitalen Zentren des Großhirns aus auf
Zr. OR. eo
den Sehraum ausgeiibt wird; es wire also eine innere Belichtung,
vergleichbar mit der „Sonne der Apperzeption“, die unser Modell als
hauptsächlichen Vergleichspunkt enthält. Als Projektionswand ist
dann das Gesichtsfeld zu betrachten (bzw. die Frontalebenen des Seh-
raums); dem Skotom mit Kernschatten und Halbschatten entspricht in
der Zeichnung der Körper, der die Strahlen der Lichtquelle abhält.
Er repräsentiert also gleichsam die Areae striatae der beiden Großhirn-
hälften unter jenen eigenartig veränderten Innervationsverhältnissen,
wie sie durch die besonderen Bedingungen unserer Versuche gegeben
waren. | l
Die Bedeutung der Helligkeitsverteilung in diesen Skotomen läßt
sich noch weiter verfolgen an den Verschiebungen, die eintreten, wenn
man die Bedingungen der Versuche ändert. Die Verfolgung dieser Be-
ziehungen wäre eine sehr leichte Aufgabe und brächte verhältnismäßig
wenig Neues, wenn punktförmige Belichtungen umschriebener Netz-
hautareale oder wenigstens ein Wechsel in der Lichtrichtung bei fest-
gehaltener Augenstellung einwandfreie gesetzmäßige Verschiebungen
ergeben hätten. Dann wäre die geschilderte Erscheinung ein ver-
hältnismäßig einfaches Modell der projektiven Beziehungen zwischen
Netzhaut und Area striata, in ihrer Art konform dem Hemikranie-
Skotom aus der Selbstbeobachtung von Sittig. Sittig hat denn
auch die hier geschilderten Versuchsergebnisse aus deren erster Ver-
6ffentlichung') zitiert, aber gleichzeitig ganz richtig auf die be-
sonderen Komplikationen hingewiesen, die hier die Deutung er-
schweren. |
Denn die punktförmigen Belichtungen umschriebener Netzhaut-
areale im Dunkelzimmer hatten gar keinen verwertbaren Effekt;
aus diesem Grunde war ja auch ein vollkommen reiner Nachweis der
gekreuzt monokularen Beziehung des temporalen Halbmondes aus
diesen Versuchen nicht zu erwarten, während er in der Sittigschen
Selbstbeobachtung den wichtigsten Hauptpunkt enthält. Aber auch ein
bloBer Wechsel in den Richtungen der Belichtung bei festgehaltener
Mittelstellung der Augen hat nur sporadisch, andeutungsweise und mit
geringerer Intensität jene gesetzmäßigen Verschiebungen erkennen
lassen, die erst bei einem Wechsel der Blickeinstellung
konstant und vollkommen deutlich geworden sind.
Dieser Wechsel der Blickeinstellung imitiert gleichsam — wenn
auch in eigenartiger, sehr komplexer und nicht ohne weiteres ver-
1) Protokolle des Vereins f. Psychiatrie u. Neurologie in Wien, Jahr-
bücker f. Psych. u. Neur. 1914.
gleichbarer Weise — die konjugierte Deviation der Augen, wie sie bei
parieto-okzipitaler Rindenreizung der Konvexität eine gewöhnliche
'Erscheinung ist. Handelt es sich hier auch vielleicht nur um eine
recht entfernte Ähnlichkeit, deren Kernpunkt erst herauszuholen wäre,
so mag doch durch diese Analogie begreiflich werden, daß sich in
diesen Versuchen bei einer gehaltenen Rechtsdeviation
der Augen (durch eine über die physiologische Norm hinaus ver-
längerte optisch fixierende Blickeinstellung nach rechts) Ver-
schiebungen in den Skotomverhältnissen vollzogen haben, die im
Sinne der vorhin gegebenen Auffassung als eine Steigerung des
Einflusses der (intakten) linken Großhirnhälfte auf die Bildung des
Sehraums zu betrachten sind, d. h. als eine Verbreiterung des Areals
im Sehraum, innerhalb dessen dieser Einfluß wirksam wird. Ebenso
sind selbstverständlich die Vergrößerungen des Skotomareals und die
Verschiebung des Randstreifens gegen die Mitte zu, die sich nach ge-
haltener optisch fixierter Deviation der Augen nach links regelmäßig
‚eingestellt haben, nach unserer Anschauung als eine Vermehrung,
bzw. Verbreiterung des störenden Einflusses aufzufassen, den die
‘ladierte rechte Hemisphäre auf die Bildung des Sehraums unter
diesen Bedingungen ausgeübt hat.
Diese Erscheinungen gehen über das hinaus, was die Analogie
mit der Doppelversorgung und Retinaprojektion lehrt; sie scheinen
auf die Existenz von physiologischen Schwankungen dieses Mechanis-
mus aufmerksam zu machen, die bei der gewöhnlichen (rein morpho-
logischen) Betrachtung der Retinaprojektion der Beobachtung ent-
gehen. Da diese Schwankungen mit dem Wechsel von Blickeinstellun-
gen zusammenhängen, ist es auch nicht mehr leicht, ihre zentralen
Grundbedingungen auf die Area striata (die engere Sehsphäre), bzw.
auf die Sehstrahlung zurückzuführen; überdies ist es schon klinisch
‚ersichtlich, daß die Bedingungen des Versuchs eine motorische
Komponente enthalten, also am ehesten auf zentrifugale, tonisie-
rende Eintlüsse der Großhirnhemisphären zurückzuführen sind.
Dies erinnert daran, daß auch im klinischen Bild der einstigen
-Herderkrankung (1905) eine linksseitige Hemianopsie sich nicht hat
feststellen lassen, so daß es hier durchaus unentschieden bleiben muß,
ob eine solche jemals bestanden hat oder nicht. Dagegen war in aller
‚Schärfe behauptet worden, daß (durch zwei Tage) eine Blick-
lähmung nach links vorhanden war. Da alle übrigen Er-
scheinungen, die damals schubweise durch luetisch-endarteriitische
Erweichungen gesetzt worden sind (die Tastsinnsstörungen der
linken Hand, denen erst eine volle Hemianästhesie nachgefolgt ist;
— 35 —
die isolierte Parese des Mundfazialis usw.), auf die Entwicklung
von Herden in der linken Großhirnhemisphäre, nicht aber
auf Herde im Hirnstamm hindeuten, ist es wohl kaum zweifel-
haft, daß diese Blicklähmung eine zerebral bedingte, nicht eine
pontine. war; damit stimmt auch ihre kurze Dauer überein.
Der Bericht spricht dafür, daß eine Parese des linken Beines sich
gesondert in einem der -Schübe entwickelt hat und daß die
Blicklähmung nach links zugleich mit der Kompletierung der links-
seitigen Hemianästhesie aufgetreten ist; dieses Zusammentreffen
würde eher auf eine Entwicklung von Herden im Parietallappen (bzw.
im dorsalen Bereich der Strata sagittalia), evtl. auf eine Mitbeteili-
gung der okzipitalen Konvexität im Bereich der Übergangs-
windungen') hindeuten, nicht auf Herde im Gebiet der Area striata
und der Sehstrahlung; bis zu einem gewissen Grad spricht gegen eine
Annahme von Herden in der optischen Kernzone auch das Fehlen
dauernder Gesichtsfelddefekte.
Die Ergebnisse der Versuche, sowie die Vorgeschichte des Falles
zeigen also in voller Übereinstimmung, daß die Entwicklung der
flüchtigen Skotome und die beobachteten Verschiebungen in deren
Bereich als eine eigenartige Resterscheinung einer rück-
gebildeten Blicklähmung nach luetisch endarterii-
tischer Herderkrankung im Bereich der parieto-
okzipitalen Konvexität in der rechten Großhirn-
hälfte aufzufassen sind. Sie sind die einzige nachweisbare Rest-
erscheinung gewesen. Als einfachste Deutung dieser Resterscheinung
darf man wohl die Vermutung bezeichnen, daß die rechtshirnige
parieto-okzipitale Region, die die Hirnnarben trägt, einen flüchtigen
störenden Einfluß auf die rechte Area striata auszuüben vermag:
dieser Einfluß tritt aber nur dann zutage, wenn (unter dem Einfluß
flüchtiger unterbrochener Reize) jene zentrale Tätigkeit mangelhaft
angeregt ist, die an der Bildung der Kontrastphänomene und der nega-
tiven Nachbilder sich beteiligt und die auch mit der Vollendung des
optischen Erfassungsaktes wesentlich zusammenhängt. Allerdings ist
dazu noch zu vermerken, daß die gesteigerte Tendenz zum Halluzi-
nieren, eine Folge der chronischen Alkoholvergiftung, diesen ganzen
Störungskomplex erst in Gang gebracht hat.
Das Wesentlichste an dieser Auffassung ist, daß sie eine Wir-
kung vermuten läßt, die (gleichsam transkortikal) auf die Area
striata, also auf die engere Sehsphäre ausgeübt wird. Diese
1) Herrmann u. Pötzl: Agraphie S. 228 u. 230.
— 36 —
Wirkung wire es, die im Sinne unseres friiheren Schemas der Sonnen-
finsternis gleichsam als Wegfall einer inneren Belichtung der Area
striata erschienen ist. Da diese Wirkung in einer weitgehenden An-
näherung eine Abbildung der Wilbrand-Henschenschen Pro-
jektion der Netzhaut auf die Area striata in Gestalt von Skotomen
hergesteilt hat, liegt es nahe, sie mit der Retinaprojektion in eine enge
kausale Beziehung zu bringen. Man kann annehmen, daß der bisher
bekannte Vorgang der Retinaprojektion, der „Abklatsch der Seh-
sphärenherde in umgrenzten Gesichtsfelddefekten“ der statische,
erblich fixierte, stammesgeschichtlich festgelegte Anteil eines größeren
zentralen .Gesamtmechanismus ist, während die hier beobachteten
Verschiebungserscheinungen unter dem Einfluß von Veränderung der
Bliekhaltung einem anderen, noch im Fluß befindlichen, im indivi-
duellen Leben des Einzelindividuums noch variabel fortwirkenden,
dynamischen Anteil desselben Grundvorgangs entsprechen.
Gerade dieser dynamische Anteil läßt die physiologischen Vor-
gänge einigermaßen ahnen, unter deren summierter Wirkung die
Retinaprojektion sich entwickelt und erblich fixiert hat. Der Gesamt-
mechanismus wäre vorläufig definiert als eine richtende Wir-
kung, die von anderen Anteilen des Großhirns auf die Area striata
ausgeübt wird.
Einem näheren Eingehen auf Einzelheiten dieses Mechanismus
steht entgegen, daß unsere Beobachtung 3 ohne Autopsiebefund ge-
blieben ist. So ist die oben angedeutete Lokalisation der Großhirn-
herde doch viel zu unbestimmt, als daß man sich auf topographische
Einzelheiten einlassen dürfte. Zu erwähnen ist nur, daß die Auf-
fassung, zu der nach unserer Darstellung die geschilderten Versuchs-
ergebnisse führen, in Übereinstimmung steht mit einer Ansicht, die
Henschen wiederholt betont hat: Nach Henschen ist die Her-
stellung der Retinaprojektion ein besonderer zentraler Vorgang, der
wahrscheinlich Regionen zugehört, die außerhalb der Area striata
liegen.
Vollständig ist auch die Übereinstimmung unserer Ergebnisse mit
den Anschauungen von Henschen über die zerebralen richtenden
Einflüsse auf optische Halluzinationen. Denn — wie bereits vorhin
zitiert worden ist — nach Henschen ist die okzipitale Konvexität
einerseits an der Auslösung optischer Halluzinationen besonders be-
teiligt (unter dem Einfluß von Reizwirkungen, die diese Region
treffen); andererseits sind nach Henschen (übereinstimmend mit
Erfahrungen, die wir selbst, sowie Best gewonnen haben) in der
Ce IT a
okzipitalen Konvexität besondere richtende Wirkungen lokalisiert, die
das Rechts-Links, Oben-Unten im Sehraum betreffen.
Nach unseren Ergebnissen an Beobachtung 3 betreffen die pro-
jektiven Verschiebungen des halluzinatorisch entäußerten sekundären
optischen Bildes und der optischen Residuen eine konstante Ab-
lenkung derselben nach links von der Mittellinie im Sehraum; dies
enthält selbstverständlich unter den geeigneten Umständen auch eine
Vertauschung von Rechts und Links im Sehraum, wie sie an den Bei-
spielen der optischen Allästhesie eine große Rolle spielt. Dieselben
Verschiebungen zeigten aber auch gelegentlich eine Vertauschung von
Unten mit Oben im Sehraum, die allerdings nur die sekundären opti-
schen Bilder und die halluzinatorisch verwandelten optischen Residuen
betraf, die auch innerhalb des geschilderten grauen Randstreifens
links von der Mittellinie gebannt geblieben sind. Da die Vertauschung
von Unten mit Oben der zweite Hauptfaktor ist, der bei den Verlage-
rungen der optischen Allästhesie eine Rolle gespielt hat, sind die ver-
änderten Richtungen der Projektion in unserer Beobachtung 3 mit
den Phänomenen der optischen Allästhesie für eine wichtige Haupt-
sache in Übereinstimmung. Wir glauben daher, daß wir die Ver-
mutung, zu der die Betrachtung unserer Beobachtung 3 geführt hat,
auch auf die optische Allästhesie übertragen dürfen: es ist auch für
diese Erscheinung eine Störungswirkung in Betracht zu ziehen, die
von der parieto-okzipitalen Konvexität (bzw. von dorsaleren
Partien des okzipitalen Marks) ausgeht und auf die engere Sehsphire.
bzw. Sehstrahlung zurückwirkt.
Rekapitulieren wir die Anhaltspunkte, die sich für die Betrach-
tung des zerebralen Mechanismus der Fata morgana des Sehraums
aus den klinischen Befunden ergeben haben, so kommen wir
vorläufig zu folgendem:
1. Es findet sich an unseren Beispielen die erwartete Überein-
stimmung zwischen Richtungen von Skotomen und Verlagerungsrich-
tungen der Figuren bei der optischen Allästhesie, derart, daß die ver-
lagerten Figuren einer Vorphase der Skotombildung ent-
sprechen (unsere Beobachtungen 1 und 3). |
2. Die optische Allästhesie kann sich im Frühstadium zerebral
bedingter Störungen des binokularen Sehens einstellen, die durch
Zerstörung des Polteiles der Sehsphäre bedingt sind (unsere Beobach-
tung 2). Es lassen sich daraus Beziehungen vermuten zwischen den
Verschiebungsvorgängen im Bereich der Area striata, die in der Resti-
tutionsphase nach zerebralen Läsionen des zentralen Schens auftreten
z ARO ee
und zwischen den Verschiebungsvorgängen, die episodisch bei der
optischen Allästhesie wirksam sind.
3. Die Änderungen im Sehraum, die der optischen Allästhesie, so-
wie anderen verwandten gerichteten halluzinatorischen Erscheinungen
zugeordnet sind, Korrespondieren mit zugeordneten gleichgerichteten
Änderungen der Augeneinstellung, wenigstens in einem Teil der Fälle.
(Unsere Beobachtungen 2 und 3.) Es scheint sieh um die Störung
eines Grundvorganges zu handeln. der sowohl eine sensorische, wie
eine motorische Komponente hat, wenn auch im einzelnen Fall bald
mehr die eine, bald mehr die andere im klinischen Bilde ersichtlich ist.
4. Dies, sowie gewisse, vorläufig nur klinisch wahrscheinlich ge-
wordene Beziehungen dieser Phänomene zu herdförmigen Störungen
im Bereich der okzipitalen Konvexität. legen es nahe, als Grund-
vorgang bei der Fata morgana des Sehraums besondere Richtungs-
störungen anzunehmen, die der Ausdruck einer eigenartigen Altera-
tion kombinierter Wechselwirkungen zwischen parieto-okzipitaler
Konvexität und okzipitaler Mediane (Area striata) sind. Diese
Richtungsstörungen weisen auf einen Grundvorgang hin, der zur
Entwicklung und Weiterbildung der Retina-Projektion auf
die Großhirnrinde in besonderen Beziehungen steht (unsere Beobach-
tung 3).
5. In einigen zitierten Fällen, sowie in unserer Beobachtung :
waren es rechtshirnige Störungen, die mit einer Fata morgana
des Sehraums Zusammenhänge gezeigt haben: in einem unserer Fälle
(Beobachtung 1) handelte es sich um doppelseitige Wirkungen. Dies
wird hier einfach ohne Schlußfolgerungen registriert.
Die so gewonnenen klinischen Gesichtspunkte werden erst an
einem geeigneten Fall mit Autopsiebefund noch weiter geprüft und
verfolgt werden können.
ll. Zur Pathogenese der optischen Allästhesie
Die im vorigen zusammengefaßten klinischen Ergebnisse sind aus
Beobachtungen und Versuchen abgeleitet worden, die schon lange ab-
geschlossen uns vorliegen. Ihre Prüfung und Weiterführung an einem
Autopsiebefund ist uns aber erst in der letzten Zeit möglich gewesen.
Der Fall, um den es sich handelt, ist in vieler Beziehung unbefriedi-
gend, da es sich um die kombinierte Wirkung zahlreicher und aus-
gedehnter Herdläsionen des Großhirns handelt. Immerhin aber zeigt
sich nach Abschluß seiner Bearbeitung, daß sich die Beziehungen der
optischen Allästhesie zu dem vorliegenden hirnpathologischen Befund
mit genügender Klarheit und Schärfe aus dem Gesamtbild hervor-
heben.
Beobachtung 4. (Prager deutsche psychiatrische Klinik,
16. Dezember 1924 bis 9. Januar 1925.)
Povysil Franz. 55 Jahre alt, unverheiratet, Weber. Der Kranke wird,
kurz nachdem er einen Schlaganfall erlitten hat, der deutschen psychiatrischen
Klinik als pflegebedürftig überstellt. Da er keine Familie hat, sind Auskünfte
über seine Vorgeschichte von fremden Personen nicht zu gewinnen; man war
auf die Angaben angewiesen. die er bei der Aufnahme selbst machte. Diese
Angaben sind in vieler Beziehung dürftig und lückenhaft, aber wenigstens
brauchbar. weil bei der Aufnahme keinerlei aphasische Störungen bestehen.
Über seine Schulbildung sagt er, daß sie gering sei und daß er nur ein
wenig lesen und schreiben könne. Er habe nur selten gelesen, namentlich
keine Zeitung. Von Beruf war er Roller in einer Weberei (Mahler, Holesovice,
Prag VID. Er sei bereits 15 Monate arbeitsunfähig gewesen, weil er im
August 1923 einen Schlaganfall erlitten habe. Wie das «damals gekommen
sei, wisse er selbst nicht: plötzlich eines Nachmittags sei die linke Seite
gelähmt gewesen, ohne daß er das Bewußtsein dabei verloren habe.
Die Sprache sei nie gestört gewesen. Über rechtsseitige Sehstörungen
gibt er niehts an. Er habe 14 Tage nicht gehen können: zwei Monate lang
sei die linke Seite schwach gewesen: er habe auch auf der linken
Seite schlechter gesehen und die linke Seite sei ge-
fühllos gewesen.
Erst in der letzten Woche habe sich sein Befinden wieder verschlechtert:
der Gang sei schlechter geworden: er habe nichts gespürt. wern Urin oder
Stuhl abging: dabei habe er nicht das Bewußtsein verloren, nieht erbrochen.
— 40 —
keine Kopfschmerzen gehabt. Lues und sonstige Infektionskrankheiten
werden negiert.
Körperbefund bei der Aufnahme: Mittelgroß, kräftig ge-
baut; runde, mittelweite, gleiche Pupillen; alle Reaktionen derselben sind
prompt; nur läßt sich keine Konvergenzbewegung erzielen. Im übrigen
sind die Augenbewegungen frei. Der linke Mundwinkel steht etwas tiefer.
Patient innerviert die mimische Gesichtsmuskulatur überhaupt nur sehr un-
ausgiebig und sein Gesichtsausdruck ist etwas schlaff. Die Zunge wird gerade
vorgestreckt, aber nur wenig.
Die Bewegungen der Arme sind nicht eingeschränkt; nur ist die moto-
rische Kraft im linken Arm entschieden herabgesetzt. Die Sehnenreflexe der
Arme sind beiderseits lebhaft, links vielleicht etwas stärker als rechts. Der
Druck der linken Hand ist ganz kraftlos. Beim Fingernasen- und Finger-
finger-Versuch findet sich kaum eine Spur Ataxie.
Bauchdeckenreflexe und Kremasterreflexe sind beiderseits auslösbar,
Patellar- und Achillessehnenreflexe beiderseits gesteigert, ohne sichere
Differenz. Babinski findet sich weder rechts noch links, die Fußsohlenreflexe
gehen beiderseits plantar; links ist aber Rossolimo, rechts Andeutung von
Mendel-Bechterew vorhanden. Die motorische Kraft des linken Beines ist
stark verringert; bei passiven Bewegungen in beiden Beinen besteht leichter
Rigor, links mehr als rechts, bei allen Bewegungen und in allen Phasen der
passiven Bewegung gleich.
= Der Gang ist langsam, in kleinen Schritten, nach Art der Abasie trepi-
dante. Erscheinungen von Ataxie bestehen dabei nicht.
Patient hält dauernd den Kopf etwas nach rechts gedreht.
Sehen und Gesichtsfeld: Am ersten Untersuchungstag
(17. XIIL. 1924) wird er vor einem größeren Auditorium untersucht. Er
signalisiert überhaupt nur das Licht und erkennt zuweilen Gegenstinde
größeren Formats (großer Schlüssel, Trinkglas). Lesen, Erkennen kleiner
Gegenstände sind durchwegs unmöglich. Dieselben Gegenstände, die er vom
Auge aus nicht erkennt, benennt er tadellos von der rechten Hand aus, von
der linken Hand aus nicht.
' Das Licht, sowie alle Gegenstände, die er überhaupt bemerkt, wirken
nur von der Peripherie der Gesichtsfelder aus (einzeln-
äugig geprüft, wie bei binokularer Prüfung). Dabei ist es regelmäßig. dab
Patient mit der rechten Hand nach rechts greift, wenn ihm
Gegenstände in der linken Peripherie vorgehalten
werden. Er fixiert dann auch unsicher: man hat den Eindruck, als ob er
seitwärts (rechts) vom Gegenstand vorbeisehen würde.
Er selbst macht präzise Angaben darüber: „In der Mitte sehe
ich nichts, nur ringsum auf der Seite.“ „Es ist überhaupt
alles dunkler.“ Auch jedesmal, wenn er bei festgehaltenen Händen einen
Gegenstand im peripheren Gesichtsfeld zu signalisieren hat, meldet er ihn
prompt; Gegenstände, die in der rechten Gesichtsfeldperipherie exponiert
werden, werden richtig lokalisiert als „rechts, mehr oben, mehr unten“ usw.
Gegenstände, die in der linken Peripherie dargeboten
werden, werden zwar prompt und ohne Beirrung durch fehlerhafte
Zwischenreaktionen gemeldet, sie werden aber immer nach
=. SA 2
rechts verlegt. Am deutlichsten ist diese Reaktion in den oberen
Quadranten des linken peripheren Gesichtsfeldes, während Pat. im unteren
Quadranten die links gegebenen Gegenstände häufig vollkommen übersieht.
Die Verwechslung von Lokalzeichen im Sehraum, die sich auf
diese Weise zeigt, ist also die gleiche, wenn er zu greifen oder bloß
zu benennen hat. Jede Benennung erfolgt präzise, auf Befragen sagt
er vom linksexponierten Gegenstand mit Betonung: „Ich sehe ihn
rechts.“ Wenn man ihn greifen läßt, gebraucht er die linke Hand
spontan niemals; mit der rechten Hand greift er immer nur in die
angegebene Rechtsrichtung. Im ganzen machen diese Reaktionen aber
niemals den Eindruck, daß die Vertauschung von links mit rechts im
Sehraum eine sekundäre Folge fehlerhafter Greifreaktionen wäre.
Am Perimeter läßt sich der mittlere Bereich, in dem er Gegenstände
nicht vermerkt, nur annähernd schätzen; er beträgt mindestens 30° im Um-
kreis um die Mitte des Gesichtsfeldes. Augenabweichungen, asymmetrische
Konvergenzstellungen u. dgl. finden sich dabei nicht; Patient blickt ruhig
auf Kommando geradeaus vor sich hin’), erklärt aber, vor sich nichts zu
sehen und meldet erst das peripher auftauchende Licht bzw. große Objekte,
die in der Peripherie sichtbar werden).
Da sich somit ergibt, daß eine Aufhebung deszentralen
SehensundeineoptischeAllästhesie besteht (im Sinne einer
Vertauschung von links mit rechts im peripheren Sehraum bei guter
optischer Lokalisation rechterseits), wird Patient der Augenklinik
Elschnig zur Kontrolle des klinischen Befundes überwiesen. Da er
aber sehr ermüdet ist, erfolgt die dortige Prüfung erst am nächsten
Vormittag.
18. XII. Befund der Augenklinik Elschnig: Blick in der Regel
leicht nach rechts gewendet; Augenbewegungen, soweit zu beurteilen, normal,
ebenso Pupillen; sicher keine hemianopische Pupillenreaktion. Ophthal-
moskopisch: Geringe Blässe der Pupillen und zarte Trübung; stark ausge-
sprochene Arteriosklerose der Fundusgefäße; die ganzen Veränderungen aber
so geringfügig, daß sie die hochgradigen Sehstörungen nicht erklären (R un-
sicher Handbewegungen vor den Augen, L Kerze 2 m). Anscheinend
auch kein grober Gesichtsfelddefekt.
Wir glauben also bestimmt, daB keine periphere Störung vorliegt, son-
dern daß die Störung zentral zu suchen ist, vielleicht im Sinne einer Seelen-
blindheit.
Da sich somit ergab, daß der gestrige Befund wesentlich ab-
geändert erschien, wurde er neuerlich von uns genau untersucht. Es
ergab sich in der Tat ein stark differenter Befund.
t) Spontan ist der Blick meist etwas nach rechts gewendet. (S. oben
und Befund Elschnig!)
Herrmann-Pötzl , Optische Allästhesie (Abhdl. H. 47). 4
Charakteristisch für seine optischen Reaktionen in dieser Phase ist z.B.
unsere Untersuchung vom
19. XII. Es wird ihm der Kopf fixiert. Er folgt mit den Augen dem
vorgehaltenen Finger. Aufgefordert, ihn zu ergreifen, greift er in der rechten
Raumhiifte mit der rechten Hand, in der linken Raumhilfte mit der linken
Hand. Wird die linke Hand gehalten, während der Finger des Arztes in der
linken Raumbälfte sich befindet, greift er nach längerer Pause richtig darnach:
dagegen ist er nicht imstande, nach der rechten Raumhälfte mit der linken
Hand zu greifen, wenn die rechte Hand fixiert ist. Es läßt sich drei- oder
viermal dieser Versuch mit demselben Ergebnis wiederholen. Eine halbe
Stunde später gelingt ihm unter den gleichen Bedingungen auch das Greifen
von links her ohne auffallende Verlangsamung. Er sagt aber dazu: .Ich sehe
es hier“ und deutet dabei nach links, (es ist aber) „hier“ und deutet dabei
nach rechts.
e
Bei der Reaktion, die diese Äußerung provozierte, war das Licht rechts
peripher im oberen Quadranten exponiert, die rechte Hand festgehalten: die
linke griff nach rechts und erreichte das Licht richtig; die Augen schienen
nach der Mitte (links am Licht) vorbeizusehen.
Lieht und Handbewegung werden heute (monokular und binokular) im
ganzen Gesichtsfeld ziemlich gleichmäßig und prompt signalisiert, sobald man
auf das Lokalisieren verzichtet. ihm die Hände festhält, den Bliek auf „Gerade
vorwärts“ kommandiert und ihn auffordert, nur zu melden. ob er etwas wahr-
nimmt. Diese Untersuchung gelingt bei gewöhnlichem Tageslicht: das
Agnoszieren des Lichts läßt sich im Dunkelzimmer zu einer Art von grobem
Perimetrieren benützen, bei dem es scheint, als ob (für diese Art der Prüfung)
grobe Gesichtsfeldausfälle tatsächlich nicht bestünden (vgl. den Befund der
Klinik Elschnisg).
Die Aufhebung des zentralen Sehens erschien also als
eine kurze Episode, deren Dauer allerdings nieht. zu bestimmen
ist, da wir nicht wissen, wie lange vor der Aufnahme sie bereits be-
standen hat. Da er indessen über hochgradige Schstörungen in der
letzten Zeit anamnestisch nichts angegeben hatte, andererseits aber.
wie jede Äußerung von ihm bewies, gegenwärtig volle Selbst-
wahrnehmung für sein schlechtes Schen hatte, ist an-
zunehmen, daß diese Störung nur kurz, höchstens wenige Tage.
vielleicht selbst nur wenige Stunden gedauert hatte. Farben wurden
niemals wahrgenommen.
Es war also offenbar eine rasche Rückbildung des zentralen
Sehens erfolgt. Zugleich mit ihr verschwand auch die geschilderte
optische Allästhesie, aber nicht ganz vollständig. Wenn das Greifen
von links her nach rechts ihn beirrte, stellte sich episodisch noch eine
(wie sekundär erscheinende) Unsicherheit in der optischen Lokali-
sation ein, bei der vorübergehend die Richtung rechts peripher als
„links peripher“ im Sehraum angegeben wurde (s. oben!).
— 43 —
Er gebraucht in seinen sprachlichen Äußerungen den Ausdruck:
„Ich sehe es“ und die Pantomime bei: „hier“ so präzise, daß wir
glauben, aus der geschilderten Reaktion diese Folgerung ableiten
zu dürfen.
20. XIT. ist Pat. sehr schwach: sein Gesichtsausdruck ist starr; er klagt,
daß er sich übel befinde: es sei ihm nicht besser. An diesem Tage wird er
von Untersuchungen verschont.
21. XII. Es wird ihm das Licht der elektrischen Lampe vorgehalten;
Kopf und rechte Hand werden fixiert. Er folgt dem Licht mit den Augen,
aber ausgiebiger und prompter nach rechts als nach links, Wenn er auf-
gefordert wird, nach einem ruhenden Licht zu greifen, macht er Anstren-
gungen mit der rechten Hand, sagt dann: „Das geht nicht, weil ich ein
Hindernis habe“ (die rechte Hand wird gehalten). Er muß erst sprachlich
aufgefordert werden (Sie haben doch noch die linke Hand, greifen Sie mit
der linken!); er greift dann richtig in die rechte Raumhälfte.
Wird die rechte Hand freigegeben und das Licht in die rechte Raum-
hälfte gebracht. greift er prompt und richtig. Ist das Licht in der linken
Raumhälfte, erkennt er jedesmal richtig, ob das Licht vorhanden ist oder
nicht. er blickt dabei aber stets deutlich nach rechts hin, weit am Licht
vorbei. Aufgefordert. zu greifen, greift er nach rechts.
Noch in dieser Untersuchung erkennt er größere Gegenstände (dieselben,
die er bei der ersten Untersuchung erkannt hat) von rechts her ziemlich
prompt. von links her weit schlechter. Er macht den Eindruck eines stark
Amblvopischen.
Apraktische Störungen bestehen nicht, nur daß er bei Hantierungen
immer wieder die linke Hand vergißt.
In der Zeit zwischen 21. XII. und 8. I. 1925 folgt eine Zeit rascher Ver-
schlimmerung seines Zustandes. Er muß gefüttert werden, da er seibst nicht
den Löffel findet und ihn nicht mehr zum Mund führt, wenn er ihm in die
rechte Hand gegeben wird. Untersuchbar ist er in bezug auf seine optischen
Reaktionen kaum mehr, da seine Aufmerksamkeit stark ermüdet. Licht
signalisiert er aber immer noch. Ebenso ist das, was er sprachlich äußert.
bis zum Schluß korrekt. Einzelne Reaktionen, die gelegentlich noch zu ge-
winnen sind, machen den Eindruck, daß jetzt Apraxie beim Hantieren
mit Objekten besteht. Als er aufgefordert wird, zu salutieren usw., gibt er
ausweichende Antworten: „Solche Dummheiten mache ich als alter Mann
nicht mehr.“
8. I. 1925 liegt er dauernd mit dem Kopf nach rechts gewendet: er
spricht nichts mehr: nur gelegentlich bringt er aphonisch flüsternd etwas Un-
verständliches heraus. Es bestehen jetzt starke Sehluckstérungen: er muß
löffelweise und langsam gefüttert werden. Dazu kam in den letzten Tagen eine
starke linksseitige Hemiparese, die im Laufe des letzten Tages
noch mehr zunimmt.
Am Abend des 8. I. wird er reaktionslos; am 9. I. erfolgt der Exitus.
Überblicken wir den vorstehenden Krankheitsbericht, so ist auf
die Liickenhaftigkeit der Vorgeschichte aufmerksam zu machen, die
sich leider nieht ergänzen ließ. So kommt es (vgl. den später mit-
==. Wa
geteilten Obduktionsbefund!), daß anamnestisch nur über einen einzi-
gen apoplektischen Insult berichtet wird, der offenbar eine linksseitige
Hemianästhesie und linksseitige imkomplete Sehstörungen (Aufmerk-
samkeitshemianopsie?) zur Folge gehabt hat, doch nur vorübergehend.
Der damalige Symptomenkomplex liegt mehr als ein Jahr vor dem
Beginn der Beobachtung zurück; was über ihn berichtet worden ist.
spricht für einen ParietalherdinderrechtenHemisphäre
und eher für eine Läsion der dorsalen (und mittleren) Etagen der
Strata sagittalia, als für eine Läsion der ventralen Etagen und der
Schsphäre selbst.
Dieser Insult sowohl, wie die später folgenden entsprechen dem
Erweichungstypus; der deletäre Krankheitsverlauf in den letzten
Lebenswochen entspricht dem Bild einer progressiven Er-
weichung.
Als die Beobachtung beginnt, ist er noch in relativ gutem All-
semeinzustand. Besonderes Interesse erweckte bei uns die episodische
Störung des zentralen Sehens, die nur ganz am Anfang unserer Be-
obachtung bestanden hat. Wir vermuteten. daß ein neuer Herd nahe
dem linken Okzipitalpol sich gebildet habe. der im Zusammenhang
mit einer Unterbrechung der Sehstrahlung in der reehten Hemisphäre
diesen außergewöhnlichen Symptomenkomplex hervorrufen konnte.
Daß er nur vorübergehend bestand, ist aus der Doppel-
versorgung der Makula leicht verständlich: die völlige Ausschaltung
des zentralen Sehens erschien uns als initiales Schoeksymptom der neu
einsetzenden kombinierten Herdwirkung: die rasche Rückbildung war
einem erhaltenen Rest der linken polaren Zone oder wenigstens der
Intaktheit des rechtshirnigen Okzipitalpols zuzuschreiben. Wir ver-
muteten also einen frischen Herd in der linken Hemisphäre, nahe dem
Hinterhauptspol, der die Area striata nur teilweise, nicht vollständig
zerstört. Im Sinne der Theorie von Wilbrand und Henschen
mußte man außerdem annehmen, daß die oralen Partien der Area
striata samt ihrer Projektionsfaserung in beiden Hemisphären voll-
kommen intakt seien, da das erhaltene periphere Sehen gegenüber dem
aufgehobenen Sehen in der Mitte so sehr in den Vordergrund ge-
treten ist.
Daß wir für die Herderkrankung in der rechten Hemisphiire
nicht. eine Läsion nahe dem Okzipitalpol oder im Gebiet der Area
striata selbst annehmen durften, wohl aber eine Unterbrechung der
Sehstrahlung im lateralen Anteil der Strata sagittalia, ergibt sich
aus der Anamnese. Denn die Erscheinungen, die unmittelbar vor der
Aufnahme eine Verschlechterung des Zustandes herbeigeführt hatten.
=
r —
— 45 —
entsprachen einem Wiederaufleben der alten parieto-okzipitalen Herd-
erscheinungen, wie sie vor mehr als einem Jahr nach einem Insult auf-
getreten waren. Auch das frische rechtshirnige Syndrom konnte also
nur auf einen frischen Herd in der rechten parieto-okzipitalen Kon-
vexität bezogen werden; man mußte annehmen, daß er in der Nach-
barsehaft des alten Herdes lag und die seinerzeitige Unterbrechung
der Strata sagittalia an der Außenseite des Ventrikels reaktivierte,
zugleich aber so vergrößerte, daß eine vorübergehende Schockwirkung
auf die projektive Faserung des zentralen Sehens die Folge war. Der
bezeichnete Anteil der Sehstrahlung ist (Niesslv. Mavendorf,
R. A. Pfeifer) in ein dorsales und ein ventral ziehendes Bündel
geteilt. Es war also an eine neuerliche Unterbrechung der seitlichen
Strata sagittalia zu denken, die keilförmig die mittleren Etagen der-
selben zerstört, aber nach ventralwärts hin kollaterale Wirkungen
entfaltet hat.
Die rasche Wiederherstellung des Gesichtsfeldes und die Umwand-
lung des ungewöhnlichen Anfangsbefundes in die gewöhnliche links-
seitige Aufmerksamkeitshemianopsie ist durch das Zurücktreten der
Erscheinungen des linkshirnigen Polherdes und der kollateralen Er-
scheinungen des rechtshirnigen Konvexitätsherdes genügend erklärt.
Die folgende rasche Verschlimmerung durch linksseitige Hemi-
plegie usw. entspricht einer Progression der rechtshirnigen Erweichung
bis in das Mark der Regio centralis: die Inkontinenz für Harn und
Stuhl, die mit „Gefühllosigkeit‘ verbunden war, wies speziell auf eine
Beteiligung der Regio paracentralis hin (Czylarz und Marburg
usw.); die Schluckstörungen konnten auf eine Wirkung weiterer
doppelseitiger Herde oder auf eine Beteiligung der Stammganglien
bezogen werden.
Wir diagnostizierten daher:
Rechte Hemisphäre:
Alter Erweichungsherd in der parieto-okzipitalen Konvexität, die
seitlichen sagittalen Schichten unterbrechend; das Nivean dieser
Unterbrechung entspricht wahrscheinlich ungefähr den Frontal-
schnitten des oralen Viertels der Area striata’).
Frischer, ausgedehnter Erweichungsherd in der Nachbarschaft. des
alten Herdes, die seitlichen Strata sagittalia dorsalwärts und ventral-
wärts von der alten Unterbrechungsstelle noch. weiter zerstörend.
') Der Gegend, in der (R. A, Pfeifer) der orale Teil der Sehstrahlung
schon gegen seine Einstrahlungszone hin abgezweigt ist.
— 46 —
Ausdehnung dieses Erweichungsherdes bis mindestens in die
Regio centralis hin mit ausgedehnter Markzerstörung, die den Lobus
paracentralis, vielleicht auch die Stammganglien mitbetrifft.
Linke Hemisphäre:
Frischer Herd nahe dem Okzipitalpol. einen Teil der polaren Area
striata zerstörend; Intaktheit des oralen Viertels der Area striata und
der Sehstrahlung des oralen Anteils. Möglicherweise verstreute,
frischere Herde im Markgebiet der zentraleren Regionen und der
Stammeanglien. |
Bevor wir darauf eingehen. wieweit sich unsere Annahmen im
Autopsiebefund bestätigt haben. sind noeh einige Bemerkungen über
das klinische Bild des Falles und seine Veränderungen notwendig.
Zunächst ist die Frage zu besprechen. ob und wieweit in diesem
Falle Seelenblindheit (optische Agnosie) bestanden hat. Nach
den obigen Annahmen gehörte der Fall einem Typus kombinierter
doppelseitiger okzipitaler Herderkrankungen an. der wohl bekannt ist
und der nach v. Monakow einem der beiden Haupttypen für die
anatomischen Befunde bei Seelenblindheit entsprieht. Dieser eine
Haupttypus ist charakterisiert durch das Zusammentreffen eines
Herdes im ventro-basalen okzipitalen Gebiet der einen Hemisphäre
(z. B. der linken). also dem Gefäßbezirk der Arteria cerebri posterior
angehörend. mit einem tiefen, keilförmig die seitlichen Sehstrahlungen
durehbreehenden Herd in der parieto-okzipitalen Konvexität der
andern Hemisphäre (hier der rechten), also einem Herd, der im Gefäß-
bezirk der okzipitalsten Teiläste aus der Arteria cerebri media gelegen
ist. Der andere Haupttvpus der doppelseitigen okzipitalen Herd-
erkrankungen mit Seelenblindheit ist (v. Mona k ow) das Zusammen-
treffen annähernd symmetrischer baso-ventraler Herde im Gebiet der
Arteriae cerebri posteriores jeder Seite; v. Monakow betont, daß
solche Herde in der Regel recht ausgedehnt sind. wenn das Symptom
der Seelenblindheit vorhanden war. Dieser zweite Haupttypus (an-
nähernd ebenso häufig wie der erste) ist z. B. im ersten Fall Redlich-
Bonvicini (Niehtwahrnehmung der zerebral bedingten Sehstörung)
besonders vollständig und rein realisiert gewesen.
Für unsern Fall betonen wir, daß es völlig unentschieden und
auch unentseherdbar ist, ob und wieweit bei ihm Symptome von
Seelenblindheit, also von optischer Agnosie bestanden haben. Sie
können ganz gefehlt haben. wie bei den meisten Schußverletzungen:
sie können überaus beträchtlich gewesen sein. Auf jeden Fall waren
“> tareh eine sehr hochgradige zerebral bedingte Herabsetzung
derSehschärfe verdeckt und konnten infolge der letzteren eben-
en SAG oa
sowenig diagnostiziert werden, als sich eine Seelenblindheit bei einem
Kranken diagnostizieren läßt. der durch eine periphere Erkrankung
amaurotisch geworden ist. Wir scheiden auf das strengste den Begriff
der Blindheit (Sehschwäche usw.) infolge von Großhirnerkrankung
und den Begriff deroptischen Agnosie (synonym: Seelenblind-
heit), der eine Herabsetzung der Sehschärfe, des Farbensinns usw. prin-
zipiell nicht in sich enthält. Wir betonen dies, da dieser prinzipielle
Unterschied, der sich in klinischen Gesetzmäßigkeiten, nicht etwa
bloß theoretisch begründet. keineswegs von allen Forschern fest-
gehalten wird. wenn die doppelseitigen Herderkrankungen der beiden
aufgezählten Typen auf ihre optischen Störungen hin analysiert
werden.
Für unseren Fall scheidet daher die Besprechung der Frage, ob
eine Seelenblindheit oder eine ihrer Teilformen (Wortblindheit usw.)
bestanden hat, vorläufig aus: wir diagnostizieren eine Sehstörung von
der Art einer zerebral bedingten Amblyopie, die in der
Zeit der Beobachtung zuerst das zentrale Schen in ganz besonders
starkem Maße, später aber den gesamten Sehraum (annähernd gleich-
mäßig und in geringerem Grade, als zu Anfang) betroffen hat. eine
Herabsetzung der Sehschärfe, die etwaige optisch-agnostische Sym-
ptome verdecken mußte, wenn solche überhaupt vorhanden waren.
Neben dieser allgemeinen Amblyopie bestand noch eine (als
Symptom von ihr zu trennende) linksseitige Aufmerksam-
keitshemianopsie.
Eine weitere Störung unseres Falles war die geschilderte
optische Allästhesie, die Vertauschung von rechts und links
als Lokalzeichen von Sehdingen im Sehraum. Zur Zeit der Ausschal-
tung des zentralen Sehens ist sie rein und maximal. Links im Neh-
raum wird dabei mit rechts vertauscht. Eine Vertauschung von
rechts im Sehraum mit links war bei dieser Prüfung nieht wahr-
zunehmen, fand sich aber episodisch bei späteren Prüfungen, in denen
die Reinheit der besprochenen Erscheinung schon gelitten hatte.
In den späteren Stadien (nach wiederhergestellter Mitte des Ge-
sichtsfeldes) ist die optische Allästhesie stark vermengt mit jenen
Greifstörungen. die der eine von uns (H.) bereits anderweitig als
Hemmung des konvergierenden Greifens beschrieben
und mit einer Zerstückung des Raumes in zwei Hälften in Zusammen-
hang gebracht hat. Da im bezeichneten Fall ebenfalls Herde in der
rechten parieto-okzipitalen Konvexität vorhanden waren (in derselben
Region, in die wir schon aus andern Gründen den rechtshirnigen Herd
des hier besprochenen Falles verlegt hatten), bot für uns das Vor-
ie Ag en
handensein dieser Greifstörung nichts Unerwartetes. Es ist die Frage,
ob nicht ein Teil deroptischen Verlagerungensekundärdurch
ein solches Fehlgreifen bedingt war; ebenso ist es fraglich,
ob nicht die Augenablenkung „etwas nach rechts“, die gleichfalls vor-
handen war, bei den Reaktionen mit optischer Allästhesie von be-
herrschendem Einfluß war. Wir glauben die beiden Fragen aus dem
Befund dieses Falles nicht entscheidend beantworten zu können.
Manches spricht für derartige Annahmen; bei der einen Reaktion, in
der er ein rechts exponiertes Objekt nach links verlegt (19. 12.). ge-
schieht dies zu einer Zeit, in der ein Greifen mit der linken Hand
wirksam war. Iu den späteren Untersuchungen (21. 12.) blickt er
rechtsvom Licht vorbei. wenn er es in der linken Raumhälfte
auftauchen sieht (anscheinend ohne es genauer lokalisieren zu können).
Mit dem letzteren ist aber höchstens die Fehlerhaftigkeit der Lokali-
sation erklärt, nicht aber die Verlegung von links nach rechts.
Wenn aber derartige Beziehungen in unserem Fall bestehen
sollten. so sind sie nur ein Sonderfall der an unseren früheren klini-
schen Beobachtungen bereits festgestellten Wirkung von richten-
den Einstellungen auf die Reaktionen der optischen Allisthesie,
bzw. der Fata morgana des Sehraums. Auch die kombinierte Wirkung
einer vorübergehenden Ausschaltung des zentralen Sehens mit. einer
parietal bedingten Richtungsstörung findet sich in den Annalımen,
die wir für den Autopsiebefund unserer Beobachtung 4 machten,
in einer ganz ähnlichen Weise wieder, wie in dem klinischen Be-
fund unserer Beobachtung 3, der im vorigen Abschnitt dieser Arbeit
geschildert worden ist. Auf eine Verschiedenheit der Projektions-
richtungen in beiden verglichenen Fällen wird erst später ein-
zugehen sein. Für den Hauptypus der Erscheinung, für die hier vor-
liegende optische Allästhesie konnten wir also hier eine Bestätigung
jener Annahmen erwarten, die wir aus rein klinischen Gründen ab-
geleitet hatten: die Feststellung, daß diese Riehtungsstörungen der
Ausdruck einer eigenartigen Alteration kombinierter Wechselwirkun-
gen zwisehen parieto-okzipitaler Konvexität und okzipitaler Mediane
(Area striata) sind (vgl. 4. der Zusammenfassung im vorigen Ab-
schnitt).
Die Autopsie unseres Falles (Prof. Ghon) ergab, abgesehen
von einem hier belanglosen Allgemeinbefund:
Schwere allgemeine Arteriosklerose, sowie schwere Arteriosklerose aller
Hirngefäße.
Rechte Großhirnhälfte: Es tindet sich die erwartete parieto-
okzipitale Erweichung, deren Kerngebiet im Gyrus angularis sich befindet;
sie reicht keilförmig bis zur mittleren Etage in die Tiefe, derart, daß die
Wand bis zum Ventrikel malazisch ist. Diese Erweichung geht okzipital-
wäıts noch zirka 1 em über die Spitze des Hinterhorns hinaus. Die Area
striata, wie überhaupt die Mediane des Okzipitallappens ist in der rechten
Hemisphäre intakt.
Linke Großhirnhälfte: Es findet sich der erwartete Herd an
der okzipitalen Mediane, der einen großen Teil der Sehsphäre und Seh-
strahlung in ihren kaudalen Teilen zerstört. Der Herd ist aber kein frischer
Erweichungsherd, sondern ein alter, teilweise zystisch umgewandelt.
Dieser Herd läßt vom Polteil nur den Gyrus descendens unzerstört. Etwa
1 em vom Pol destruiert er beide Lippen der Fissura calcarina samt ihrem
Abb, 1. Frontalschnitt (Schnittrichtung leicht schräge von dorso-oral nach
ventro-okzipital abfallend) durch das formolgehärtete Gehirn 2 cm von dem
(durch die Atrophie stark verkürzten) Okzipitalpol. L.H.: zeigt die Brücke
zwischen dep beiden Erweichurgen. in der ein Rest polarer Sehstrahlung
erhalten ist. R.H.: die frische Erweichung an der okzipitalen Konvexität
erreicht hier die Strata sagittalia noch nicht.
Mark völlig: etwa 3 em vom Okzipitalpol betrifft die Zerstörung nurmehr
den basalen Teil des Lobus lingualis, außerhalb der Areastriata,
während diese selbst intakt ist. Etwa 1 cm oralwärts von der Spitze des
Hinterhorns endet der Herd, stark verschmälert und nurmehr auf die Basis
beschränkt.
Außerdem besteht in der linken Hemisphäre noch ein kleinerer alter
Herd. der ganz nahe lateral vom Gyrus descendens beginnt und streifenförmig
in die Tiefe reicht, so daß er zusammen mit dem ersten Herd den Gyrus
descendens und sein Mark von beiden Seiten her eng umschneidet. Dieser
zweite Herd endet etwa 1 cm weiter okzipitalwärts als der erste, ebenfalls
stark verkleinert.
Abb. 1, 2 und 3 zeigen diese Verhältnisse an Frontalschnitten des formol-
gehärteten Gehirns, Abb. 4 stellt die mediale Oberfläche der beiden Okzipital-
lappen zum Vergleich nebeneinander dar.
Der einzige wichtige Punkt. in dem der makroskopische Autopsie-
befund von unseren Annahmen abweicht. betrifft also die Tatsache.
daß der Herd in der linken Sehsphäre kein frischer. während der Be-
obachtung entstandener, sondern ein alter ist. Es ist dadurch sehwie-
riger zu verstehen. daß über rechtsseitige Sehstörungen anamnestisch
Abb, 2. Frontalschnitt 1 em weiter oralwärts von Abb, 1. L.H.: Ende der
lateralen Erweichung an der Basis. Beginn des intakten Gebiets der Area
striata in ihrem oralen Viertel. R.H.: die frische Erweichung dringt tiefer
ins Mark ein, bleibt aber noch dorsal von den Strata sarittalia.
nichts berichtet worden ist. Wir werden darauf später, nach der
Wiedergabe des mikroskopischen Befundes zurückkommen.
Naturgemäß enthält der makroskopische Befund auch nichts über
unsere Annahme. daß der frische rechtshirnige Herd in der unmittel-
baren Nachbarschaft eines alten Herdes entstanden ist. Darüber war
aber eventuell ein Befund bei der mikroskopischen Untersuchung zu
erwarten. Wir haben hier trotz der großen Ausdehnung des rechts-
hirnigen Herdes und seiner Natur (frische Erweichung) die lückenlose
Serienuntersuchung vorgenommen, hauptsächlich um dabei über die
Ausdehnung der alten Läsionen in ihrem Verhältnis zum frischen Herd
etwas Näheres zu erfahren.
Als Methode kam hier im Sinne dieser Fragestellung naturgemäß nur die
Untersuchung des chromierten Gehirns mit Weigertscher Markfaser-
färbung (bzw. Pal), sowie die Doppelfärbungen in Betracht, da auf diese
Weise die Struktur der Herdbezirke genügend festgestellt werden konnte,
während Einzelheiten, die nur durch die Marchi-Methode zu ermitteln
gewesen wären, für unsere Fragestellung nicht von Interesse waren.
Wir schildern hier den Befund nur soweit, als er für das Thema
dieser Arbeit in Betracht kommt. während wir die Einzelheiten aus
dem Befund der linken Hemisphäre, die für die Lehre von der Retina-
— aea n me ee ee y M EE - wey Be Pe an Er Zum = ewes m e - —
Abb. 3. Frontalsehnitt 1 em weiter oralwärts von Abb, 2. L.H.: Ende der
medianen basalen Erweichung. R.H.: die frische Erweichung dringt keil-
förmig bis an den Ventrikel und unterbricht hier die dorsalen und mittleren
Teile der Strata sagittalia.
projektion in Betracht kommen, einer späteren gesonderten Dar-
stellung vorbehalten.
Linke Hemisphäre: Im retro-ventrikulären okzipitalen Markfeld
fanden sich folgende Verhältnisse:
Von der Regio calcarina (Area striata) ist nur ein kleiner dorsaler Bezirk
erhalten, der die laterale Poltläche in der bekannten Weise einnimmt. Der
erhaltene Gyrus descendens zeigt nur zum Teil die Struktur der Area striata;
rechts und links von ihm ist die ganze ventrale Markfaserung zerstört, wäh-
rend die beschriebenen dorsalen Rindengebiete mit ihrer Markfaserung in Zu-
sammenhang geblieben sind.
or
`
ud
Besonders übersichtlich werden die Verhältnisse nahe der Spitze des
Hinterhorns. wo ein etwas gelichtetes, aber deutlich abgrenzbares Bündel. das
dem Stratum sagittale externum angehört, gerade in dem schmalen Markast
zu sehen ist, der zwischen den beiden alten zystischen Herden erhalten ge-
blieben ist und den einzigen Zusammenhang mit den erwähnten dorsalen
Gebieten der Area striata vermittelt, während der ventrale Polteil der Area
striata fast völlig zerstört war.
In einem Schnitt unweit okzipitalwärts von der Spitze des Hinterhorns
ist die gesamte Area striata mit Ausnahme eines dorsalen Teiles im Cuneus
zerstört: ebenso schiebt sich ein tiefer zystischer Herd von O, gegen die
erwähnte erhaltene Markbrücke vor. Im tiefen Mark der cunealen Gegend
ist das Stratum transversum cunei deutlich zu sehen: oberflächlich von ihm
ist an der Mediane eine kleine streifenförmige Degeneration (Abb. 5).
‘
i
Abb. 4. Die Polgebiete beider Hemisphären von der Mediane aus gesehen.
L.H.: die Ausdehnung des Bezirks, an dem die Hirnhäute belassen sind,
markiert genau die (zystische) mediane Wand der größeren basalen Er-
weichung, deren Durchschnitte Abb. 1—3 zeigen. Polwärts davon ist der
kleine Rest von Area striata zu sehen. der unzerstört geblieben ist und
durch die sehmale Markbrücke, wie sie Abb. 1 zeigt. mit dem Stratum
sagittale externum in Zusammenhang geblieben ist. R.H.: intakte Mediane,
veschwelltes Gehirn.
Etwa 1 cm weiter oralwärts — dort. wo die Spitze des Hinterhorns
gerade beginnt — ist die Zerstörung durch die beiden zystischen alten Herde
noch sehr beträchtlich. Die Markbriicke zwischen ihnen ist schmäler gewor-
den: die ventrale Hälfte aller drei Strata lateral vom Ependymstreifen ist
teils zerstört. teils außerordentlich faserarm: die sich bildende Forceps-
formation zeigt ebenfalls sehr starke Faserlichtungen: von der Area striata
ist erst in diesem Bereich der Grund der Fissura calearina (und nur dieser)
erhalten, jedoch noch vom tieferen Mark fast vollkommen abgetrennt: das
Stratum calearinum ist stellenweise noch gelichtet (Abb. 6)7).
') Das Herabsteigen der erhaltenen Teile der Projektionshahn des C. g.l.
auf die Area striata erfolgt — soweit sie von diesen oralen Kalkarina-Partien
stammen, weiter oralwärts von diesem Sehnitt.
— 53 —
Dagegen sind das dorsale Drittel des Stratum sagitale externum in einem
schmalen Streifen an seiner medialen Grenze und das Sachs sche Bündel
markfaserreich als charakteristische schmale dunkle Bänder zu sehen.
Die ganze Konvexität ist intakt; die Faserung der Konvexität nicht
wesentlich gelichtet.
Etwas weiter vorne haben sich an der Basis beide zystische Herde
vereinigt: die Area striata ist nunmehr in ihrem Grunde, an der cunealen
und an der lingualen Lippe, erhalten; hier reicht auch bereits das intakte
Stratum calcarinum bis zum Ependymstreifen und gewinnt vollen Zusammen-
hang mit den Strata sagittalia. Die Degeneration im Beginn des Forceps ist
noch umschrieben zu sehen: die Degeneration im Stratum sagittale externum
(und internum) verbreitet sich aber bereits als eine mehr diffuse Lichtung
auf die ganze ventrale und mittlere Etage.
Der laterale Herd endet im Gyrus fusiformis. etwa 1 cm weiter oral-
Wiirts: in der Spitze der lingualen Lippe der Kalkarina ist noch ein ganz
kleiner zystischer Rest des Herdes: die Area striata (die in diesem Frontal-
schnitt nurmehr die linguale Lippe einnimmt) ist intakt, ebenso ihr Stratum.
Die Verhältnisse im Stratum sagittale externum und internum sind wie früher;
nur daß die Faserlichtungen noch diffuser erscheinen und noch weiter dorsal-
wärts reichen. Im Forceps major ist nur eine verhältnismäßig geringe
Lockerung der Fasern zu sehen. im Forceps minor (in dessen basaler Hälfte)
eine mehr umschriebene Degeneration.
In den Schnitten durch das Balkensplenium ist das ganze ventrale
Balkensplenium stark gelichtet; in seiner Lichtung sind zwei hellere Streifen
zu sehen. Die Strata sagittalia sind diffus faserarm: nur die ventrale Hälfte
des Tapetum ist groBenteils erhalten. Ein kleiner alter zystischer Herd
(kaum linsengroß) findet sich im tiefen Mark, nahe dem Grunde der Inter-
parietalfurche.
Die stärkste Faserlichtung in den Strata sagittalia entspricht ziemlich
genau ihrer ventralen Hälfte. An der Grenze zwischen Stratum sagittale
externum und internum ist noch immer der (siehe oben) im retro-ventrikulären
Markfeld beschriebene geschlossene Zug zu erkennen. Eine kleine spalt-
förmige alte Erweichungszyste am Grunde der Basis des Seitenventrikels
kompliziert das Bild.
In den Schnitten durch das Pulvinar thalami ist die Einstrahlungszone
der Thalamusfaserung markreich und zeigt die gewöhnliche netzige Zeich-
nung. Das Bild der Strata sagittalia hat sich nicht geändert.
In den Schnitten nahe dem sich entwickelnden Spornteil des Corpus
geniculatum laterale ist das Bild wie früher, nur daß die erwähnte streifen-
förmige alte Erweichung sich spaltförmig in den Gyrus fusiformis ausge-
zogen hat.
Das Corpus geniculatum laterale ist im Spornteil und
Hilusteil sehr deutlich atrophisch, während der fronto-
mediale Teil und seine Traktusregion keinerlei Atrophie erkennen lassen,
wohl aber volle Symmetrie mit den Verhältnissen der Gegenseite. Das ganze
Wernickesche Feld ist sehr stark diffus gelichtet, aber derart, daß ein
besonders faserarmer Anteil gerade an der Kuppe des C. g. l. sehr weit
oralwärts zu verfolgen ist. |
Dort, wo der Hilusteil des Corpus geniculatum laterale normalerweise
am ausgedehntesten ist,
mitten im l. Thalamus.
findet sich eine kleine alte zystische Erweichung
Weiter vorne ist noch weit in den Schläfelappen hinein (fast bis zum
Querschnitt durch die Corpora mamillaria) die Faserlichtung im Stratum
sagittale externum zu sehen: das Stratum subeallosum trägt einige kleine
alte Erweichungszysten: eine kleine alte Narbe findet sich im Körper des
Schweifkerns. Sonst sind die Stammganglien (bis auf arterio-sklerotisch be-
dingte perivaskuläre Höfe) unversehrt.
Abb, 5. Durchschnitt ein wenig oral-
wärts von Abb. 1. Schnittrichtung wie
Abb, 1. Original-Weigert-Priiparat. Zu
beachten ist die Schmalheit der Mark-
brücke zwischen den beiden Erweichun-
gen, in der sich basalwärts ein Rest
des basalen Stratum sagittale externum
als dunkler Fleck markiert,- während
dorsalwärts Reste der Kuppe des Stra-
tum sagittale externum zu sehen sind.
Rinde vom Typus der Area striata ist
in je einem ganz schmalen Bezirk an
der dorsalen und ventralen Grenze der
Erweichung zu sehen: die ganze Area
striata dazwischen ist zerstört.
Abb. 6. Weigert-Präparat, etwas okzi-
pitalwärts von Abb. 3. L.H.: Das
Mark der lingualen Kalkarinalippe ist
noch zerstört, «das Stratum proprium
‘alearinae aber erhalten. Der Strich
weiter rechts markiert die Gegend.
in der sich die Sehstrahlung sammelt:
der Strich weiter links markiert die
dorsale Grenze der alten Erweichung.
Die weißen Flecke mehr dorsalwärts
im Mark entsprechen perivaskulären
Faserausfällen.
Die weiter frontal gelegenen Schnitte bieten in der linken Hemisphäre
niehts Erwähnenswertes.
Rechte Hemisphäre: Im retroventrikulären Markabschnitt reicht
die frische Erweichung bis reichlich 1 em okzipitalwärts vom Ependym-
streifen des Hinterhorns. Alte Herde sind hier nicht zu sehen: die gesamte
Area striata und die tiefen Markschichten sind intakt.
a
EA
Abb, 7. Durchschnitt dureh die Gegend des Balkensplenium, Palfärbung.
L.H.: Die ventrale Hälfte der Strata sagittalia ist stark gelichtet. Ganz
basal markiert sich in einer verzogenen Dreiecksfigur der erhaltene Teil
der (oralen) Sehstrahlung: ihr Querschnitt ist zweigeteilt durch eine
länglichgeformte kleine alte Erweichung. Fornix und ventrale Hälfte des
Balkenspleniums sind stark gelichtet. R. H.: Deutliche Lichtung im
ventralen Balkensplenium, ausgedehnte frische Erweichung. die nur das
hasale Viertel des seitlichen Stratum sagittale externum freiläßt.
et PD —,
A ay at
i -o
-
Abb, 8 Frontalschnitt durch das beginnende linke Pulvinar thalami.
L.H.: Der erhaltene Teil der oralen Sehstrahlung ist noch ungefähr am
selben Ort zu sehen wie in Abb. 7. Die Gitterschicht des Pulvinar ist
größtenteils gut erhalten, das Pulvinar selbst etwas atrophisch. Aufhellung
im ventralen Balkensplenium. R.H.: wie Abb. 7. |
— 96 —
Im Gebiet des Ependymstreifens nimmt die frische Erweichung den
ganzen Gyrus angularis ein; sie reicht dorsal bis über die Interparictal-
furche hinaus: ventral ist 0, verschont. Fast genau in der Mitte dieses
Bereichs reicht die frische Erweichung keilförmig in die Tiefe; sie erreicht
und zerstört hier das sagittale Mark fast bis zum Ependymstreifen.
1 cm weiter oralwärts sind die Verhältnisse noch die gleichen. Frisch
erweicht ist das ganze sagittale Mark in allen drei Schichten nahe bis zum
Stielfächer der Sehstrahlung. Basale und mediale Partien der Strata sagittalia
sind intakt mit Ausnahme eines schmalen Bezirks nahe dem dorsalen Ven-
trikeldach, in dem die frische Erweichung in Form eines Längsspaltes vom
Grunde der Ip. her sich fortsetzt.
Abb. 9. Frontalschnitt durch das kaudale Drittel des 1. Corpus geniculatum
laterale. Dieses ist atrophisch, während das C. g. m. normal erscheint.
Im Mark des Gyrus lingualis kleine alte Erweichungszysten; im Thalamus
eine größere Erweichungszyste (Original-Weigert-Präparat).
Noch etwa 1 cm weiter oralwärts lassen sich an den (hier weniger stark
destruierten) Strata sagittalia, insbesondere in der mittleren und dorsalen
Etage des Stratum sagittale externum Faserlichtungen und narbige Stellen
nachweisen, die von einem alten Herd herrühren. Die Erweichung des Kon-
vexitätsbereichs ist unverändert.
In Schnitten durch das Balkensplenium ist wieder der ganze laterale
Bereich des Seitenventrikels vollkommen erweicht: vom Stratum sagittale
externum ist der hasale und mediale Teil erhalten, vom Tapetum der unterste
Teil. Fast das ganze übrige Mark der rechten Hemisphiire ist malacisch.
ebenso die ganze Rinde des unteren Scheitellappens und der Grund der
Interparietalfurche. i
as: DT
In den folgenden Schnitten Andert sich dieses Bild nicht; der Nucleus
caudatus an der Ventrikelwand ist in die frische Erweichung nicht mit in-
begriffen.
Im Bereich des Pulvinar zeigt sich der Thalamus, sowie seine Ein-
strahlungszone und die angrenzende innere Kapsel von der Erweichung
verschont; dieses Gebiet läßt normale Faserverhältnisse erkennen. Das Corpus
genieulatum laterale ist in seiner ganzen Ausdehnung (Spornteil, Hilusteil,
frontaler Teil) von normalem Aussehen: das Wernickesche Feld und die
Einstrahlungszone der Sehstrahlung und Hörstrahlung (in den Schnitten mit
ER
N >
Abb. 10. Frontalschnitt durch die vordere Hälfte des linken Corpus
geniculatum laterale. L.H.: zu beachten ist die Intaktheit dieses Gebietes
des C. g. 1. Die Faserlichtung in den Strata sagittalia entspricht nicht
mehr ganz den okzipitalen Strahlungen allein, sondern auch dem Gebiet
der in den früheren Abbildungen ersiechtlichen basalen Erweichungen im
Schläfelappen (Original-Weigert-Präparat).
berinnendem Linsenkern) sind intakt. faserreich und von der Erweichung
verschont. Diese reicht hier nicht mehr so tief. erfüllt aber noch das ganze
subkortikale Mark von T,. T, der Insel und der Ca. Im Centrum semiovale
zeigt sich hier wieder der Rest eines alten Herdes; ebenso ist ein etwa
bohnengroßer, alter zystischer Erweichungsherd im Körper des Schweifkerns
vorhanden: er erreicht seine größte Ausdehnung in den Schnitten mit größter
Ausdehnung des Corpus geniculatum laterale. © Hypothalamus, Hirnschenkel-
fuß, roter Kern usw. sind intakt.
Im Thalamus findet sich aber im Bereiche des Dorsolateralkerns eine
Anzahl kleiner alter Narben und Zysten nach Erweichungen.
1
Herrmann-Pdédtzl, Optische Allästhesie (Abhdl H. 47).
e.~
w
In den Frontalschnitten. die in der Mitte des Tractus opticus die ersten
kleinen Areale des Corp. gen. laterale zeigen. ist der erweichte Bezirk viel
aussedehnter und reicht auch in das Mark beider Zentralwindungen hinein.
Im Schläfelappen ist wieder der Bezirk fast bis zum Unterhorn frisch
erweicht; in der Inselgegend macht die Erweichung an der lateralen Wand des
Linsenkerns Halt.
Ähnlich ist ihre Ausdehnung in den Schnitten durch die Corpora
mamillaria: auch hier ist eigentlich nur Linsenkern, innere Kapsel, Schweif-
kern, Thalamus verschont: ganz intakt ist die Linsenkernschlinge: intakt sind
auch alle hypothalamischen Bündel.
Abb. 11. Durchschnitt nahe dem Pol des linken Corpus geniculatum
laterale. L.H.: wie Abb. 10. R.H.: zu beachten ist hier wie in den früheren
Bildern die Intaktheit des rechten Corpus geniculatum laterale und des
reehten Wernickeschen Feldes. sowie die Größe der frischen Erweichung
im Zentrum semiovale und in den Markleisten der Windungen der
Konvexität.
Rechts im Balkenursprunge und neben ihm sind wieder Reste kleiner
alter Erweichungsherde zu sehen.
In den frontaleren Gebieten reicht die große erweichte Partie der rechten
Hemisphäre (immer ungefähr der beschriebenen Ausdehnung entsprechend)
bis in die Frontalschnitte zwischen Fuß und mittlerem Drittel der Stirn-
windungen hinein.
Jie mikroskopische Untersuchung ergänzt den Befund also noch
in folgenden wesentlichen Punkten: In der linken Hemisphäre erwies
sich die parieto-okzipitale Konvexität samt allen dazugehörigen Faser-
systemen als intakt: sämtliche Herde der linken Hemisphäre sind
alte Herde: mit den beiden alten Herden in der Sehstrahlung korre-
spondiert eine Atrophie des Corp. geniculatum laterale von einer Aus-
dehnung, wie sie hier erwartet werden mußte. Nach v. Monakow
und Minkowski entspricht eine Degeneration des Spornteils und
Hilusteils den Ausfällen der mehr rückwärtigen Fasersysteme
aus der Area striata, eine Degeneration der fronto-medialen Partien
des Corp. genic. laterale korrespondiert mit Ausfällen, die das orale
Gebiet von Sehsphäre und Sehstrahlung betreffen. Demgemäß zeigt
sich hier auch sehr deutlich die Intaktheit der fronto-medialen Teile
des Corp. genic. laterale, entsprechend der Intaktheit der oralen
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Abb. 12. Frontalschnitt durch die beginnende Commissura anterior der
linken Seite. Ende der sekundären Degenerationen in den Strata sagittalia
der linken Hemisphäre. R.H.: die frische Erweichung nimmt fast das ganze
Zentrum semiovale ein. was dem progredienten Verlauf nach der
Beobachtung der optischen Erscheinungen entspricht (vgl. Text S. 60).
Partien der Regio calearina und der zugehörigen Projektionsfasern.
Von den Fasersystemen des größeren okzipitalen Anteils der Regio
calearina ist nur ein ganz geringer, dorsal ziehender Teil er-
halten; er entspricht seiner Lage nach (R. A. Pfeifer) dem dorsalen
Makulabündel NiessI-Mayendorfs und kann bis in die erhaltenen
Reste der Area striata im Polgebiet verfolgt werden.
In der rechten Hemisphäre fanden sich neben der enorm aus-
gedehnten frischen Erweichung an der erwarteten Stelle (mittleres
Drittel der Strata sagittalia zwischen Hinterhornspitze und Balken-
splenium auch Restedesalten Herdes (d.h. Stellen mit Narben.
die sich auf den rechtshirnigen Insult aus dem Jahre 1923 beziehen
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lassen). Einige kleinere ältere Herde sind auch noch weiter frontal-
wärts zu finden gewesen.
Wegen der so überaus großen Ausdehnung der frischen Er-
weichung ist in der rechten Hemisphäre die Intaktheit der oralen Seh-
strahlung nicht so deutlich zu demonstrieren, wie in der linken Groß-
hirnhälfte. Doch ergibt sich indirekt, daß diese Intaktheit zur Zeit
der beobachteten optischen Phänomene bestanden hat: denn das Corp.
geniculatum laterale und das Wernick esche Feld sind vollkommen
verschont und von normalem Aussehen: eine lange bestehende Rari-
fikation der Sehstrahlung in der rechten Hemisphäre konnte also nicht
vorhanden gewesen sein. Auch ist die ganze Regio calcarina und ihr
Stratum proprium in der rechten Hemisphäre erhalten, so daß die
linksseitig hemianopischen Erscheinungen zur Zeit der Beobachtung
nur auf den Durchbruch der lateralen Ventrikelwand dureh die keil-
formige Erweichung im Gyrus angularis bezogen werden können. Da
diese linksseitig hemianopischen Erscheinungen zur Zeit der Beobach-
tung keine vollständige Aufhebung des Sehvermögens enthalten haben.
ist für diejenigen, die eine stärker dorsale Ausdehnung der
(Fleehsig sehen) Sehstrahlung annehmen‘), zu schließen, daß die
frische Erweichung im Bereich der lateralen Ventrikelwand damals
noch nicht so ausgedehnt war wie bei der Autopsie, sondern daß sie
sich erst später vergrößert hat. Da außerdem apraktische Erscheinin-
een. Hemiplegie usw. erst im Terminalstadium hinzugekommen sind.
ist eine gewisse Abschätzung möglich. wieweit zur Zeit der Beobach-
tune der Bezirk der frischen Erweichung nach vorne gereicht hat. Es
ergibt sich konform der klinischen Auffassung, daß sie damals in un-
vefähr keilförmiger Gestalt den Gyrus angularis eingenommen hat und
über ihn hinaus nicht viel weiter nach vorne sich erstreckt haben
dürfte.
Aus dem Befund der rechten Hemisphäre läßt sieh also eine voll-
ständige Bestätigung unserer Annahmen ableiten. Der Befund der
linken Hemisphäre bestätigt den lokalisatorischen Teil unserer An-
nahme ebenfalls vollkommen: er bringt aber die unerwartete Tatsache.
daß es sich durchweg um ältere Herde gehandelt hat, die mindestens
so lange bestanden haben. als jener einzige Insult, den die Vor-
geschichte erwähnt und von dem nur rechtshirnige Erscheinungen be-
richtet worden sind. Faßt man die Ausdehnung zusammen. in der
hier Sehsphäre und Sehstrahlung geschädigt sind, so hätte man als
t) Nicht für diejenigen. die vv Monakows Topographie anerkennen.
und nicht für uns (auf Grund eigener Befunde, die anderwärts dargestellt
worden sind).
— 61 —
Dauererscheinungen, die schon vor unserer Beobachtung bestanden
hätten. ein größeres hemianopisches Skotom mit erhaltener temporaler
Siehel in den rechten Gesichtsfeldhälften erwarten müssen; die
Anamnese berichtet aber nur über linksseitige Sehstörungen. Die An-
gaben darüber waren präzise; immerhin aber wäre es möglich. daß
eine Seitenverwechslung seitens des Kranken selbst hier im Spiele
war. Genaueres darüber läßt sich nieht sagen.
Jedenfalls wäre es höchst gewagt und unsicher, wenn man einen
Fall mit so lückenhafter Vorgeschichte unter die Zahl der Beobach-
tungen (vom Typus gewisser Fälle v. Monakows und Wehrlis)
aufnehmen wollte, deren anatomischer Befund — scheinbar oder wirk-
lieh — der Projektionslehre von Wilbrand und Henschen
widerspricht. Es wäre dies auch deshalb nicht gerechtfertigt, weil
selbst, wenn man annimmt, daß die Angaben der Vorgeschichte keine
wesentliche Lücke enthalten, die scheinbare Diskrepanz zwischen
klinischen und anatomischen Befund auch vom Standpunkt der Pro-
jektionslehre aus nicht so ganz unerklärlich wäre.
Denn der polare Teil der linken Sehsphäre und Sehstrahlung war
teilweise erhalten. Dies, sowie die intakte rechtshimige optische
Region hätte von einem ursprünglichen Defekt der rechten Gesichts-
feldhälften vielleicht mehr kompensieren können, als nach der ge-
wöhnlichen Handhabung der Theorie der Doppelversorgung an-
genommen wird'). Dazu kam das Erhaltensein des oralen Drittels der
linkshirnigen optischen Systeme: der defektuöse Bezirk fällt in einen
Bereich. für den eine physiologische Doppelversorgung noch an-
genommen werden kann. Auch ist die eigentümlich diffuse Anordnung
der Markfaserlichtungen im Stratum sagittale externum wohl zu be-
achten. um so mehr, als sie sich schon verhältnismäßig weit okzipital-
wärts (zirka 1 em oral von der Spitze des Hinterhorns) einzustellen
beginnt.
Zu beachten ist natürlich auch, daß auch das Stratum sagittale
internum lädiert war, daß eine Läsion des Balkenspleniums bestanden
hat und daß die Zerstörung im Gyrus lingualis viel ausgiebiger war
als im Gyrus cunealis. Gerade im Gyrus lingualis waren auch die
Rinde und die Fasersysteme der Area 18 in einem ausgedehnten Ge-
biet destruiert. Man Könnte geneigt sein. daraus die Erwartung ab-
zuleiten. daß schon der alte linkshirnige Herd für sich allein (und
überdies noch unterstützt durch einen alten rechtshirnigen Herd)
agnostische Störungen hätte auslösen müssen. Insbesondere liegt
) Vgl. dazu den Befund des Falles von A. Fuchs und ©. Pötzl. sowie
seine Deutung!
— 62 —
es nahe. an eine reine Wortblindheit zu denken, die schon vor Beginn
unserer Beobachtung hätte vorhanden gewesen sein müssen.
Wir haben schon hervorgehoben. daß die Frage, ob agnostische
Störungen zur Zeit unserer Beobachtung bestanden haben oder nicht.
u. E. nicht diskutiert werden kann, weil etwaige agnostische Störun-
gen hier durch die bestehende allgemeine Amblyopie verdeckt sein
mußten. Dies gilt aber nicht für etwaige agnostische Störungen, die
vor dem Einsetzen der schweren doppelseitigen optischen Symptome
vorhanden gewesen wären.
Auch in dieser Beziehung läßt sich die Möglichkeit nieht leugnen.
daß bei der Liickenhaftigkeit der Vorgeschichte und bei der geringen
Schulbildung des Kranken eine Wortblindheit bestanden hat. aber
überschen worden ist. Eine mangelnde Selbstwahrnehmung des
Defektes halten wir hier für wenig wahrscheinlich. da Patient unter
dem Einfluß der späteren. viel ausgedehnteren Hirnherderkrankung
stets volle und scharfe Wahrnehmung für seine Sehstörungen gezeigt
hat. Im übrigen ist wieder darauf hinzuweisen, daß auch die Ausfälle
im Stratum sagittale internum weit diffuser sind, als dies beim typi-
schen Herd der reinen Wortblindheit die Regel ist. Beim letzteren
fanden sieh bisher in allen uns bekannten Fällen geschlossene.
weit gegen das Zwisehenhirn hin gut abgegrenzt bleibende Degene-
rationen vor. Die Balkenläsion unseres Falles allerdings gleicht der
typischen Balkenläsion bei der reinen Wortblindheit. völlig.
So lassen sieh auch die Unstimmigkeiten, die das Bestehen. bzw.
Niehtbestehen von optisch-agnostischen Störungen betreffen, aus der
Verwertung des Falles eliminieren. Die von uns beobachtete all-
gemeine Amblyopie dagegen erklärt sich aus dem Zustand beider Seh-
strahlungen zur Zeit unserer Beobachtung ungezwungen von selbst.
Der Befund dieses Falles verdient nach zwei Richtungen hin Auf-
merksamkeit:
1. Ereab sich ein Autopsiebefund. der einer — wenn auch nur
vorübergehenden -— totalen Aufhebung des zentralen Sehens bei Er-
haltensein des peripheren Sehens entspricht.
2. betrifft der Befund das Symptom der optischen Allästhesie und
ergänzt dadurch die klinischen Beobachtungen. die im vorigen Abh-
schnitt besprochen worden sind.
Ad 1. Die hier vorliegende Sehstörung (allgemeine Herabsetzung
des Sehvermögens. vorübergehende Ausschaltung des gesamten
zentralen Sehens, Persistenz beider peripherer Halbmonde des Ge-
sichtsfeldes) ist bisher nur an jenen wenigen Fällen doppelseitiger
Schußverletzungen der Ilinterhauptpole beobachtet worden, in denen
— 638 —
das zentrale Sehen dauernd aufgehoben blieb, während das periphere
Sehen sich rückgebildet und über seine gewöhnliche Leistungsfähig-
keit hinaus sich fortentwickelt hat (Fall von Inouye, von
Poppelreuter,von Uhthoff, Fall Obszut des einen von uns. P.).
Ein Fall mit Autopsie liegt noeh nieht vor. so daß der hier mitgeteilte
Befund wohl der erste dieser Art ist.
Offenbar bietet dieser Befund das Gegenbild zu dem bekannten
und verhältnismäßig oft beobachteten gewöhnlichen Syndrom der
Sehstörung bei doppelseitiger Erkrankung des Okzipitalhirns: Er-
haltenes enges, zentrales, „röhrenförmiges“ Gesichtsfeld bei Aufhebung
des Sehvermögens im ganzen übrigen Bereich. Dies ist der Befund des
Försterschen „Rindenblinden‘‘; es ist der Typus, der lange Zeit von
den Gegnern der anatomischen Retinaprojektion für den einzig mög-
lichen gehalten wurde (Wehrli); auch der erste FallvonRedlich-
Bonvicini (symmetrische Erweichungen im Gebiet der Arterie
cerebri posteriores) gehört eigentlich diesem Typus an: nur war hier
der Befund durch Degeneration des papillo-makulären Bündels kom-
pliziert. Die Durchsicht der anatomischen Verhältnisse der betreffen-
den Fälle zeigt, daß diese Sehstörung mit doppelseitigen symme-
trischen Herderkrankungen der baso-medialen Teile der Hinter-
hauptlappen in Beziehung zu bringen ist. Im Gegensatz dazu enthält
unser Befund eine Asymmetrie der Herde.
Von Wichtigkeit ist auch, daß -— wie Bonvicini gezeigt
hat — zuweilen in solchen Fällen nieht nur für den Defekt des
Sehvermögens, sondern auch für das erhaltene Sehen im engen
zentralen Gesichtsfeld keine Selbstwahrnehmung bestanden
hat. Damit kontrastiert die gute Selbstwahrnehmung für Sehstörun-
een und Sehreste im Befund des hier beschriebenen Falles, die ihrer-
seits wieder mit dem gewöhnlichen Verhalten nach Hinterhaupt-
schüssen übereinstimmt. Doch können diese Gegensätze hier nur
reristrierend nebeneinander gestellt werden, da erst weitere Beobach-
tungen zeigen müssen, ob hier eine Gesetzmäßigkeit vorliegt.
Der eine von uns (P.) hat in einer vergleiehenden Betrachtung
der Herderkrankungen des Hinterhauptlappens darauf aufmerksam
gemacht, daß bei den doppelseitigen symmetrischen Herderkrankun-
ven dieses Försterschen Typus das Polgebiet der Area striata (in
der Ausdehnung bis zu etwa 1 em oralwärts von der Polfläche) er-
halten ist. Im Sinne der jetzigen Fassung der Projektionslehre. die
in Bestätigung der ursprünglichen Auffassung von Lenz das
„Maculazentrum“ in das Polgebiet verlegt. kann man erhaltene
polare Teile der Area striata mit dem erhaltenen zentralen Gesichts-
u fr ze
feld in Beziehung bringen; man wird in Zukunft etwaige Varianten
soleher Befunde mit den Varianten in der Ausbreitung der Area striata
über die Konvexität des Polgebietes vergleichen müssen. Jedenfalls
widersprechen diese Fälle nicht der Projektionslehre.
Unser hier beschriebener Befund repräsentiert den entgegen-
gesetzten Typus von zerebraler Sehstörung. Das zentrale Sehen ist
vorübergehend ausgeschaltet; das periphere Sehen blieb lange an-
dauernd bestehen. Es ergab sich. daß die oralen Anteile der Area
striata samt der ihr zugehörigen Projektionsfaserung auf beiden
Seiten erhalten waren. während in der linken Hemisphäre eine ältere.
relativ umfangreiche Zerstörung im okzipitaleren Anteil von Seh-
sphäre und Sehstrahlung bestanden hat.
Die erstgenannte Tatsache stimmt aufs Genaueste mit der jetzigen
Fassung der strengen Projektionslehre (Wilbrand und Singer,
Hensehen) überein: nach ihr sind die oralsten Anteile von Seh-
sphäre und Sehstrahlung die Träger des Sehens im gekreuzt mono-
kulären Teil des Gesichtsfeldes, im temporalen Halbmond. Der
Autopsiebefund, den wir bringen, scheint uns deshalb eine nicht un-
wichtige Ergänzung der Projektionslehre zu sein, weil die bisherigen
Beobachtungen mit isolierter Läsion des temporalen Halbmonds (Schuß-
verletzungen, Fälle von Fleischer) nach ihrem ganzen Befund
einer Verletzung der lateralen okzipitalen Gebiete der Konvexität
entsprochen haben, nicht aber einer Läsion des von der Projektions-
lehre für den temporalen Halbmond in Anspruch genommenen oralen
und medialen Rindengebiets. Dies mußte auf die Möglichkeit hin-
weisen, daß — entsprechend den Anschauungen von v. Monakows
— doch vielleicht auch die okzipitale Konvexitiit (als eine Art von
„Nebensehsphäre‘“) am gekreuzt monokularen Sehen beteiligt
sel; die Frage einer solehen Nebensehsphäre haben besonders ein-
gehend Inouye, Poppelreuter und der eine von uns (P.)
diskutiert.
Unser Befund — solange man ihn für sich allein betrachtet —
spricht für die Auffassung der strengen Projektionslehre und gegen
die Annahme einer solehen Nebensehsphäre. Wenn er auch das Be-
stehen einer solehen nieht ausschließt, so zeigt er doch — wie wir
glauben, zum erstenmal —, daß die oralen Partien von Sehsphäre und
Sehstrahlung jene Beziehung zum wekreuzt-monokulären Sehen im
temporalen Halbmond tatsächlich besitzen. die die Projektionslehre
fordert. Der Umstand. daß laterale okzipitale Verletzungen isolierte
Läsionen im temporalen Halbmond des gekreuzten Gesichtsfeldes aus-
gelöst haben, ließe sich mit unserem Befund in Einklang bringen
dureh die Berücksichtigung von Ergebnissen, die wir den Unter-
suchungen R. A. Pfeifers verdanken: Pfeifer hat festgestellt, daß
die oralen Teile der Sehstrahlung erst lateral ziehen und dann in einer
ziemlich brüsken Wendung gegen die Mediane abweichen, in einem
Querschnitt, der den oralsten Partien der Area striata ungefähr ent-
spricht. Diese Züge können also isoliert getroffen werden durch eine
partielle Läsion der Strata sagittalia, bevor sie diese verlassen
haben. Eine solche Verletzung muß etwa 4—5 cm oralwärts vom Pol
enden und lateral im Okzipitallappen gelegen sein‘). Es wäre aber
auch theoretisch möglich, sie nahe von ihrem Rindenbezirk isoliert zu
treffen, nachdem sie die Strata sagittalia verlassen haben, also
durch Zerstörung oraler Partien an der Basis des Ventrikels. Da die
Folgerungen der Projektionslehre für jeden einzelnen Punkt erst der
empirischen Bestätigung bedürfen. so muß es vorläufig offen
bleiben. ob der Befund der Fleischerschen Fälle (Ausfall des ge-
kreuzten temporalen Halbmonds nach Hinterhauptsschuß) mit unserm
Befund identisch ist oder ob er nieht einen zweiten Sonderfall dar-
stellt. Eine konzentrische oder bitemporale Einschränkung des Ge-
sichtsfeldes ist übrigens bisher ein häufiger Befund bei Sehsphären-
verletzungen aller Art (Mediane, insbesondere aber Konvexität) ge-
wesen: es ist auffallend, daß sie in unserem Falle nicht vor-
handen war.
Unser Befund ergab, daß in der linken Hemisphäre der ventrale
Polteil der Area striata völlig zerstört. der dorsale aber erhalten war.
Wir wollen hier willkürlich annehmen (vgl. oben N. 61), daß diese
Zerstörung klinisch latent geblieben war, bis eine frische Erweichung
im rechten Okzipitallappen dazu kam. Für das zentrale Sehen ist
dies kaum als eine bloße Annahme zu betrachten: es ist nach der
Theorie der Doppelversorgung eigentlich selbstverständlich, da schon
der intakte Polteil der rechten Hemisphäre für die Intaktheit der
zentralen Sehleistung hätte ausreichen müssen.
Nach einer frischen Erweichung, die vorübergehend wohl die
ganze Sehstrahlung der rechten Seite mit Ausnahme ihres oralen An-
teils ausgeschaltet hat’), ändert sich dies; das zentrale Sehen ist nun
t) Verfolgt man die entsprechenden Anteile der Flechsigschen Seh-
strahlung, so ist diese Annahme nur sehr schwer zu veranschaulichen.
7) Die Aussparung der rechten oralen Sehstrahlung ist für die bezeichnete
Zeit klinisch erschlossen. da ein umschriebener Gesichtsfeld-Defekt (vgl.
S. 41) peripher und linkerseits nicht bestanden hat: wegen der Progression
der frischen Erweichungen läßt sie sich aus den Präparaten nicht mehr
klar ablesen. l
— 66 —
auf eine kurze Zeit aufgehoben, das periphere erhalten; dazu besteht
eine hochgradige Herabsetzung der Sehschärfe. Daraus ergibt sich.
daß — in diesem einen Falle wenigstens — die dorsalen Teile der
polaren Area striata in der linken Hemisphäre samt ihren leitenden
Systemen für sich allein nicht imstande waren, das zentrale Sehen un-
gestört aufrecht zu erhalten: es waren — grob gesprochen — ungefähr
drei Viertel des Gesamtareals der makulären Zentren zerstört oder
ausgeschaltet: das verbliebene letzte Viertel reichte zwar im Zu-
sammenwirken mit den übrigen Resten des zerebralen optischen Appa-
rates aus, das Sehen in der Mitte rasch wiederherzustellen: es
genügte aber nicht, es aufrecht zuerhalten. Von da ab blieb
aus dem Gesamtquerschnitt der Sehstrahlung in beiden Hemisphären
schätzungsweise gewiß mehr als die Hälfte ausgeschaltet: so ist das
Bestehenbleiben einer sehr erheblichen Herabsetzung der Sehschärfe
verständlich, zumal wenn man sich an die diffuse Anordnung der
Ausfälle im größeren Teil des Stratum sagittale externum der linken
Ilemisphäre erinnert.
Es sind also alle Schwankungen des Gesichtsfeldes, die sich wäh-
rend der unmittelbaren Beobachtung des Falles gezeigt haben. aus
dem anatomisehen Befund gut ablesbar: sie bilden ein Sonderbeispiel
der Lehre von der Retinaprojektion und der Doppelversorgung, zu der
sie noch einige ergänzende Einzelheiten beitragen. Dies gilt sowohl
für das Erhaltenbleiben des peripheren Sehens wie für die vorüber-
gehende Ausschaltung des zentralen Sehens.
Ad 2. Mit der vorübergehenden Ausschaltung des zentralen
Sehens zugleich ist die optische Allästhesie eingetreten: sie
hat sie aber — wenn auch in einer gewissen Abschwächung — noch
tiberdauert. Da zu dieser Zeit eine Zerstörung der rechten okzipitalen
Konvexität und eine partielle Läsion von Rindengebiet und Projek-
tionsstrabhing des zentralen Sehens kombiniert vorhanden waren.
enthält der anatomische Befund eine volle Übereinstimmung mit den
Grundbedingungen der optischen Allästhesie, die wir aus den klini-
schen Fällen abgelesen hatten. Wir dürfen ihn daher als eine weitere
Bestätigung der Anschauungen betrachten. die im vorigen Abschnitt
der Arbeit zusammengefaBt worden sind.
Für sieh allein betrachtet würde der Fall in dieser Beziehung
nieht eindeutig sein. Man könnte die optische Allästhesie auch darauf
zurückführen. daß die rechte Sehstrahlung vollständiger, die
linke Sehstrahlnng weniger vollständig ausgeschaltet gewesen sei.
weshalb das Lokalzeichen der linken Sehsphiire überwiegend geworden
wäre. Betrachtet man aber den Fall im Zusammenhang mit den
cee er Sik eo
zs er
früher besprochenen klinischen Beobachtungen, namentlich mit un-
serer Beobachtung 3, dann wird einer Anschauung, die sich zur Er-
klärung der optischen Allisthesie nur auf verschiedene Bilanzen der
Sehsphäre und Sehstrahlung allein beschränken will, der Boden
entzogen. Überdies würde, wenn eine solche Ansicht zutreffen sollte.
die optische Allästhesie viel häufiger bei doppelseitigen und einseiti-
gen okzipitalen Erkrankungen zu erwarten sein, als sie tatsächlich
vorkommt.
In unserer Beobachtung 4 fand sich eine Vertauschung zwischen
rechts und links als Lokalzeichen im Sehraum vor, nicht aber eine
Vertauschung zwischen oben und unten. Es braucht daher im An-
sechluß an diesen Befund auf die letztere nicht eingegangen zu werden.
In der Vertauschung dominierten die Fehler, in denen links peripher
auftauchende Sehdinge nach rechts-peripher verlegt wurden. Aus
dem anatomischen Befund läßt sich dies am einfachsten folgender-
maßen erklären:
1. In beiden Großhirnhälften waren gerade diejenigen Teile der
Area striata und ihrer Projektionsfaserung (die zentrierteren)
ausgeschaltet, denen ein größeres Ausmaß von lokalzeichengebender
Eigenabstimmung zukonmt, während ihre oralen (die peri-
pheren) Anteile erhalten waren. Man kann sich vorstellen, daß
für die letzteren der Einfluß der Richtungszentren in der parieto-
okzipitalen Konvexität. der die Lokalzeichen der Area striata stabili-
siert, während des individuellen Lebens noch nicht vollkommen ab-
geschlossen ist, sondern sich noch im Flusse befindet.
2. Die parieto-okzipitalen Richtungszentren der rechten Hemi-
sphäre sind in ihrem Einfluß auf beide Sehsphiren (der gleichen wie
der gegentiberliegenden Seite) so schwer geschädigt gewesen, daß dies
im klinischen Bild einer völligen Ausschaltung dieses Einflusses
eleichkam. bzw. nahekam. Die intakte linkshirnige parieto-okzipitale
Konvexität war dadurch von einem dämpfenden Einfluß befreit und
konnte ihre Wirkung nicht nur auf die Reste der gleichseitigen Seh-
sphäre. sondern auch auf die gegenseitige geltend machen: dieser
Wirkung entsprach im klinischen Bild das Lokalzeichen „Rechts im
Schraum‘“. |
Die Übertragung dieses Einflusses von der linken okzipitalen
Konvexität auf die rechte Area striata (bzw. auf deren unmittelbare
Umgebung und erst von dieser aus auf die Area striata selbst’) läßt
') Diese Eventualität trägt einer Auffassung v. Valkenburgs Rech-
nung. die der Autor allerdings neuestens darauf beschränkt hat, daß in
der Area striata selbst keine Balkenbahnen entspringen sollen.
— 68 —
sich dureh die Vermittlung intakt gebliebener Balkenbahnen ver-
stehen. Der anatomische Befund des Falles ermöglicht diese Auf-
fassung, denn es sind (sekundär von den alten linkshirnigen Herden
aus) nur jene Bahnen des Balkensplenium degeneriert, die aus ven-
tralen Teilen des Okzipitallappens herstammen, nicht aus dessen
Konvexität; es sind dieselben Züge, deren Verlauf bei den Fällen mit
reiner Wortblindheit zuweilen auch noch im Stratum sagittale inter-
num der Gegenseite wiedergefunden werden kann. (So im Falle
Setzka von Bonvicini und dem einen von uns.) Die Balkenbahnen.
die von der rechten Großhirnhälfte her den richtenden Einfluß nach
links hin vermitteln, sind infolge der frischen rechtshirnigen Erwei-
chung ausgeschaltet gewesen; der Balken war also in diesem Falle —
wenn man es so formulieren will — für das richtende Kräftespiel zwi-
schen Scheitellappen und Sehsphäre nur von links her durchlässig,
nicht aber von rechts her.
Daraus ergibt sich ein gewisses Verständnis für eine Verschieden-
heit in unseren Befunden, die nicht übersehen werden darf. Sowohl bei
der Fata morgana während des Migräneskotoms (E. Beyer), als auch
in unserer Beobachtung 3 sind Störungen der rechtshirnigen rich-
tenden Tätigkeit anzunehmen: die Verlagerungen im Sehraum, die sie
zur Folge haben, führten aber nieht, wie in unserer Beobachtung 4 zu
einer Dominanz der Verlagerung Jinks auftauchender Sehdirge nach
rechts, wie dies einem sinkenden Einfluß der linksrichtenden
Kraft der rechten Hemisphäre entsprechen würde: es ergaben sich
vielmehr Verlagerungen rechts auftauchender Dinge nach links, was
mit einem (vorübergehend) einseitig gesteigerten, aus einem physio-
logischen Gesamtkomplex entmischten richtenden Einfluß der
rechten Großhirnhälfte zusammenstimmen würde. Da es sich dabei
das eine Mal (E. Beyer) um eine Aura, das andere Mal um transi-
torische Phänomene bei einer Halluzinose gehandelt hat, liegt es
ohnehin nahe, die optische Allästhesie dieser beiden Fälle als Reiz-
erscheinung zu bezeichnen, in unserer Beobachtung 4 aber die
optische Allästhesie (vorwiegend) auf Ausfallserscheinungen
zu beziehen.
Im allgemeinen ist eine solche schematische Zuordnung bedenk-
lich. angesichts aller Befunde, die gezeigt haben, daß nicht weniges
von dem, was man früher ohne weiteres unter die Reizerscheinungen
gerechnet hat. in Wahrheit einer Enthemmung durch den Weg-
fall der Tätigkeit übergeordneter Zentren entsteht. In dem beson-
deren Fall aber, der den Gegenstand der hier gegebenen Darstellung
bildet, scheint uns diese Zuordnung nicht so schematisch und besser
— 69 —
gestützt zu sein, als im allgemeinen. Denn hier ergibt sieh aus allen
aufgezählten Befunden eine Analogie mit der Blickdeviation vom
Herd weg. wie sie während des (z. B. parietal angreifenden) epilepti-
schen Anfalls die Regel ist, und mit der Bliekdeviation zum Herd hin,
die (eventuell verbunden mit einer vorübergehenden Blicklihmung
nach der Gegenseite des Herdes) den gewöhnlichen Befund im Nach-
stadium solcher Anfälle bildet. Mit einer solchen Blickdeviation
vom Herd weg wäre also die optische Allästhesie der Aura und der
Halluzinose in eine gewisse Parallele zu bringen, mit einer Blick-
deviation zum Herd die optische Allästhesie, die mehr dauernd als
Folge einer destruierenden Herderkrankung bestanden hat.
Unter den Bedingungen, wie sie die hier zusammengestellten Be-
obachtungen enthalten, wäre also zuerst das periphere Sehding
einer konjugierten Ablenkung verfallen gewesen, dann erst — in
einer späteren Phase — die Augen selbst. Dies stimmt mit dem wei-
teren Verlauf unserer Beobachtung 4 überein. in der mit dem weiteren
Fortschreiten der rechtshirnigen Erweichung auch die Rechtsdeviation
des Blickes gefolgt ist und sieh auf Kopf und Körper verallgemeinert
hat: es deckt sich auch mit den Hauptziigen der Beobachtung
Beyers und unserer ersten Beobachtungen. in denen die Fata mor-
gana des Sehraums die Aura einer Aura gewesen ist.
Wir finden also in allen Einzelheiten unserer vier Beobachtungen
eine gute Übereinstimmung. die eine gemeinsame Auffassung reeht-
fertivt. Wir fassen sie am Schlusse dieses Abschnittes wieder kurz
ZUSAMMEN:
Die klinischen Beobachtungen hatten es nahegelegt, als Grund-
vorgang hei der optischen Allästhesie bzw. bei der Fata morgana des
Schraums besondere Richtungsstörungen anzunehmen, die unter
zweierlei Bedingungen entstehen: erstens dureh das Sinken einer
Kigenleistung der Area striata. die auf die Konstanz der spezifischen
Lokalzeichen im Sehraum abzielt. zweitens durch eine Entmischung
bestimmter Komponenten aus dem Komplex einer gemeinsamen rich-
tenden Tätigkeit, die physiologischerweise von der okzipitalen Kon-
vexität auf die Area striata ausgeübt wird.
Der klinische und anatomische Befund unserer Beobachtung 4
enthält die Kombination beider störender Faktoren: er stellt daher
nach der Auffassung. die sich hier ergeben hat. ein Optimum für
die Auslösung einer optischen Allästhesie dar.
III. Zusammenhänge
mit anderen Erscheinungen
Die optische Allästhesie ist kein häufiges Symptom; sie wäre eine
eingehende Darstellung kaum wert gewesen. wenn sie nicht so viel-
fache Zusammenhänge hätte mit Fragen von größerer Tragweite, die
seit langem in ungelöster Diskussion stehen. Daß sie enge Beziehun-
een hat zur Theorie der Halluzinationen, ist schon von E. Bever ver-
mutet worden; der Befund unserer Beobachtung 3 hat es bestätigt.
Auch ihre engen Beziehungen zu den Theorien der Retinaprojektion.
der Bildung des Sehraums usw. ist aus dem Vorigen ersichtlich ge-
worden. Wir können unmöglich hier alle Zusammenhänge der Reak-
tion erschöpfend besprechen; wir glauben aber. dasjenige hier heraus-
greifen zu müssen, was für die Einordnung des Symptoms unter ver-
wandte Phänomene der Pathophysiologie von Wichtigkeit ist.
v
1.Vergleiehspunktemitdertaktilen Allästhesie.
Daß die Fata morgana des Sehraums mit Reeht als eine optische
Allästhesie bezeichnet werden darf, geht aus der Konstanz des Ver-
tauschungs-Sinnes hervor. die bei ihr herrseht. sowie aus der großen
Rolle. die eine Vertauschung zwischen rechts und links bei ihr
spielt. In beiden Beziehungen läßt sie sich klinisch mit der takti-
len Allästhesie (Alloästhesie im Sinne der Benennung von
Ernest Jones und von Dusser de Barenne) in eine volle
Analogie bringen.
Wie wir schon vorhin erwähnt haben, ist gegenwärtig auch die
taktile Allästhesie nicht lediglieh als ein spinales Symptom he-
kannt: sie ist auch in vereinzelten Fällen bei Herderkrankungen des
GroBhirns gefunden worden (Kramer, Schilder). Schon
früher war bekannt, daß eine Alloehirie (nach der ursprünglichen
Benennung Obersteiners, des Entdeckers dieser ganzen Sympto-
mengruppe) nicht so selten als Aura vor Anfällen von Hemikranie
vorkommt. In Obersteiners Definition wird die UngewiB-
heit des Patienten, welches die gereizte Körperseite sei, besonders
betont‘); nur nebenbei wird angegeben, daß das Individuum gewöhn-
lich den Reiz auf die symmetrische Stelle des andern Gliedes be-
zieht (Dusserde Barenne). In der Aura der Hemikranie findet
sich meist nur ein quälender Zweifel, ein Fehlen der gedankenlosen,
automatischen Sicherheit über rechts und links, das einer Zwangs-
vorstellung gleicht und durch Kritik korrigiert wird, aber nicht über-
wunden werden kann. Wie die optische Allästhesie wird auch diese
Auraerscheinung wohl für ein Großhirnsymptom gehalten werden
müssen. Die klinischen Verhältnisse sind also für die zerebral
bedingte optische und taktile Allästhesie in vieler Beziehung ähnlich;
dies würde dazu herausfordern. den Vergleich auf jene Fälle zu be-
schränken, in denen auch die taktile Allästhesie ein Großhirn-
symptom war.
Indessen sind die beiden Fälle, für die dies zutrifft (der Fall von
Kramer und der Fall von Schilder), ohne Autopsie geblieben.
Ein Vergleich. der sie zum Ausgangspunkt nimmt, würde darum vor-
läufig in vieler Beziehung hypothetische Verhältnisse vorfinden; da-
gegen ist — dureh die grundlegenden Versuche von Dusser de
Barenne — die spinal bedingte taktile Allästhesie in ihren
Hauptmechanismen bereits klargestellt. Wir wollen daher zuerst das
spinal bedingte Symptom zu dem geplanten Vergleich heranziehen.
Vor Dusser de Barenne hatte schon Mott nach Halb-
seitendurchsehneidung des Rückenmarks an Affen (dreimal in neun
Versuchen) alloästhetische Störungen ausgelöst. Sie waren für die
Beobachtung eindeutig, da die Tiere eine Klemme, die an dem der
Läsien gleichseitigen Fuß angelegt war, unbeachtet ließen. zugleich
aber den gegenseitigen Fuß zu befreien versuchen, als ob dort eine
Klemme säße.
Allein diese Ergebnisse Motts waren insofern zufällige, als es
ihm nieht gelungen war, die Bedingungen der Allästhesie festzustellen
und sie durch einen bestimmten Versuchsplan regelmäßig zu erzielen.
Dies erreichte erst Dusser de Barenne.
Er operierte an Katzen und Hunden. Wenn er streng lokal auf
die Dorsalfliche eines Rückenmarkssegmentes 1proz. Stryehninlösung
derart applizierte. daß nur das Hinterhorn einer Seite vergiftet wurde,
(z. B. das linke), so trat das zugehörige Syndrom (Hyperalgesie.
Hyperreflexie. Muskelzuekungen) nur in der zugehörigen Strych-
ninseementzone (dem zugehörigen gleichseitigen Dermatom)
') Vel. dazu die „Störung der Orientierung am eigenen Körper“
ich. Pick).
— p —
auf, während sich rechts gar keine Erscheinungen beobachten ließen.
Wenn er aber einige Segmente kranial von dem vergifteten Hinterhorn
eine Halbseitendurehschneidung des Markes ausführte, zeigten sich
„nit einem Male auf der rechten Körperhälfte (u. zw. in der sym-
metrischen Strychninsegmentzone, zum rechten Hinterhorn desselben
Segments gehörend, dessen linkes Hinterhorn wir soeben vergiftet
haben), die so markanten subjektiven Erscheinungen des Syndroms:
Das Tier beißt und leckt sich jetzt die Haut der rechten Stryehnin-
sermentzone (von Thoracale X)“ usw.
Wiederholungen und Variationen der Versuche ergaben Dusser
de Barenne die Gesetzmäßigkeit dieser Erscheinungen. Wenn in
großer Nähe (ein Segment) über dem gereizten Querschnitt eine gleich-
seitige Hemisektion gemacht wurde, blieben die Erscheinungen auf
das gekreuzte Dermatom beschränkt; wurde die Hemisektion um
3 Segmente höher gemacht. betrafen die Erscheinungen sowohl das
gleiehseitige wie das gekreuzte Dermatom.
Als Bedingungen, in deren Folge „die Alloästhesie auftritt. auf-
treten muß“. nennt Dusser de Barenne also:
wl. Eine akute unilaterale oder vorwiegend unilaterale Läsion
von zerebropetalen sensiblen Rückenmarksbahnen (wahrscheinlich he-
sonders derjenigen für Schmerzreize).
2. Ein Übererregbarkeitszustand eines Teils der gleiehseitigen
dorsalen grauen Substanz des kaudal von der Läsion gelegenen
Rückenmarksabschnittes. (Im Versuch durch eine ganz leichte
Stryehninisation der betreffenden Teile hervorgerufen.)"
Trotz der anscheinend großen Verschiedenheit zwischen spinal
bedingter taktiler Allästhesie und der zerebral-optischen Alästhesie
besteht doch eine weitgehende Analogie zwischen den zitierten Ver-
suchsbedingungen Dusser de Barennes und zwischen jenen Be-
dingungen. die nach den Ergebnissen dieser Arbeit ein Optimum
für die Auslösung einer optischen Allästhesie mit Vertauschung von
rechts und links als Lokalzeiehen gebildet haben. Wir rekapitulieren
die letzten nochmals in einer Form, die dieser Analogie Rechnung
träet.
1. Eine akute unilaterale oder vorwiegend unilaterale Blockie-
rung von zerebropetalen optischen Bahnen (besonders solchen. die
zur Projektionsfaserung des zentralen Sehens gehören).
2. eine Enthemmung bestimmter riehtender Komponenten aus
dem Gesamtkomplex gemeinsamer einstellender Wirkungen. die
physiologischerweise von der okzipitalen Konvexität auf die Area
striata ausgeübt werden (bald dureh eine epileptische oder hemikrani-
— 3 —
sche Aura, durch den hypnagogen Zustand, bald durch Isolierungs-
veränderung hervorgerufen).
Die Analogie der unter 1. aufgestellten Bedinsungan wird ohne
weiteres einleuchten. Nicht so die Analogie der Bedingungen, die
hier unter 2. angeführt sind. Doch wird auch die letztere verständ-
lich, wenn wir die theoretische Deutung heranziehen, die Dusser
de Barenne seinen Versuchen gegeben hat:
„Die Strychninsegmentzone tritt auf durch die Vergiftung des
gleichseitigen Hinterhorns des betreffenden Segments. Es liegt also
nahe, auch das Auftreten der Strychninsegmentzone auf der gegen-
seitigen Körperhälfte einer Steigerung des Erregungszustandes des
vergifteten Hinterhorns desselben Segments zuzuschreiben.
Bei der isolierten linksseitigen dorsalen Strychninisation mit: in-
taktem Rückenmark genügen die normaliter begangenen gekreuzten
und ungekreuzten Wege, um die in dem vergifteten Hinterhorn passie-
renden und entstehenden Erregungen emporzuleiten. Dem ist nicht
mehr so, wenn kranial von dem vergifteten Hinterhorn auf .der glei-
chen Seite eine Hemisektion gemacht wird. Mit einem Schlage sind
dann die ungekreuzten Bahnen ausgeschaltet und die gekreuzten Lei-
tungen genügen nicht. mehr. Die zahlreichen und starken Erregun-
gen, die aus dem vergifteten linken Hinterhorn stawrmen, betreten nun
Wege, die bei intaktem Mark nicht betreten werden und für die zere-
bropetale Fortleitung der Schmerzreize aus der Haut von geringer
funktioneller Bedeutung sind. |
Es ist am plausibelsten, sich varietee daß dies Wege gebil-
det werden von Neuronen,. die das linke (vergiftete) Hinterhorn mit
dem rechten Hinterhorn desselben Segments verbinden. Diese Neu-
rone würden dann enden um die Zellen des rechten Hinterhorns, die
normaliter ihre Erregungen durch die rechte Hinterwurzel aus der
rechten hinzugehörenden Strychninsegmentzone empfangen. Das Ge-
hirn, jetzt also Erregungen aus dem vergifteten linken Hinterhorn
via dem rechten Hinterhorn empfangend, projiziert diese
Erregungen aber, als kämen sie direkt aus der see Strychnin-
segmentzone.“
Nach Dusser de Parc ist es ako eine kommissu-
rale Verbindung zwischen dem übererregten Hinterhorn und .dem
Hinterhorn der Gegenseite, innerhalb deren die Leitung sonst ge-
hemmt ist, unter den Bedingungen des Versuchs aber enthemmt
erscheint und dadurch das Auftreten einer taktilen Allästhesie ver-
anlaßt. Das anatomische Substrat dieser kommissuralen Leitung ist
vorläufig nicht endgültig klargestellt (Kollateralen der Axonen von
Herrmann-Pötz|, Optische Allästhesie (Abhdl, H. 47). 6
as HN
Kommissurenzellen des linken Hinterhorns, Beteiligung der spärlichen
Zellen der hinteren Kommissur?).
Auch nach unseren Ergebnissen und deren Deutung (nach unse-
rer Bedingung 2) ist es eine kommissurale Verbindung zwischen
einem übererregten (oder durch Isolierung dominierenden) Zentrum
der okzipitalen Konvexität und der Sehsphäre der Gegenseite, durch
die (unter der konformen Bedingung 1) das Auftreten einer optischen
Allästhesie veranlaßt wird. Auch in dieser kommissuralen Verbin-
dung ist die Leitung der Erregung sonst (unter, physiologischen Um-
ständen) gehemmt, unter den Bedingungen des Falles bzw. Ver-
suchs (vgl. unsere Beobachtung 3) enthemmt. Das anatomische
Substrat dieser kommissuralen Verbindung ist im groben insofern
klargestellt, als es sich um Balkenbahnen handelt, die von der okzipi-
talen Konvexität der Gegenseite zur Sehsphäre auf der Seite der
Blockierung (Bedingung 1) ziehen.
Die Analogie zwischen diesen beiden scheinbar so heterogenen
Bedingungen besteht also vor allem darin, daß es sich in beiden Fällen
um kommissurale oder kommissurenähnliche Wege handelt, die zwi-
schen zwei spiegelbildlich symmetrisch gebauten Zen-
tren unter den Bedingungen einer zentralen Übererregbarkeit ab-
norme Wege der Erregung darstellen, unter physiologischen Bedin-
gungen aber (mindestens weitgehend) für die Erregung ge-
sperrt sind.
Neben dieser — u. E. sehr weitgehenden — Übereinstimmung
lassen sich aber aus der hier gebrachten Gegenüberstellung der Be-
dingungen für die taktile Allästhesie (Dusser de Barenne) und
der optimalen Bedingungen für die zerebral-optische Allästhesie auch
bedeutsame Unterschiede erkennen.
Der Hauptunterschied scheint uns hier folgender zu sein: Bei der
experimentellen spinalen Allästhesie liegt die Stelle, an der die Lei-
tung zentripetaler Erregungen blockiert wird, zerebralwärtsvon
den beiden Zentren, deren veränderte Bilanz für das Auftreten des
Symptoms notwendig ist. Bei unseren Fällen von optischer Allästhesie
aber lag die Blockadestelle der zentripetalen Leitung peripher-
wärts von den (kortikalen) Zentren, deren verschobene Gesamt-
wirkung für das Symptom entscheidend war.
Bei genauerer Betrachtung aber weist dieser Unterschied auf wei-
tere Ähnliehkeiten der hier herrschenden Bedingungen hin. Wenn
wir uns an die Erklärung halten, die Dusser de Barenne selbst
für seine Versuche gegeben hat, so ergibt sie, daß die zentripetale
Erregung (auf dem Wege der zugehörigen hinteren Wurzeln) das
a Ti, we
linke, mit Strychnin vergiftete Hinterhorn durchströmt hat, ohne von
ihm ein bleibendes Lokalzeichen zu erhalten; auch die im vergifteten
Hinterhorn selbst entstehenden Erregungen verraten nichts von einem
richtenden Faktor. Erst nachdem sie das nicht vergiftete Hinter-
horn der anderen Seite passiert haben, erscheinen sie eindeutig ge-
richtet; sie sind also mit einem richtenden Faktor versehen worden,
der dem rechten, nicht vergifteten Hinterhorn zugeordnet ist. Dieses
graue Zentrum erscheint hier als däs Organ, das an jede zentri-
petale Erregung, die es zu verarbeiten hat, seinen eigenen invari-
anten Richtungsfaktor hinzufügt, gleichsam ankoppelt.
Dieser Vorgang entspricht einerseits einer altbekannten Grund-
annahme vieler Psychologen, die auch Schilder zitiert: Das Lokal-
zeichen sei nichts, das mit der Empfindung selbst gegeben sei, son-
dern etwas, das erst zur Empfindung hinzukomme (Lotze). Der
Tatbestand, den der Versuch Dusser de Barennes enthält, paßt
gut zu dieser Anschauung, doch muß er physiologisch, nicht mit
psychologischen Benennungen, formuliert werden. Dann ist an Stelle
von „Empfindung“ der Fluß der zentripetalen Erregungen zu setzen;
erst die invariante Eigenleistung eines grauen Zentrums erteilt den
zentripetalen Erregungen eine besondere Eigenschaft, den Rich-
tungsfaktor der Körperseite.
Andererseits scheint uns die Invarianz dieser Eigenleistung des
rechten Hinterhorns nicht allzu schwer verständlich zu sein. Sie ent-
spricht der Raumrichtung, aus der dieses Zentrum die zentripetalen
Reize zu erhalten gewohnt ist; die Zellen dieses Zentrums sind
phylogenetisch, ontogenetisch und während des individuellen Lebens
gleichermaßen abgestimmt worden, gerade aus dieser Richtung
Erregungen zu empfangen. Wenn dieses Zentrum somit im Sinne
seiner eigenen Abstimmung die Erregungen verändert, gleichgültig
aus welcher Quelle sie kommen, so zeigt sich eben wieder einmal, daß
die Lage der Leitungsbahnen (homolateral oder kontralateral)
für diese richtenden Wirkungen nicht in Betracht kommt, ähnlich wie
ja auch die Nervenfaser befähigt ist, doppelsinnig nach beiden Rich-
tungen hin die Erregung zu leiten. Man kennt die eindeutig richtende
Kraft, die auf den Fluß der Erregungen ausgeübt wird, als eine Wir-
kung an den Synapsen. So ist es begreiflich, daß sie einerseits an
ein graues Zentrum gebunden erscheint, andererseits aber für das
symmetrische graue Zentrum verloren gegangen ist, wenn dieses mit
Strychnin vergiftet war und damit gleichsam asynaptal geworden ist.
Die Enthemmung der zentralen Erregungen durch die Strychnin-
vergiftung hat also den spezifischen Richtungsfaktor des vergifteten
6*
au, “GE =
Zentrums ausgelöscht. Der letztere hat sich, wie es scheint, in
Erregungen eines neuen Weges umgewandelt. Wir verstehen
unter der Gegenreaktion der Zentren eine Leistung der
Nervenzellen, die darin besteht, daß überschüssige Erregung aus be-
stimmten Wegen abgezogen, von den Nervenzellen gespeichert und in
richtende Faktoren umgewandelt wird. Die Wirkungen des Strychnins
in diesem Versuch erscheinen hier nicht als eine bloße Enthemmung.
sondern als eine Umkehrung der Vorgänge, die die Gegenreaktion der
Zentren in sich enthält.
Es ist selbstverständlieh sehr bemerkenswert, daß nicht die Zellen
des Spinalganglion, sondern die Hinterhornzellen die richtende Kraft
auf die zentripetale Erregung ausüben; für den Vergleich mit der
zerebral-optischen Allästhesie aber gibt dieser Punkt keinen Anlaß zu
besonderen Erörterungen.
Dagegen ist für uns wesentlich, daß die Eigenschaft, ein bestimm-
tes Lokalzeichen im Tastraum zu erteilen, hier als eine dauernde Ab-
stimmung erschienen ist, diean spezifische Zellgruppen ge-
bunden ist und sich in deren spezifischer räumlicher Lagerung wider-
spiegelt. Dasselbe gilt auch für die fixen, durch phylogenetische und
ontogenetische Abstimmung zustande gekommenen Lokalzeichen, die
Eigenleistungen der Area striata sind. Wir bezeichneten sie (S. 36)
als den statischen, festgelegten Anteil eines größeren zentralen
(resamtvorgangs, den Anteil, der die Retinaprojektion festgelegt hat.
Wir unterschieden (aus unserer Beobachtung 3) noch einen zweiten
dynamischen, imFluß befindlichen Anteil, eine Rückwirkung der
okzipitalen Konvexität auf die Area striata, deren Störung sich aus
der zweiten Hauptbedingung der zerebral-optischen Allästhesie ab-
lesen läßt.
Die spinale Allästhesie (ebenso wie eine etwaige Allästhesie
auf Grund einer Störung der peripheren optischen Systeme)
scheint also dem statischen Anteil des betrachteten raumbilden-
den Gesamtvorgangs zugeordnet zu sein; die zerebral-optische All-
ästhesie ist dem dynamischen noch nicht abgeschlossenen Anteil des-
selben Gesamtvorgangs zugeordnet. In beiden Fällen aber ergeben
sich im Prinzip dieselben Mechanismen: die Enthemmung eines Zen-
trums, die dessen eigenen invarianten Richtungsfaktor dadurch aus-
löscht, daß er sich in Erregungen verwandelt, die durch sonst unbe-
tretene Wege strömen: an die Stelle des ausgelöschten Richtungs-
faktors tritt dann der Richtungsfaktor des symmetrischen, aus seiner
Verkoppelung mit der geschädigten Region gelösten Zentrums.
eg,
Wir können nunmehr, nachdem sich diese Gleichartigkeit der
Mechanismen ergeben hat, auch die zerebral bedingten Fälle von
taktiler Allästhesie zu unserem Vergleich heranziehen.
Der Fall von Kramer ist in dieser Beziehung schon anderwärts
von dem einen von uns (P.) besprochen worden. Die Allästhesie war
bei ihm mit einer dauernden Deviation nach rechts und mit einer
Nichtbeachtung der linken Körperhälfte verbunden. Die erwähnte
Veröffentlichung des einen von uns hatte gerade diese Nichtbeachtung
und ihren Zusammenhang mit dem Antonschen Symptom, mit der
Nichtwahrnehmung der (linksseitigen) Hemiplegie zum Hauptgegen-
stand; an zwei eigenen Fällen wurde gezeigt, daß dieses Symptom auf
eine Rechtsdrehung der linken Hälfte des Körperbildes und auf die so
entstandenen Inkongruenzen zwischen Sehraum und Lokalisation der
linken Hälfte des Körperbildes zurückgeführt werden konnte. In den
beiden eigenen Fällen war nur das Antonsche Symptom vorhanden,
nicht aber die taktile Allästhesie; im Kramerschen Fall waren beide
- Erscheinungen miteinander vereint.
Wie wir schon anderweitig hervorgehoben haben, gibt es eine
Analogie zu jener Zerspaltung des Körperbildes in zwei Hälften, von
der soeben die Rede war. Sie besteht in einer Zerspaltung des Außen-
raums in zwei Halbräume, die für das Sehen und Tasten voneinander
weitgehend separiert sind; ein Fall des einen von uns (H.) zeigte diese
Störung, ohne daß sie mit optischer Allästhesie verbunden war. In
unserer Beobachtung 4 (vgl. den vorhergehenden Abschnitt dieser
Arbeit) fand sich auch diese Zerspaltung des Außenraumes in zwei
Halbräume deutlich vor; sie war mit optischer Allästhesie (mit der
Vertauschung von rechts und links für die einzelnen Stellen des
Sehraumes) kombiniert. In unseren anderen Beobachtungen findet
sich kein solches Zusammensein beider Erscheinungen; wir schließen
daraus, daß sie vorläufig gesondert betrachtet werden müssen. Auch
in dieser Beziehung sind also die Verhältnisse zwischen zerebral be-
dingter optischer und taktiler Allästhesie sehr ähnlich; aus dem Ver-
gleich der früher zitierten eigenen Fälle mit dem Fall von Kramer
hatte sich schon ergeben, daß auch für die Orientierung am eigenen
Körper (A. Pick) hier vorläufig zwei verschiedene Störungssymptome
gesondert untersucht werden müssen: die Zerspaltung des Körper-
bildes in zwei Hälften und die taktile Allästhesie. Wir haben in der
zitierten Arbeit die erstere Störung als Schädigung einer Integral-
funktion bezeichnet, die letztere Störung als Schädigung differen-
zieller Leistungen. Auf ihre Verwandtschaft, Unterschiede und be-
sondere Eigenschaften ist schon damals aufmerksam gemacht worden.
Lae. YR cme
Der Fall von Schilder ist geeignet, den Unterschied zwischen
beiden Symptomen noch von einer anderen Seite her zu beleuchten.
Schilders Kranke hatte zwar eine Allästhesie und andere Loka-
lisationsstörungen für die einzelnen sensiblen Reize, nicht aber eine
Störung der Wahrnehmung des gesamten Körperbildes oder einer
seiner Hälften. Der Fall von Schilder entsprach linkshirnigen
Großhirnherden; unsere Fälle mit der gestörten Integralfunktion hat-
ten exquisit rechtshirnige Herde. Wir stellen dies hier gegenüber,
ohne indessen daraus bindende Folgerungen abzuleiten.
Auch Schilders Kranke hatte unmittelbar nach dem Insult (neben
einer rechtsseitigen Hemiplegie) eine Blicklähmung nach rechts
(mit Deviation der Bulbi nach links oben) gehabt. Etwas später folgten
Krämpfe der rechten Extremitäten und eine Dauerabweichung des Kopfes
nach rechts. In dieser Beziehung gleicht sie sehr unserer Beobachtung 3, da
das, was über die frischen Herdwirkungen in beiden Fällen ermittelt ist, sich
in den hier angegebenen Punkten zu einem großen Teil deckt.
Nur anfangs bestand bei der Kranken von Schilder eine weitgehende
Hemianästhesie der rechten Körperseite. Sie ging noch früher zurück. als die
rechtsseitige Hemiplegie; es blieben aber Resterscheinungen übrig: Schwere
Störungen der Lokalisation sensibler Eindrücke aller Art und eine rechts-
seitige Thermoanästhesie.
In dieser Beziehung wieder erinnert Schilders Fall an die
Versuchsbedingungen Dusser de Barennes, da auch bei der
experimentellen spinalen Allästhesie besonders die Blockierung der
sensiblen Leitung im Seitenstrang in Betracht gekommen ist.
also vor allem die ihr entsprechenden Schmerz- und Temperaturquali-
täten. Auch an unsere Beobachtungen 3 und 4 erinnert der Fall; wenn
bei der Kranken von Schilder überhaupt eine Blockierung der
zentripetalen sensiblen Leitung vorhanden war, so war sie sicher
nur eine partielle und vorübergehende gewesen; sie war zum aller-
größten Teil schon verschwunden, während die Allästhesie sie noch
lange tiberdauerte. So war in unserer Beobachtung 4 die Blockade
der optischen Leitung nur eine partielle; in unserer Beobachtung 3
ist es überhaupt strittig, ob eine Blockierung der optischen Leitung
jemals vorhanden war, während die Ähnlichkeit der parietalen Stö-
rungen mit den Störungen im Falle Schilders eine eklatante ist.
Die spätere Allästhesie der Schilderschen Kranken war mit Poly-
ästhesie verbunden. Die letztere war bei Berührungen der rechten
Körperhälfte konstant: sie fand sich aber auch zuweilen nach Reizen, die an
der linken Körperhälfte ansetzten. Es handelte sich um eine Polyästhesie
nach zwei verschiedenen Beziehungen hin: gewisse Reaktionen waren
räumlich am Körper vervielfacht (eine Berührung rechts in der Gegend
der Brust wurde zunächst auf die Schulter verlegt, nach 4—10 Sekunden kam
eine Empfindung in der Gegend des Ellenbogens, dann eine dritte am Ober-
as 70 en
schenkel, eine vierte am Fußrücken); außerdem waren (in solchen Reak-
tionen, wie in den andersartigen) die Eindrücke auch in ein zeitliches
Nacheinander, in eine Serie von Teileindrücken zerspalten.
Diese zeitliche Zerspaltung des einzelnen Eindrucks erinnert ganz
an die Serienhalluzinationen unserer Beobachtung 3. Auch die
Allästhesie der Schilderschen Kranken glich diesen darin, daß sie
als verspätete Nachwirkung einer nicht unmittelbar wahrgenommenen
Reizung auftrat. Der Rhythmus der Serien von Nachwirkungen ist in
beiden Fällen gut vergleichbar, namentlich in der Art, wie sich diese
Nachwirkungen allmählich abdämpften.
Die räumliche Vervielfachung der taktilen Eindrücke, die bei _
der Schilderschen Kranken bestand, hat in unseren Beobachtun-
gen kein Gegenstück; wollte man (für etwaige andere Fälle) ein
solches schematisch konstruieren, so müßte es in einer Polyopie
bestehen, die an manche Eigenschaften der optischen Halluzinationen
von Alkoholdeliranten erinnern würde. Daß eine solche Polyopie im
Zusammenhang mit okzipitalen Herderkrankungen tatsächlich vor-
kommt, ist bekannt (Mingazzini, Kauders u. a.). Wir. wollen
indessen an dieser Stelle noch nicht darauf eingehen.
Die eigentliche Allästhesie im Falle von Schilder bestand darin, daß
„Empfindungen der gut empfindenden Körperhälfte nach einem 4—10 Sek.
dauernden Intervall symmetrisch übertragen werden“. Dabei blieb die
Qualität der Empfindungen manchmal nicht gewahrt (ein Stich wurde als
Berührung empfunden); manchmal aber blieb sie spezifisch erhalten. So er-
schien z. B. „auf dem Wege der Übertragung auch eine rechtsseitige
Wärmeempfindung, die durch direkten Reiz nicht erzielt werden
konnte“. Dann folgten noch eine oder mehrere Nachempfindungen.
Auch in dieser Beziehung zeigt sich eine volle Analogie mit den
optischen Nachwirkungen in unserer Beobachtung 3. Da indessen
manche allästhetische Reaktionen der Schilderschen Kranken
darin bestanden, daß die entsprechenden Eindrücke links und rechts
wahrgenommen wurden, erinnern solche Reaktionen auch an den
Dusser de Barenneschen Versuch u. zw. gerade an jene Modi-
fikation desselben, in der drei Segmente höher oben, also in größerer
Entfernung von der Reizstelle die Halbseitendurchschneidung vorge-
nommen worden ist. Es entspricht dies einem erhaltenen größeren
Querschnitt der zentripetalen Sinnesleitung; so steht auch diese Ähn-
lichkeit mit der Pathologie der Herderkrankung im Schilderschen
Falle in gutem Einklang.
Endlich ist der Schildersche Fall mit unserer Beobachtung 3
auch darin analog, daß es sich in beiden Fällen um eine Hirnlues
und zwar offenbar um endarteriitische Erweichungen gehandelt hat.
— 80 —
Auch ist in keinem der beiden verglichenen Fälle ein Anhaltspunkt
dafür vorhanden, daß doppelseitige Hirnherde im Spiele gewesen
wären. Bei der Kranken Schilders spricht alles dafür, daß nur
linkshirnige Großhirnherde vorhanden waren; in unserer Beobach-
tung 3 erkennen wir nur die residuären Wirkungen rechtshirniger
Großhirnherde. |
Wollte man es daher versuchen, die zerebralen Mechanismen der
Schilderschen Beobachtung konstruktiv zu ergänzen, so fände sich
keine Berechtigung, sie dem doppelseitigen Typus unserer Beobach-
tung 4 entsprechend zu gestalten; eher noch könnte man sie sich an-
genähert denken unseren Autopsiebefunden bei Nichtwahrnehmung
einer linksseitigen Hemiplegie; nur würde im Schilderschen Fall
die linke Hemisphäre die erkrankte sein, während in den bezeichneten
Fällen die rechte Hemisphäre geschädigt war. Auch möchten wir für
den Fall Schilders nicht annehmen, daß eine Kombination eines
Thalamusherdes mit Großhirnherden wirksam war (Schilder selbst
hält einen Thalamusherd nicht für wahrscheinlich); viel eher ist an
parietale Großhirnherde zu denken, die dem Projektionsfeld der Kör-
perfühlssphäre (der Cp.) ähnlich benachbart gewesen sein mögen wie
die Herde der okzipitalen Konvexität in unseren optischen Fällen der
engeren Sehsphäre benachbart waren.
Über die besonderen Eigenschaften der angenommenen parietalen
Herde kann allerdings mangels eines Autopsiebefundes kaum etwas
Bestimmtes ausgesagt werden. Es bleibt abzuwarten, bis auch für die
taktile Allästhesie ein Befund vorliegt, dessen: Ergebnisse z. B. mit
unserer Beobachtung 4 verglichen werden können. Wollte man es
versuchen, auf Grund rein theoretischer Erwägungen hier noch etwas
weiter zu kommen, so würde allenfalls noch der Vergleich mit dem
Versuch Dusser de Barennes herangezogen werden können.
Im Versuch Dusser de Barennes durchströmt die zentri-
petale Erregung, die der linken Seite des Körpers zugehört, abnormer-
weise das rechte Hinterhorn; sie erhält von diesem das Lokalzeichen
„rechts am Körper“ bei sonst völliger Wahrung der Dermatomgrenzen,
die dem betreffenden Erregungsfluß entsprechen. - Dies geschieht in-
folge einer Ablenkung der zentripetalen Erregung aus der ge-
wohnten Stromrichtung in eine ungewohnte; analog kann man für
den Schilderschen Fall annehmen, daß die zerebropetalen
sensiblen Erregungen — soweit sie zur Zeit der Allästhesie nicht
blockiert waren — zwar auf den entsprechenden thalamo-kortikalen
Wegen aufwärts geleitet worden sind, daß sie aber dann im Ein-
strömen in die kortikale Fühlsphäre auf ungewohnte Wege (z. B.
— 81 —
auf symmetrische Partien der rechtshirnigen Fühlsphäre bei der
Allästhesie) abgelenkt, irradiiert sind. Über die Bedingungen,
die innerhalb der thalamo-kortikalen Sinnesleitung zu einer solchen
Irradiation führen, läßt sich vorläufig nicht allzuviel aussagen. Es
genügt, darauf hinzuweisen, daß kortikopetale Fasern aus dem Thala-
mus opticus selbst nachgewiesen sind, die auf dem Weg über dem
Balken in die gegenseitige Hemisphäre verlaufen (Roussy); man
kann daraus entnehmen, daß gerade eine partielle Blockade von
eigener, im Autopsiefall näher bestimmbarer Anordnung u. U. geeig-
net sein kann, zu dieser allästhetischen Ablenkung der sensiblen Er-
regungen etwas beizutragen. Dies entspräche unserer Hauptbedin-
gung 1 für die optische Allästhesie und der Bedingung 1,die Dusser
de Barenne für die experimentelle spinale Allästhesie aufge-
stellt hat. T Yg | i
Wir glauben aber, daß auch für die zerebral bedingte taktile
Allästhesie die Bedingung der partiellen Blockade für sich allein nicht
ausreicht, um das Phänomen klinisch hervorzurufen. Es ist sehr
wahrscheinlich, daß dazu noch eine besondere Schädigung parietaler
richtender: Großhirnzentren hinzukommen muß; wir erwarten, dab
sie Momente enthält, die unserer Hauptbedingung 2 analog sind. Wir
denken an eine gleichsam attraktiv wirkende Kraft, die von den
parietalen Großhirnzentren der (erweiterten) Körperfühlsphäre auf
die einzelnen Fraktionen der kortiko-petalen sensiblen Erregung aus-
geübt wird, ähnlich, wie die okzipitale Sphäre auf die einzelnen
in getrennten Projektionsfasersystemen geleiteten Anteile der zere-
bropetalen optischen Erregungen besondere richtende Kräfte ausübt.
Diese attraktive Wirkung scheint uns im physiologischen Fall,
bei ungeschädigter Leistung der Rindenzentren gewissermaßen in
einem bestimmten, jeder Erregungsfraktion spezifisch zugeordneten
Areal konzentriert zu sein; von diesem Areal aber würden
Nebenwege der Erregung nach verschiedenen Richtungen wegfüh-
ren, zumal zu einer Reihe von Prädilektionsorten im restlichen Be-
reich der (gegenseitigen und gleichseitigen) Fühlsphäre. In der Norm
sind diese Nebenwege für die Erregung verschlossen; unter den
besonderen Bedingungen einer eigenartigen Schädigung kortikaler
Eigensysteme, wie sie der Schildersche Fall enthält, sind sie er-
öffnet; der Weg zum spezifischen Hauptareal ist gedrosselt oder im
Augenblick gänzlich verlegt; das Ganze ist vergleichbar der Ablen-
kung der Erregungen auf ein anderes Zentrum im Versuch von
Dusser de Barenne. |
Wir meinen, daß die Tätigkeit, die in der physiologischen Norm
diese Nebenwege für den Fluß der zentripetalen Erregungen ab-
schließt, in den Erscheinungen der ungestörten zentralen Ver-
arbeitung von Sinneseindrücken wohl zu erkennen ist. Es liegt nahe,
die Kontrastphänomene auf diese absperrende Tätigkeit zu
beziehen, die wir einer aktiven Leistung der spezifisch abgestimmten
Nervenzellen zuschreiben, nicht aber einer bloßen Leitung von
Erregungen. Dem physiologischen Kontrast entspräche die patho-
logische Irradiation, die Ablenkung und Zerteilung der Erregun-
gen gegen Prädilektionsorte hin, von denen sie sonst aktiv ferngehal-
ten werden.
Auch unter Bedingungen, die häufig noch physiologische genannt
werden müssen, finden sich Spuren einer solchen (zumalnachträg-
lichen) Irradiation, so in den positiven Nachbildern und im Ver-
schwimmen der Randkonturen sinnesphysiologischer Gestaltungen.
Daß diese Auffassung mit der Rhythmik und Serienbildung bei un-
serer Beobachtung 3 und im Schilderschen Falle gut überein-
stimmt, ist ohne weiteres ersichtlich; sie macht für den Schilder-
schen Fall auch die Polyästhesie verständlich, insbesondere deren
Ähnlichkeit mit physiologischen Mitempfindungen, wie sie
Stransky, Mittelmann u. a. beschrieben haben. Hierher ge-
hören auch Berührungspunkte der taktilen Allästhesie mit pathologi-
schen Phänomenen, z. B. mit der (auch von Schilder zitierten)
Alloparalgie, die A. Fuchs an Schußverletzungen peripherer
Nerven beschrieben und der Alloästhesie zugerechnet hat. Die Ana-
logien, die sich hier ergeben, scheinen uns geeignet zu sein, die Be-
denken, die Oppenheim gegen die zitierte Auffassung von
A. Fuchs geltend gemacht hat (Irradiation auch an andere Körper-
stellen, nicht nur ‘auf die symmetrische Gegend) in ihrer pecans
einigermaßen abzuschwächen.
Wir sehen in der Übereinstimmung der betrachteten Irradiations-
wege mit physiologischen Verhältnissen des Kontrastes einen
Hinweis auf die Bedingungen, unter denen die bezeichneten Neben-
wege entstanden sind und erhalten bleiben. Aber erst die Aufhebung
einer kortikal bedingten Dämpfung, eines zentralen Gegenvorgangs
macht sie für die Erregung gangbar.
Vorläufig können wir als Ergebnis des hier durchgeführten Ver-
gleichs eine weitgehende Ähnlichkeit in den Mechanismen aller
bisher bekannter allästhetischer Phänomene vermerken. Sie besteht
im Zusammentreffen zweier Hauptbedingungen:
es. OR 288
Eine partielle Blockierung der zentripetalen Sinnesleitung muß
mit Auslöschung spezifischer Richtungsfaktoren zusammentreffen, die
eine Folge eines besonderen enthemmenden Vorgangs innerhalb je-
weils örtlich genau bestimmbarer, spezifisch abgestimmter Zen-
tren ist.
2. Zur Theorie der Halluzinationen.
Für die Theorie der Halluzinationen sind besonders die Ergeb-
nisse unserer Beobachtung 3 verwertbar. Wir vergessen aber nicht,
daß sie einen ganz speziellen Fall enthalten, der durch das Zusammen-
treffen einer Mehrheit von Faktoren zustande gekommen ist und noch
durch geeignete Versuchsbedingungen in seiner Wirksamkeit gestei-
gert werden mußte. Dies steht einer Verallgemeinerung unserer Er-
gebnisse im Wege; wir streben eine solche auch keineswegs an.
Vor allem ist zu beachten, daß der Inhalt der Serienhalluzinatio-
nen ausnahmslos aus den optischen Residuen des eben gegebenen
tachistoskopischen Gesamteindrucks bestanden hat.. Dasselbe gilt
selbstverständlich höchstens für einen Teil der optischen Halluzi-
nationen im allgemeinen. Die letzteren enthalten selbstverständlich
auch Reproduktionen aus ferne zurückliegender Zeit, deren Quelle
im günstigsten Fall gelegentlich und nicht allzu häufig ermittelt wer-
den kann. Man kann wohl auch die optischen Halluzinationen —
ähnlich wie Freud dies mit den Traumbildern getan hat .— in
Tagesreste und in Reproduktionen anderer Art teilen; Tages-
reste im extremsten Sinn des Wortes sind die Halluzinationen in un-
serer Beobachtung 3 gewesen; wir glauben, daß die Alkoholhalluzi-
nose selbst hier von Einfluß war, da dieser Sachverhalt eine gewisse
Analogie mit den „trivialen Delirien‘ der Alkoholiker in sich enthält.
Andererseits sind die Halluzinationen unseres Falles Keineswegs
den Sinnestäuschungen eines deliranten Alkoholikers ähnlich;
tatsächlich haben auch in seinem klinischen Bild Züge eines Alkohol-
deliriums vollkommen gefehlt. Will man den Inhalt und den Rhyth-
mus dieser experimentellen Phänomene mit spontan auftretenden
Halluzinationen vergleichen, so findet sich zunächst eine gewisse
Ähnlichkeit mit dem seltenen Symptom des sog. Gedanken-
sichtbarwerdens. Es bedurfte auch nur der tachistoskopischen
Exposition von Druckschrift, um (in ganz analoger Weise, wie nach
der Exposition von Bildern) eine Serie von Schriftzeichen-Halluzina-
tionen zu provozieren, die dem Hauptinhalt des Gedankensichtbar-
werdens qualitativ vollkommen entsprach. Ein Unterschied findet
sich aber schon darin, daß bei dem letzteren Phänomen die begleiten-
— 84 —
den Halluzinationen den Ablauf der Gedanken umflechten,
nicht aber die Wirkung flüchtiger Sinneseindrücke.
So erscheint die Ähnlichkeit, die wir hier hervorheben, zunächst
nur formaler Natur zu sein und wenig zu besagen. Wir haben sie
trotzdem hier angeführt, weil auch der Rhythmus dieser experimen-
tell ausgelösten halluzinatorischen Serien viele Einzelheiten enthält,
die man in den Berichten von Kranken mit sogenannten psychischen
Halluzinationen häufig wiederfindet. Dies gilt auch für die gewöhn-
lichere Form der psychischen Halluzinationen, für das Gedanken-
lautwerden.
Es ist sehr bekannt, daß Halluzinanten, bei denen dieses Sym-
ptom besteht, erzählen, daß die Stimmen ihnen „einsagen“, daß sie
„nachhallen‘“ oder „nachspotten‘“ und daß es für die Kranken oft ver-
wirrend ist, wenn sie ihre Gedanken wie in einem mehrstimmigen
Echo dreifach oder vierfach gebrochen hören müssen. In den Ver-
suchen über Gehörshalluzinationen, die wir bei unserer Beobachtung 3
angestellt haben, fanden sich ähnliche Verhältnisse sehr häufig. Am
regelmäßigsten waren einschlägige Erscheinungen zu erzielen, wenn
man unseren Kranken damit prüfte, daß man ihn einen vergessenen
Namen suchen ließ. Dann konnte man regelmäßig sprachliche
Serienhalluzinationen bei ihm produzieren, deren Inhalt sich mit den
bekannten Einfällen und Vorklängen deckte, wie sie auch der Ge-
sunde bei einer solchen Gelegenheit an sich selbst beobachten kann;
nur sind diese selbstverständlich beim Gesunden weniger klang-
lich gegeben; bei unserem Kranken waren sie halluzinatorisch um-
gewandelt. Unmittelbar, bevor er einen solchen Namen schließlich
reproduzieren konnte, meldete er regelmäßig, daß ihm der Name „ein-
gesagt“ worden sei. Im ganzen konnte man auch hier einen Rhyth-
mus beobachten, der — wenn man so sagen darf — Zwischen-
phasen des Gedankenganges und nicht diesen selbst aus-
füllte.
Bestimmte Lokalzeichen im Außenraum hatten diese Stimmen-
halluzinationen — wie so häufig — nicht; in dieser Beziehung lassen
sie sich natürlich nicht mit den optischen Serienhalluzinationen ver-
gleichen, noch weniger mit einer taktilen Allästhesie, wie sie im
Schilderschen Falle bestanden hat. Aber ihr Rhythmus stimmt
— wie mit den optischen Bilderserien so auch mit dem Rhythmus der
taktilen Nachwirkungen — im Schilderschen Falle überein; aller-
dings kann man im erwähnten akustischen Experiment eher von
Vorwirkungen sprechen als von Nachwirkungen. Vollends aber er-
innert — ganz allgemein -— das „mehrfache Gedankenecho“ vieler
85 —
Stimmenhalluzinanten an die Polyästhesie des Schilderschen
Falles.
Es würde darum naheliegen, wenigstens für diesen Teil der Er-
scheinungen beim Gedankenlautwerden und keim Gedankensichtbar-
werden die Auffassung heranzuziehen, zu der wir im vorigen Abschnitt
_ für die Polyästhesie des Schilderschen Falles gelangt sind. Wir
können uns vorstellen, daß auch hier eine Dekonzentration
der Erregungen, die den Gedankengang begleiten, an dem allzu
starken Mitschwingen der kortikalen akustischen Sphäre Schuld sei;
es hindert uns nichts, auch hier an Nebenwege der Erregung
zu denken, die normalerweise durch eine reziproke Leistung der Zen-
tren bald geschlossen, bald eröffnet werden können, wie dies für ein
ganz bestimmtes spinales Areal im Strychninversuch Dusser de
Barennes der Fall war. In diesem Sinne wäre eben auch der
Denkprozeß von Kontrastphänomenen begleitet, die sich pathologi-
scherweise — zum Teil wohl auch schon physiologisch — in Irradia-
tionen verwandeln können; das Stimmengewirr im Vorstadium des
Einschlafens und das Stimmengewirr, das die chronisch Halluzinie-
renden hören, würden dann Sonderfälle dieses Mechanismus sein.
Wir glauben allerdings, daß eine solche Auffassung erst dann
fruchtbar wäre, wenn sie bereits gewisse morphologische Hinweise
über jene verschlossenen und wiedergeöffneten Erregungswege ent-
hielte, die hier in Betracht kommen. Vielleicht ergibt das Studium
der Gehörshalluzinationen bei Erkrankungen des Schläfelappens mit
der Zeit manches, das dafür verwertet werden kann; hier genügt es,
darauf hinzuweisen, daß die alte Kahlbaumsche Reperzeptions-
theorie von dieser Seite aus vielleicht einmal einer Revision zugäng-
lich sein wird. | Ä
Sicher ist, daß die Konzentration beim Denken einen gewissen
Abschluß der Sinnessphären mit sich bringt und erfordert, ebenso,
daß eine Dekonzentration, die das Denken stört, die Sinnessphären
zur Unzeit eröffnet; so ist es vielleicht nicht bloß ein zufälliger Gleich-
klang frei gewählter Bezeichnungen, der diese psychischen Erschei-
nungen mit dem verbindet. was im vorigen Abschnitt als zentral
bedingte Konzentration und Dekonzentration zen-
tripetaler Erregungen bezeichnet worden ist. Analogen Ge-
setzen unterliegt auch die zentrifugale Erregung; wir neigen
darum zu der Ansicht, daß die „Denkbewegungen“ (Kleist), deren
Existenz nicht zu bestreiten ist, zum Teil vielleicht nur einer relativen
Insuffizienz der zentralen absperrenden Apparate zuzuordnen sind,
ähnlich, wie die anschaulichen Elemente. die das Denken begleiten
zu RO a
können, aber nicht begleiten müssen, nur als Nebenerscheinungen des
Gedankenablaufs gewertet werden (Bühler).
Die Hauptbedingung, die wir in unseren Versuchen hinzufügen
mußten, um die halluzinatorischen Serien zu bekommen, war die
Unterbrechung des Wahrnehmungsaktes. Auch sie enthält manches.
das für eine allgemeinere Theorie der Halluzinationen in Betracht
kommen kann. In unserem Falle wirkte ein Sinken der Aufmerksam-
keit begünstigend auf den halluzinatorischen Mechanismus; für
sich allein Konnte es ihn nicht hervorbringen. Im gewöhnlichen
pathologischen Phänomen -- z. B. bei den halluzinierenden Schizo-
phrenen —- unterbricht das Sinken der Aufmerksamkeit schon für
sich allein genügend den Wahrnehmungsakt und macht ihn diskonti-
nuierlich, so daß er einem Maschenwerk mit Löchern gleicht, aus
dessen Hintergrund sich die Halluzinationen hervordrängen können.
Der Effekt ist in beiden Fällen vergleichbar; nur die Bedingungen,
die zu ihm führen, sind entsprechend verschiedene. In der Psycho-
logie der Schizophrenie ist in den letzten Jahren sehr viel die Rede
gewesen von dem, was James den „Fransensaum der Gedanken“
(Fringe) genannt hat; Max Löwy sprach von „Gedankenatmosphä-
ren“, Schilder schlechtweg von der „Sphäre“ (einer psychischen
Erscheinung). Wir meinen, daß unsere Versuche ein ganz gutes
Modell für das geben, was diesen Ausdrücken der Psychologen zu-
grunde liegt: Es formt sich ein bestimmter Anteil der Exposition zu
einem Ganzen und tritt in den Vordergrund; aus dem Hintergrund
entmischt sich gestaltenreich das, wasinderräumlichen Sphäre
dieses Ganzen und in seiner Beziehung zu der Vorgeschichte des Indi-
viduums enthalten war. Die neurologische Parallele zu diesen An-
schauungen ist die Ansicht von Brissaud, die in den Halluzina-
tionen der choreatischen Verwirrtheit eine Art sensorische Chorea
vermutet. Gegenwärtig, da die Chorea als Enthemmungsmechanis-
mus erscheint, sind alle diese Anschauungen miteinander vergleich-
bar; sie enthalten Parallelen, die andeuten, daß hier analog wirksame
zentrale Grundvorgänge obwalten.
In einem gewissen Sinne ist die tachistoskopische Exposition
sogar mit einer partiellen Blockierung der zentripetalen sensorischen
Leitung vergleichbar; wie diese ist sie geeignet, zu einer Ab-
schwächung des Bildes zu führen, das die jeweilige Änderung der
zentripetalen Erregung. die dem Sinneseindruck entspricht, in mög-
lichster Präzision erzeugen sollte. Wenn dies nun — wie in unseren
tachistoskopisehen Versuchen — dazu führt. daß der sinkenden
Schärfe des Bildes eine gesteigerte Deutlichkeit und Lebhaftigkeit
—— — =- — =
-v ĉo Te EEE a
— 87 —
der Nachbilder entspricht, so läßt sich dies kaum anders als durch
einen zentralen Verschiebungsvorgang erklären, der Nebenwege der
zentralen Erregung öffnet, wenn ihr Hauptweg gedrosselt ist. Bis zu
einem gewissen Grad ist dann der volle Erfassungsakt einem geziel-
ten Kugelschuß ähnlich, die halluzinatorischen Phänomen und die
Traumbilder aber einer Streuung. In demselben Bild drückt sich
auch aus, daß diese überlebhaften Nachwirkungen in getrennte
Quanten zerfallen, denen nichts Gemeinsames mehr von ihrer gemein-
samen Herkunft übrig geblieben zu sein scheint.
Wir haben schon früher (S. 27) darauf hingewiesen, daß die
Dämpfung der beschriebenen Serien-Phänomene Erscheinungen be-
obachten ließ, die fast einer Abbildung der Anschauungen Hen-
schens über die zentralen Vorgänge bei der optischen Halluzina-
tion gleichen. Eine der letzten Halluzinationen der Serie war es
immer, die „nach außen ins Dunkle‘ zu verschwinden pilegte; ein
„flüchtiges, schwarzes Zucken“ beendete gewöhnlich eine solche
Folge. So scheint die optische Halluzination aus dem Hellen-des Seh-
feldes in das Dunkel des optischen Erinnerungsfeldes zu versinken;
ganz dieselbe Verlaufsrichtung nimmt aber — mindestens sehr häufig
— das Migräne-Skotom. Man kann ebenso sagen, daß der geschil-
derte Vorgang das Verschwinden der psychischen Gebilde in das Un-
bewußte anschaulich dargestellt. Die bildliche Ähnlichkeit aller drei
betrachteten, an sich nur heterogenen Bezeichnungsweisen zugäng-
lichen Vorgänge deutet wohl auf Parallelen hin, die bestehen, aber
erst gefunden werden müssen.
Trotzdem die Halluzinationen in unserem Fall und ihrem sinn-
lich gegebenen Inhalt lediglich aus unmittelbar ablesbaren opti-
schen Residuen bestanden haben, war doch die Bedeutung, die
sie für die Vp. hatten, der Sinn, den die Versuchsperson in sie
hineingelegt hat, durchaus individuell und nur aus der Vorgeschichte
der Vp. bestimmbar. Ganz dasselbe gilt für die Traumbilder, die
man durch denselben Versuch bei gesunden Versuchspersonen er-
zeugen kann; nur besteht der Unterschied, daß bei den Traumbildern
auch die psychischen Gebilde, die einer früheren Vorgeschichte ent-
stammen, zu einem großen Teil halluzinatorisch anschaulich werden.
Im Prinzip aber ist es in beiden Fällen das gleiche Geschehen. Auch
für unsere Versuche müssen wir selbstverständlich Schröder in
dem einen Punkte Recht geben, daß die jeweilige optische Halluzi-
nation ein seelisches Geschehnis ist, dessen Erscheinung durch die
Berücksichtigung hirnlokalisatorischer Momente niemals erschöpfend
betrachtet werden kann. Es enthält einen ..gestaltenden Faktor,
— 88 —
durch den an der Bildung der Halluzinationen die Gesamtpersönlich:
keit als psychologische Einheit Anteil nimmt, eingreift“ (Kauders).
Es enthält aber auch einen örtlichen Faktor, der aus den Tiefen der
Gesamtpersönlichkeit gerade das hervorruft, richtet und lenkt, was
den Inhalt der Halluzination ausmacht').. Zum mindesten kann die
optische Halluzination einen solchen Faktor enthalten; für die spezi-
fischen Sinnestäuschungen bei Herderkrankung der okzipitalen Kon-
vexität erscheint uns dies durch Henschen bewiesen. Ob wir
diesen Faktor eine Reizerscheinung nennen wollen, wogegen sich
Schröder sträubt, oder eine Enthemmung, macht im Grunde
vielleicht keinen großen Unterschied”). Die Herderscheinungen, deren
Nachwirkung in unserer Beobachtung 3 ersichtlich war, geben einen
näheren Aufschluß darüber, wie man sich die Natur und Wirkungs-
weise eines solchen hirnlokalisatorischen Faktors der Halluzination
vorstellen kann, ohne psychische Gebilde lokalisieren zu wollen.
Er enthält einen erweckenden und einen richtenden Vorgang in
sich, die von bestimmten Orten des Großhirns aus enthemmt und
gedämpft werden können. Wieweit der erweckende und der rich-
tende Vorgang miteinander Eins sind, steht dahin: restlos identisch
sind sie miteinander nicht. Es ist noch immer der Mythos der home-
rischen Götterwelt, der dies am anschaulichsten schildert: Hermes,
der Seelenführer, der mit seinem Stabe die Abgeschiedenen auf den
Weg zum Hades leitet und dessen Stab es vermag, die Seelen wieder
zur Oberwelt emporzurufen als leere Erscheinungen. In der inneren
Welt sind es seelische Gebilde, die eine richtende Kraft auf-
tauchen und verschwinden läßt; es ist nicht ein dichterisches Gleich-
nis, das hier müßig herangezogen wird; hier findet sich eine innere
Ähnlichkeit zwischen Mythos und organischem Geschehen, die, dun-
kel gefühlt von der Antike, wohl die Gestalt des seelenführenden
Gottes selber geschaffen hat.
') Vielleicht sollte man hier sagen: „ausmachen wird“ Vgl. P.
„Zur Metapsychologie des Deja vu“, Imago 1926.
. 7) Vgl. dazu Meyer-Gottlieb. Exp. Pharmakologie.
IV, Vergleich der optischen Allästhesie
mit andern Symptomen der okzipitalen
Herderkrankungen
Da es als festgestellt gelten darf, daß die optische Allästhesie
(in der hier besprochenen Gruppe von Fällen) als ein Symptom okzi-
pitaler Herderkrankungen aufgetreten ist, handelt es sich nunmehr
darum, die Erscheinung in die Reihe der übrigen Bilder von okzipita-
len Herderkrankungen einzuordnen. Dazu bedarf es eines Ver-
gleichs mit jenen Zuständen, die mit der optischen. Allästhesie Be-
rührungspunkte oder eine innere Verwandtschaft zeigen. Wir be-
sprechen im folgenden die wichtigsten derartigen Symptome und die
sich ergebenden Vergleichspunkte einzeln.
1. Optische Agnosie.
Selbstverständlich ist die optische Allästhesie im Wesen grund-
verschieden von ‘der optischen Agnosie (Seelenblindheit) und deren
verschiedenen Partialformen. Denn bei der optischen Allästhesie
handelt es sich um die Verlagerung eines an sich richtig wahrgenom-
menen Objektes im Sehraum, bei der optischen Agnosie aber um eine
Störung der Wahrnehmung selbst, nicht ihrer Lokalzeichen. Die
relative Selbständigkeit der beiden verglichenen Störungen enthält
schon an und für sich ein Argument für die vorhin zitierte Auffassung
Lotzes, daß das Lokalzeichen etwas ist, das zu der Wahrnehmung
erst dazu kommen muß.
Trotzdem finden sich zwischen den beiden genannten Symptomen
mannigfache Berührungspunkte. Es zeigt sich dies schon darin, daß
ein Teil der Fehlreaktionen optisch Agnostischer auch Verlage-
rungen enthalten kann. Aber bei den Agnostikern bedingt nicht
die Verlagerung das Fehlerkennen; sondern das Fehlerkennen bedingt
die (nur eventuell und sporadisch) auftretenden Verlagerungsfehler.
Dieser Gegensatz wird hier nicht auf Grund schematisierender Be-
hauptungen aufgestellt, sondern auf Grund der klinischen Verhält-
Herrmann-Pötz!|, Optische Allästhesie (Abhdl. H. 47). q
=. O0: =
nisse bei den optischen Agnosien. In bezug auf seine eingehende
Begründung kann hier allerdings nur auf die Darstellung dieser
Krankheitsbilder hingewiesen werden, die der eine von uns (P.) an-
derweitig gegeben hat. Als besonders wichtig greifen wir an dieser
Stelle die Identität heraus, die zwischen den einzelnen
Fehlreaktionen der Agnostiker und den Fehlreak-
tionen gesunder Versuchspersonen bei tachisto-
skopischen Expositionen besteht. Der Unterschied ist nur.
daß der Agnostiker bei der optischen Dauerwirkung der betref-
fenden Schdinge dieselben Fehlreaktionen macht. die beim Gesunden
erst infolge der tachistoskopischen Verkürzung des Eindrucks er-
scheinen (sowohl im Inhalt dessen, was er als ersten Eindruck meldet,
als auch im Inhalt späterer nachträglicher Einfälle).
Auch die tachistoskopischen Fehlreaktionen von Gesunden ent-
halten (gelegentlich und sporadisch) Verlagerungen von Anteilen der
gesehenen Figur. Teils handelt es sich um Spiegelverlagerungen mit
Vertauschung von rechts und links, teils aber auch (namentlich nach
Expositionen von Schriftzeichen) um Vertauschungen von oben und
unten (Schumann).
Bei den Verlagerungsfehlern der Agnostiker handelt es sich in
der großen Mehrzahl um Veränderungen, die die Figur selbst betref-
fen, nicht ihre Lage als ein Ganzes im Sehraum. Der Unterschied
sei dureh ein Beispiel illustriert: Einerseits könnte etwa ein deutlich
lesbares A statt rechts auf der linken Seite gesehen werden, statt
unten sichtbar zu werden erscheint es oben; es wird aber selbst
nicht umgedreht (optische Allästhesie). Im Gegensatz dazu
kann in einem andern Fall ein W für ein M gelesen werden oder ein
_| für ein L (Verlagerungsfehler vom agnostischen bzw. tachisto-
skopischen Typus). Damit ist nicht geleugnet. daß auch gelegentlich
Fehler vom ersten angeführten Typus bei, Agnostikern vorkommen;
sie erweisen sich aber ausnahmslos als sekundär bedingt durch Kon-
stellationen, die infolge der geänderten Gesamtauffassung einwirken;
nie sind sie der alleinige Inhalt einer agnostischen Fehlwahrneh-
mung. Bei der optischen Allästhesie sind sie sehr häufig die alleinige
Abänderung, die die Wahrnehmung erfährt; wäre dies nicht so, hätte
sich keine Nötigung ergeben, die optische Allästhesie als selbständiges
Symptom zu unterscheiden.
Immerhin haben wir gesehen, daß zuweilen auch (Beobachtung
Beyers, unsere Beobachtung 2, ein Teil der Inhalte aus den Serien-
halluzinationen der Beobachtung 3) Verlagerungen der Figur oder eine
Tendenz dazu bzw. ein Wettstreit von Komponenten, deren eine die
=, Oi 2-5
Figur verlagern will, deren andere der Verlagerung widerstrebt, bei
der Fata morgana des Sehraums ebenfalls vorkommen. Aus Kom-
promissen zwischen solchen wettstreitenden Komponenten schien sich
zuweilen eine Schriglage der Konturen herauszuarbeiten usw. Es
ist somit einerseits die Vertauschung des Lokalzeichens
im Sehraum (die optische Allästhesie) von der Verlagerung
der Figur prinzipiell streng zu trennen; andererseits scheint zu-
weilen die letztere sich mit der ersteren (auffallend oft gleichsinnig
in bezug auf die Änderung der Richtung) zu vereinen. Auch die
Verbindung dieser beiden Faktoren aber ergibt für sich allein noch
keine optische Agnosie.
Ebenso bedeutet es eine Annäherung an die hier besprochenen
Verhältnisse, daß die Hauptbedingung der Versuche in unserer Be-
obachtung 3 einer tachistoskopischen Abkürzung der Expositionszeit
entsprach. In einem gewissen Sinn kann man (nach dem Vorigen)
dies eine physiologische Agnosie nennen. Diese physiologi-
sche Agnosie war hier notwendig, um die Nachbilder halluzinatorisch
zu machen und nach festgelegten Richtungen in den Raum zu proji-
zieren; sie war auch notwendig für das Erscheinen des positiven
Skotoms als Hintergrund jeder einzelnen Halluzination. Auch bei
den optischen Agnostikern kommt es vor, daß Wahrnehmungs-
elemente, die während der Dauerbeobachtung im indirekten Sehen
gegeben sind, besonders aufdringlich werden, sich an die Stelle des
direkt gesehenen Objektes setzen und die Wahrnehmung verfälschen.
Ferner ist es häufig, daß innerlich aufsteigende Bilder (Vorwirkun-
gen oder Nachwirkungen der Exposition, die verschiedene optische
Erinnerungsbilder auslöst) sinnlich lebhaft werden, sich auf die
Wahrnehmung projizieren und diese illusionär verändern. In beiden
Punkten liegt offenbar eine gewisse Ähnlichkeit des Geschehens bei
der optischen Agnosie und bei den Versuchen unserer Beobachtung 3.
Es sei deshalb der Hauptunterschied hervorgehoben, der auch
in den hier herangezogenen Beziehungen zwischen beiden Beobach-
tungsgruppen besteht: bei der optischen Agnosie vermischen sich
die indirekten Wirkungen mit dem zentralen Eindruck; sie durch-
dringen ihn; sie diffundieren gleichsam in ihn hinein; bei allen
Versuchen an unserer Beobachtung 3 blieben direkte und indirekte
Wirkungen, Wahrnehmung einerseits, Halluzination der optischen
Residuen andererseits streng voneinander getrennt; sie bildeten
zwei gesonderte Bereiche. Gerade weil die Vermischung
fehlte, kam es zu keinen agnostischen Störungen, die über das physio-
logische Verhalten am Taehistoskop hinausgingen.
T*+
— 92 —
Wenn wir die Vergleichspunkte, die sich hier ergeben haben,
zusammenfassen, so können wir sagen, daß sich im allgemeinen die
Gesamtheit der zentripetalen Erregungen, die einer optischen Expo-
sition zugeordnet ist’), in zwei Anteile zu spalten scheint, die bei
normaler Leistung der Zentren relativ streng getrennt voneinan-
der wirken, ohne sich gegenseitig zu stören. So entsteht ein Anteil,
der ins Bewußtsein gehoben wird, und ein anderer, der in den Hinter-
grund des Bewußtseins mehr oder weniger zurücktritt; von dem
letzteren können wir erwarten, daß er zum Teil noch andersartige
Wirkungen hat, die allerdings vorläufig nicht genauer zu erfassen
sind, da sie zu einem sehr großen Teil latent bleiben (Beziehungen
zur Engraphierung usw.?).
Bei der optischen Agnosie kommt es häufig vor, daß diese beiden
Anteile sich in einer störenden Weise vermischen; diese Ver-
mischung spielt bald ins Bewußtsein hinein; bald zeigt sie sich aber
auch in Latenzwirkungen.
Bei der Fata morgana unserer Beobachtung 3 ging die Spaltung
der zentripetalen Erregungen anscheinend ungestört vor sich und die
beiden Bereiche blieben getrennt. Der Anteil, der hauptsächlich für
Latenzwirkungen bestimmt zu sein scheint, spielte aber ungleich mehr
ins Bewußtsein hinein, als in der Norm; so waren eigentlich beide
Bereiche im Bewußtsein nebeneinander vorhanden, aber mosaikartig,
ohne sich zu vermischen. |
Neben diesem Unterschied konstatieren wir eine Ähnlichkeit bei-
der verglichener Mechanismen: sie besteht in einer Dekonzen-
tration der zentripetalen Erregungen und einer Ab-
lenkung derselben auf sonst verschlossene oder wenigstens ge-
dämpfte Nebenwege. Nur betrifft diese Dekonzentration im Falle
der Agnosie den zentralen gestaltenden Faktor der Wahrnehmung
selbst; bei der Fata morgana bestand eine Ablenkung von Lokal-
zeichen-gebenden Faktoren, die zur Wahrnehmung erst hinzukommen
müssen. In unserer Beobachtung 3 wurde die Dekonzentration der
Richtungsfaktoren durch Abkürzung der Expositionszeit künstlich
veranlaßt. Dort, wo die Fata morgana ein spontanes Phänomen ist,
kommt es schon durch den zentralen Störungsprozeß zu der erforder-
liehen Dekonzentration der Richtungsfaktoren. Das Bestehen einer
solchen würde sich allerdings noch weit besser als bei der Fata mor-
') Man sollte auch hier genauer sagen: Die zugeordnete Änderung
des zentralen Zustandes infolge einer Au LuNE im Bereich der zentripetalen
(optischen) Erregungswege.
— 93 —
gana bei einer Polyopie erkennen lassen, wenn eine solche wirklich
durch den okzipitalen Herd bedingt (d. h. nicht hysterischer Natur)
ware. |
Wir legen das Ergebnis des Vergleichs in möglichst kurzen Be-
nennungen fest: bei der optischen Agnosie schien es sich um eine
Dekonzentration eines gestaltenden Vorganges zu
handeln, bei der optischen Allästhesie um eine Dekonzentration
(und konsekutive Zwangsablenkung) von Richtungsfakto-
ren, die erst zum gestaltenden Vorgang hinzutreten müssen, um das
eindeutige Lokalzeichen des Sehdings im Sehraum zu geben.
2. Die Seelenlähmung des Schauens (R. Bälint).
Sehr wichtig ist ein Vergleich der optischen Allästhesie mit jener
Störung, die R. Bälint unter dem oben genannten Namen beschrie-
ben hat. Von den drei Hauptkomponenten des Bälintschen Sym-
ptomenkomplexes (Blicksperre, Koordinationsstörung der rechten
Hand für optisch angeregte Bewegungen, übermäßige Konzentra-
tion der Aufmerksamkeit nach bestimmten Raumrichtungen hin) grei-
fen wir hier nur die letzte Komponente heraus, weil sie mit dem
Gegenstand unserer Arbeit besonders enge Beziehungen hat.
Ihr Bestehen führte dazu, daß Bälints Kranker stets ein stark
konzentrischeingeschränktes Gesichtsfeld hatte. Er
sah immer nur den Buchstaben, den er gerade las, rings um ihn
nichts, obzwar er wußte, was rings um ihn war. Das Feld, in dem er
sah, wechselte aber seine Größe, je nach der Größe der Einheits-
gestalt. auf die sich seine bewußte Wahrnehmung jeweilig kon-
zentrierte.
So überblickte er eine ganze menschliche Gestalt sofort, sah aber neben
ihr nichts anderes. Fixierte er dagegen eine Stecknadel, so sah er die
Kerzenflamme, die 5 cm von ihr entfernt war, nicht. Eine Seelenblind-
heit bestand dabei nicht, ebensowenig ein begrenzter konstanter Ausfall
im Gesichtsfeld.
Ebenso wie die Serienhalluzinationen unserer Beobachtung 3
stets nach einer bestimmten Richtung (links vom Fixierpunkt) in den
Raum hinaus projiziert wurden, war auch dieses jeweils einge-
schränkte Gesichtsfeld des Bälintschen Kranken der Zwangs-
ablenkung nach einer bestimmten Richtung unterworfen: Er erblickte
stets zuerst und allein den Gegenstand, der 35—40° nach rechts ge-
wendet war; erst wenn er aufgefordert wurde, weiter zu schauen,
ging er zu einem Wechsel des Fixierpunktes über. Dieser
se SON aes
Wechsel erfolgte stets zunächst nach rechts hin, dann erst nach
links hin. | |
Diesem konstanten Befund entsprachen auch seine subjektiven An-
gaben: Er sehe stets nur das Rechtsseitige. Es sei nochmals betont, daß
(R. Bälint) dabei keinerlei hemianopischer Defekt bestand.
Dies ist der klinische Tatbestand, der uns zu einem Vergleich
mit den Verhältnissen bei unserer Beobachtung 3 aufzufordern
scheint. Die geschilderte Zwangsablenkung beim Bälintschen
Kranken geschah annähernd ebenso weit von der Körpermediane
nach rechts hin, wie die Zwangsablenkung der halluzinierten opti-
schen Residuen unseres Kranken nach links hin erfolgt ist. Diese
auffallende Übereinstimmung wurde schon zur Zeit der damaligen
Versuche konstatiert (P.).
Dies ist offenbar die hauptsächliche Ähnlichkeit der beiden
Befunde. Ein Unterschied ist, daß im Falle Bälints die Zwangs-
ablenkung mit dem Akt der Wahrnehmung selbst zusammmenfiel (also
nach der Benennungsweise Semons mit der synchronen Phase
der Originalerregung), während sie in unserem Falle mit dem rhyth-
mischen Steigen der frischen optischen Residuen sich deckte (also
mit der akoluthen Phase der Originalerregung). Dies wäre eigent-
lich nur ein Unterschied im ZeitmaB des Einsetzens der Zwangs-
ablenkung.
Ein weiterer Unterschied ist, daß sich beim Kranken Bälints
trotz des Einflusses der Zwangsablenkung jeder gesehene Gegenstand
auch im Mittelpunkt des Gesichtsfeldes, im zentralen Sehen befindet.
In unserem Fall bleiben die Halluzinationen parazentral. Sie werden
aber in Formen und Farben so deutlich geschildert, als ob sie im
fovealen Sehen wären. Offenbar betrifft die Zwangsablenkung beim
Kranken Bälintsauch den Blick; in unserem Falle schafft sie
nur ein optisches Lokalzeichen im Sehraum. Dieser Unterschied
wird aber dadurch gemildert, daß eine Veränderung der Blickhaltung
in unseren Versuchen gesetzmäßige Veränderungen dieses Lokal-
zeichens ausgelöst hat.
Es ist somit auch bei den Erscheinungen in unserem Fall ein
wichtiger Einfluß von Bliekablenkungen erkennbar. Die Betrachtung
dieses Einflusses hat uns (vgl.8.34) auf die naheliegende Ähnlichkeit
mit der konjugierten Deviation geführt. Aus Zusammenhängen mit
einer (anamnestisch allerdings nicht nachgewiesenen) Deviation des.
Blicks hat R. Balint selbst die hier erwähnten Erscheinungen seines
Falles erklärt. In unserem Falle H. ist eine initiale Blicklähmung der
entsprechenden Seite anamnestisch nachgewiesen. Es zeigt sich mit-
hin zwar keineswegs eine Identität der beiden verglichenen Mecha-
nismen, wohl aber eine nahe Verwandtschaft. E
Ein dritter Unterschied ist, daß rings um den unmittelbar ge-
sehenen Gegenstand für den Kranken Bálints das ganze übrige Ge-
sichtsfeld verschwunden ist. Bálint selbst gebraucht. den Vergleich
mit dem eingeschränkten Gesichtsfeld eines vertieften, auf ein
bestimmtes Objekt konzentrierten Menschen. In unserem Falle
tritt eine solche konzentrische Einengung keineswegs ein; es kommt
das positive Skotom in jener Verteilung, die die Doppelversorgung
der Macula anschaulich abzubilden scheint. Überdies ist die Be-
schreibung. die der Kranke von seinen Halluzinationen in Form und
Farbe gibt, so genau und den Urbildern — den zerspaltenen opti-
schen Residuen der Exposition — nachgewiesenermaßen in Form und
Farbe so getreu, daß man beinahe sagen kann, der Kranke habe sich
während des Halluzinierens verhalten, als ob er zwei Foveae zentrales
gehabt habe: die eigentliche Fovea, in der er den gegebenen Fixier-
punkt behielt und auch während des Halluzinierens stets deutlich
sah, und eine Parafovea, die dem hellgrauen Hintergrund räunı-
lich entsprach, auf dem jedes halluzinierte Teilbild erschien. Es ist
uns von Wichtigkeit, daß gerade dieses Verhalten nicht nur in den
Befunden unserer Beobachtung 3 konstant war, sondern daß alles
Wesentliche an ihm bereits aus der Selbstbeobachtung Beyers
während seines Migräne-Skotoms klar hervorgeht.
Bei unserem Kranken bestand also gleichzeitig mit der Zwangs-
ablenkung eine Spaltung des sonst einheitlichen Gesichtsfeldes,
beim Kranken Bälints hingegen eine abnorme Vereinheitlichung
und eine übertriebene Konzentration desselben um den Fixierpunkt.
Gesehenes und Erblicktes deckten sich völlig.
Fast noch wichtiger scheint uns ein vierter Unterschied zu sein:
Bei unserem Kranken blieb zwar die Wahrnehmung der tachisto-
skopischen Exposition vereinheitlicht, aber die halluzinierten opti-
schen Residuen entsprachen zersprengten Teilquanten des nicht
erblickten Restes der Exposition. Jedes solche Teilquantum nahm
für sich den Bezirk ein, den wir vorhin mit einer Parafovea verglichen
haben. Beim Kranken Bälints ist das Erschaute extrem verein-
heitlicht; die Einheitsgestalt bestimmt die Größe des jeweiligen Ge-
sichtsfeldes, das sich, gleichsam sich anschmiegend, ihr entsprechend
zu vergrößern und zu verkleinern vermag. Man findet hier nichts
von einem zerstückten Sehen. Alle Nachwirkungen der Wahrneh-
mung, ebenso alle Vorwirkungen der indirekt exponierten Gegen-
stände sind vom Bewußtsein abgesperrt. Alles dies bildet einen
er, GE ge
extremen Gegensatz nicht nur gegen die halluzinatorischen Erschei-
nungen unserer Beobachtung 3, sondern auch gegen das zerstückte
Sehen in den gewöhnlichen Formen der optischen Agnosie.
Wenn wir das normale Gesichtsfeld betrachten, wie es bei dem
Kranken Bälints konstant war, so erinnert es noch einmal an die
Sphäre eines psychischen Gebildes, also an den „fringe“ (James).
„die Gedankenatmosphären“ (Max Löwy), die „Sphäre“ (Schil-
der.). Man kann sagen, daß sich beim Kranken Bälints Sphäre
und Gesichtsfeld miteinander restlos decken. Der ganze Hintergrund
entmischt sieh dabei nicht; er sinkt noch tiefer aus dem Bewußt-
sein zurück, als unter physiologischen Umständen; er bildet für das
Bewußtsein eine Leere. Nur ein „Fransensaum“ (James) umgibt
das Vollbild des jeweils erblickten Gegenstandes der Wahrnehmung;
freilich ist es kein unruhiger Fransensaum, sondern ein eng begrenz-
ter, klarer Hintergrund.
Was ein Optimum der Konzentration beim Vorstellungs-
akt zu sein scheint, ist hier eine krankhafte Anomalie der Wahr-
nehmung geworden.
Wir möchten an diese Eigenschaften des Gesichtsfeldes dieses
Kranken von Bälint noch ein bekanntes Phänomen angliedern, das
bei den gerichteten Halluzinationen im Gesichtsfeld Hemianopischer
die Regel bildet und das besonders Henschen beachtet hat: Wie
klein auch der Skotomraum sein mag, in den die Halluzinationen
zwangsmäßig projiziert werden, — es erscheinen doch in diesem Raum
ganze Figuren, ganze Bilder; es ist, wie wenn eine sinnlich lebhaft
gewordene optische Vorstellung oder ein Traumbild sich in den Sko-
tomraum projiziert hätte, wie in ein ganzes Gesichtsfeld. Ähnlich
ist es für die Wahrnehmung beim Kranken Bälints. In seinem
konzentrisch sich einschränkenden Gesichtsfeld hat immer eine opti-
sche Gesamtgestalt ihren Platz; sie scheint es zu sein, deren
Sphäre das Gesichtsfeld ist.
Goldstein hat die Bildung einer Parafovea bei gewissen
Hemianopsien (W. Fuchs) einmal mit dem entwicklungsgeschicht-
lichen Vorgang verglichen, daß ein künstlich zerteiltes furchendes Ei
sich (unter entwieklungsmechanisch bekannten Umständen) doch
wieder zu einem (verkleinerten) Individuum mit voller Gesamt-
gestalt sich ausbildet. Die Analogie, die dieser Vergleich Gold-
steins enthält, scheint uns auch hier zu passen. Der räumliche
Hintergrund für optische Vorstellung, Halluzination oder Wahrneh-
mung entwickelt sich in allen hier angeführten Fällen als Sphäre
=s OF: m
einer Gesamtgestalt, mag er sonst wie immer ZerStUcHeh oder ver-
kleinert sein. |
Es ist bekannt, daß das hier zitierte Verhalten zwar bei den
meisten Fällen mit gerichteten Gesichtshalluzinationen zutrifft, aber
doch nicht bei allen. Henschen selbst hat auf seltene Ausnahmen
aufmerksam gemacht (drei Beobachtungen, darunter ein eigener Fall
von Henschen, alle drei von Schröder angeführt), in .denen
halbe Gestalten, (halbe Menschen), Bruchteile von Figuren usw.
halluziniert worden sind. Es liegt nahe, auch auf diese seltenen Fälle
jene Analogie auszudehnen, die der zitierte Vergleich Goldsteins
in sich enthält. Die Entwicklungsmechanik kennt andererseits Bei-
spiele genug, in denen bei der späteren Differenzierung gewisse An-
teile des Gesamtorganismus unterdrückt bleiben, sich nicht ent-
wickeln, infolge von Verstümmelungen während eines früheren Sta-
diums der Frucht. Schon Semon hat diese Sonderfälle eingehend
gewürdigt; im Sinne seiner Anschauungen über Mneme und En-
gramme bezeichnet er als einfachste Erklärung die Annahme, daß im
ersten Fall (bei der Entwicklung der verkleinerten Vollgestalt) spezi-
fische Baustoffe einer bestimmten Art innerhalb des furchenden
Eies noch nicht lokal fixiert, sondern entweder nicht oder in einer
lokal noch beliebig verteilbaren Form vorhanden sind, während im
zweiten Fall (zerstückte Entwicklungen einer Gesamtgestalt) die be- -
treffenden spezifischen Baustoffe schon lokal spezifisch verteilt sind
(auf jene Partien, die durch den Eingriff entfernt worden waren).
Gerade die Gegenüberstellung dieser beiden Sonderfälle scheint uns
geeignet zu sein, die Analogie verständlich zu machen, ae der heran-
gezogene Vergleich Goldsteins enthält.
Man kann sich gleichnismäßig eine bestimmte Art der Er-
regungsverteilung im Gesamtbild der zentralen Vorgänge analog
vorstellen, wie die Änderung in der Verteilung eines bestimmten spe-
zifischen Baustoffes. Man wird sich einen Stoff dieser Art als so fein
dispers denken müssen, wie es manche Farbstoffe bei Vitalfärbungen
sind (Gieklhorn und R. Keller) oder auch Fermente oder Hor-
mone. Eine solche Annahme erinnert an die Vorstellung von impon-
derablen Flüssigkeiten, wie sie für Elektrizität und Wärme lange Zeit
in der Physik geherrscht hat und auch heute noch eine Anzahl von
Vorgängen gut veranschaulicht; mit ihr ist selbstverständlich ebenso-
wenig wie in der Physik gesagt, daß es sich bei den Änderungen der
zentralen Erregungsverteilung um Stoffliches handeln müsse; —
dem Gleichnis entsprechen Änderungen in der räumlichen Verteilung
der Energie ebensogut; nur wird hier vorausgesetzt, daß es Änderun-
gen solcher räumlicher Verteilungen gibt. die schon spezifisch sind.
bevor sie sich auf ein umgrenztes Rindenterritorium beschränkt
haben und daß sie dieselbe Spezifität noch besitzen, wenn sie bereits
an ein bestimmt umgrenztes, räumlich ausgedehntes Rindenterrito-
rium (z. B. etwa an ein architektonisch einheitlich gebautes Feld)
lokalgebunden sind. Wenn sie noch nicht lokal gebunden sind.
sind sie fähig, auch von Teilstücken solcher begrenzter Areale auf-
genommen zu werden und doch an ihrer Ganzheit nichts eingebüßt
zu haben, das dem in ihnen repräsentierten gestaltenden Akt ent-
spricht; sind sie aber einmal lokal gebunden, so fällt mit der Zer-
stückung des Areals, das sie in räumlicher Verteilung aufgenommen
hat, auch jenem Teilstück die Gestaltung weg. das dem Ort der Aus-
schaltung räumlich entspricht.
Die Anwendung dieser Annahme führt dazu. daB wir zwei
Phasen jener zentralen Vorgänge vermuten müssen, in die sich jene
zentralen Zustandsänderungen gliedern lassen, die unter dem Eintluß
okzipitaler Herde im Sinne eines Halluzinierens abgeändert werden.
In einer ersten Phase hätte das Substrat einer zugeordneten zentralen
Zustandsänderung schon spezifische Eigenschaften: es wäre aber noch
nicht endgültig räumlich ‘verteilt; in der zweiten Phase wäre auch
schon die gewohnte räumliche Verteilung vollzogen. Einer Stö-
rung, die in den Bereich der ersten Phase fällt, würde das Halluzi-
nieren ganzer (Gestalten entsprechen: das Halluzinieren zerstückter
Gestalten würde eintreten, wenn die Störung, die zur Halluzination
führt, erst an der zweiten Phase ansetzt. Es ist gewiß von Bedeu-
tung, daß der letztere Vorgang viel seltener zu sein scheint. Wir
lassen es dabei selbstverstindlich offen, ob das räumlich begrenzte
Areal — wie es nur in einer gewissen Anzahl von Beobachtungen
nach dem anatomischen Befund möglich ist — mit der Area striata
zusammenfällt oder (Henschen) einer in ihrer Begrenzung noch
unbekannten Gliederung im Bereich der okzipitalen Konvexität ent-
spricht. Selbstverständlich würde es für den letzteren Fall nahe-
liegen, bei Vorgängen im Bereich der ersten Phase an die Änderung
irgendeiner Eigentiitigkeit der okzipitalen Area 19 zu denken, bei
Vorgängen im Bereich der zweiten Phase aber an eine Beladung
der Area 18 mit spezifischen Zustandsänderungen. Daß derartige als
lokal wirkend angenommene Vorgänge nur Komponenten eines
Gesamtvorganges sind, erscheint uns von vornherein selbst-
‚verständlich.
Wir kehren zum Bild des Bälintschen Falles zurück, bei dem
das Gesichtsfeld nur als Rahmen für jeweils eine Gesamtgestalt ent-
— 99 —
stehen konnte. Diese Stérung betraf den Bereich der Wahrneh-
mung; sie war von keinerlei halluzinatorischen Phänomenen beglei-
tet. Es zeigt sich in ihr (im Sinne von Bälint selbst) eine ge-
steigerte Konzentration auf die jeweils wirksame
Einzelgestalt. Die Erscheinungen der optischen Allästhesie und
der optischen Agnosie sind uns beide in einem gewissen Sinne als
Erscheinungen einer Dekonzentration der Aufmerksam-
keit (resp. bestimmter zentraler Richtungsfaktoren) erschienen. In
diesem Hauptpunkt hat also die vergleichende Betrachtung des Be-
fundes von Bálint- und unserer Befunde einen vollen Gegen-
satz erkennen lassen.
Man könnte daher sagen: Wenn es überhaupt räumlich getrennte
Großhirnpartien in der parieto-okzipitalen Sphäre gibt, deren eine
Eigenleistungen hat, die geeignet sind, die Konzentration auf opti-
sche Einstellungen zu steigern, deren andere aber Eigenleistungen
aufweist, die geeignet sind, von einem Überschuß solcher Konzen-
trationen zu befreien; so würde sich die Störung des Bälint-
schen Kranken auffassen lassen als eine Isolierungsverände-
rung der ersteren Hirnregion. Das gewöhnliche Bild der
optischen Agnosie erschiene dann vielleicht wie eine Isolierungs-
veränderung der zweiten Hirnregion; die optische Allästhesie aber
erschiene vorläufig fast wie ein Mittelding zwischen beiden Extre-
men: sie würde einerseits den Sehraum spalten, anderer-
seits aber die Energie auf bestimmte Richtungen im Sehraum kon-
zentrieren. Wir wollen sehen, wie sich diese Anschauung auf die
Autopsiebefunde anwenden läßt.
Der Bälintsche Fall selbst ist bekanntlich anatomisch in lücken-
loser Serie untersucht worden. Es fanden sich große Erweichungen in beiden
Hemisphären, deren Areal zu einem beträchtlichen Teil symmetrisch war. Die
symmetrischen Partien betrafen die okzipitaleren Anteile der Scheitellappen.
insbesondere das Mark in der Tiefe unterhalb der okzipitalen Hälfte der
Interparietalfurche und die dorsalen Etagen der Strata sagittalia. Die
Lichtungen im Balken entsprechen mehr dem dorsalen Teil desselben.
In der linken Hemisphäre reicht der Herd im unteren Scheitellappen
wenirer weit nach vorn. Bälint selbst erblickt in dieser relativ größeren
Verschontheit des linken unteren Scheitellappens die Ursache für das relative
Überwiegen der ihm zugehörigen Eigenleistung, der gerichteten Ab-
lenkung nach rechts. Die Area striata, die Sehstrahlung und das
Corpus geniculatum laterale sind beiderseits intakt: stark degeneriert ist
(beiderseits, entsprechend der Degeneration der parieto-okzipitalen Thalamus-
stiele) das Pulvinar thalami.
Zum Vergleich mit den Herdverhältnissen, die als Optimum
für eine optische Allästhesie erschienen sind, steht uns der Befund
— 100 —
unserer Beobachtung 4 zur Verfiigung. Der rechtshirnige Herd der-
selben (vgl. S. 54) ist fast eine Kopie des rechtshirnigen Herdes im
Bälintschen Fall; der linkshirnige Herd zerstört nur Partien, die
im Bälintschen Falle verschont geblieben sind: ventrale Anteile
der (engeren und weiteren Sehsphäre; die Konvexität läßt er gänzlich
intakt. |
Es ist also tatsächlich der Befund unserer Beobachtung 4 ein
Mittelding zwischen den Befunden bei optischer Agnosie (ventrale
Herde in der weiteren Sehsphäre, evtl. doppelseitig) und dem Befund
bei der Seelenlähmung des Schauens (bilaterale dorsale Herde im
Okzipitallappen bei erhaltenen ventralen Partien). Klinik und Mor-
phologie der beiden verglichenen Symptomenkomplexe ergeben somit
Parallelen.
Die endgültige Deutung. zu der dieser Vergleich geführt hat, ist
also. folgende: |
Bei der optischen Allästhesie unserer Beobachtung 4 ist die
Wirkung der parieto-okzipitalen Richtungszentren auf die
Regio calcarina geschädigt. Dasselbe ist im Bälintschen Syndrom
der Fall; bei diesem aber ist die Wirkung der Richtungszentren (an-
nähernd) vollständig ausgeschaltet.
Die maximale Ausschaltung des Einflusses der Richtungszentren
auf die Area striatae hat das konzentrisch enge, nur ein Sehding
enthaltende Gesichtsfeld zur Folge, das sich zuerst nach jener Rich-
tung hin entwickelt, die einer letzten Restwirkung von erhaltenem
Areal der Richtungszentren entspricht.
In unseren Fällen von optischer Allästhesie ist die Wirkung der
Richtungszentren auf die Area striata nur einseitig ausgeschaltet
gewesen. 7
Die einseitige Ausschaltung ergab eine dominante Pro-
jektionsrichtung, die einer entmischten Teilwirkung der
Richtungszentren eindeutig zugeordnet ist. Das Gesichtsfeld hat
Raum für eine Mehrheit von Sehdingen; diese sind aber anders
zentriert, als gewöhnlich. :
Ferner ist im Bälintschen Fall die Area striata, sowie die
Area 18 samt den zugehörigen Marksystemen doppelseitig erhalten
gewesen. Diesem Befund entsprach die erhaltene, ja übertriebene
Konzentration auf das jeweilige Sehding. Wir können die
letztere daher auf eine zentrale Leistung beziehen, die in einer be-
sonders übertriebenen Weise vor allem dann zustande kommt, wenn
die Area striata und die Area 18 (in Verbindung mit der übrigen
— 101 —
zerebralen Gesamtleistung) zusammenarbeiten, ohne von den Areae 19
(und ihren Nachbargebieten?) reguliert zu werden.
In unseren Fällen von optischer Allästhesie dagegen war die
Eigenleiytung der Area striata und ihres ventralen Nachbargebiets für
Partien herabgesetzt, die den Raumfaktoren des zentralen
Sehens zugeordnet sind. Die Schädigung ist eine partielle, ein-
seitige; sie hat zur Folge, daß die Eigenrichtung, die die Area
striata den zentralen Partien des Gesichtsfeldes erteilt, ge-
schwächt und dadurch mit der Eigenrichtung der dominierenden
Region aus dem Bereich der Richtungszentren vertauschbar ge-
worden ist.
Überdies erhöhen die vorhandenen Schädigungen des opti-
schen Erkennens den Einfluß von optischen Residuen.
Diese Steigerung trat auch dann ein, wenn man das optische Er-
kennen nur funktionell schädigte (Tachistoskop).
Auf diese Weise ist das Aufsteigen der optischen
Residuen in unseren Fällen begünstigt, während sie im Bälint-
schen Fall krampfhaft abgeblendet erscheinen. So entspricht der
Bälintsche Fall einem zu engen Diaphragma, während sich unsere
Beobachtungen 2 bis 4 allenfalls mit einer verschobenen Zentrierung
vergleichen lassen, die ein optisches Linsensystem erlitten hat.
Wir können also eine Einwirkung der parieto-okzipitalen Rich-
tungszentren auf die übrigen Bezirke der Okzipitalrinde konstatieren
und ihr vor allem den Wechsel des Fixierpunkts und der
Gesichtsfelder zuordnen. Entfällt dieser Einfluß, dann bleibt
dieser Wechsel aus, wenn er nicht durch andere Einwirkungen er-
zwungen wird. Es fehlt also dieSpontaneit&t dieses Wechsels.
Entmischt sich aber aus der Gesamtwirkung der Bildungszentren
eine Zwangsrichtung, so leistet die zentrierende Kraft der
Area striata Widerstand, so lange sie nicht selbst entsprechend ge-
schädigt ist. Das letztere war der Fall bei unseren Beobachtungen
von optischer Allästhesie.,
In allen diesen Verhältnissen erscheint das Lokalzeichen als
etwas, das durch eine Kortikale Leistung den zentripetalen optischen
Erregungen erteilt wird. Dies stimmt mit Beobachtungen überein,
die Best an Fällen von Hinterhauptschüssen mit Läsion des Prä-
cuneus (in Verbindung mit ausgedehnten Nebenläsionen) gewonnen
hat: Jedes einzelne Sehding wurde erkannt, aber so gesehen, als ob
esohne jedeEinordnunginden Raum geblieben wäre. Alle
diese Sonderfälle sprechen übereinstimmend dafür, daß das Lokal-
zeichen etwas ist, das zur zentripetalen Erregungsleitung erst hinzu-
— 102 —
kommen muß. Sie führen damit auf die psychologische Grund-
anschauung von Lotze zurück, ebenso aber auch auf die Versuche
von Dusser de Barenne: Die Okzipitalrinde scheint hier ähn-
liches zu leisten, wie die nichtvergifteten Hinterhornzellen im
Strychninversuch.
3. Die zerebrale Metamorphopsie.
Beobachtungen von Henschen, von Oppenheim (Rück-
bildungsphase operierter Geschwiilste des Okzipitalhirns), von Lenz,
von dem einen von uns (P.) u. a. haben sichergestellt, daB es Falle
gibt, in denen eine Verzerrung der gesehenen Konturen
(Metamorphopsie) als Symptom okzipitaler Hirnherde auftritt. U. U.
kann sie das einzige Symptom oder wenigstens das Hauptsymptom
einer solchen Herderkrankung sein.
Auch diese Störung soll mit der optischen Allästhesie verglichen
werden. Allerdings muß der Vergleich vorläufig auf das beschränkt
bleiben, was sich aus klinischen Gesichtspunkten ergibt, da ein ein-
deutiger Obduktionsbefund für die zerebrale Metamorphopsie noch
nicht vorliegt. |
Es sind insbesondere die Fälle von Henschen, die auch für
die zerebrale Metamorphopsie die Annahme nahelegen, daß sie nicht
durch eine eigenartige Läsion der Area striata, bzw. ihrer Projektions-
faserung allein entsteht, sondern daß auch eine Schädigung der um-
liegenden Rindenbezirke und Bahnen an ihr beteiligt ist. Wir wollen
unseren Vergleich hier auf jene Beobachtungen beschränken, in denen
die Metamorphopsie das Vorwalten bestimmter Richtungen
bei der Konturenverzerrung erkennen ließ (zwei Fälle von P.). Offen-
bar sind es gerade solche Beobachtungen, die mit der optischen All-
ästhesie die Eigenschaft gemeinsam haben, daß bestimmte Richtungen
mit anderen bestimmten Richtungen vertauscht werden.
Ein Unterschied zwischen den beiden verglichenen Störungen
ist sofort klar: Bei der zerebralen Metamorphopsie betrifft die Ver-
tauschung von Richtungen Anteile der Figur selbst, bei der
optischen Allästhesie betrifft sie nicht die Figur, sondern ihr Lokal-
zeichenim Sehraum. Daß beide Erscheinungen unterschieden
werden müssen, ergibt sich von selbst; daß sie auch zusammen vor-
kommen können, zeigen die Teilbefunde unserer Beobachtungen 2
und 3 (N. 12).
Von den optisch-agnostischen Fehlern ist die zerebrale Metamor-
phopsie leicht zu unterscheiden und im Prinzip streng zu trennen:
— 103 —
Wenn eine Figur verzerrt gesehen, aber als solche erkannt wird, ist
das ein völlig anderer Tatbestand, als wenn sie nach ihrer Gesamt-
form oder nach ihrer Bedeutung unkenntlich geworden ist.
Die beiden Fälle von zerebraler Metamorphopsie, auf die sich
unser Vergleich bezieht, können hier nur auszugsweise referiert wer-
den; beide betrafen Hinterhauptsschüsse; beide sind ohne Obduktion
geblieben. Doch hat sich aus dem klinischen Bild wenigstens eines
erkennen lassen: es bestanden parazentrale Skotome in hemianopi-
scher Anordnung; sie waren stabil. Auch in diesen Fällen hatte sich
die Mitte des Gesichtsfeldes erst später wieder hergestellt; so glichen
sie unserer Beobachtung 2; noch mehr werden sie unserer Beobach-
tung 2 dadurch angenähert, daß auch ihre Skotome bedeutende Seh-
reste enthalten haben, also unvollständig waren.
Die Verletzung der Area striata und ihrer Marksysteme ist also-
offenbar den Befunden unserer Beobachtung 2 sehr ähnlich gewesen.
Sie unterscheidet sich aber von ihr dadurch, daß die Skotome in den
beiden Fällen von zerebraler Metamorphopsie nur die unteren Ge-
sichtsfeldquadranten, also die kunealen Anteile der Area
striata usw. betrafen. Im Falle 1 war die Schädigung eine doppel-
seitige. im Falle 2 allem Anscheine nach nur eine linkshirnige
gewesen. | |
Daraus läßt sich eine Hauptbedingung für die gerichtete zerebrale
Metamorphopsie ableiten, die der ersten Hauptbedingung unserer Be-
obachtung 4 ähnlich ist: eine Schädigung der polaren engeren Seh-
region, aber enger begrenzt und ihrem oberen Anteil an-
gehörend. Ob auch in unseren Fällen von zerebraler Metamorphopsie
noch eine zweite Hauptbedingung hinzugekommen ist, können wir
streng genommen mangels einer Autopsie nicht feststellen. Aller-
dings ist es bei der Natur dieser penetrierenden Schußverletzungen
kaum denkbar, daß sich die Läsion auf die Area striata und ihre
Systeme beschränkt hätte. Mindestens ist eine Mitschädigung der be-
nachbarten kunealen Gebiete anzunehmen. Wenn man also geneigt
ist. in dieser Mitschädigung eine zweite Hauptbedingung der zere-
bralen Metamorphopsie zu suchen, so wird diese Annahme zwar nicht
beweisbar sein, aber aus den bisher vorliegenden Beobachtungen
auch nicht widerlegt werden Können.
Da den Fällen von zerebraler Metamorphopsie gemeinsam war,
daß die Lokalzeichen der Gesamtfiguren nicht verändert waren, wohl
aber die Lokalzeichen einzelner Punkte und Konturen innerhalb
der Gesamtfigur, wird man auch für eine solche zweite Bedingung des
Symptoms — falls man sie überhaupt annimmt — Verschieden-
— 104 —
heiten von der zweiten Hauptbedingung der optischen Allästhesie
beachten müssen. Eine solche Verschiedenheit liegt offenbar darin.
daß die Schädigung des Umkreises der Area striata hier enger (viel-
leicht nur auf den Kuneus) begrenzt war und wahrscheinlich der
Sehsphärenverletzung unmittelbar benachbart gewesen ist.
In beiden herangezogenen Fällen war die zerebrale Metamor-
phopsie an eine bestimmte Phase der Rückbildung gebunden: zuerst
hatte eine Rotation des rechten Auges gegen das linke bestanden: der
Winkel dieser Rotation stimmte in seiner Größe überein mit dem
Winkel zwischen Vertikalmeridian des Gesichtsfeldes und jenem
Meridian, in dem die hemianopischen Skotome ihre Hauptaus-
dehnung hatten. Man kann diesen Anfangsbefund als eine zerebral
bedingte Zyklophorie bezeichnen; er gab zu den entsprechenden
V-förmigen Doppelbildern Veranlassung.
Erst als diese Störung der Augenstellung verschwunden war.
kam es zu der Metamorphopsie. Die letztere betraf nur bestimmte
Anteile des Sehrau'.s (im Fall 1 die untere Hälfte, im Fall 2 den
rechten unteren Quadranten und die Richtung quer zum Haupt-
meridian des Skotoms). Im Fall 1 bestand die Metamorphopsie in
einer winkeligen Abknickung vertikaler Linien; im Fall 2 bestand sie
in einer Dehnung aller Konturen senkrecht auf den Hauptmeridian
des Skotoms. Die Verzerrungen zeigten somit wieder Winkeltreue
mit den früheren Doppelbildern. In einer noch späteren Phase ver-
schwand die Metamorphopsie und nur die Skotome blieben übrig.
Es hatte sich also eine Ablenkung des herdgekreuzten Augesin
eine Ablenkung von Anteilengesehener Figuren winkeltreu
verwandelt. Der Vorgang ließ sich folgendermaßen deuten: Die um-
schriebene Schädigung hatte zuerst eine (nach der Gegenseite des
Herdes gerichtete) zentrifugale Erregungskomponente von spezi-
fischem Richtungssinn enthemmt. Mit der fortschreitenden Erholung
erstarkte die hemmende Kraft der okzipitalen Rinde wieder; in der
folgenden Etappe war sie imstande, die zentrifugale Erregung zu-
rückzuhalten und sie innerhalb der Rinde selbst zu verankern:
dieser Ablenkung und Bindung war aber noch keine dämpfende Ver-
arbeitung gefolgt. So erschien eine störende Wirkung, die Ab-
lenkungen innerhalb des Sehraums zur Folge hatte: diese
Ablenkungen zeigten denselben Richtungssinn. in dem vorher das
herdgekreuzte Auge abgelenkt. gewesen war.
Im zweiten Falle fand sich außerdem eine auf die bezeichneten
Segmente des Sehraums beschränkte Störung desräumlichen
Sehens. Ähnlich, wie die Erscheinungen unserer Beobachtung 4
— 105 —
nur unter bestimmten Versuchsbedingungen auftraten, war diese
Störung des räumlichen Sehens auf eine bestimmte Versuchs- .
bedingung beschränkt: Stellte man die Bilder stereometrischer
Figuren im Stereoskop ein, so wurden nur die Figurenanteile
flächenhaft gesehen, die den oben genannten Segmenten des
Sehraums, bzw. der bezeichneten Raumrichtung entsprachen. Die
Verkrümmungen, die sich dabei zeigten, ließen sich nach der Methode
der Komposition auflösen, wenn man die Richtungen der entsprechen-
den Figurenanteile jedes Einzelbildes der stereoskopischen Exposition
Punkt für Punkt nach Art des Kräfteparallelogramms zusammen-
setzte.
Diese Anteile der Einzelbilder wirkten also in derselben
Ebene aufeinander störend ein. Unter dem Einfluß der ungestörten
physiologischen Leistung der geschädigten Hirnpartien erzeugt
ihre Wechselwirkung den räumlichen Eindruck; sie erscheint in
verschiedene Ebenen des Raumes hinaus verteilt; sie entspricht nicht
Mischfiguren, die in dieselbe Ebene gebannt sind.
Wenn wir diese Befunde mit unseren Fällen von optischer All-
ästhesie vergleichen, so finden wir:
1. Allen diesen Fällen ist eine partielle Schädigung der zentri-
petalen Projektion von mittleren Partien des Gesichtsfeldes gemein-
sam. Der geringeren Ausbreitung und einem kunealen Sitz der Läsion
entsprach (bei der zerebralen Metamorphopsie) ein ungestörtes Ver-
bleiben der Lokalzeichen für die Sehdinge und eine Verlegung
innerhalb begrenzter Bereiche. Das Umgekehrte gilt für die optische
Allästhesie.
2. Auch eine Schädigung der parieto-okzipitalen Richtungs-
zentren ist allen diesen Fällen gemeinsam. Bei der optischen All-
ästhesie wird der Einfluß der Richtungszentren für die Gesamt-
heit der Kalkarinaregionen asymmetrisch, bei der gerichteten
zerebralen Metamorphopsie nur für (kuneale Anteile) derselben.
Der Asymmetrie der Gesamtheit entspricht eine Vertauschung
von Rechts-Links im Sehraum, der begrenzten Asymmetrie ent-
spricht eine Fusionsstörung der Augen, die sich später in eine
Störung der Fusion umgrenzter Anteile der Gesichtsfelder um-
wandelt. Der letztere Befund kann als eine pathophysiologische
Parallele zu dem Prinzip der vermiedenen Rotationen (dem Listing-
schen Gesetz) aufgefaßt werden. Jedenfalls zeigt er, daß eine Ent-
mischung der beiden monokularen Gesichtsfelder aus dem Gesichts-
feld des Doppelauges auch fleckweise begrenzt. segmental ein-
treten kann. |
Herrmann-Pötzl, Optische Allästhesie (Abhdl. H. 47). 8
— 106 —
Auch der Befund der zerebralen Metamorphopsie führt so wieder
auf einen wichtigen, noch nicht völlig geklärten Punkt der Grund-
anschauungen von Wilbrand und Henschen über die zerebrale
Doppelversorgung zurück. Diese enthält bekanntlich die „Faszikel-
feldermischung“: In jenem Teil der Area striata, der zur Doppel-
versorgung Beziehungen hat, sollen nach dieser Vorstellung rechts-
äugige und linksäugige zentripetale Fasern eng nebeneinander
(schachbrettartig) in Faszikeln angeordnet sein. Wir sehen im klini-
schen Befund der gerichteten zerebralen Metamorphopsie eine starke
Unterstützung für diese Anschauung: auch unsere Beobachtung 4 (er-
haltenes peripheres Sehen bei erhaltenen oralen Anteilen der Areae
striatae) unterstützt diese Vorstellung; sie weist in einer gewissen
Annäherung auf jenen Teil der Area striata hin, von dem man an-
nehmen darf, daß er zwar einstrahlende Faszikel enthält, die dem
gekreuzten Auge entsprechen, aber keine Feldermischung. Wir be-
tonen aber, daß auf Grund der bereits feststehenden Tatsachen über
die feinere Morphologie der Area striata (insbesondere nach den
grundlegenden Ergebnissen von Ramon y Cajal) die Faszikel-
feldermischung morphologisch zwar für die Einstrahlung der
zentripetalen optischen Fasern in die tieferen Rindenschichten plau-
sibel ist, nicht aber für die Dekomposition dieser Fasern
(Ramony Cajal) in den mittleren Rindenschichten (und vielleicht
zum Teil auch in den angrenzenden oberen).
Wenn wir uns vorläufig darauf beschränken, die Dynamik der
Erscheinungen bei der zerebralen Metamorphopsie und bei der opti-
schen Allästhesie zu betrachten, so können wir die Richtungs-
faktoren, deren Einfluß sich hier geltend gemacht hat, in zweierlei
Gruppen sondern: Bei der optischen Allästhesie fanden sich zwei
wirksame Gegenpaare (oben-unten; rechts-links), die miteinander ver-
tauschbar erschienen sind. Es liegt nahe, diese beiden gegensinnigen
Paare mit jemer zerebralen Leistung in Beziehung zu bringen, durch
die eine Projektion des Vertikalmeridians (bzw. aller Vertikalebenen)
und des horizontalen Meridians (aller horizontaler Ebenen) im Ge-
sichtsfeld (Sehraum) stattfindet. Nur für die Projektion des Hori-
zontalmeridians ist ein zugehöriges Teilgebiet der Regio calcarina
(durch Henschen) bekannt: die Tiefe der Fissura calcarina. Für
die Projektion des Vertikalmeridians mangelt es bisher an morpholo-
gischen Vorstellungen. Wir wollen sie uns vorläufig nicht anders ver-
anschaulichen, als unter dem Bild zentraler verschiebender Kräfte,
die auf der Wirkung des ersteren Feldes senkrecht angreifen.
Man könnte ihnen dann allenfalls die Wölbung der beiden Lippen
— 107 —
der Fissura calcarina zuordnen, muß aber beachten, daß hier sehr
komplexe Verwerfungen der Kriimmungsrichtung bestehen.
Jedenfalls läßt sich aus einer verschieden abgestuften Zusammen-
setzung von Komponenten dieser beiden aufeinander senkrechten
Wirkungen jedes beliebige Lokalzeichen im Sehraum, bzw. jede be-
liebige Meridianrichtung in ihm verständlich machen (vgl. dazu S. 15).
Diesen paarweise geordneten Faktoren, die wir hauptsächlich
an der optischen Allästhesie besprochen haben (die wir aber schon in
früheren Untersuchungen über Agraphie, über agnostische Störun-
gen usw. nachweisen konnten), steht jene Rotation gegenüber, wie
sie der Befund der zerebralen Metamorphopsie enthalten hat. Man
kann sie mit der Querspannung im Gesichtsfeld (Sehraum) in
Verbindung bringen. Die Leistung, die diese Störungen aufhebt,
kann dann als eine zentrale Repräsentanz der Parallelkreise
des Gesichtsfeldes betrachtet werden. Wenn man eine Vorstellung
darüber gewinnen will, wie die physiologische Leistung aus dem
pathologischen Befund abgeleitet werden kann, so ist wohl die alte
Brissaudsche Anschauung die einfachste; sie deckt sich überdies
im Prinzip mit den Anwendungen, die schon Bälint zur Erklärung
der Seelenlihmung des Schauens herangezogen hat. Nach der An-
schauung Brissauds wird die rechtsablenkende Kraft der linken
Hemisphäre kompensiert werden durch eine gleichgroße Kraft, die
nach links ablenkt. Wenden wir dasselbe auf die störende Rotation
bei der zerebralen Metamorphopsie an, so ergänzen wir die Rotation
im Sinne des Uhrzeigers, die hier als Störungsfaktor aufgetreten ist,
durch die Annahme einer kompensierenden, gleich stark wirkenden
Rotation in der Richtung gegen den Uhrzeiger. Die Wirkung der
letzteren müßte infolge der Läsion anfangs gefehlt haben, später
aber wieder eingetreten sein. 7
Auch die Richtungsfaktoren, auf deren Vorhandensein der Be-
fund der zerebralen Metamorphopsie schließen läßt, lassen sich also
als paarweisegeordnet denken; im Vergleich zu den gepaarten
Wirkungen der ersten Art (optische Allästhesie) erscheinen sie aber
wie solenoidale Vektoren, während die ersten beiden Paare wie
axiale Vektoren erscheinen.
Die Gesamtwirkung richtet die Zellen (Neurobiotaxis). Sind
die Zellen aber einmal gerichtet (Dynamik der Leistungen im aus-
gereiften Rindenfeld), wirken dieselben Kräfte noch weiter: sie richten
die zentripetalen Erregungen, die an diesen Zellen angreifen; so
verändern sie die zentripetale Erregung. Sie leisten also dasselbe,
was im Versuch von Dusser de Barenne die Zellen des nicht-
R*
— 108 —
vergifteten Hinterhorns an der passierenden zentripetalen sen-
siblen Erregung geleistet haben. Die Ähnlichkeit ist eine sehr
große; denn auch bei der experimentellen spinalen Allästhesie schien
ein rechtsdrehender und ein linksdrehender Richtungsfaktor im Spiele
zu sein; beide Faktoren erschienen vertauschbar. Auch bei der
spinalen Allästhesie ist der Winkel, den die Projektionsrichtung der
Sinnesempfindungen mit der Körpermediane bildet, nach seinem
Richtungssinn umgekehrt worden, ist aber gleich groß geblieben; dies
erinnert an die Winkeltreue der Erscheinungen bei der zerebralen
Metamorphopsie, mochten diese nun — wie anfangs — in einer Ab-
lenkung der Augen bestehen oder — wie später — in einer Ablenkung
der Konturen von Sehdingen.
So erscheinen alle hier verglichenen Befunde wie Sonderfälle
eines einheitlich angeordneten zentralen Geschehens. .Die Frage ge-
winnt daher eine allgemeinere Fassung: wie hat man sich die Ver-
änderung der zentripetalen Erregungen vorzustellen, die ihnen ein
Zentrum erteilt und deren physiologische Parallele die Erteilung
eines Lokalzeichens ist?
Offenbar handelt es sich um eine Wirkung von Ganglienzellen.
die eine zugeführte zentripetale Erregung in bestimmter Weise
verändert; schon vorher ist diese Erregung mit bestimmten Eigen-
schaften behaftet gewesen, die von Fall zu Fall verschiedene sein
können. Die Nervenzellen. die die Erregungen übernehmen, erhalten
sie in diesen Fällen an einer Synapse. Es handelt sich um das. was
man als Schaltstelle eines sensorischen, bzw. sensiblen Neurons
(x-ter Ordnung) mit einem ebensolehen Neuron von (x + 1)-ter
Ordnung zu bezeichnen gewohnt ist.
Im Falle der zerebralen Metamorphopsie ist die rotierende
Störung nur dann aufgetreten. wenn Sehdinge exponiert worden
sind; sie bedurfte also einer der Exposition entsprechenden Ände-
rung der zentripetalen Erregungen. Man bezeichnet dies als
dynamische Erregung (Jordan, Piper. v. Uexküll)
Gerade für sie (im Gegensatz zur sog. statischen Erregung) ist
die Wellennatur charakteristisch: der Vorgang erweist sich als eine
Aufeinanderfolge von Schwingungen. deren Rhythmus unter
geeigneten Versuchsbedingungen galvanometrisch ablesbar ist.
Es ist darum erlaubt, die Annahme zu machen, daß die Eigen-
schaften einer dynamischen Erregung in mancher Beziehung mit den
Eigenschaften elektrischer Schwingungen vergleichbar seien. Als
Element im Querschnitt der zentripetalen Errerunren kann die ein-
zelne zentripetale Nervenfaser gelten. Ihre Richtung würde also die
a ii a ee A une ae
— 109 —
Fortpflanzungsrichtung einer zu der Gesamtheit des
schwingenden Vorgangs gehörigen elementaren Schwingung dar-
stellen. Wir haben angenommen, daß es sich hier um Trans-
versalschwingungen handelt; die Fortpflanzungsrichtung der-
selben würde also dem entsprechen, was Ramon y Cajal den
„Nervenstrom“ genannt hat, der Leitungsrichtung der
zentripetalen Erregung. Wenn wir annehmen, daß der fortgeleitete
Vorgang Transversalschwingungen enthält, so bedeutet dies, daß wir
eine Zustandsänderung annehmen, die periodisch wechselnd in
Ebenen vor sich geht, deren Richtung senkrecht auf die Richtung
des „Nervenstroms‘“ gelegt gedacht werden muß; diese Zustands-
änderung soll sich kontinuierlich und phasenweise in der Richtung
des Nervenstroms fortpflanzen, bis sie (in der Area striata) an jene
Zellengruppen gelangt, die die Richtung abändern. Im Falle der
Metamorphopsie bestand die Abänderung in einem Äquivalent jener
Rotation im Sinne des Uhrzeigers, die klinisch an der Änderung der
Lokalzeichen für Figurenanteile abzulesen war.
Die Zellgruppen, die diese Richtungsänderungen erteilen, sind
in den bezeichneten Fällen unter abnormen Einflüssen gestanden.
Als den normalen physiologischen Einfluß, der auf diese Zellen (von
der übrigen Gesamtheit der kortikalen Leistung her) ausgeübt wird,
betrachteten wir in Nachbildung der Anschauung von Brissaud
das Zusammentreten gleichstarker rechtsrotierender und links-
rotierender Wirkungen. Als Ursache des pathologischen Befundes
nahmen wir an, daß eine dieser beiden Wirkungen hier im Stadium
der zerebralen Metamorphopsie noch gefehlt hatte.
Die Änderung, die der zentripetalen Erregung erteilt wird, haftet
ihr weiterhin an; ist die zentripetale Erregung ein Vorgang, der
Transversalschwingungen enthält, so kann die Einwirkung des
Zentrums auf die passierende Erregung vielleicht in einer Änderung
derSchwingungsebene bestehen, also in einer Polarisation
der Erregung. "
Mindestens ist der polarisierte Lichtstrahl ein anschauliches
Gleichnis für die Vorgänge, die hier betrachtet werden. Führt
man das Gleichnis durch, so läßt sich die rechtsrotierende Wirkung
der zentralen Abänderung mit einem rechts zirkular polari-
sierten Strahl vergleichen; denn nach Definition handelt es sich
bei einem solchen um periodische Zustandsänderungen, die in der
Ebene senkrecht auf die Fortpflanzungsriehtung im Sinne des Uhr-
zeigers Kreisen, sofern das Auge des Beobachters gegen die Fort-
pflanzungsrichtung hin blickt.
— 110 —
Ein solcher Strahl setzt sich mit einem links zirkular
polarisierten Strahl zu einem geradlinig polarisier-
ten Strahl zusammen. Dies vertritt im Gleichnis das spätere Ein-
greifen eines entgegengesetzt rotierenden Vektors und damit die
Verwandlung der beobachteten Wirkungen in die Querspannung
des binokularen Gesichtsfeldes.
Wir stellen uns diese Verwandlung nicht als ein queres Irradi-
ieren der so veränderten zentripetalen Erregung vor (vgl. dazu
S. 82), sondern als eine zentrale Verarbeitung derselben, die eine
Sperrung von Nebenwegen der Erregung in sich enthält. Wir den-
ken also an eine Absorption derselben seitens der korrelierten
Zellgruppen, einen Vorgang, dessen Richtung man sich allerdings als
nach der Quere des Rindenfeldes der Area striata hin orientiert
vorstellen kann.
Wir haben zu berücksichtigen, daß der kompensierende (gleich-
sam links zirkular polarisiereüde) Faktor unter dem Einfluß einer
lokalen Rindenschädigung hier (scheinbar oder wirklich) zeitweilig
fehlen kann. Da der Faktor auf beide Kalkarinagegenden wirkt, ist
eine Wechselwirkung beider Hemisphären an seinem Zustandekommen
an ihm beteiligt; dies ergab sich im Beispiel der gerichteten zerebralen
Metamorphopsie daraus, daß auch beim einäugigen Sehen für jedes
der beiden Augen unter bestimmten Bedingungen dieselbe Metamor-
phopsie, wie beim binokularen Sehen, hervorzulocken war.
So griff anfangs nur der rechtsdrehende (linkshirnige) Vektor
ein. der rechtshirnig geleitete Vektor schien zu fehlen (Schädigung
einer Einstrahlungsstelle von Faserzügen aus dem Balken in den
Kuneus?). Dies ist auffallend; zu berücksichtigen ist aber noch, daß
die zentripetalen Erregungen — im Sinne der hier festgehaltenen Vor-
stellung — in einem gewissen Sinne schon polarisiert an der korti-
kalen Endstätte angekommen sind.
In den Corpora geniculata Jateralia sind (Minkowski) die
Endgebiete der gleichseitigen und gekreuzten Optikusfasern örtlich
voneinander getrennt, so daß sie im entsprechenden Durch-
schneidungsversuch getrennt atrophieren. Ähnlich wie im Versuch
Dusser de Barennes die Zellgruppen des Hinterhorns eine
Rechtsrichtung, bzw. Linksriehtung der zentripetalen Erregung er-
teilen, liegt auch für unseren optischen Fall die Annahme nahe, daß
die betreffenden Teilareale des Corpus geniculatum den passierenden
zentripetalen Erregungen ihre Rechtsrichtung. bzw. Linksrichtung
geben, bzw. verstärken, so daß sie im entsprechenden Sinn polarisiert
— 111 —
bereits in die Rinde einströmt. Auch die Anschauung von der
Faszikelfeldermischung führt auf dieselbe Annahme hin.
Vielleicht läßt sich diese verschieden gerichtete Polarisation
durch Zellgruppen der Corpora geniculata lateralia morphologisch. als
eine Spaltung desselben in zweierlei Zellen betrachten, in solche,
deren Axonen die gekreuzt polarisierten Fraktionen der zentripetalen
Erregung weiterleiten (äußere Schicht und folgende alternierende
Schichten nach Minkowski, vorläufig nur für den Makaken be-
stimmt) und in solche, deren Axonen die homolateral polarisierten
zentripetalen Erregungsfraktionen übernehmen (überwiegend in den
dazwischen liegenden Schichten; Minkowski; ebenso). In dieser
Weise polarisiert sind offenbar schon die in der Sehrinde an-
kommenden optischen Erregungen; der kortikale richtende Vor-
gang verändert ihre Polarisationen derart, daß die identischen
Punkte der Sehfelder entstehen.
Die Störung bei der gerichteten zerebralen Metamorphopsie läßt
sich daher auch durch die Annahme erklären, daß ein Vorgang, der `
die zentripetalen Erregungsfraktionen im Bereich der Area striata
umpolarisiert, anfangs noch gefehlt hat. Er hätte sich dann
staffelweise wieder eingestellt: In einer ersten Phase kam die
Fusion der Augen wieder, dann erst die Herstellung jener
identischen Punkte im Gesichtsfeld, die mit den geschädigten Partien
der Sehsphäre in einer besonderen Beziehung stehen. Man hat den
Eindruck, daß die im ersten Stadium frei wirksame zentrifugale Er-
regung wieder gebunden und zum Ersatz dieses umpolarisie-
renden Vorgangs staffelweise verbraucht wird.
Wir halten den Vergleich fest, den wir im vorigen durchgeführt
haben. Wir betrachteten die rechts rotierende Störungswirkung unter
dem Bild eines rechts zirkular polarisierten Lichtstrahles. Ein solcher
läßt sich bekanntlich physikalisch zerlegen in zwei geradlinig, senk-
recht zueinander polarisierte Strahlen, die um eine Viertel-
wellenlänge zueinander verschoben sind. Wird diese Ver-
schiebung beseitigt, so daß die Phasendifferenz der beiden Kompo-
nenten Null ist, so setzen sie sich wieder zu einem geradlinig polari-
sierten Strahl zusammen. Dieses Gleichnis legt für den Störungs-
vorgang bei der zerebralen Metamorphopsie die Vorstellung nahe,
daß anfangs vielleicht nur eine Phasenverschiebung der zu-
geordneten zentralen Vorgänge bestanden hat; eine solche genügt, um
die Störung zu setzen; die spätere Restitution scheint diese Phasen-
verschiebung wieder beseitigt zu haben.
— 112 —
Vielleicht sind die beiden betrachteten Komponenten der zen-
tralen richtenden Tätigkeit in der Area striata an zweierlei Zell-
gruppen von differenter abstimmender Wirkung gebunden, deren
physiologische Tätigkeit in Konsonanz steht, während sie hier
(mit einer Phasendifferenz von einer Viertelwellenlänge) inter-
feriert haben. Der Konsonanz entspräche die Herstellung der
identischen Punkte der beiden Gesichtsfelder, der Interferenz eine
Entmischung von Rotationsrichtungen innerhalb des Gesichtsfeldes.
Wir sind so dazu gelangt, die hier gegebenen dynamischen
Verhältnisse mit der feineren Morphologie der Area striata zu
vergleichen. Wie bereits erwähnt worden ist, besteht kein Gegen-
grund gegen die Annahme einer Faszikelfeldermischung (Wilbrand
und Henschen) fürdieeinstrahlenden zentripetalen optischen
Fasern; andererseits aber ist für die Art, wie die zentripetalen Fasern
im Bereich der Area striata enden, wie sie sich dekKomponieren
(Ramon y Cajal), eine Fortführung dieser Annahme aus morpho-
logischen Gründen als aussichtslos zu bezeichnen. Wir suchen
der Frage näherzukommen, wie die Umpolarisierung der
zentripetalen optischen Fasern durch die kortikalen Richtungszentren
gestaltlich erfaßbar ist. |
Die optischen Fasern dekomponieren sich etagenweise in der
IV c und b (Ramon y Cajal), vielleicht selbst noch in der IVa
und weiter aufwärts, wenigstens beim erwachsenen Menschen. Kolla-
teralen der optischen Fasern beim Kind sind schon durch Ramony
Cajal für die oberen Schichten nachgewiesen worden; für die
Dekomponierung optischer Fasern in den oberen Schichten beim Er-
wachsenen sprechen neueste Befunde von Lenz. Über die Tatsache,
daß sich eine große Zahl optischer Fasern in der IV ¢ (Körner-
schicht Cajals) und in der IV b (Sternzellenschicht Cajals)
dekomponieren, ist nach unseren eigenen Ergebnissen an zahlreichen
Serien und (mit der Spielmeyerschen Methode gefärbten) Gefrier-
schnitten für uns jeder Zweifel ausgeschlossen; u. E. wird die Frage.
warum der Vieque d’Azyrsche Streifen bei zentripetaler
Degeneration der optischen Fasern kaum eine stärkere Lichtung er-
kennen läßt. eben mit den feststehenden Ergebnissen Ramon y
Cajals irgendwie vereinigt werden müssen; wie beide Tatsachen
miteinander in Einklang zu bringen sind, kann an dieser Stelle nicht
genauer erörtert werden: wir behalten uns die Darstellung unserer
eigenen Befunde darüber für eine andere Gelegenheit vor.
Ohne Zweifel erfolgt die Dekomposition der zentripetalen Fasern
in einer Weise, daß die sehr zahlreichen Komponenten, Kollateralen
— 113 —
und Verzweigungen, in die sich eine einzelne derartige Faser zerlegt,
an einer Vielheit von Nervenzellen endigen; für sehr viele optische
Fasern —— wenn auch nicht für alle — läßt sich überdies aussagen,
daß die einzelnen Komponenten in verschiedenen Schichten
endigen (Ramon y Cajal); es kommen in dieser Beziehung schon
Kollateralen für die tiefen Schichten in Betracht, wenn auch (Cajal)
feststeht, daß es eine besonders große Anzahl von Komponenten
optischer Fasern ist, die in die Körnerschicht (die IVc Brodmanns)
und in die Sternzellenschicht (IV b) eingeht. Diese Komponenten um-
hüllen die Körner, die kleinen und großen Sternzellen. Am nächsten
wird daher die Annahme liegen, daß diese Zelltypen eine Hauptrolle
bei jener veränderten Polarisation spielen, die vorhin betrachtet
worden ist. Es ist ihnen also eine Wirkung zuzusprechen, vergleich-
bar dem Effekt, den Zellgruppen der Hinterhörner in Versuch von
Dusser de Barenne ausgeübt haben. |
Da die Axonen der großen Sternzellen überwiegend in die weiße
Substanz einstrahlen (indem sie die tieferen Schichten der Rinde
geradlinig durchsetzen, Cajal), ließe sich leicht die Vorstellung ge-
winnen, daß diese Axonen Fraktionen der umpolarisierten
zentripetalen Erregung in einer analogen Weise weiterleiten, wie die
Hinterhornzellen in ihren Axonen umpolarisierte Anteile der zentri-
petalen sensiblen Erregung aufwärts führen. Im hier betrachteten
optischen Fall würde das eine transkortikale Weiterleitung der opti-
schen zentripetalen Erregungen bedeuten, aber nur eines bestimmten
Anteils, einer Fraktion derselben.
Wie man sieht, würde sich diese Auffassung mit Anschauungen
von Dejerine berühren, die er zur Erklärung der reinen Wort-
blindheit, bzw. der Alexie-Agraphie herangezogen hat (Schema der
subkortikalen, bzw. transkortikalen Alexie). Wir weisen auf diese
Ähnlichkeit hin, wollen sie aber an dieser Stelle nicht diskutieren.
Daß die zitierte Anschauung Dejerines gegenwärtig als unmodern
gilt, schreckt uns allerdings keineswegs davon ab. Wir vermeiden
die Diskussion dieses Punktes hier nur deshalb, weil auch für uns die
physiologische Bedeutung einer solchen transkortikal weitergeleiteten
Fraktion zentripetaler optischer Erregungen vorläufig offen bleiben
muß. Wir halten vor allem gewisse naheliegende Phrasen für wenig
nutzbringend, wie z. B., daß sie „zur Wahrnehmung dienen“ oder‘
„Assoziationen mit anderen Hirnteilen vermitteln‘ sollen usw.
Es ist nicht ausgeschlossen, daß sie u. a. auch kortikale optische
Reflexe zu vermitteln haben, die den Fusionsbewegungen
— 114 —
dienen, und daß sie bei den optischen Stellreflexen eine
Rolle spielen. Vieles spricht dafür, daß nur ein Teil der letzteren
Reflexbogen über die zentrifugale Faserung der Area striata selbst
geht, während andere Reflexbogen über die parieto-okzipitale Kon-
vexität hinweg die Erfolgsorgane ihrer einstellenden Wirkung er-
reichen (eigene Beobachtungen, Beobachtungen von Schilder.
Kauders, Gerstmann).
Wir haben die veränderte Polarisation der optischen zentripetalen
Erregungen, die in der Area striata vor sich geht, mit der Zusammen-
setzung von rechts zirkular und links zirkular polarisierten Licht-
strahlen verglichen. Morphologisch ergibt sich die Wahrscheinlich-
keit, daß eine endgültige Wirkung dieser Art von jenen Nervenzellen
ausgeübt wird, an denen die optischen Fasern sich dekomponieren.
Es besteht vielleicht schon darin eine morphologische Parallele mit
den besprochenen physikalisch-physiologischen Ähnlichkeiten, daß —
wahrscheinlich — einerseits mehrere verschieden polarisierte optische
Fasern. sich um eine funktionell einheitliche Sternzellengruppe
dekomponieren, also in einer einheitlichen Weise von ihr modifiziert
werden können oder andererseits dieselbe — z. B. vom Corpus
geniculatum aus rechts polarisierte — optische Faser sich um
eine Mehrheit von verschieden abstimmenden Zellen dekompo-
niert und eine Resultierende dieser verschiedenen richtenden
Wirkungen erhält. Uns selbst würde hier die Hypothese naheliegen.
daß sich aus der Mannigfaltigkeit der rezeptorischen Zellen zwei
Untergruppen aussondern lassen, deren eine die Rechtspolarisation.
deren andere die Linkspolarisation erteilt. Wir stellen uns diese
beiden Gruppen in den bezeichneten Schichten beider Areae stri-
atae miteinander vermengt vor; wenn wir nach morphologischen
Charaktern suchen, die beide Gruppen voneinander unterscheiden.
so achten wir am ehesten auf Übereinstimmung, Parallelismus oder
spiegelbildliche Symmetrie in der Orientierung dieser Zellen und in
den Wachstumsrichtungen ihrer Fortsätze.
Wir fragen weiter: Wodurch erlangen diese rezeptorischen
Gruppen jene Fähigkeit zur veränderten Polarisation, die wir glauben.
ihnen zuschreiben zu müssen? Im klinischen Bild der gerichteten
zerebralen Metamorphopsie hat sich jene staffelförmige Umwandlung
einer zentrifugalen rotierenden Erregungskomponente vorgefunden,
deren wir schon wiederholt gedacht haben. In dem Stadium, während
dessen eine nachweisbare zentrifugale Erregung frei geworden war,
sind es wohl am ehesten Axonen von Zellen der tiefen Schichten
(V. und VL, z. B. der Meynertschen Solitärzellen, fusiformer
— 115 —
Elemente usw.) gewesen, die wir als Bahn der zentrifugalen tonisie-
renden Erregung bezeichnen können (im Sinne der Anschauungen
von v. Monakows, F. Nissls, Marburgs u. a.). Offenbar
existiert ein Apparat, der diese Systeme überbaut; diesem haben
wir jene Umwandlung der zentrifugalen Erregung zuzuschreiben, die
im klinischen Bild wie eine Ablenkung in die Quere erschienen ist
und jedenfalls eine Rückwirkung auf die Sternzellen und Körner (auf
die sog. „rezeptorischen‘ Zellen) zur Folge hatte.
Wie immer dieser Apparat beschaffen sein mag: die Resultie-
rende seiner Tätigkeit ist, daß sich die zentrifugale Richtung einer
Erregungsleitung in kortikalwärts verlaufende Richtun-
gen verwandelt hat.
Zwei morphologische Parallelen dazu finden sich im Aufbau der
Area striata:
Die erste ist (Cajal) die Verringerung der Zahl großer
Pyramidenzellen in der III. Schicht; sie steht wohl mit der Bildung
der Brodmannschen Körnerschicht [Va in Zusammenhang, die
Cajal als eine besondere Schicht nicht erwähnt, weil sie sich in
bezug auf die feinere Histologie der Elemente von der Schicht III
durchaus nicht spezifisch abgehoben hat. Die Entwicklung der
Schicht [Va aus einer Matrix, die auch die IVb und IVe aus sich
hervorgehen läßt (Brodmann), ist damit ohne weiteres vereinbar;
sie erscheint in diesem Zusammenhang wie eine Diaphragmenwirkung,
die das Wachstum der Axonen von Pyramidenzellen teilweise ab-
blendet. Jedenfalls ist diese charakteristische Eigenschaft der Area
striata geeignet, die Vielheit längerer kortiko-fugaler Axonen zu
vermindern und die Vielheit von Axonen mit kürzerer unmittel-
barer Wirkungssphäre zu vergrößern’). |
Zweitens aber ist (Cajal) die große Anzahl der Pyramiden-
zellen mit aufsteigenden Axonen für die Area striata charakteristisch.
Bekanntlich hat Cajal die Schicht unmittelbar unter der IVe nach
diesen Elementen benannt, da sie in ihr die Mehrheit bilden. Hier
drückt sich die Umwandlung einer kortiko-fugalen Axonenrichtung
in eine kortikopetale unmittelbar und unzweideutig aus.
Diese aufsteigenden Axonen enden in den höheren Schichten, wie
es scheint, etagenweise; von näheren Einzelheiten darüber ist noch
nicht viel ermittelt. Jedenfalls ist hier die Möglichkeit eines An-
schlusses dieses zentralen Apparates an den Sternzellenapparat ge-
1) Vogl. dazu den Begriff des „Koniokortex“ (v. Economo u. Kos-
kiner).
— 116 —
geben, dessen Einzelheiten man sich vorliufig beliebig vorstellen mag.
Wir wollen uns auf die Vermutung beschränken, daß es sich hier um
den Anschluß eines zentralen Apparates der Transformation
zentrifugaler Erregungen an die rezeptorischen Zellgruppen handelt;
dieser Anschluß vermittelt vielleicht die Umwandlung gerich-
teter zentrifugaler Erregungen in jene Richtungs-
faktoren, die vom Apparat der Sternzellen und Körner über-
nommen und zur veränderten Polarisation der zentripetalen
optischen Erregungen verwendet werden.
Es scheint uns also, als ob nicht bestimmte Schichten der Area
striata mit bestimmten Leistungen isoliert in Zusammenhang zu brin-
gen sind, sondern daß sich ein Gesamtplan im Aufbau der Area
striata aus zwei einander zugeordneten Anteilen verrät:
1. In der Dekomposition der zentripetalen optischen Fasern um
die Gruppen der Körner und Sternzellen usw. in ihrer Gesamtheit;
wir fassen sie als gestaltlich Parallele zu einer veränderten Polari-
sation der zentripetalen Erregungen auf, die mit der Herstellung der
Doppelversorgung und der identischen Punkte der Gesichtsfelder eng
zusammenhängt. Sie ist. die morphologische Parallele zu einer Quer-
wirkung im Bereich der Area striata.
2. In der Eigenart, die an den Axonen der Elemente besteht, die
senkrecht zur Windungsoberfläche orientiert sind (an den Pyra-
midenzellen). Sie besteht im Vorherrschen der kleinen Elemente und
eines kortiko-petalen Rekurrierens ihrer Axonen. Auch in an-
deren Regionen der Großhirnrinde fehlt es an solehen Mitteln nicht;
nirgends aber tritt sie so hervor, wie in der Area striata; sie ist eine
Wirkung, die sich jenseits von deren scharfen Grenzen sofort sprung-
weise ändert (Cajal). Wir fassen sie daher als den gestaltlichen
Ausdruck für kortikate Wirkungen auf, die der ganzen Großhirnrinde
zukommen (mit Ausnahme etwa der Arca giganto-cellularis), die aber
in der Eigenleistung der Area striata besonders dominieren. Wir
sehen in ihr eine morphologische Parallele zu jenem Vorgang, der
sich am Bild der gerichteten zerebralen Metamorphopsie und an unse-
ren Befunden von optischer Allästhesie erkennen läßt: einer physio-
logischen Speicherung gerichteter zentrifugaler Erregungen und ihrer
Umwandlung in zentrale Kräfte, die die zentripetalen Erregungen
polarisieren. Wir bezeichneten die letzteren als Richtungs-
faktoren der Doppelversorgung und erblicken in ihnen
den lokalen Ausdruck einer Gegenreaktion der Zentren.
— 17 —
4. Polyopie und polyopische Halluzinationen.
Es ist schon lange bekannt, daß nach herdförmiger Schädigung
der parieto-okzipitalen Regionen bzw. der Area striata Episoden von
Polyopie auftreten können. So viel wir wissen, ist Mingazzini
der erste, der dieses Symptom an seinem Fall (Hinterhauptschuß;
Revolverkugel) hervorhob. An den Hinterhauptschüssen im Krieg
war das Symptom nicht selten, aber zumeist nur episodisch wahr-
zunehmen (eigene Beobachtungen des einen von uns, P.). Es wurde
aber zumeist für eine hysterische Begleiterscheinung gehalten. Wir
selbst allerdings haben immer die Möglichkeit einer organischen
Bedingtheit solcher Polyopien betont. Seither haben Schilder
und seine Mitarbeiter, Kauders u. a. Fälle von nichttraumatischen
parieto-okzipitalen Herderkrankungen mit Polyopie und polyopischen
Halluzinationen mitgeteilt. Schilder ist geneigt, sie mit einem
Nystagmus in Verbindung zu bringen.
Was die etwaige Beziehung der Polyopie zum Nystagmus be-
trifft, so wird aufzuklären sein, warum beim labyrinthären Nystag-
mus die gesehene Scheinbewegung die Regel bildet, nicht aber
eine Polyopie, und warum beim optischen Nystagmus das Flimmern
häufiger ist als beim labyrinthären N., wie ja auch der optische N.
besonders leicht durch gedrehte schwarz-weiß-gestreifte Flächen aus-
lösbar ist. Hillebrand hat sich mit einem Teil dieser Fragen be-
schäftigt; er ist auf Grund eigener Versuche zu dem Schluß gekom-
men, daß es eine Vorphase des Fixierpunktwechsels gibt, in der
irgendein Objekt den Blick schon an sich zieht, ohne daß er schon
hingewendet ist; in dieser Vorphase entsteht ein Zuwachs des Ge-
sichtsfeldes nach der Seite des nächsten zu fixierenden Objektes und `
eine entsprechende Abnahme des Gesichtsfeldes nach der Gegenseite
des zukünftigen Blickpunktes. Auf diese Weise bildet sich gewisser-
maßen ein Kontinuum zwischen den wechselnden Blickeinstellun-
gen aus; dieses fehlt in der Regel beim labyrinthären Nystagmus; sein
Fehlen hängt mit der Scheinbewegung zusammen, sein Vorhandensein
mit dem Fehlen der Scheinbewegung. Wir glauben, daß Störungen
dieser Kontinuumbildung auch bei den. hier betrachteten Phänome-
nen im Gefolge von okzipitalen Herderkrankungen vorkommen.
Wollte man die Polyopie, die gelegentlich bei solchen Herd-
erkrankungen auftritt, auf derartige Veränderungen der Vorphase
optisch bedingter Blickwendungen beziehen, so käme man zur An-
schauung. daß ihr eine Zerspaltung des einheitlichen Attrak-
tionspunktes zugrunde liegt. den in der Norm das nächste, die Fixa-
— 118 —
tion anreizende Sehding ausübt. Der eine Punkt, der ihm entspricht,
würde sich in eine Mehrheit von Punkten auslösen; es bliebe aber
aufzuklären, warum in jedem dieser Punkte ein ganzes Bild des
Sehdinges entsteht, das diese Anziehungskraft ausgeübt hat.
Vielleicht ist eine derartige Annahme überflüssig; man könnte
sich — in Übereinstimmung mit dem Befund bei der gerichteten
Metamorphopsie — vorstellen, daß auch bei der zerebralen Polyopie
ein abnormer Enthemmungsvorgang vorliegt, der zu einem störenden
Abfließen zentrifugaler Erregung führt; diese würde im Falle der Po-
lyopie einen transitorischen Akkomodationskrampf bedingen und
damit für eine kurze Zeit in den brechenden Medien der Augen Ver-
hältnisse herstellen, unter denen es auch sonst zur Polyopie kommt
(Linsenastigmatismus). Bei der häufigen Polyopie im hysterischen
Anfall reicht die Erklärung aus, die einen solchen (psychisch deter-
minierten) Akkomodationskrampf heranzieht. Bei der Polyopie, die
eine organische Schädigung der optischen Region des Großhirns be-
gleitet, ist das Bestehen eines Akkomodationskrampfes bisher nicht
nachgewiesen; da die Erscheinung in den Fällen, die wir kennen,
nur eine flüchtige, episodische war, wäre uns an unserem eigenen
Material ein solcher Nachweis nicht möglich gewesen.
Es könnte sich also bei der zerebralen Polyopie auch um eine
bloße Veränderung der zentralen Vorgänge handeln, die den Zu-
stand des Erfolgsorgans nicht in der erwarteten Weise modifiziert.
Der Vorgang, der die Bildung eines einzigen Fixierpunktes zu regu-
lieren hat, wäre dann in der Weise gestört, daß der eine Zentral-
punkt des Gesichtsfeldes sich scheinbar so teilt, wie bei der Poly-
ästhesie die sensible Wahrnehmung sich vervielfacht und verschie-
dene Lokalzeichen empfängt (vgl. dazu die Besprechung des Schil-
derschen Falles S. 78). Hier liegt ein Vergleich mit dem grund-
legenden Befund von Bielschowsky nahe: Monokulären Doppel-
bildern, die dadurch verursacht worden sind, daß einem Schielenden
das fixierende Auge enucleiert werden mußte; das Auge, das
übrig blieb, begann nun zu fixieren; aus einem Wettstreit zwischen
seiner Fovea centralis und der Pseudofovea, die sich während des
Schielens gebildet hatte, erklärten sich die monokulären Doppel-
bilder. Allerdings würde bei der zerebralen Polyopie eine Mehr-
heit von Pseudo-foveae an Stelle der einen Fovea entstehen.
Jede solche Pseudofovea ist’ während ihres kurzen Vorhandenseins
Trägerin desselben Bildes; so verhält sich jede für sich allein wie
ein Bälint sches eingeschränktes Gesichtsfeld; die Ähnlichkeit ginge
— 119 —
so weit, daB man die zerebrale Polyopie als eine Vervielfachung des
Balintschen Gesichtsfeldes auffassen könnte.
Hier ist ein Unterschied zu beachten, der zwischen dem zer-
stückten Sehen der Agnostiker und der zerebralen Polyopie besteht,
wenn auch dieser Unterschied selbstverständlich ist: dem Agnostiker
zerfällt häufig eine gesehene Einheitsgestalt in Teilstücke mit glei-
chen, die Aufmerksamkeit bindenden Valenzen, die dann miteinander
in Wettstreit kommen (dissolutorische Agnosie Liepmanns). Wenn
man will. kann man das so auffassen, als ob sich mehrere Bälint-
sche Gesichtsfelder nebeneinander bilden würden; sie entwickeln
sich gleichzeitig, ohne daß die Augen deswegen den jeweils festgehal-
tenen Fixierpunkt unbedingt verlieren müssen. Die zerebrale Polyo-
pie dagegen erschiene, wie die Spaltung eines Bälintschen Ge-
sichtsfeldes, in eine Vielheit; der Inhalt dieses Gesichtsfeldes, das
nur ein Sehding auf einmal umfassen kann, erschiene so an mehreren
Stellen im Sehraum zugleich.
Eine solche Auffassung wird für die zerebrale Polyopie vielleicht
überflüssig erscheinen, weil man ja doch das Bestehen eines Akkomo-
dationskrampfes während der Dauer des Phänomens nicht ausschlie-
Ben kann; ihre Besprechung erscheint uns aber deshelb notwendig,
weil die zerebrale Polyopie in den bisher beobachteten Fällen (auch
im zitierten Fall Mingazzinis) fast immer mit polyopischen
Halluzinationen in irgendeiner Weise kombiniert war; die letz-
teren aber lassen sich wohl kaum aus einem zentral bedingten Akko-
modationskrampf restlos erklären. Die polyopischen Halluzinatio-
nen bei toxischen Delirien lassen sich hier zur weiteren Betrachtung
heranziehen; wir wählen als Beispiel nicht das Alkoholdelirium, son-
dern die besser definierte Atropinwirkung, also das Delirium
nach Tollkirschenvergiftung. Wir beschränken uns darauf. aus
seinem Inhalt die typischen mikropisch-polyopischen Halluzinationen
herauszugreifen.
Diese Halluzinationen enthalten die auffallende Beziehung, daß
das Halluzinierte denselben Bedingungen zu gehorchen scheint, wie
die real gegebenen Dinge, die sich im Sehraum abbilden (Schilder).
Aber die letzteren erscheinen dabei zwar verkleinert, aber
nicht vervielfacht, was selbstverständlich ist, da ja eine Aus-
schaltung der Akkomodation besteht, nicht aber ein Akkomodations-
krampf. Daß beim Atropindelirium eine zerebrale Komponente
der Giftwirkung vorhanden ist, nicht nur die Wirkung auf die auto-
nome Innervation der Binnenmuskeln des Auges, versteht sich gleich-
falls von selbst. Wir machen die Annahme. daß die zentrale Kompo-
— 120 —
nente der peripheren Atropinwirkung in einer bestimmten Beziehung
analog sei: Sie sei eine Ausschaltung zerebraler akkommodie-
render Vorgänge. Ferner nehmen wir an, daß es zerebrale Vorgänge
gebe, die eine gewisse Analogie mit der Konvergenzeinstel-
lung der Augen in sich enthalte und daß diese mit den zerebralen
(quasi) akkommodativen Vorgängen ebenso eng verbunden seien,
wie die Akkommodation und die Konvergenz der Augen miteinander
verbunden sind. |
Eine Rechtfertigung dieser Annahme sehen wir im gelegentlichen
Auftreten von Störungen der Akkommodation und Konvergenz nach
Sehsphärenverletzungen und in dem besprochenen Befund von zere-
braler gerichteter Metamorphopsie, bei der sich eindeutige Beziehun-
gen zwischen zentrifugalen rotierenden Erregungskomponenten und
zentralen rotierenden Richtungsfaktoren bzw. den durch diese er-
teilten Lokalzeichen tatsächlich gefunden haben.
Die beiden Annahmen erlauben es, die Erklärung für die Bildung
polyopischer Halluzinationen auf das eingangs gegebene Schema zu
reduzieren: statt daß die Halluzination sich (gleichsam) in einer
zerebralen Fovea abbildet und durch den Akt der Außenprojek-
tion mit dem Mittelpunkt des jeweiligen Gesichtsfeldes zur Deckung
kommt (oder — wie in unserer Beobachtung 3 — mit parazentralen
Punkten des Gesichtsfeldes). wird sie in einer Vielheit von zere-
bralen Parafoveae abgebildet; die Außenprojektion entsendet sie an
eine Vielheit von Stellen im Außenraum. Es läßt sich also ein zere-
braler Vorgang annehmen. der folgender kraukhafter Veränderung
fähig ist: An Stelle einer vereinheitlichten Zentrierung des Gesichts-
feldes tritt eine Spaltung desselben in viele kleine Bereiche ein. deren
jeder seinen Mittelpunkt hat und Träger desselben Bildes ist.
Dasselbe gilt natürlich aueh für die polyopischen Halluzinatio-
nen des Alkoholdeliriums. Die hier gegebene Auffassung schließt die
bisherigen Erklärungen (Sichtbarwerden des retinalen Kreislaufes.
Hyperästhesie der Retina usw.) keineswegs aus, sondern trachtet nur.
sie zu ergänzen; insbesondere für jene Halluzinationen wird sie an-
wendbar sein. deren Inhalt durch große Objekte gebildet wird, die
verkleinert erscheinen (kleine Elefanten usw.). Die Polyästhesie hat
zu den typischen Tasthalluzinationen des Alkoholdeliriums ein ganz
ähnliches Verhältnis. das sich auch analog betrachten ließe.
Wenn im Inhalt der polyopischen Halluzinationen eine Vielheit
von verkleinerten Elefanten, verkleinerten Löwen usw. erscheint, so
läßt dies an eine Wirkung denken, die den Vorgängen bei der Bil-
dung des abnormen Bälintsehen Gesichtsfeldes in einer bestimm-
— 121 —
ten Beziehung entgegengesetzt zu sein Scheint. Dort schafft
sich das große Sehding den entsprechenden Rahmen, ein großes Ge-
sichtsfeld; das kleine Sehding findet sein passendes Format im ver-
kleinerten Gesichtfeld usw. Die Größe des Bildes bestimmt die Größe
der umgebenden Sphäre; bei den poiyopischen Halluzinationen scheint
umgekehrt die Größe des Rahmens (der umgebenden Sphäre) durch
den krankhaften Vorgang präformiert zu sein und für die Größe des
hineinprojizierten Bildes maßgebend zu werden.
Das Bälintsche Gesichtsfeld schien einer pathologisch gestei-
gerten Konzentration zu entsprechen. Wenn der Fall der
polyopischen Halluzinationen dem Gegenteil davon, einer Dekon-
zentration entsprechen sollte, wäre dieser Gegensatz begreiflich.
Hier kann es sich aber nicht um eine Konzentration bzw. Dekonzen-
tration der Aufmerksamkeit handeln, sondern um eine (kon-
zentrierende) Vereinheitlichung oder (dekonzentrierende) Spaltung
zentraler Faktoren, die dem Gesichtsfeld seinen Mittelpunkt
geben.
Diese zentralen Faktoren — wie immer sie geartet sein mögen —
können also offenbar in eine Mehrheit von Teilelemente zerfallen;
sie verhalten sich in ihrer Art ähnlich, wie die Bilder, die unserer
Beobachtung 3 exponiert worden sind. Da der Fixierpunkt zugleich
ein Punkt in jedem Meridian des Gesichtsfeldes ist, kann man sich
vorstellen, daß er unter der Bedingung, die bei den polyopischen
Halluzinationen besteht, sich nach mehreren Meridianen aufgelöst
hat. So gewinnt auch der hier betrachtete zentrale Vorgang eine
Ähnlichkeit mit elementaren physikalischen Beispielen.
Sein Effekt läßt sich einerseits veranschaulichen durch die
mehrfache Reflexion des Lichtes an amalgamierten Spiegeln.
an denen die vordere, unbelegte Glasfläche und die rückwärtige be-
legte Fläche das Licht reflektieren, wobei außerdem noch eine mehr-
fache Reflexion des Lichtes zwischen beiden ebenen Flächen auf-
treten kann. Die vielfacheh Bilder werden bekanntlich dann am
deutlichsten sichtbar, wenn man z. B. eine brennende Kerze seitlich
und nahe vom Spiegel aufstellt und den Blick auf die andere Seite
des Spiegels richtet. Die Verschiebung der Zentrierung nach den
Seiten hin, die sich in diesem Gleichnis andeutet, mag gleichfalls ihre
Analogie in der betrachteten Veränderung des zerebralen Vorgangs
haben, der das Gesichtsfeld zentriert.
Eine zweite physikalische Analogie kann in der schlechten Zen-
trierung der Lichtstrahlen durch eine Konvexlinie von großer Öffnung
gesehen werden, deren Randstrahlen an anderen Stellen vereinigt
Herrmann-Pötz!. Optische Allärthesie (Abhdl. H. 47). 9
— 122 —
werden, als die Zentralstrahlen. So kommen wir auf dieklinische
Analogie der zerebralen Polyopie mit Erscheinungen bei Linsen-
Astigmatismus des Auges zurück; der zerebrale zentrierende Prozeß
scheint in einem gewissen Sinn astigmatisch werden zu können.
Andererseits aber genügt im physikalischen Modell des Vorganges
die Wirkung einer Blende, eines Diaphragma, um die Rand-
“ strahlen abzuhalten und die polyopischen Wirkungen zu beseitigen.
Eine Wirkung der Zentren, die Diaphragm en ähnlich ist, hat sich
im vorigen schon wiederholt erschließen lassen, so in der physiologi-
schen Sperre von Nebenwegen der zentripetalen Erregungen, während
eine Eröffnung von Nebenwegen mit dem Phänomen der Polyästhesie
zusammenzuhängen schien usw. (S. 81).
Alle hier angeführten physikalischen Vergleiche scheinen also
auf tatsächliche Eigenschaften von zerebralen Vorgängen hinzu-
weisen, die bei der Verarbeitung der zentripetalen Erregungen
eingreifen. Die Ähnlichkeit der optischen Allästhesie mit der physi-
kalischen Luftspiegelung, die uns veranlaßt hat, von einer Fata
morgana des Sehraumes zu sprechen, ist kein vereinzeltes Beispiel
geblieben. Es ist dies leicht verständlich, wenn man die Wellen-
natur der dynamischen Erregungen bedenkt, die sie — trotz der
weitestgehenden sonstigen Unterschiede — mit den Lichtstrahlen ge-
meinsam haben. So hat es einen tieferen Grund, wenn in manchen
Reaktionen der zerebralen Metamorphopsie die langen Konturen
winkelig geknickt erscheinen, „wie ein in Wasser getauchter Stab“:
man kann dabei an Änderungen von physiologischen Brechungs-
verhältnissen für die einströmenden Wellen zentripetaler Er-
regung denken, die in einzelnen begrenzten Bereichen der Rinden-
regionen entstanden sind. Ebenso haben sich die Veränderungen der
Lokalzeichen durch die Zentren einer Polarisation der Erregun-
gen als weitgehend vergleichbar erwiesen. Das physikalische Modell
der Fata morgana enthält ebenfalls verschiedene Brechungsverhält-
nisse verschieden durchwärmter Luftschiehten; wenn man will, kann
man auch hier an die Sonderung verschieden brechender Wirkungen
dureh eine Art von abnormer sejunktiver Schichtenzerlegung des
kortikalen Wirkungsbereiches denken.
Die physikalische Fata morgana enthält weiters die totale
Reflexion der Lichtstrahlen an den Grenzbereichen der verschie-
den brechenden Luftschiehten. Auch die polyopischen Halluzinatio-
nen haben auf physikalische Ähnliehkeiten geführt. die teils eine
Reflexion des Lichtes enthalten (Spiegelbeispiel), teils Verschie-
denheiten der Wellenbrechung in verschiedenen Anteilen der
— 123 —
Medien, in deren Gebiet die zentripetalen Wellen eindringen (Linsen-
beispiel). Auch die elementare physikalische Optik führt auf Kon-
formitäten dieser beiden Betrachtungsweisen, so z. B. wenn sie die
Hohlspiegelgleichung und die Linsengleichung auf konforme Aus-,
drücke bringt. Es ist aber doch beachtenswert, daß sich die zentrale
Verarbeitung zentripetaler Erregungen und ihre Störungen zu einem
gewissen Teil unter dem physikalischen Bild einer Reflexion, zu einem
andern Teil unter dem Bild geänderter Brechungsverhältnisse ver-
anschaulichen lassen. Wir neigen zu der Vermutung, daß das Zu-
sammenwirken jener beiden zentralen Vorgänge dahei in Betracht
kommt, denen wir bei der vergleichenden Untersuchung der gerich-
teten Metamorphopsie und der optischen Allästhesie begegnet sind.
Der eine dieser Vorgänge bestand in der Dekomposition der
zentripetalen optischen Erregungen; sein gestaltlicher Ausdruck
schien einer überwiegenden Querspannung zu entsprechen; wir möch-
ten ihn mit Wirkungen zusammenstellen, die gewissermaßen die
Breehungsindizes im kortikalen Zustandsraum zu verändern ver-
mögen. Der zweite Vorgang bestand in einer richtenden Wirkung,
die die zentripetalen Erregungen entscheidend verändert: er schien
an eine Gesamtheit von Elementen gebunden zu sein, die die Tendenz
haben, sich senkrecht auf die Windungsoberflächen einzustellen. Die-
ser Vorgang ordnet sich offenbar jenen Wirkungen zu, die im klini-
schen Bild als Projektion der Erregungen nach außen
erscheinen und damit auch die Umkehrung der Netzhautbilder in
sich enthalten, also allem dem, was unter dem Bild einer Reflexion
von Lichtstrahlen veranschaulicht werden kann.
Ordnet man die Gesamtwirkung der beiden zugehörigen Systeme,
die — annähernd und nur in den resultierenden Hauptwirkun-
gen aufeinander senkrecht gerichtet zu sein scheinen, in ein netz-
artiges Schema, so scheint die senkrecht richtende Kraft, wie sie die
Spitzenfortsätze der Pyramidenzellen eindeutig richtet, gewisser-
maßen den Fortpflanzungsrichtungen einer Wellenbewe-
gung zu entsprechen: die querwirkenden Potentialflächen scheinen in
ihrer Gesamtheit den gekrümmten Oberflächen gleicher Phasen ähn-
lich zu sein, in denen sich eine Wellenhewegung nach dem
Huyghensschen Prinzip im Raume ausbreitet. Jeder einzelne
Punkt einer solchen Fläche erscheint dabei als Ausgangspunkt einer
Elementarwelle. Die Ausbreitung findet ihr Ende an der Rinden-
oberfläche, an der zellarmen molekularen Außenschicht der Rinde.
Hier mag man an Verhältnisse denken. die mit der Reflexion räum-
licher Wellen an einer Wand vergleichbar sind, derart, daß die an-
kommenden und die reflektierten Wellen miteinander interferierend
zu einer Bildung stehender Wellen gelangen. Vielleicht ent-
halten dann die tektonischen Schichtungen der Großhirnrinde eine
Analogie mit den verschiedenen Phasen stehender Wellen, mag man
sie nun in Knotenflächen oder in Flächen größter Amplituden ver-
legen. Es ist daran zu erinnern. daß auch die Gesamtgestalt der
Hirnwindungen wie das geformte Abbild stehender Wellenziige er-
scheint.
5. Flimmerskotom und optischer Nystagmus.
Mit keiner anderen zentral bedingten optischen Störungserschei-
nung schien die Fata morgana des Sehraumes so enge klinische Be-
ziehungen zu haben wie mit dem Flimmerskotom. In der grund-
legenden Beobachtung E. Beyers, ebenso in unseren ersten drei
Beobachtungen zeigt sich dies. Wir kommen hier darauf zurück.
weil wir in dem Zusammenhang, der sich aus den vorstehenden ver-
gleichenden Betrachtungen ergeben hat, die Eigenart dieser Be-
ziehungen besprechen müssen. In unseren Befunden 1 und 2 hatte
sich gezeigt, daß die Fata morgana eine Vorläuferin des Flim-
merskotons war; ferner hatte sich ergeben, daß sie mit den Richtun-
gen, nach denen sich das Flimmerskotom im Sehraum ausbreitete, in
gesetzmäßigen Beziehungen stand: Sie erschien an jener Stelle des
Sehraumes, nach der das Skotom gleichsam abzielte (unsere Beobach-
tung 1). Das letztere vermittelt den Zusammenhang mit den Be-
ziehungen zwischen Lokalzeichen und richtenden Wirkungen der
Zentren, die sich im vorigen ergeben haben. Wenn in einem Teil
unserer Beobachtungen (2 und 3) Bliekrichtungen bei der Ver-
tauschung von optischen Lokalzeichen wesentlich zu sein schienen.
während in dem anderen Teil (1 und 4) Skotomrichtungen
denselben Zusammenhang erkennen ließen. so scheint dies auf eine
Zuordnung von Blickrichtungen zu Skotomrichtungen zu sprechen.
wie sie auch in jenem zentralen Vorgang enthalten war, auf dessen
Vorhandensein der Befund bei der gerichteten Metamorphopsie hin-
gedeutet hat. Auch hier verrät sieh eine Transformation einstellen-
der Erregungen in eine Tätigkeit der Zentren, die die zentripetalen
Erregungen richtet. In diesem Sinn kann man sagen, daß jedem
Lokalzeichen im Gesichtsfeld eine bestimmte Blickwendung zugeord-
net ist: diejenige, mittelst derer der betreffende periphere Punkt in
den Mittelpunkt des Gesichtsfeldes verwandelt wird. Es handelt sich
hier um eine zerebral bedingte Transformation, die das Blickfeld
und das Gesichtsfeld gleichsam fortwährend ineinander verwandelt.
— 125 —
Dieser Zusammenhang hat sich dem einen von uns (P.) bereits an
einer größeren Anzahl hirnpathologischer Beobachtungen ergeben.
Auch das Flimmerskotom läßt sich unter die Störungen dieses Trans-
formationsvorganges einordnen.
Vielleicht läßt sich nunmehr auch verstehen, daß die Fata mor-
gana relativ häufig der Vorbote des Flimmerskotoms, also die Aura
einer Aura war. Einem begrenzten zentralen Bereich, innerhalb des-
sen die Änderung des physiologischen Zustandes noch nicht die für
eine flimmernde Verdunkelung notwendige Stärke erreicht hatte,
schien also bereits eine andere abnorme Eigenschaft zuzukommen,
nämlich die, daß er für Nebenwege der zentripetalen optischen
Erregung sich öffnete. Man kann dies eine besondere attraktive
Kraft nennen; sie kommt dem betreffenden Teilzentrum für zentri-
petale optische Erregungen zu, die dieser Stelle sonst ferngehal-
ten werden; als Störung eines gleichsam von ihnen reinigen-
den zentralen Vorganges erscheint die besprochene Vorphase des
Flimmerskotoms. Daß sie nicht vor jedem Flimmerskotom auftritt,
sondern nur ziemlich selten sich findet, erklärt sich durch Unter-
schiede im Zeitmaß der Entwicklung dieser Erscheinungen; der Sach-
verhalt ist offenbar der Tatsache analog, daß es epileptische Anfälle
mit Aura und solche ohne Aura gibt.
Über die Topographie der betreffenden Teilzentren soll für das
Beispiel des Flimmerskotoms nichts ausgesagt werden. Die Verände-
rung. die ihre Tätigkeit in jener Vorphase erlitten hat, erscheint wie
eine gesteigerte Aufnahme gewisser zentripetaler optischer Er-
regungen. Zugleich mit der gesteigerten aufnehmenden Kraft wird
der Richtungsfaktor, den die betreffenden Teilzentren den absorbier-
ten sensorischen Erregungen erteilen, dominierend; die Region
im Gesichtsfeld, die die Teilzentren projektiv vertreten, gewinnt
Eigenschaften, durch die sie einer Parafovea ähnlich wird (S. 95).
Unsere Anschauungen über die Polyopie und die polyopischen Hallu-
zimationen treffen mit dem hier Besprochenen zusammen; nur zwingt
der Umstand, daß bei den polyopischen Halluzinationen dasselbe
Bild sich vervielfacht, noch zu der kesonderen Annahme, daß die
dem Bild zugeordnete Fraktion der zentripetalen optischen Erregung
(u. U.) teilbar ist, in einer Weise, daß jeder der Anteile noch das
ursprüngliche Ganze repräsentiert, ähnlich, wie die Fragmentation
furchender Eier u. U. zur Selbstdifferenzierung zweier verkleinerter
ganzer Organismen führt. Zu einer Ähnlichen Anschauung sind wir
schon im früheren gelangt (S. 96).
— 126 —
Sucht man die morphologische Parallele zu diesen Erscheinun-
gen, so wird die Auffassung die einfachste sein. daß ein bestimmter
Faszikel der zentripetalen Erregung (bzw. eine Mehrheit von be-
nachbarten Faszikeln gemischter oder ungemischter Herkunft
diesem abnormen Teilungsvorgang unterliegt. Wir kommen mit die-
ser Vorstellung nur zu dem zurück, was sich uns schon vorhin er-
geben hatte: daß es einen zentralen Vorgang geben muß, der die Er-
regung soleher Faszikelgruppen an bestimmte Orte der Sehrinde
konzentriert, indem er Nebenwege verschließt, deren Er-
öffnung zu solehen abnormen Teilungsvorgängen führen würde. Man
kann sich die Teilung, die der Polyopie zugeordnet ist. morphologisch `
ähnlich zurecht legen, wie die Tatsache, daß es partielle, diffuse
Lichtungen der zentripetalen optischen Faserung gibt. die nicht zu
einem umschriebenen Gesichtsfelddefekt führen, sondern unter be-
sonderen Umständen (Doppelversorgung) latent bleiben können. Der
anatomische Befund unserer Beobachtung 4 hat ein anschauliches
Beispiel für derartiges ergeben; ein ebensolches enthält die zweite
Beobachtung von Lenz (doppelseitige Farbenhemianopsie), die den
Vorzug hat, kleine Rindenherde aufzuweisen, so daß gerade die
kortikalen Bedingungen für eine derartige Störung besonders an-
schaulich zutage treten.
Wir stellen uns vor, daß in einem begrenzten Rindenbereich
— vielleicht einem ähnlichen, wie ihn die Herde des zitierten Falles
von Lenz illustrieren — die faszikelweise einstrahlenden zentri-
petalen Erregungen durch eine Eigentätigkeit der Rinde kon-
zentriert werden und daß eine Spaltung dieser Erregungen in
mehrere Anteile verhindert wird, die u. U. alle dasselbe Sehding
(bzw. dieselbe Halluzination) repräsentieren können. Wenn wir
uns einen solchen Bereich als eine Art von begrenzter Wellenebene
vorstellen, so Könnte man meinen. daß die Erregung der betreffenden
Faszikelgruppe mögliehst vollständig an Ort und Stelle von den rich-
tenden Zellgruppen absorbiert werden soll, um nicht auf Nebenwege
zu gelangen. die sie auf eine Mehrheit. derartiger zentraler Bezirke
verteilen würden. Die Morphologie der einstrahlenden und sich de-
komponierenden optischen Faser ergibt aber Ramon y Cajal
gerade das Gegenteil: d'e afferenten optischen Fasern senden schon
für die tieferen Schichten Kollateralen ab: in der Höhe der Schicht
IVe werden sie zu einem großen Teil in die horizontale Ver-
laufsrichtung abgelenkt: viele von ihnen hatten schon in schräger
Richtung die tieferen Schichten durchsetzt; innerhalb des Bereiches.
in dem sie sich völlig dekomponieren, bilden sie Verästelungen von
eT i
— 127 —
parallelen Zweigen „sehr lang, wellig im Verlauf und entfernt von
ihrem Einstrahlungsort“ (Ramon y Cajal). Die Morphologie der
Einstrahlung scheint also gerade auf das Gegenteil der obigen An-
nahme hinzuweisen; sie ist so angeordnet, als sollten möglichst viele
Nebenwege gebildet werden, in die sich die Erregung zerteilen
soll; es ist, als ob sie vom Einstrahlungsort weg dekonzentriert wer-
den sollte, nicht aber am Einstrahlungsort konzentriert.
Wir glauben, daß dieser scheinbare Gegensatz verständlich ist.
Man muß nur die Vorstellung fallen lassen, daß die ganze Absorp-
tionsfläche der zentripetalen Erregung dazu bestimmt sei, die Er-
regungen bewußtzu machen. Es scheint uns, als ob diese Vor-
stellung, wenn auch unausgesprochen, so doch faktisch immer noch
vorherrschen würde, während wir selbst stets weit von ihr entfernt
gewesen sind. Wir vertraten vielmehr die Ansicht, daß die Dekom-
position der optischen Fasern eine gestaltliche Parallele enthält, die
auf eine Spaltung der zentripetalen sensorischen Erregung in eine
Mannigfaltigkeit kleiner Quanten hinweist, ganz ähnlich, wie wir sie
für ein einzelnes Sehding und für die besonderen Bedingungen des
tachistoskopischen Versuchs an unserer Beobachtung 3 mittelst der
experimentell erregten Traumbilder auch an gesunden Versuchs-
personen nachgewiesen haben. Auf diese Weise geht nur ein Teil
dieser Erregungsquanten in die komplexe Einheitsstruktur der be-
wußten Wahrnehmung über; ein anderer Teil aber wird von ihr mehr
oder weniger ferngehalten; er geht in den Vorgang ein, den wir als
Hintergrundbildung bezeichnet haben.
Der zentrale richtende Vorgang erscheint uns als ein Sonderfall
dieses allgemeineren Verhaltens; wenn z. B. eine Gruppe von großen
Sternzellen in irgendeinem willkürlich begrenzten Areal der Kalka-
rinarinde nicht nur von der Faszikelgruppe Erregungen empfängt, Jie
ihr projektiv zugeordnet ist, sondern auch von anderen z. T. relativ
weit entfernten, so erscheinen uns die letzteren Wirkungen als jene
Nebenwege der Erregung, die — wie im Versuch Dusser de Ba-
rennes — nur unter pathologischen Umständen zum Vorgang der
Lokalzeichenwirkung geöffnet sind, z. B. dann, wenn der Hauptweg
der Erregung, die diese Zellen an ihrer Oberfläche empfangen, in
irgendeiner Weise blockiert ist. Schon der Strychninversuch zeigt,
daß es sich hier nieht nur um mechanische, sondern auch um toxische
Wirkungen handeln kann; überdies denken wir hier auch an einen
physiologischen Wechsel zweier reziproker Zustände, in denen
das, was Randerscheinung und Hintergrund ist, zum Vordergrund
werden kann und umgekehrt. Die zahlreichen Nebenwege, die im
— 128 —
pathologischen Fall der optischen Allästhesie oder der Polyopie zur
Erteilung falscher Lokalzeichen führen, erscheinen uns daher in ihrer
physiologischen Eigenschaft als Ausdruck einer notwendigen
scharfen Kontrastwirkung, aus der sich das Lokalzeichen um so
schärfer heraushebt, das sich mit dem Ort des Sehdings im Sehraum
deckt und die Vorbedingung in sich enthält, daß die entspre-
chende Blickbewegung es in den Mittelpunkt eines neuen Gesichts-
feldes umwandeln kann. Wenn andererseits durch eine vielfach durch-
flochtene Netzverbindung die Komponenten einer und derselben opti-
schen Faser die Wirkung einer Mannigfaltigkeit von Rich-
tungszellen erfahren, so erscheint uns dies als geeignet, daß sich
hier Resultierende mehrerer nach dem Prinzip der geometri-
schen Komposition zusammensetzbarer richtender Kräfte bilden,
denen zufolge jedes beliebige Lokalzeichen im Sehraum nach dem
Prinzip der Projektion erteilt werden kann. Daß dabei Neben-
wirkungen abgeblendet werden müssen, die den Randstrahlen einer
Konvexlinse von zu großer Öffnung gleichen, führt wieder zu jenen
physikalischen Bedingungen zurück, die wir im vorigen besprochen
haben.
Die Betrachtung jener Eigenschaft der optischen Allästhesie, die
sie relativ oft als Aura eines Flimmerskotoms erscheinen läßt, erwies
sich also als geeignet, die Frage nach den Mechanismen einer zerebral
bedingten Polyopie und der polyopen Halluzination noch etwas mehr
zu klären; es erscheint uns dies selbstverständlich, da zwischen den
polyopischen Halluzinationen und den Flimmerskotomen zahlreiche
enge klinische Beziehungen bestehen und viele Übergangserscheinun-
gen sich beobachten lassen. Nicht nur die vervielfachten Visionen
bei frischen okzipitalen Herderkrankungen lassen sich als solche be-
trachten; auch die Halluzinationen bei toxischen und senilen Delirien
enthalten vielleicht einen derartigen Übergang. da sich das Flimmer-
skotom gewissermaßen als Netzstruktur, als Hintergrund betrachten
läßt, aus dem sich der Inhalt der halluzinierten Bilder bald recht un-
scharf, bald wieder schärfer gestaltlich herausgeformt entwickelt.
Wenn wir an die Besprechung des Flimmerskotoms nunmehr eine
Betrachtung des optisch bedingten Nystagmus anschließen, so
erscheint dies vielleicht als eine willkürliche Anreihung. Es ist ins-
besondere der Fixationsnystagmus und der Dunkel-
nystagmus, der zu einer vergleichenden Betrachtung auffordert,
noch mehr aber der Nystagmus, der durch die Bewegung von
Sehdingen ausgelöst wird, also der sogenannte Eisenbahn-
nystagmus, der jetzt als „optischer Beweguhgsnystagmus“ be-
O0 a u ie Be
zeichnet wird (Lauber), oder als optomotorischer Nystag-.
mus (Cords).
Vergleichbar mit den hier besprochenen Störungen ist er vor
allem deshalb, weil er — z. B. im fahrenden Eisenbahnwagen — zu-
stande kommt, wenn der Blick „an gewissen vorbeihuschenden Gegen-
ständen haftet, wodurch eine gleitende Blickbewegung zustande
kommt, dann aber ruckweise auf einen folgenden Gegenstand über-
springt“ (Cords). Somit enthält or einerseits eine Tendenz, die
Fixation auf demselben Sehding beharren zu lassen; sie läßt sich mit
der Tendenz vergleichen, die dahin strebt, dem Gesichtsfeld seinen
normalen Schwerpunkt in seiner Mitte zu erhalten; wir fanden diese
Tendenz sowohl bei der optischen Allästhesie als auch bei der Poly-
opie in einer eigenartigen Weise gestört. Andererseits enthält der
optomotorische Nystagmus ruckförmige Unterbrechungen dieser Ten-
denz, die vielleicht in einem Wellenrhythmus eingreifende intermittie-
rende Störungen von ähnlicher Art enthalten, wie sie bei den hier
beschriebenen Herdsymptomen bald mehr episodisch, bald mehr
dauernd, aber nicht rhythmisch geordnet, bestanden haben.
Was unsere hier mitgeteilten Beobachtungen betrifft, so sind
unsere Wiener Fälle 2 und 3 auch von Bäräny auf optomotorischen
Nystagmus untersucht worden. Beobachtung 2 (Abszeß des linken
Okzipitalhirns) zeigte dabei das Fehlen von optomotorischem Nystag-
mus nach der Seite des hemianopischen Skotoms hin; Beobachtung 3
zeigte keine Störungen des optomotorischen Nystagmus. In unserer
Prager Beobachtung 4 schien der optomotorische Nystagmus über-
haupt zu fehlen; wir haben dies aber (nach Ohm) auf die starke
Herabsetzung der zentralen Sehschärfe bezogen.
Es scheint uns, daß die von Bäräny eingeführte Prüfungs-
methode des physiologischen optomotorischen Nystagmus eine ge-
wisse Beziehung zum Flimmerskotom in sich enthält. Was bei diesem
unter dem Einfluß einer zentralen Störung spontan von innen heraus
entsteht, wird — freilich in einer bestimmten regelmäßigen Anord-
nung — bei dieser Untersuchung von der Außenwelt her gegeben: die
drehbare Trommel enthält in bestimmten Abständen schwarze und
weiße Streifen von gleichmäßiger Breite, die oft genug ein optisches
Flimmern auslösen. Der Zustand, in den die Erregungsverteilung der
Area striata hier künstlich versetzt wird, enthält also gewisse Ähn-
lichkeiten mit dem Zustand, in den sie auch durch die zerebralen
Störungen gerät, bei denen ein Flimmern auftritt. Flimmern und
optischer Nystagmus mögen vielleicht einander ähnlich zugeordnet
sein, wie die zentrifugale richtende Erregung und die zentralen
— 130 —
Richtungsfaktoren in unserem Beispiel von gerichteter Metamor-
phopsie. Doch erschiene es uns verfrüht, die etwaigen hier bestehen-
den Ähnlichkeiten schon jetzt herauszuholen, bevor noch die feineren
Beziehungen zwischen der optischen Erscheinung des Flimmerns und
dem Bewegungseffekt des Nystagmus studiert sind; der letztere
kann sowohl zugleich mit dem pathologischen Flimmern vorhanden
sein, als auch während desselben fehlen.
Dagegen müssen jene Beziehungen besprochen werden, die zwi-
schen einem Fehlen des optomotorischen Nystagmus
und herdförmigen Erkrankungen des Okzipitalhirns be-
stehen; wir verdanken ihre Feststellung Cords. Während Bäräny
das von ihm gefundene Fehlen des optomotorischen Nystagmus nach
der Seite der Hemianopsie hin auf die Hemianopsie selbst bezog. also
auf den Sinnesdefekt, konnte Cords zeigen, daß (in 6 genau
untersuchten Fällen) bei Sehstrahlungshemianopsie der
optomotorische Nystagmus nach der blinden Seite fehlte, bei der
Traktushemianopsie aber stets normal war. Wie Cords an-
gibt, soll er bei der Rindenhemianopsie auch „meist normal“ sein.
Cords bezieht dies darauf, daß die Traktushemianopsie eine isolierte
Störung der optisch-sensorischen Bahn sei, während bei den
Sehstrahlungshemianopsien mit einseitigem Ausfall des optomotori-
schen Nystagmus starke Gründe dafür bestehen, daß auch die
optisch-motorische Sehbahn (Flechsig) lädiert war.
In einer Anzahl von Hinterhauptsschüssen, die Cords zusammen-
stellt. war trotz einer Hemianopsie der optomotorische Nystagmus
auch nach der Seite des Defektes auslösbar. Cords bezieht dies
darauf. daß in solchen Fällen nur das „optisch-sensorische Feld“ (d'e
Area striata) zerstört gewesen sei, eine Annahme. die wir für un-
bewiesen und sogar für unwahrscheinlich halten.
Damit leugnen wir selbstverständlich nicht die Beziehung, die
Cords zwischen dem Fehlen des optomotorischen Nystagmus und
einer Zerstörung der optisch-motorischen Bahn aufgestellt hat;
sie erscheint uns im Gegenteil als überaus wichtig und bemerkenswert.
Aus der Zusammenstellung eigener und fremder Beobachtungen, die
Cords bisher gebracht hat, scheint uns ungezwungen hervorzugehen.
daß es einer ausyedehnteren oder (im Bereich der strata sagittalia)
mehr massierte Zerstörung der optisch-motorischen Bahnen
bedurft hat, damit diese Wirkung sich einstellte. Diese Auffassung
stimmt auch mit den Ergebnissen überein, die Flechsig selbst (am
Studium der später markreifenden optisch-motorischen Systeme) über
deren Ursprungsstätte erhalten hat; ebenso Minkowski. Nach
— 131 —
Flechsig liegt der Ursprung dieser Systeme nicht nur in der Regio
calcarina, sondern auch in den umgebenden Areae; es ist darum
begreiflich, daß bei einem Herde, der die Rinde mitzerstört, der
optomotorische Nystagmus eher dann aufgehoben sein kann, wenn
auch die Nachbarschaft der Area striata schwer geschädigt ist; auch
ist eine besonders ausgedehnte Blockierung der zentrifugalen Systeme
und mit ihr dieselbe Wirkung gegeben, wenn das Stratum sagittale
internum stärker geschädigt ist, als das Stratum sagittale externum
(Flechsig, Niessl v. Mayendorf).
Die Annahme, daß eine isolierte Störung der Area 18 durch iso-
lierte Läsion der optisch-motorischen Bahn eine elektive Wirkung auf
den optomotorischen Nystagmus ausüben würde, halten wir nicht für
unwahrscheinlich, aber nicht für bewiesen. Denn Fälle dieser Art
sind bisher nicht bekannt. Auch der Fall 6 von Cords (ein Fall von
Stenvers) erscheint uns in dieser Richtung nicht beweiskräftig. da
er die Beobachtung eines Falles mit operierter Zyste bringt, die eine
isolierte Wirkung auf die optisch-motorischen Systeme keines-
wegs erwarten ließ. Wir meinen, daß die etwaige wichtige Rolle der
Area 18 für die Auslösung des optomotorischen Nystagmus nicht auf
einer isolierten Leistung dieser Region beruht, deren wegen man
gerade sie allein als optisch-motorisches Feld zu bezeichnen hätte
(Kleist), sondern darauf, daß der Bau der Area 18 jenseits der
scharfen Grenze der Regio calcarina klar und eindeutig das Über-
wiegen der zentrifugalen Projektionsrichtung zeigt,
im schroffen Gegensatz zu dem von uns im vorigen hervorgehobenen
Überwiegen einer Transformation dieser Projek-
tionsrichtung nach dem Kortex zurück, wie es im
feineren Bau der Area striata vorherrscht.
Dagegen erscheint es uns sehr wichtig, daß unter den von
Cords zusammengestellten Fällen mit doppelseitiger Auf-
hebung des optomotorischen Nystagmus ein Tumor ist, der in das
Balkensplenium hineinwächst (Fall von Stenvers). Cords selbst
spricht. davon. daß in diesem Falle nicht nur beide optisch-motorische
Bahnen, sondern auch die Kommissurenverbindung der optischen
Felder im Splenium zerstört sei. Ähnlich. wie (in unserer Beobach-
tung 4) eine Störung der kommissuralen Verbindung zwischen beiden
parieto-okzipitalen Konvexitätsregionen für die Auslösung einer
optischen Allästhesie von besonderer Wichtigkeit war, legt
auch Cords für die Aufhebung des optomotorischen Nystagmus,
wenn sie eine doppelseitige ist, auf die Kommissurenschädigung
ein besonderes Gewicht.
— 132 —
Wie man sieht, läßt sich der Gesamtapparat, dem Cords fiir die
Auslösung des optisch-motorischen Nystagmus eine Hauptrolle zu-
spricht, mit jenem Gesamtsystem identifizieren, dessen Störung die
zweite Hauptbedingung der optischen Allästhesie unserer Beobach-
tung 4 gebildet hat: mit den Richtungszentren der parieto-okzipitalen
Konvexität und ihrer doppelten Wirkung, die sich einerseits in die
Quere auf die Area striata erstreckt und sie mit richtenden Kräften
versieht, und die andererseits zentrifugale Erregungen in den Bereich
der Blickzentren entsendet. Eine Transformation der beiden Wirkun-
gen ineinander fanden wir am Beispiel der gerichteten Metamor-
phopsie, eine Aufhebung des richtenden Einflusses dieser Region auf
die Regio calcarina in der Bälintschen Seelenlähmung des
Schauens; die Entmischung bestimmter richtender Komponenten aus
dem Gesamtapparat zugleich mit einer Herabsetzung einer richtenden
Eigenwirkung der Regio calcarina fanden wir bei der optischen All-
ästhesie; eine (genügend ausgedehnte) Blockierung der kommissu-
ralen und zentrifugalen Erregungsleitungen dieses Gesamtapparats
ermittelt Cords als eine Bedingung, unter der der motorische
Nystagmus (einseitig gekreuzt, bzw. doppelseitig) aufgehoben wird.
Die Analogien und Unterschiede aller dieser Effekte lassen sich aus
der Zusammenstellung leicht entnehmen.
Es muß aber noch berücksichtigt werden, daß bekanntlich
(Bárány, Wernoe) ein einseitiges Fehlen des optomotorischen
Nystagmus auch bei Verletzungen des Frontalhirns (motorische
Aphasie usw.) auftreten kann. Man bezieht diesen Effekt auf eine
Läsion der frontalen Bliekbahn. Bäräny hatte den Eindruck ge-
habt, daß insbesondere die rasche Komponente des optomotorischen
Nystagmus bei frontalen Hirnverletzten beeinträchtigt gewesen set:
er hat die Hypothese aufgestellt, daß die langsame Komponente dieses
Nystagmus vom Okzipitalhirn her. die rasche Komponente vom
Frontalhirn aus dirigiert werde. Bäränys Hypothese scheint auf
den ersten Blick sehr schematisch zu sein: sie dürfte wohl auch Kaum
in ihrer ursprünglichen Form zutreffen; doch enthält sie u. E. sehr
beachtenswerte Beziehungen. Es sind mittlerweile Abweich-
reaktionen bei parieto-okzipitalen Herden bekannt geworden, die
einen tonischen Typus zeigen; auch bei frontalen Herden haben sich
analoge Störungen gefunden; wenn auch diese Erscheinungen selbst-
verständlich nicht mit Nystagmuskomponenten konfundiert werden
dürfen, so weisen sie doch auf eine gemeinsame enthemmende Wir-
kung subkortikaler statischer Reflexe hin: es bereitet sich hier viel-
leicht das Verständnis dafür vor, warum der optomotorische Nystag-
— 133 —
mus in seinem Rhythmus dem labyrinthären Nystagmus soweit
gleicht, daß auch er eine langsame und eine schnelle Komponente hat.
Wahrscheinlich ist diese Ähnlichkeit der Effekte nicht ohne tiefere
Bedeutung. So wäre es immerhin möglich, daß frontale und okzipitale
Wirkungen auf die Blickzentren in irgendeiner Weise rhythmisch in-
einander greifen, so daß das Fehlen jedes einzelnen der beiden Fak-
toren den Schwingungstypus des physiologischen Effekts durch den
Typus einer aperiodischen Dämpfung im widerstehen-
den Mittel zu ersetzen scheint.
6. Die allgemeine Sehstörung
bei lokaler Läsion der Sehsphäre.
Wir kehren noch einmal zu den Flimmererscheinungen der
zerebralen Sehstörungen zurück; die Fata morgana ist relativ oft
als Vorphase solcher Flimmererscheinungen aufgetreten; dieser Um-
stand schien uns darauf hinzuweisen, daß der Anfang jener Zu-
standsveränderung, die dem Flimmerskotom entspricht, zuweilen
eine gesteigerte und abwegige Aufnahme zentripetaler optischer Er-
regungen seitens geschädigter Teilzentren bedingt.
Es bleibt aber die Frage zurück: Wie ist die Zustandsänderung
beschaffen, die während der Verdunklung, bzw. während der
spontanen Flimmererscheinungen in der zerebralen Sehsphäre
herrscht? ks wäre gewiß wichtig, wenn sich darüber irgend etwas
ermitteln ließe; die Beantwortung der Frage würde zu nichts ge-
ringerem führen, als zur Kenntnis der Art, wie die beiden antago-
nistischen Komponenten, die Hering in seiner Lehre vom Lichtsinn
angenommen hat, die Hellerregung und die Dunkel-
erregung, in der „Retina des Großhirns‘“ vertreten sind.
Einen gewissen Einblick in diese Fragen schien seinerzeit dem
einen von uns (P.) die Aufeinanderfolge der Stadien zu geben, in
denen sich die allgemeine Sehstörung nach Hinterhauptsschüssen von
einer vollen Blindheit bis zu einer geringfügigen. Herabsetzung der
Sehschärfe und Ermüdbarkeit der Augen bessert. Da die hier repro-
duzierte Beobachtung 2 dem damals herangezogenen Material an-
gehört, ergeben sich auch hier Vergleichspunkte mit unseren Befunden
von optischer Allästhesie. Allerdings war gerade in unserer Beobach-
tung 2 die allgemeine Sehstörung — auch kurz nach der Verletzung —
eine relativ geringe.
Aus der Schilderung des Verlaufs einer solchen allgemeinen Seh-
störung kann hier nur einiges herausgegriffen werden. Von Interesse
12
— 134 —
für den Vergleich ist die initiale Phase des Dunkelsehens, die
bei diesen Verletzten ganz regelmäßig ist, ferner die folgende Phase.
in der das Sehen eines (grauen oder rötlichen) Nebels vorherrseht
und endlich gewisse Erscheinungen der späteren Phasen, die übrigens
häufig schon im Stadium des Nebelsehens einsetzen, und die in einem
Schwarz-weiß-Flimmern bestehen.
Die initiale Phase einer völligen Dunkelheit, von der sich der
Verletzte umgeben sieht, ist als eine Schockwirkung aufzufassen: so
fällt ihre Erklärung mit der Theorie des lokalen Schocks, teilweise
wohl aueh mit der Theorie einer Diaschisis (v. Monakow) zu-
sammen. Der eine von uns hat seinerzeit hervorgehoben, daß in dieser
Diaschisis für gewöhnlich alle Erscheinungen von optischer Agnosie
fehlen, während vor allem der Lichtsinn geschädigt ist; doch ist dies
für die Lehre von der Seelenblindheit wichtiger, als für den Vergleich
mit der optischen Allästhesie, mit dem wir uns hier beschäftigen.
Dagegen sind die Erscheinungen des Schwarz-weiB-Flimmerns
nach der Schilderung, die von ihnen gegeben wird, mit dem
Flimmerskotom der Aura eines hemikranischen oder epileptischen
Anfalls vollkommen übereinstimmend; sie zeigen auch ganz ähnliche
Varietäten. Sie unterscheiden sich von ihm nur durch ihre Dauer
und durch ihre Entstehungsbedingungen.
In manchen Fällen von Sehsphärenverletzung wird relativ lange
ein grauer Nebel gesehen, der noch keine Flimmererscheinungen be-
dingt; diese kommen erst in späteren Stadien: am längsten beharrt die
flimmernde Verdunklung dann, wenn Objekte bei Tageslicht in der
Fixation behalten werden sollen. Es besteht dabei in einer Anzahl
von Fällen eine Beeinträchtigung der Dunkeladaptation, die aber
meist rasch vergeht, während die Störungen der Helladaptation viel
allgemeiner auftreten und viel länger dauern.
Der eine von uns (P.) hat seinerzeit darauf hingewiesen, daß der
geschilderte Hergang sich mit der gedrehten Talbot-Plateau-
schen Sehwarz-weiß-Scheibe vergleichen läßt: dem gleichmäßigen
Grau, das sie bei hoher Tourenzahl der Umdrehungen dem Beobachter
bietet, entspricht das Stadium des Nebelsehens; der flimmernden
Entmischung dieses Grau, die sich einstellt, wenn sich die Touren-
zahl verlangsamt, würde das Flimmern in den späteren Stadien der
Sehstörung entsprechen.
Die Analogie. die in diesem Vergleich liegt, kann darauf be-
ruhen, daß es zwei reziproke Zustände der Area striata gibt, deren
einer dem Dunkelzustand, deren anderer dem Zustand der Hell-
z mn e G Bat e e
— 135 —
erregung entspricht. So würde sich das, was Goethe in seiner
Farbenlehre von der Netzhaut des Auges gesagt hat, auf die Retina
des Großhirns ausdehnen lassen.
Im Zustand des gleichmäßigen Grau wären dann die beiden
reziproken Komponenten — über deren Wesenheit noch nichts aus-
gesagt ist — miteinander gleichsam vollkommen vermischt; das
Flimmern dagegen würde einer beginnenden, aber noch unvoll-
kommenen Entmischung der beiden Komponenten entsprechen.
Wenn man die Reihenfolge der Erscheinungen umkehrt, so läßt sich
dasselbe auf die visuelle Aura von Epileptikern anwenden: zuerst
eine Entmischung der Komponente, die dem Dunkelzustand ent-
spricht und nun aus dem klaren Hintergrund des Sehraums heraus-
tritt; dann folgt ihre völlige Vorherrschaft im Sehraum, die jenem
Dunkel zugeordnet ist, von dem sich manche Epileptiker vor einem
Anfall umhüllt sehen, bevor noch die Bewußtlosigkeit einsetzt.
Der Hergang in unserer Beobachtung 1 zeigt, daß die optische
Allästhesie auch in diesem Nacheinander als Vorphase auftreten
kann. So scheint es, daß die Entmischung der Dunkelkomponente und
ihre schließliche Alleinherrschaft in solchen Fällen eine Fortsetzung
und einen höheren Grad jener Alteration in sich enthält, die während
der Fata morgana als eine gesteigerte Aufnahme zentripetaler Teil-
erregungen von Nebenwegen her erschienen ist.
Man kann sich vorstellen, daß die Absorption der zentripetalen
Erregungen aus den Nebenwegen sich in den folgenden Stadien noch
weiter steigert und allgemein wird; vielleicht werden dann in weiterer
Folge die Zellsysteme, die die zentripetalen Erregungen aufzunehmen
geeignet sind, für die zentripetalen Erregungen undurchgängig. Der
ersteren Phase würde die irradiierende Helle der Auraerscheinungen
entsprechen, die so oft (vgl. unsere Beobachtungen 1 und 3) den
Untergrund für die Fata morgana gebildet hat; der letzteren Phase
die Verdunklung. Einem schwingenden Alternieren der beiden Phasen
wären die Flimmererscheinungen zuzuordnen. Der Vorgang wäre etwa
der vorübergehenden Reflexsteigerung und folgenden Schwächung der
Reflexe im Einschlafen vergleichbar.
Hier können die Erfahrungen herangezogen werden, die an den
subjektiven Phänomenen bei der elektrischen Reizung der Sehrinde
am Menschen gewonnen worden sind. (Zuerst von Fedor Krause,
dann von O. Försteru.a.) Die elektrische Reizung der Area striata
hat erstens das Vorhandensein distinkter Reizpunkte ergeben,
ähnlich wie in der hinteren Zentralwindung (Fedor Krause). Die
subjektiven Reizerscheinungen bestanden dabei in einem Flimmern,
— 136 —
das sich in seiner Erscheinungsweise den hier besprochenen klini-
schen Symptomen sehr annähert. |
O. Förster (zit. nach Henschen) berichtet, daß elektrische
Reizung der Kalkarinarinde einfache Lichterscheinungen hervorrufe,
die Reizung der AuBenfliche des Okzipitallappens ebenfalls Licht-
erscheinungen, außer ihnen aber auch „alle möglichen polymorphen
Photome, wie Nebel, Rauch, fließendes Wasser, Schattenfiguren usw.
Sicher kommen durch einfachen Reiz der Konvexitätsrinde auch
optische Halluzinationen zustande. und zwar sogar polymorphere
als bei Kalkarinareizung‘“.
Henschen ist geneigt, diesen Tatbestand im Sinne seiner An-
schauung zu verwerten, daB Störungen der lateralen Rinde besondere
Beziehungen nicht nur mit der Lokalisation, sondern auch mit der
Bildung von Gesichtshalluzinationen in einem besonderen Zu-
sammenhang stehen. Wir hatten uns schon im vorigen (S. 27) diesen
Anschauungen auf Grund unserer hier referierten Befunde zu einem
großen Teil anschließen müssen; wir möchten aber diese Effekte der
elektrischen Reizung nicht bloß von diesem Standpunkt aus ver-
werten, sondern auch ihre Ähnlichkeit mit der Fata morgana als
Vorphase einer Aura und mit den experimentellen Halluzinationen
unserer Beobachtung 3 hervorheben. So erscheint uns der Unterschied
zwischen dem Reizeffekt der Außenfläche und der Mediane des Okzi-
pitallappens auch als eine Art von Verzögerungssymptom; im
ersten Fall (Außenfläche) entwickelt sich vielleicht ein analoger Zu-
stand der Area striata mehr allmählich, als bei ihrer direkten elektri-
schen Reizung; es können sich daher Zwischenphänomene ausbilden,
von der Art, wie auch die Fata morgana eines ist.
So sind die subjektiven Erscheinungen bei elektrischer Reizung
der Sehrinde geeignet, über die Phasen der blendenden Helle, der
Lichtfunken usw. Auskunft zu geben, die bei der Aura und im
Flimmerstadium der hier herangezogenen allgemeinen Sehstörung
Haupterscheinungen sind. Die Vorstellung, die wir schon früher
(S. 125) geäußert haben, läßt sich angesichts dieser Übereinstimmung
aufrecht erhalten: Daß diesen Lichterscheinungen eine auf den sonst
verschlossenen Nebenwegen der Erregung (diskontinuierlich oder
mehr kontinuierlich) vor sieh gehende Irradiation der zentri-
petalen optischen Erregungen entspricht. Bei reinen Versuchen dieser
Art werden Änderungen der optischen Erregung in der Umwelt
zu vermeiden oder besonders zu registrieren sein; werden sie ver-
mieden. so kann man von einer statischen Erregung der Area
striata von der Außenwelt her sprechen: die elektrische Reizung der
Rinde hat aber Erscheinungen zur Folge, wie sie sonst einer dyna-
mischen Erregung entsprechen; wird ein solcher Versuch bei
AugenschluB ausgeführt, so nähert sich seine Anordnung Verhält-
nissen, bei denen man annehmen kann, daß Residuen der vorher-
gegangenen optischen Erregungen aus der Außenwelt hier dynamisch
wirksam werden, während sie sonst von einer solchen Wirksamkeit
mehr oder weniger abgesperrt sind. Dann gleicht der Effekt des Ver-
suchs mit Reizung der Außenfläche ziemlich weitgehend dem Zustand
des Gesichtsfeldes der geschlossenen Augen vor dem Einschlafen
(Purkinje, Wundt); auch den experimentellen Ergebnissen
unserer Beobachtung 3 würde ein solcher Versuch in mancher Be-
ziehung ähnlich sein: es ließe sich diese Ähnlichkeit auch noch
mannigfach näher prüfen.
Weniger aufklärend scheinen uns die elektrischen Reiz-
erscheinungen für die Dunkelphasen des Flimmerskotons usw. zu sein.
Es wäre denn, daß man sich damit begnügt, diese auf Kontrast-
phänomene zurückzuführen, die zwischen den Helligkeitsphasen ent-
stehen (zwischen ihnen in der Zeit, neben ihnen im Raume). An
ein schwingendes Ansteigen der Zustandsiinderung, die der elektrische
Reiz auslöst. ist auf jeden Fall zu denken; die Erscheinung würde
dann bis zu einem gewissen Grad vergleichbar sein mit schwingenden
elektrischen Funken und den hellen und dunklen Bändern in ihrem
schwingenden Verlauf.
Es liegt nahe, ein Dunkelflimmern durch die Abkühlung
derselben okzipitalen Rindenpartien provozieren zu wollen, also durch
den Versuch von Trendelenburg, den Bäräny zuerst auf die
menschliche Hirnpathologie angewendet hat. Einige eigene Versuche,
die der eine von uns (P.) unter geeigneten Bedingungen anstellen
konnte, ergaben kein eindeutiges Resultat; vor allem fehlt uns noch
eine Beobachtung über Effekte von der okzipitalen Mediane aus. Doch
schien es, als ob (bei Schädeldefekten) durch Abkühlımg der okzipi-
talen Konvexität zuweilen (nicht konstant) tatsächlich Dunkel-
flimmern ausgelöst worden sei.
Es ist zu berücksichtigen. daß die elektrische Reizung der
Kalkarinarinde in einem noch höheren Grade physiologisch in-
adäquate Ergebnisse bringen muß. als es bei der Reizung der
motorischen Region der Fall ist: denn bei der letzteren ist. der Effekt
wenigstens gleichgerichtet den physiologisch innervierenden
Eigenleistungen der Region: bei elektrischer Reizung der sensorisehen
Rinde trifft dies höchstens für einen Teil der zentrifugalen Effekte zu.
nicht aber für die Wirkung auf die Bilanz der zentripetalen Er-
Herrmann-Pétzl, Optische Allästhesie (Abhadl. H. 47). 10
— 138 —
regungen. Dasselbe zeigt sich auch im sensorischen Effekt elektrischer
Reizung der hinteren Zentralwindung, bei der (v. Valkenburg)
scharf lokalisierte Parästhesien auftreten, deren Wahrnehmungsinhalt
sich ungefähr mit den Parästhesien deckt, die der Gesunde hat, wenn
man auf einen Nervenstamm drückt. Mit den letzteren Sensationen
lassen sich die optischen Wirkungen einer elektrischen Reizung der
Sehrinde offenbar eher vergleichen, als mit der Änderung, die durch
die frische Wirkung eines Sehdings unter physiologischen Verhält-
nissen auftritt. Uns interessiert aber vor allem, daß subjektiv
flimmernde oder irradiierende Helliekeitsreize, objektiv aber (unter
Umständen, die aus Tierversuchen besser bekannt sind als am
Menschen) Augenbewegungen durch elektrische Reizung der
okzipitalen Regionen zu erhalten sind.
C. und O. Vogt haben in Gemeinschaft mit Bárány an
Makakus Ergebnisse erhalten. die nach myelo-architektonisch einheit-
lichen Regionen zu ordnen versucht worden sind. Wir können auf
eine Besprechung der Einzelheiten dieser Versuche hier nicht eingehen
und betonen nur, daß sich (auch nach den älteren Ergebnissen von
Sherrington und Greenbaum) bisher von der okzipitalen
Mediane aus anscheinend weit eher Augenbewegungen nach oben und
nach unten erzielen ließen, von der Außenfläche aus eher die kontra-
laterale Deviation. Es scheint uns dies mit jener Verteilung überein-
zustimmen, die (sowohl nach dem Befund unserer Beobachtung 4, wie
nach unseren Erfahrungen an der Agraphie bei parieto-okzipitalen
Herden) anscheinend auch für die Wirksamkeit der okzipitalen
Richtungszentren beim Menschen gilt. Im übrigen aber erscheint. uns
vor allem als bemerkenswert, daB in den Reizversuchen eine gewisse
Zuordnung von flimmernden Lichterscheinungen und enthemmten
Augenbewegungen sich zu finden scheint (vgl. dazu auch die Experi-
mente von H. Berger an Hunden).
Das letztere erinnert an die Verhältnisse zwischen enthemmter
gerichteter zentrifugaler Erregung und subjektiven Sehstörungen in
unseren Fällen von Metamorphopsie. Es kann als weiterer Sonderfall
eines Prinzips aufgefaßt werden. nach dem ein Irradiieren der zentri-
petalen optischen Erregungen auf Nebenwege und eine Enthemmung
sonst zurückgehaltener okulomotorischer Erregungen miteinander
vielfach zusammenhängen.
Wir glauben, daß es der allgemeinen Anschauung entspricht.
wenn wir behaupten, daß beim elektrischen Reizversuch zentrifugale
Erregungen auf dem Wege über die Axonen aller von der Reizung
beeinflußten Zellen (also vor allem der. Pyramidenzellen, aber auch
— 139 —
der Sternzellen, Körner usw.) entströmen. Soweit sie auf ihren
Wegen muskuläre Erfolgsorgane erreichen, werden sie Bewegungs-
effekte zur Folge haben; soweit sie dem Weg jener Ablenkung nach
der Rinde hin folgen, die wir im vorigen beachtet haben, werden sie
in der Rinde selbst erregende Wirkungen nach sich ziehen, vielleicht
z. T. auf Nebenwegen. die physiologisch gesperrt. sind. Hier liegt
uns — wie früher — die Vorstellung nahe, daß der Verschluß dieser
Nebenwege physiologisch zustande kommt durch eine gegen-
seitige Bindung der entsprechenden sensorischen und motori-
schen Teilkomponenten des gesamten Erregungszustands; sie halten
sich gegenseitig gebunden und machen einander dadurch unwirksam;
dieser statischen Wirkung würde die Hintergrundbildung
im Sehraum entsprechen, den physiologischen Schwankungen
dieser Bindungsphänomene aber Abstufungen des Kontrasts und der
physiologische Grad der Irradiation. Die Vorgänge bei der elektri-
schen Reizung lassen sich — ähnlich wie die Vorgänge während des
epileptischen Anfalls —— als eine Entmischung dieser Erregungs-
fraktionen aus ihrer gegenseitigen Bindung betrachten. So gewinnt
die Entmischung des zentralen Hintergrundes der Erregungsverteilung
eine gewisse Ähnlichkeit mit einer dielektrischen Polari-
sation, wie sie im Hintergrund des physikalischen Weltbildes, im
Äther vor sich geht, wenn ihn elektrische Wellen durchziehen; man
kann in einem gewissen Sinne die Träger jener Erregungen, die sich
in der Norm gegenseitig gebunden halten, als einen Äther in den
Räumen der zentralen Erregungsverteilung bezeichnen.
Es ist nur eine Hypothese, wenn wir meinen, daß die Ent-
mischung der sonst gebundenen zentrifugalen Erregungen
innerhalb des Rindengebiets mit dem Dunkelflimmern, die
Entmischung der irradiierenden zentripetalen Erregung
aber mit dem Hellflimmern, mit den subjektiven Licht-
erscheinungen zusammengeordnet werden kann. Begründet
haben wir unsere Ansicht schon seinerzeit durch den schwarzen
schattenhaften Charakter der Skotome und der letzten huschenden
Halluzinationen der Serien in unserer Beobachtung 3; wir glaubten
darin ein Überwiegen von zentrifugalen Reizwirkungen zu sehen,
die nach der Natur der vorliegenden Herdverhältnisse zu erwarten
war; wir glauben aber auch, daB die Beschreibung, die O. Förster
vom Effekt elektrischer Reizungen der Außenfläche des Okzipitalhirns
gibt, eine weitere Stütze unserer Ansicht enthält, da in den poly-
morphen Skotomen, die er angibt, Nebel,Rauch und Schatten-
figuren besonders hervorgehoben werden. Wir bringen dies in
10*
— 140 —
Parallele damif, daß bei unserer Beobachtung 3 die Halluzinationen
gerade an die Grenze des Halbschattens gehannt waren, den
das positive Skotom in diesen Versuchen gebildet hat. Bei der
reicheren Zahl der zentrifugalen und quer gegen die Area striata hin
gerichteten Erregungswege. die die okzipitale Konvexität enthält.
wäre gerade nach der von uns ausgesprochenen Anschauung eine
solche Differenz gegen den Rejzeffekt der Regio calearina zu er-
‚arten; es ist auch zu erwarten. daß diese Differenz nur eine quanti-
tative sein kann, weil dieses Überwiegen (vel. S. 116) nur ein quanti-
tatives ist und überdies auch, weil die Zustandsveränderung ihre
sekundären Folgen in der Regio calcarina nach sich zieht.
Wir stellen uns also vorläufig das Dunkeltlimmern und die
Schattenfiguren als bedingt. vor durch das entmischte Irradiieren von
Erregungen, die aus den Pyramidenzellen stammen. Das Hell-
flimmern und die subjektiven Lichterscheinungen aber beziehen wir
auf ein Überiluten von Erregungen, die aus dem Sternzellenapparat
enthemnit sind: wir glauben ein wellenförmiges Zusammenspiel
dieser beiden Wirkungen erwarten zu müssen, wie es das Gesamt-
bild all dieser Flimmererscheinungen verständlich macht. Die früher
erwähnte Analogie der Flimmerphänomene mit den Tourenzahlen der
rotierenden Schwarz-weiß-Scheibe läßt sich dann auf Frequenzen
dieses wellenförmigen Vorgangs zurückführen, die mit der allmäh-
lich sieh erholenden Gegenreaktion der Zentren abnehmen müssen. so
wie die Wellenbewegung nach einer StoBwirkung erst eine rasche ist
und allmählich verebbt.
Die anfängliche Dunkelphase in ihrer zerebralen Bedingtheit
kann man dann dahin deuten. daß die Erregung des Sternzellenappa-
rates noch nicht zur Auswirkung kommen Kann. sei es, daß sie dureh
die Schockwirkung und dureh die Diaschisis gänzlich darniederlieet.
sei es. daß sie von enthemmten, ungeordnet im Raum nach sehr vielen
Richtungen verteilten zentrifugalen Errerungen gänzlich übertlutet
ist, die man — nach dem alten Gleichnis Gussenbauers für die
Wirkung einer Commotio eerebri — mit ungeordneten mole-
kularen Bewegungen vergleichen kann. In jedem Falle ist
während dieser Zeit die Sehrinde faktisch für die zentripetalen opti-
schen Erregungen undurehlässig: sie bildet ein sperrendes Konti-
nuum, ob man sich nun diese Wirkung ähnlieh dem Zustand in einem
absolut schwarzen Körper der Physik vorstellt, der alle Strahlen
gleichmäßig absorbiert, ohne daß sie sein Inneres verlassen, oder ob
man sie nun mit einer dichten Wolke vergleicht. an der alles Licht
reflektiert wird.
— 141 —
In den späteren Stadien der Sehstörung, ferner bei der Aura und
im Reizversuch erscheinen aber die subjektiven Effekte als diskon-
tinuierlich. Ob und wieweit topographische Beziehungen zwi-
schen den Orten ihres Erscheinens im Sehraum und den Orten der
Reizwirkungen herstellbar sind, muß weiteren Erfahrungen vorbehal-
ten bleiben. Nur ganz im allgemeinen kann man schon gegenwärtig
sagen, daß eine gewisse Parallele besteht zwischen einer Diskon-
tinuität der Reizpunkte und einer Diskontinuität der zugeordneten
subjektiven Erscheinungen. Wenn wir diese Parallele auf ihren mor-
phologischen Gehalt prüfen, so kann dies nur mit der äußersten Vor-
sicht geschehen. Die naheliegende Annahme, daß es sich um eine
Wirkung auf getrennte Faszikel der Bahnen handelt, ist nicht ohne
weiteres stichhaltig: es ist z. B. daran zu erinnern. daß die Reizpunkte
in der vorderen Zentralwindung bekanntlich den Orten der Nester
von Betzschen Riesenpyramidenzellen nicht entsprechen. Wenn
wir überhaupt eine anschauliche Vorstellung darüber gewinnen wol-
len. inwiefern die subjektiven Diskontinuitäten mit Diskontinuitäten
in der morphologischen Gliederung der Sehrinde zusammenhängen,
so erscheint es uns relativ am einfachsten, sie mit den Aktionsradien
in Verbindung zu bringen. die durch die Verzweigungen von Spitzen-
dendriten einer Anzahl von Pyramidenzellen in der äußersten Rinden-
schicht gebildet werden; mindestens enthalten diese ein flächenhaftes
Nebeneinanderim Raume, das in der verschiedenen Art, wie
die einzelnen Aktionsradien übereinander greifen, die mannigfachst
geformten Fleckenbildungen verständlich machen würde; es läßt sich
auch so mancher morphologische Grund anführen für die Vorstellung.
daß im Reizversuch eine Wirkung wegfällt, die sonst. die so umschrie-
benen Areale Kontinualisiert.
Vorläufig aber bleiben wir bei der Betrachtung der Dynamik
jener Erscheinungen stehen, die wir hier zum Vergleich herangezogen
haben. Die Entmischung zweier gegensätzlich polarisierter Erregungs-
fraktionen. die sich sonst gebunden halten, erschien uns als Ursache
dafür, daß der klare, ein Kontinuum bildende Hintergrund des Seh-
raums sich diskontinuierlich triibt. Die Erscheinung der positiven
Skotome, die in unserer Beobachtung 3 den Hintergrund der
Halluzinationen gebiklet haben, können wir als Sonderfall in dieses
allgemeinere Geschehen einordnen, ebenso die Flimmerskotome, ob
sie nun Träger von polvopischen Halluzinationen sind oder nicht.
In den Fällen, in denen eine optische Allästhesie die Vorphase
des Flimmerskotoms bildet, entspricht dem Hergang zuerst eine ge-
richtete Eröffnung von Nebenwegen für die zentripetale Erregung.
die auf der Isolierung und durch sie bedingten Dominanz eines
Richtungsfaktors beruht; dieser bedarf nach unserer Auffassung einer
Umwandlung und Bindung zentrifugaler Erregungen, um aufrecht er-
halten zu bleiben. Enthemmen sich auch die gebundenen Erregun-
gen, die dem Richtungsfaktor der optischen Allästhesie zugeordnet
sind, so kommt es zum Dunkelflimmern, zum gewöhnlichen Skotom.
Die Art, wie sich beim Flimmerskotom der Sehraum entmischt.
erinnert in ihren vielfachen Varianten doch immer gleichmäßig an
die Bilder, die man erhält, wenn man die Präzipitation von Bakterien
oder die Fällung einer scheinbar klaren kolloiden Flüssigkeit ultra-
mikroskopisch beobachtet. Auch dies entspricht dem Bild. das wir
uns von der Entmischung zweier Erregungsfraktionen gemacht haben.
die sich physiologischerweise gegenseitig die Wage halten. Die Fäl-
lung einer kolloiden Flüssigkeit erfolgt durch elektrische Entla-
dung der schwebenden Teilchen. Ihre gleichsinnige elektrische
Ladung ist die Kraft, die die einzelnen Teilchen gegen die Schwere
schwebend enthält; wir haben schon im vorigen die Richtung der
Spitzenfortsätze der Pyramidenzellen mit dem negativen Geotropis-
mus im Pflanzenreich verglichen; hier erscheint sie als Ausdruck des
Wachstums von einer Kraftriehtung weg, die vergleichbar ist der
Wirkung der Schwerkraft auf schwebende kolloide Teilchen. Die
Bindung der zurückgehaltenen Erregungen entspricht einem Gela-
denbleiben dieser Teilchen: wie die gleichsinnig geladenen kol-
loiden Partikel sich gegenseitig abstoBen und in Schwebe halten, so
finden wir in der Sehrinde, wie in allen anderen Regionen der Groß-
hirnrinde Systeme von Pyramidenzellen. die sich nahe durchflechten
und deren Fortsätze dabei jede Berührung .zu fliehen scheinen. Es
würde naheliegen, dies mit jener Kontinuumbildung in Zusammen-
hang zu bringen, die beim Reizversuch verloren geht; die veränderte
Wirkung dieser Gruppen. das Abströmen ihrer Erregung wäre es, was
jenen subjektiven Erscheinungen entspricht. die der Fällung einer
kolloiden Flüssigkeit so sehr gleichen.
Daß dieser Vergleich gebracht werden Kann, erscheint uns leicht
verständlich. da bekanntlich Kolloidreaktionen bei der The-
orie der elektrischen Erregung eine große Rolle spielen
(vel. z. B. die Membranwirkung in der Theorie von Nernst, die
„Akkommodation“ usw.) und da, wie der eine von uns an einer Reihe
von Beispielen gezeigt hat, die statische Gegenreaktion der Zentren.
die Beseitigung überschüssiger Erregungen und falscher Erregungs-
wege, ein Vorgang ist, der von der Leitung der Erregungen grund-
— 143 —
sätzlich streng getrennt werden muß und in seiner Struktur vielfache
Analogien mit spezifischen Immunkörperreaktionen erkennen läßt.
Wir sind in unserer vergleichenden Betrachtung an einem Punkt
angelangt, in dem sich die zentralen Parallelvorgänge der heran-
gezogenen Symptome in zwei Reihen sondern lassen: die eine (z. B.
die optische Allästhesie und die gerichtete Metamorphopsie) erschien
vergleichbar einfachen physikalischen Phänomenen, die aus Änderun-
gen der Wellenbrechung und der Reflexion stehender Wellen hervor-
gehen; sie erschienen uns als Modifikation der zentripeta-
len dynamischen Erregung auf ihrem Weg durch räumlich
begrenzte Gebiete leichterer Schädigung. Die anderen (die Flimmer-
phänomene usw.) erscheinen uns aber vergleichbar einer Trübung
des Außenraums durch suspendierte Teilchen, die der normalen Ver-
breitung der Lichtwellen im Wege stehen.
Waren die ersteren Phänomene bis zu einem gewissen Grad dem
Weg der Lichtwellen in durchsichtigen brechenden Medien vergleich-
bar, so sind die letzteren Erscheinungen nur mit den trüben Me-
dien in Parallele zu bringen, also mit den Nebelerschei-
nungen.
7. Die zentralen Vorgänge
beider Wahrnehmung der Farben.
Die Trübung des Sehraums nach Schädigung der optischen
Region im Großhirn ist also bis zu einem gewissen Grade mit der
Trübung der Medien vergleichbar, in denen sich Lichtstrahlen be-
wegen. Wir wollen sehen, ob sich dieser Vergleich noch weiter fort-
führen läßt.
Bei den optischen Erscheinungen in trüben Medien handelt es
sich vor allem darum, wie sich die Größe der widerstehenden Teil-
chen zu den Wellenlängen der Lichtstrahlen verhält. Es sind hier
zwei Hauptfälle zu unterscheiden:
a) die Größe der Teilchen ist ein zwei-, drei-, vierfaches (also ein
kleines Vielfaches) der Wellenlängen. Dann sind Beugungs-
erscheinungen zu erwarten, farbige Höfe. Diffraktionsringe usw.
Soll der Vergleich auch hier anwendbar sein. so muß es subjektive
Erscheinungen bei der besprochenen Sehstörung geben. die diese
physikalischen Erscheinungen nachbilden.
Dies trifft zu, denn mit Diffraktionsringen stimmen manche glit-
zernde und farbige Skotome überein. die solche Verletzte schildern.
Erwähnenswert ist vielleicht. daß die Erscheinung der farbigen Höfe
(z. B. um Laternen usw.). wie sie z. B. bei den Glaukom-Anfällen so
I re 144 a
häufig sind, von diesen Verletzten nur höchst selten angegeben wer-
den. Flimmerskotome, die Farbenringe enthalten — gleichfalls
ein seltenes Vorkommnis — ergeben hier offenbar einen Übergang
zum gewöhnlichen Flimmerskotom; wenn die letztere uns soeben als
eine grobe Entmischung des Sehraums erschienen ist, können sie als
eine feinere Dispersion der Trübung des Sehraums betrachtet
werden. | |
b) Die Teilchen sind klein gegen die Wellenlänge des Lichts.
Dann gilt physikalisch das Tyndall-Phänomen. Es besteht bekannt-
lich darin, daß das langwellige Licht durchgelassen, das kurz-
wellige Lieht seitlich zerstreut wird (diffundiert). Die rote Winter-
sonne im Nebel ist ein bekanntes Bild für das erstere; der bläuliche
Schein der seitlich beleuchteten kolloiden Flüssigkeiten ist durch die
stärkere Diffusion bedingt, wie sie die kurzwelligen Lichtstrahlen
erleiden.
Der eine von uns (P.) hat an einer Reihe von Fällen von Hinter-
hauptsschüssen festgestellt, daß ein Stadium bestand, in dem ihnen
das Tageslicht andauernd „rot“ erschien „wie die Wintersonne im
Nebel“. An den untersuchten Verletzten war die Übereinstimmung
mit dem physikalischen Tyndallphänomen um so frappanter, als sie
auch keine Wahrnehmung für die blauen und violetten Farben hatten.
Dies gab Anlaß, das betreffende Stadium (nur dann, wenn es den
ebengenannten Bedingungen entspracht) als physiologisches
Tyndallphänomen zu bezeichnen. Auch hier ist die weitgehende
Übereinstimmung mit häufigen Formen der epileptischen Aura (Rot-
sehen vor dem Anfall) beachtenswert.
Der Vergleich zwischen den physikalischen und dem _ physiologt-
schen Tyndallphänomen ist damals genauer durchgeführt worden.
Wir greifen aus ihm das heraus, was für die Fortführung unserer ver-
gleichenden Betrachtung notwendig ist. In dieser Beziehung würde
es vor allem darauf ankommen, zu erfassen, was im physiologischen
Tyndall-Phänomen mit der physikalischen Relation (Teilchengröße
— Wellenlänge) in Parallele gebracht werden kann.
Wir haben die dynamische (zentripetal-optische) Erregung
auf ihrem Weg durch die Sehstrahlung als einen Vorgang aufgefabBt.
der Transversalwellen enthält; Träger der Elementarwelle war für
uns die einzelne Nervenfaser. Ihr Querschnitt ist es also, der —
allerdings nur bis zu einem gewissen Grade — mit der Amplitude
der Wellen in Parallele gebracht werden kann. Versucht man dies.
so wird die Wirkung einer räumlich ausgedehnteren Gruppe von Ner-
venzellen gleichsam als größer als die Wellenlänge (in allen denk-
— 145 —
baren Abstufungen) betrachtet werden können; als klein zur Wellen-
länge würden vor allem intrazellulare Wirkungen erscheinen,
Vorgänge, die an die Strukturen innerhalb einzelner Gang-
lienzellen (Tigroid, Neurofibrillen usw.) gebunden sind. So wäre das
physiologische Tyndallphänomen am ehesten auf intrazellulare Vor-
gänge zu beziehen, d. h. also auf Störungen, die innerhalb einzel-
ner rezeptorischer Zellen der Area striata zur Zeit seines Auftretens
noch bestehen. Wir kennen mit Sicherheit dreierlei Typen rezepto-
rischer Zellen im Gefüge der Area striata: die großen, die kleinen
Sternzellen und die Körner in der Schicht IVe (Ramon y Cajal).
Führen wir den physikalisch-physiologischen Vergleich so streng als
möglich durch, so werden wir eine Störung innerhalb der klein-
sten Zellen aus den besprochenen drei Typen erwarten müssen, also
eine Störung der physiologischen Leistung der Körner.
Es ist nicht zu vergessen, daß das Tyndallphänomen des Seh-
raumes sowohl vom psychologischen Standpunkt als auch vom Stand-
punkt der Physiologie betrachtet werden muß, aber in einer getrenn-
ten Weise. Im Sinne der Psychologie stellt es eine Erfüllung des
Sehraumes mit Raumfarben, der Ebenen des Sehraumes mit
Flächenfarben dar, ganz im Sinne der Einteilung der Farben-
welt, die Katz vorgenommen hat. Damit stimmt auch überein, daß
in den erwähnten Fällen bei Untersuchung im Tageslicht die Gegen-
stände dunkel erschienen sind; Raumfarbe und Flächenfarbe hat
also an ihnen noch nicht gehaftet; sie war an den Sehdingen noch
nicht verankert. Wir stellen uns vor, daß mit der Veranke-
rung der Farbe, die erst später erfolgt ist, der Raum von der Farbe
befreit worden ist, ähnlich wie das flüssige Medium einer Farben-
lösung bei der Anfärbung von Gewebe.
Sehr ausgesprochene Erscheinungen dieser Art, die im Anfang
mit einer vollen Aufhebung der Farbenwahrnehmung verbunden, aber
auch mit Seelenblindheit (Störungen durch eine Schädigung au Ber-
halb der Area striata) kompliziert waren, hat Gelb beschrieben.
Betrachtet man die subjektive Erscheinung vom physiologischen
Standpunkt aus. so erscheint sie einesteils als Verlust der lokalisie-
renden Richtungsfaktoren für Farbenwahrnehmungen, zum anderen
Teil als Sonderfall jener gesteigerten Irradiation und Verminderung
des Kontrastes, die bei der allgemeinen Sehstörung nach Hinter-
hauptschuß bis in späte Stadien hinein regelmäßig und typisch ist.
Beide Betrachtungsweisen erscheinen uns insofern als nicht voll-
ständig. als sie die Analogie unbeachtet lassen, die zwischen physika-
— 146 —
lischen Vorgängen und der subjektiven Seite dieses pathophysiologi-
schen Phänomens besteht.
Man kann es versuchen, die Analogie zu umschreiben: daß die
Veränderung, die die zentripetalen optischen Erregungen an den
rezeptorischen Zellen der Area striata erfahren, zum Teil eine rich-
tende, und zum Teil eine spaltende Wirkung in sich enthält, ist
aus unseren klinischen Ergebnissen bereits genügend verständlich
und findet seine anschauliche Parallele in der feineren Morphologie
der Dekomposition optischer Fasern in den rezeptorischen
Schichten (Ramon y Cajal). Der Verlust der richtenden Zentren-
wirkung entspricht im Tyndallphänomen dem Verlust einer räum-
lichen Verankerung der Farbe; der Spaltung entspricht offenbar ein
Umstand, der das physiologische Tyndallphänomen vor den bisher
besprochenen Symptomen besonders auszeichnet: eine Spaltung
der zentripetalen optischen Erregung inzweiAnteile, deren einer
gleichsam durchgelassen, deren anderer gleichsam seitlich zerstreut
wird. Wir können daher von zwei Fraktionen der zentripetalen
optischen Erregung sprechen, die in diesem Phänomen zum Vorschein
kommen: Einer ersten, der in der Welt der subjektiven Erscheinun-
gen die roten Wolken im Sehraum zugeordnet sind, einer zweiten.
die im Sehraum unsichthar ist, deren Latenzwirkungen aber in Fort-
führung der physikalischen Parallele mit Eindrücken des Blauen
zusammengestellt werden müssen.
Wir sprechen im folgenden — nur mit Vorbehalt und nur der
Abkürzung halber — von einer Rotkomponente und einer Blau-
komponente der zentripetalen optischen Erregung: wir meinen aber
damit nur den vorhin dargestellten Sachverhalt.
Um zu untersuchen, ob diese Kürzung erlaubt: ist, wird es not-
wendig sein, andere physiologische Vorgänge heranzuziehen, in denen
eine Spaltung stattfindet, bei der die Hell- Erregung zerfällt in An-
teile, die dem langwelligen Teil des Spektrums irgendwie zugeord-
net sind, und in Anteile, die zum kurzwelligen Teil des Spektrums
elektive Beziehungen haben; solehe Spaltungen müßten aber nicht
latent, sondern in subjektiven Erscheinungen oder in objektiven
Wirkungen gegeben sein, die einer direkten Beobachtung zugäng-
lich sind.
Bereits bei der ersten Besprechung des physiologischen Tyndall-
Phänomens hat der eine von uns (P.) das subjektive Phänomen des
farbigen Abklingens blendender Helle zum Vergleich herangezogen.
Speziell dann, wenn die rotierende Schwarz-weiß-Scheibe — mit deren
Phänomenen schon die Erscheinung des Schwarz-weiß-Flimmerns bei
— 47 —
der hier besprochenen Sehstörung verglichen worden ist stark
beleuchtet wird, erscheinen uns bekanntlich subjektiv die Phäno-
mene des farbigen Abklingens, in denen auffallend oft die erscheinen-
den blauen Farben sich von den erscheinenden roten Farben
in irgendeiner Weise sondern (Wundt). Dieser Vorgang läßt sich
mit. dem Geschehen bei der zerebralen Sehstörung gut vergleichen, da
in den hier besprochenen Stadien gewöhnliches Tageslicht überaus
häufig als blendende Helle wirkt. Der Vorgang, der hier noch
gestört ist. erscheint also als eine physiologische Unschädlichmachung
gleichsam als Absorption) überschüssiger zentripetaler Hell-
erregungen. Man kann annehmen, daß auch bei diesem physio-
logischen Vorgang jener Überschuß von Hellerregungen, dessen Wir-
kung latent gemacht werden muß, in zwei mit der Rotkompo-
nente und Blaukomponente des Tyndallphänomens übereinstimmende
Fraktionen gespalten wird; nur bleiben hier beide Fraktionen
latent. während im Tyndall-Phänomen die eine (die Blaukomponente)
bereits latent gemacht worden ist, während die andere, die Rot-
komponente, noch manifeste Wirkungen ausübt. die die Klarheit des
Sehraumes und seine Farblosigkeit stören. Nach dieser Auffassung
erscheint die Rotkomponente als Folge einer analogen Störungs-
wirkung. wie die rotierende Ablenkung im Sehfeld bei der gerichteten
Metamorphopsie; wie diese entspräche auch das Tyndallphänomen —
übereinstimmend mit dem klinischen Verlauf — einem Stadium noch
unvollkommener Rückbildung.
Wir können hinzufügen, daß seither Fr. W. Fröhlieh (in Aus-
gestaltung seiner experimentellen Ergebnisse am Kephalopoden-
Auge) in einer ganz analogen Weise dazu gekommen ist, die Erschei-
nung des farbigen Abklingens und die mit ihm verknüpfte Spaltung
der Farbenwelt in zwei Fraktionen in die physiologische Lehre vom
Farbensinn einzugliedern. Da auf ganz verschiedenen Wegen und
ganz unabhängig sich hier eine Übereinstimmung ergeben hat, darf
wohl auch darauf hingewiesen werden, daß die Sonderung dieser bei-
den Fraktionen nicht nur physikalische Parallelen, sondern auch die
großen Differenzen aller physiologischen Wirkungen in sich
enthält, die langwelliges Licht einerseits. kurzwelliges Licht anderer-
seits auf die ganze Organismenwelt ausübt. Es ist keineswegs über-
raschend. daß diese Unterschiede auch bei der Verarbeitung der zen-
tripetalen optischen Erregung im menschlichen Großhirn in irgend-
einer Weise zum Vorschein kommen.
Wir haben also das physiologische Tyndallphänomen auf eine
zentrale Absorption gewisser Errerungsbestandteile zurück-
— 148 —
geführt. die gegenüber der physiologischen Norm noch eine unvoll-
kommene ist. Der Gesamtapparat läßt von überschüssi-
gen Leistungen der Hell-Erregung noch die Rotkomponente durch;
absorbiert wird bereits die Blaukomponente. In einer späteren Phase
der Rückbildung wird auch die Rotfraktion absorbiert und der Seh-
raum klärt sich. Der physiologische Vorgang schützt davor. dab
nicht schon die Einwirkung des gewöhnlichen Tageslichts ein farbi-
ges Abklingen zur Folge hat, sondern daß sich dieses auf die Wir-
kung überschüssiger Helle von der Außenwelt her beschränkt.
Man kann an einen phylogenetischen Zusammenhang denken mit
dem Übergang der wasserlebenden Wirbeltiere zum Landleben, wei-
ter mit der Entwicklung schützender Faktoren, die den Aufenthalt
im hellen Tageslicht möglich machen im Gegensatze zum Dunkel des
Waldgrundes. Nur eine besondere Form dieses allgemeineren Vor-
ganges wäre es, wenn die an das Großhirn gebundene Sehleistung des
Menschen den Vorgang in der hier beschriebenen Weise zentriert hat.
Nach den Vergleichspunkten, die sich ergeben haben, hielten wir
es für wahrscheinlich, daß beim Menschen. vielleicht überhaupt bei
den Säugetieren, der betrachtete zentrale Vorgang an eine Leistung
der Körner gebunden ist; zunächst für die Area. striata des Menschen
dachten wir an intrazellulare Leistungen innerhalb der einzel-
nen Körner. Ihre Leistungen solien überschüssige optische zentri-
petale Erregungen spalten und die gespaltenen Anteile latent
machen. Wenn sich die Körner von der Schockwirkung einer benach-
barten Herdläsion erholen. so kann es entsprechend dem Tyndall-
phänomen vorkommen, daß die eine der beiden Fraktionen — die
Blaukomponente — schon zurückgehalten und latent gemacht wird.
die Rotkomponente noch nicht. Es ließe sich dies physiologisch z. B.
dadurch begreifen, daß — wie für die Erregung durch die kurzwelli-
gen Strahlen des Lichtes selbst — auch eine stärker affizierende Kraft
der zentralen Erregungswellen von kürzeren Amplituden angenommen
wird, die die Zellen aus ihrem Refraktärstadium schon zu erwecken
vermag. während Erregungswellen größerer Amplituden dies noch
nicht Können. So betrachtet, würde die betrachtete Leistung der Kör-
ner aufeefaBt werden als eine Zerlegung von Wellenwirkungen der
dynamischen Erregung nach der Größe von Amplituden dieser
Wellen.
Auch wenn man diese Anschauung hat, ist man nicht gezwun-
gen, zwei differente Gruppen von Körnern anzunehmen, deren eine
die Absorption der Rotkomponente, deren andere die Absorption der
Blaukomponente aus der überschüssigen zentripetalen Erregung he-
en
— 149 —
sorgt. Eine solche Auffassung ist möglich, vielleicht sogar wahr-
scheinlich, aber aus dem Bestehen des physiologischen Tyndall-
phänomens allein folgt sie nicht.
Daß es nicht in allen Fällen während der Rückbildung der zere-
bralen Sehstörung zur Tyndaliphase kommt, sondern nur in einer
gewissen (übrigens nicht geringen) Anzahl, erklärt sich wieder —
wie bei der optischen Allästbesie als Vorphase der Aura — durch ein
verschiedenes ZeitmaB, so daß in dem einen Fall eine bestimmte
Zwischenphase verlängert und deutlich ist, in einem andern Fall
aber klinisch nicht nachweisbar.
Wir meinen indessen, daß sich die Rolle der Körner auch folgen-
dermaßen auffassen läßt: Die physikalische Analogie des Tyndall-
phänomens bestand darin. daß trübende Teilchen, die einen Raum
erfüllen, das kurzwellige Licht mehr seitlich zerstreuen als das lang-
wellige. So erscheinen uns die einzelnen Körnerzellen der IVe in
jenem Stadium unvollkommener Rückbildung, wie wenn sie — jede
für sich — erfüllt wären von solchen störenden Teilchen, die noch für
die zentripetale optische Erregung undurehlässig sind. Wir
nehmen an, daß sie auch für die Rotkomponenten un-
durchlässig sind, daß aber diese auf Nebenwegen zu den
anderen rezipierenden Elementen (den großen und kleinen Stern-
zellen, vielleicht auch nur zu bestimmten Sternzellen) hin abge-
lenkt ist und daß somit eine ganz ähnliche Störung vorliegt. wie
für die zentripetale sensible Erregung im Versuch von Dusser de
Barenne und für die vertauschten richtenden Kräfte bei der opti-
schen Allästhesie. Mit einer solehen Annahme stimmt die Art, wie
sich die zentripetalen optischen Fasern dekomponieren (Ramon y
Cajal) vollkommen überein: denn eine große Anzahl ihrer Endi-
gungen umbiillen die Körner, eine andere Anzahl umhüllt die
Sternzellen derselben Schicht. Cajal selbst folgert daraus, daß
„die Körner einen Nebenweg hinzuzufügen haben zu dem, was die
größeren Sternzellen direkt erhalten“. Dies läßt sich mit unserer
Anschauung vereinen durch die Annahme. daß die zahlreichen
Nebenwege durch die Körner hindurch im Falle des Tyndallphäno-
mens noch verschlossen sind: die zentripetale Erregung ist noch
sröber dispers; die spätere Eröffnung dieser Nebenwege be-
wirkt ihre feinere Dispersion.
Wir kommen damit zu einer gewissen Sonderung: die irradi-
ierende Helle. die wir früher betrachtet haben. scheint uns einer
funktionellen Isolierung des Sternzellenapparates zu
entsprechen, die gewissermaßen mit zentripetalen Errezungen über-
— 150 —
laden sind. Ist die Blockade der Körner aufgehoben, so reinigen sich
diese Wege von dem störenden Überschuß; an die Stelle der Irra-
diation tritt der Kontrast; es erfolgt durch die Tätigkeit der Körner
eine latente Verarbeitung der aufgenommenen Erregungen, die
offenkundige Beziehungen enthält zu einer farbigen Disper-
sion.
Wir stellen uns vor. daß diese latente Wirkung nicht verloren
geht, sondern daß sie wieder zum Vorschein Kommt in der Abstim-
mung gewisser zentraler Zellgruppen auf dieselben Frequenzen, die
durch die physiologische Tätigkeit der Körner voneinander geson-
dert. worden sind. Ob die Körner selbst oder noch andere Zellen hier
zusammenwirken, ob etwa die Körner der IVe nur als Zwischen-
glieder wirken, geht aus der Betrachtung des physiologischen
Tyndallphänomens allein nicht hervor. Einiges weitere darüber läßt
sich erschließen, wenn man die zentralen Störungen des Farbensinns.
sowie die agnostischen Farbenstörungen heranzieht.
Dies ist anderwärts ausführlicher (P) dargestellt worden. Wir
können hier darauf nur soweit eingehen, als die morphologisch-
physiologischen Parallelen von Aufbau und Leistung der Area striata
in Betracht kommen.
Spezielle „Farbenzentren‘“ in der Area striata hat zuerst Wil-
brand angenommen; von Wilbrand stammt auch die bekannte
Anschauung, daß diese spezifischen Zentren mehr oberflächlich ge-
lagert seien, als die Zentren für Raumsinn und Lichtsinn; diese An-
schauung wird auch noch von Lenz diskutiert, dem wir die ersten
lückenlos untersuchten Fälle von doppelseitiger Farbenhemianopsie
verdanken. Lenz verhält sich skeptisch, ohne die Wilbrandsche
Hypothese indessen definitiv abzulehnen.
Die Ansicht, daß die Körner der IV ce mit spezifischen zentralen
Leistungen für den Farbensinn betraut sind, hat Bäräny geäußert:
„Weiters wäre anzunehmen, daß innerhalb des unokulären
Feldes“ (nach Bäränys Hypothese die IV ¢) „die verschiedenen
Farben (die 6 Grundfarben nach Hering) nicht nebeneinander, son-
dern übereinander gelagert sind, so daß auch die verschiedenen Far-
ben zusammenhängende Gesichtsfelder bilden“. Wir sind auf Grund
einer Analyse des Tyndallphänomens, die der eine von uns — lange
vor Bäränys Hypothese — gegeben hat, zu der Auffassung ge-
kommen, daß die Körner der IVe an einer vorbereitenden
Tätigkeit spezifisch beteiligt sind. die eine erste latente Grundlage
weiterer zentraler, mit dem Farbensinn paralleler Leistungen bildet.
So ist die von Bäräny geäußerte Hypothese eine der Möglich-
— 151 —
keiten, die sich aus dem hier referierten Zusammenhang ergibt, aber
keineswegs die einzige; sie wird vor allem an den experimentellen
und klinischen Befunden zentral bedingter Farbenstörungen kritisch
untersucht werden müssen.
Wilbrand hat bekanntlich eine Hypothese aufgestellt, die ge-
eignet ist, alle durch Läsionen der zentripetalen Erregungsleitung
bedingten Schädigungen des Farbensinns einheitlich zu erklären, ob
nun der Sitz der Erkrankung im Sehnerven selbst oder weiter zentral-
wärts liegt. Er nimmt an, daß jede derartige Farbensinnstörung be-
dingt ist durch eine Vermehrung der physiologischen Leitungswider-
stände auf ein pathologisches Ausmaß. Die Ergebnisse, die uns die
Analyse des Tyndallphänomens gebracht. hat, sind in einem gewissen
Sinn nur eine besondere Ausgestaltung dieser allgemeinen Wil-
brandschen Hypothese. Denn als widerstehende Teilchen
haben sich ja Strukturen innerhalb der Körner der IVe auffassen las-
sen. deren Widerstand gegen die zentripetale Erregung während des
Rückbildungsvorgangs verringert wird. Der Begriff eines Lei-
tungswiderstandes, den die Hypothese Wilbrands enthält, bedarf
selbstverständlich einer Interpretation, die sich mit den Bedingungen
deckt, wie sie im Organismus gegeben sind. Jedenfalls darf man
sich diesen Leitungswiderstand nicht vorstellen, wie den Widerstand
in einem Metalldraht, der von einem konstanten Strom durch-
flossen wird.
Die Wilbrandsche Hypothese hatte bereits die Endigungen
der optischen Fasern in der Area striata besonders in Betracht ge-
zogen: Die Vermehrung des Widerstandes werde sich dann am mei-
sten bemerkbar machen, wenn der Weg, den die Erregung zu durch-
laufen hat, ein besonders langer ist; schon dies enthalte einen
Grund, den Ort der Farbenperzeption in der Kalkarinarinde an die
entfernteste, d. h. oberflächlichste Schicht zu verlegen, in der noch
optische Fasern sich dekomponieren. _
Wilbrand hat an dem ihm vorliegenden klinischen Material
seine Hypothese geprüft; er konnte aus diesen (spärlichen, teils nur
klinisch, teils makroskopisch-anatomisch untersuchten) Fällen nur
einen gut gesicherten Schluß ziehen: daß manche dieser Fälle durch
eine partielle Unterbrechung (Lichtung) der Sehstrahlung in
ihrem Verlauf durch das okzipitale Mark zu erklären sind. Die
Lichtung der Sehstrahlung entspricht dann nach Wilbrand
einem vermehrten Leitungswiderstand im befallenen Gebiet; nach
der Modifikation der Wilbrandschen Hypothese, die wir hier
geben, handelt es sich dabei um den Verlust eines physiolo-
— 152 —
gischen Überschusses von zentripetalen optischen
Erregungen (auch von statischen Wirkungen der Erregung).
Physiologisch werde dieser Überschuß durch einen besonderen zen-
tralen Mechanismus abgespalten und zur Abstimmung besonderer
Zellgruppen verwendet, die bei der Farbenperzeption eine mehr un-
mittelbare Rolle spielen. Die letzteren entsprechen den von Wil-
brand in weiterer Ausgestaltung seiner Hypothese angenommenen
„Farbenzentren“, die er in die oberflächlicheren Schichten der Regio
calcarina verlegt.
Jener Teil der Annahme Wilbrands, der sich auf die Ent-
stehungsmöglichkeit von (einseitigen oder doppelseitigen) Farben-
hemianopsien durch Liehtungen der zentripetalen optischen
Systeme befaßt, ist seither von Lenz durch die lückenlose klinische
und anatomische Untersuchung zweier eigener Fälle gesichert wor-
den. Kontrovers blieb noch ein Punkt. der für die hier vorgenom-
mene vergleichende Betrachtung relativ nebensächlich ist: die Frage.
ob derartige Farbenhemianopsien ganz ohne gleichzeitige Schädi-
gung des Raumsinnes bestanden haben oder ob eine relativ gering-
fügige Schädigung des Raumsinns gleichzeitig vorhanden war
(Lenz). Auch für die Frage der zentralen farbenperzipierenden
Zellen haben die Befunde von Lenz wichtige Hinweise enthalten.
wenn auch die Frage (nach Ansicht des Autors) durch diese Befunde
noch nicht endgültig entschieden werden konnte.
Der erste Fall von Lenz läßt sich hier eher heranziehen als der
zweite, dessen Befund ein nicht leicht zu deutendes Multiplum kleiner
Rindenherde als Komplikation enthält. Im ersten Fall von Lenz
aber hatte die Area striata auf eine (ein Jahr wirksame) doppel-
seitige schwere Schädieung der ventralsten Sehstrahlungesbündel.
deutlich reagiert.
Die Rindenveränderungen bestanden in geringen, aber ausge-
sprochenen Lichtungen in der Lamina fusiformis (VIb), vor allem
aber in einer Lichtung der Zellagen, Verkleinerung der Zellen und
Spärlichkeit der größeren Elemente in den oberflächlichen
Schichten der Area striata (lamina granularis externa II, lamina
pyramidalis HI, lamina granularis interna superior IVa). Auf ge-
wisse regionäre Differenzen dieser Veränderungen können wir hier
nicht eingehen, trotzdem sie für einen anderen Zusammenhang wich-
tig zu sein scheinen.
Lenz stellt dureh sorgfältige Untersuchungen fest, daß nur die
Veränderungen der oberflächlichen Schichten von direkten
Herdwirkungen unabhängig sind und eine Verteilungsweise zeigen.
— 153 —
die sie mit den Abstufungen der Farbenhemianopsie im Gesichtsfeld
als streng parallelgehend erscheinen läßt. „Tatsache ist jedenfalls
eine Mitbeteiligung der Rinde, ohne daß eine direkte Zerstörung der-
selben stattgefunden hatte“. Lenz kommt so zu der Ansicht, daß
diese Veränderungen der oberflächlichen Rinden-Schichten einer In-
aktivitätsatrophie entsprechen. „Wenn dieselben bei der
Farbenhemianopsie schon so frühzeitig nachweisbar sind, so mag
dies z. T. damit zusammenhängen, daß die anatomische Läsion der
Leitung unweit der Sehsphäre gelegen ist“. Lenz verweist auf die
Übereinstimmung dieser Rindenveränderungen mit denjenigen, die er
selbst an Tieren erhoben hatte, die im farbigen Licht aufgezogen wor-
den waren.
Lenz betont. daß auf diese Weise ein völliger Verlust der Far-
henempfindung bei völligem Intaktsein des Raumsinns morphologisch
verständlich wäre, aber nur höchst selten sein könnte. Auch kommt
Lenz zu der Annahme einer Art von Schiehtung, in der die Wider-
stände der optischen Leitung bei Farbenstörungen innerhalb der Area
striata selbst verteilt sind. Er erklärt die gefundene Inaktivitäts-
atrophie dadurch. „daß die optische Leitung durch einen gewissen
Zeitraum hindureh infolge des Krankheitsprozesses mit einer erheb-
lichen Vermehrung der Widerstände zu kämpfen hatte’ und daß des-
halb „die optischen Eindrücke während dieser Zeit nieht bis an das
distalste Ende des Systems, dem die höchste Funktion, nämlich die
Farbenperzeption zukommt. gelangen konnten.“
„Tritt in einer gewissen Zeit nicht eine Restitution der optischen
Leitung ein. so verfallen die distalsten Elemente in der Reihenfolge
ihrer Wertigkeit und Entfernung vom Auge, also zuerst diejenige
für die Grünempfindung einer Inaktivitätsatrophie“. Dem
letzteren Satz von Lenz entsprieht klinisch der Befund, daß in ge-
wissen Bezirken des Gesichtsfeldes die Grünempfindung mehr ge-
schädigt war, als andere Farbenqualitäten. Wie man sicht, stimmt
dieser Satz mit der zitierten Hypothese von Wilbrand weitgehend
überein; Wilbrand sowohl wie Lenz nehmen also eine Art von
Schichtung der Leitungswiderstände bei der z. Farben-
störung an. Barany hat diese Annahme übernommen, sie aber
hypothetisch auf Sehichtungen der Zellen in der 1V ce bezogen. auf
die nichts aus den bisherigen Befunden bei zerebralen Farben-
hemianopsien hinweist. Wir selbst halten entsprechend der Analyse
des Tyndallphänomens diese Annahme von Bárány zwar für eine
der sich ergebenden Möglichkeiten. aber keineswegs für die einzige
(N. 151). Wir haben bereits im früheren eine zweite Möglichkeit an-
Herrmann-Pötzl,. Optische Allästhesie (Abhdl. H. 47). 11
— 154 —
geführt: Daß die Leistung der Körner, die überschüssige Hellerregun-
gen latent macht und dabei in eine Rotkomponente und eine Blau-
komponente spaltet, nicht verloren geht, sondern daß sie in einer
spezifischen Abstimmung gewisser zentralerer Zelleruppen wieder
zum Vorschein kommt. Dann erscheinen die Körner eher als Zwi-
schenglieder bei den zentralen Vorgängen, die mit der Farbenwahr-
nehmung parallel gehen. Die Latenzwirkung, die ihnen zugeordnet
ist, muß durch Hinzutritt eines zweiten zentralen Faktors erst
aktiviert werden, wie etwa ein hämolytischer Vorgang durch
Komplementzusatz.
Entsprechend dem Befund von Lenz liegt es uns nahe, als be-
sondere Überträger eines derartigen aktivierenden Vorganges die grö-
Beren (und kleineren) Pyramidenzellen der oberflächlichen Schichten
zu betrachten; sie sind offenbar eine nur scheinbar gleichmäßige
Mannigfaltigkeit, innerhalb deren spezifische Gruppierungen be-
stehen, die morphologisch nicht (oder wenigstens bisher nicht) faB-
bar sind. Wenn die Struktur der Immunkörperreaktionen, mit der
diese Anordnung vergleichbar ist, eine tiefere Ähnlichkeit enthält. so
liegt diese besonders in dem Umstand, daß man die angenommene
Wechselwirkung zwischen oberflächlichen Elementen und Körnern
der IV c als eine gegenseitige Bindung und Absättigung zweier ein-
ander auslöschender komplementärer Erregungsfraktionen auf-
fassen kann, die die Komponenten des Tyndallphänomens absättigen.
wie ein Antitoxin das Toxin im Reagenzglas (Ehrlich). Der Rot-
komponente des Tyndallphänomens entspricht vielleicht jene beson-
ders empfindliche Leistung, die zur Grünempfindung nahe Beziehun-
een hat, reziprok; vielleicht findet auch die Blaukomponente die
veforderte komplementäre Wirkung usw. Man kann sich das Inein-
andergreifen der beiden Apparate nach dem Typus einer reziproken
Innervation vorstellen; in diesem Falle kommt man zu einer Auffas-
sung der zentralen Vorgänge bei der Farbenperzeption, die der
Heringschen Theorie entspricht; man ist aber nicht genötigt. im
Sinne von Bäräny Schichten der IVe direkt auf geschichtete
Strukturen zu beziehen, die der Hintergrund des Wahrnehmungs-
aktes enthält.
Eine Übertragung der Wirkungen beider Systeme aufeinander
könnte z. B. durch jene Sternzellen der IV e gesehehen, die Ramon
yv Cajal) aufsteigende Axonen haben und mit den Veräste-
lungen dieser Axone bis in die zweite Schieht reichen. So deutet
sich vielleicht auch hier ein besonderer Gesamtapparat an, der in
einen kleineren Rahmen gefaßt erscheint, als der Gesamtapparat des
— 155 —
optischen Raumsinns und ebenfalls der Regio calcarina angehört,
aber — entsprechend der Wilbrandschen Hypothese — oberfläch-
licher gelegen ist als der erstere. Wir hatten im früheren (vgl. S. 141)
die Vermutung geäußert, daß die flächenhafte Gliederung des
räumlich abstimmenden Apparates in den Aktionsradien von
Spitzendendriten der Pyramidenzellen gegeben sei; wir kommen nun
zu einer besonderen Ausgestaltung dieser Vermutung: die Spitzenden-
driten der Pyramidenzellen der tieferen Schichten (Mey-
nertschen Solitärzellen usw.), die bis in die Molekularschicht. hinauf
reichen, sind geeignet (in Übereinstimmung mit den früheren An-
schauungen von Wilbrand und von Lenz) unsere Voraussetzung
morphologisch zu veranschaulichen. Daß der zentrale Raumapparat
und der Apparat der Farbenperzeption teilweise ähnlich gebaut ist.
hängt nach unserer Auffassung u. a. damit zusammen, daß er die
Farben auch räumlich zu verankern hat, daß er also (im Sinne von
Katz) Raumfarben und Flächenfarben in Obertlächenfarben ver-
wandelt, wenn dies die Eindrücke der Außenwelt fordern.
-Fast alle gegenwärtig herrschenden Theorien des Farbensinns
(Johannes v. Kries, Georg Elias Müller u. a.) beschränken sich
nicht auf eine einseitige Auswertung der Heringschen Lehre; sie
vereinigen diese mit der Young-Helmholtzschen Dreikompo-
nententheorie der Farben. Wir neigen der Anschauung zu, daß auch
die zerebralen Vorgänge bei der Farbenwahrnehmung Verhält-
nisse enthalten, die der Dreikomponententheorie entsprechen. Die
nächstliegende Ansicht (vgl. dazu die Anschauungen von v. Kries)
ist die Erneuerung der alten Dreifaserntheorie, also der An-
nahme. daß unter den zentralen optischen Fasern bestimmte Elemente
auf Rot am stärksten abgestimmt sind, weniger abgestimmt auf die
anderen beiden Hauptfarben usw. Lenz hält die Frage nach der
Existenz solcher Fasern noch nicht für völlig entschieden; die bis-
herigen Befunde ergeben ihm aber auch keine positiven Anhalts-
punkte für die Existenz und eine besondere Lagerung etwaiger im
Sinne der Dreikomponententheorie elektiv abgestimmter optischer
Fasern.
Wir möchten auf eine Analogie aufmerksam machen, die gerade
im Zusammenhang unserer Befunde sich aufdrängt: An sich enthält
die Hypothese der Dreifasertheorie keine andere Annahme, als sie
Anschauungen über die Leitung der Sensibilität in den Seitensträn-
gen enthalten, die gegenwärtig verbreitet sind.
Der Tatbestand, daß beim Brown-Séquardschen Sympto-
menkomplex zuweilen isolierte Aufhebung der Kälteempfindung bei
11*
erhaltenem Wärmegefühl vorkommt (vgl. dazu Oskar Fischer).
wird vielfach durch die Annahme einer Existenz getrennter „Wärme-
fasern“ und .„Kältefasern“ erklärt. Man wird darin nur einen ab-
eckürzten Ausdruck suchen für eine Auffassung. die auch die unsere
ist: daß solche Fasern nicht an sich eine spezifische Art der Er-
regungsleitung haben, sondern daß ihre spezifische Abstimmung von
den Zellen stammt, aus deren Axonen die betreffenden Leitungs-
bahnen hervorgehen. Falls dies so ist, verhalten sich die Zellen, die
ihren Axonen eine Abstimmung auf Kälte oder auf Wärme erteilen.
analog, wie die (ebenfalls im Hinterhorn gelagerten) Richtuneszellen.
die im Verusch Dusser de Barennes die Erregung nach rechts
oder nach links polarisieren. Man sieht. welehe Ähnlichkeit in diesem
Hauptpunkt besteht zwischen den zentralen Gruppen in den Hinter-
hörnern des Rückenmarks und den zentralen Gruppen in der Area
striata: In beiden Fällen sind Systeme von Riehtungszellen und
Systeme von Zellen, die eine dem Gesetz der spezifischen
Energie der Sinnesnerven entsprechende Abstimmung
erteilen. durcheinander gestellt. ohne daß die Morphologie sie zu ge-
sonderten Einheiten und Gruppen ordnen oder gar mit einer grok
sichtbaren Gruppierung gleiehsetzen Kann. Diese Analogie unter-
stützt die Anschanungen keineswegs, die bestimmte Leistungen be-
stimmten Rindenschichten elektiv zuordnen will. Dagegen lassen
sich die Veränderungen. die alle derartige Zellen den einzelnen
Fraktionen der zentripetalen Erregung erteilen, von einem einheit-
lichen Gesiehtspunkte betrachten. Die Richtungszellen erteilen der
zentripetalen Erregung (nach den von uns früher entwiekelten An-
schauungen) eine Art von Polarisation, deren physikalische Analogie
auf Schwingunesebenen hinweist: der Einfluß. wie ihn Zellen.
die im Sinne der He!mholtzschen Dreifasertheorie abgestimmt
sind, den einzelnen Fraktionen der zentripetalen Erregung erteilen.
ist (zum Teil nach Helmholtz selbst) als Abstimmung auf
besondere Frequenzen zu betrachten. Die eine Art der
Abstimmung läßt sich also auf eine Änderung der Ebenen, in der
die Teilehen schwingen. zurückführen, die andere aber z. B. auf
eine Anderung der Fortptlanzungseeschwindigkeit der sehwingen-
den Bewegung: beide Vorgänge erscheinen für den Raum, der in
fortlaufenden Quersehnitten von Neurofibrillenbündeln gegeben ist.
physiologisch als realisierbar: auch gewisse — nicht zu über-
schätzende — Ähnlichkeiten lassen sich verstehen, die zwischen
ihnen und der Fortpflanzung elektrischer Schwingungen an Drähten
bestehen. Jedenfalls ist dieses phvsikalische Gleichnis natur-
näher als die Gleichsetzung von Leitung und Widerstand in der
Nervenfaser mit Leitung und Widerstand in Bahnstücken eines kon-
stanten elektrischen Stromes.
Falls es also Abstimmungen gibt, die von den Nervenzellen er-
teilt werden und die zur Konstanz des Empfinduneges-
inhalts unter variablen Verhältnissen des äußeren
Reizes führen, so sind sie ein Gegenstück zu den Abstimmungen
durch Nervenzellen, die eine gewisse Konstanz der Lokalzeiehen trotz
gewisser Variationen der Lokalisation des Reizes bedingen. Für den
hier betrachteten Sonderfall, für die Vorgänge bei der Farbenwahr-
nehmung, müßten die abstimmenden Wirkungen der ersteren Art
offenbar gewissen Zellsystemen im Corpus geniculatum late-
rale zuzusprechen sein. Auch klinische Gründe gibt. es dafür; schon
Wilbrand und Sänger haben enge Beziehungen zwischen
Störungen im Bereich des Corpus genieulatum laterale einerseits. ge-
störtem Farbensinn und der Adaptation andererseits behauptet.
Nach dem, was sich hier für die Anordnung der perzeptiven Elemente
in der Area striata ergeben hat, wäre es offenbar eine Konsequenz
solcher spezifischer Leistungen von Zellsystemen des Corpus geni-
eulatum laterale, wenn die langen Axonen einer gewissen Anzahl
solcher Zellen besonders stark disponiert wären zu einer bestimmten
Art der Dekomposition in ihren Endigungen, die eine Teilung
derdurch sierepriisentierten Erregung indrei Kom-
ponenten begünstigt. die der Heimholtzschen Theorie ent-
sprechen.
Man kann z. B. —- ohne sich darauf festzulegen an optische
Fasern denken, die sich in verschiedenen Höhen dekomponieren, so
daß etwa in einer tieferen Lage die Blaukomponente des Tyndall-
phänomens abgespalten würde, in einer etwas höheren Lage die Rot-
komponente und erst in noch höheren Lagen eine dritte Komponente,
die Grünkomponente. Erst die Gegenreaktion der Zentren würde auf
diese Wirkungen mit einer reziproken Innervation antworten. mit
einer Umkehrung ihrer Wirkungen in komplementäre, bzw. mit
einer Wiedervereinigung zu einem Gesamtkomplex. Eine solche Um-
kehrung läßt sich mit der Umkehrung der Lokalzeichen des Netz-
hautbildes vergleichen, die sich dem projektiven Vorgang und mit
ihm den Richtungszentren zuordnen läßt. Eine Wiedervereinigung zu
einem neuen Gesamtkomplex bedeutet u. a. eine Klärung des
Sehraums. aus dessen Hintergrund sieh dureh abgestuften Zu-
sammentritt der drei Komponenten jederzeit jede Farbe entmischen
kann, wenn der spezifische Eindruck der Außenwelt es an einer be-
stimmten Stelle fordert; dies ist offenbar dem Zusammentritt der
Richtungsfaktoren zu einem neuen Ganzen. zum Raumelement ver-
gleichbar. einem Hintergrund, in den die einzelnen richtenden Kom-
ponenten verschwinden, aus dem sie sich entmisehen können.
Auch für die Betrachtung der zerebralen Vorgänge lassen
sich also die Grundzüge der Helmholtzschen und der Hering-
schen Farbenlehre miteinander vereinigen: sie müssen miteinander
vereinigt werden. wenu man allen bekannten Tatsachen. klinischen
Erscheinungen und morphologischen Befunden gemeinsam gerecht
werden will. Es ist dies selbstverständlich: denu nur die Hering sehe
Lehre enthält einander komplementär zugeordnete reziproke Zu-
stände, die nicht nur für die Sinneszellen der Netzhaut, sondern
für die Tätigkeit vieler, vielleicht aller Zentren angenommen werden
müssen. schon weil sie den Kontrast und die Komplementärwirkungen
erklären: die Helmholtzsche Lehre aber enthält die Resonanz.
die der spezifischen Zentrenleistung ebenso wie den spezifischen Im-
munkörperreaktionen entspricht, außerdem noch die Zusammensetz-
barkeit von Komponenten und ihre Dekomposition, die zum Ver-
ständnis der Kombination einer großen Anzahl von Variationen aus
relativ wenigen einzelnen räumlich und zeitlich begrenzten Vor-
gängen unentbehrlich ist. Auch das letztere gilt (Landsteiner)
für die Bildung spezifischer Immunkörper ebenso, wie für die spezi-
tische Beeintlussung der zentripetalen Erregung durch die Nerven-
zellen an ihren Synapsen. |
Die Betrachtung der zentralen Vorgänge bei der Wahrnehmung
der Farben ergibt also eine große Ähnlichkeit aller Strukturen der
Vorgänge mit denselben Momenten, die wir an der optisehen All-
ästhesie und in deren Vergleich mit der spinalen Allästhesie (Dusser
de Barenne) hervorgehoben haben.
8. Die zentralen Störungen der Adaptation.
Wir sind somit dazu gelangt, die schon von Wilbrand und
Sänger hervorgehobenen Beziehungen des Corpus geniculatum tate-
rale zur Adaptation in den Kreis unserer Betrachtungen zu ziehen. Be-
kanntlich haben die Erfahrungen an Kriegsverletzten gezeigt, dab
diese in den frischeren Stadien häufig Adaptationsstörungen hatten.
Auch der eine der vorhin zitierten Fälle von Lenz (der 2. Fall) zeigte
eine Herabsetzung der Dunkeladaptation. Nicht nur eine Adaptations-
störung bei den seltenen Läsionen des Corpus genieulatum laterale.
sondern aueh die Adaptationsst6rung nach lokaler und allgemeiner
Schädigung der Sehsphäre des Großhirns wird hier zu betrachten sein.
— 159 —
Die Dunkeladaptation ist dabei im allgemeinen nur flüchtiger
gestört, während in sehr vielen Fällen die Schädigung der Hell-
adaptation lange andauert. Die letztere haben wir schon im vorigen
besprochen und sie auf eine noch herabgesetzte zentrale Leistung
zurückgeführt, die in der Norm einen Teil der zufließenden Hell-
erregungen latent macht. Selbstverständlich sprechen wir eine ana-
loge zentrale Tätigkeit nicht allein der Großhirnrinde zu, sondern
allen Zentren des Nervensystems. Wir berücksichtigen also, daß
bereits in der Retina ein Teil der zuflieRenden Hellerregungen latent
gemacht, bzw. beseitigt wird, ein weiterer Teil wahrscheinlich im
Corpus geniculatum laterale, eine dritte Fraktion in der Regio cal-
carina usw. Alle diese Anteile gehen in die Hintergrundbindung
des Sehraums ein; wir haben uns aber im vorigen auf die Besprechung
einer intrakortikalen Komponente des Gesamtvorgangs be-
schränken wollen.
So erscheint der Hintergrund des optischen Weltbildes wie aus
einer Reihe von Schichten zusammengesetzt; wir glauben nicht, daß
sie sich im Grundprinzip des Geschehens voneinander unterscheiden.
Klinisch können wir dieser Zusammensetzung vorläufig noch nichts
anderes zuordnen, als den übereinstimmenden Typus der Störungen
der Helladaptation bei Läsionen der Area striata, des Corpus geni-
culatum laterale und der Netzhaut selbst.
Wilbrand und Sänger haben sich bereits eingehend mit
dieser Übereinstimmung befaßt. Für die Adaptations-
vorgänge, diein der Netzhaut selbst stattfinden, denken sie
an eine besondere Wirksamkeit der amakrinen Zellen
(Ramon y Cajal). Viele Störungen der Adaptation (z. B. im
Beginn der tabischen Optikusatrophie) zeigen eine Allgemeinheit, die
nur durch eine einheitlich vor sich gehende übergeordnete Ge-
samtinnervation erklärbar ist; Wilbrand und Sänger schreiben
diese dem Traktusteil des Corpus geniculatum laterale zu. Sie
nehmen die zentrifugalen Fasern, die der Sehnerv enthält.
für den Vorgang in Anspruch und erklären die allgemeine
Adaptationsstérung bei Erkrankung des Sehnerven „aus einer Ver-
langsamung des Wiederersatzes des verbrauchten Stoffes der reti-
nalen Sehsubstanz, also aus einer Verzögerung des Assi-
milationsvorganges auf der ganzen Ausdehnung der Retina“.
Den Ursprung. der hier wirksamen zentrifugalen Fasern im
N. opticus sollen (nach Wilbrand und Sänger) jene Nervenzellen `
bilden, die dem Traktusteil des Corpus genieulatum laterale an-
— 160 —
gehören und bei der Degeneration des Corpus geniculatum laterale
nach Großhirnherden erhalten bleiben. Wilbrand und Sänger
nehmen an, daß die zentrifugalen Fasern „Sorge tragen für die ge-
nügende qualitative und quantitative Zufuhr von Assimilations-
material zur Netzhaut im ganzen“. Geht eine Anzahl dieser Fasern
(z. B. bei einer tabischen Optikusatrophie) zugrunde, so muß „für die
Zeiteinheit eine verminderte Produktion dieser Sehsubstanzen und
damit eine Verlangsamung des Wiederersatzes derselben auf der
eanzen Netzhautfläche eintreten“.
„Daher dürfte wohl das Corpus genieulatum externum dasjenige
Organ, sein, in welehem durch Umschaltung zentripetal fortgeleiteter
Reize auf zentrifugale optische Bahnen durch Selbststeuerung ohne
Einfluß des Willens jene Produktion von Sehsubstanzen im großen
betrieben wird. für deren jeweilige örtliche Anhäufung nach Be-
dürfnis das amakrine Zellensystem zu sorgen hätte.“ Nach Wil-
brand und Sänger erscheint die Grundlage der Adaptation als ein
sekretoriseher Vorgang, der — wie jede Driisensekretion —
dureh zentrifugale Impulse unterhalten. bzw. reguliert wird.
Als zentripetalen Schenkel dieses die Adaptation regulierenden
Reflexes bezeichnen Wilbrand und Sänger „entweder diejenigen
zentripetalen Fasern, die in den Ganglienzellen des Corpus genicula-
tum laterale endigen und hier die Erregung auf zentrifugale Fasern
übertragen, oder Kollaterale. die von den das Corpus geniculatum
laterale durchsetzenden visuellen Fasern ausgehen und die Erregung
durch Kontakt auf zentrifugale Fasern übertragen“. Wilbrand
und Sänger haben also ursprünglich nur einen reflektorischen Vor-
gang in den tieferen Systemen des nervösen optischen Gesamtapparats
angenommen, später aber auch einen Einfluß des Großhirns, da die
Adaptationsstörungen bei Okzipitalschüssen ihnen auf einen solehen
hinwiesen (Sänger), und da sie schon von Anfang an die Cherein-
stimmung der allgemeinen Adaptationsstörungen bei Optikusaffektion
und der Beschwerden bei funktionell nervöser Asthenopie hervor-
gehoben hatten. Die Störungen der Helladaptation bei den Kriegs-
verletzungen des Okzipitalhirns gleichen den von Wilbrand und
Sänger herausgegriffenen asthenopischen Beschwerden so sehr, dab
sie lange Zeit für hysterische Begleiterscheinungen der Herd-
erkrankung gehalten worden sind.
Die Anwendung der zitierten Lehre von Wilbrand und
Singer auf diezerebralen Adaptationsstörungen ergibt also die
Auffassung, daß sie durch eine Schädigung zentrifugaler Wir-
— 161 —
kungen bedingt sind, die von der Area striata auf dem Wege der
efferenten Axonen ins Corpus geniculatum laterale ausgestrahlt wer-
den. Trifft dies zu, so hat der Reflexbogen, den Wilbrand und
Sänger angenommen hatten, noch einen zweiten weiteren Kreis.
(ler über die Rinde geht; man kann eine Teilung der innervatorischen
Energie zwischen beiden annehmen; der periphere Schluß des Reflex-
bogens würde gewissermaßen eine Brücke von variierendem Wider-
stand bilden.
Wir selbst sind im vorigen zu der Auffassung gekommen. daß
die zerebralen Störungen der Helladaptation durch eine Leistung
innerhalb der Rinde selbst bedingt sind, die eine gewisse
Menge von überschüssigen zerebropetalen Hell-Errerungen
latent macht. Wir stellen beide Auffassungen nebeneinander und
hemerken, daß u. E. hier nicht die eine oder die andere zutrifft.
sondern daß beide zutreffen und einander ergänzen. Wäre der Vor-
gang der Adaptation etwas, das sich auf die Retina beschränken
würde, so ließe er sich durch den Wechsel einer dissimilatorischen
und assimilatorischen Phase der Sehsubstanzen und ihre konseku-
tive Wirkung auf den nervösen Apparat vielleicht restlos erklären.
Eine solehe konsekutive Wirkung enthält ungefähr der Heringsche
Begriff einer (dissimilatorischen und) assimilatorischen Er-
rerung. Die Adaptation ist aber ein Vorgang, der sich in der
Leistung aller Zentren der nervösen Substanz. in seinen Grund-
vesetzen überall gleich wiederfinden läßt. Schon deshalb ist eine Be-
schränkung der Betrachtungsweise auf die Sehsubstanzen und auf
einen sekretorischen Vorgang nur geeignet, den GesamtprozeB teil-
weise zu erklären.
Andererseits aber ergänzen wir unsere bisherige Darstellung. die
zuerst nur die kortikalen Adaptationsvorgänge betrachtet hatte. nun-
mehr durch die Annahme einer kortikofugalen Wirkung, die am
Großhirnanteil des Corpus geniculatum laterale ansetzt und
von ihm her in jene Wirkungskette eingreift, die zwischen den
Traktusteil des Corpus geniculatum laterale und der Retina nach
den Auffassungen von Wilbrand und Sänger besteht: in die
rereulierende Selbststeuerung der adaptiven Vor-
vänge im ganzen.
Die verschiedene Art. Stärke und Dauer der adaptiven Störun-
gen bei Schädigungen der Sehsphiire des GroBhirns kann man dann
(abvesehen von alleemeineren individuellen Differenzen und der be-
sonders starken Wirkung des Schädeltraumas usw.) mit ver-
schiedenen Graden (vielleicht selbst mit verschiedenen Arten) in
— 162 —
Parallele bringen, nach denen die betreffende Herderkrankung gerade
die zentrifugale Bahn zwischen Area striata und
Corpus genieulatum laterale lädiert hat. Dann erscheint
eine Hauptleistung dieser zentrifugalen Bahn den Wirkungen der
zentrifugalen Fasern im N. opticus so Ähnlich, daß dies zu einem Ver-
gleich herausfordern muß. Er ergibt die Hypothese. daß der be-
trachtete Anteil der zentrifugalen zerebral-optischen Systeme (ganz
eine Hauptleistung dieser zentrifugalen Bahn den Wirkungen der
hin zitierten Anschauungen von Wilbrand und Sänger) auf-
zufassen sei.
Abb. 13. Frontalschnitt durch den Spornteil des linken Corpus geniculatum
laterale. Original-Weigert-Präparat, LupenvergréBerung. Der Spornteil
selbst ist langgestreckt und schmal, etwa um ein Drittel seiner normalen
Breite reduziert: er läßt aber die Zeichnung der Markleisten erkennen: daß
er nur 2 Schichten zeigt, ist scheinbar: bei stärkerer Vergrößerung
sieht man alle drei Schichten. Das Feld des Pulvinar zwischen Spornteil
und Corpus geniculatum mediale ist auffallend faserarm. Links im Mark der
basalen Windungen die früher (Abb, 9) beschriebenen alten Erweichungen.
Zur Prüfung dieser Hypothese ziehen wir den Befund des Corpus
geniculatum laterale heran. den wir in unserer Beobachtung 4 er-
halten haben. Wir haben ihn bei der Besprechung des Gesamtbefundes
mehrmals erwähnt (S. 59). Auf die Einzelheiten, die er bietet, können
wir erst an dieser Stelle eingehen. da sich erst jetzt die Möglichkeit
ergibt, sie zu interpretieren.
` Wie bereits (S. 53) erwähnt, erscheint das Corpus geniculatum
laterale links in den fronto-medialen Partien nicht als atrophisch.
während im Hilusteil und im Spornteil eine sehr bedeutende Atro-
wE en
phie zu sehen ist. Dies entspricht der bekannten von v. Monakow
und von Minkowski aufgedeckten trophischen Korrelation
zwischen oralen Partien der Area striata und fronto-oromedialen
Partien der Corpus geniculatum laterale einerseits, zwischen dem
mehr polaren Anteil der Area striata und den kaudal-lateralen
Teilen des Ganglion andererseits. Ferner sind diedorsomedialen
Partien, die jeder einzelne frontale Schnitt durch das linke Corpus
geniculatum laterale zeigt, nicht atrophiert, wohl aber mehr die
Gegend des Hilus; es bildet sich so eine tibertreibende Verzerrung
jenes scharfen Einschnittes, den das physiologische Ganglion des
Abb, 14. Ausschnitt aus dem Schnitt Abb, 9, Lupenvergrößerung. Zu be-
achten ist im linken Corpus geniculatum laterale wieder die erhaltene
Zeichnung des atrophischen Spornteils im Gegensatz zu dem blassen, wie
granuliert aussehenden Kuppenteil, der sich bis in die Mediane erstreckt.
Identität des letzteren, zirkumskript degenerierten Anteiles des Jinken
Corpus geniculatum laterale mit der R oen n e schen Einstrahlungszone des
papillo-makulären Bündels (entsprechend ihrer Ausdehnung im kaudalen
Drittel des Corpus geniculatum laterale).
Mensehen besitzt und demzufolge in den kaudaleren Schnitten
Spornteil und Hauptteil des Ganglions voneinander separiert er-
scheinen (v. Monakow). Diese Verteilung der Atrophie wird
bei stärkeren Verzrößerungen noch deutlicher, da sich die Gruppen
gewisser Zellen in den dorso-medialen Partien von den benachbar-
ten Gruppen mit zahlreichen atrophisch verkleinerten Hauptzellen
für das Auge recht gut absetzen: so zeigt sich eine Grenzregion, die
der eben geschilderten Verteilung der Atrophie entspricht.
23. IE Se
Diese dorsomedialwärts abnehmende Verteilung der
Atrophie entspricht dem Umstand. daß der alte Herd im Mark des
Okzipitalpols viel mehr basale Projektionsstrahlung zerstört hat.
als dorsale (vgl. N. 50). Das Bild enthält also auch die von
Henschen bekanntlich längst gefundene Vertikalprojektion
im Corpus geniculatum laterale. demzufolge die obere Hälfte des
Corpus geniculatum laterale den oberen Anteilen der Sehstrahlung.
die untere Hälfte des Corpus genieulatum laterale aber deren unteren
Anteilen entspricht. Die trophische Korrelation zwischen Aren striata
Abb. 15. Durchschnitt aus der oralen Hälfte des linken Corpus geniculatum
laterale. Original-Weigert-Präparat, Lupenvergrößerung. Zu beachten ist
besonders die scharfe Zeiehnung des Corpus geniculatum laterale im
lateralen sowie im medianen Anteil des Ganglion im Gegensatz zu der
verwaschen hell aussehenden Beschaffenheit des Kuppenteils: diesem Aus-
sehen des (Granglions entspricht die füllhornförmige Aufhellung im
Wernickeschen Feld über der Kuppe des Corpus geniculatum laterale
(sekundäre Degeneration des dorsalen Makulabündels der Sehstrahlung
nach der Bezeichnung von Nießl v. Mayendorf). Identität des
degenerierten Teiles des linken Corpus geniculatum laterale mit der
Roenneschen. Einstrablungeszone des papillo-makulären Kündels. ent-
sprechend deren oraler Verschmälerung und Beschränkung auf den
Kuppenteil allein.
und Corpus geniculatum iaterale ist, wie dieses Beispiel zeigt. in
bezug auf ihre Vertikalprojektion eine (makroskopisch ge-
nommen) ziemlich treue morphologische Parallele zur
physiologischen Vertikalprojektion (im Sinne von Henschen
— 165 —
und von Lenz). Dasselbe gilt aber’) — was auch der Befund unserer
Beobachtung 4 zeigt. analog den Fällen v. Monakows und
Brouwers — für die Horizontalprojektion des Corpus
geniculatum laterale auf die Area striata: Im Sinne der trophi-
schen Korrelation (v. Monakow. Minkowski) entsprechen
orale Partien des Ganglions oralen Partien der Area striata: im
Sinne der physiologischen Projektion (Wilbrand. Henschen.
Sänger) entsprechen die oralen Partien der Area striata dem
peripheren Halbmond im gekreuzten Gesichtsfeld; mithin dürfen wir
Ca
„J-a 4
|
Abb. 16. Durchschnitt nahe dem oralen Pol des linken Corpus geniculatum
laterale. Inpenvergrößerung (etwas stärker vergrößert als Abb. 15). Ende
der degenerierten Roenneschen Zone. intaktes Aussehen des übrigen
Corpus geniculatum laterale. Beginn des Griseum prägenieulatum
(Minkowski).
sagen, daß auch die oralen Partien des Corpus genicuatum laterale
diesem (wenigstens überwiegend) in irgendeiner besonderen Weise
zugeordnet sind.
Überdies aber ist der Spornteil — entsprechend der gelichteten
lingualen Sehstrahlung — zwar atrophisch, in seiner Zeichnung aber
gut erhalten; bei weitem die stärkste Atrophie der Zellen sowohl, wie
') Es wird das hier nur für den Menschen behauptet. Für die
Katze gilt (Minkowski) dieselbe Art der Horizontalprojektion. Ihr
physiologisches Korrelat erscheint uns vorläufig noch nicht genau genne
bestimmt.
— 166 —
die stärkste Lichtung der Fasern, zeigen Kuppe und zentralen Teil
des Corpus geniculatum, genau in der Ausdehnung der Degeneratio-
nen, die Rönne bei Neuritiden des papillo-makulären Optikusbün-
dels festgestellt hat. Das Corpus geniculatum laterale in unserer
Beobachtung 4 zeigt somit die Dreiteilung, die der Wil-
brand-Henschenschen Projektionslehre entspricht: 1. einen
intakten dorso-medianen Teil (Kuneusprojektion), 2. einen atrophi-
schen kaudo-lateralen Teil (Projektion der lingualen Kalkarina),.
3. am stärksten atrophisch den Makula-Anteil.
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-
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adi |
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eh
~ te y
x yan š
4 wt |
we ar
pas Femi
Abb. 17. Durchschnitt durch das rechte Corpus geniculatum laterale.
Lupenvergrößerung (Kinzelgebiet aus Abb. 11) als Beispiel für die (in allen
Schnitten gleichmäßig ersichtliche) Intaktheit der Struktur des rechten
Corpus geniculatum laterale (entsprechend den frischen rechtshirnigen
Erweichungen).
Wenn also noch Zweifel bestanden hätten darüber. ob die
v. Monakowsche Projektion des Corpus geniculatum laterale
auf die Area striata ein makroskopisch getreues Korrelat ist zu
der Projektion der Retina auf die zerebrale (engere) Sehsphäre.
so erscheint uns der Befund unserer Beobachtung 4 geeignet, auch
die letzten Zweifel zu zerstreuen.
Bekanntlich sind die Lamellen, die die Zellsysteme des Corpus
geniculatum laterale bilden, in bezug auf einen wichtigen Hauptpunkt
sozusagen Einheiten: Minkowski hat gezeigt, daß (beim Maka-
kus) in den Partien des Corpus geniculatum laterale, die 6 Lamellen
— 167 —
enthalten (gezählt vom lateralen Rand des Ganglions), nach Ex-
stirpation des linken Augapfels Lamelle 1, 3, 5 starke Atrophie zeigt,
während Lamelle 2, 4, 6 sie vermissen lassen. Das entgegengesetzte
trifft (entsprechend der Verteilung und Zahl der gekreuzten und un-
rekreuzten Optikusfasern) für das rechte Ganglion zu.
Dies ist der morphologische Hauptbefund, auf den sowohl
Barany wie Kleist ihre Hypothesen über die physiologische Be-
deutung der Körnerschicht in der Area striata aufgebaut haben:
„Minkowski stellt damit unzweifelhaft fest, daß im Corpus geni-
eulatum laterale die gekreuzten und ungekreuzten Sehnervenfasern
vollkomnien scharfe und voneinander getrennte Lokalisation be-
sitzen“ (Bäräny). Dabei blieb die Gruppierung unbeachtet, die in
Richtungen (ungefähr) senkrecht auf die Längsrichtung der
Lamellen besteht und jede Lamelle in ein Mosaik von Zellgruppen teilt.
Diese Gruppierung aber ist es, die — wie unsere Beobachtung 4 ver-
anschaulicht — der Projektion der Retina auf die Großhirnrinde
entspricht.
Die Größe jeder einzelnen kleinen Zellgruppe harmoniert augen-
fällig mit der Größe der büschelförmigen Dekompositionen einer ein-
zelnen Faser des Sehnerven, innerhalb deren jedes Büschel an den
Silberpräparaten das den einzelnen Hauptzellen entsprechende
Maschenwerk zeigt. Dieser Befund Ramon y Cajals stammt von
der neugeborenen Katze: es hat bisher, soviel wir wissen, niemand
daran gezweifelt. daß er sich auf den Menschen übertragen läßt. Die
kleinsten Gruppen, die sich im Befund unserer Beobachtung 4 scharf
markieren, scheinen uns entweder büschelförmige Endigung einer
Sehnervenfaser zu sein oder doch einem kleinen ganzzahligem
Vielfachem solcher Einheiten anzugehören. Innerhalb der einzelnen
Lamellen vereinigen sich diese Gruppen zu (gewundenen) Längs-
streifen; faßt man aber die nebeneinander liegenden Lamellen
senkrecht auf deren Längsrichtung ins Auge, so ergibt sich selbst-
verständlich eine quere Anordnung solcher Gruppen. Wenn —
wie dies jetzt allgemein vorausgesetzt wird — die Befunde Min-
kowskis auf den Menschen übertragen werden können, so muß
eine von solchen Gruppen gebildete Querfolge nebeneinander ab-
wechselnd das Endungsgebiet gekreuzte und ungekreuzte Sehnerven-
fasern enthalten. Es resultiert daraus also — solange man die An-
ordnung nur in der Fläche betrachtet, eine ähnliche Gliederung, wie
sie Wilbrand und Henschen für ihre Theorie der Faszikel-
feldermischung angenommen haben.
— 168 —
Man kann also sagen, daB die Ghederung des Corpus geni-
culatum in jeder einzelnen Schnitt-Ebene die Wirksamkeit zweier
einander schneidenden Kraftliniensysteme erkennen läßt. deren eines
konform den Längslinien der Lamellen. deren anderes quer auf das
erste System wirkt.
Die Gruppierung längs der ersteren Linienschar entspricht einer
Entmischung der gekreuzten und ungekreuzten Sehnervenfasern
aus den Durehflechtungen im Tractus optieus. Die Gruppierung senk-
recht auf die erstere entspricht dem abwechselnden Nebeneinander
eekreuzter und ungekreuzter Optikusfasern, deren einzelne Er-
regungen innerhalb jedes solehen Querbereichs zu einem neuen
Ganzen zusammengefaßt werden können. So läßt sich die quere
Gruppierung als Ausdruck der Doppelversorgung im Bau
des Corpus genieulatum laterale bezeichnen, die Längsgruppierung
als Ausdruck einer mosaikartigen Sonderung der einzelnen retinalen
Erregungselemente.
Betrachtet man (dieselben Verhältnisse räumlich, so tritt noch
eine dritte sondernde Richtung hinzu. die die Bildung der einzelnen
Gruppen vollendet: man kann sie sich schematiseh ais (annähernd)
kugelförmige Einzelbereiche vorstellen. Selbstverständlich ist dabei
die Komplikation nieht zu vergessen. die durch die spiraligen
Windungen der einzelnen Lamellen gegeben ist: an der Betrachtung
der Kräfte. die jede einzelne Gruppe formen, ändert sie aber nieht=
Wesentliches. Da die einzelnen Lamellen schalenförmig ge-
staltet sind, werden im Raumgitter der geschilderten Einzelbereiche
ungefähr dieselben Verhältnisse in der Richtung der Z-Achsen
herrschen. wie in der Richtung der Y-Achsen: nur in der Richtung
der X-Achsen findet sich jenes Nebeneinander der Areale. das der
Faszikelfeldermisehung entspricht.
Jeder einzelnen Optikusfaser entsprieht eine Mehrheit. ein
Faszikel von Axonen aus der zugehörigen Hauptzellengruppe, die
in die zerebropetale optische Leitung eingehen (Ramon y Cajal).
Daraus erhellt, daß die sichtbaren Zellgruppen im Corpus genicula-
tum laterale wirklich der unmittelbare Ausdruck von je einem Fas-
zikel der Schstrahlung sind. ihre Gesamtheit aber der un-
mittelbare Ausdruck der Mischung von Faszikelfeldern der Seh-
strahlung. Es ist nun die Frage. ob und wieweit diese Ordnung der
so entstandenen Faszikel der Sehstrahlung identisch ist mit der An-
ordnung. in der die Faszikel nebeneinander in der Area striata ein-
strahlen.
— 169 —
Auch zu dieser Frage bringt unser Befund an Beobachtung 4 Ver-
wertbares. Das Wernickesche Feld ist in seiner ganzen Ausdeh-
nung (schätzungsweise etwa um zwei Drittel seines Bestandes an
markhaltigen Nervenfasern) gelichtet, derart, daß überall kleine,
rundliche oder längsgetroffene Lücken den Ausfall von Faszikeln ver-
raten; die Größe dieser Lücken ist in sehr naher Übereinstimmung mit
der Größe der atrophischen Zellgruppen, die im Corpus geniculatum
laterale selbst zu sehen sind. Die erhaltenen Bündelchen lassen
sich stellenweise sehr gut in ihrer Einstrahlung ins Corpus genicula-
tum laterale verfolgen, namentlich im Gebiet zwischen Hilusteil und
Spornteil.
Es ist uns wahrscheinlich, daß ein Teil der geschilderten Faszikel
der zentrifugalen Bahn angehört, die von der Area striata ins
Corpus geniculatum entsendet wird.
Die Übersicht über die gelichteten Fasersysteme des Wernicke-
schen Feldes und des Corpus geniculatum laterale in unserem Fall
ergibt überall, wo eine genügende Lockerung dem Auge zu Hilfe
kommt, daß die Fasern des Tractus opticus in der Richtung der
Marklamellen, die Fasern der zerebralen Systeme aber in einer dazu
annähernd senkrechten Richtung die Marklamellen des Ganglion
durchsetzen.
Der erstere Befund entspricht einer allgemein geltenden Auf-
fassung und ist auch in dieser Form von Bäräny herangezogen wor-
den. Der zweite Befund ist bisher unverwertet geblieben. Wir kon-
statieren die Analogie zwischen den Richtungen dieser Fasersysteme
und den Richtungen der Kräfte, die jene Zellgruppen des Corpus
geniculatum laterale bilden.
In der Einstrahlungsrichtung der Projektionsfasern der Seh-
rinde bildet sich vielleicht die Hauptrichtung einer gruppenbilden-
den Kraft ab, die quer auf die Lamellen ein Nebeneinander von ver-
schieden zugeordneten Arealen schafft, das die Bildung der identi-
schen Punkte und der Doppelversorgung veranschaulicht:
ein Bild der Kräfte, die die Projektion herstellen.
In unserem Befund ist also stellenweise ersichtlich. daß Richtun-
gen kortikaler Systeme mit der Gliederung der Zellgruppen im Corpus
geniculatum laterale enge projektive Beziehungen haben. Auch der
Gesamtquerschnitt der zentrifugalen Bahn von der Sehrinde zum
Kniehöcker erscheint teilbar in Gruppen von natürlichen Einheiten,
deren Nebeneinander der Felderung des Corpus genieulatum laterale
etwa so entspricht, wie die Anordnung der Pyramidenbahn in der
inneren Kapsel der Gliederung der motorischen Vorderhornkerne.
Herrmann-Potzl, Optische Allästhesie (Abhal. H. 47). 12
Cad
— 170 —
Diese Anordnung erleichtert die Annahme, daß es gruppierte Areale
von Pyramidenzellen in der Area striata sind, die sich in der Felde-
rung des Corpus geniculatum laterale räumlich getreu nebeneinander
abbilden. Die Faszikelfelderbildung im Corpus geniculatum laterale
erscheint uns zunächst nicht als der Ausdruck einer Projektion der
Retina auf das Corpus geniculatum laterale, sondern als Projek-
tion der Area striata auf das Corpus geniculatum
laterale.
Wir kommen damit auf dasselbe Prinzip zurück, das sich bei der
Betrachtung der Area striata selbst aus den hier zusammengefaßten
pathologischen Befunden ergeben hat: Die Teilsegmente, iw die der
Sehraum zerfällt, wenn er sich in die Erscheinungen des Flimmer-
skotoms entmischt, waren viel eher auf die Aktionsradien einer Gruppe
von Pyramidenzellen morphologisch zu beziehen als auf Verhältnisse.
die sich in der Art der Dekomposition optischer Fasern in den Schich-
ten IV b und IV c (eventuell auch der IV a usw.) anschaulich abbilden.
Wir haben die radialen Verzweigungsgebiete von Spitzendendriten der
Pyramidenzellen tiefer Schichten als solche Einheiten betrachtet, die
einer Körnung des Sehraums entsprechen; wir Können nunmehr.
den Befund am Corpus geniculatum laterale unserer Beobachtung 4
einfügend, jedes einzelne A x on einer solchen Zelle als Überträger die-
ser begrenzt räumlichen Wirkung auf ein korrespondierendes Teilgebiet
im Mosaik des Corpus geniculatum laterale betrachten, da es ja eines
der natürlichen Elemente in der zentrifugalen zerebral-optischen Balın
repräsentiert. Da wir aberfaszikuläre Gruppen solcher Elemente
im Corpus geniculatum laterale zu einer Einheitswirkung zusammen-
treten sehen, so ergibt sich dasselbe, zu dem wir in unseren früheren
Vergleichen gekommen sind: Die Zusammenfügung einer größeren An-
zahl von Pyramidenzellen der bezeichneten Art, die zusammen eine
Einheit höherer Ordnung bilden, eine räumlich nebeneinander ange-
ordnete Mannigfaltigkeit soleher begrenzter Einheiten höherer Ord-
nung, die durch eine Kontinuumwirkung miteinander verschmolzen
bleiben, solange der Apparat des optischen Raumsinns (8. 155) in der
Area striata selbst nieht entsprechend geschädigt bzw. lokal oder all-
gemein ausgeschaltet ist.
Es liegt nahe, anzunehmen. daß sich einzelne Faszikel der zentri-
fugalen Bahn, die den einzelnen Zellgruppen des Corpus geniculatum
laterale zuxehören, mehr oder weniger getreu in den Bündeln der
Radien wiederfinden, also in der so deutlich sichtbaren Markstrah-
lung der Area striata, soweit diese nicht aus einstrahlenden
Systemen besteht. Wir haben keinen Grund, die Annahme zu ver-
— 11 —
lassen, daß ein derartiger Bezirk mit den Orten der Einstrah-
lung der zentripetalen Fasern in besonderen Beziehungen stehe; doch
ist nicht zu vergessen, daß nur eine Minderzahl derselben den Leit-
linien der Radien folgt, gewöhnlich nur eine kurze Wegstrecke lang;
die schräge Richtung der meisten optischen Fasern, die schon Ramon
y Cajal hervorgehoben hat, entspricht nicht einer Einstrahlung in
Form von Markstrahlen; die zentripetalen Fasern finden sich einzeln
oder in wenigen Exemplaren nebeneinander, um sich dann in jener
überaus expansiv erscheinenden Weise zu dekomponieren, die wir
schon im früheren berücksichtigt. haben.
Entspricht also eine der zelligen Einheitsgruppen im Corpus geni-
cularum laterale im allgemeinen wahrscheinlich einer Optikusfaser,
so finden sich die Querschnitte der Axonen, die aus einer solchen
Gruppe gegen die Rinde ziehen, innerhalb der Rinde selbst nicht
mehr faszikulär geordnet, sondern über relativ große Ausdehnungen
der rezipierenden Schichten zerstäubt, wie in einen feinen Spray um-
gewandelt. In diesem Sinne muß man alle rezipierenden Schichten
der Area striata als ein Mischfeld bezeichnen, nicht irgendeine von
ihnen. Es bleibt aber noch die Frage, ob wir genötigt sind, mit
Kleist anzunehmen, daß sich die zentripetalen Fasern, die dem ge-
kreuzten Auge entsprechen, in einer anderen Schicht dekomponieren,
als die Fasern, die dem gleichseitigen Auge entsprechen; wir werden
dies erst später erörtern können.
Die Annahme der Faszikelfeldermischung (Wilbrand und
Henschen) kann also aufrecht erhalten bleiben, insofern sie sich
darauf beschränkt, für größere Einstrahlungszonen einzel-
ner Abschnitte der zentripetalen Bahn dasselbe räumliche Neben-
einander zu behaupten, das nach dem Vorigen im Corpus geniculatum
besteht. Wilbrand und Sänger nennen das Corpus geniculatum
„ein Gebilde, das die retinalen Erregungen ohne Unterbrechung nach
dem kortikalen Sehzentrum hindurch leitet.“ Wir glauben diese For-
mulierung verändern zu müssen. Alle bekannten Tatsachen sprechen
dafür, daß die zentripetale optische Erregung das Corpus geniculatum
laterale in derselben räumlichen Anordnung passiert, in der sie auch
in die Area striata einströmt. Dies ist nicht ganz dasselbe; denn aus
der Formel der klassischen Projektionslehre scheint uns allzuleicht
die Auffassung herausgelesen zu werden, daß das Corpus geniculatum
laterale hier eine ganz passive Rolle spiele; die Frage, wie es zu der
Identität dieser räumlichen Anordnung kommt, ist weggeschafft,
aber nicht gelöst, was für die gegnerischen Anschauungen v. Mona-
kows stets ein Hauptangriffspunkt geblieben ist. Wir haben die
12*
— I2 —
Formel so verändert, daß sie nicht mehr auf die Behauptung führen
kann, das Corpus geniculatum laterale sei hier nichts als ein Strom-
bett; Niessl v. Mayendorf hat dasselbe ausgedrückt, indem er
für das Corpus geniculatum laterale annahm, daß es „als Schaltstück
in einer anatomisch festgelegten Leitung“ ein Abfließen des Reiz-
stromes nach Nebenrichtungen verhindere. Im Sinne des Befundes
unserer Beobachtung 4 ergibt sich, daß die projektive Beziehung zwi-
schen Area striata und Corpus geniculatum laterale (v. Monakow)
die wirksame Kraft ist, durch die eine Übereinstimmung der räum-
lichen Ordnung im Querschnitt der zentripetalen optischen Leitung
hergestellt wird. Wenn die Fasern aus dem Tractus opticus in
der Anordnung der Cajalschen Biischel an die Gruppen des Corpus
geniculatum laterale in einer bestimmten Anordnung herantreten, so
erscheint uns das nur erklärbar durch eine gleichsam aktive,attrak-
tive Kraft, die eine solche Zellgruppe auf die betreffende Optikus-
faser ausübt und die in einer morphologisch ablesbaren Weise den
Querschnitt der einzelnen Faser zerteilt. Die attraktive Kraft.
die diese Zellgruppen erlangt haben, wird von der Area striata her
auf einem zentrifugalen Wege fortgesetzt verstärkt und reguliert; da
auf demselben Wege auch jene trophischen Einflüsse erteilt wer-
den, die ein Sonderfall der allgemeinen, durch v. Monakow ent-
deckten trophischen Korrelation zwischen Großhirnrinde und Thala-
mus sind, liegt die Vermutung nahe, daß die attraktive Kraft. auf
jede einzelne Optikusfaser den Zellgruppen des Corpus geniculatum
in phylogenetischen Zeiträumen von der Area striata her erteilt
oder wenigstens in ihnen verstärkt und modifiziert worden ist.
Wir kommen damit zu der Frage, welche besonderen Leistungen
wir der zentrifugalen Bahn von der Area striata zum Corpus genicu-
latum laterale zuzuschreiben haben. Unzweifelhaft liegt eine ihrer
Hauptleistungen in dertrophischen Beeinflussung, von der soeben
die Rede war. Es ergibt sich das schon daraus, daß die regelmäßige
Degeneration bestimmter Anteile des Ganglion nach Herden im Mark
des Okzipitallappens unmöglich auf die bestehende Durchbrechung
zentripetaler Axone allein zurückgeführt werden kann. Wie groß der
Anteil derartiger retrograder Wirkungen an der jeweiligen trophischen
Störung ist, wie groß dagegen der Anteil, den ein Ausfall im zentri-
fugal leitenden Querschnitt zur Folge hat, läßt sich an solchen Herd-
wirkungen nicht abschätzen. Jedenfalls aber wird eingeräumt wer-
den müssen, daß aueh der Anteil. den die zentrifugale Erregungs-
leitung an der trophischen Korrelation nimmt. vorhanden und be-
triichtlich ist.
— 193 —
Es handelt sich bei diesem trophischen Einfluß offenbar um eine
statische Dauerwirkung; sie ist in ihrer Art halbwegs ver-
gleichbar dem kontinuierlichen Einfluß, den die Pyramidenbahn auf
Gruppen von Vorderhornzellen ausübt und der u. a. den Tonus der
entsprechenden Muskelgruppen reguliert, ohne aber die einzige regu-
lierende Kraft zu sein. Aus den Erfahrungen, die wir an anderen
hirnpathologischen Beispielen gewonnen haben, ergibt sich die Auf-
fassung, daß diese trophische Dauerwirkung besonders in einer Rege-
lung der Durchlässigkeit der Genikulatumzellen für zentri-
petale optische Erregungen besteht; sie beseitigt überschüssige Er-
regungen und erhöht die Empfindlichkeit für Erregungen aus be-
stimmten Hauptwegen (Nießlv. Mayendorf); so reguliert sie die
richtende Kraft, die den Hauptzellen des Genikulatum inne-
wohnt; betrachtet man die phylogenetische Seite dieser Gesamtwir-
kung, so kann man wieder annehmen, daß sie ihnen jene bestimmt
richtende Eigenschaft erteilt hat, die sie mit den Hinterhornzellen im
Dusser de Barenneschen Versuch gemeinsam haben.
Man kann dies kaum anders bezeichnen als durch den Ausdruck,
daß auf dem Wege der zentrifugalen Bahn eine Adaptation der
Hauptzellen des Corpus geniculatum von Seite der Area striata
fortgesetzt stattfindet. Damit kommen wir zu der eingangs bespro-
chenen Auffassung zurück; es ist aber nicht eine Adaption der Retina
durch das Corpus genieulatum (Wilbrand und Sänger), die sich
direkt aus den Befunden unserer Beobachtung 4 ableiten läßt. son-
dern zunächst eine Adaptation des Corpus genieulatum durch die
Area striata.
Wir erinnern daran, daß im früheren auch die Area striata selbst
als adaptiv beeinflußt von den Richtungszentren (und von den gnosti-
schen Zentren) der weiteren Sehsphäre erschienen ist. Unsere Be-
funde bei der optischen Allästhesie haben zu dieser Anschauung hin-
geführt. Schließen wir noch die Anschauung Wilbrands und
Sängers hieran, so kommen wir zu einer geordneten Kettenwirkung
von Vorgängen, die eine Resultierende der gesamten zusammengefaB-
ten Eigenleistungen aller Rindenfelder auf dem Wege über die Area
striata und das Corpus geniculatum bis in die Retina selbst über-
tragen. Allen einzelnen Kettengliedern dieses Vorgangs entspricht
das Gemeinsame, daß es adaptive Leistungen sind und daß sie von
Systemen übertragen werden, deren Axonen die Erregung zentrifugal
leiten.
Wollte man — wie dies sonst so häufig geschieht — den Fluß der
zentripetalen Erregungen mit einem elektrischen Strom vergleichen,
dann würde das Corpus geniculatum bis zu einem gewissen Grade
einer Selenzelle gleichen, wie sie bei der telegraphischen Übertra-
gung von Bildern benützt wird. Bekanntlich erhöht sich die elektri-
sche Leitfähigkeit des Selens dort, wo Lichtstrahlen es treffen: wir
führen diesen Vergleich hier an, weil er eine bestimmte Anordnung
der verglichenen Vorgänge enthält: offenbar ist es die zentripetale
optische Erregung, die hier mit dem durchfließenden Strom und
seinen Abstufungen verglichen wird; als Lichtstrahlen, die das Selen
in seiner Leitfähigkeit variabel machen, erscheinen die zentrifugalen
Wirkungen von der Area striata auf das Corpus geniculatum laterale.
Sie können dieses gleichsam abwechselnd belichten und beschatten:
sie können bei entsprechend angeordneten störenden Wirkungen, auch
wenn sie nicht der Area striata selbst, sondern den okzipitalen Rich-
tungszentren angehören, über die Area weg zentripetale Erregungen
abblenden, wie am positiven Skotom unserer Beobachtung 3 er-
sichtlich ist. das die Doppelversorgung bildlich zu veranschaulichen
schien.
So erscheint uns die Adaptation des Corpus genicula-
tum laterale durch die Area striata als eine Übertragung
der kortikalen Eigenrichtungen auf das spezifisch zugeordnete Zwi-
schenhirnganglion. Der Vorgang sagt etwas aus über die Herkunft
der Faktoren, die das Corpus geniculatum richtend beeintlussen, aber
nichts über die Art, wie sich in der Rinde jene richtenden Faktoren
bilden. Zur Beantwortung der letzteren Frage kann das ange-
schlossen werden, was sich im früheren über den Einfluß der parieta-
len Richtungszentren auf die Area striata ergeben hat: Die letztere ist
einerseits die Trägerin einer phylogenetisch .übermittelten Eigen-
abstimmung, bei deren Sinken erst die Fortwirkung und Variabilität
jener übertragenen richtenden Wirkungen klinisch offenbar
wird. die während des individuellen Lebens weiterdauern. Der Ge-
samtbesitz der Area striata an riehtenden Momenten kann also in
jedem Augenblick in zwei Gruppen zerlegt werden, deren eine kon-
stant, deren andere (innerhalb gewisser Grenzen) variabel ist. Wir
haben gesehen, daß die variable Gruppe mit dem Wechsel der Fixier-
punkte zusammenhängt, die konstante Gruppe mit der Bildung der
lokalen Konstanten im Gesichtsfeld. Für die adaptive Beeinflussung
des Corpus genieulatum würde sich eine analoge. aber kompliziertere
Teilung ergeben: eine konstante Eigenleistung des Ganglion entspricht
dem Einfluß, den ihm Wilbrand und Sänger für die Adaptation
der Netzhaut zuschreiben: noch eine zweite konstante Gruppe aber
entspricht dem Einfluß der festgelegten Eigenabstimmungen der
— 175 —
Regio calcarina; erst zu diesen beiden Wirkungsgruppen würde
jener variablere Einfluß der parietalen Richtungszentren treten, der
über die Area striata hinweg flüchtige Erhellungen spenden und flüch-
tige Schatten werfen kann.
Betrachtet man den Weg der zentrifugalen Erregung im Seh-
nerven selbst im Sinne der Ergebnisse und Auffassungen Ramon
y Cajals, so geht der „wahrscheinliche Weg“ dieser zentrifugalen
Erregung zuerst durch Axone, deren Herkunft im einzelnen nicht
sichergestellt werden kann (Vierhügel?, Corpus geniculatum late-
rale?); diese Axone verzweigen sich (bei den Vögeln über Spongio-
blasten der Assoziation hinweg) an amakrinen Zellen; die so
übermittelte Wirkung wird von diesen wieder an Zellen des
Ganglion nervi optici mit zentripetaler Erregungs-
leitung abgegeben. In diesem ganzen vermuteten Wege findet
sich eine unverkennbare Ähnlichkeit mit der Art, wie die zentrifugale
Erregung von der Sehsphäre aus das Zwischenhirnganglion adaptiert.
Wirkungen, die auf dem Wege über zentrifugale Axone gehen, werden
im ersten Beispiel auf eine Gruppe der Hauptzellen im Corpus genicu-
latum laterale konzentriert; analoge Wirkungen werden im zweiten
Beispiel über amakrine Zellen als Zwischenglieder hinweg auf
einzelne Zellen des Ganglion nervi optici übertragen. Eine gestei-
gerte oder verringerte Empfindlichkeit gegen die Vorgänge, die die
Sehzellen verändern, mag die unmittelbare Folge dieser Beeinflussun-
gen sein. Erst eine weitere Rückwirkung dieses Vorganges auf
die sekretorische Leistung wird jene assimilatorischen Vorgänge zur
Folge haben, von denen Wilbrand und Sänger ausgegangen sind.
Das peripherste Glied in dieser Kette von Vorgängen trifft die
Sehzellen und enthält nach der Heringschen Lehre eine Beschrän-
kung der dissimilatorischen Vorgänge, eine Förderung der assimilato-
rischen. Hering hat den beiden Gegenphasen dieses Vorgangs je
eine entgegengesetzte Art von Erregung zugeordnet; wir haben im
hier gegebenen Zusammenhang nieht von der primären, dureh den
Wechsel der Belichtung im Außenraum bedingten Dissimilation und
Assimilation der Sehsubstanzen gesprochen, sondern von adapti-
ven Vorgängen im Bereich dernervösen Substanz. Nur für die
letztere geben wir an. daß sie auf einer Beseitigung von Erregung
aus Nebenwegen beruht und riehtende Kräfte erkennen läßt, die die
Wirksamkeit erregender Faktoren auf Hauptwegen steigert.
von Nebenwegen absperrt, also bahnende Wirkungen ausübt.
Insofern diese Vorgänge Überschüsse von Erregung beseitigen. er-
— 176 —
scheinen sie uns als eine Parallele zuassimilatorischen Vor-
gängen in den Nervenzellen, da wir selbstverständlich der
dynamischen Erregung in den Nervenzellen eine Steigerung
der dissimilatorischen Phase ihres Stoffwechsels zuordnen. Wir be-
trachten also Zustandsänderungen in der Nervenzelle, die ihre
Statik wieder herzustellen suchen und assimilatorische Vorgänge in
einem spezifischen, der jeweiligen dissimilatorischen Phase
entgegengesetzt verlaufenden Sinne auslösen. Wir können
diesen restituierenden Kräften nicht ohne weiteres und nicht für alle
Fälle Folgewirkungen zuordnen. die man als assimilatorische Er-
regung bezeichnen muß. Noch weniger erscheinen uns die Vor-
gänge, die das gestörte Gleichgewicht wieder herzustellen trachten, als
sekundäre Folgeerscheinungen einer besonderen assimilatori-
schen Erregung. Sie erscheinen uns vielmehr als bediugt durch
eine Grundeigenschaft lebender Zellen: durch einen Gegenvorgang den
Ausgangszustand soweit als möglich wieder herstellen zu wollen; in
der Leistung der Leukozyten und der retikulo-endothelialen Zellen er-
scheint dieses Bestreben als Grundlage spezifischer Immunvorgänge;
ihre Analogie in der Leistung der Nervenzellen nennen wir Gegen-
reaktion der Zentren. Diese bedingt selbstverständlich in vielen
Fällen sekundäre Verschiebungen im Gesamtzustand der Er-
regungsverteilung. Will man diese als assimilatorische Erregungen
im Sinne Herings bezeichnen. so haben wir dagegen nichts einzu-
wenden. Wir glauben aber nicht, daß diese Bezeichnung geeignet ist.
ein Licht auf die Spezifität zu werfen. die den Immunkörper-
vorgängen wie dieser Gegenreaktion der einzelnen Zentren innewohnt.
in einer Weise, die in vielen kleinen Zügen überraschende Ähnlich-
keiten ergibt. Eine solehe Spezitizität findet sich im Laufe der hier
dargestellten Zusammenhänge in der Invarianz der Rich-
tungsfaktoren, die von bestimmten. aus Ganglienzellen bestehen-
den Systemen den zentripetalen Erregungen erteilt werden, überhaupt
an den adaptiven Vorgängen der nervösen Substanz.
die bestimmte Richtungen aus einem Untergrund von abgeblendeten
Nebenwegen der Erregung kontrastreich und scharf herausheben und
die Erregungen, von denen die nervöse Substanz durchströmt wird,
konformieren (Johannes v. Kries). Die nahe Beziehung zum
Gesetz der spezifischen Energie der Sinnesnerven ergibt sich von
selbst; wir halten es aber für fruchtbarer, sie an einigen Sonderfällen
erkennen zu lassen, als auf ihre allgemeine Besprechung hier ein-
zugehen.
— 17 —
9. Die Störung des Formensinns
bei Affektion des Pulvinarthalami (Winkler).
Ein umfangreiches infiltrierendes Gliom des Pulvinar thalami,
das Winkler klinisch und anatomisch genau untersucht hat, be-
dingte keine Ausfälle im Gesichtsfeld, wohl aber herdkontralaterale
hemianopisch angeordnete Störungen des optischen Formen-
sinns. Winkler hat aus diesem Befund den Schluß gezogen,
daß die optische Leistung, die über das Pulvinar thalami geht,
mit den Leistungen des Formensinns besonders eng zusammen-
hängt. Diese Folgerung Winklers ist für die Kenntnis des
zerebral-optischen Apparates von der größten Wichtigkeit; sie
muß in unsere Beobachtung eingefügt werden, wiewohl die Beziehun-
gen des Pulvinar zum Formensinn durch den einen Fall Winklers
noch nicht als gesichert gelten können. Es handelt sich um Tumor-
wirkungen, also um Effekte, die viele unkontrollierbare Nebenwirkun-
gen enthalten, noch dazu um ein infiltrierendes Gliom, das oft ganz
andere Herdsymptome setzt, als eine Destruktion desselben Gebietes.
Uns selbst erscheinen diese Einwände gegen den Befund Winklers
aber nicht allzu wichtig: wenn es sich auch vielleicht nicht um die
Wirkung einer Desorganisation des Pulvinar allein gehandelt hat, so
sind es doch vor allem die 'Thalamusstiele zwischen Parieto-okzipital-
rinde und Pulvinar, die für die Nachbarschaftswirkungen des Tumors
in erster Linie in Betracht kommen. Dadurch sowohl, wie durch den
Inhalt der Störung, die gerade den Formensinn betraf, kommt der
Fall Winklers in einen nahen Zusammenhang mit unseren Beobach-
tungen von gerichteter Metamorphopsie: in diesen war die Störung des
Formensinnes eine räumlich-begreuzte; sie ist es auch im Falle
Winklers: nur ist in dem letzteren der gestörte Bereich im Seh-
raum ein größerer: er ist aber ebenfalls perizentral. Dies erinnert
an den schulmäßigen Unterschied zwischen Kapselhemiplegie und zere-
braler Monoplegie: man könnte also annehmen, daß unsere Fälle von
Metamorphopsie einer kortikalen oder subkortikalen Läsion derselben
Systeme entsprechen, die im Falle Winklers in ihrem Zusammen-
lauf zur Einstrahlungszone des Pulvinar bzw. in ihrer Endstätte selbst
mehr zusammengefaßt geschädigt worden sind.
Aber auch mit den Störungen des Formensinns bei gewissen
optisch-agnostischen Symptomenkomplexen hat dieser Befund
von Winkler Beziehungen. Die Störungen des Formensinns bei
ihm war eine allgemeine, d. h. sie betraf Konturen gleichmäßig,
ob sie sich nun zu Buchstaben, Noten, geometrischen Figuren usw.
— 178 —
zusammenfügten. Demgegenüber ist die Störung des Formensinns bei
den optischen Agnosien bekanntlich oft eine elektive, auf Gebilde
einer bestimmten Kategorie (Buchstaben oder geometrisch-optische
Gebilde usw.) bescehränkte'). Auch hier würde die Annahme
naheliegen, daß die Systeme, die sich bei ihrer Einstrahlung in ver-
schiedene Bezirke der weiteren Sehsphäre elektiv entmischen, im Falle
Winklers an ihrer gemeinsamen Wurzel in einem engen Bereich
zusammengefaßt kollektiv geschädigt worden sind.
Überdies .war im Falle Winklers das Corpus geniculatum
laterale ganz, seine Strahlung größtenteils mikroskopisch intakt. Dies
korrespondierte im klinischen Bild damit, daß kein Gesichtsfelddefekt
bestand und daß Lichtsinn und Farbensinn intakt waren. Begrenzte
Gesichtsfelddefekte und (vorübergehende oder mehr dauernde)
Störungen der Adaptationsind es, die wir von partiellen Läsionen
des Corpus geniculatum laterale zu erwarten haben (vgl. den vorigen
Abschnitt); so eignet sich der Fall Winklers dazu, die spezifischen
Ausfälle bei Destruktion des Pulvinar mit den spezifischen Ausfällen
bei Genikulatumläsion zu vergleichen.
Winkler hat die zentripetale Leitung zwischen Pulvinar
und Okzipitalrinde und die in das Pulvinar einstrahlenden Optikus-
fasern für die Leistungen des optischen Formensinns besonders heran-
gezogen. Unsere Ergebnisse über das Corpus genieulatum laterale und
die identische trophische Korrelation, die für bestimmte Areale der
Großhirnrinde in ihrer Beziehung zum Pulvinar ebenso gilt, wie für
das Verhältnis zwischen Area striata und Corpus geniculatum laterale
(v.Monakow) sind Gründe, die uns veranlassen, auchdiezentri-
fugalen Bahnen von der Okzipitalrinde zum Thalamus, also die
doppelsinnige Verbindung zwischen GroBhirnrinde und
Zwischenhirn in die Betrachtung einzubeziehen.
Die Störungen der Adaptation, die bei Schädigung der Area
striata sowohl, wie bei Schädigung des Corpus genieulatum auftreten.
erinnern überdies an das bekannteste Symptom bei herdförmigen Zer-
störungen im Thalamus: an das Auftreten von Schmerzen eines
zentralen Typus (Roussy). Nach unseren Erfahrungen enthalten die
Schmerzen bei Thalamusaffektionen sehr häufig Irradiations-
phänomene: überdies ist bei der bleibenden Sensibilitätsstörung
gewisser thalamischer Herde gerade die Lokalzeichenbildung
') Daß diese Beschränkung eine vorwiegende, nicht absolute ist.
ändert nichts an ihrer prinzipiellen Wichtigkeit. Vel. „Agnostische Störungen“
S32
— 19 —
besonders geschädigt (Roussy). So gewinnen die Begleiterscheinun-
gen einer thalamischen Sensibilitätsstörung eine Ähnlichkeit
mit jenen Läsionen im Seitenstrang, bei denen zuweilen taktile All-
ästhesie auftritt. Es scheint sich also auch für den Thalamusherd eine
Beziehung zum Versuch Dusser de Barennes anzudeuten. Auch
Schilder hat in seinem Fall von Polyästhesie eine Mitbeteiligung des
Thalamus erwogen. Die Thalamussymptome, die Head und Holmes
beschrieben haben und die jetzt im Vordergrund des allgemeinen
Interesses stehen, enthalten u. a., daß alle möglichen Eindrücke der
Außenwelt eigenartig unlustbetont sind. So liegt es nahe, für
gewisse Erscheinungen nach Thalamusläsionen an ähnliche Störungen
adaptiver Vorgänge in der nervösen Substanz zu
denken, wie sie im vorigen Abschnitt an Area striata und Corpus
geniculatum besprochen worden sind. Was für die sensiblen Störun-
gen nach Thalamusherden gilt, wird konformer Weise auch für die
optischen Störungen nach Thalamusläsion zu prüfen sein. Da für
die trophische Korrelation sowohl, wie für die Herstellung einer adap-
tiven Beziehung zwischen Großhirnrinde und Zwischenhirnganglien
sich Einflüsse kortikofugaler Natur an dem Beispiel des Corpus
geniculatum als wichtig erwiesen haben, erwarten wir dasselbe für die
Relation zwischen Pulvinar und Okzipitalrinde.
Geht man auf die Betrachtung dieser Verhältnisse ein, so muß
vor allem berücksichtigt werden, daß die trophische Korrelation zwi-
schen Okzipitalrinde und Pulvinar nicht die Area striata betrifft,
sondern ein Rindengebiet, das außerhalb von ihr gelegen ist. Es ist
höchstens die Frage, ob dies ausschließlich oder nur vorwiegend gilt.
Von Monakow vermutet Beziehungen zwischen der Pulvinar-
strahlung und dem unteren Scheitelläppchen; er hebt hervor, daß die
Pulvinarstrahlung in bezug auf ihre Faserzahl sogar die Strahlung des
Corpus geniculatum um ein Beträchtliches übertrifft. Betrachtet man
also das, was über das Ursprungsgebiet und das Endgebiet der kortiko-
fugalen Pulvinarstrahlung bekannt ist, so ergibt sich zunächst.
daß wir ihr Ursprungsgebiet innerhalb des Bereichs der
parieto-okzipitalen Richtungszentren zu suchen haben,
also in jener Region, deren Einfluß auf die Area striata in unseren
Beobachtungen von optischer Allästhesie besonders hervorgetreten ist.
Auch die Einstrahlungsgebiete (v. Monakow) der
thalamo-kortikalen Faserung des Pulvinar fallen in das Gebiet der
parieto-okzipitalen Richtungszentren. Wieweit sich bei diesen
Systemen die Einstrahlungszone der kKkortikopetalen Projektions-
faserung mit der Ausstrahlungszone der kortikofugalen deckt, ist nicht
— 180 —
klargestellt; daß eine Deckung zum großen Teil besteht, ist sicher:
vielleicht ist sie sogar eine scharfe.
Die Serienschnitte des Falles von Winkler lassen sehr aus-
gedehnte Faserlichtungen im Mark der parieto-okzipitalen Konvexität
(außerhalb der sagittalen Schichten) erkennen, außerdem aber
Lichtungen im Stratum sagittale externum und insbesondere zwei
streifenförmige Degenerationen, deren eine in den Kuneus. deren
andere in den Lobus lingualis geht. Die letzteren entsprechen nicht
einer Einstrahlung in jene Teile vom Kuneus und Gyrus lingualis, die
der Regio calcarina angehören, sondern dem Randgebiet. das sie
umrahmt. Winkler selbst legt auf diese beiden Degenerationen und
auf die Art ihrer Einstrahlung das Hauptgewicht.
Im Falle Winklers sind nicht die ganzen Faserlichtungen im
parieto-okzipitalen Mark auf die Strahlung aus dem Pulvinar zu be-
ziehen, da nicht nur dieses, sondern auch die medialen und ventralen
Kerne des Thalamus durch die Geschwulst destruiert sind: überdies
dehnt die Geschwulst die Strata sagittalia stark: sie liegt in ihnen
wie eine große Frucht in einer Schale: es wäre daher möglich, daß
ein Teil-der Ausfälle auf solche dehnende Wirkungen zu beziehen ist:
doch glauben wir für die weitere Besprechung dies vernachlässigen zu
dürfen (vgl. S. 177).
Der Zerstörung der medio-ventralen Thalamuskerne entsprach in
Winklers Fall eine Astereognose derrechtén Hand. Da-
durch bekommt der Befund eine gewisse Ahnlichkeit mit dem Fall
von Balint (S. 93), bei dem eine Störung in der rechten Hand be-
standen hat, die Bälint als optische Ataxie bezeichnet.
Winkler selbst weist auf die Analogie dieser Astereognose der
Hand und der Asterognoseder Gesichtsfeldhälften hin:
„die Formen werden nicht nur mit dem Auge, sondern auch mit der
Hand erkannt. — Es liegt nahe, an eine Analogie zwischen der
Astereognose und der beschriebenen Störung im Erkennen optischer
Formen zu denken.“ Nach Winkler werden die Fasern aus dem
Traetus optieus, die in das Pulvinar einstrahlen, in demselben mit den
kinästhetischen Impulsen unmittelbar verknüpft, die in den ventralen
Thalamuskernen ausgearbeitet werden. Da die zentripetale Bahn aus
dem Pulvinar mit der Radiation aus dem Corpus geniculatum laterale
nieht identisch ist und im besprochenen Fall isoliert von der letzteren
degeneriert war, ist die Übermittlung der umgearbeiteten optischen
Kintlüsse aus dem Pulvinar einem besonderen Weg zugewiesen und
einer Einstrahlungszone, die sich von der kortikalen Zone der Geni-
kulatumfaserung unterscheidet Winkler ist geneigt. die kortikale
— 181 —
oe
Zone des Pulvinar mit dem kortikalen Feld der Fovea centralis zu
identifizieren, in jener Ausdehnung, die NieBl v. Mayendorf für
dieses angenommen hat. Er hebt aber selbst hervor, daß die Windun-
gen, die die Fissura calearina unmittelbar umgeben, dieser Ein-
strahlungszone nicht angehören.
Der Befund unserer Beobachtung 4 stimmt morphologisch mit
diesen Ergebnissen Winklers gut überein: Der linkshirnige Herd
hatte im Bereich der Fissura calcarina gerade die Area striata (in
deren polarer Hälfte) ausgiebig und tief zerstört; nur ein ganz
schmaler Streifen erhaltener striärer Rinde markierte die beiden
Ränder der Area nach oben sowohl wie nach unten. Das dorsale Ge-
biet im Kuneus, das Winkler der Einstrahlung aus dem Pulvinar
zuordnet, war in unserem Fall ganz intakt; vom lingualen Ein-
strahlungsfeld dagegen war durch die Erweichung ein nicht un-
beträchtlicher Anteil mitergriffen. In der Einstrahlungszone des
Pulvinar zeigt sich dem entsprechend, verglichen mit dem Befund der
rechten Seite und mit den Ausfällen im Wernickeschen Feld, nur
eine sehr geringfügige Faserlichtung; insbesondere ist die Gitter-
schicht an ihrer kaudalen Grenze anscheinend intakt. Wir haben den
Eindruck, daß die basaleren Bündel zum Pulvinar lädiert sind, doch
ist der Unterschied nicht deutlich genug.
In unserem Fall kann es sich sowohl um retrograde Degenera-
tionen, wie vor allem um eine Degeneration zentrifugaler Bündel
handeln. Soweit also eine Zone der Ausstrahlung ersichtlich
ist. deckt sie sich mit der lingualen Einstrahlungszone nach
Winkler, was wir im vorigen bereits verwertet haben.”
Wir können uns der zitierten Anschauung Winklers fast voll-
kommen anschließen; nur die Identifizierung der kortikalen Region
des Pulvinar mit dem Projektionsfeld der Fovea centralis stimmt mit
unseren Anschauungen nicht überein. Wir verlegen das letztere kon-
form der Theorie der Doppelversorgung in das Gebiet der Regio
calcarina selbst, das von dieser Einstrahlungszone ringförmig um-
schlossen wird. Doch glauben auch wir, daß die hier besprochenen
Nachbarverhältnisse für Aufbau und Leistungen des makulären Feldes
von großer Wichtigkeit sind; wir werden später darauf zurück-
kommen.
Aus dem Befund und den Anschauungen von Winkler ergibt
sich also für den zentripetalen Schenkel des Systems Pulvinar-
Okzipitalrinde, daß der Anteil der optischen Erregungen. die aus dem
Traktus des Sehnerven in das Pulvinar thalami eingehen. von den
Hauptzellen des Pulvinar (v. Monakow) derart verändert werden.
= 482 a2
daß sie für das Formensehen in der gekreuzten Hälfte des Sehraums
irgendwie unentbehrlich sind. Wir können uns die Veränderung der
passierenden zentripetalen Erregungen in den Hauptzellen des
Pulvinar wieder als eine Polarisation nach bestimmten
Schwingungsrichtungen vorstellen. analog der Polarisation sensibler
Erregungen im Hinterhorn beim Versuch Dusser de Barennes
und der Polarisation von Richtungsfaktoren in der Okzipitalrinde bei
unseren Fällen von gerichteter Metamorphopsie. Es ist die Frage, ob
wir über die Art der Polarisation, die die optische Erregung in den
Hauptzellen des Pulvinar erfährt, noch Näheres aussagen können.
Im Befund Winklers war die Umgebung des Fixierpunktes von
der Störung des Formensehens verschont. Dies ergibt. daß die von
Winkler angenommene Beteiligung des Pulvinar am Formensehen
dem Gesetz der Doppelversorgung der Makula ebenso zu unterliegen
scheint, wie jede Hemianopsie, die durch eine Blockierung im Quer-
schnitt des Systems Geniculatum-Area striata entstanden ist. Die
früher erwähnte Einzelheit aus dem Befund unserer Beobachtung 4
ließ uns auch an das Vorhandensein einer Vertikalprojektion
für die betrachtete Leistung des Pulvinar denken; freilich erschien
uns in dieser Beziehung unser Befund nicht deutlich. Vielleicht be-
steht auch für die Beziehungen zwischen Pulvinar und Okzipitalrinde
das Gesetz der horizontalen Projektion; allerdings läßt. sich dies vor-
läufig nicht unmittelbar beweisen.
Wir haben im früheren die Entstehung aller dieser Elemente
der Retina-Projektion auf richtende Faktoren zurückgeführt,
die von der benachbarten Okzipitalrinde auf die Area striata (phylo-
genetisch und noch weiter im individuellen Leben) übertragen
werden. Diese Übertragung erschien uns als eine Polarisation der
zentripetalen Erregungen, die das Corpus geniculatum laterale
passieren; wir haben sie auf Schwingungsebenen bezogen, die einem
Rechts-Links, Oben-Unten, also den beiden Paaren der Haupt-
blickrichtungen entsprechen. Aus der Kombination dieser
wenigen Faktoren in quantitativer Abstufung lassen sich alle ver-
schiedenen Lokalzeichen im Gesichtsfeld ableiten (S. 106). Mit Rück-
sicht darauf, daß auch die Winklersche Beziehung zwischen Pul-
vinar und Optikusfasern das Gesetz der Doppelversorgung enthält,
ergibt sich die Annahme, daß es eine Polarisation der optischen Er-
regungen nach den vier Hauptblickrichtungen ist, die von den Haupt-
zellen des Pulvinar den einstrahlenden Optikusfasern erteilt wird.
Dem linken Pulvinar würde jedenfalls eine Polarisation entsprechen,
die der Hauptbliekriehtung nach rechts zugeordnet ist, dem rechten
— 183 —
Pulvinar die Polarisation im Sinne der Hauptblickrichtung nach links,
Polarisationen im Richtungssinne des Oben-Unten sind aber vielleicht
beiden spiegelbildlich symmetrischen Ganglien gemeinsam; viel-
leicht sind sie bereits für den Zusammentritt der Rechts-Links-
Komponenten zu Gesamtkomplexen höherer Ordnung von Wichtigkeit.
Falls diese Annahme zutrifft, ist die Veränderung der zentripeta-
len Erregungen in den Hauptzellen des Thalamus ebenfalls völlig ver-
gleichbar mit der Veränderung der sensiblen Erregungen durch die
Hinterhornzellen im Sinne von Dusser de Barenne. Derart um-
gewandelt, würden die Einflüsse, die von den Axonen der Hauptzellen
des Pulvinar auf dem Wege der zentripetalen Erregungs-
leitung dem okzipitalen Einstrahlungsgebiet übermittelt werden,
nichts anderes darstellen, als jene Richtungsfaktoren, von
denen wir im früheren gezeigt haben (am Beispiel der ge-
richteten Metamorphopsie und unserer Fälle mit. optischer Allästhesie),
daßsievonokzipitalen Regionen, die auBerhalbder
Regio calcarina liegen, auf die Area striata über-
tragen werden und diese gewissermaßen für die Projektion der
Retina im Sinne der Doppelversorgung sensibilisieren.
Henschen hat bereits vermutet, daß der Vorgang der Pro-
jektion eine kortikale Einwirkung auf die Regio calcarina enthält,
die aus den benachbarten Gebieten herrührt; auch in den Auffassungen
Henschens über die Projektionsrichtung der optischen Halluzina-
tionen findet sich dieselbe Anschauung; die Befunde unserer Beobach-
tungen 3 und 4 haben auf sie geführt; da auch die Erfahrungen
Winklers an einer Destruktion des Pulvinar sich hier einfügen
lassen, ließe sich z. B. die Möglichkeit diskutieren, daß die alte Herd-
wirkung unserer Beobachtung 3, die im tachistoskopischen Experi-
ment hervorgetreten ist, einer Affektion des Pulvinar thalami ent-
sprechen könnte; dagegen spricht nur die geringe Astereognose der
Hand bei stärkerer Parese, die in unserer Beobachtung 3 vor-
handen war.
Wir können also die zentripetale optische Leitung, die über das
Pulvinar hinweg eine Einstrahlungszone im Umkreis der Area
striata erreicht. als den zentripetalen Schenkel jener Erregungs-
abläufe betrachten, die bei der Übertragung richtender Wirkungen
auf die Area striata im Spiele sind. Dieser zentripetale Schenkel ent-
hält offenbar noch ein kurzes Schaltstück von queren Verlauf der
Erregungsleitungen, nämlich den Weg. der zwischen den Endigungen
der thalamo-kortikalen Fasern und den Angriffspunkten ihre Wirkung
innerhalb der Area striata eingeschaltet ist.
— 184 —
Selbstverstindlich wird dieser Ubertragungsapparat von sehr
komplexem Bau sein. Wir gehen aber hier nicht auf Einzelheiten ein
und bemerken nur, daß sowohl Assoziationsfasern, die aus den Pyra-
midenzellen dieser Einstrahlungszone des Pulvinar entspringen, als
auch direkt intrakortikale Wege zwischen den beiden benachbarten
Areae dabei als Teilglieder in Betracht kommen. Grob makroskopisch
läßt sich dieser Zwischenweg aus der Lage der Verletzung in unserem
Fall 2 mit gerichteter Metamorphopsie (S. 103) veranschaulichen; die
penetrierende Verletzung entsprach dem oberen Anteil des Kuneus
nahe der Mittellinie; nach ihrer Lage ist zu erwarten, daß sowohl der
Kalkarinateil des Kuneus, als (mindestens) auch die benachbarte
Area 18 geschädigt waren. Im klinischen Bild des Falles entspricht
diesem Verletzungsmechanismus eine Störung des Raumsinns und
des Formensehens, die sich um kuneale Segmente der Area
striata erstreckte. Die Einwirkungen, die hier übertragen werden.
scheinen also sowohl für ihren kortikalen Ausgangspunkt wie für
ihren kortikalen Endpunkt nach den Gesetzen der Retinaprojektion
raumlich distinkt geordnet zu sein.
Auch über die Art dieser Einwirkungen hat uns das klinische
Bild desselben Falles eine Vorstellung gegeben. Es handelte sich um
eine Entmischung der Gesichtsfelder jedes der beiden
Augen innerhalb der entsprechenden Anteile des Sehraums: die
physiologische Einwirkung verhindert also eine solche.
Wir haben hier offenbar jene Wirkung vor uns, die Bäräny und
Kleist einem besonderen „Mischfeld“ in der Area striata zuschreiben
wollen: die beiden Autoren differieren in der Frage, welche Schicht
der Area striata sie als solehes Mischfeld bezeichnen sollen. Bárány
erklärt die IVc als Mischfeld; Kleist spricht von der IV b, der
Schicht der großen Sternzellen. Wir selbst lassen die Frage ganz offen
und beschränken uns auf die Dynamik dieser Erscheinungen: Sie
war uns anschaulich vorstellbar als eme Drehung von
Schwingungsebenen jener zentripetalen optischen Erregungen.
die dem herdgleichseitigen Auge zugeordnet sind. So wirken diese
mit den korrespondierenden Erregungen des anderen Auges nicht
mehr innerhalb derselben Fläche interferierend zusammen; ihre
Gesamtwirkung gleicht nunmehr zwei inkohärenten, senkrecht
aufeinander polarisierten Lichtstrahlen; die Wirkungen sind in ver-
schiedene Ebenen des Raumes verteilt; es resultiert die Tiefen-
wahrnehmung und die Erfassung der räumlichen
Formen.
— 18 —
Winkler ist der Anschauung, daß der Einfluß des Pulvinar
auf den optischen Formensinn in einer Komposition optischer Er-
regungen mit kinästhetischen Impulsen besteht, die in den Ventral-
kernen des Thalamus gleichsam ausgearbeitet werden. Diese Auf-
fassung läßt sich in einer Weise erweitern, von der wir glauben, daß
sie mit den Anschauungen Winklers selbst übereinstimmt: In den
Bereich des Thalamus opticus gehen nicht nur die sensiblen Er-
regungen ein, die über die Schleife und über die spino-thalamische
Bahn fortgeleitet werden, sondern auch zentripetale Erregungen
aus dem Kernlager des N. vestibularis, direkt oder in-
direkt also auch solche, die mit der Kinästhetik der Blick-
bewegungen zusammenhängen; es ist bekannt, wie sehr alle diese
Wirkungen abgeblendet werden müsssen, um nicht störende Er-
scheinungen im Bewußtsein, Schwindelanfälle u. dgl. hervorzurufen.
Der Lateralkern des Thalamus, dem auch das Pulvinar zugehört, ist
offenbar an der Abblendung dieser Wirkungen beteiligt; er ver-
arbeitet sie in seinen Hauptzellen. Gerade diese Art von zentri-
petalen Erregungen ist einerseits nach den drei Dimensionen des
Außenraums (labyrinthäre Quelle), andererseits nach den räumlichen
Verhältnissen des Körperbildes (sensorische Schenkel der spinalen
proprio-rezeptiven Reflexe usw.) geordnet, schon vor ihrer Ein-
strahlung in den Thalamus. Wenn also die Hauptzellen des Pulvinar
räumlich richtende Polarisationen an die von ihnen attrahierten
optischen Erregungen erteilen, so hängt dies mit den Quellen der
Abstimmung dieser Zellen so innig zusammen, wie die spezifische
Energie des optischen Apparats mit den Lichtwirkungen im Außen-
raum. Man kann einen Ausdruck von M. H. Fischer anwenden und
sagen, daß das Pulvinar thalami den ihm zugeordneten Anteil der
optischen Erregung im Sinne der spezifischen Energie des
proprio-rezeptiven Apparats verändert.
Ebenso wird zu beachten sein, daß die Übertragung der form-
gebenden Faktoren nicht nur von der Hand aufs Auge, sondern auch
vom Auge auf die Hand erfolgt. Wir sind in unserer Besprechung der
Agraphie auf diesen Punkt genauer eingegangen; hier weisen wir nur
darauf hin, daß es sich dabei um eine Wechselwirkung räumlich diffe-
renter Rindenfelder des Parieto-Okzipitallappens aufeinander
handelt, deren Bedingungen im Lateralkern des Thalamus vor-
bereitet werden. Auf diese Weise erklärt es sich auch, daß für die
optische Formgebung der Schriftzeichen (Beispiel der reinen Wort-
blindheit) besonders die ventrale Hälfte der kortikalen Zone des
Pulvinar in Betracht kommt, nicht so sehr die kuneale Hälfte. die
Herrmann-Pédtz!, Optische Allästhesie (Abhdl. H. 47). 13
— 186 —
wieder bei den geometrisch-optischen Störungen eine große Rolle
spielt. Auch ist sichergestellt, daß es sich bei den elektiv gruppierten
Störungen des Formensinns der Optisch-agnostischen nicht um eine
bloße Wechselwirkung zwischen Area striata und Area 18 handelt,
sondern um viel weiter ausgreifende Vorgänge. Der Beteiligung
der Pulvinarzone an diesen Vorgängen ist aber eine Bedeutung für
die Tatsache beizumessen, daß der typische Herd der reinen Wort-
blindheit gerade ventral, im tiefen Mark des Gyrus lingualis
gelegen ist.
Wir greifen als erstes Hauptergebnis des Vergleichs unserer Be-
funde mit den Ergebnissen Winklers heraus, daß sich die zentri-
petale Strecke eines Erregungskreises ziemlich vollständig über-
schauen läßt, innerhalb dessen die räumliche Abstimmung
der Area striata vor sich geht. Diese Kreisbahn ist aber unvoll-
ständig, solange wir nicht auch den zentrifugalen Schenkel der
Korrelation Pulvinar-Okzipitalrinde betrachten.
Für die zentrifugale Bahn Kalkarina-Genikulatum hat sich im
vorigen Abschnitt eine Eigenleistung ergeben, die einen Anteil der
bekannten trophischen Eintlüsse und einen adaptiven Vorgang in
sich enthält. Der letztere schien uns die räumliche Ordnung des
Genikulatum nach dem Bauplan der Großhirnrinde zu verändern, es
umzubauen. Betrachtet man die innige Parallele, die zwischen der
aufsteigenden Entwicklung des Pulvinar thalami und der allmählichen
Vergrößerung der Area 18 (und 19) in der Tierreihe besteht, so ergibt
sich schon daraus die Wahrscheinlichkeit eines analogen adaptiven
Einflusses dieser Region auf den Umbau der kaudalen Anteile des
Thalamus. Auch hier erscheint die Wirkung des Rindenfeldes auf das
Pulvinar als ein Einfluß, der ihm eine spezifische Kraft erteilt, Frak-
tionen von Optikusfasern gleichsam elektromagnetisch an-
zuziehen und aus ihrem phylogenetisch älteren Verlauf zu einer neuen
Verankerung abzulenken. Die Parallelen zwischen der steigenden
Entwicklung des Pulvinar und der Vergrößerung des gemeinschaft-
lichen Gesichtsfeldes sind noch weit engere, als die von Kleist
herangezogene Parallele zwischen der Verdoppelung der Kérnerschicht
und demselben Entwicklungsvorgang; die Beziehung ist frei von
Widersprüchen. So ist es berechtigt, wenn man in der raumbildenden
Eigenleistung der Korrelation Pulvinar-Okzipitalrinde ein weiteres
gestaltliches Gegenstück zur steigenden Entwicklung der Doppel-
versorgung erblickt.
Auch ist es berechtigt. für die kortikale Einstrahlungszone des
Pulvinar die Annahme zu machen. daß sie sich mit einer der zyto-
— 187 —
architektonisch übereinstimmenden Regionen scharf deckt; wir
konnten uns im vorigen den Anschauungen von Cords nicht an-
schließen, insofern sie uns auf eine ähnliche scharfe Deckung zwischen
Area 18 und optisch-motorischer Region abzuzielen schienen
(S. 131). Für dietrophische Korrelation zwischen bestimmten An-
teilen des Thalamus und bestimmten Anteilen der Großhirnrinde ist es
schon bisher — wenigstens für einen Sonderfall — im exakten Ver-
such nachgewiesen, daß eine haarscharfe Deckung zwischen der Zer-
störung eines einheitlich gebauten Thalamuskernes und der Atrophie
einer zytoarchitektonisch einheitlichen Area der Großhirnrinde be-
standen hat (von Franz Nissl am Kaninchen). So ist die Vermutung
berechtigt und einer experimentellen Prüfung zugänglich, daß die
Area 18, die konzentrisch die Regio calcarina umgibt, als elektive
Einstrahlungszone des Pulvinar zu betrachten ist, ebenso wie es die
Area striata für die Strahlung aus dem Genikulatum ist.
Macht man die (wahrscheinliche, aber nicht bewiesene) Annahme,
daß die Ausstrahlungszone der Area 18 in ebenso elektiver
Weise die ganze kortiko-fugale Projektion auf das Pulvinar enthält,
so ist die Frage noch einmal zu revidieren, ob es dann nicht doch
berechtigt ist (mit Kleist und teilweise mit Cords), die Area 18
als optisch-motorische Region anzusprechen. Es sind den
zentrifugalen Erregungswirkungen, die auf das Pulvinar gerichtet
sind, viel eher manifeste Augenbewegungen zuzuordnen, als den
zentrifugalen Wirkungen auf das Corpus geniculatum laterale; auch
fügt sich hier die alte Nothnagelsche Anschauung ein, die im
Thalamus ein Zentrum für unwillkürliche Bewegungen vermutet. Wir
glauben aber trotzdem unseren ablehnenden Standpunkt beibehalten
zu müssen; bewiesen scheint uns nur zu sein, daß unterpathologi-
schen Bedingungen Augenbewegungen einer störenden Art vom
Thalamus optieus aus enthemmt werden können. Für eine
physiologische Auslösung optisch-motorischer Effekte vom
Thalamus her finden sich bisher nicht genügende Anhaltspunkte. Da-
gegen ist es leicht, einen solehen physiologischen Effekt demjenigen
Teil der zentrifugalen Systeme des Okzipitalhirns zuzuschreiben, der
(im Vierhügelstiel) direkt in das tiefe Mark der vorderen Vier-
hügel einstrahlt. Ob überhaupt eine zentripetale Faserung von
den Vierhügeln zum Großhirn verläuft, ist bekanntlich strittig; die
mächtige zentrifugale Bahn, die diesen Weg nimmt, gewinnt aber
einen unmittelbaren Anschluß an den Okulostatischen, bzw. okulo-
motorischen Apparat im Mittelhirn.
13*
— 188 —
Nun deckt sich (v. Monakow) das Projektionsgebiet der
vorderen Vierhügel höchstens teilweise mit dem Projektionsgebiet des
Pulvinar in der Okzipitalrinde. In Fortführung der früheren An-
schauungen wäre es möglich, die Area 19 (im Sinne der älteren An-
schauungen von Bernheimer, Brissaud u. a., denen auch wir
teilweise beipflichten) als die kortikale Area der vorderen Vierhügel
und damit als ein Hauptfeld für die Entsendung des zentrifugalen
Schenkels der optischen Einstellungsbewegungen und der optischen
Stellreflexe zu betrachten. Wir halten dies aber nicht für berechtigt;
zentripetale Elemente scheinen in den projektiven Wirkungen, die in
diese Area eingehen — wenn überhaupt —, nur gleichsam in äußerster
Verdünnung vorhanden zu sein. Auch handelt es sich hier wohl nicht
mehr um zentripetal optische Erregungsanteile, sondern eher um
ophthalmo-kinästhetische. Die letzteren stammen aber von
einem Gebiet des Thalamus, das bisher nicht eindeutig bestimmt
ist, u. E. dem Pulvinar benachbart, aber nicht mit ihm identisch ist;
dieser Thalamus-Region wäre u. E. die Area 19 zuzuordnen.
Damit im Einklang stehen die Beobachtungen von A. Pick.
van Valkenburg, Hartmann, dem einen von uns (P.), die
Störungen des Tiefensehens hei Angularisläsion enthalten. Im
Falle des einen von uns waren die Strata sagittalia dabei nicht
durchbrochen. Auch in unserem Falle (2) mit gerichteter
Metamorphopsie war im Anfang eine zentrifugale Erregungskompo-
nente enthemmt, die das gekreuzte Auge rotiert hat. Diese Ent-
hemmung kann man allerdings einer Riiekwirkung der Area 18 auf
das Pulvinar zusehreiben, im Sinne einer Diaschisis
(v. Monakow). der zufolge das Pulvinar noch nicht imstande war,
die störende Komponente aus dem Reflexkreis des okulostatischen
Apparats abzulenken und zu dämpfen. Dies ist aber auch keine
physiologische Augeneinstellung gewesen.
Wenn wir also von einem optisch-motorischen Feld sprechen
wollen und damit die kortikale Region meinen, aus der haupt-
sächlich okulomotoriseh wirksame Impulse den Bliekapparat
im Mittelhirn treffen, so wäre in erster Linie das Gebiet gemeint, das
die Bahn zu den vorderen Vierhügeln entsendet; dieses deckt sich
eher noch mit der Area 19 als mit der Area 18. Wenn wir aber —
was uns richtiger erscheint — das Gesamtgebiet der optisch-motori-
schen Reflexe, ihrer Umwandlungen und Inversionen als optisch-
motorisches Feld bezeichnen. dann müssen wir die Area 17, 18 und 19
zusammenfassen; die Frage ist nur. ob nieht noch weitere Zusammen-
fassungen mit anderen Regionen notwendig sind. Die erkennbare
— 189 —
Eigenleistung der Area 18 besteht darin, daß sie in die Leistungen
der Vierhügelregion eingreift und deren dominierende Rolle als
Reflexzentrum herabmindert. Ihr entspricht gestaltlich die stärkere
Entwicklung des Pulvinar thalami auf Kosten der vorderen Vierhügel,
die eine weitere Etappe bildet in jenem Vorgang, der schon bei den
niederen Säugetieren das Corpus geniculatum auf Kosten der vorderen
Vierhügel begünstigt und einer besonderen Differenzierung zu-
geführt hat.
Der Bericht Winklers enthält nichts über den optischen
Nystagmus. Es ist Cords beizustimmen, wenn er die Prüfung des
optischen Nystagmus ın derartigen Fällen als höchst wichtig be-
zeichnet. Im Falle Winklers wäre allerdings das Ergebnis nur
dann eindeutig verwertbar gewesen, wenn der optische Nystagmus
nach der Seite des gestörten Formensinns vorhanden gewesen
wäre, was nicht gerade wahrscheinlich ist. Hätte im Falle Winklers
der optische Nystagmus von der rechten Seite des Sehraums her ge-
fehlt, so hätte man dies nicht auf das Pulvinar selbst beziehen müssen;
es wäre auch erklärlich durch die ausgedehnte Wirkung des nach
rückwärts wachsenden Tumors auf einen größeren Kreis von optisch-
motorischen Systemen, die nicht alle zur Pulvinarstrahlung gehören.
Jedenfalls bleibt es wahrscheinlich, daß der zentrifugale Schenkel
jener Komponente des optischen Nystagmus, die vom Okzipitalhirn
aus gestört werden kann (vgl. S. 132), in der kortiko-fugalen Vier-
hügelbahn zu suchen ist.
In jüngster Zeit ist (von dem einen von uns, P., von Schilder,
Gerstmann, Kauders u. a.) auf den tonischen Charakter
hingewiesen worden, den viele Erscheinungen von Enthemmung
zentrifugaler Erregungen aufweisen, wenn sie von einer örtlichen
Störung im Gebiet des Gyrus angularis ausgehen. Dies führt wieder
auf jene Hypothese Bäränys zurück, nach der dielangsame —
wenn man so sagen darf, pseudo-labyrinthäre — Komponente des
optischen Nystagmus vom Okzipitalhirn aus entstehen soll, die
schnelle Komponente des optischen Nystagmus aber durch einen
Einfluß des Frontalhirns. Natürlich enthält das hier Angeführte keine
Bestätigung dieser Hypothese; es weist aber darauf hin, daß Ent-
hemmungserscheinungen vom parieto-okzipitalen Rindengebiet aus
eine gewisse Prädilektion für tonische Dauerwirkun-
gen haben, während Enthemmungserscheinungen vom Fußgebiet der
zweiten Stirnwindungen aus vielleicht einen kürzeren Rhythmus ent-
halten, der diese tonischen Dauerwirkungen wellenförmig zu durch-
— 190 —
schneiden vermag (vgl. dazu die Reizversuche von C. und O. Vogt,
gemeinsam mit Bäräny angestellt an Makakus). ‘
Wir schreiben also den kortiko-fugalen Systemen, die in das
Pulvinar einstrahlen, vor allem jene organgestaltende Wirkung zu,
die die Hauptzellen des Pulvinar in ihrer funktionellen Gruppierung
erhält, damit aber auch ihre Fähigkeit, Optikusfasern zu attrahieren,
fortentwickelt und steigert. Da diese Optikusfasern — wie diejenigen.
die ins Genikulatum einstrahlen — einem Reflexkreis entzogen wer-
den, der über die vorderen Vierhügel geht, so können wir die kortiko-
fugale Leistung der Area 18 auch als eine Spaltung der
mesenzephalenoptischen Reflexbahnen bezeichnen, die
am sensorischen Schenkel derselben angreift. Einen analogen
spaltenden Vorgang kann man für die kortikalen Einflüsse auf die
benachbarten Thalamuskerne annehmen, durch die der Reflex-
kreis der mesenzephalen richtenden Reflexe analog durchbrochen und
teilweise in den Thalamus abgelenkt wird. Das physikalische Bild fiir
‘diese Wirkungen wäre also ein Magnetfeld.
Die rezeptiven Schenkel der mesenzephalen Erregungskreise, die
den Tonus und die Körperhaltung regulieren, stammen teils aus laby-
rinthärer, teils aus zerebellarer, teils aus spinaler proprio-rezeptiver
Quelle. Wieweit sie schon ähnliche ablenkende Wirkungen auf die
bulbären und spinalen Reflexkreise der eigentlichen Haltungs-
und Stellreflexe (im Sinne von Magnus, de Klejn und
Rademaker) enthalten, kann an dieser Stelle nicht erörtert wer-
den. Es genügt, darauf hinzuweisen, daß die Wirkung der Area 18
auf das Pulvinar die mesenzephalen Reflexkreise durchbricht und
einen Teil ihrer Elemente aufwärts gegen die Okzipitalrinde zieht.
Das Auswachsen einer zentrifugalen Schließung des neuen Korti-
kalen Reflexbogens ist dann z. T. vielleicht erst eine spätere Etappe
der so geschaffenen neuen Korrelation.
Das Ganze erscheint als morphologische Parallele zu der ent-
wicklungsgeschichtlichen Tatsache, daß bei den höheren Säugern und
beim Menschen die optischen Stellreflexe stark domi-
nieren und daß sie beim Menschen zweifellos über die Okzi-
pitalrinde gehen.
Auch hier finden sich Berührungspunkte mit dem Balint schen
Befund, mit der Seelenlähmung des Schauens, zumal mit jenem An-
teil des klinischen Bildes, der als optische Ataxie bezeichnet
worden ist.
Der Umbau des Corpus geniculatum externum vollzieht sich zu
einem großen Teil schon in einer phylogenetischen Entwieklungsphase,
— 11, =
in der die Entwicklung des Pulvinar noch in ihren Anfängen ist.
Dieser Phase (bei den niederen Säugern) entspricht ein Corpus geni-
culatum laterale, das deutlich in einen oberen und einen unteren An-
teil gesondert ist. Der ventrale Genikulatumkern ist wahrscheinlich
der Ursprungskern der bracchia tecti, soweit sie nicht kortikalen
Ursprungs sind (K. H. Bouman); seine Verringerung geht mit der
Verringerung des vorderen Vierhügels parallel (Kappers).
Kappers meint, daß diejenigen Genikulatumzellen, die beim
Menschen nach Durchtrennung der Rindenstrahlung bestehen bleiben
(die kleinsten, in den Laminae medullares und im Traktusteil ge-
legenen Zellen, „leidlich gut erhalten“, v. Monakow), als Rest
des ventralen Genikulatumkerns beim Primaten zu betrachten sind,
ebenso das sog. Prägenikulatum (C. Vogt, Minkowski, Friede--
mann). Beide Gebiete nehmen nur gekreuzte Sehnervenfasern auf.
Dieselben Zellen des Traktusteils haben Wilbrand und
Sänger als die Träger der zentrifugalen adaptiven Wirkungen an-
gesehen, die das Corpus geniculatum auf die sekretorischen Apparate
der Sehsubstanzen ausüben soll. Der Überbau dieses Apparates durch
die mächtige Entwicklung des dorsalen Genikulatumkerns unter-
bricht also nach dieser Meinung einen subkortikalen adaptiven Reflex
und spaltet aus seinem Kreis einen Großhirnanteil ab, ganz in
derselben Weise, wie die Entwicklung des Pulvinar mesencephale
optische Reflexbahnen spaltet. Diese Wirkung — das Eingre‘fen der
kortikalen Komponente des Adaptationsvorgangs — haben wir im
vorigen Abschnitt besprochen und am Befund unserer Beobachtung 4
der kortiko-fugalen Genikulatumbahn besonders zuordnen Können.
Die Übereinstimmung, die sich hier ergibt, weist auf die Analogie der
Wirkungen hin, die der zentrifugalen Projektion Area 18 =» Pulvinar,
wie der Projektion der Area striata auf das Genikulatum zukommen.
Die besprochene Entwicklungsphase ist noch ohne deutliche
Parallelen zur aufstrebenden Gestaltung des Pulvinar thalami. Bei
der Katze ist aber bereits die bekannte Lamellenstruktur des Geni-
kulatum vorhanden (3 Lamellenschichten) und ebenso ein entwickel-
tes Pulvinar thalami, das in der oberen äußeren Partie des
Thalamus ein Stratum zonale bildet (Ramon y Cajal). Bei den
Nagern fehlt das Pulvinar vollständig (Cajal). Bei den Primaten
und Menschen hat es die höchste Entwicklung erreicht; zugleich mit
ihr aber hat die Lamellenstruktur des Corpus geniculatum an Zahl
und Komplikation der Schichten in aufsteigender Entwicklung be-
deutend zugenommen. |
— 192 —
Während man also der (auch bei den niederen Säugern bereits
vorhandenen) Rückwirkung der Area striata auf das
Genikulatum die Entwicklung des dorsalen Genikulatumteils auf
Kosten des ventralen parallel setzen kann, finden sich die deutlich-
sten Parallelen zwischen den besonderen Ausgestaltungen der La-
mellierung des Genikulatum und der Entwicklung des Pulvinar.
So sondern sich gestaltlich die beiden Phasen, von denen früher die
Rede gewesen ist; die erste ist schon vorhanden bei Tieren mit stär-
kerer Lateralstellung der Augen (à vision panoramique, Cajal).
Die zweite Phase wächst parallel mit dem Überwiegen des gemein-
samen Gesichtsfeldes.
Vergleicht man die Gestalt des Genikulatum bei der Katze mit
„der Gestalt und Lage des Genikulatum am Menschen, so fällt jene
phylogenetische Drehung des Genikulatum auf, diev.Monakow
besonders hervorgehoben hat: Der schmal auslaufende Teil, der bei
der Katze dorsal gelegen ist, unterliegt einer Drehung von fast 90°
nach seitwärts und rückwärts, durch die er mit dem kaudal und
lateral gelegenen Spornteil (v. Monakow) des menschlichen
Genikulatum sich homologisieren läßt. Diese Drehung ist (nach
v.Monakow und Minkowski) durch den von oben her wirken-
den Einfluß des vergrößerten Pulvinar bedingt; sie wurde also mecha-
nisch aufgefaßt; ziehen wir aber das heran, was im vorigen über
die Wechselbeziehungen der kortikalen Einflüsse auf beide Gang-
lien besprochen worden ist, dann sehen wir, daß diese mechanische
Wirkung eine sekundäre Folge ist von funktionellen Gliederungen;
man kann sagen, daß die parallel zu diesen Vorgängen in der Säuge-
tierreihe sich entwickelnde und sich vergrößernde Area 18 über die
Area striata hinweg das Corpus geniculatum richtet und in La-
mellen gliedert.
Diese Gliederung in Lamellen entspricht (Minkowski) dem
entmischten Nebeneinander von endigenden gleichseitigen und ge-
kreuzten Optikusfasern. Betrachtet man — wie wir es im vorigen
Abschnitt getan haben — dieses Nebeneinander nicht nur langs
jeder Lamelle, sondern auch quer zu jeder Lamelle, so ergibt sich die
Faszikelfeldermischung nach der Projektionslehre von Wilbrand
und Henschen. Wir können also sagen, daß die Area 18 (in ihrer
Wechselbeziehung zur Regio calcarina) über die richtenden Einflüsse
im Pulvinar und über die Arca 17 hinweg das Genikulatum im Sinne
der Doppelversorgung ordnet. Der letzteren ist dann nicht die
Mischung der Optikusfasern zugeordnet, wie Kleist und Bä-
räny wollen, sondern ihre Entmischung und Gruppierung in
La m ii Ds I ei dm ad me nr u
— 19. —
einem räumlichen Nebeneinander, das der Dichte und Ausdehnung
der Doppelversorgung parallel geht.
Erst eine dritte Phase in dieser Enkwiekiingräilie (synchron
einsetzend mit der Verstärkung und Komplikation der Lamellie-
rung des Corpus geniculatum laterale) ist die Gliederung der Schicht 4
in der Area striata, die Bäräny und Kleist allein beachtet haben.
Da an allen diesen Wirkungen auch die weitere Sehsphäre (Area 18
und 19) beteiligt ist, erscheint es uns nicht angebracht, diese letzte
Phase isoliert zu betrachten, wie wenn sie die einzige Quelle der
Doppelversorgung wire. In dem Entwicklungsgang, der sich hier
ergeben hat, findet sich dasselbe wieder, was unsere Befunde an der
optischen Allästhesie gezeigt haben: Die Lokalzeichenbildung im Seh-
raum und mit ihr die Schaffung des binokularen Gesichtsfeldes ist
eine Leistung, die beim Menschen von der Gesamtrinde her
entstanden und von den parieto-okzipitalen Richtungszentren auf
die Area striata und ihren Eigenapparat übertragen worden ist.
Daß es gerade richtende Einflüsse sind, die auf dem Wege
über das Pulvinar und die Area 18 zur Lokalzeichenbildung der
Kalkarina übertragen werden, ist verständlich aus der Natur der
Wirkungen im Thalamus, in die proprio-rezeptive Komponenten rich-
tender Reflexe eingehen. So ist im Vergleich des Winklerschen
Falles mit unseren eigenen Beobachtungen von optischer Allästhesie
ein Ausblick gegeben auf die Quellen der richtenden Komponenten
und auf das Entstehen der Richtungsfaktoren durch eine Spaltung
mesenzephaler optischer und proprio-rezeptiver Reflexe; deren Kom-
ponenten sind es, die im Pulvinar zu einer veränderten Polarisation
der optischen Erregungen führen; da diese Polarisation zunächst nur
dem Anteil der optischen Erregungen gilt, der das Pulvinar passiert,
nehmen sie nur auf das Nachbargebiet der Area striata den ersten
unmittelbaren Einfluß; dieses erst verteilt sie auf die Area striata
in einer Weise, die einen mehr starren konstanteren Anteil und einen
mehr in Fluß befindlichen variablen Anteil der Wirkungen enthält.
Verschiebungen zwischen der konstanten und der variablen Kompo-
nente dieser richtenden Wirkungen waren in den beiden Hauptbedin-
gungen der optischen Allisthesie unserer Fälle enthalten.
Der große physiologische Erregungskreis, der sich uns darstellt,
vermittelt zentripetale und zentrifugale Effekte. Zentrifugale Effekte
sind z. B. die optischen Stellreflexe, die die Körperhaltung von den
Wirkungen des Lichtes und des Sehraums her dirigieren und auto-
matisch verändern; von diesen meinen wir keineswegs, daß das kor-
tikale Ausstrahlungsgebiet ihrer Wirkungen auf die Area 18 be-
— 194 —
schränkt sei; wir glauben, daß es sich über die Area 19 hinaus auf
größere Gebiete des Scheitellappens. ausdehnt. Die zentripetalen
Effekte dagegen erscheinen uns wie konzentrisch gegen die Area
striata hin gerichtet; sie entsprechen der Lokalzeichenbildung im Seh-
raum; sie vereinigen sich in der Area striata, wie sich durch eine
optische Linse die Lichtstrahlen in einer Brennebene vereinigen
lassen. Wir kommen damit wieder zurück auf die Verhältnisse und
Analogien, die sich im Vergleich unserer Befunde mit der Polyopie
und den polyopischen Halluzinationen ergeben haben.
Damals ist es uns als notwendige Folgerung aus den klini-
schen Befunden erschienen, daß sich jene Gesamtheit zentripetaler
optischer Erregungen, die dem Bilde eines Sehdings zugeordnet ist.
in mehrere Komponenten zu spalten vermag, deren jede ein licht-
schwächeres Bild desselben Sehdings enthält. Durch das seither Be-
sprochene haben wir eine gewisse morphologische Parallele zu dieser
klinischen Folgerung gewonnen. Die Mehrheit der Axonen, die von
einer gemeinsamen Gruppe im Genikulatum ausgehen, repräsentieren
eine Optikusfaser; die Dissoziation ihrer einheitlichen Wirkungen
im Kortex kann diese Einheit in eine Vielheit kleiner Erregungs-
fraktionen spalten, von denen unter normalen Verhältnissen nur ein
scharf zentrierter Teil aktiviert, ein anderer Teil aber abgeblen-
det wird. Eine analoge Mehrheit von Axonen aus einer Gruppie-
rung von Hauptzellen des Pulvinar, die einer Optikusfaser ent-
spricht, ist offenbar Trägerin einer einheitlichen richtenden
Wirkung, die ebenfalls in eine Reihe gleichartiger Erregungsfraktio-
nen spaltbar ist; die Hauptwirkung kann konzentriert an einem Punkt
vereinigt, an den andern Punkten abgeblendet sein oder (im patho-
logischen Fall) an mehreren Teilpunkten fraktionenweise
aktivierend eingreifen. So erscheint die Area striata wirklich wie eine
Brennebene, in der bei Abblendung der Randstrahlen ein scharfer ein-
heitlicher Fixierpunkt begünstigt wird, bei unscharfer Zentrierung
aber die Bildung mehrerer Pseudo-foveae.
Was die Quelle der hier betrachteten richtenden Wirkungen be-
trifft, so sei noch folgendes hervorgehoben: Die richtenden Wirkun-
gen, die die Lokalzeichen im Sehraum bilden, enthalten das Rechts-
links, Oben-unten im Außenraum. Die richtenden Wirkungen, die
aus proprio-rezeptiven Quellen stammen, enthalten — wie dies an
der Leistung des Hinterhorns im Versuch Dusser de Barennes
klar ersichtlich ist — das Rechts-links, Oben-unten am eigenen
Körper. Gleichsinnig mit den Richtungen des Außenraums sind
die einstellenden Blickbewegungen. Diese werden gewöhnlich
— 19% —
als Ausdruck eines optisch-motorischen Reflexes betrachtet. Man
kann auch von dem letzteren annehmen, daß sein optisch-sensorischer
Schenkel über den Blickapparat des Mittelhirns, über das Tectum
opticum geht, aber vom Pulvinar unter dem Einfluß der Okzipital-
rinde gespalten und komponentenweise großhirnwärts abgelenkt wird.
Dann sind offenbar die Optikusfasern, die ins Pulvinar einstrahlen,
selbst jener abgelenkte Anteil des sensorischen Schenkels dieser
Reflexe. Die Axonen der Pulvinarzellen bilden dann ein zweites
Glied im neuen sensorischen Schenkel des erweiterten Reflexkreises,
während dessen motorischer Schenkel die kortikale Vierhügelbahn
ist; es ist aber die Wechselwirkung der Area 18 auf die Area striata
mit der unendlichen Variabilität. die von der Leistung der gesamten
Rinde her resultiert, zwischen die beiden Schenkel eingeschaltet. So
kann man hier von keinem Reflex mehr sprechen, sondern von der
Aufspaltung eines Reflexes in eine Komponentenschar. Da diese
Komponenten aber im Felde der Area striata angreifen und ihr damit
die Abstimmung auf Lokalzeichen erteilen, sind sie an ihren Angriffs-
punkten offenbar identisch mit den Kräften, die das Rechts-links,
Oben-unten des Netzhautbildes aus dem Körperkoordinatensystem
auf das Koordinatensystem des Außenraums transformieren, die also
das Netzhautbild umdrehen.
Sind diese transformierenden Wirkungen temporär oder dauernd
ausgeschaltet, so Kommt es zu dem Sehen einer richtigen Gestalt, aber
scheinbar ohne jede Einordnung in den Sehraum, wie im früher zitier-
ten Falle von Best. Aus ähnlichen Dissoziationen, wie sie bei der
optischen Allästhesie und bei der gerichteten Metamorphopsie vorhan-
den waren, erklärt sich das Spiegellesen oder das Lesen ver-
kehrter Schrift in Beobachtungen, die Arnold Pick zusammen-
gestellt hat. Man kann verstehen, warum z. B. ein Kind, das mit
dieser Störung behaftet ist, die Dinge nicht verkehrt sieht, sondern
sie in einer abnormen Lage besser erkennt; man kann hier weiter
die bekannten physiologischen Versuche einordnen, die zeigen, wie
stark die Tendenz ist, die Dinge aufrecht zu sehen, wenn die Ver-
suchsperson auf den Kopf gestellt wird usw.
Die Variabilität dieser richtenden Wirkungen ist eine Kom-
pensation für die automatische Einstellung des Individuums bei
anderen Organismen. Man kann sagen, daß die optischen Reflexe,
die über das Tectum optieum gehen, das Tier richten, der lokal-
zeichengebende Vorgang aber, der aus ihrer Quelle beim Menschen
entstanden ist und sie teilweise ersetzt, das Sehding richtet.
— 196 —
So erscheint der lokalzeichengebende Vorgang als eine Inversion
der optisch richtenden Reflexe.
Die Phase, in der das Mittelhirn die Zentrale dieser richtenden
optischen Reflexe ist, fallt bereits phylogenetisch zusammen mit der
Phase, in der der dioptrische Apparat des Auges ein verkehrtes Bild
auf die Netzhaut entwirft. Dieser Zusammenhang bildet den Aus-
gangspunkt der Hypothese von Ramon y Cajal, der die Kreu-
zung der Hauptnervenbahnen sekundär aus der Kreuzung
des Optikus erklärt, die letztere aber in Parallele stellt mit jener Ge-
staltung des dioptrischen Apparates. Die Entwicklungsphase, die wir
hier betrachtet haben, entspricht dem Zustand, in dem die Großhirn-
rinde das Tectum opticum weitgehend abgelöst hat und demzufolge
die Okzipitalrinde jene Umkehrung des Netzhautbildes ganz
oder zu einem großen Teil übernommen hat. Die Area striata ist nur
die Brennebene dieser Wirkung; sie darf nicht für den allein wirk-
samen Apparat gehalten werden, ebensowenig wie der Brennpunkt
einer Linse mit der Linse selbst verwechselt werden darf.
V. Morphologisch-physiologische Parallelen
1. Die Vereinheitlichung des binokularen
Gesichtsfeldes.
Als eine gestörte Zentrierung des Gesichtsfeldes haben wir
unsere Befunde von optischer Allästhesie aufgefaßt. Die Störung war
charakterisiert durch das Zusammentreffen zweier Komponenten:
durch eine partielle Schädigung der Area striata bzw. ihrer
Systeme und Bahnen im polaren Anteil, in der Gegend des doppel-
seitigangelegtensog.Projektionsfeldes der Macula lutea.
Die Eigenleistung der Area striata, die zur Konstanz der Lokal-
zeichen im Sehraum Beziehungen hat, konnte offenbar von diesem
Bezirk aus am ehesten soweit herabgedrückt werden, daß die opti-
schen Lokalzeichen variabel wurden. Dazu trat als zweite Bedin-
gung ein störender Vorgang im Bereich der parieto-okzipitalen Rich-
tungszentren, der zur Entmischung einer der Hauptrichtungen
im Sehraum geführt hat; es entstand so eine Dominanz dieser
Hauptrichtung; es kam zur Bildung einer abnorm gelegenen At-
traktionssphäre innerhalb der Area striata, durch deren Wir-
kung Nebenwege der zentripetalen optischen Erregungen eröffnet
wurden, während die Hauptwege (ganz oder teilweise, vorübergehend
oder mehr dauernd) verschlossen waren.
Diesen Zusammenhängen entsprach es, daß wir von Anfang an
die wenigen Fälle mit zerebral bedingtem Verlust des zentralen
Sehens zum Vergleich mit unseren Befunden herangezogen haben
(S. 11). Fälle dieser Art enthalten offenbar die erste der beiden
Komponenten, die in unseren Befunden zusammentrafen, nicht aber
die zweite; dafür ist bei ihnen die Wirkung dieser ersten Kompo-
nente eine maximale, während sie bei der optischen Allästhesie
viel geringer war. Wir haben jene Eigenart der zerebralen Störun-
gen des zentralen Sehens hervorgehoben, die sich aus dem Vergleich
der Fälle von Inouye, Poppelreuter und dem Fall Obszut
des einen von uns ergibt: daß nach einer entsprechenden Rückbil-
dungszeit das erhaltene periphere Gesichtsfeld in den Leistungen des
— 198 —
Formensehens und Farbensehens, sowie in allen gnostischen Leistun-
gen eine sehr hohe Stufe erreicht. Dies erklärt sich daraus, daß die
Wirkungen, die die Area striata auf diese Leistungen abstimmen,
(über die Area 18 hinweg) auf die Regio calearina übertragen wer-
den; finden sie den gewohnten Hauptweg blockiert, so eröffnen sie
sich allmählich Nebenwege in die erhaltenen Reste der Area
striata, innerhalb deren sie den erhaltenen Querschnitt der zerebro-
petalen optischen Erregungen aktivieren. Die Zentrierung des
Gesichtsfeldes in der Weise, wie die Leistungen des Großhirns und
der mit ihm zusammen gekoppelten Zwischenhirnganglien sie lenken.
erweist sich also unter gewissen pathologischen Bedingungen als
verschieblich.
Der Befund Winklers,der im vorigen Abschnitt herangezogen
worden ist, betraf das gestörte Formensehen bei einem Tumor des
Pulvinar thalami. Die Folgerungen, die Winkler selbst aus seinem
Befund gezogen hat, führen zu der Auffassung, daß die Einflüsse des
Pulvinar zu der Eigenleistung der Area striata noch etwas hinzu-
fügen, was für den ungestörten Formensinn nicht entbehrt werden
kann; es handelt sich um Wirkungen, die über die Area 18 hinweg
die Regio calcarina gleichsam bestrahlen. Der Brennpunkt
dieser transkortikalen Beeinflussung ist offenbar jener Anteil der
Area striata, nach dessen doppelseitiger Schädigung die Mitte des
Gesichtsfeldes verschwindet und das zentrale Sehen — wenn auch
in seltenen Fällen — dauernd ausgeschaltet bleiben kann. Wir haben
im vorigen Abschnitt die Auffassung Winklers mit den anderen
einschlägigen Symptomen der okzipitalen Hirnerkrankungen vergli-
chen und sind zu dem Schlusse gekommen, daß die Aktivierung des
Formensinns, die seitens der Area 18 auf das Projektionsfeld der
Macula hingelenkt wird, teilweise (vielleicht auch ganz) identisch ist
mit dem Lokalzeichen gebenden Vorgang, dessen Störungen unsere
Fälle mit geschädigtem zentralen Sehen enthalten. Auch der Befund
Winklers ergibt somit den Sachverhalt, auf den wir hier zurück-
kommen: die Zentrierung der Area striata, die der Zentrierung des
Gesichtsfeldes parallel geht, beruht auf Einflüssen, die (über die
Area 18 hinweg) auf die Area striata ausgeübt werden und die einer
gewissen Verschieblichkeit nicht entbehren.
Der eine von uns (P.) hat die Zentrierung der Area striata
schon an seinen ersten Befunden in der hier referierten Weise dar-
gestellt und deren Verschieblichkeit als die Grundlage für den phy-
siologischen Vorgang der Bildung einer Pseudofovea angesehen.
Eine solehe entsteht aber nicht nur nach einem Verlust der Gesichts-
-a i e
— m
— 199 —
feldmitte durch Großhirnverletzung, sondern — weitaus häufiger —.
unter dem Einfluß von Störungen der Okulostatik bei den Schie-
lenden.
W. Fuchs hat seither bei Hemianopikern die Existenz einer
Pseudofovea nachgewiesen und sie genau beschrieben.
Kürzlich hat Quensel an einem besonders sorgfältig ienai
ten Fall von Hemianopsie, verbunden mit geometrisch-optisch agno-
stischen Störungen monokuläre Doppelbilder beschrieben,
die gerade im Grenzbereich zwischen sehendem und ausgefallenem
Gesichtsfeld zu beachten waren. Wir konstatieren die Analogie die-
ses Befundes von Quensel mit den experimentellen Ergebnissen
unserer Beobachtung 3, in der die Bilder der Fata morgana gerade
im Grenzstreifen zwischen positivem Skotom und sehendem Gesichts-
feld aufgetreten sind. Analog ist auch eine Beobachtung an opti-
schen Halluzinationen, die R. Klein aus unserer Klinik veröffent-
licht hat: Es trat gerade rechts nahe der Mittellinie regel-
mäßig eine Verdoppelung der halluzinierten Figuren auf; die
halluzinierten Figuren zogen dabei regelmäßig von rechts nach links
an dem Kranken vorbei. Die Halluzination farbiger Figuren war
die spätere Erscheinung; vorher waren schwarze Skotomflecke
aufgetreten, auf der rechten Seite des Gesichtsfeldes entstehend
und dann von rechts nach links ziehend. Die Beobachtung
betraf ein epileptisches Delirium.
Die Verdoppelung optischer Halluzinationen im parazentralen
Bereich kurz vor ihrem Verschwinden zeigt in jeder Einzelheit eine
enge Verwandtschaft mit den Auraphänomenen der Fata morgana.
Ebenso eng verwandt erscheint sie aber auch dem zitierten Befund
von Quensel; bei dem letzteren handelt es sich nicht um eine Ver-
doppelung von Halluzinationen‘), sondern um eine Verdoppe-
lung von Sehdingen; die lokalen Störungen der Sehraum-
bildung sind in beiden Fällen gleichgerichtet. So verhält sich der
Befund von Quensel zumBefund von R.Klein, wie sich (S. 119)
die Polyopie nach Läsionen des Okzipitalhirns zu den polyopischen
Halluzinationen verhält.
Die Beobachtung Quensels vollendet die Übereinstimmung der
zentralen richtenden Wirkungen, die den Schwerpunkt des
Gesichtsfeldes stabilisieren, mit jenem physiologischen Vor-
gang, der das foveale Sehen begünstigt, aber unter Umständen zur
Bildung einer Pseudofovea führen kann. Das Auftreten monokulärer
1) Episodisch hatte auch eine solche bestanden.
— 200 —
Doppelbilder im Falle Quensels vollzieht sich gerade in einem
Bereich, für den sich ein Wettstreitphänomen zwischen der
noch vorhandenen Wirksamkeit der ursprünglichen Schwerpunkt-
bildung und einer neuen Zentrierung des Gesichtsfeldes erwarten
läßt; die letztere zielt auf die Bildung einer manifesten Pseudo-
fovea im Restgesichtsfeld ab. Dies überträgt auf die richtenden Wir-
kungen innerhalb der Area striata den Befund Bielschowskys
in einer fast vollkommenen Weise; bei dem letzteren hat es sich um
monokuläre Doppelbilder gehandelt, die aus dem Beharren einer
früheren Pseudofovea und der aufgezwungenen Wiedereinübune
der anatomischen Fovea des betreffenden Auges entstanden sind.
Wir halten im weiteren fest, daß die hier betrachtete Zentrie-
rungderArea striata eine in einzelnen Zügen frappant getreue
Parallele zur Zentrierung des Gesichtsfeldes erkennen läßt. In diesem
Sinne hatte der eine von uns (P.) bereits an seinen ersten Befunden
von Schußverletzungen darauf hingewiesen, daß die allgemeine Seh-
störung nach Hinterhauptschüssen in einem doppelten Sinn als eine
Fusionsstörung bezeichnet werden muß. Nach der sensorischen
Seite hin kommt es (bald mehr allgemein, bald innerhalb segmental
umgrenzter Bereiche) zu einer Entmischung der monokulären
Anteile des Sehraums aus dem Komplex des binokular gebildeten
Sehraumes; nach der okulomotorischen Seite hin zeigt sich die Stö-
rung oft in der starren Fixation, in der Verstärkung latenter Hetero-
phorien usw. Die häufigen Doppelbilder, die im Verlauf frisch
gebildeter Kalkarina-Läsionen auftreten, sind zum Teil der sensori-
schen, zum Teil der motorischen Komponente dieses Störungsvorgan-
ges zuzuordnen; denn sie entsprechen teils einer dem Bewußtsein auf-
dringlichen Wirkung nicht identischer Punkte des binokulären Ge-
sichtsfeldes; teils aber (vgl. unsere Beispiele mit gerichteter Metamor-
phopsie) entstehen sie durch Enthemmung störender okulomotorischer
Komponenten, die die Okulostatik verändern. Die meisten der-
artigen Doppelbilder sind übrigens binokulare; häufig kommt es auch
nur zu einem Unscharfwerden gesehener Konturen bei Augeneinstel-
lung nach der Richtung der Hemianopsie, was bald einen Minimal-
grad von Diplopie, bald einer störenden Nachbildwirkung ent-
spricht. \
Wir haben im vorigen Abschnitt darauf hingewiesen, daß die
Korrelation zwischen Area 18 und Pulvinar thalami beteiligt ist an
einer Spaltung mesenzephaler, optisch-okulostatischer (bzw. okulo-
motorischer) Reflexe; wir zeigten. daß dieser spaltende Vorgang so-
wohl am optisch-sensorisehen Anteil, wie am efferenten Anteil dieser
— 201 —
Reflexbogen (dem Quellgebiet der okulomotorischen Anteile
des hinteren Längsbündels) angreift. Wir verweisen noch darauf, daß
Gerstmann und Ehrenwald Beobachtungen an postenzephali-
tischen Zuständen von Parkinsonismus mit Störungen der Blick-
innervation gemacht haben, bei denen es gleichfalls zu bestimmt
orientierten monokulären Doppelbildern kam. So zeigt sich
hier, daß auch die mesenzephalen optisch-okulomotorischen
Reflexe analogen Störungen unterliegen können, wie sie die korti-
kalen okulomotorischen Reflexe bei Schädigung des Okzipitalhirns
erleiden; es ist dies eine weitere Illustration dafür, daß beide Reflex-
‚arten aus einer gemeinsamen Matrix hervorgegangen sind und daß
ein Teil der mesenzephalen Erregungskreise unter Invarianz
ihrer richtenden Wirkungen gleichsam magnetisch auf die Okzipital-
rinde abgelenkt worden ist.
Die besprochenen Störungen der Zentrierung des Gesichtsfeldes
sind also einer getrennten Betrachtung nach sensorischen und nach
motorischen Effekten hin bediirftig. Was die letzteren betrifft, so
weisen sie vor allem auf das hin, was Bielschowsky als erster,
späterhin aber Best, sowie der eine von uns (P.) hervorgehoben
haben: daß die Fusion des Doppelauges, also auch die Fusions-
bewegungen beim Menschen als kortikale optisch-okulomoto-
rische Reflexe zu betrachten sind. Bekanntlich enthalten die Fusions-
bewegungen auch Akte, die die Bewegung eines der beiden Augen
für sich allein bewirken. Der eine von uns (P.) hat (gemeinsam mit
Raimann) derartige einseitige Bewegungseffekte als Reizerschei-
nungen bei einem doppelseitigen Thalamusgliom gesehen, aber erst in
einer Phase, in der es auf die vorderen Vierhügel und die Gegend
des Darkschewitschschen Kerns übergegriffen hatte. Es fand
sich also — übereinstimmend mit unserer Darstellung im vorigen Ab-
schnitt — die Fusionsstörung erst bei Schädigung jener Region,
an der die zentrale Spaltung des motorischen Schenkels der optischen
Mittelhirnreflexe angreift, der Vierhügelgegend.
Eingehender müssen die Störungen der Zentrierung nach der
‚sensorischen Seite ihrer Wirkungen hin betrachtet werden. Sie ent-
halten eine Entmischung der monokulären Gesichtsfelder aus
dem binokularen Gesichtsfeld; zuweilen entmischt sich das gesamte
Gesichtsfeld, zuweilen aber nur räumlich begrenzte Anteile desselben;
dann kommt es insbesondere zu segmental begrenzten Störungen des
Raumsinns und des Formensehens; wir sahen das letztere an unseren
Fällen mit gerichteter Metamorphopsie. So enthalten diese Befunde
des einen von uns (P.) die klinische Tatsache, aus der hervor-
Herrmann-Pötzl, Optische Allästhesie (Abhdl. H. 47). 14
geht, daß die Angriffspunkte der richtenden Wirkungen des
Systems Pulvinar-Area 18 auf die Area striata denselben räum-
lichen Grenzen entsprechen, die den hemianopi-
schen Skotomen nach Sehsphärenläsion zugeordnet sind.
Ferner geht daraus hervor, daß innerhalb jedes derart charakterisier-
ten Teilbereichs der Area striata eine Entmischung zweier
Fraktionen der zentripetalen optischen Erregung
erfolgen kann, deren eine den Erregungen des herdgekreuzten
Auges, deren andere den Wirkungen des herdgleichseiti-
sen Auges zugeordnet ist.
Dies ist die klinische Tatsache, die beweist, daß im Bereich
der Area striata ein Einfluß auf die beiden monokulären Anteile der
optischen Erregung ausgeübt wird, der ihre Entmischung hintan-
hält. Dieser Einfluß kann isoliert gestört werden, ohne daß die
zentripetalen Erregungen auf dem Weg Genikulatum— Rinde blockiert
sein müssen. Die morphologische Tatsache, aus der dieselbe
Leistung der Area striata zu folgern war, ist von Minkowski
gefunden worden: daß (bei der Katze, beim Affen und wohl sicher
auch beim Menschen) die Optikusfasern innerhalb des Corpus geni-
culatum sich in einer Weise lamellär ordnen, die einer Sonderung
der gekreuzten und der gleichseitigen Optikusfasern entspricht. Nur
an die letztere Tatsache hat Barany angeknüpft; er entnimmt ihr,
daß die Bildung der binokulären Eindrücke nicht im Genikulatum
stattfinden könne, sondern „daß auch im Kortex noch die gekreuzten
und ungekreuzten Eindrücke voneinander gesondert sind und erst
im Kortex die Mischung stattfindet‘.
Bárány spricht hier von einer Mischung. Wir möchten den
Vorgang, der die getrennten Anteile der monokulären optischen Er-
regungen vereinheitlicht, ebensowenig eine Mischung nennen, als
man die stereochemische Anordnung von Atomgruppen in einer
hochkomplex aufgebauten Molekel eine Mischung nennen kann.
Sinnesphysiologisch paßt der Ausdruck Bäränys höchstens für
eines der Phänomene, die bei der Vereinigung der monokulären
Eindrücke in Betracht kommen: für die binokuläre Farben-
mischung. Aber auch bei dieser ist für das Optimum ihrer Wir-
kungen die stereoskopische Vereinigung zweier Formen zu einer Ein-
heitsgestalt maßgebend (z. B. hei dem Versuch mit Briefmarken).
Das Herausfassen der Einheitsgestalt kann keiner Mischung
gleichgesetzt werden; so darf auch die Vereinheitlichung der binoku-
laren Eindrücke nicht als eine solche bezeichnet werden, wenn nicht
Mißverständnisse und Irrtümer die Folge sein sollen. Wir selbst
— 203 —
haben im vorigen darauf hingewiesen, daß die Zerlegung eines Licht-
strahls in zwei senkrecht aufeinander polarisierte Komponenten und
die Bildung einer Inkohärenz zwischen ihnen ein anschauliches
Gleichnis für die Vereinheitlichung der binokularen Eindrücke gibt;
die Angriffspunkte dieser polarisierenden Wirkung müssen
innerhalb des Bereiches der Area striata räumlich distinkt angeord-
net sein.
Minkowski hatte bereits auf die Möglichkeit verwiesen, daß
die Repräsentanten der gekreuzten und der ungekreuzten optischen
Elemente im Kortex zusammenhängende Felder bilden und daß dem
Vieq d’Azyrschen Streifen „eine Rolle bei der Verknüpfung der
beiden monokulären Erregungsvorgänge“ zukommen dürfte. Das
letztere hat sich auch aus unserer vergleichenden Betrachtung er-
geben (S. 112); über das erstere aber sind wir aus dem bisher bespro-
ehenen Material noch zu keiner eigenen Anschauung gekommen. Wir
blieben bei der Vermutung stehen, daß die Faszikel zentripetaler
Axonen aus den Zellgruppen des Genikulatum wahrscheinlich (nach
der Anschauung von Wilbrand und Henschen) als ein pro-
jektiv geordnetes Nebeneinander in die Area striata einstrah-
len, während die Art ihrer Dekompensation in der IV ¢ in einer so
komplexen Weise erfolgt, daß eine morphologische Lösung der ersten
Vermutung Minkowskis vorläufig nicht möglich ist.
Bäräny meint nun zunächst, daß vielleicht „die Elemente, die
durch gekreuzte Fasern und die, welche durch ungekreuzte Fasern
erregt werden, getrennt übereinander liegen“ (in der IVc bzw. in der
IVa). In seinen weiteren Erörterungen gelangt er aber dazu, dies
wieder zu verwerfen; er kommt zu dem Schlusse, daß „die untere
Partie“ (die IV c) „die beiden monokulären Gesichtsfelder übereinan-
der gelagert enthalten“ soll, während die obere Partie der Körner-
schicht das Mischfeld der beiden monokularen Erre-
gungen sei. Jedenfalls erscheint ihm „die Zweiteilung der Körner-
schicht“ als „Ausdruck des binokularen Sehens“.
Daß die Zweiteilung der Körnerschicht einer weiteren auf-
steigenden Entwicklung des binokularen Sehens parallel
geht, hat bereits Brodmann nachgewiesen, da bei den Nagern (mit
„panoramenartigen“ Visus, Ramon y Cajal) die Verdoppelung
der Körnerschicht noch fehlt. Bei der Katze aber ist eine eigentliche
Verdoppelung der Körnerschicht ebenfalls nicht vorhanden (Cajal,
Brodmann), wie Bäräny selbst hervorheben muß. Im Sinne
dessen, was sich im vorigen Abschnitt dieser Arbeit ergeben hat,
konnten wir die Lamellierung des Genikulatum mit der
14*
— 204 —
Entwicklungsstufe des binokularen Sehens in Parallele bringen, die
bei der Katze vorhanden ist; die Verdoppelung der Körnerschicht
haben wir als eine besondere dritte Phase bezeichnet, die mit der
Vermehrung und Komplikation der Lamellenbildung im Genikulatum
der Primaten parallel geht und jener weiteren Entwicklung des
binokularen Sehens zugeordnet werden kann, wie die Primaten sie
aufweisen.
Es liegt im Wesen der Theorie von Wilbrand und Hen-
schen, den Bau der Area striata gerade mit der Doppelversor-
gung in Verbindung zu bringen; die Projektionstheorie von Wil-
brand und Henschen ist ja die Theorie der Doppelversorgung.
Das hervorstechendste Merkmal im Bau der Area striata des Men-
schen ist die Spaltung der Körnerschicht in drei Schichten (Brod-
mann). So lag es schon lange sehr nahe, gerade dieses Merkmal
mit der Entwicklung der Doppelversorgung in Parallele zu setzen:
„der Gedanke liegt offenbar in der Luft“ (Kleist): es ist aber trotz-
dem wichtig gewesen. ihn einmal zu formulieren: dieses Verdienst ist
‚der Hypothese Bäränys nicht abzusprechen, wenn wir sie auch
nicht so hoch bewerten können wie Bäräny selbst. der die Meinung
äußert, daß „diese Hypothese die erste“ sei, „welche den anatomi-
schen Bau der Hirnrinde funktionell zu beleben versucht“.
Wesentlich bedeutsamer erscheint uns die Theorie von Kleist.
Kleist kommt zu der Anschauung, daß „in der Hirnrinde die brei-
tere untere Lage der granularis interna“ (die IV ce) „dem gegenseit!-
gen Auge, die obere schmälere" (die IV a) „dem gleichseitigen Auge
entsprechen“. Argumente dafür, die Kleist hervorhebt, bestehen
in der Parallele zwischen der größeren Zahl der gekreuzten Optikus-
fasern und der größeren Ausdehnung der IV c, sowie im größeren
Leistungswert der temporalen Gesichtsfeldhilften. Überdies aber
zieht Kleist die Befunde von A. Cramer und von H. Berger
heran, die an der Sehrinde langjährig einäugig blinder Menschen
Verteilungen von Atrophien gefunden haben, die die Auffassung
Kleists zu stützen geeignet sind. Aus den Abbildungen)
Cramers geht tatsächlieh hervor, daß (nach rechtsäugiger Erblin-
dung) in der linken Sehrinde die IV e eine stärkere Verarmung an
Zeilen zeigt, die rechte Sehrinde aber in der IV a; doch sind dies nur
quantitative Ausprägungen innerhalb einer allgemeineren
Atrophie der Sehrinde (v. Monakow). die (beim rechtsäugig Blin-
den) in der linken Sehrinde weit beträchtlicher ist als in der rechten.
') Nicht aus seiner Beschreivung (Kleist).
Weiter hat neuerdings A. H. Schroeder (im Laboratorium
Jakobs) die Sehrinde eines Menschen untersucht, dem 50 Jahre
vorher der linke Bulbus enukleiert worden war. Wieder war die
kontralaterale Kalkarina in ganzer Ausdehnung verschmälert, wobei
auch der Vieq d’Azyrsche Streifen deutlich verschmälert war.
Die Atrophie war aber ganz besonders stark ausgeprägt in der IV c,
während die linke Regio calcarina eine eben noch kenntliche Ver-
schmälerung des Vicq d’Azyrschen Streifens zeigte, im Zellbild
aber eine „fast völlige Atrophie von IV a und eine leichte, aber noch
deutliche Degeneration von Schicht II und III“.
Gleichseitig mit der Enukleation des Auges war also be-
sonders die Atrophie der oberen Schichten II, HI, IVa; gekreuzt
eine starke Atrophie der tieferen Körner in der IVe.
Doppelseitig waren (kontralateral aber stärker) die Atro-
phien in den tiefsten Schichten V und VI.
Schroeder schließt daraus, daß diese Verteilung „ganz klar
zugunsten der von Henschen angedeuteten und von Kleist auf-
gebauten Theorie“ spreche, „bei welcher die homolateralen Fasern
in der IVa und die kontralateralen in der IVc endigen würden.“
Er ist daher genötigt, die doppelseitige Atrophie der beiden tiefsten
Schichten als „sekundär“ zu betrachten und vermutet deren Zuord-
nung zu effektorischen Leistungen. Auch den Umstand, daß
auf der homolateralen Seite drei obere Schichten (II, I, IV a) ein-
seitig atrophisch sind, deutet er als sekundär bedingt; er nimmt an,
daß Lamina II und III „besonderen Retlexvorgängen dienen, die von
IV a angeschlagen werden.“
Uns selbst erscheint an diesem Befund gerade die Zusammen-
gehörigkeit der drei oberen Rindenschichten in ihrer Beziehung
zum homolateralen Verlust eines Auges wichtig. Diese
Zusammengehörigkeit zeigte sich schon in den Befunden von Hans
Berger und von Cramer, sowie in den früher von uns zitierten
Ergebnissen, die Lenz bei doppelseitiger Farbenhemianopsie am
Menschen, sowie experimentell an Tieren unter der Wirkung ein-
farbigen Lichtes gewonnen hat; diese bestehen gleichfalls in um-
schriebenen Lichtungen der Zellen innerhalb der Schichten II und III
(vgl. S. 152).
Auch Kleist selbst erwähnt diese Befunde und deutet sie da-
hin, daß die Inaktivitätsatrophie „allmählich auch auf die nicht un-
mittelbar mit. der Sehstrahlung verknüpften Rindenschichten, ins-
besondere auf solehe mit assoziativen Leistungen sich ausdehne“. Wir
selbst ziehen hier die Konsequenz ‘aus dem, was sich uns im früheren
— 206 —
ergeben hat: Wir sehen in den genannten drei Schichten (II, II und
IVa) diejenigen kortikalen Zellsysteme, die (vgl. S. 112) als Eigen-
leistung eine Umpolarisierung jener richtenden
Momente bewerkstelligen, die den homolateral
zugeordneten Faszikeln der Sehstrahlung noch an-
haften. Diese Leistung ist. wie wir gesehen haben, in letzter Linie
eine übertragene; sie setzt u. a. das Eingreifen der Korrelation
zwischen Pulvinar thalami und der Area 18 voraus, wie aus dem be-
sprochenen Befund Winklers hervorgeht; so erscheinen die oberen
drei Schichten II, IH und IVa als die Angriffspunkte einer
richtenden Wirkung, die identische Punkte im binokularen Gesichts-
feld herstellt; diese Wirkung ist auf die Area striata, innerhalb ihres
Bereichs aber zunächst auf die genannten drei Schichten verteilt. Wir
erinnern daran, daß es sich in der Schicht IH und III, aber auch in
der Schicht IVa (Cajal) um Gruppierungen von Pyra-
midenzellen handelt und daß wir gerade diesen die Hauptrolle
für den Aufbau des projektiven räumlichen Nebeneinander in der
Area striata zugeschrieben haben (S. 142).
Ein Teil der „besonderen Reflexvorgänge, die von IVa an-
geschlagen werden“ (A. H. Schroeder), besteht also nach unserer
Auffassung in jener Polarisation der gleichseitigen optischen Er-
regungen, die sie auf eine andere Ebene bringt, um ‘sie zu einem
neuen Ganzen mit den gekreuzten optischen Erregungen zu vereinigen.
Nennt man diese Tätigkeit — was wir, wie oben bemerkt, für irre-
führend halten — eine Mischung. dann kann man auch die Gesamtheit
der hier atrophierenden Zellsysteme in der II, III und IVa mit dem
Ausdruck Bäränysals Mischfeld bezeichnen. Knüpft man daran
die (immer noch unbewiesene) Hypothese, daß die Tätigkeit dieser
Zellsysteme innerhalb der Area striata nur solche Faszikel der Seh-
strahlung an sie heranzieht, die den optischen Erregungen des gleich-
seitigen Auges zugeordnet sind, dann ergibt sich die Auffassung von
Kleist. Aber auch wenn diese zutreffen sollte, handelt es sich um
eine kortikale attrahierende Kraft. die die zentripetalen Er-
regungen innerhalb der Area striata ordnet: sie entspricht der
sondernden und ordnenden Kraft, wie sie die Rinde auf das Geni-
kulatum ausübt. Nach der Hypothese von Kleist würde sie auch
noch in der Rinde zunächst eine Entmisehung zur Folge haben. dann
erst eine endgültige Verschmelzung der Erregungselemente; die
letztere teilt Kleist einer .vereinheitlichenden Arbeit
der Sternzellen“ zu. Nach der Hypothese von Baräny würde
diese Vereinheitlichung schon dureh die Eigenleistung der bezeich-
neten oberen Schichten gegeben sein. Wir sehen in diesem Punkt
keinen wesentlichen Widerspruch zwischen diesen beiden Hypo-
thesen, sondern einen Punkt, in dem beide ergänzungsbedürftig
sind. Es bleibt aber der Kleistschen Fassung das große Verdienst.
auf die überwiegend homolateralen Beziehungen dieser oberen Schich-
ten zuerst‘) aufmerksam gemacht und sie der exakten Feststellung
zugeführt zu haben.
Wenn im Befund von Schroeder die Atrophie der kleinen
Zellen in der IV a (nach der Beschreibung im Autoreferat) wesentlich
stärker war, als die Atrophie der beiden oberen Zellschichten, so ist
dies für uns selbstverständlich, da die IVa jene Angriffspunkte des
umpolarisierenden Gesamtsystems enthält, die dem Bereich, in dem
sich die zentripetalen optischen Fasern dekomponieren, sich am
meisten nähern. Bereits Ramon y Cajal hat über die Endigung
der zentripetalen Fasern folgendes festgestellt: „Keine optische Faser
erhebt sich aufwärts über die IV. Zone“ (Schicht der großen Stern-
zellen, IVb). „Auch glauben wir, daß der Bereich der Pyramiden-
zellen (der kleinen und mittleren) nicht mit ihnen in eine direkte
Relation eingeht“ (zu diesem gehört auch die IVa, die Cajal aus
Gründen der feineren Morphologie nicht von der Schicht III trennt).
„Aber dies ist nicht absolut; denn wir haben einigemal feine auf-
steigende Kollateralen von den horizontal verlaufenden Zweigen der
Optikusfasern gesehen, die in der oberen Schicht des Bereichs der
eroßen Sternzellen zirkulieren und in den Rand der dritten Schicht
(also in den Bereich der IV a) eindringen, wo sie vielleicht sich mit
Pyramidenzellen artikulieren (Fig. 390 D Cajals).“
Die Befunde Cajals entsprechen vor allem dem neugeborenen
Menschen und sehr jungen Tieren. Es ist daher wohl möglieh, daß
heim erwachsenen Menschen jene letzten aufsteigenden Kollateralen
sich vermehrt und kompliziert haben, ja vielleicht sogar. daß sie zu
Hauptwegen der zentripetalen Erregung geworden sind. In diesem
Falle sind die Zellen der oberen Körnerschicht IV a, die ihrer Gestalt
nach kleine Pyramidenzellen sind (Ramon y Cajal), das
erste Neuron, an dem sie angreifen; sie sind vielleicht überhaupt
das am höchsten gelegene Nenron, an dem noch zentripetale Auf-
splitterungen aus der Sehstrahlung direkt enden. Aber auch. wenn
dies nieht zutreffen sollte, sind sie das nächstgelegene Neuron
1) Vor Kleist hatte schon Henschen diese Beziehungen angenommen
(in einer schwedisch geschriebenen Veröffentlichung. die in Deutschland unhe-
kannt geblieben war). Vel. S. A. Henschen, Archiv f. Ophth, Bd. 117, 1926.
— 208 —
aus einer ganzen Kette; nach den Gesetzen der sekundären und
tertiären Atrophie (v. Monakow) werden sie deshalb bei langjähri-
vem Fehlen des gleichseitigen Auges trophisch stärker geschädigt
sein, als die mit ihnen funktionell vereinigten Pyramidenzellen der
beiden obersten Schichten II und II.
Wenn wir vorhin die umstimmende Wirkung der oberen Schich-
ten als einen Teil der ..besonderen Retlexvorgänge‘“ bezeichnet haben.
„die von IVa angeschlagen werden‘, so ist damit nur jene intra-
kortikale Wirkung gemeint, die (vgl. den vorigen Abschnitt) vom
Pulvinar über die Area 18 auf die Area striata übertragen wird. Der
Befund Schroeders scheint uns also den Endbereich jenes queren
Weges anschaulich zu machen, der diesen übertragenen Wirkungen
zugeordnet ist (S. 184). Da dieRadien tief in die III. und II. Schicht
der Area calearina einstrahlen. hat es keine Schwierigkeit. in den
Wegstrecken der efferenten Assoziationsbündel, die in vielen dieser
Radien enthalten sind. die Glieder jener Verkettung zu sehen, die
den übertragxenden Vorgang geordnet enthalten. Wir selbst möchten
(vgl. S. 103) dabei den Systemen des Kuneus ein Übergewicht zu-
sprechen‘).
Die efferenten Wirkungen, die von der Area striata selbst
ausgehen, treffen vor allem das Corpus genieulatum laterale, ferner
die gleichseitigen Nachbarfeider der Rinde, und, soweit sie Kom-
missurenwirkungen enthalten (Poljak) die kontralaterale Großhirn-
hälfte. Ihnen entsprechen besonders viele Axonen der beiden tiefsten
Schichten (V und VD, derselben. die in beiden Hirnhälften im
Falle Schroeders atrophiert waren. Von den interkortikalen Er-
regungen. die von der Area calcarina entsendet werden. wollen
wir in diesem Zusammenhang vorläufig noch absehen, ebenso auch
von den kommissuralen Wirkungen. So bleibt für die Betrachtung
vorläufig nur die zentrifugale Wirkung der Area striata auf das
‘orpus genienlatum laterale übrig; wir haben in ihr einen Vorgang
gesehen, der von der bilateralen Gesamtarbeit beider GroBhlim-
hälften (insbesondere der parieto-okzipitalen Richtungszentren) be-
herrscht wird: es ist daher für uns selbstverständlich, daß auch
die Atrophie, die sieh nach einseitiger Zerstörung des Auges an den
Angriffsflächen dieser bilateralen Großhirnwirkung, den Laminae V
und VI, allmählieh einstellt, eine doppelseitige ist.
') Im übrigen ist die Beziehung der oberen Schichten in der Area striata
zur Area 18 (und damit zur Umpolarisierung der homolateralen optischen
Fasern) nur ein Sonderfall des allgemeinen Gesetzes. daß die Binnenfasern
den oberen Schichten der Großhirnrinde zugehéren.
Über eine Seitendifferenz dieser Atrophie wird im Falle
Schroeders nichts angegeben. Sollte sich eine solche doch heraus-
stellen, so wird sie sich aus einer verschiedenen Bilanz der Wirkungs-
komponenten jeder Großhirnhälfte bei der trophischen und richtenden
Beeinflussung des Genikulatum jeder Seite erklären lassen.
Den efferenten Wirkungen von der Area striata auf das Geni-
kulatum haben wir einen Teil der bestehenden trophischen Beziehun-
gen zugeschrieben, sowie die umstimmende und ordnende Einwirkung,
die die Gestalt des Genikulatum im Laufe der Entwicklungsgeschichte
verändert. Alles dies erscheint uns nur wie verschiedene Seiten eines
einheitlichen Gesamtvorgangs. Wir wollen nicht mißverstanden wer-
den, etwa dahin, daß in unserer Auffassung die Vorstellung liege, es
müsse während der ontogenetischen Entwicklung die zentri-
fugale Rinden-Genikulatum-Bahn schon vorhanden sein, um dessen
gestaltliche Entwicklung entsprechend zu fördern. Bekanntlich
(Flechsig) wird die zentripetale Genikulatumbahn (die Seh-
strahlung) weit früher markreif, als die zentrifugale; aber auch für
die Entwicklung dieser Axonensysteme bis zum Zeitpunkt der Mark-
reife haben wir Anhaltspunkte, daß sich die zentripetalen thalamo-
kortikalen Systeme weit früher entwickeln als die kortiko-thalami-
schen (His). Wir glauben keineswegs, daß — im Widerspruch mit
diesen Tatsachen — es erst des Auswachsens und Aufsplitterns der
kortiko-fugalen Axonen im Genikulatum bedürfe, damit sich dieses
im fötalen Gehirn orthogenetisch entwickle; wir nehmen an, daß im
Gehirn des Erwachsenen die trophische Korrelation auf diesem
Kontaktwege vor sich gehe, daß sie aber im fötalen Gehirn durch
jene Ausscheidung spezifischer attraktiver Sub-
stanzen eingeleitet wird. wie sie Ramon y Cajal und später-
hin Kappers als Hauptbedingung für die Bildung gestaltlicher
Korrelationen im fötalen Gehirn behauptet haben.
Die Tatsache, daß die Kalkarinaschichten II—IV a besondere Be-
ziehungen zum herdgleichseitigen Auge erkennen lassen, erweist noch
nicht, daß in diesen Schichten oder etwa in der IVa allein ein zu-
sammenhingendes, ausschließend gegebenes Endigungsgebiet jener
zerebro-petalen optischen Fasern vorhanden ist, die der Sinnes-
leistung des gleichseitigen Auges elektiv zugeordnet sind. Wir haben
dies schon vorhin hervorgehoben, glauben aber, es noch begründen
zu müssen.
Bisher war an dieser Zuordnung nur ein Zusammenhang mit
Wirkungen ersichtlich, die von den kortikalen Nachbarfeldern auf die
Area striata übertragen werden; dies schließt diese Annahme
— 210 —
Kleists keineswegs aus; es wäre zunächst sehr plausibel, daß die
elektive attraktive Wirkung jener oberflächlicheren Rindensysteme
die erwartete spezifische Auswahl unter den zerebralen optischen
Fasern zur Folge hat, wie sie der Annahme von Kleist entspricht.
Wir verweisen aber auf die Analogien zwischen der Wirkung der
richtenden optischen Zentren mit der richtenden Wirkung von Zell-
systemen des Hinterhorns im Versuch Dusser de Barennes:
diese Analogie hat sich im vorigen so oft gefunden, daß sie auch
hier kaum vernachlässigt werden darf.
Wenn im Versuch Dusserde Barennes sensible Erregungen
auf sonst verschlossenen Nebenwegen von der andern Seite
her an die richtenden Zellen eines Hinterhorns herankommen, so er-
gibt sich daraus, daß diese Nebenwege auch sonst gestaltlich ge-
geben.sind, nicht nur die — wenn man so sagen darf, physiologisch
gangbaren — Hauptwege der betreffenden sensiblen Erregungen
allein. Ein ähnliches Verhalten ist auch für die Aufsplitterungen der
optischen Fasern in der oberen Hälfte ihres Dekompositionsbereichs
denkbar: wir wissen nicht, wieviel oder wie wenig der kortikale
richtende Apparat auch von den kontralateral zugeordneten opti-
schen Fasern in sich aufnehmen muß, um gleichsam den Hinter-
grund für die Umstimmung zu schaffen, die er den homolateral zu-
geordneten optischen Fasern erteilt. Vielleicht muß hier eine ge-
wisse quantitative Bilanz in der Aufnahme der beiden Wirkungs-
komponenten varhanden sein, damit der physiologische Endeffekt
hergestellt wird und aufrecht bleibt. Die Annahme, daß von der
Wirkung anichts, von der Wirkung b aber ein gewisses Maximum
aufgenommen werden muß. um diesen Effekt zu erzielen, ist nur eine
der möglichen Annahmen: ebenso möglich ist, daß z. B. ein geringeres
Quantum von a mit einem größeren Quantum von b zusammentreffen
muß, um — keineswegs im Sinne einer Mischung — eine neue und
eigenartige richtende Wirkung hervorzubringen. Für das Genikulatum
ist aus den Befunden Minkowskis allenfalls anzunehmen, daß
exklusiv entmischende Vorgänge vorherrschen. Es ist aber vielleicht
wahrscheinlicher, daß die kortikale Leistung sich in diesen Punkt
anders, variabler verhält.
Wir haben bereits betont. daß dasjenige. was wir über die
Morphologie der sich dekomponierenden optischen Fasern wissen.
nicht ausreicht, um diese Frage zu einer Lösung zu bringen. Immer-
hin aber macht sich auch für uns das Bedürfnis geltend, eine gewisse
vorläufige Anschauung zu finden: der Versuch von Bäräny und
Kleist, diese physiologischen Verhältnisse direkt in die Morpho-
logie der zentripetalen Aussplitterungen umzusetzen, erscheint uns
zwar als bequem, aber nicht als aussichtsreich. Wir wollen das heran-
ziehen, was über die Morphologie dieser Endigungen bereits ermittelt
ist; nach dem heutigen Stand der Frage erscheint uns dazu nichts
anderes verwendbar zu sein, als die Ergebnisse von Ramon y
Cajal (trotz der Einwände v. Monakows, Niesslv.Mayen-
dorfs, in Übereinstimmung mit Kleist, A. H. Schroeder und
Jakob, sowie im Sinne eigener Befunde).
Von diesen war schon im vorigen die Rede. Wir griffen heraus,
daß nach Cajal Kollateralen der optischen Fasern bis in die IVa
eindringen und daß deren Hauptwege aus der oberen Etage ihres
Getlechtes stammen; wir erwogen die Möglichkeit, daß in einer wei-
teren Entwicklung aus diesen Kollateralen Hauptwege der zentri-
petalen Erregung werden können. Es erscheint uns bemerkenswert.
daß es nach Cajal gerade die oberen, mehr lockeren Geflechte sind,
die solche Kollateralen entsenden. Diese lockeren Geflechte umgeben
gerade die großen Sternzellen in der Schicht IVb.
Eigene Untersuchungen am Gehirn Erwachsener und am (Gehirn von
Kindern haben uns gezeigt, daß diese lockeren Geflechte mit der Alz-
heimerschen Markscheidenfärbung an Gefrierschnitten sehr gut als mark-
haltige Fasern kenntlich sind und daß man einzelne Fasern häufig auf ihrem
Weg aus der Einstrahlungszone der charakteristisch geformten zentripetalen
Fasern bis in diese obere Etage verfolgen kann. Derartige Präparate — die
leicht und sicher angefertigt werden können — zeigen auch, daß für die
markhaltigen Anteile des Viequ d’Azyrschen Streifens beim Er-
wachsenen genau dieselbe Lage gilt. wie sie Ramon y Cajal an
Silberpräparaten beschreibt und abbildet: Das dichte Geflecht dieses
Streifens liegt in der IVe (also in der tieferen Körnerschicht); das
weitmaschigere Geflecht liegt in der IVb. in der Schicht der
groben Sternzellen. Es ist also unrichtig, daß — wie vielfach angegeben
wird — der Vieque d’Azyrsche Markstreifen zwischen den beiden
Körnerschichten in der Brodmann schen Schicht IVb liege. Es scheint
uns, daß diese unrichtige Angabe, aus der schon viele theoretische Fol-
verungen gezogen worden sind, sich eingeschlichen hat, weil man jetzt ge-
wohnt ist, nur Zellfärbungen und Markscheidenfärbungen an eingebet-
teten Präparaten zu berücksichtigen, von den Befunden der Silberpräparate
aber in diesem Zusammenhange in der Regel absieht.
Nach dem Befund Cajals findet man also Komponenten
von Sehnervenfasern, die die großen Sternzellen umspinnen, wenn
man nach optischen Fasern sucht, die in die oberen Schichten ein-
dringen oder wenigstens zu ihnen besonders enge Nachbarbeziehungen
haben. Dies läßt sich im Sinne unserer früher ausgesprochenen Auf-
fassung deuten: von den vereinheitlichenden Zellsystemen der
II—IVa werden gewisse Anteile der zerebropetalen Erregung
— 212 —
abgespalten, damit ein umstimmender Effekt erzielt wird, der
die gleichseitigen und gekreuzten Erregungen zu Identitäten ver-
einigt. Ob dazu nicht auch von den Fasern gekreuzter Zuordnung
Komponenten abgespalten werden müssen. ist der Teil der Frage.
dem man — wie wir glauben — solange nicht näherkommen kann.
als es keine Anzeichen gibt, nach denen Fasern gleichseitiger und
gekreuzter Zuordnung morphologisch voneinander unterschieden wer-
den können. Es bleibt daher offen, ob die lockeren Getlechte, die die
großen Sternzellen umspinnen, nur homolateral zugeordnete Fasern
enthalten oder gemischte; vielleicht darf man aber behaupten: wenn
(im Sinne der ersten Vermutung Minkowskis) die Repräsentanten
der gekreuzten und der ungekreuzten optischen Elemente im Kortex
zusammenhängende Felder bilden und wenn die Felder, die jedem
Auge zugeordnet sind, übereinander liegen (im Sinne der Hypo-
these von Bárány und von Kleist), so wire es am ehesten die
IVb, die Schicht der großen Sternzellen, in der man ein zusammen-
hängendes Feld für die Endigungen der homolateral zugeordneten
optischen Fasern erwarten könnte.
Dies stimmt damit überein, daß — wie Cajal als erster es
hervorgehoben hat — die Entwicklung der großen Sternzellen beim
Menschen diejenigen der Katze übertrifft. „Die große Sternzelle findet
sich ebenso im optischen Zentrum des Hundes und der Katze, aber
in geringerer Menge als beim Menschen“ (Cajal). Auch braucht
nur daran erinnert zu werden, daß schon die Untersuchungen
Leonowas bei Anophthalmischen ein Fehlen der Schicht IV b er-
geben haben. Wenn also Kleist an den Leistungen der Sternzellen
besonders eine verknüpfende Rolle hervorhebt, die durch ihre
Lage „zwischen den beiden kortikalen Netzhäuten“ beim Menschen
besonders begünstigt sei, so kann man dem zustimmen, muß aber
berücksichtigen, daß die großen Sternzellen als rezeptorische Elemente
mindestens ebensosehr, sogar noch eher in Betracht kommen, als
die Zellen der IV a, von der das letztere bisher nur vermutet werden
kann. Bewiesen ist eine direktere Beziehung zwischen Endigungen
der optischen Fasern und kortikalen Zellsystemen nur für die Zellen
der [Ve und der IVb.
Wir bekennen, daß uns Ausdrücke wie „Verknüpfungen“ usw.
nichts besagen. Wenn wir. wie bisher. statt dessen lieber von einer
Spaltung zentripetaler Erregungen sprechen, so können
wir in der vorwiegend horizontalen Richtung der Dendriten der
großen Sternzellen, in der übereinstimmenden horizontalen Richtung
der sich dekomponierenden Zweige der optischen Fasern und in deren
Gegensatz zu den aufwärts strebenden Kollateralen, die in höhere
Schichten eindringen, ein Bild sehen, das jene Neuorientierung
der optischen Erregungen in die Horizontalebene
veranschaulicht, jene Umpolarisation der zentripetalen Er-
regungen, von der wir früher gesprochen haben. Es wäre dann eine
Wechselwirkung zwischen den Zellen der IVa und den großen
Sternzellen, durch die jene Umpolarisierung bewerkstelligt würde; die
besonders hochgradige Atrophie der IV a bei Verlust der Anregungen
vom homolateralen Auge aus ist vielleicht bis zu einem gewissen
Grade der Atrophie in den Kernen der Hinterstränge beim Schwund
der aufsteigenden Kollateralen vergleichbar, wie sie das typische Bild
der Tabes enthält.
Der Vergleich zwischen Schichtenaufbau der Area striata und
jener klinisch gegebenen Entmischung der monokulären Gesichts-
felder bei Schädigung der Sehsphäre scheint uns also dazu zu führen,
daß an der Vereinheitlichung des binokularen Gesichtsfeldes nicht
nur alle Schichten der Area striata beteiligt sind, sondern viel weiter
ausgreifende Wirkungen, die über die Area 18 weg als Resultierende
einer kortikalen Gesamtleistung auf die Area striata übertragen wer-
den. Die Wirkung auf die Area striata führt zunächst zu einer
Spaltung der zentripetalen Erregungen; diese müssen gespalten wer-
den, um neu verarbeitet werden zu können, ähnlich wie artfremdes
Eiweiß im Organismus abgebaut und zum Aufbau von arteigenem
Eiweiß verbraucht wird. Die Angriffspunkte des Spaltungsvorganges
innerhalb der Area striata sind bestimmbar; soweit sie einer Ver-
einheitlichung der binokularen Wirkungen dienen, bestehen sie in
Vorgängen, deren homolateral korrelierter Anteil an den höheren
Rindenschichten, deren kontralateral zugeordneter Anteil an den
tieferen Rindenschichten angreift. Wieweit damit eine Entmischung
der einstrahlenden optischen Fasern und die Bildung zusammen-
hängender Endflächen für sie verbunden ist, bleibt unbestimmt; doch
könnte man in der Schicht IVb hypothetisch eine Endfläche der
homolateral zugeordneten zentripetalen Erregungen, in der Schicht
IV e eine Endfläche für die kontralateral zugeordneten optischen Er-
regungen (ausschließlich oder überwiegend) suchen. Mit dem hier
durchgeführten Vergleich ergibt sich uns eine vorläufige Anschauung
über die morphologischen Parallelen zur Vereinheitlichung
des Sehraums; noch bleibt aber die Frage vollkommen offen.
warum eine besondere Zentrierung in der Area striata selbst
vorhanden ist, warum ein Schwerpunkt in der Area striata ent-
steht, in seiner Lage bestimmt durch jene mehr polaren Anteile. deren
— 214 —
doppelseitige Zerstörung unter Umstiinden den dauernden Verlust der
Mitte des Gesichtsfeldes zur Folge hat.
2. Die Zentrierung der Area striata.
Es ist zu erwarten, daß die zentralen Vorgänge, die das bino-
kulare Gesichtsfeld vereinheitlichen, auch von Eintluß sind bei jenem
okulostatischen Vorgang, demzufolge von jeder Fovea „je nach dem
Grade der Aufmerksamkeit verschieden starke Impulse zu den Blick-
zentren gehen“, deren Aufgabe es ist, das Bild des Gegenstandes
automatisch auf der Fovea zu halten (Kestenbaum). Dies ist
die motorische Seite der Zentrierung des Gesichtsfeldes:
Kestenbaum spricht von einem (innervatorischen) Fixations-
apparat; Cords hat diese Anschauungen dahin erweitert, daß er
(mit einem Ausdruck von Gertz) einen „Stellungsapparat“
annimmt, eine allgemeine Einrichtung, derzufolge — laienmäßig aus-
gedrückt — der Gegenstand im Auge behalten wird. Die Bewegungen.
die das Auge macht, wenn es einem bewegten Gegenstand folgt.
nennt Cords bekanntlich Führungsbewegungen; er weist
auf ihre gleitende Natur hin im Gegensatz zu der plötzlichen, ruck-
artigen Natur der spähenden Blickbewegungen.
Wir haben also eine besondere Gruppierung dieser physiologi-
schen, optisch ausgelösten Augenbewegungen zu beachten; die
gleitenden Führungsbewegungen haben eine gewisse Verwandtschaft
mit den tonischen Impulsen auf die Blickzentren, die das Halten der
Fixation bewirken; die Spähbewegungen und ihre Aufeinanderfolge
(z. B. die Kette der Bewegungen beim Lesen, Cords) sind in ihrem
Rhythmus von den ersteren wesentlich verschieden. Gertz hat an-
genommen, daß beide Bewegungsarten verschiedenen Zentren unter-
stellt sind, so daß man einen Bliekapparat und einen
Stellungsapparat unterscheiden könne.
Lange bevor diese Terminologie von den Okulisten festgelegt
war, hatten wir die Befunde unserer Beobachtung 3 erhoben, in
denen Änderungen der Blickhaltung den Einfluß der beiden
Großhirnhälften auf die Doppelversorgung gesetzmäßig zu ändern
schienen; ferner hatte der eine von uns (P.) darauf aufmerksam ge-
macht, daß in den Rückbildungsphasen der allgemeinen Sehstörung‘
nach HinterhauptschuB eine starre Fixation die Regel bildet.
zumeist relativ lange dauert und selbst wenn sie schon überwunden
ist, immer noch episodisch wiederkehrt. Selbstverständlich ist diese
Starre der Fixation keine absolute, in dem Sinne, daß die Kleinen
— 215 —
Schwankungen, die bei der physiologischen Fixation stattfinden,
vollkommen aufhören. Sie ist aber wesentlich anders als die
Fixation des Gesunden; sie ist vor allem mit einer rasch eintretenden
konzentrischen Einengung des Gesichtsfeldes verbunden. Eine solche
Phase starrer Fixation geht sehr häufig in eine folgende Phase- über,
in der der Gegenstand wider Willen aus dem Auge verloren wird;
der Beobachter kann dabei zuweilen auch ein ruckweise erfolgendes
Abspringen des Blicks bemerken. In den späteren Stadien, in denen
diese Störungen nur mehr episodisch kommen, kann der Kranke,
wenn er sich „in einen Gegenstand verguckt“ hat (Ausdruck eines
Patienten von P.) willkürlich die Sperre lösen, durch eine ruck-
artige Blickbewegung nach irgendeiner Seite, die er absichtlich macht
oder wenigstens so erlebt, als wenn sie absichtlich wäre.
Wir sehen also, daß der von Gertz und Cords angenommene
Stellungsapparat der Fixation auch von der Sehrinde aus durch
Läsionen der zerebralen optischen Systeme in einer typischen und
eigenartigen Weise gestört werden kann. Die Leistung dieses
Stellungsapparates stellt die motorische Seite der Zentrierung des
Gesichtsfeldes dar; die Vereinigung des binokularen Gesichtsfeldes
ist (vgl. den vorigen Abschnitt) als ein Vorgang erschienen, der auf
die Area striata gerichteten zentralen Einwirkungen entspricht. So
sind hier weitere Zusammenhänge gegeben.
Cords hat besonders hervorgehoben, daß man große erworbene
zentrale Skotome ziemlich genau perimetrieren kann, wenn man den
Patienten auffordert, das Auge auf die Mitte eines außerhalb des
Skotoms liegenden Kreises oder auf den (nicht gesehenen) Schnitt-
punkt. zweier sich kreuzenden, durch das ganze Gesichtsfeld reichen-
den Linien einzustellen. Dies gilt für zentrale Skotome der gewöhn-
lichen Art, die nicht durch Großhirnläsion entstanden sind. Es wird
also zunächst. die Frage beantwortet werden müssen, wie sich die
zerebral bedingten Ausfälle der Mitte des Gesichtsfeldes in bezug
auf das Halten der Fixation und auf die Möglichkeit einer perimetri-
schen Aufnahme verhalten.
Diese Frage hat der eine von uns (P.) an seinem eigenen Material
von Kriegsverletzungen und an den Berichten über die wenigen ein-
schlägigen Fälle der Literatur zu lösen versucht. Der einzige eigene
Fall des einen von uns, bei dem dauernd die Mitte des Gesichtsfeldes
ausgefallen blieb (der hier bereits wiederholt erwähnte Fall Obszut),
verhielt sich in dieser Beziehung sehr eigentümlich; er drehte den
Kopf nach links, die Augen nach rechts und diese Gegendrehung
wurde um so ausgiebiger und angestrengter, je mehr er sich bemühte,
— 216 —
ein Objekt in der Fixation zu halten. Bei geradem Kopf und Blick
geradeaus war ihm jede Fixation unmöglieh; dies erschwerte jede
perimetrische Aufnahme außerordentlich; doch ließ sich feststellen,
daß es sich bei dem Kranken um eine Hemianopsia inferior handelte.
bei der überdies noch in ziemlich breitem Umkreis die Mitte des
Gesichtsfeldes ausgelöscht war. Offenbar stimmt die geschilderte
Art der Fixation weitgehend mit dem überein, was als asymmetrische
Konvergenzeinstellung bezeichnet worden ist (Wundt). Auch der
eine der beiden früher erwähnten Fälle mit gerichteter Metamor-
phopsie und rotierten Doppelbildern (der erste Fall; mit Ab-
knickung vertikaler Konturen usw. vgl. S. 104) hatte eine analoge
abnorme Einstellung: es kam dabei auch noch zu einer besonderen
Neigung des Kopfes (in Richtung gegen die linke Schulter. korre-
spondierend mit einer rechten unteren Quadrantenhemianopsie. die
nahe der Mitte auch in den linken unteren Quadranten des Gesichts-
feldes reichte); dieser Neigung des Kopfes entsprach eine Rotation
beider Augen im Sinne einer Gegenrollung.
Solche Beobachtungen würden, solange man sie für sich allein
betrachtet, die Auffassung nahelegen, daß mit den zerebral bedingten
zentralen Skotomen besondere Störungen in den Leistungen des
Stellungsapparates verbunden sind, die bei der retrobulbären
Neuritis u. a. nieht vorhanden sind oder nicht vorhanden sein
müssen. Man käme dann dazu, den Stellungsapparat dem zentralen
Projektionsfeld der Makula selbst zuzuordnen, den Bliekapparat aber
der benachbarten optisch-motorischen Region. Eine solche Auffassung
würde aber anderen klinischen Tatsachen widersprechen, die dem
einen von uns (P.) bereits aus dem Vergleich seines Falles Obszut mit
den früheren einschlägigen Fällen der Literatur ersichtlich ge-
worden sind.
In einigen dieser Fälle (z. B. im Fall von Inouye) ist nämlich
von derartigen Störungen der Augeneinstellung bei der Fixation über-
haupt nichts erwähnt und das Gesichtsfeld erschien — wie in den
peripher bedingten zentralen Skotomen (Cords) — leicht peri-
metrierbar. Nur im Falle von Poppelreuter läßt eine kurze Be-
schreibung des Autors im Prinzip dieselbe abnorme Art der Fixation
erkennen, wie Obszut sie hatte; sie war jedoch offenbar viel schwächer
und nicht so krampfhaft. Wir haben daher diese atypische Ein-
stellung bei der Fixation nicht für ein Symptom gehalten, das un-
trennbar mit einer elektiven doppelseitigen Zerstörung des
sog. Projektionsfeldes der Makula verbunden sei; wir haben an-
genommen. daß die motorische Seite der Störung, die patho-
— 217 —
logisch veränderte Einstellung von Kopf und Augen bei
der Fixation mit dem Verlust der Mitte des Gesichtsfeldes nach
doppelseitiger Zerstörung der Okzipitalpole ebensogut vereinigt sein,
als fehlen kann, bzw. daß sie schwächer oder stärker ausgeprägt ist,
je nachdem die Nachbarregionen der polaren Hälfte der Area
striata von der Zerstörung schwächer oder stärker: mitbetroffen sind.
Wir haben somit die zerebrale Komponente des optischen
Stellungsapparates nicht auf eine isolierte. Leistung der
ganzen Area striata, noch weniger auf eine isolierte Leistung ihres
dem zentralen Sehen zugeordneten Teilgebietes ausschließlich be-
zogen; doch ist uns die Koinzidenz zwischen vorübergehendem oder
dauerndem Ausfall der Mitte des Gesichtsfeldes und derartigen ab-
normen Einstellungen der Fixation stets sehr bemerkenswert er-
schienen; der eine von uns (P.) hat dies bereits 1917 hervorgehoben.
Das Verhalten des Falles unserer Beobachtung 4 bringt uns auch
in dieser Beziehung eine Ergänzung, die im Sinne der hier entwickel-
ten Auffassung spricht. Während einer kurzen Phase war die Mitte
des Gesichtsfeldes ausgelöscht, das periphere Sehen hingegen doppel-
seitig vorhanden; zugleich bestand die geschilderte optische All-
ästhesie; damals konnte der Kranke von dem einen von uns (P.) in
der gewöhnlichen gleiehsinnigen Geraderichtung von Kopf und Augen
ohne weiteres vor der Tafel perimetriert werden; seine Fixations-
einstellung dabei entsprach den Angaben von Cords für zentrale
Skotome nach Sehnervenschidigung. Führungsbewegungen aller-
dings konnten nicht erzielt werden; sie waren jedenfalls geschädigt,
da der Patient zumeist das peripher auftauchende Objekt bei seinen
Verschiebungen aus dem Blick verlor. Ganz aufgehoben waren sie
aber nicht, da zuweilen bei kleinen Verschiebungen der exponierten
Marken das Objekt doch mit den Augen deutlich verfolgt wurde, ob-
wohl es nur von der Peripherie des Gesichtsfeldes her zum Bewußt-
sein kam. Spähende Blickbewegungen fanden sich nicht; Blick-
bewegungen auf Befehl waren ohne Besonderheit.
Da unsere Beobachtung 4 u. a. einem alten Herd im Gebiet des
rechten Okzipitalpols entspricht, zeigt sich, daß sein Bestehen allein
dauernde Störungen der Leistungen des Stellapparats nicht zur
Folge gehabt hat. Da aber zur Zeit der hier angeführten Phänomene mit
Bestimmtheit auch eine frische Herderkrankung der parieto-okzipita-
len Konvexität in der rechten Hemisphäre bestanden hat (vgl. S. 40),
ergibt sich, daß auch eine Kombination dieser asymmetri-
schen doppelseitigen Läsion der parieto-okzipi-
talen Richtungszentren nicht einmal vorübergehend Ein-
Herrmann-Pötzl, Optische Allästhesie (Ablıdl. H. 47). 15
— 218 —
stellungsstörungen ausgelöst hat, wie sie bei der doppelseitigen Zer-
störung der Okzipitalpole bei Obszut dauernd bestanden haben‘). In
weiterer Folge ist bei unserer Beobachtung 4 zugleich mit dem Fort-
schreiten der rechtshirnigen parieto-okzipitalen Erweichung die zu
erwartende gleichsinnige Deviation von Kopf und Blick nach
der Gegenseite des Herdes aufgetreten (S. 43); es kam aber niemals
zu einer gegensinnigen Drehung von Kopf und Augen oder zu
(regenrollungsphänomen.
Wir leiten daher aus unserem Fall folgendes ab:
1. Es gibt isolierte Auslöschungen der Mitte des Gesichtsfeldes
durch doppelseitige Läsion der zerebralen Sehsphäre, in denen der
Stellungsapparat intakt geblieben oder wenigstens nur geringfügig
geschädigt ist. Solche Fälle entsprechen in Fixation und Perimetrier-
barkeit wenigstens annähernd den Bedingungen, die Cords für
zentrale Skotome nach Schädigung des N. opticus festgestellt hat.
Die kortikale Komponente des Stellungsapparats ist also nicht
elektiv durch eine Eigenleistung der Area striata allein bedingt.
2. Charakteristische Störungen der Fixationseinstellung (gegen-
sinnige Drehungen und Rollung von Kopf und Augen) treten bei
doppelseitiger Schädigung der Sehsphäre im Polgebiet am ehesten
dann auf, wenn die Nachharsysteme der Area striata bilateral
annähernd symmetrisch im Gebiet nahe dem polaren Teil der
Area striata Zerstörungen aufweisen.
Daraus würde hervorgehen, daß die zerebrale Komponente des
Stellungsapparats (ganz oder zum Teil) an eine Doppelversor-
gung seitens der okzipitalen Richtungszentren ge-
bunden ist, die sich in ihrer Art mit der Doppelversorgung des sog.
Projektionsfeldes der Makula vergleichen läßt, ohne aber mit ihr
identisch zu sein. Wir leiten daraus die Vermutung ab, daß die rich-
tende Zentrierung der Area striata in einer ähnlichen Weise von dem
polaren Anteil der okzipitalen Richtungszentren auf die Area
striata übertragen wird, wie wir dies für den Lokalzeichen gebenden
Vorgang und für die Retinaprojektion bereits dargetan haben.
Die Schliissigkeit unserer Folgerung 2 ist durch den Umstand
beeinträchtigt, daß wir nur traumatische Fälle in unserer Be-
obachtung hatten, hei denen durch symmetrische Herde in den Okzi-
pitalpolen die Mitte des Gesichtsfeldes dauernd ausgefallen blieb.
Es könnte sich hier auch um eine besondere Wirkung der allgemeinen
tranmatischen Hirnschädigung handeln, die dergleichen motorische
t) Fall Obszut ist ohne Autopsie geblieben.
Störungen — wie wir selbst glauben —- leichter hervorbringen kann,
als Hirnherde mit andersartigen Allgemeinwirkungen. Doch meinen
wir, daß die allgemeine traumatische Hirnschädigung doch nur einem
Resonanzboden gleichzusetzen ist, der die spezifische Einstellungsstö-
rung verstärkt, nicht aber, daß sie besonderen lokalen Neben-
bedingungen entspricht, die erst dazu kommen müssen, um die Spezi- -:
fität dieser Einstellungsstörungen zu erzeugen.
Es handelt sich hier außerdem noch um Einwirkungen vom Fuß
der 2. Stirnwindungen her, die geeignet sind, bei der nichttraumati-
schen Laalon vorübergehende Einstellungsstörungen zu kompensie-
ren oder die Störung von Anfang an in Latenz zu halten. Kesten-
baum hat für die Erregungskreise des Fixationsapparates einen
direkten Reflexbogen über den N. opticus zu den Augenmuskelkernen
angenommen, dem ein kortikaler Reflexbogen über — Sehsphäre —
zentrifugale Fasern der Sehstrahlung — mesenzephale Blickzentren
übergebaut ist; Cords nimmt an, daß „die von der Sehrinde aus-
gehenden Impulse mittels Assoziationsfasern dem Stellungszentrum
der Augenbewegungen zugeleitet wird, welches am Fuße der 2. Stirn-
windung zu lokalisieren ist. Die tonisierenden Stellungsimpulse
werden über den vorderen Schenkel der inneren Kapsel zu den Blick-
zentren geleitet und stehen in engen Beziehungen zu den Stamm-
ganglien oder benachbarten Zellkomplexen.“
Wir selbst halten an der Annahme fest, daß beide Ennes
kreise nebeneinander bestehen und ineinander eingreifen, wie dies
für den optischen Nystagmus und seine Störungen durch Großhirn-
läsion bereits im vorigen (N. 132) besprochen worden ist. Der frontal-
zentrierte Erregungskreis würde dann den okzipital zentrierten kom-
pensieren können und vice versa; vorübergehende Störungen können
von jedem der beiden Erregungskreise aus in Erscheinung treten;
dauernde Störungen fanden sich bisher nur dann, wenn durch die
allgemeine traumatische Hirnschädigung die frontale Kompensation
verzögert war und die kortikalen Systeme des okzipitalen Erregungs-
kreises besonders schwer und bilateral symmetrisch im Polgebiet
(bzw. in seiner Nähe) zerstört waren.
Analog konnte ja auch der optische Nystagmus nach der Gegen-
seite der Herdläsion sowohl von einem frontalen Bezirk (klinisch
mit motorischer Aphasie verbunden), als auch durch okzipitale Herde
mit Läsion der zentrifugalen optischen Systeme (Cords) zum Ver-
schwinden gebracht werden. ‚Ein klinischer Unterschied zwischen
den zerebralen Läsionen des Stellungsapparates der Augen und
diesem Wegfall des optischen Nystagmus ist vielleicht darin gelegen,
15*
— 220 —
\
daß Störungen der fixierenden Augeneinstellung nach rein frontalen
Herden bisher nicht beobachtet worden sind. So ist es vorläufig noch
zweifelhaft, ob es solche überhaupt gibt.
Funktionell findet sich ein Unterschied darin, daß der optische
Nystagmus eine Kombination von Führungs- und Späh-
bewegungen ist (Cords). Sollte sich also der vorhin erwähnte
klinische Unterschied weiterhin bestätigen, so würde er die An-
nahme nahelegen. daß der frontale Blickapparat zwar die ruck-
artigen Augenl:ewegungen merklich beeinflußt, nicht aber die gleiten-
den: von ihm aus würde also im Sinne der Auffassung von Gertz
zwar der Blickapparat. aber nicht der Stellungsapparat dirigiert
werden: die parieto-okzipitale Region aber erteilt beeinflussende
Wirkungen sowohl dem Blickapparat als auch dem Stellungs-
apparat; doch scheinen diese Beziehungen für räumlich verschiedene
Territorien dieser Region versehiedene zu sein. derart. daß die Kon-
vexität des Okzipitalpols in bilateraler Zusammenarbeit die gleich-
gerichtete Haltung von Kopf und Blick und die Primärstellung des
Auges garantiert, die oralen und lateralen Partien der Region aber
den Einstellungswechsel.
Die Leistung des Stellungapparats bildet das stabilisierende Mo-
ment im Gesichtsfeld: man kann sagen, daß er trachtet, seinen
Schwerpunkt aufrecht zu erhalten. Im Gegensatz dazu bewirken die
Einflüsse des Blickapparats die Neigung zur raschen Veränderung
des Gesichtsfeldes, sie entsprechen mehr dynamischen Wirkungen und
sind dem Wechsel der ‘Gesichtsfelder zugeordnet. Ein ähnlicher
Gegensatz fand sich zwischen dem Beharren eines Objektes im
eingeschränkten Gesichtsfeld bei der Bälintschen Seelenlähmung
des Schauens, im Gegensatz zu dem flüchtigen Entschwinden der Seh-
dinge. wie es zuweilen beim engen Gesichtsfeld der doppelseitigen
okzipitalen Zerstörungen vom Typus des Försterschen Falles vor-
kommt (vgl. dazu Redlich und Bonvieini). vor allem aber bei
der von Arnold Piek zuerst beschriebenen apperzeptiven
Blindheit der Senilen. Da im Bälintschen Falle gerade die
Polteile der okzipitalen Richtungszentren zusammen mit der Area
striata in beiden Hemisphären erhalten waren, stimmt die Analogie.
die sich hier ergibt, gut zusammen mit der Auffassung, daß
die funktionelle Leistung der okzipitalen Richtungszentren eine reli-
tive räumliche Ordnung zweier Hauptkomponenten erkennen läßt. Die
eine, die mehr dynamischen Wirkungen entspricht und dem Wechsel
der Gesichtsfelder zugeordnet ist. würde mehr am oralen Teil der
Aren striata angreifen: sie hätte dort gewissermaßen ihr Maximum
— 221 —
und würde polarwärts mehr abklingen. Die zweite Komponente
scheint in den polaren Anteilen der okzipitalen Konvexität (insbeson-
dere im Cuneus) besonders konzentriert zu sein; sie greift am polaren
Anteil der Area striata an und stimmt sie für statische Wir-
kungen ab; so zentriert sie die Area striata und mit ihr das binoku-
lare Gesichtsfeld.
Es ist wahrscheinlich, daß beide Komponenten an denselben An-
grilfspunkten innerhalb der Area striata angreifen, derart, daß
sich ein fein variierbares Zusammenspiel ergibt, aus der die reiche
Mannigfaltigkeit der physiologischen, optisch bedingten Einstellungs-
bewegungen der Augen hervorgeht. Nur die Richtungen, aus
denen die Einflüsse der beiden Komponenten kommen, sind verschie-
den, wie die Art der beiden Einwirkungen verschieden ist. Es ist
darum unnötig, anzunehmen, daß ein verschiedener Bau der Area
striata diesen verschiedenen Leistungen entspreche; wenn z. B.
Bäräny meint, daß in den Rindenpartien des Menschen, die der
temporalen Sichel entsprechen, auch die Verdoppelung der Körner-
schicht fehlen solle, so erscheint uns eine solche Annahme unnötig:
es widersprechen ihr auch alle bekannten morphologischen Tatsachen.
Anders ist es mit den Parallelen, auf die Kleist hingewiesen hat:
daß die Verdoppelung der Körnerschicht ungefähr der Vereinheit-
lichung des Gesichtsfeldes phyletisch parallel geht und daß die Aus-
bildung der IVa bis zu einem gewissen Grad ein Test für einen be-
sonders hohen Grad der Vereinheitlichung des gemeinsamen Gesichts-
feldes ist.
Die Frage, ob und wieweit die Einstrahlungsverhältnisse der
zentripetalen optischen Fasern sich mit der Zentrierung der Area
striata gleichsinnig abstufen, scheint uns vorläufig noch nicht spruch-
reif zu sein.
Weder in der Gestaltung der Angriffspunkte, die innerhalb der
Area striata den richtenden Wirkungen aus den Nachbarregionen an-
geboten werden, noch in bezug auf die Anordnung der Faszikel der
einstrahlenden zentripetalen Fasern sind grobe morphologische
Unterschiede zu erwarten zwischen jenem Gebiet der Area striata,
von dem aus die Doppelversorgung am meisten und zwischen dem-
jenigen, von dem aus sie am wenigsten gestört werden kann. So ist
es keineswegs unverständlich, daß nur die klinische Erfahrung bisher
die Lage des doppelseitigen Projektionsfeldes der Makula in einer
gewissen Annäherung ergeben hat. Was bisher darüber ermittelt ist,
bestätigt bekanntlich die ursprüngliche Auffassung von Lenz, nach
der das Projektionsfeld der Makula den polaren Partien der Area
striata entspricht: vielleicht sind auch zwei Faktoren, die polare Lage
und die Beziehung tiefer Partien im Grunde der Furche hier mitein-
ander in einer eigenartigen Weise vereinigt.
Die Frage, warum sich in der Area striata des Menschen die
statischen Wirkungen auf diese Weise polwärts zusammendrängen.'
scheint uns also zunächst einer morphologischen Behandlung entrückt
zu sein. Sie ist aber doch bis zu einem gewissen Grade noch weiter
verfolgbar, wenn man entwicklungsgeschichtliche Parallelen aus der
Ontogenese des Menschen heranzieht.
In der Mitte des 3. fötalen Monats enthält die Rindenschicht der
Hemisphärenblasen bereits vielfach geschichtete Pyramidenzellen,
im basalen Bezirk bis zu einer 15- bis 20fachen Schichtung, weiter
scheitelwärts stufenweise abnehmend (His). „Die Fasermassen der
Hemisphärenwand entstammen in der vorliegenden Stufe ausschlieB-
lich der bereits ausgiebig entwickelten inneren Kapsel; sie sind
sekundär in die Hemisphärenwand hineingewachsen‘“ (His).
Nach His ist die Herkunft dieser ersten einwachsenden Faser-
massen eindeutig erwiesen: Sie gehören dem Stabkranz des
Thalamus an. His selbst erwähnt als Parallele zu diesem Befund
die Mitteilung von Flechsig, daß der Stabkranz des Thalamus
auch die ersten markhaltigen Fasern enthält, sensible Bahnen.
die aus dem Thalamus zum oberen Teil der Zentralwindung empor-
steigen.
Zwischen den Orten, in denen die Ordnung der Rindenelemente
voraneilt und zwischen den Orten, nach denen hin die zentripetalen
Fasern zuerst gelenkt werden, ist also eine Querspannung einge-
schaltet, längs deren sich diese Wirkung offenbar allmählich verstärkt,
abstuft, räumlich und zeitlich ordnet. Wir vergleichen sie mit jener
Querspannung, wie sie — abgeleitet vom Befund Winklers — zwi-
schen der Pulvinar-Rinden- Projektion und deren Angriffspunkten im
Bereich der Area striata eingeschaltet ist und der wir eine maß-
gebende Rolle bei der Spaltung der mesenzephalen optischen Reflexe
durch kortikale richtende Kräfte zugeschrieben haben (vgl. S. 206).
Wir hätten also auch für die ontogenetische Entwicklung der
Retinaprojektion zwei einander gegensinnige Richtungen zu beachten:
Die eine scheint von der Peripherie der kortikalen Retina gegen ihr
Zentrum, die andere aber vom Zentrum der kortikalen Retina gegen
ihre Peripherie zu gehen. So deuten sich auch in der Entwick-
lungsgeschichte jene beiden Komponenten an, nach denen beim
reifen Gehirn die Wechselwirkung zwischen der Area striata und
ihren Nachbargebieten vor sich geht: ein Einfluß polarer Bezirke
— 223 —
der Richtungszentren auf die polaren Gebiete der Area striata. der
mehr der tonisierenden Wirkung des Stellungsapparates zu-
gehört, und ein Einfluß mehr oral-lateraler Gebiete der Richtungs-
zentren auf den oralen Anteil der Area striata, der mehr der Dynamik
der Blickwendungen zu entsprechen scheint.
Aus der Vereinigung der beiden Wirkungen setzt sich offenbar
die Zentrierung der Area striata zusammen, in jener Variabilität, wie
sie physiologisch und an pathologischen Beispielen gegeben ist. Wir
können die Frage, wie diese beiden Komponenten zusammenwirken.
hier nicht weiter verfolgen; wir beschränken uns darauf, noch eine
Analogie zu besprechen, die der physiologische Entwick-
lungsgang zu den hier referierten morphologischen Verhältnissen
enthält.
Arnold Pick hat bei der von ihm beschriebenen apperzeptiven
Blindheit der Senilen hervorgehoben, wie sehr die Störung der
Fixation, die für sie charakteristisch ist, an die ersten Fixationen
der Säuglinge während der Entwicklung des optisch-motorischen
Apparats erinnert: Wie die Säuglinge, so verlieren auch diese Senilen
den Gegenstand rasch aus dem Auge usw. Nach der jetzt fest-
gelegten Benennungsweise (Kestenbaum, Gertz, Cords) wird
man sagen, daß beiden gemeinsam eine Insuffizienz der gleitenden
Führungsbewegungen und der Fixationseinstellung sei; die apperzep-
tiv Blinden, wie das ganz junge Kind. verlieren den bewegten
(regenstand leicht aus der Fixation, zuweilen aber auch den ruhenden.
während es andererseits doch wieder zuweilen die Bewegung ist, die
die Fixation anregt. Man kann also bis zu einem gewissen Grade
sagen. daß der Blickapparat da und dort schon arbeitet, wo der
Stellungsapparat noch nicht mitwirkt oder nicht mehr mitwirkt.
Cords hat denn auch mit Recht darauf hingewiesen, daß die Prü-
fung solcher Fälle auf optischen Nystagmus besonders wichtig ist.
Es liegt selbstverständlich nahe, die von A. Pick hervorgehobene
Analogie zwischen ontogenetischer Entwicklung und zwischen senilem
Abbau auch für die Morphologie der Area striata zu verfolgen. Wir
konnten bisher nur einen geeigneten Fall von seniler Demenz mit
optisch-apperzeptiven Störungen daraufhin untersuchen. Mit der ver-
wendeten Methode (Spielmeyersche Markscheidenfärbung an
Grefrierschnitten durch den polaren Anteil der Regio calcarina) fanden
wir aber — selbstverständlich — nicht etwa bestimmt angeordnete
Lichtungen der einstrahlenden Fasern vom Sehstrahlungstypus; wohl
aber fand sich. daß der Viequed’Azyrsche Streifenan dünnen
Fasergeflechten hochgradig verarmt war. so daß die
— 224 —
parallel und schräg sich in ihm dekomponierenden einstrahlenden
Fasern sich stellenweise beinahe rein darstellen ließen. Wir haben
diesen Apparat mit der kortikalen Querspannung in Verbindung ge-
bracht. von der früher die Rede war; doch sollte diese Beziehung in
einer Wechselwirkung mit den Pyramidenzellen be-
stehen. Die letzteren sind in den Fällen von seniler apperzeptiver
Blindheit selbstverständlich in allen Schichten schwer geschädigt.
So Können wir sagen: Wenn der klinischen und physiologischen
Parallele zwischen Aufbau und Leistung der Area striata auch eine
Parallele zwischen der Histologie des Aufbaus und der Histopatho-
logie des Abbaus entspricht, so besteht. sie darin, daß bei der apper-
zeptiven Blindheit der Senilen jener intrakortikale Apparat der Quer-
spannung zwischen polaren und oralen Teilen der Area striata dis-
kontinuierlich geworden, bei der noch unreifen Area striata aber noch
nicht kontinuierlich entwickelt ist. Allerdings ist die Diskontinuität
dieser Entwieklung morphologisch nur zuweilen und nur in weit
früheren Stadien der Differenzierung nachweisbar, als die physio-
logische Diskontinuität seiner Funktion während des Säuglingsalters.
Überblicken wir also das, was sich aus allen gegenwärtig zur
Verfügung stehenden: Befunden und Vergleichspunkten über die
Zentrierung der Area striata sagen läßt, so ergibt sich, daß sie den-
selben Gesetzen zu gehorchen scheint, wie die Entwicklung der
Lokalzeichen im Sehraum; man kann die Konstanz, wie die Varia-
bilität dieser Lokalzeichenbildung sowie die Störungen dieser physio-
logischen Verhältnisse als verschiedene Seiten eines größeren Ge-
samtvorganges betrachten, der an der Area striata angreift und ihr
die Fähigkeit erteilt, den Hintergrund des Weltbildes zu schaffen und
auf die zentripetalen Erregungen zu wirken wie ein Diaphragma
auf elektrische Wellen. Es handelt sich aber nicht nur um eine Ord-
nung, die von der Sinnesfläche her der Area striata aufgezwungen
wird, und die die innere Welt nach Einwirkungen der Umwelt ordnet.
sondern noch viel mehr um innere Kräfte.die an der Area striata
angreifen und die Umwelt nach den Gesetzen der Innenwelt ordnen.
Die letzteren (Gesetze entsprechen nicht den gegenwärtigen
Wirkungen, sondern einer Resultierenden aus ihnen und aus der ge-
samten phylogenetischen und ontogenetischen Vergangenheit des
Individuums.
Wenn also — wie gegenwärtig in den psychologisch orientierten
Betrachtungen immer wieder betont wird — in jedem Augenblick die
psyehischen Vorgänge in irgendeiner Weise die ganze Vorgeschichte
des Individuums enthalten, so zeigen die hirnpathologischen Störun-
gen der Area striata und ihrer Morphologie dasselbe. Sie zeigen aber
auch, daß sich die Wirkung der inneren und der äußeren Kräfte in
jedem Moment innerhalb dieses begrenzten Raumes zu variablen Ge-
samtwirkungen verteilt, die sich nach Konstanten ordnen. Das Bei-
spiel ist geeignet, zu veranschaulichen, was an psychischen Vor-
gängen lokalisiert werden muß, und dasjenige, was nicht lokalisiert
werden kann. Das erstere enthält Konstanten räumlicher und zeit-
licher Ordnung der zentripetalen Erregungen durch zentrale reflex-
spaltende Kräfte; diese Kräfte lassen aus gerichteten Spannungen,
die das Erfolgsorgan treffen, gerichtete Spannungen der zentralen
Repräsentanten dieses Erfolgsorgans hervorgehen. Das letztere —
das nichtlokalisierbare — betrifft vor allem den Inhalt dessen, was
die Raumgitter des kortikalen optischen Apparats durchströmt und
was in ihnen zurückgehalten wird, wie Reststrahlen in einem Kristall
zurückgehalten werden.
3. Die Quellen der richtenden Zentrenwirkung.
Wir haben die Zusammenhänge besprochen, die sich aus dem
Vergleich der optischen Allästhesie mit anderen verwandten patho-
logischen und physiologischen Erscheinungen ergeben. In allen diesen
Phänomenen waren dieselben richtenden Wirkungen der Zentren zu
finden, überall in der gleichen gesetzmäßigen Weise. Es ergaben sich
Parallelen zwischen dem Aufbau und den Leistungen der zerebralen
optischen Zentren; dieselben richtenden Kräfte, denen die Ent-
wieklungsmechanik des zerebralen optischen Apparats untersteht,
ordnen durch ihr Fortwirken im reifen Organ die zentripetalen Er-
regungen; sie bilden Hauptwege der Erregung und halten die Er-
regung von Nebenwegen fern.
Dieser Verschluß der Nebenwege ist uns (ganz oder zu einem
sroßen Teil) als eine aktive Leistung der gruppierten Zellsysteme
der Zentren erschienen; wir haben ihn — um seine Wesens-
verschiedenheit von der Erregungsleitung zu betonen — als
. Gegenreaktion der Zentren bezeichnet. Wie nahe sich die einzelnen
Erscheinungen dieser Gegenreaktion mit dem Exnerschen Begriff
der Hemmung und Bahnung berühren, ist von uns an einer anderen
Stelle ausführlich besprochen worden'). Die Analogien und Unter-
schiede dieser Gegenreaktion im reifen Gehirn und der richtenden
Wirkungen in der Entwickiungsmechanik hat der eine von uns (P.)
') Agraphie, Berlin, Karger 1926.
— 226 —
gleichfalls an einer anderen Stelle (wenigstens für einige Haupt-
punkte) besprochen’).
Vielleicht sind die Ergebnisse unserer hier wiedergegebenen
Untersuchungen geeignet, die Anschauung über Herkunft und Quellen
dieser richtenden Wirkungen auf die Erregung zu vervollständigen.
Während wir in früheren Arbeiten in erster Linie von den Umwand-
lungen zentrifugaler Erregungen gesprochen haben, die sich
vermöge der Gegenreaktion der Zentren vollziehen, hat der Gegen-
stand der hier dargestellten Untersuchung es mit sich gebracht, daß
in erster Linie von der Rückwirkung der Zentren auf die zentri-
petalen Erregungen die Rede war.
Selbstverständlich ist eine Betrachtung, die sich auf die Um-
gruppierung der zentripetalen Erregungen einengt, ebenso unvoll-
ständig, wie eine Betrachtung, die sich auf die zentrale Speicherung
zentrifugaler Erregungen beschränkt. Die eine muß die andere er-
gänzen; es ist dabei zunächst nicht zu entscheiden, ob einer der
beiden Wirkungen eine primäre Rolle zuzusprechen ist. Wir haben
dies am Vergleich zwischen Entwicklungsstadien und klinischen Ab-
bauphänomenen gesehen: In vielen klinischen Erscheinungen ergab
sich als Ausdruck einer gestörten zentralen Leistung die Ent-
hemmung überschüssiger zentrifugaler Erregungen. In solchen
Beispielen könnte man geneigt sein, die gespeicherten Anteile der
motorischen Erregungen als die wirksamen Kräfte zu betrachten, die
eine geordnete Verarbeitung der zentripetalen (sensiblen und sensori-
schen) Erregungen bewerkstelligen. In der Entwicklungsmechanik
des Großhirns — soweit sie durch gestaltliche Differenzierungen
der Organe sich kundgibt — findet sich ein Voraneilen in der Ent-
wicklung zentripetaler leitender Systeme und eine attraktive Kraft
der in Bildung begriffenen Kortikalen Zellsysteme, die eher auf er-
erbten richtenden Eigenschaften zu beruhen scheint, als auf einer
Absorption bereits vital gegebener zentrifugaler Erregungen.
So ist uns die Umgruppierung der Erregungen durch die Zentren
als ein Vorgang erschienen, der bereits vorhandene Reflexkreise
spaltet; wir sahen, daß die spaltende Wirkung — die wir vor-
läufig als das eigentlich Einheitliche betrachten wollen — sowohl am
zentripetalen Schenkel, wie am zentrifugalen Schenkel solcher Reflex-
kreise angreift und Anteile von Wirkungen, die sonst in diese Kreise
gebannt geblieben wären, nach aufwärts zu dispergiert. Wenn
wir über diese Einheitsvorstellung weiter hinauskommen sollen, so
H) Monatsschrift f. Psyeh. 1926,
— 227 —
müssen wir untersuchen, aus welchen Quellen die reflexspaltende
Wirkung eines sich aufsteigend entwickelnden Zentrums stammt.
Wir wollen daher noch die Frage besprechen, ob die optische All-
ästhesie selbst, besonders aber ihre Analogie mit der sensiblen All-
ästhesie, die sich ergeben hat, etwas von der Entstehungs-
geschichte solcher richtender Wirkungen der Zentren er- -
kennen läßt.
Der Versuch Dusser de Barennes löst eine Allästhesie ge-
setzmäßig aus durch kombinierte Wirkungen einer Halbseitendurch-
schneidung des Rückenmarks und einer Vergiftung der Hinterhorn-
zellen mit Strychnin unterhalb der Durchschneidung und gleichseitig
mit ihr. Die Strychninwirkung eröffnet die Nebenwege der zentri-
petalen Erregungen; sie hebt die reziproke Innervation auf (Meyer
und Gottlieb); so sind die sensiblen Erregungen nun gezwungen.
die nichtvergifteten Hinterhornzellen der anderen Seite im Rücken-
mark zu passieren. Wir haben schon früher (S. 75) darauf hin-
gewiesen, daß die auftretende Alloästhesie nicht nur aus der Ab-
lenkung des Weges dieser Erregungen, sondern vor allem daraus
sich erklärt, daß die strychninvergiftenden Hinterhornzellen ihre
richtende Kraft auf die Erregung verloren haben; sie sind ein Strom-
bett für sie geworden und zugleich eine Quelle, die neue, vordem ge-
speicherte Erregungen entsendet; sie geben aber den passierenden
Erregungen kein Lokalzeichen mehr. So ergibt sich die Vorstellung,
daß die Fähigkeit der Nervenzelle, Erregungen zu speichern, und die
Bildung ihrer richtenden Kräfte zwei verschiedene Seiten desselben
Grundvorganges sind.
Es liegt nahe, den Verlust der richtenden Wirkung mit der auf-
gehobenen reziproken Innervation in Verbindung zu bringen. Wir
glauben aber nicht, daß es fruchtbringend ist, die Erscheinung aus
dem Verlust der reziproken Innervation zu erklären. Die Bildung
und Fortwirkung der reziproken Innervationen erscheint uns eher
gleichfalls als eine der zusammenhängenden und verwandten Er-
scheinungen, die sich aus dem Grundvorgang erklären, dem hier
nachgeforscht werden soll. Jedenfalls ist sie selbst der Erklärung
bedürftig; es existiert z. B. über ihre gestaltlichen Substrate so manche
Hypothese, aber noch nichts Abschließendes.
Die richtenden Hinterhornzellen der rechten Seite des Rücken-
marks erteilen das Lokalzeichen ihrer Seite; es ist die Richtung, von
der her sie gewohnt sind, die Reize zu empfangen, bzw. auf die sie
phylogenetisch und durch Hauptwirkungen während des Lebens ab-
gestimmt sind. Bezeichnet man also die Fähigkeit dieser Zellsysteme,
— 228 —
eine invariante Richtung zu erteilen, als eine spezifische Abstimmung.
so ist sie immerhin einigermaßen charakterisiert und in einen weiten
Bereich biologischer Vorgänge eingereiht, in dem es sich um spezi-
fische Zellwirkungen handelt. Aber über die Art, wie diese Ab-
stimmung erhalten bleibt und verloren gehen kann, sowie über die
Entwicklungsgeschichte dieser Abstimmung ist damit nichts aus-
gesagt, ebensowenig darüber, wie sie sich von den spezifischen
Wirkungen ganz andersartiger Zellsysteme unterscheidet.
Man kann sich vorstellen, daß von einem solchen spezifisch ab-
gestimmten Zellsystem nur solche Erregungen gespeichert werden,
die jener elektiven Richtung entstammen, nach der diese Zellen ab-
stimmen. Jede einzelne Zelle des Systems empfängt aber zentripetale
Erregungen auf den verschiedensten Wegen über Kollateralen und
Anteile dekomponierter hinterer Wurzeln (Cajal). Auch die Meinung
liegt nahe, daß es die Aufnahme und Speicherung abgeblendeter
sensibler Erregungen sei, die in die Struktur der Zelle jene richtende
Kraft entwickelt. Wir glauben nicht, daß diese Vorstellung befriedigen
kann; ein ordnender Vorgang läßt sich schwer aus dem Zusammen-
treffen von (wirklich oder scheinbar) ungeordneten Wirkungen er-
klären. Wir meinen eher, daß die attraktive Wirkung auf alle diese
Erregungsfraktionen und ihre Zurückhaltung innerhalb der Zelle die
Folge des schon bestehenden ordnenden Vorganges sei, nicht aber
dessen Ursache. Aus diesem Grund hat der eine von uns (P.), gestützt
auf einen klinischen Befund'), angenommen, daß eine statische
Wechselwirkung der motorischen Zellen, insbesondere aber der Zellen
des vegetativen Kerns mit den Zellsystemen des Hinterhorns die
eigentliche Erklärung des ordnenden Vorgangs enthalte, der aus
vielen möglichen Richtungen eine besonders heraushebt; auch diese
Wechselwirkung ist bei der ’Strychninvergiftung und hei analogen
Intoxikationen aufgehoben und ersetzt durch eine Enthemmung
zentrifugaler Erregungen, durch den Reflexkrampf.
Dem pathologischen Phänomen des Reflexkrampfes scheint eine
physiologische gegenseitige Bindung efferenter Effekte und über-
schüssiger zentripetaler Erregungseffekte gegenüberzustehen. Sie ent-
hält vielleicht eine Art von Umkehr efferenter Wirkungen, wie am
Beispiel der Beziehung zwischen den hinteren Wurzeln und der In-
nervation der Hautgefäße gezeigt werden kann.
Wenn bei vasomotorischer Übererregbarkeit in dem betreffenden
Dermatom ein Strich auf der Haut Phasen von Vasokonstriktion und
1) Pötzlu. Walko, Ztsehr. f. d. ges. Psych. u. Neur., Bd. 95. S. 319.
Vasodilatation hervorruft, eventuell noch urtikariaähnliche Er-
scheinungen, so entspricht dies einer Reflexwirkung, die vom sen-
siblen Empfangsapparat im Dermatom auf die Gefäßnerven zentri-
fugal übertragen wird und eine Erregungssteigerung derselben er-
kennen läßt. Wir denken für den Ruhetonus der Vasomotoren im
selben Gebiet an eine Umkehr dieser Wirkungen: Aus dem Vasomotoren-
gebiet würde überschüssige Erregung durch die spinalen Zentren ab-
sorbiert und zu jenen Umbildungen ihrer Struktur und ihrer gegen-
seitigen Gruppierung verbraucht, die sie befähigt, die zentripetalen
Erregungen im Sinne der Lage ihres Gebietes eindeutig zu richten.
Statische Beziehungen zwischen den sympathischen und den sen-
siblen Zellen im spinalen Grau würden also zusammenwirken, um in -
den sensiblen Zellen die Polarisation der Erregungen, in den sym-
pathischen Zellen aber eine partielle Speicherung ihrer zentrifugalen
Wirkungen herzustellen und zu erhalten.
Diese Vorstellung führt wieder zu jener Reflexspaltung zurück,
die wir auch bei den zentralen optischen Vorgängen gefunden haben.
Primär gegeben erscheint hier die Gliederung des Körpers in Meta-
meren; sekundär scheint als Abbild dieser Gliederung die rich-
tende Kraft der Hinterhornzellen zu entstehen; wenn es aber in
letzter Linie eine regulierende Wirkung auf das Dermatom ist, ver-
möge deren die richtende Kraft der Hinterhornzellen entsteht, so er-
scheint uns das Ganze wie ein Vorgang, der sich nach zwei Seiten
hin abbildet, einerseits im Dermatom selbst, andererseits in den
Hinterhornzellen.
Gerade für die Richtungsfaktoren der Hinterhornzellen ist eine
morphologische Klarstellung der Wege ihrer Bildung besonders
schwierig. Es handelt sich hier um die viel umstrittene zentrifugale
Erregung, die den Weg durch die hinteren Wurzeln nimmt; wenigstens
gilt dies für die Rolle der vasodilatatorischen Effekte bei der be-
sprochenen Reflexwirkung und deren Umkehr. Man ist versucht, die
Bildung der richtenden Kräfte in den Hinterhornzellen sich durch
ein recht unzulingliches Gleichnis anschaulich zu machen: die Hinter-
D t
hornzellen nehmen Veränderungen im Dermatom wahr und verändern
nach ihnen ihre Struktur. Nicht viel anders ist es, wenn man sagt.
daß die Bildung der richtenden Wirkung in den Zentren auf dem
Wege propriorezeptiver Einflüsse erfolgt.
Die Vorgänge bei der Entwicklungsmechanik der Metameren und
ihrer Innervation enthalten einiges, das hier anzuschließen ist. Ge-
wisse entwicklungsgeschichtliche Vorgänge werden. gegenwärtig viel-
fach auf die ersten Kontraktionszustände der Myotome bezogen.
— 230 —
Bok bezeichnet diese als „tropistische Wachstumsreize‘“, die auf
zentrale Nervenfasern wirken. Es ist dies im wesentlichen eine
Wiederholung der Auffassung von Ramon y Cajal, der ein zeit-
liches Nacheinander von Stadien chemotaktischer Ausscheidungen
annimmt, die die ersten Wachstumsrichtungen der Axonen regulieren.
Ein besonders frühes Stadium der Ausscheidung chemotaktischer
Substanzen betrifft nach Cajal die großen Ependymzellen an der
ventralen Seite des Zentralkanals und provoziert das Wachstum der
Bogenfasern. Fast gleichzeitig veranlaßt ein Stadium chemotaktischer
Tätigkeit der Myotome und des Epithels der Haut den Austritt der
Wurzeln. Das Auswachsen der hinteren Wurzeln nach
der Richtung des Dermatoms wäre es also, das sich späterhin — in
einer morphologisch noch nicht faßbaren Weise — im Richtungs-
faktor des zugeordneten Systems von Hinterhornzellen spiegelt.
Vielleicht existiert im Lauf der Entwicklung ein Stadium, bzw.
eine Aufeinanderfolge von Stadien, in der sich die Spiegelung der
Dermatomrichtung in der Attraktionssphäre der Hinterhornzellen
reiner und übersichtlicher veranschaulicht, als im reifen Organ'). Aber
solche Stadien lassen sich — vorläufig wenigstens — für die Ent-
wicklung der Säugetiere nicht abgrenzen; vor allem muß festgehalten
werden, daß die Struktur der Hinterhornzellen, die diese richtenden
Wirkungen repräsentiert, zum Teil oder auch ganz auf erblich
fixierten inneren Kräften beruht und die Regelung ihrer
Attraktionssphäre bereits eine sekundäre Folge von solchen sein mag.
Das Beispiel der Hinterhornzellen erscheint uns daher vorläufig
nicht als geeignet, die Frage nach der Quelle der richtenden Wirkun-
ven in den Zentren weiterzuführen. Wir wenden uns zur Unter-
suchung der optischen Beispiele, die aus den Zusammenhängen dieser
Arbeit sich ergeben haben.
Die koordinierte Leistung der Area striata und ihrer Nachbar-
sebiete enthielt eine Spaltung von optisch-okulomotorischen Reflex-
kreisen, die durch das Mittelhirn gehen; Teile des zentripetalen, wie
des zentrifugalen Schenkels dieser Reflexkreise werden rindenwärts
abgelenkt und durch einen neuen, komplexen, für variable Wirkungen
disponierten zwischengeschalteten Apparat allmählich geschlossen.
Wir sahen im vorigen Abschnitt. daß auch die Entwicklungsmechanik
von Area striata und Genikulatum Hinweise auf die morphologische
Anordnung enthält, in der sich dieser retlexspaltende Vorgang im
1) Vol. die Verhältnisse bei Amphibienlarven (Rohon-Beardsche
Zellen).
— 231 —
reifen Gehirn vollzieht. In der Besprechung des Falles von Winkler
haben wir dem Thalamus opticus in seiner Korrelation mit der Groß-
hirnrinde einen besonders wichtigen Einfluß zugeschrieben: er bezog
sich auf einen reflexspaltenden Vorgang, der den Schwerpunkt der
zentralen optischen Tätigkeit vom Dach des Mittelhirns weg auf die
Area striata verlegt. Es wird nunmehr zu untersuchen sein, ob nicht
die Entwicklung des Thalamus schon während der Phasen, die der
Differenzierung einer Sehrinde weit vorausgehen, Hinweise auf die
Elemente und Quellen der zentralen richtenden Kräfte enthält, ver-
möge deren die Spaltung der mesenzephalen optischen Reflexe vor
sich geht.
Schon im vorigen Abschnitt erwähnten wir die Entwicklung des
Stabkranzes des Thalamus, wie sie His festgestellt hat. Nach His
sind schon gegen Ende des zweiten und im Beginn des dritten Fötal-
monats „die dem Thalamushirn entstammenden Faserzüge ziemlich
übersichtlich angeordnet“. Im Thalamus haben sich schon zu dieser
Zeit drei Ursprungsgebiete gesondert, deren jedes ein Hauptbündel
entsendet. Von diesen drei Hauptbündeln (der Stria medullaris
thalami, dem Fasciculus retroflexus und dem Stammbündel) gehört
nur das letztere, das Stammbündel des Thalamus un-
mittelbar zu den Zusammenhängen, die wir hier verfolgen.
In der bezeichneten frühen Fötalzeit sammeln sich die Fasern
des Stammbündels, nachdem sie aus ihrem mächtig ausgedehnten
Ursprungsgebiet ausgetreten sind, „zu einem kompakten runden
Bündel, das von hinten und unten her an das Stielgebiet der Hemi-
sphären herantritt. Zu dieser Zeit gibt es noch keine innere Kapsel‘
(His). Wenn die Rindenbildung beginnt, breitet sich das Stamm-
hiindel zu einer flachen, nach vorne vordringenden Platte aus, die von
Zellenscharen durchsetzt und in grobe Bündel zerlegt wird. So bildet
sich die innere Kapsel; sie ist in diesen ersten Phasen ausschließlich
aus dem Stammbündel des Thalamus abzuleiten (His); in dieser Zeit
enthält sie keine anderen Faserzüge als thalamo-fugale; unter ihnen
sind jene gegen die Hemisphäre hin einstrahlenden, von denen im
vorigen Abschnitt die Rede war (S. 222).
Wir haben die Eigenschaft dieser ersten thalamo-kortikalen
Faserzüge (nach His und nach Flechsig) bereits im vorigen Ab-
schnitt hervorgehoben: daß sie sekundär einwachsen in die Hemi-
sphärenwand, aber gerade in ter scheitelwärts liegenden Zone,
in der die Schichtung der Pyramidenzellen nicht so viele Lagen ent-
hält. als im basalen lateralen (peristriären) Anteil des Hirnmantels.
Wie His gezeigt hat, gehen in etwas späteren Stufen thalamo-korti-
— 232 —
kale Faserzüge in die mediane Hemisphärenwand über, „und hier
scheint die Möglichkeit ihres Auslaufens zwischen den Pyramiden-
zellen der Rinde nicht ausgeschlossen“ (His). Entsprechend diesem
Verbreitungsbezirk erfolgt später die Verteilung der ersten mark-
haltigen Fasern (Flechsig): ,,Sensible Bahnen, die aus dem
Thalamus zum oberen Teil der Zentralwindungen emporsteigen und
zum Teil an die mediale Wand übertreten.“ |
His selbst konstatiert eine topographische Übereinstimmung des
von ihm als Stammbündel des Thalamus beschriebenen Systems mit
dem basalen Vorderhirnbündel Edingers. Andererseits
haben P. Ramon, später Rubaschkin und Herrick gezeigt.
daß im Amphibiengehirn (Rana) aus dem dorsalen Thalamus ein auf-
steigendes Bündel entspringt, das an der Außenseitedes Man-
tels aufsteigt und als freie Verzweigung in der ,,pars lateralis. mit-
unter auch in der pars dorgalis pallii“ (Kappers) endet. Die Ein-
strahlung dieses „aufsteigenden Thalamusvorderhirnbündels“ ist
also ganz auffallend ähnlich der Einstrahlung des Stammbiindels des
Thalamus von His; nicht so sehr mit dem basalen Vorderhirnbündel
Edingers, sondern noch mehr mit diesem System scheint uns
jene Homologie zu bestehen, auf die His hingedeutet hat.
Dieses aufsteigende Thalamusvorderhirnbündel bezeichnet
Kappers als „die erste Projektion von tertiär sensiblen Systemen
auf den Hirnmantel‘“; er hebt hervor, daß sie nicht im Anschluß an
das Primordium hippocampi stattfindet, sondern im Anschluß an das
Paläopallium, an die Region, die sich in der aufsteigenden Entwick-
lung des Großhirns als örtliche Vorläuferin des späteren Neo-
palliums erweist.
Wir haben somit eine phylogenetisch und ontogenetisch sehr
alte, in den Wiederholungen der Tierreihe verhältnismäßig konstante
richtende Wirkung vor uns, die das Auswachsen des Stammbündels
des Thalamus beim menschlichen Fötus regiert. Vergleichen wir den
Vorgang mit den Anordnungen im reifen Gehirn, so scheint er uns
der Vorläufer jener Reflexspaltung zu sein, die sich späterhin am
zentripetalen Schenkel der optischen Mittelhirnreflexe (ausgelöst vom
Pulvinar) erst entwickeln wird. Es sind nicht optische
Reflexe, deren zentripetaler Schenkel hier gespalten wird; wohl aber
könnte, man den Vorgang bereits für das fötale Gehirn als eine
‚ Spaltung propriozeptiver Reflexe auffassen, da bekanntlich
Minkowski stellreflexartige Effekte erzielt hat an menschlichen
Föten, die nach Kaiserschnitt überlebten. Aus dem Befund de:
Winklerschen Falles schien uns konform den Anschauungen
— 233 —
Winklers selbst hervorzugehen, daß die reflexspaltende Tätigkeit
eine Einheitswirkung des Thalamus ist und zuerst an den
propriozeptiven Haltungs- und Stellreflexen ansetzt, an den extero-
zeptiven Reflexen (z. B. den optischen) fortschreitet; erst die Spaltung
dieser Reflexe schafft jene Bausteine, die von den Hauptzellen des
Thalamus zu neuen richtenden Effekten verarbeitet und den Frak-
tionen der zentripetalen Erregung als neues Ganzes erteilt werden.
Dieser Hergang scheint sich also in der Entwicklungsmechanik des
menschlichen Großhirns kenntlich auszudrücken.
Es ist keineswegs nachgewiesen, daß Effekte, die Haltungs- und
Stellreflexen gleichen, schon im besprochenen frühen Differenzierungs-
stadium auftreten. Sollte dies noch nicht der Fall sein, so würde sich
zeigen, daß zugleich mit der Entwicklung der propriorezeptiven
Reflexkreise oder schon vor deren leitender Schließung auch die
Tendenz zur Spaltung derselben durch die kortiko-thalamische Kor-
relation vorgebildet und gestaltlich bereits zum Teil entwickelt ist.
In der Entwicklungsphase des Thalamus selbst scheinen sich damit
zwei aufeinander folgende Stadien anzudeuten, die verschiedenen
Stadien der Rindenentwicklung korrelat sind: Das eine fällt vor die
Zeit, in der die attraktiven Wirkungen der Rinde manifest werden;
das zweite beginnt mit der Entwicklung des Hisschen kortiko-petalen
Stammbündels des Thalamus und ihren Begleiterscheinungen.
Für die erste dieser beiden Phasen wird es kaum ohne weiteres
möglich sein, bestimmte Ausdrücke für die Art der Korrelation zwi-
schen Thalamus und der sich entwickelnden Großhirnrinde heraus-
zufinden; für den Beginn der zweiten Phase jedoch läßt sich das er-
kennen, was wir im vorigen Abschnitt beachtet haben: der Umstand,
daß das erste Einstrählungsgebiet der kortikopetalen Thalamusfasern
scheitelwärts liegt und sich bald darauf in die Mediane fortsetzt, fer-
ner, daß dieses Gebiet zur Zeit der ersten Einstrahlung noch weniger
stark geschichtet ist als das basale Gebiet des Hirnmantels, das auf die
Thalamusfaserung eine abstoßende Wirkung zu haben scheint. End-
lich ist zu beachten, daß dieses erste Einstrahlungsgebiet der Tha-
lamusfasern um das zentro-parietale Gebiet des Pallium zentriert zu
sein scheint; dies geht u. a. aus der Parallele mit dem Ort hervor,
an dem nach Flechsig die kortiko-petalen Fasern zuerst mark-
haltig werden, dem medianen Gebiet der beiden Zentralwindungen.
Es läßt sich nun bis zu einem gewissen Grad ablesen, wie die in
Entwicklung begriffene Rinde ihrerseits auf diese erste Einstrahlung
thalamischer Fasern reagiert. Die Entwicklung des Balkens scheint
mit dieser Einstrahlung insofern teilweise korreliert zu sein, als
Herrmann-Pétzl, Optische Allästhesie (Abhdl. H. 47). 16
gerade in der Mediane „am Scheitel der Randlippe“ ein Bezirk ge-
schaffen wird, „längs dessen Markfasern Gelegenheit finden, die freie
Oberfläche der Hemisphärenwand zu erreichen“ (His). In der inne-
ren Markschicht, die bis an den Scheitel der Randlippe vordringt und
an das -Höhlengrau stößt, ist der Raum gegeben, „in dem sich in der
Folge die aus den Pyramidenzellen stammenden Markfasern an-
sammeln, der Limbus medullaris“ (His). Überdies gehören, wie His
mit Bestimmtheit ausspricht, „die ersten auftretenden Balkenfasern
dem Mittelgebiet des Balkenkörpers an“. Endlich stammt die
innere Markschicht der Hemisphärenwand ‚aus den unter dem Höhlen-
grau sich ansammelnden Nervenfortsätzen von Pyramidenzellen. Die
Lagerung dicht an der Ventrikelwand kommt bekanntlich bleibend
der Balkenstrahlung zu; die inneren Markblätter sind aber ihrerseits
aus den zuerst angelangten Fortsätzen von Pyramidenzellen hervor-
gegangen. Es ergibt sich daraus der Schluß, daß die Balken-
strahlung der Hemisphären die erste Produktion
der Rindenpyramidenzellen darstellt‘). Am Ende des
4. Monats ist diese Bildung im wesentlichen vollendet“ (His).
Wir sehen also bemerkenswerte örtliche Koinzidenzen zwischen
dem Einstrahlungsgebiet der ersten thalamo-kortikalen Fasern und
dem ersten Ausstrahlungsgebiet von Balkenfasern. Die zeitliche Ord-
nung der beiden Entwicklungsvorgänge ist, daß die Einstrahlung der
Thalamusfasern vorangeht, die Ausstrahlung der Balkenfasern allmäh-
lich sich vorbereitet und nachfolgt. Wir registrieren hier noch ein-
mal die Tatsache, daß sich die erste Einstrahlungszone der Thalamus-
fasern noch in einem Zustand relativ dünner Schichtung befindet, daß
also das Aufsteigen der zelligen Elemente des Höhlengrau in diesem
Bezirk noch lange nicht vollendet ist zur Zeit, als die erste Kontakt-
wirkung der Thalamusfasern ihn trifft.
Es bestehen zwar darüber keine abschließenden Angaben; doch
ist es wohl höchst wahrscheinlich, daß die oberen Schichten der aus-
gereiften Rinde in ihrer Mehrzahl den zuerst emporgestiegenen Neuro-
blasten des ventrikulären Höhlengrau entsprechen. Einerseits ist
ein Umlagerungsvorgang, der dieser Auffassung widersprechen würde,
im Laufe der Entwicklung der GroBhimrinde bisher von niemandem
beobachtet worden, während für die äußere Körnerschicht der Klein-
hirnrinde Obersteiner bereits mit Bestimmtheit einen solchen
1) Von His selbst hervorgehoben. Was die späte Markreife der Balken-
fasern (Flechsig) betrifft, so sei hier nur daran erinnert. daß auch die Mark-
reife der Commissura anterior sich verspätet!
— 235 —
festgestellt hat. Andererseits ist die Entwicklung der tiefsten Schich-
ten (insbesondere der Schicht VI) noch in sehr späten Stadien der
Entwicklung anscheinend nicht vollendet. Dies läßt sich daraus an-
nehmen, daß die Zahl der in Vertikalreihen angeordneten, augen-
scheinlich der Hirnrinde zuströmenden Neuroblasten bzw. Ganglien-
zellen in den äußeren Lagen des Eigenmarks einer Windung noch im
Säuglingsgelirn viel zahlreicher ist, als in den späteren Stadien der
Endreife. Es ist wohl das wahrscheinlichste, daß diese Zellen durch
Apposition sich an die streifenförmigen Längsgruppierungen der Area
fusiformis angliedern, daß diese also ein spätreifer Bezirk innerhalb
eines Rindenterritoriums ist.
Augenscheinlich stimmt dies im Zeitmaß damit überein, daß die
kortiko-fugalen Fasern, die in den Thalamus und die ihm nebengeord-
neten Genikulata gehen, verhältnismäßig spät, nach der Markreife
der zentripetalen Zwischenhirnfaserung markreif werden (Flechsig).
Ein bekanntes Beispiel dafür, das im Rahmen der hier gegebenen
Zusammenhänge das wichtigste ist, bildet die späte Markreife der
optisch-motorischen Bahnen Flechsigs, die relativ lange nach der
ersten Markreife der Sehstrahlung einsetzt. Wenn daher gegenwärtig
allgemein behauptet wird, daß (entsprechend den Nachweisen, die
Franz Nissl gegeben hat) die Axonen der Zellen der tiefen Schichten
die einzigen seien, die zentrifugale Projektionsfasern abgeben, so:
scheint uns dies eine Spätwirkung in sich zu enthalten, die erst in
den Stadien, die die Rinde der Reife nähern, sich vollendet; es scheint
uns auch, daß diese Behauptung vielleicht mit Bestimmtheit für die
kortiko-thalamischen Fasern und die ihnen verwandten Systeme auf-
recht erhalten werden kann, daß sie aber für die Kommissurenfasern
und für die Assoziationsbündel des menschlichen Großhirns erst voll
bewiesen werden müßte. Für die Assoziationsbündel liegt hier die An-
gabe Cajals vor’), daß die Axonen der großen Pyramidenzellen der
III. Schicht in die weiße Substanz eingehen; den Ursprung der Balken-
fasern hat Cajal offen gelassen.
Betrachten wir die besprochenen Beziehungen zwischen der ersten
Einstrahlung thalamischer Fasern in der unentwickelten Rinde und
dem folgenden Auswachsen von Axonen der Pyramidenzellen, ziehen
wir heran, daß nach His die Balkenstrahlung jedenfalls eine der
ersten Formationen enthält, die durch ein frühes Auswachsen der
Axonen mancher Pyramidenzellen entstanden ist: Dann ergibt sich die
') Die wir aus einigen günstigen Bildern an Silberpräparaten selbst
bestätigen können.
16*
Auffassung, daß es obere Schichten der Rinde sind, die die erste
erkennbare Reaktion eines Auswachsens der Axonen einleiten und
daß eine der ersten kenntlich erteilten Richtungen dieses Auswachsens
diekommissurale Richtung ist.
Wir Können also sagen: In der Entwicklungsmechanik der Kor-
relation zwischen Thalamus und Großhirn, wie sie die Differenzierung
am Menschen erkennen läßt, ist die Spaltung propriorezeptiver (später
exterorezeptiver) Reflexe in einer kenntlichen Weise gestaltlich an-
gedeutet; sie erscheint wie ein ontogenetischer Parallelvorgang zu
jener Spaltung mesenzephaler Reflexe, die sich aus dem Vergleich
unserer Befunde mit dem Fall Winklers als eine Hauptleistung des
Thalamus opticus ergeben hat; im frühen Stadium der Entwicklung
bildet sie sich ab als ein Vorgang, der am zentripetalen Schenkel
dieser Reflexkreise anzugreifen scheint, insofern als es zentripetale.
thalamo-kortikale Erregungswege sind, deren Ablenkung nach der
Rinde hin schon gestaltlich vollendet ist.
Als Quellen des abspaltenden Vorgangs in diesem Stadium er-
scheint einerseits eine attraktive Wirkung, die mit dem sich ent-
wickelnden Thalamus selbst in Verbindung zu bringen: ist; diese kann
vorläufig nicht weiter verfolgt werden; wir können sie mit jener Eigen-
abstimmung vergleichen, die auch die Area striata selbst besitzt als
Ausdruck einer phylogenetischen Dauerwirkung der Abstimmungen.
die über die Nachbargebiete hinweg auf sie ausgeübt worden sind. So
erscheint sie uns ganz oder zu einem großen Teile alsererbt. durch
innere Kräfte der Entwicklung bedingt, deren "Träger die Zellsysteme
des Thalamus selber sind. Daß sie in letzter Linie doch von der Be-
einflussung des Thalamus seitens der Großhirnrinde stammt und deren
phylogenetischer Dauerwirkung irgendwie entspricht, halten wir für
wahrscheinlich angesichts der starken trophischen Wirkungen. die die
Großhirnrinde regionär auf entsprechende Teile des Thalamus im
reifen Gehirn ausübt. Man Kann diese autochthone richtende Kompo-
nente der Thalamuszellen ais phylogenetiseche Parallele betrachten zu
der trophischen Einwirkung der Rinde während des Lebens, als
Integralwirkung derselben: die trophische Wirkung innerhalb
des Einzellebens entspricht vielleicht zugehörigen differentialen
Wirkungen.
Andererseits aber greift in einem folgenden Stadium eine attrak-
tive Kraft der Rinde in die Spaltung der tieferen Reflexkreise ein. die
sich lokalisatorisch besser interpretieren läßt, als die autochthonen
richtenden Wirkungen der Thalamuszellen: Innerhalb der reifenden
Rinde scheinen es äußere Schichten zu sein. die den Brennpunkt
— 237 —
‘dieser attraktiven Kräfte bilden und die erste Einstrahlungszone an
sich heranziehen. Wir bringen dies in Parallele mit der richtenden
Kraft, die nach unseren Ergebnissen an der optischen Allästhesie die
parieto-okzipitalen richtenden Zentren auf die Area striata im Wege
der Assoziations- und Balkenfasern ausüben; auch diese erschienen uns
von den Wirkungen äußerer Schichten als abhängig; diese richtende
Rolle zeigte sich in einer Attrakfion zentripetaler Systeme des Pul-
vinar, außerdem aber in einer Querwirkung, die sich auf die Areae
striatae beider Hemisphären erstreckte; ihre räumliche Verteilung
im Gesamtorgan ist also der räumlichen Verteilung von Aktion und
Reaktion zwischen Rinde und Thalamus in den ersten Phasen ihrer
gestaltlichen Kodifizierung vollkommen analog.
Innerhalb des Gesamtbereichs des sich entwickelnden Hirnmantels
fällt die Zone der ersten gestaltlich erkennbaren Entwicklungsphase
der Korrelation Thalamus-Rinde in den medianen Bereich nahe der
Mantelkante; die weitere Entwicklung scheint: sich, ungefähr parallel
mit der Entwicklungsrichtung der Balkenfaserung in den folgenden
Stadien, sowohl nach frontalwärts wie nach okzipitalwärts vor-
zuschieben. Für uns kommt vor allem der letztere Weg in Betracht; er
deutet an, daß sich in viel späterer Zeit hier ein Anschluß jenes
Mechanismus vollzieht, der die Entwicklung der Korrelation Pulvinar-
Okzipitalrinde enthält. Die Auswirkungen dieser Korrelation am reifen
Gehirn haben sich im Falle Winklers gezeigt; vielleicht noch,
bevor sie sich entwickelt, stellt sich jene erste Phase der Attraktion
von Sehstrahlungen aus den fronto-medialen Partien des Genikulatum
durch die oralen Kalkarina-Gebiete ein, deren Bild als Voraneilen
der Markreife der Befund von Hösel enthält.
Somit ist jene ordnende Komponente, die die Attraktion der Seh-
strahlung durch die Regio calcarina von oralwärts nach okzipital-
wärts dirigiert (S. 222), eine Fortsetzung des Vorgangs, der durch die
Reaktionen der Rinde auf die Einstrahlungen der Thalamusfasern aus-
gelöst worden ist; sie läßt sich mit dieser Phase einheitlich zusammen-
fassen, wenn auch das Ganze in den gestaltlichen Bildern der Ent-
wieklungsphasen kein kontinuierliches, sondern ein sprunghaftes Fort-
schreiten zeigt. Die große Rolle der Balkenbahnen im Splenium, die
sich bei der Untersuchung der Parallelvorgänge im reifen Gehirn ge-
zeigt hat, stimmt mit der einheitlichen Auffassung überein. Selbst-
verständlich entspricht das Nacheinander von Entwicklungsphasen
des Balkens, seines Spleniums, der Sehstrahlung und der optisch-
motorischen Strahlung nicht getreu ihrem Zusammenwirken im reifen
Gehirn: es zeigen sich hier komplizierte Verhältnisse, die noch eines
238 —
besonderen Studiums und einer Sichtung bedürfen. Aber die Verwandt-
schaft des physiologischen Grundvorganges mit der ersten Reaktion
der Rinde auf die thalamische Faserung erscheint genügend deutlich.
Wir müssen diese erste Reaktion der Kommissurenbildung ‚noch
genauer auf ihre besonderen Eigenschaften hin untersuchen.
Die erste Einstrahlung der Thalamusfasern erfolgt in beiden
Hemisphären scheitelwärts und medianwärts in einer annähernd sym-
metrischen Weise. Relativ bald darauf ordnen sich in einem nahen
Bezirk der Mediane Axonen von Pyramidenzellen zur Balkenbildung.
Man kann sich vorstellen, daß dadurch im bezeichneten symmetrischen
Gebiet nahe der Mittellinie eine Reihe vonkorrespondierenden
Punkten in Bildung begriffen ist. die in ihrer Anordnung an die
korrespondierenden Punkte des Gesichtsfeldes erinnern Je ein
Paar dieser korrespondierenden Punkte erscheint ungefähr bestimmt
durch spiegelbildlich symmetrische Gruppierungen von Pyramiden-
zellen: einzelne Teilgruppen derselben sind wohl noch im Neuroblasten-
stadium, andere zugehörige aber sind soweit entwickelt, daß sie
bereits ihre Axonen in den Balken entsenden. Man wird sich
fragen, welches Endziel diese besondere Anordnung verfolgt, die der
Anordnung des Bogenfasersystems (His) in der Medulla
spinalis auffallend ähnlich ist.
Wir finden hier eine Parallele in den hirnpathologischen Be-
funden, die der eine von uns über die Störungen einer Eigenleistung
der interparietalen Region, bzw. der Wechselwirkung
zwischen den Systemen des oberen und des unteren Scheitellappens
gewonnen hat und die seither wiederholt von anderen Seiten be-
stätiet worden sind (v. Hoeßlin, Zingerle, Pineas). Aus-
eedehnte Läsionen der interparietalen Gegend in der rechten
Hemisphäre oder Kombination einer enger begrenzten
Herdläsion der Interparietalgegend mit Herden im
Thalamus bewirken eine Aufhebung der Selbstwahrnehmung
einer vorhandenen (linksseitigen) Hemiplegie und einen Zerfall der
Einheit des Kérperbildes in zwei Hälften: außerdem stehen die Läsio-
nen der linken Interparietalgegend mit eigentiimlichen Abarten von
Apraxie in gesetzmäßiger Beziehung, in denen sich Interferenz-
erscheinungen zwischen den Bewegungen des Armes und des Beines
kundgeben. Wir gehen hier nur auf den ersteren Befund ein: er hat.
uns gezeigt, daß das einheitliche Körperbild ebenso in zwei Hälften
zerspalten werden kann, wie (bei bilateralen Läsionen der okzipitalen
Mediane) der Außenraum (und wie selbstverständlich bei den
Läsionen der zerebralen optischen Sphäre das Gesichtsfeld). Wenn
— 239 —
wir daher fragen, welche Eigenleistung dem bezeichneten Median-
gebiet der Hemisphiiren im reifen Gehirn zukommt, so erscheint
uns diese als eine Vereinheitlichung des Körperbildes.
An den zitierten klinisch-anatomischen Befunden ist gezeist
worden, daß analoge Wirkungsweisen auch der frontalen Fort-
setzung dieses Mediangebiets zukommen’); wir dürfen daher die
ganze Mediane, in deren zentralstem Gebiet sich die erste thalamo-
kortikale Korrelation und die erste Balkenbildung abspielt, in der
angedeuteten Weise als einheitlich wirksam auffassen. So erscheint
sie uns entwicklungsgeschichtlich als eine Matrix, von der aus sich
später jene Phasen differenzieren, die in der Tätigkeit der mittleren
und operkularen Teile der Konvexität (z. B. der Zentralwindungen)
nachher ersichtlich werden. Der mittlere Teil der Mediane erscheint
uns also gewissermaßen als Stammgebiet der Projektion von
Anteilen des Körpers auf die Zentralwindungen'’).
Aus der Phylogenese des Großhirns ergibt sich, daß jene scheitel-
wärts und median orientierte Partie des Großhirnmantels bei den
balkenlosen Gehirnen der Beuteltiere eine hohe Ausbildung und Reife
zeigt, dabei auch trotz der engen Nachbarschaft von der Ammons-
rinde (dem Archipallium) streng strukturell gesondert ist, ferner, daß
selbst im Bauplan hochdifferenzierter, aber nach ganz anderen Rich-
tungen hin entwickelter Gehirne von Wirbeltieren gerade der Median-
bereich allein mit dem Kortex homologisiert werden kann; das
letztere trifft nach Kalischer für das Gehirn der Papageien zu:
der mediane Bereich der Hemisphäre, der sog. Wulst ist nach
Kalischer dereinzige Bereich desselben, der nicht striatär. sondern
kortikal zu homologisieren ist.
Die mediane Region des Großhirns, die Trägerin der ersten
Korrelation zwischen Thalamus und Rinde und der Anfänge der
Balkenbildung, ist also nicht nur in der ontogenetischen, sondern
auch in der phylogenetischen Entwicklung auffallend konstant und
einheitlich; ihre Eigenschaften sind nicht restlos an den Sonderfall
geknüpft, den (bei den höheren Säugetieren und beim Menschen) die
Balkenbildung enthält. Für die Rolle, die diese Region beim
Menschen spielt, hat die Untersuchung der früher zitierten Fälle ge-
1) Vgl. unsere Arbeit „Agraphie“, S. 188f. und die dort besprochenen
Auffassungen von R. A. Pfeifer!
7) Darauf, daß sich deren Anordnung (das sog. „Hirnmännchen“) von
diesem Gesichtspunkte aus verstehen läßt, kann hier nur kurz hingewiesen
werden.
— 240 —
zeigt, daß die Einordnung der einzelnen Punkte des Körperbildes in
ein Schema (postural model Heads) nach Art der Bildung eines
räumlichen Koordinatensystems vor sich geht, dessen
Sagittalebene die Körpermediane ist. Eine Analogie zu diesen patho-
logischen Befunden ist aus der physiologischen Psychologie zu ge-
winnen; sie findet sich in den ausgedehnten und subtilen Unter-
suchungen G. E. Müllers an normalen Versuchspersonen; diese
Untersuchungen zeigen, daß das Körperkoordinatensystem eines der
Koordinatensysteme ist, in das sich psychische Reproduktionen
unter geeigneten Umständen einordnen.
Bei der taktilen Allästhesie ist Rechts und Links in bezug auf
diese Sagittalebene. die Mediane des Körpers vertauscht; die Ein-
heitlichkeit und Konstanz der Medianebene selbst ist aber (innerhalb
der physiologischen Fehlergrenzen, vgl. dazu A. Tschermak-
Seysenegg und seine Mitarbeiter) gewahrt. Bei der Nichtwahr-
nehmung der linksseitigen Hemiplegie ist die Bildung der Mediane
selbst gestört; es ist eine Zerspaltung des Körperbildes eingetreten,
dessen eine Hälfte sich für das Bewußtsein reintegriert, dessen
andere Hälfte — zumal in den Delirien — zu einer halluzinierten
fremden Gestalt werden kann. So können wir sagen, daß die Integri-
tät einer bilateralen Zusammenarbeit der Mediane der Großhirn-
hemisphären die Medianebene des Körpers in ihrer Eigenschaft. als
konstante Bezugsebene aufrecht erhält; daraus ergibt sich die Auf-
fassung, daß die ersten fötalen Entwicklungsvorgiinge in dieser
Gegend eine Grundlegung des Bezugssystems der Körpermediane
enthalten, in gewisser Beziehung also gleichsam die Körper-
medianeals Koordinaten-Ebene schaffen.
Diese Auffassung wird noch dadurch unterstützt, daß es eine
Störung der Thalamuskorrelation kombiniert mit einer interparietalen
Störung war, an der die Destruktion der Körpermediane als Bezugs-
system am deutlichsten nachgewiesen werden Konnte, während der
.fütale Vorgang, der als eine Art von Abbildung der Körpermediane
erscheint, die ersten gestaltlichen Anfänge der Korrelation-Thalamus-
sroßhirnrinde in sich enthält. :
Wenn wir hier sagen, daß die Tätigkeit der GroBhirnmediane die
Medianebene des Körpers abbilde, so ist damit nichts anderes ge-
meint als die Verarbeitung einer Gesamtheit zentripetaler Eindrücke
in einer Weise, daß die Medianebene für jeden Eindruck Bezugsebene
ist und daß sich die Eindrücke rechts und links von ihr ordnen.
So leitet die Medianebene eine Gliederung des Hintergrundes
des Tastraums ein, dessen weitere Differenzierung von diesem
— 2414 —
Kernpunkt ausgeht, aber selbstverständlich nicht in ihm allein
gegeben ist.
Wir haben bei der Besprechung der zerebralen Störungen des
optischen Raumsinns gesehen, daß die Reflexspaltung, die zur Lokal-
zeichenbildung im Sehraum führt, aus den Hauptrichtungen der
Blickbewegungen Bausteine schaflt für das Bezugssystem des
Außenraums. Dessen Symmetrieebene ist die in den Außenraum
verlängerte Medianebene des Körpers; sie ist. zugleich die Symmetrie-
ebene des Gesichtsfeldes des Doppelauges. So zeigt sich funktionell
derselbe Zusammenhang zwischen der Bildung des Sehraums und der
Bildung des Bezugssystems des eigenen Körpers, wie wir ihn für die
Fortsetzung des hier besprochenen Entwicklungsstadiums an-
genommen haben; über spätere Phasen hinweg kommt es zur
Orientierung der zerebral-optischen Systeme im Sinne der Doppel-
versorgung und der Bildung des binokularen Gesichtfeldes.
Eine Phase, die das Bezugssystem des eigenen Körpers be-
gründet, scheint also in der Entwicklung des menschlichen Gehirns
einem späteren Komplex von Phasen voranzueilen, die das Koordi-
natensystem des Außenraums aus dem Koordinatensystem des
eigenen Körpers differenzieren. Jedem dieser beiden Stadien ist eine
besondere, unter Umständen (fast) elektive Orientierungsstörung zu-
geordnet, deren hirnpathologische Bilder bekannt sind: Den ersten
Stadien kann man die Störung der Orientierung am eigenen Körper
(die Autotopagnosie Arnold Picks) zuordnen; wir haben an eigenen
Fällen gezeigt, daß es tatsächlich mehr die oromedialen Partien der
Scheitellappen sind, von denen aus eine Herderkrankung stärkere
Störungen der Orientierung am eigenen Körper auslösen kann,
während die Störung der Orientierung im Außenraum wenig gelitten
hat. Den letztgenannten späteren Stadien entspricht die Störung des
Tiefensehens und der Orientierung im Außenraum, wie sie maximal
bei doppelseitigen Angularisherden auftritt, sowie auch die
Unsicherheit zwischen Rechts und Links im Außenraum, wie sie der
eine von uns (P.), sowie Bonhöffer schon bei einseitigen (links-
hirnigen) Angularisherden fanden. Es ist außerdem bemerkenswert,
daß bei den „Störungen der Orientierung am eigenen Körper“ Fehler
vorkommen, in denen der Kranke, statt z. B. auf sein rechtes Ohr
zu greifen, nach rechts oder nach links inden Außenraum greift.
Bei solchen Fehlern wird also gleichsam Außenraum und Körper-
sphäre miteinander vertauscht; diese Vertauschbarkeit deutet auf
jene gemeinsame Matrix hin, die der hier besprochene Entwicklungs-
gang veranschaulicht hat; physiologisch bzw. psychologiseh ist ihr
`~
vielleicht die Raumwelt des Säuglings zuzuordnen, von der allgemein
behauptet wird, daß die Grenzen zwischen Körperwelt und Außen-
raum, zwischen Umwelt und Innenwelt noch keine festgezogenen
seien; vielleicht gehören auch manche Störungen der scharfen Be-
grenzung beider Bereiche hierher, wie sie bei der wahnbildenden
Schizophrenie vorkommen.
Wir sehen also, daß die Spaltung propriorezeptiver (vorgebildeter
oder erst im Entstehen begriffener) Reflexkreise, die am rezeptori-
schen Schenkel dieser Reflexkreise einsetzt. durch Eigenwirkungen
des Thalanıus eingeleitet, durch eine Reaktion der sich entwickeln-
den Rinde fortgesetzt wird, die zur Kommissurenbildung
führt. Wir können diese Kommissurenbildung als die erste Grund-
legung der Körpermediane als eines späteren Bezugssystems für
rechts und links betrachten; wir kommen damit auf dieselbe An-
schauung zurück, die sich uns am Vergleich der spinalen Allästhesie
und der optischen Allästhesie ergeben hatte: Auf die wesentliche Be-
deutung kommissuraler Systeme für die Aufrechterhaltung des
Koordinatensystems der Lokalzeichenbildung. Sie scheint
von den allerfrühesten gestaltlich faßbaren Stadien der Entwicklungs-
mechanik bis zu der Störung von Leistungen des vollentwickelten
Organs durch Herderkrankung in einer konstanten Weise immer
wieder ersichtlich zu werden.
Wenn man will, kann man die hier betrachteten Entwicklungs-
phasen in ihrer Zweiteilung als eine frühere Phase der Grund-
legung des propriorezeptiven Bezugssystems und als
eine spätere Phase der Grundlegung des extero-rezep-
tiven Bezugssystems bezeichnen. Das letztere entwickelt sich
aus dem ersteren, sobald die Sehstrahlung in die Kalkarina-
region einzustrahlen beginnt, wie die erstere Phase beginnt, wenn die
Thalamusstrahlung in die obere Scheitelrerion des fötalen Hirn-
mantels eingestrahlt ist.
4. Das erweiterte System der Bogenfaserzellen.
Die Pathologie der Lokalzeichenbildung im Sehraum enthält den
Nachweis einer besonderen richtenden Wirkung des kommissuralen
Apparats, der beide Okzipitallappen vereinigt. Der Vergleich der
optischen Allästhesie mit der spinalen Allästhesie im Versuch von
Dusser de Barenne hat dazu eine Analogie ergeben, weil auch
für die richtende Wirkung der Hinterhornzellen auf die sensible Er-
regung die besondere Wichtigkeit eines kommissuralen
Apparats in der Medulla spinalis wahrscheinlich ist. Im vorigen Ab-
— 243 —
schnitt versuchten wir zu zeigen, daß die erste Einstrahlung der
Thalamus-Fasern in scheitelwärts gelegenen Bezirken des Hirn-
mantels als Gegenreaktion die erste Bildung eines kommissuralen
Apparats auslöst, dessen weitere Ausgestaltung mit der Lokalzeichen-
bildung im Sehraum zusammenhängt; wir sahen darin eine ent-
wicklungsmechanische Parallele zu den Störungen der Lokalzeichen-
bildung infolge von Herderkrankung.
Es liegt uns deshalb nahe, hier noch einmal die Besprechung der
entwicklungsmechanischen Vorgänge aufzunehmen, die als Grund-
lage der richtenden Kraft der Hinterhornzellen in der reifen Medulla
spinalis betrachtet werden können. Im vorigen Abschnitt mußten wir
deren Besprechung abbrechen, da sich noch kein Hinweis darauf er-
geben hatte, welche Stadien der Entwicklung hier herangezogen
werden sollen.
Die Gliederung des Embryo im Metameren erschien als primär
gegeben‘). Im Sinne der Anschauungen Cajals kann das Stadium
chemotaktischer Tätigkeit des Epithels, das den Austritt der hinteren
Wurzelie veranlaßt, als erster, der Beobachtung zugänglicher Faktor
gelten, an dem die eindeutige Richtung nach dem Dermatom hin sich
gestaltlich ausdrückt, dieselbe Richtung, die sich in+ der späteren
Eigenleistung jener Hinterhornzellen spiegelt. Ungefähr gleichzeitig,
nur vielleicht etwas früher, fällt das Stadium der chemotaktischen
Wirkung der Myotome (His, Cajal), das den gerichteten Austritt
der vorderen Wurzeln veranlaßt. Zu derselben Zeit. ist bekanntlich
ein spinales System bereits entwickelt, dessen Axonen im Rückenmark
verbleiben, de Formatio arcuata (His), die Bogenzellen und
deren Axone, die Bogenfasern. Man wird an eine Beziehung dieses
Systems zu der richtenden Kraft denken dürfen, die die hinteren
Wurzeln gegen das Dermatom, die vorderen Wurzeln gegen das
Myotom hin austreten läßt.
Die Formatio arcuata ist zur Zeit des ersten Austritts der Wurzeln
„eine dünne, nur wenige Zellen breite Schicht, die, nach einwärts vom
zellenfreien Randschleier liegend, das Rückenmark umgreift“ (His).
Da die Bogenschicht „vorzugsweise den Neuroblasten der dorsalen
Markhälfte entstammt“ (His), ist ihre Verwandtschaft mit Zellen ge-
geben, die in der reifen Medulla spinalis im Hinterhorn liegen.
Schon dadurch ergibt sich die Möglichkeit, die etwaigen Beziehungen
der Bogenschicht zu der Chemotaxis zwischen Dermatom und hinteren
1) Vgl. dazu N. T. Bok, Gemeinsamer Bauplan usw., Ztschr. f. d.
ges. Neur. u. Psych. 100, N. 678.
— 244 —
Wurzeln mit der richtenden Kraft der Hinterhornzellen im Versuch
Dusser de Barennes zu vergleichen. Nach Cajal (Unter-
suchungen am Embryo des Huhnes) entwickelt sich die weiBe Sub-
stanz schon ein wenig früher, als sich der Austritt der vorderen
Wurzeln vollzieht. Fast in derselben Zeit erfolgt das Einwachsen der
hinteren Wurzeln (in das ovale Bündel von His, den Beginn der sich
entwickelnden Hinterstränge). Die Bogenfaserzellen sind also mit dem
ersten Auftreten der richtenden Wirkungen zwischen Wurzeln und
Metameren zeitlich eng korreliert.
Die Axonen der Bogenzellen bilden alsbald nach dieser frühesten
Entwicklungszeit die vordere Kommissur. Es sind also auch
hier — wie es für den Versuch Dusserde Barennes anzunehmen
war — kommissurale Wirkungen, die sich relativ am engsten mit
dem Auftreten der richtenden Kräfte zwischen Metameren und
Wurzeln Korrelieren; wie die kommissurale Wirkung bei der spinalen
und bei der optischen Allästhesie im reifen zentralen Nervensystem
eine Hauptrolle zu spielen schien, so ergibt sich übereinstimmend
ein Hinweis auf die zeitliche Korrelation der Entwicklung kommissu-
raler Systeme sowohl zu dem zerebralen Vorgang, der als erste Grund-
lage einer Bildung. des Körperkoordinatensystems erschienen ist, als
auch zu dem — ihm relativ weit voraneilenden — ersten spinalen
Entwicklungsvorgang, dem man eine analoge Deutung geben kann.
Es finden sich noch weitere Anhaltspunkte, die für die Gültigkeit
der aufgestellten Parallele sprechen. Nach Cajal ist (beim Hühn-
chen) der zellige Teil der Hisschen Formatio arcuata derart grup-
piert, daß er von der dorsalen Zone (medial vom Hisschen ovalen
Bündel) in einem bogenförmigen Bereich, dessen Konturen zum Teil
die Axonen ziehen, ventralwärts bis in die Gegend der motorischen
Wurzelzellen reicht. Die am weitesten dorsal gelegenen Zellen sind
dabei die unentwickeltsten; sie sind (am 4. Tag der Bebrütung beim
Hühnchen) noeh im Neuroblastenstadium, während die tiefer herunter
getretenen Zellen bereits Axone entsenden, die sich in der vorderen
Kommissur kreuzen. Auch in der reifen Medulla spinalis des Menschen
bilden die Kommissurenzellen ein System, dessen einzelne Exemplare
in der ganzen Ausbreitung der grauen Substanz vorkommen, „viel-
leicht mit Ausnahme der Clarkeschen Säule und der Rolando-
schen Substanz“ (Cajal), die spärlichen Zellen der hinteren Kom-
missur entsprechen ungefähr den Orten, aus denen die Zellen der
Formatio areuata während der Embryonalzeit ventralwärts treten; es
ist deshalb erlaubt, in der Bogenschieht den Anfang und die Grund-
lage eines Vorgangs zu sehen, dessen Endstadium die Verteilung
— 245 —
aller kommissuraler Zellen über Querschnitt und Höhen der reifen
Medulla spinalis ist. Dieses Anfangsstadium und dieses Endstadium
würden sich dann ähnlich zueinander verhalten, wie der Anfang
einer Balkenbildung als Reaktion auf die erste Einstrahlung thala-
mischer Fasern in die Rinde zu der fertigen Entwicklung der Balken-
kommissur beim erwachsenen Menschen.
Nach dieser Auffassung wären die im Hinterhorn gleichsam ver-
bliebenen Kommissurenzellen, insbesondere vielleicht die Zellen
der hinteren Kommissur, Nachzügler jener dorsalen Elemente der
Hisschen Bogenformation, die noch im Neuroblastenstadium sind,
wenn die ventraleren bereits ihre Axonen entsenden. In der reifen
Medulla spinalis des Säugetiers — also im Versuch Dusser de
Barennes — wären es deshalb am ehesten diese Kommissuren-
zellen des Hinterhorns, die mit einer späteren Ergänzung und
Vervollkommnung des kommissurenbildenden Apparates im Rücken-
mark in Zusammenhang zu bringen sind; man kann ihnen gleichsam
jugendlichere Typen der Zelltätigkeit zuschreiben. ‘Im Versuch
Dusser de Barennes bleibt es unbestimmt, welchen Hinter-
hornzellen die richtende Kraft auf die zentripetale Erregung inne-
wohnt. Die Möglichkeit, daß es sich dabei zum Teil um Kommissuren-
zellen handelt, liegt deshalb nahe (vgl. S. 73), weil die Variationen
der Allästhesie ziemlich genau mit den Variationen bei einer Blockie-
rung der gekreuzten Leitung von Schmerz-. und Temperaturempfin-
dungen im Seitenstrang zusammenfallen, innerhalb deren die
Neuronen der Kommissurenzellen wahrscheinlich ein Glied der wirk-
samen Kette bilden. Das gewöhnliche physiologische — morpholo-
gisch unzulängliche — Schema läßt die „Schmerz- und Temperatur-
bahnen“ in der vorderen Kommissur kreuzen und berechnet den Be-
zirk, in dem sich diese Kreuzung vollendet, auf die Höhe von un-
gefähr drei Segmenten.
Aus dem Vergleich dieser Verhältnisse und der reifen Medulla
spinalis (des Kaninchens und der Katze) mit den ersten Entwicklungs-
vorgängen der Formatio arcuata geht also die Auffassung hervor,
daß die Kommissurenzellen, die sich am spätesten entwickeln, die
richtende Kraft des Apparats für die zentripetale Erregung fort-
entwickeln und aufrecht erhalten, während die ventraleren Kom-
missurenzellen ihr die Grundlage gegeben haben; der Gesamtapparat
der Kommissurenzellen wäre jenes System in der Medulla spinalis,
in dem sich die peripneren Lokalzeichen der Dermatome zuerst
homolateral abbilden.
— 246 —
Im Sinne dieser Anschauung wollen wir die Gesamtheit der
Kommissurenzellen im reifen Rückenmark bezeichnen als Erweiterung
der Hisschen Formatio arcuata, als das erweiterte System
der Bogenfaserzellen. Wir heben hervor, daß die Vergleich-
barkeit der beiden Systeme bisher nur in der Gruppierung der Zellen
und in der Gleichartigkeit der Richtung ihrer Axone gegeben ist.
während die Art der Endigungen dieser Axonen von uns noch
nicht betrachtet worden ist. Dasselbe war bei der Betrachtung der
ersten Balkenentwicklung und ihrer späteren Vervollständigung der
Fall; die bilaterale Symmetrie dieses Kommissurenapparats schien
uns zwar gestaltlich weitgehend realisiert in bezug auf die Lagerung
der Rindenregionen, aus denen die Kommissurenfasern aus-
strahlen, nicht aber in bezug auf die Gebiete, in die sie ein-
strahlen. Wir können aus den bisher hervorgehobenen Tatsachen
schließen, daß das System der Bogenfaserzellen der Bildung der
Körpermediane als Bezugssystem des Körpers eng zugeordnet ist:
wir haben aber vorläufig noch keine Vorstellung, wie ihre Leistung
die Medianebene schafft und aufrecht erhält.
Auffallend sind in dieser Beziehung die Eigentümlichkeiten der
ersten Entwicklung der Bogenfaserzellen, die Cajal gefunden hat:
Ihre Axonen konzentrieren sich hauptsächlich in der Nachbarschaft
der „epithelialen Zellen der vorderen Kommissur‘“ und es scheint,
daß sie „eine große Schwierigkeit erleiden, die durch diese epithelialen
Zellen aufgerichtete Mauer zu durchbrechen“ (Cajal). Bis sie in
diesen Bereich gelangen, wachsen sie rapid; sobald sie aber ihren
Weg durch die bereits vorhandene weiße Substanz nehmen, verlang-
samt sich ihr Weg, Diesem Widerstand der ventralen Gegend der
Medulla spinalis in der Mittellinie schreibt es Cajal zu, daß die
Axonen der Formatio arcuata gegen die Axonen der Strangzellen im
Wachstum zurückbleiben. Cajal hebt in diesem Zusammenhang
hervor, daß mit Ausnahme der „sehr tardiven“ Axonen der Kommis-
surenzellen des Hinterhorns die Mehrheit der Axonen, die das Kom-
missurenbündel beim Hühnchen bilden, ihre definitive Lokalisation
schon zwischen dem 5. und 6. Tag der Bebrütung bekommen hat.
Das erste Auswachsen der Bogenfasern in der Zeit, bevor sie
den kritischen, ihr Wachstum hemmenden und sie nach der Gegen-
seite ablenkenden Bereich in der basalen Mediane der Medulla spinalis
erreicht haben, bezieht Cajal auf die Ausscheidung attraktiver
Substanzen, die in den Zellen der ventralen Hälfte der Medullarrinne
ein Übergewicht bekommen über die attraktiven Kräfte des dorsa-
leren Keimepithels. Den basalen Zellen des späteren Ependyms
— 247 —
(„tonnelet epithelial’) schreibt Cajal eine etwas längere Dauer der
chemotaktischen Wirkung zu, die in der ganzen Zeit der Kom-
missurenbildung anhält.
Wir entnehmen daraus, daß die Wachstumsrichtung der Formatio
arcuata von spezifischen Einwirkungen dirigiert wird, . die von
(nicht ganglionären) Zellsystemen der Mitte ausgeübt wer-
den. Die epithelialen Systeme der Medianebene richten die Bogen-
faserzellen; in ihrer späteren Leistung zentrieren die Bogenfaser-
zellen die Medianebene des Körpers.
Dieser Zusammenhang zwischen Bildungen der Medianebene
und Entwicklung des Bogenfasersystems ist also gewiß nicht zu be-
ziehen auf bereits vorhandene Erregungsleitungen; er erscheint ge-
geben durch eine Wechselwirkung zelliger Elemente, spezifisch, wie
die Speicherung spezifischer Substanzen in besonderen Zellen oder
wie die Immunkörpervorgänge. Dasjenige, was im reifen Organ dem-
selben Reaktionstypus entspricht, haben wir Gegenreaktion der
Zentren genannt. Im hier besprochenen Beispiel handelt es sich um
die Bildung der Grundlage für die spätere Gegenreaktion eines
der ältesten zentralen Apparate. Sie besteht in,der Attraktion durch
spezifische Stoffe. Auf die Natur der letzteren hier ausführlich ein-
zugehen, würde zu weit führen; so ist z. B. die Frage, inwieweit
hormonale Wirkungen hier beteiligt sind (v. Monakow,
Minkowski) nicht Gegenstand dieser Arbeit.
Wir haben schon vorhin auf die Wahrscheinlichkeit hingewiesen,
daß die Leistung der später entwickelten Kommissurenzellen im Hinter-
horn vergleichbar ist mit der Leistung der früher entwickelten Bogen-
faserzellen in ihrer ersten Zeit. Die Hemmung des Wachstums, wie
sie die erster Kommissurenzellen im ventralen Bereich der epithe-
loiden Zellen erleiden, gilt deshalb wahrscheinlich in späteren Stadien
für die Kommissurenzellen des Hinterhorns. Nur wird die hemmende
Wirkung dann nicht mehr oder höchstens zu einem geringen Teil
von den Ependymzellen ausgeübt; sie entspricht einer Wirkung, die
innerhalb der gesamten Gruppe von Nervenzelle zu Nervenzelle geht,
von den älteren Kommissurenzellen auf die späterreifenden. Nach der
Seite der Gestaltung hin wird diese retardierende Kraft zu der je-
weils vorliegenden Gruppierung des Gesamtsystems der Kom-
missurenzellen führen; die Kommissurenzellen des Hinterhorns — am
meisten vielleicht die Zellen der protoplasmatischen hinteren Kom-
missur — erscheinen dann als die Elemente der Gruppe, die der
retardierenden Wirkung am meisten ausgesetzt geblieben sind; dies
entspricht der von uns vorgeschlagenen Zusammenfassung aller Kom-
— 248 —
missurenzellen als erweiterte Formatio arcuata. Es er-
innert aber auch daran, daß im Versuch Dusser de Barennes
die Hinterhornzellen physidlogischerweise auf die zentripetale Er-
regung eine Wirkung ausüben, die sie vom Überspringen auf die
andere Rückenmarkshälfte abhält und ihnen zugleich das homo-
laterale Lokalzeichen des entsprechenden Dermatoms gibt. Nach der
Seite der Leistung hin betrachtet, scheint uns der Vorgang also auf
folgendes hinzuweisen: die hemmende Kraft, die die Kommissuren-
zellen des Hinterhorns von den früher entwickelten Kommissuren-
zellen aus erleiden, findet ihre Fortsetzung in einer hemmenden
Kraft, die seitens der Kommissurenzellen des Hinterhorns auf ge-
wisse Fraktionen der zentripetalen Erregung ausgeübt wird. Diese
hemmende Wirkung auf bestimmte Anteile der zentripetalen Er-
regung wäre es, die ihre Wege zu verschlossenen Nebenwegen macht.
die aber durch den Strychninversuch aufgehoben wird, so daß
sich die sonst geschlossenen Nebenwege der zentripetalen Erregung
öffnen und sie ins gegenseitige Hinterhorn einströmen lassen.
Der Einfluß der Kommissurenzellen des Hinterhorns auf die
Bildung der richtenden Wirkung der Hinterhornzellen bestünde also
zunächst darin, daß sie den Weg der Erregung nach falschen Wegen
hin gleichsam verriegeln und auf diese Weise einen Hauptweg
der Erregung schaffen. Dieser Hauptweg führt (z. T.) an andere
Zellen des Hinterhorns heran (z. B. an die Rolandoschen Zellen
und an die Strangzellen); es ist möglich, daß erst in diesen der elek-
tive richtende Faktor der zentripetalen Erregung erteilt wird. Die
erste Leistung der Kommissurenzellen, die hier kenntlich ist, besteht
in der Herstellung einer relativen Undurchlässigkeit der
Medianebene des Rückenmarks für gewisse An-
teile der Erregungen aus den hinteren Wurzeln.
Da die Zellen der Hisschen Formatio arcuata bald nach Beginn
ihres Auftretens ebenso nahe topische Beziehungen zu den vor-
deren Wurzelzellen erlangen, wie sie der Ort, an dem sie entstanden
sind, zu dem ersten Einstrahlungsgebiet der hinteren Wurzeln hat, ist
anzunehmen, daß das erweiterte Bogenfasersystem nach der Seite
der motorischen Kerne in den Vordersäulen hin eine ganz analoge,
abschließende, die elektive Richtungstendenz der „letzten gemein-
samen Strecke“ gleichsam noch reiner herausarbeitende Wirkung aus-
übt; man kann die letztere als eine gruppierende Tendenz be-
zeichnen; wir sehen dann einen intermediären Gesamtvorgang des
Kommissurenapparats vor uns, der nach der motorischen Seite hin
die Kerne der Vordersäulen im Sinne der Sherringtonschen
— 249 —
14
Interferenzerscheinungen abwechselnd zu öffnen und zu verschließen
vermag, nach der sensorischen Seite hin aber gewissermaßen den
Hintergrund für die Lokalzeichen des zugeordneten Dermatomes
schafft. |
Alle diese Leistungen erscheinen nicht als Ausdruck einer Lei-
tung der Erregungen durch den Kommissurenapparat, sondern im
Gegenteil als eine Sperre der Erregungsleitung durch ihn.
Sie gleichen darin den attraktiven und retardierenden Wirkungen
der ventralen Ependymzellen auf die Bogenfasern, die Cajal fest-
gestellt hat; nur ist die chemotaktische Reaktion im reifen Organ
durch die Gruppenwirkung eines geordneten Gesamtsystems von
Nervenzellen ersetzt; die hemmende Wirkung betrifft nicht mehr das
Wachstum der Axonen, sondern die Fortleitung der Erregung durch
dieselben Axonen, deren Wachstum in der Entwicklungszeit gehemmt
war. Man kann an Relationen denken, die zwischen Hemmung des
Wachstums von Axonen und gedrosselter oder verlangsamter Er-
regungsleitung in den entwickelten Axonen dieser Art bestehen, doch
sind solche Verschiedenheiten wohl kaum auf die Struktur der
Axonen allein zu beziehen, sondern auch auf die Zelle, die das Axon
entsendet.
Wenn also die erste hier betrachtete Leistung des Kommissuren-
systems darin besteht, daß sie die Mediane relativ undurchlässig
macht für gewisse Erregungsfraktionen, so werden diese gleichsam
an der Mediane nach rechts bzw. nach links reflektiert, wie
Lichtstrahlen an einer Spiegelfläche. So ist eine anschauliche Vor-
stellung dafür gegeben, wie das erweiterte System der Bogenfasern
die Körpermediane zu der Bezugsebene für Rechts und Links am
eigenen Körper gestaltet.
Die Entwicklungsmechanik und das Experiment am reifen Tier
ergeben also übereinstimmend den Hinweis, daß die Formatio arcuata
(His) den Grund legt zu der Bildung einer Hauptbezugsebene für die
räumlichen Eindrücke am eigenen Körper, die mit der Körpermediane
zusammenfällt.e Das Hissche Bogenfasersystem erscheint als eine
erste Phase des koordinatenbildenden Gesamtvorgangs; eine viel
spätere Phase ist die erste Korrelation zwischen Thalamusstrahlung
und zerebraler Kommissurenbildung; eine noch weit spätere
Phase orientiert die Area striata konform den retinalen Erregungen.
Erweitert man die Betrachtung auf die Phylogenese des
Wirbeltiergehirns, so finden sich weitere Anhaltspunkte für
die Gültigkeit dieser Anschauung über das Hissche Bogenfaser-
system.
Herrmann-Pötzl, Optische Allästhesie (Abhdl. H. 47). 17
— 250 —
Die Rohdeschen Kolossalzellen im Rückenmark von Amphioxus
identifiziert Kappers mit den Bogenfaserzellen der höheren Wirbel-
tiere. Für unsere Betrachtung ist wichtig, daß die Entwicklung einer
Kolossalzelle „fast immer auf dem Querniveau des Eintrittes einer
sensiblen Wurzel erfolgt“ (Kappers). Diese Zellen, die Neuro-
chordzellen, sind in der Medianebene gelagerte
multipolare Ganglienzellen, die „oberhalb der ventralen Erweiterung
des Zentralkanals liegen, so daß ein Teil ihres Zellkörpers in die
linke Hälfte, und der andere Teil in die rechte Hälfte des Rücken-
marks hineinragt‘“ (Kappers). Verglichen mit den Zellen der For-
matio arcuata zeigen sie also vielfach eine Lage, der bei den höheren
Wirbeltieren die Lage der Ependymzellen im „tonnelet“ Cajals
weitgehend entspricht; es sind die Ependymzellen, deren über-
wiegende attraktive Kraft nach Cajal die Verbreitungsrichtung der
Bogenfaserzellen regiert; in dem Ausnahmefall, den Amphioxus ent-
hält, drückt sich die Beziehung der Neurochordzellen zur Körper-
mediane schon direkt in ihrer Lage aus.
Die Dendriten der Neurochordzellen enden bald; ihr kolossaler
Neurit, der Neurochord, kreuzt unter dem Zentralkanal und ver-
läuft in der Längsrichtung als eine Faser, die Kollateralen abspaltet.
Bekanntlich bilden die Neurochorde drei paarige Gruppen, während
einer, der dickste von allen, ventral median unter dem Zentralkanal
läuft und ungepaart ist. In dieser Anordnung scheiden sie sieh aber
in zwei Hauptsysteme, deren eines oralwärts, deren anderes
(kleineres) aboral gelegen ist; die Neurochorde des oralen Systems
verlaufen kaudalwärts, die des aboralen Systems oralwärts.
Kappers findet das erstere „im Einklang mit der physiologischen
Tatsache, daß die meisten Reflexe auch beim Amphioxus aboral ver-
laufen“, während er die frontal verlaufenden Neurochorde damit in
Beziehung bringt, daß „viele Schwanzempfindungen oral elaboriert
werden“. So erinnert die Anordnung der Neurochorde an die Ketten-
wirkung von Reflexen, z. B. von Stellreflexen bei den höheren
Wirbeltieren.
Bei den Zyklostomen findet sich ein System von ventralen
Bogenfaserzellen, deren Neuriten die Raphe kreuzen und
dann T-förmige, frontale und kaudale Teilungen bilden; die letzteren
„verlaufen in den Vorderseitenstrang und enden nach kürzeren oder
längerem Verlauf mit Kollateralen in dem peripheren Dendritennetz,
teilweise um motorische oder Schaltzellen in den seitlichen Ab-
schnitten der grauen Substanz“ (Kappers). Auch findet sich eine
Anzahl soleher Zellen, deren Dendriten hinter dem Zentral-
— 251 —
kanal (als Commissura protoplasmatica posterior) in die andere
Hälfte des Markes hinüberreichen. Das Bogenfasersystem der
Zyklostomen skizziert also bereits in groben Umrissen die Hauptzüge
jenes Gesamtapparats, den wir hier als erweitertes System der Bogen-
fasern bezeichnet haben.
Kappers nennt diese Anordnung eine „gekreuzte sekundär
sensible Bahn“ und meint, daß sich ihre Axonen wahrscheinlich
größtenteils im Rückenmark selbst auflösen. Er hält sie für eine
primitive Leitung, „welche die ersten, sogenannten vitalen Gefühls-
eindrücke der freien Hautverästelungen, die grobe Berührung, den
Schmerz, starke Temperaturempfindungen und den chemischen Sinn
leitet‘. Übrigens hält er es nicht für ausgeschlossen, „daß diese
primitive Bahn auch irgendwelche Muskelempfindungen führt, weil
die sensiblen Fasern sich auch in den Muskeln verästeln‘“. Die Ur-
sache, weshalb die „primitive vitale Reflexbahn‘“ gerade gekreuzt
verläuft, führt er auf wie „überwiegend negative Reflexauslösung“
zurück. Kappers bezeichnet die Bogenfasern allgemeiner als
„primitive Reflexbahn der vitalen (protopathischen) Empfindungen“.
Bei den Amphibien gehören die Bogenfaserzellen ebenfalls „zu
den zuerst auftretenden Neuronen des ganzen Rückenmarks‘“. Man
findet sie hier „namentlich in den Vorderhörnern, aber auch in dem
Hinterhorn nahe der Medianlinie“’ (Kappers). Ihre Axonen zeigen
den Verlauf der Hisschen Bogenfasern; das System besitzt einen
Mittelhirnanteil; ein Teil der Kollateralen steigt abwärts bis
in das Filum terminale. Kappers betont in diesem Zusammen-
hang, daß „die peripheren Rezeptoren der Sensibilität auch bei
Amphibien noch fast ausschließlich aus freien Nervenendigungen
bestehen“,
Bok hat in Hühnerembryonen gefunden, daß die frontalen
Kommissurenzellen ihre Axenzylinder nach rückwärts schicken,
während die kaudalen Kommissurzellen sie in frontaler Richtung ent-
senden (also eine Verteilung der Axonenrichtung ähnlich den Haupt-
richtungen der Neurochorde bei Amphioxus). „Das will also
sagen, daß die Halsreize aboral ablaufen und die Schwanzreize oral.
Erst später tritt eine Dichotomie an diesen Fasern auf und gleicht
sich dadurch dieser Unterschied mehr oder weniger aus“ (Kappers).
Da (nach Cajal) die Axonen der Bogenfaserzellen auch bei den
höheren Säugetieren und beim Menschen nur über eine nicht allzu
große Anzahl von Segmenten aufsteigen, bzw. absteigen, da sie sich
vorerst T-förmig teilen und ihre Endigungen in die Randschicht der
grauen Substanz (Hintersäulen oder Vordersäulen) schicken, ent-
17*
spricht der Verlauf beim erwachsenen Huhn den Verhältnissen.
wie wir sie ungefähr auch bei der experimentellen spinalen
Allästhesie als gegeben betrachten dürfen. Der Boksche Befund, so-
wie die von Kappers herangezogenen phylogenetischen Parallelen
mit Amphioxus. Zyklostomen, Amphibien vermitteln eine kontinuier-
liche Übergangsreihe, in deren Anfangsgliedern deutlich eine An-
ordnung ausgedrückt ist, wie man sie bei kettenförmig ablaufenden
Reflexen (z. B. bei Haltungs- und Stellreflexen) sieht, während in
den Endgliedern der Reihe sich eine Axonenform zeigt, die die
Dichotomie der hinteren Wurzelfaser immer vollkommener imitiert
und wie diese (Cajal) einen Übergang von der Y-Form zur T-Form
zeigt. Bei der hinteren Wurzelfaser ist das bipolare Stadium das An-
fangsglied einer ähnlichen Reihe. Diese Parallele erscheint wie eine
Nlustration unserer Auffassung, daß sich der Endbereich der einzelnen
hinteren Wurzelfaser immer vollkommener in den Axonenrichtungen
der Bogenfaserzellen abbildet. Wir erinnern hier nochmals
daran. daß wir die physiologische Bedeutung dieser Abbildung in
einer Art von Spiegelung sehen: wir nehmen nicht an, daß eine
Weiterleitung von Erregungen durch dieses Axon das bedeutsame an
ihr sei, wir denken an eine Speicherung der Erregung in den
Zellen, deren Axone so geformt sind, und an eine Rückwirkung dieser
Speicherung auf die zugeordneten Zellen der Hinterhornsysteme (auf
die anderen Kommissurenzellen und auf Strangzellen). Erst durch
diesen ‘Gesamteffekt scheint uns die Lokalzeichenbildung an jenen
sekundären sensiblen Erregungen vor sich zu gehen, die un-
verschlossene Hauptwege der Erregung einschlagen. Das Ganze er-
scheint uns als eine Kette von Wirkungen, deren Resultierende
jene richtende Wirkung herstellt, in der sich die Lage des Reizes im
Dermatom spiegelt, die aber bei der spinalen Allästhesie jeder Er-
regung erteilt werden kann, gleichgültig aus welcher Richtung sie
stammt.
Es lassen sich also zur Vervollständigung unserer Auffassung
aus den herangezogenen phylogenetischen Parallelen weitere Binde-
glieder gewinnen. Dazu kommt noch die auffallende Analogie des
aszendierenden, bzw. deszendierenden Verlaufs dieser Axone mit der
Kettenwirkung von spinalen (propriorezeptiven und exterorezeptiven)
Reflexen. Kappers ist denn auch geneigt, das Begenfaser-
system als Bestandteil solcher Retlexkreise in Anspruch zu nehmen.
derart, daß es Erregungen dieser Reflexkreise leitet. Andererseits
sieht er im Bogenfasersystem eine primitive Empfindungsbahn; er
versucht. sie mit den Qualitäten der protopathischen Sensibilität im
— 253 —
Sinne von Head in einen besonderen Zusammenhang zu bringen.
Wir wollen die Anschauungen, die sich uns ergeben haben, mit dieser
Auffassung von Kappers vergleichen.
Uns liegt es nahe, die Rolle des Bogenfasersystems bei der Aus-
lösung von Kettenreflexen in einer Ordnung des Verbreitungs-
bezirkes und des Nacheinander solcher Reflexketten zu erblicken, also
in einer Bahnung der Hauptwege der Erregung in den einzelnen
Retlexkreisen und in der Regulierung der Art, wie sie — nebenein-
ander und nacheinander — die letzte gemeinsame Strecke
(Sherrington) in Anspruch nehmen. Es ist dies nur eine Folge-
rung aus der früher (S. 248) gewonnenen Anschauung. Das Bogen-
fasersystem ist eben auch für die Kettenwirkungen von Reflexen
lokalzeichengebend, nicht nur im räumlichen Nebeneinander
der Körperoberfläche, sondern auch im zeitlichen Nacheinander von
Wirkungen, die sich von Segment zu Segment fortsetzen. Eine
Störung des zeitlich ordnenden Vorgangs kann klinisch auch in
Anomalien der Oberflächensensibilität gegeben sein, z. B. in der
stichartigen Mitempfindung (Mittelmann) usw. Jedenfalls scheint
uns die Ordnung in der Zeit mehr mit der Längswirkung des
Bogenfasersystems zusamnmenzuhängen, die Ordnung im
Raum mehr mit der Querwirkung. Dies gilt aber nur solange, als
die Nebenwege der Erregung durch die physiologische Leistung des:
Bogenfasersystems geschlossen bleiben. Werden sie (wie bei der
Strychninvergiftung) in weiter Ausdehnung eröffnet, so ergibt sich
die Beseitigung des Refraktärstadiums der rezepto-
rischen Elemente (Dusser de Barennes), überhaupt die
sensorische Seite der Strychninvergiftung. |
Auch diese hat (nach Dusserde Barenne) ihre zerebrale
Seite: die „crossed sensibility’ Dusser de Barennes bei der
Katze, in der sich die propriorezeptiven Erregungen des Quadru-
pedengangs gleichsam abbilden.
Der eine von uns (P.) hat an einem besonderen Symptomen-
komplex bei Abszeß des rechten Stirnpols an doppelseitigen anfalls-
weise auftretenden Parästhesien und Versteifungen die Verteilung
der crossed sens. am Menschen wiedergefunden und sie (ohne Kennt- `
nis des Phänomens von Dusser de Barenne) ebenfalls auf die
Tonusverteilung beim Quadrupedengang — gewissermaßen als phylo-
genetische Reminiszenz — bezogen. Auch darin liegt die Störung
eines Mechanismus, in dem die Balkenwirkung eine Hauptrolle
spielt; die Läsion des Balkenknies wirkt hier ähnlich, wie die
Läsion des Balkenspleniums in unserer Beob. 4 mit optischer All-
— 254 —
ästhesie. Die Heranziehung der Stirnhirnläsion erleichtert es, das.
was für die Anfänge der Balkenbildung und deren okzipitale Fort-
setzung hier ausgesagt worden ist, auch auf die frontale Fortsetzung
des Vorgangs und damit auf die gesamte Balkenbildung auszudehnen.
Es zeigt sich hier noch einmal die Verwandtschaft in den Mechanismen
der zerebralen und der spinalen Kommissurenbildung, deren Nach-
weis ein Hauptgegenstand dieser Arbeit ist.
Im übrigen aber glauben wir, daß unsere Auffassung über die
Rolle des Bogenfasersystems bei der Auslösung von Kettenreflexen
für die Haltungs- und Stellreflexe der Säugetiere besser anwend-
bar ist als die Ansicht von Kappers, da (Rademaker) die
Kreise dieser Reflexe sich mit den Einstrahlungszonen und Aus-
strahlungszonen der Wurzelgruppen, die in Aktion treten (in der
Medulla spinalis wie im Hirnstamm) so ziemlich decken. Die Ein-
führung einer Erregungsleitung über die Axonen der Bogenfasern
würde — wenn man nicht deren Erregungen besondere Eigenschaften
zuspricht, sie z. B. als bloße Signale zur Weiterführung der Reflex-
kette betrachtet — eher eine allgemeine Starre mit Opisthotonus, den
Strychninkrampf erklären, als die harmonisch geordnete Aufein-
anderfolge des physiologischen Vorgangs.
Schwerer ist mit unserer Auffassung die Rolle zu vereinigen, die
— auch nach unserer Anschauung — das Bogenfasersystem bei der
Leitung der Eindrücke von Schmerz und Temperatur spielt. Wenn
Kappers in den Bogenfasern eine primitive Empfindungsbahn
sieht, so enthält dies keinen Widerspruch mit seiner Auffassung, daß
auch Kettenreflexe in ihren Wegen ablaufen können; denn „die
Bahnen für beide Aufgaben, die Empfindungs- und die Reflexbahn,
müssen nicht durchwegs getrennt sein. Bis zu den Reflexzentren ver-
schiedener Ordnung, eventuell bis zum höchsten subkortikalen
Zentrum können die zentripetalen Reize für beide Aufgaben dieselbe
Bahn benützen; nur die von einem dieser Zentren entspringende und
ohne weitere Unterbrechung in einem Reflexzentrum bis zur GroB-
hirnrinde direkt verlaufende Bahn ist reine Empfindungsbahn“
(A. Spitzer).
Wir verweisen aber darauf, daß die Betrachtung der ent-
wicklungsmechanischen Vorgänge nur Phasen enthält, während
deren von einer Wirkung exterorezeptiver Reize oder deren
Verarbeitung eigentlich nieht konkret gesprochen werden kann. Wir
können uns vorstellen, daß in der fötalen Zeit das Bogenfaser-
system physiologischerweise ein Maximum von Undurchgängig-
keit für die zentripetale Erregung besitzt und daß diese Undurch-
— 255 —
gängigkeit, stellenweise abklingend, gesetzmäßig sich verändert gegen
die Geburt hin und völlig neue Verhältnisse eintreten, sobald im
extrauterinen Leben die Außenwelt auf die Körperoberfläche wirkt.
In Einklang mit einer solchen Auffassung, die — gewissermaßen als
einzige nachweisbare Leistung — dem fötalen Bogenfasersystem
nur die Ordnung propriorezeptiver Reflexe zuschreibt, stehen die Be-
funde Minkowskis über stellreflexartige Reaktionen von Föten.
Wir haben schon im vorigen angenommen, daß jener Hemmung im
Wachstum der Bogenfaseraxone eine Hemmung der Erregung korre-
lat ist, die in ihrer späteren Reifeleistung zutage tritt; die später
entwickelten Bogenfaserzellen des Hinterhorns sollten dieser
Hemmung noch in stärkerem Grade teilhaftig sein, wenn sie bei den
(ventraler gelegenen). früher entwickelten Bogenfaserzellen schon ver-
mindert ist und einer teilweisen elektiven Durchgingigkeit für
die Erregung von den Schmerzpunkten und Temperaturpunkten Platz
gemacht hat, die jener gekreuzten Leitung der Erregungen im Seiten-
strang als erstes Glied der ganzen Leitungskette entspricht.
Wir kommen hier wieder auf die Analogie der elektiven Wirkun-
gen spinaler Zellsysteme mit jener Anwendung der -Young-
Helmholtzschen Dreikomponenten-Theorie der Farben zurück,
die wir schon einmal (S. 155) erwähnt haben. Über die Bildung
dieser Elektivität und den Anteil ererbter und erworbener Faktoren
an ihr wollen wir hier nicht weiter sprechen; nur das eine heben wir
heraus, daß nach dieser Anschauung die Bogenfasern in mehrere
Systeme zerfallen, deren jedes einem Reservoir gleicht, das nur von
den Druckpunkten der Haut. von den Wärmepunkten oder von den
Kältepunkten oder von den Schmerzpunkten her mit Erregung gefüllt
werden kann. In Wahrheit wird diese Elektivität analog mit den
Anschauungen der Dreifarbentheorie nur auf einer stärkeren
Resonanz auf eines der empfindenden Punktsysteme der Haut ent-
sprechen. Auch hier zeigt sich an klinischen Erscheinungen (z. B. am
sogenannten Kälte-Brown-Sequard) ein Umschlag in die ent-
gerengesetzte Empfindung bei partiellen Läsionen des Systems, also
ein Phänomen, in dem der Hintergrund des physiologischen Effekts
zum Vordergrund wird und an Stelle des Kontrastes die Irra-
diation tritt.
Unsere Auffassung begegnet sich mit Anschauungen, die
Ramon y Cajal längst ausgesprochen hat. Cajal weist auf die
morphologische Unzulänglichkeit eines Schemas für die Leitung der
Eindrücke von Schmerz und Temperatur hin, das den Erfahrungen
des Physiologen sklavisch nachgehildet ist. Er läßt die Erregungen,
— 236 —
deren Fluß der gekreuzten Leitung im Seitenstrang entspricht, im
Hinterhorn der Gegenseite übertragen werden auf Strangzellen, deren
Axone in den Seitenstrang ziehen; auch weist er auf die Unter-
brechung dieser Neuronen im Bulbus hin. Andererseits betont Cajal
den Zusammenhang der spezifischen Erregungsleitung mit den spezi-
fischen Endapparaten, die auf physikalische Besonderheiten ab-
gestimmt sind; er vergleicht die regellose mechanische Wirkung auf
die Haut mit dem Lärm. Allerdings äußert Cajal die Anschauung.
daß der Weg der Schmerzerregungen dureh die hinteren Wurzeln in
jene Kollateralen verläuft, die sich im Hinterhorn der Gegen-
seite verzweigen, und daß die Hinterhornzellen der Gegenseite sie
auf den Seitenstrang übertragen. Die homolaterale richtende Wirkung
der Hinterhornzellen, die wir im Anschluß an den Versuch Dusser
deBarennes besonders beachten, scheint uns gegen diesen Punkt
der Anschauungen Cajals zu sprechen. Wir ersetzen ihn durch
eine Auffassung, die eine Zwischenschaltung von Kommissuren-
zellen annimmt; der Anschluß der Wurzeln könnte z. B. durch
jene Kollateralen aus dem Stamm der eintretenden Wurzelfaser ge-
geben sein, die (Cajal) „eine oder zwei an Zahl von irgendeinem
Punkt des transversalen Verlaufs jeder Faser entspringen und sich
in den Kopf des Hinterhorns zu begeben scheinen“, ebenso aber auch
durch die reichen, morphologisch an die Endbüschel der Optikus-
fasern im Genikulatum erinnernden Kollateralen derRolandoschen
Substanz; die letzteren lassen sich (Cajal) erst nach der Geburt
nachweisen; daß die Rolandosche Substanz in die Leitung der
Sehmerz- und Temperaturempfindungen eingebaut ist, hat schon
Jacobsohn behauptet; wir vermuten einen Anschluß ihres Systems
an Teilsysteme der Bogenfaserzellen; die Art dieses Anschlusses er-
scheint allerdings morphologisch noch vollkommen unklar.
Auf diese Weise ergibt sich auch für unsere Auffassung kein
Widerspruch zwischen der anfänglichen Rolle des Bogenfaser-
systems als Sperrapparat für Nebenwege der Erregung und ihre
spätere gruppenweise und elektiv erfolgende Aufschließung in ein-
zelne Teilsysteme für besondere Qualitäten der Erregung von der
Körperoberfläche her. Wieder scheint uns unsere Auffassung für die
“ Verhältnisse bei Säugetieren und bei Menschen besser anwendbar zu
sein als die Auffassung von Kappers; denn hier ist, wie Head
selbst besonders hervorgehoben hat, die physiologische Leitung der
Eindrücke von Schmerz und Temperatur über die gekreuzten Seiten-
strange hinweg nicht die Leitung einer protopathischen Sen-
— 2337 —
sibilität, von der Kappers spricht, sondern eine elektive Sonderung
von Reizqualitäten.
So ergibt sich abermals eine weitgehende Analogie zwischen dem
richtenden spinalen und dem richtenden zerebral-optischen Apparat.
Die phylogenetischen Beispiele, die im folgenden zitiert worden sind,
weisen auf die Fortsetzung des Bogenfasersystems bis in das Mittel-
hirn hin, die auch in dem von uns verfolgten Zusammenhang fiir die
Beziehungen des Bogenfasersystems zu mesenzephalen Reflexen
von Wichtigkeit ist. Allein die Verhältnisse bei niederen Wirbeltieren
sind in dieser Beziehung mit den Verhältnissen am Menschen schlecht
vergleichbar, da sie die Vorherrschaft des Tectum opticum und der
mesenzephalen optischen Reflexe enthalten, von der Spaltung dieser
Reflexkreise durch Thalamus und Genikulatum aber nur die ersten
Anfänge. Wir wenden uns daher wieder zurück zur Betrachtung der
Art, wie sich in der Entwicklung am Menschen die Hissche For-
matio arcuata mittelhirnwärts fortsetzt.
His selbst hat am Embryo im Alter von 4 Wochen (Br. 3) die
Verteilung und Anordnung der Neuroblasten übersichtlich zusammen-
gestellt: „gleichwie das Rückenmark, so enthält auch das Rauten-
hirn in seiner dorsalen Hälfte ventralwärts gekehrte Neuroblasten,
die im allgemeinen in kurze Bogenfasern auslaufen. Ihre Menge ist
noch unbeträchtlich und sie verlieren sich am Übergang von Isthmus
zum Mittelhirn.“ Die ersten Anfänge des Bogenfaserapparats im
Hirnstamm klingen also gerade gegen die Region des Tectum opticum
hin ab; man kann dies als einen Hinweis auffassen, daß Beziehungen
zu propriorezeptiven Reflexen zu einer verhältnismäßig stark voran-
eilenden Gestaltung dieser ersten Anlage des Gesamtsystems führen,
die Beziehungen zu exterorezeptiven Reflexen aber noch nicht wirk-
sam sind; ihr gestaltlicher Ausdruck würde dann einer späteren
Hauptphase des Gesamtvorganges angehören; die Aufeinanderfolge
läßt sich also ähnlich deuten, wie wir die Beziehungen des spinalen
Bogenfasersystems zu den propriorezeptiven Reflexen einerseits, zu
der späteren Rezeption der Oberflächenreize andererseits aufgefaßt
haben.
Zur selben Zeit, in der sich die Bogenfaserzellen etwa in der
(Gegend vor der Trochleariskreuzung allmählich verlieren, sind „in
der ventralen Markhälfte die Neuroblasten viel reichlicher angehäuft;
in ununterbrochener Reihenfolge erstrecken sie sich bis zum Hypo-
thalamus‘ (His). Eine basale Kommissur findet sich „von der
Nackenbeuge ab bis zur Höhe des Trigeminusaustritts. Sie ist
nirgends sehr stark und wechselt etwas in ihrer Mächtigkeit“ (His).
— 258 —
Dieses Verhalten der basalen Kommissur scheint uns dafiir zu
sprechen, daß jene Neuroblasten der ventralen Markhälfte, bei denen
„ein dorsal oder ventralwärts gerichteter bogenförmiger Verlauf der
Fortsätze das vorwaltende Vorkommnis ist“ (His), entweder nicht
der zerebralen Fortsetzung der Formatio arcuata zuzurechnen oder
doch in ihrer Ausgestaltung verzögert sind; von den Wurzel-
zellen der motorischen Hirnnerven kann in unserer Besprechung
abgesehen werden. Wo die Kerne der letzteren schon relativ gut
entwickelt sind, wie z. B. in der Gegend des Hypoglossuskerns (His).
sind auch kräftige Züge von Bogenfasern da, die den Kern umgrei-
fen, durchsetzen und medialwärts in die basale Kommissur eintreten
(His). Diese Bogenfasern entstammen Neuroblasten ‚der ventralen
Markhälfte, die zum Teil verschränkt mit den Hypoglossuszellen
liegen“; sie lassen sich also in ihrem Verhältnis zu den Wurzelzellen
des Hypoglossus analog auffassen, wie die ventralen Bogenfaserzellen
im Rückenmark.
In der Decke des Zwischenhirns sind zu dieser Zeit „kaum
Spuren einer neuroblastenführenden Mantelschicht vorhanden; die
Hemisphären sind davon vollständig frei“. Im Seitenteil des Mittel-
-hirnbodens treten ‚die ersten mehr geschlossenen Bündelchen auf, die
dem System des hintern Längsbündels zuzuteilen sind (His). Wir
können hier auf die Beziehungen des hinteren Längsbündels zum
Bogenfasersystem nicht ausführlich eingehen, obzwar wir der Mei-
nung sind, daß Anteile desselben aus Zellen entspringen, die der er-
weiterten Formatio arcuata zuzurechnen sind. Insbesondere meinen
wir das für Anteile jener Gebiete des hintern Längsbündels, die laby-
rinthäre Reflexe auf die Augenmuskelkerne übertragen; wir erinnern
an die „innige Beziehung der labyrinthären Reflexbewegungen“ auf
die Medianebene des Körpers (Alexander Spitzer).
Spitzer nennt in seiner feinsinnigen Darstellung das hintere
Längsbündel „das Bündel der Axialorgane“, deren Symmetrieebene
die Mediane ist. In den Bewegungen der Axialorgane Spitzers
(Wirbelsäule, Labyrinthe, Augen) ist „die bewegte Ebene die anato-
mische, die Ebene ihrer Ruhelage die funktionelle Symmetrieebene
des Körpers“ (Spitzer). Es finden sich also enge Berührungs-
punkte zwischen dem, was wir hier über Aufbau und Leistungen der
erweiterten Formatio arcuata von His aussagen, und zwischen dem.
was AlexanderSpitzeridiotropisches Nervensystem
nennt. „Das idiotropische System hat die Aufgabe, die einzelnen
Teile des eigenen Körpers im Dienste der Selbsterhaltung miteinan-
der in Beziehung zu bringen, um so den eigenen Körper zur Einheit
— , 259 —
des Organismus zu erheben.“ (Alexander Spitzer). Doch ist
die erweiterte Formatio arcuata nicht identisch mit dem idiotropi-
schen Gesamtsystem Spitzers; sie erscheint nur als eine erste
Grundlage desselben, als ein „Kondensationskern‘“, an den sich wel-
tere Phasen anschließen. |
Nach Spitzer sind die großen zerstreuten Zellen der Haube
ein einheitliches System, das sich „einerseits zum N. deiters, anderer-
seits zum N. ruber konzentriert“, so daß zwei Kondensationskerne
dieses Systems im Hirnstamm entstehen. Es läßt sich vermuten, daß
das Bogenfasersystem für diese Kondensation eine wesentliche Be- `
deutung hat, um so mehr, als sich deren zwei Hauptbereiche um Aus-
trittsgebiete von Wurzeln (Nervus VIII., Augenmuskelnerven)
konzentrieren. Das Bogenfasersystem ist aber nicht oder höchstens
teilweise identisch mit dem Spitzerschen System der großen zer-
streuten Haubenzellen. Vielleicht trifft bis zu einem gewissen Grad
die Auffassung zu, daß die Hisschen Formatio arcuata im Hirn-
stamm als kondensierendes System zu bezeichnen ist, der-
jenige Teil der großen Haubenzellen, der nicht zu ihr gehört, (im
Sinne Spitzers) das kondensierte System. Vergleicht man
dies mit den Verhältnissen im Rückenmark, so würde vielleicht das
Verhältnis der Formatio arcuata (respektive der Gesamtheit der
Kommissurenzellen im reifen Organ) zu den Strangzellen
analog sein.
Die Einbeziehung der Bogenfaserzellen des Hirnstamms ent-
hält keine Erweiterung des Begriffes der Formatio arcuata über die
Anschauungen hinaus, die His begründet hat; auch His selbst
rechnet diese Systeme des Hirnstammes zu der Formatio arcuata.
Es fragt sich aber, wieweit sich die Region der erweiterten Bogen-
faserzellen frontaiwärts ausdehnt.
In der hier besprochenen Zeit der Entwicklung finden sich nur
„einige zerstreut liegende Bogenfasern, die vom hinteren Rande des
Thalamus herabkommen“ (His), wenn man die Region zwischen
Mittelhirn und Zwischenhirn nach Bogenfasern absucht. Die früher
von uns beobachtete Phase, in der die ersten thalamo-kortikalen
Fasern scheitelwärts in den Hirnmantel einstrahlen, entspricht der
zweiten Hälfte des dritten Monats. In der Zwischenzeit
haben sich die Systeme des Mittelhirns und des Thalamus bereits so
reich entwickelt, daß die Verhältnisse nicht leicht überblickbar sind.
Jedenfalls ist das tiefe Mark der Vierhügelgegend soweit differen-
ziert, daß man von einer bereits gestaltlich gegebenen Schließung der
mesenzephalen Reflexkreise sprechen darf.
— 260 —
In dieser Zeit also setzt jene Sonderung der thalamo-fugalen
Strahlung in drei geschlossene Systeme ein, die His beschrieben hat.
Wir bezeichneten sie (5. 232) als eine (anscheinend) vom Thalamus aus-
gehende, der ersten Manifestationsphase der Thalamusrindenkorrela-
tion entsprechende Spaltung der mesenzephalen Reflexkreise, die die
Vorläuferin der Kommissurenbildung im Bereich des Großhirns ist.
Diese Kommissurenbildung eilt der Bildung zentrifugaler kortiko-
thalamischer Systeme — wie wir schon hervorgehoben haben (S. 235)
— voraus; die letztere erscheint also wie eine relativ verspätete
Schließung jener über den Kortex führenden Erregungskreise, die
aus der Spaltung der Mittelhirnreflexe, überhaupt der tieferen Reflex-
kreise, entstehen. Wieweit die in ihren Anfängen frühzeitig ent-
wickelte, die bekannte Kornährenform der Neuroblasten (His) zei-
gende Schleife mittlerweile den Anschluß des Bogenfasersystems
an den ventralen Thalamus hergestellt hat, kann hier nicht genauer
verfolgt werden.
Wir haben aus dem allgemeineren Vorgang der Kommissuren-
bildung im Großhirn den Einzelfall der Balkenbildung heraus-
gegriffen; auch hier werden wir uns auf ihn beschränken, da er
der einzige ist, der mit unserem Thema in unmittelbarem Zu-
sammenhang steht. His selbst bezeichnet die scheitelwärts ein-
strahlenden Thalamussysteme als Bogenfasern; er scheint uns
damit einen Zusammenhang mit der Formatio arcuata anzudeuten,
der vorläufig nur im Sinne einer funktionellen Zusammen-
gehörigkeit gilt, insofern, als die Bildung der Bogenfasern des
Thalamus die Entwicklung des kommissuralen Systems
der Körpermediane weiterführt.
Daß dies tatsächlich zutrifft, ergibt sich aus den Befunden, die
wir im früheren zusammengestellt haben und die unsere Fälle mit
optischer Allästhesie im Sinne besonderer Zusammenhänge ergänzen.
Wir glauben daher die Andeutung von His aufnehmen zu dürfen:
wir bezeichnen die Bogenfasern des Thalamus zusammen mit dem
System der Formatio arcuata im Hirnstamm und Rückenmark als
eine größere Gesamtheit, als das erweiterte System der
Bogenfaserzellen (His).
In einem gewissen Sinn darf man dann auch die Sehstrah-
lung als einen Bestandteil des erweiterten Bogenfasersystems be-
trachten, aber nicht die zentrifugalen optischen Bahnen Flechsigs.
Diese gehören einer dritten Hauptphase des betrachteten Ge-
samtvorgangs an, der Phase eines neuerlichen Schlusses der über den
Kortex führenden Erregungskreise. Die Entwicklung der Sehstrah-
— 261 —
lung hingegen (der zentripetalen Fasern im Stiel des Corp. genicu-
latum externum) würde jenem Stadium entsprechen, in der die Wir-
kung der Thalamus-Rinden-Korrelation, die anfänglich (nur oder
hauptsächlich) den propriorezeptiven Erregungskreisen zugeordnet
gewesen war, auf das exterorezeptive optische Gebiet über-
greift. Die Spaltung der propriorezeptiven Erregungskreise wird in
dieser Phase keineswegs vollendet sein; dies zeigt schon die erst
später eingreifende Entwicklung der Korrelation zwischen Pulvinar
und Okzipitalrinde. Wir stellen uns die Einwirkung auf die proprio-
rezeptiven Erregungskreise als einen Vorgang vor, der während des
ganzen individuellen Lebens weiter dauert und an der Bildung des
Sehraums dasjenige fortentwickelt, was nicht als nativistisch bedingt.
sondern als empirisch aufzufassen ist.
5. Orientierung und propriorezeptive Reflexe.
Hartmann hat zuerst die Orientierung im Raume beim Men-
schen mit den richtenden tropistischen Wirkungen zusammengestellt,
die in der Tierreihe so vielfach vorherrschen. Er hat in den Störun-
gen der Orientierung bei doppelseitigen Herden der parieto-okzipita-
len Konvexität die Störung eines Grundvorganges geschen und
so der weiteren Forschung über die zerebralen Störungen der Raum-
bildung einen festen Ausgangspunkt gegeben.
Seither ist die Auffassung niemals verschwunden, daß Orientie-
rung und motorisch einstellende Reaktionen mitein-
ander in einem besonderen Zusammenhang stehen. Doch haben die
Autoren zumeist sich auf die Auffassung beschränkt, daß motorische
Einstellung durch gewisse Reize und Orientierung nach diesen Reizen
hin miteinander so ziemlich identisch sind. Im ganzen erscheinen
tatsächlich Orientierung und Einstellung wie zwei Seiten desselben
Grundvorgangs. |
Der eine von uns (P.) hat in einer Analyse der Herderscheinun-
gen nach Erweichung des linken unteren Scheitellappens die Auf-
fassung vertreten, daß die pathologische Zwangsdeviation nach
einer Seite hin, wie sie z. B. die tonische Phase vieler epileptischer
Anfälle zeigt, dem Vorgang der Orientierung korrelat, aber gegen-
sätzlich ist. In der Zwangsdeviation handelt es sich um das zen-
trifugale Abstürzen physiologisch gespeicherter Erregung; das Ent-
strömen dieser Erregung aus ihrem gebundenen Zustand hebt die
Freiheit der Orientierung nach den verschiedenen Richtungen des
Raumes auf und verwandelt sie in eine Zwangsorientierung.
Die freie Orientierung ist das, was man unter „Orientierung“ im
— 262 —
psychologischen Sinne begreift; der Freiheit des gesamten orientie-
renden Vorganges ist nicht die „Einstellung“ an sich zugeordnet.
sondern die Fähigkeit zur Auswahl unter alien möglichen Ein-
stellungen. Über die Herkunft der gebundenen Erregung, deren
Bereitschaft die Freiheit des orientierenden Vorgangs garantiert, ist
damals und späterhin an zahlreichen Beispielen dargetan worden, daß
sie zu einem großen Teil aus zerebeilären, labyrinthären und bulbo-
spinalen propriorezeptiven Erregungskreisen stammt. Es war dies
der klinische Ausdruck für jene Spaltung propriorezeptiver Re-
flexkreise, für die wir weitere Beispiele aus der Hirnpathologie, ent-
wicklungsgeschichtliche und phylogenetische Parallelen in der hier
vorliegenden Arbeit geben.
Unsere Auffassung ist zum Teil zustimmend aufgenommen wor-
den (Pette, Zingerle, Heveroch); die große Mehrzahl der
Autoren hat sie unberücksichtigt gelassen. Auch die Autoren, die
sich seither mit dem Zusammenhang zwischen Orientierung und pro-
priorezeptiven Reflexen befaßt haben (Goldstein, Hoff und
Schilder u. a.) haben bisher nur von irgendeinem — nicht
genauer definierten — Zusammenhang zwischen den induzierten
Tonusveränderungen und der Orientierung, ja der Bewußtseins-
vorgänge überhaupt, gesprochen. Schilder hebt hervor, daß die
induzierten Tonusveränderungen „das Körperschema modifizieren“;
Goldstein ist geneigt, einen tonusübertragenden Vorgang zu ver-
muten, der vom Kleinhirn über die gekreuzte Großhirnverbindung
hinweg am Stirnhirn angreife und von diesem aus in eine „Ganzheits-
funktion“ eingehe. Besonders auffallend waren den zitierten Autoren
die mit kataleptischen Zuständen korrespondierenden Bewußtseins-
störungen bei pathologischer Enthemmung propriorezeptiver
tonisierender Wirkungen, wie sie Goldstein sowie Zingerle
zuerst. beobachtet haben. |
Es scheint uns, daß dieser Einfluß enthemmter Haltungs-
reflexe, der im Sinne einer Pinschränkung des Bewußtseinsfeldes zu
wirken scheint, mit unserer vorhin referierten Auffassung überein-
stimmt; nach ihr bedarf es einer kortikalen Bindung und Verarbeitung
von Komponenten propriorezeptiver Reflexe, um durch eine Freiheit
der Einstellungen das Feld des Bewußtseins zu weiten und — ver-
gleichbar der Klärung des Sehraums — das Bewußtsein zu klären.
Daß ein solcher bindender Vorgang, den wir schon in den zitierten
ersten Veröffentlichungen der Korrelation zwischen Thalamus und
(roßhirnrinde zugeschrieben haben, nach der Seite der einstellen-
den Reaktionen des Körpers hin als eine Dämpfung, in einem ge-
— 263 —
wissen Sinn als eine Hemmung der propriorezeptiven Haltungs-
und Stellreflexe — zumal derer vom Quadrupedentypus — erscheinen
muß, haben wir schon damals hervorgehoben.. Aus unseren Ergeb-
nissen geht also erstens hervor, daß der zu erwartende Zusammen-
hang zwischen propriorezeptiven Reflexkreisen und der Klärung des
Wahrnehmungsraumes durch Hintergrundbildung besteht, zwei-
tens aber, daß die Art dieses Zusammenhanges in einer Spaltung
der tieferen Erregungskreise besteht, die durch das korrelierte System
Thalamus-Großhirnrinde eingeleitet wird und zu einer kortikalen
Speicherung dessen führt, was M.H. Fischer als spezifische Energie
des propriorezeptiven Apparates bezeichnet hat (vgl. S. 185).
Die beiden Punkte, die wir hier hervorheben und die schon in
unseren ersten Veröffentlichungen betont worden sind, stimmen zum
Teil mit den Anschauungen überein, die seither Goldstein ent-
wickelt hat; doch finden sich Unterschiede. Vor aliem geht aus unse-
ren Ergebnissen hervor, daß die Angriffspunkte der reflex-
spaltenden Wirkung, von der hier die Rede ist, innerhalb
der einzelnen Rindenfelder lokalisiert sind; wir erwarten die-
selbe strenge Lokalisiertheit auch für die Sonderbeispiele dieser Wir-
kungsweise, in denen sie noch nicht nachgewiesen ist. Schon das,
was bereits vorliegt, veranlaßt uns, die Bildung dieser Angriffspunkte
in den verschiedenen Territorien der Großhirnrinde als eines
der Hauptprinzipien zu betrachten, nach denen sich die Großhirnrinde
in zellarchitektonisch unterscheidbare, begrenzte Felder teilt und
nach denen sich diese Felder in weitere scharf begrenzte myelo-
architektonische Teilfelder gliedern, wie dies O. Vogt in seinen um-
fassenden Arbeiten nachgewiesen hat. Die Identität des reflexspal-
tenden Vorganges mit einer Hauptwirkung der Thalamusrindenkorre-
lation bildet u. E. die Brücke zwischen den Anschauungen Hen-
schens, zu denen wir uns bekennen, und den Anschauungen
v. Monakows; das Herausgreifen einer über das Zerebellum gehen-
den Komponente aus der Gesamtheit der hier betrachteten Vorgänge
enthält nur einen Sonderfall der von uns untersuchten allgemeineren
Wirkungsweise; wir glauben aber, daß diesensorisch wirksamen
Bausteine, die aus labyrinthärer Quelle stammen und zum Teil erst
nach einer Verarbeitung im Kleinhirn der kortikalen Gesamtarbeit
zugeführt werden, im gesamten Thalamus vorentwickelt und aus
seinen Teilgebieten auf die zugehörigen Teilfelder der Großhirnrinde
projiziert werden.
Wir haben in einer Reihe von Beobachtungen und Versuchen
(tachistoskopisch erregte Traumbilder, psychisches Tyndallphänomen,
Spaltung des subjektiven Außenraums unter dem Einfluß von Herden
in der parieto-okzipitalen Konvexität, Spaltung des Körperbilde:s
unter dem Einfluß interparietaler Herde kombiniert mit Thalamus-
herden usw.) gezeigt, daß die Bildung eines Hintergrundes, aus
dem sich die gestalteten Wahrnehmungen scharf konturiert hervor-
heben, eine Leistung ist, in der die reflexspaltende Eigenschaft der
Thalamusrindenkorrelation eine Hauptrolle spielt; wir zeigten, daß es
Störungen dieses Vorganges sind, infolge deren der Hintergrund des
Weltbildes wie des Körperbildes sich entmischt, die freie Gestaltung
der Wahrnehmungen leidet und agnostische Störungen einer be-
stimmten Art entstehen. Seither hat auch Goldstein (im Anschluß
an psychologische Versuchsanordnungen von Rubin) betont. daß
er die Hintergrundbildung für eine wichtige zentrale Leistung hält.
die in der Arbeit jedes einzelnen Rindenfeldterritoriums zum Aus-
druck kommt.
Hoff und Schilder sprechen hier vom Körperschema.
Dies geht zurück auf den Begriff des „postural model of ourselves“.
den Head geschaffen hat. Head hat (bereits 1911) ausgesprochen.
daß es ein Bezugssystem gibt, das relativ beständig ist und daß
„jede neue Gruppe von Sensationen, erweckt durch Änderung der
Haltung, auf dieses System bezogen wird.“ Das Headsche Schema
ist also ein Schema der Körperhaltung und (zunächst) nicht
ein Schema des Körpers. Wir selbst haben in den früher zitierten
Befunden dargetan, daß dieses Schema einem räumlichen Koordina-
tensystem entspricht, dessen Medianebene durch die Symmetrieebene
des Körpers geht und mit ihr verschoben wird.
Wir wenden uns keineswegs dagegen, daß Schilder, der den
Begriff Heads unter der Bezeichnung Körperschema in die deutsche
Fachliteratur eingeführt hat, die Allästhesie, die A. Pick schen sog.
Störungen der Orientierung am eigenen Körper und manche aprakti-
schen Reaktionen, die Foleewirkungen der Pickschen ,,Autotop-
Agnosie“ sind, auf eine „agnostische Störung des Körperschemas“
bezogen hat. Das letztere ging bereits aus unseren Befunden bei
Läsion des linken unteren Scheitellappens hervor, die Schilder
ausführlich berücksichtigt; das erstere stimmt mit unseren übrigen
Ergebnissen — so auch mit den hier referierten Befunden — voll-
kommen überein. Wir vermissen im Ausdruck Körperschema nur
jene ursprüngliche Beziehung zur Körperhaltung und zu den
Hauptebenen des dreidimensionalen Raumes, die in der Head schen
Fassung bereits gegeben war.
— 265 —
Dieser Mangel drückt sich in dem späteren Gebrauch des Wortes
durch andere Autoren aus, bei denen es oft eine letzte Instanz ist,
über die hinaus die Untersuchung nicht gehen kann oder will. Sogar
Schilder selbst ist unseres Erachtens der Gefahr des neuen Schlag-
wortes nicht ganz entgangen. Er hebt z. B. hervor, daß „der indu-
zierte Tonus im Sinne Goldsteins, der Tonus, der von den Zentren
der Medulla oblongata und des Mittelhirns, vom Kleinhirn-Stirnhirn
und der Parieto-Okzipitalregion abhängig ist, der Tonus der Haltungs-
und Stellreflexe das Körperschema verändert“, da die Nor-
mallage im Sinne der Zugrichtung verlagert erscheint. Er sieht darin
„einen wesentlichen Unterschied gegenüber dem Hypertonus nach
Pyramidenbahnläsion und dem Hypertonus nach striopallidär-nigrärer
Läsion“. Diese Besonderheit ist im Sinne der ursprünglichen Fassung
von Head selbstverständlich, da das Posturalschema Heads eben
ein Schema der Körperhaltung ist. Nach unseren Ergebnissen ent-
stehtes durch eine thalamokortikal bedingte Spaltung der tonischen
Reflexe und durch die Verwendung ihrer sensorischen Elemente als
Bausteine der Lokalzeichenbildung. Ist die Erregung oder Erregbar-
keit dieser Reflexkreise verändert, so muß die Veränderung konform
in diesen sensorischen Bausteinen zum Ausdruck kommen. Es er-
scheinen Riehtungsveränderungender Wahrnehmung,
wie in unserem Beispiel von gerichteter Metamorphopsie.
In der Tat hat zuerst v. Weizsäcker Fälle beschrieben, in
denen eine (gleichseitig monokuläre) Metamorphopsie mit Prädilek-
tion bestimmter Richtungsfehler mit Enthemmungserscheinungen
labyrinthärer Reflexe zusammenhing: der erste Befund v. Weiz-
säckers fällt in die Zeit vor unseren Beobachtungen. Später hat
Goldstein bei Kleinhirnkranken Abänderungen der Lokalisation
von Sinnesreizen durch andere Sinnesreize erzielt und sie auf die Wir-
kung der Tonusveränderungen bezogen. Wir vermissen auch hier
den naheliegenden Vergleich mit unseren Fällen von gerichteter Meta-
morphopsie bei okzipitalen Herdläsionen; er hätte mühelos den Zu-
sammenhang bestätigt, den wir formuliert hatten: „daß es spezi-
fisch gerichtete, spezifisch richtende Erregungsfraktio-
nen sind, die aus einer ursprünglich zentrifugalen Richtung abgelenkt
und in Vorgänge bei der Wahrnehmung umgewandelt werden,‘ sowie,
daß die Rotationskomponente der gerichteten Störung der Wahrneh-
mung „vestibulären Systemen entstammte“.
Die Befunde von Goldstein, Hoff und Schilder, Gelb,
die eine Änderung der Wahrnehmung des eigenen Körpers und der
Außenwelt während des Ablaufes induzierter Tonusveränderungen
Herrmann-Pötzl, Optische Allästhesie (Abhdl. H. 47). 18
— 266 —
enthalten, zeigen, daß Veränderungen innerhalb der propriorezep-
tiven Erregungskreise im Vorgang der kortiko-thalamischen Reflex-
spaltung zum Vorschein kommen können; unsere Befunde zeigen, daß
Störungen der reflexspaltenden kortiko-thalamischen Wirkung die
Bilanz in den Erregungskreisen der tonischen Reflexe im Sinne von
Enthemmungsphänomenen verändern.
Bezieht man den Einfluß von Enthemmungen tonischer Reflexe
auf die Wahrnehmung (mit Goldstein und mit Schilder) auf
den „induzierten Tonus“, auf das „Zwischenglied der Tonusverände-
rungen“, -— betont man, daß „diese Beeinflussungen auf lediglich
physiologischem Wege“ geschehen — so entspricht dies unserer An-
schauung; wir erinnern daran, daß wir schon seit langer Zeit die
tonischen Enthemmungsphänomene und ihre Rückwirkung auf psy-
chische Leistungen mit dem Uexküllschen Phänomen des Tonus-
fangs bei Wirbellosen verglichen haben. Die entwicklungsgeschicht-
liche Betrachtung, die im vorigen Abschnitt dieser Arbeit enthalten
ist, weist auf Zwischenglieder zwischen diesen im System der Tiere
weit entfernten, verglichenen Vorgängen hin: bei gewissen Wirbel-
losen (Nematoden, Anneliden, Crustacen) existieren bekanntlich
Neurochorde, (allerdings nicht bei der Gephyree Sipunculus, dem
Uexküllschen Hauptbeispiel für den Tonusfang). Rohde hat
(1890) bei Polychäten (Aphrodite, Sthenelais) eine Gruppierung der
Neurochordzellen gefunden, die eine auffallende Ähnlichkeit hat mit
der Gruppierung bei Amphioxus: Eine Anzahl oral liegender Neuro-
chordzellen, deren Kolossalfasern aboral verlaufen, eine Gruppe ab-
oraler Neurochordzellen mit aszendierendem Faserverlauf und einem
medianen unpaaren Neurochord. Es ist somit nicht ohne morpho-
physiologische Zwischenglieder, wenn man die Phänomene des ent-
hemmten Tonus bei den Wirbeltieren mit dem Tonusfang (v.Uexküll)
nach Entfernung des Bauchstranges bei Sipunculus vergleicht.
_ Wenn es sich um die Rückwirkung von Erscheinungen eines ent-
hemmten Tonus auf sensorische Vorgänge handelt, wie in unse-
ren Beispielen und in den Beispielen von v. Weizsäcker, Gold-
stein, Hoff und Schilder, so ist vor allem die Tatsache zu be-
achten, daß zwischen den Richtungen, nach denen die Tonus-
enthemmung geht, und den Richtungen, nach denen hin die Wahr-
nehmung verzerrt, verändert, oder auch — je nach den besonderen
Bedingungen des Vorgangs — als unverändertes Ganzes im Raum
falsch lokalisiert wird, gesetzmäßige Beziehungen bestehen: für die
klinisehe Betrachtung erscheint dabei ein Vorgang gestört, der
Richtungen der tonischen Erregung in Richtungsfaktoren der
Wahrnehmung verwandelt. Beachtet man dies, so wird die Be-
ziehung zwischen veränderten Tonus und veränderter Wahrnehmung
anschaulich; sie entspricht dem Uexküllschen Schema von Produk-
tion und Verschiebungen des Tonus, von dem wir ausgegangen sind.
Die Zentren erscheinen danach als Reservoire des Tonus; es ist
verständlich, daß bei der Reflexspaltung durch die thalamo-kortikale
Wirkung aus den tieferen Reservoiren spezifisch gerichteter Tonus ge-
hoben und unter Invarianz seiner Richtungsqualität auf die verschie-
denen Rindenfelder zerteilt wird. Wir haben diesen Vorgang mit dem
Heben des Wassers gegen die Schwere verglichen, wie es das Saft-
steigen der Pflanzen enthält; wir wiederholen diesen Vergleich hier
noch einmal.
Was wir hier besprochen haben, sind einzelne Komponenten
dessen, was in seiner Gesamtwirkung einen „Tonus des Bewußtseins‘“
ergibt; Berze hat von einem solchen gesprochen und in den psychi-
schen Veränderungen bei der Schizophrenie eine „Hypotonie des Be-
wußtseins‘‘ gesehen. Berze hat die von ihm angenommene Akti-
vierung psychischer Vorgänge mit einer besonderen Leistung
des Thalamus in Verbindung gebracht; wie man sieht, berühren
sich die Anschauungen von Berze, die aus psychologischen und
psychiatrischen Tatsachen gewonnen worden sind, vielfach mit unse-
ren eigenen Ergebnissen und Anschauungen. Nur in einer Beziehung
unterscheidet sich unser Standpunkt auch von Berze prinzipiell:
Berze war geneigt, die von ihm supponierte aktivierende Leistung
in den Thalamus zu lokalisieren, d. h. sie ihm allein als Eigen-
leistung zuzuschreiben; wir haben im Gegensatz dazu immer die Rin-
den-Thalamus-Korrelation als eine funktionelle und trophische Ein-
h eit betrachtet und niemals eine psychologisch faßbare Eigenleistung
in bestimmte Systeme ausschließlich lokalisiert, wohl aber Kompo-
nenten solcher Leistungen. Was über die Verteilung der patho-
logischen Veränderungen bei der Schizophrenie seither bekannt ge-
worden ist (Josephy, Münzer und Pollak, Fiinfgeld u. a.),
entspricht eher unseren Anschauungen; wie wir meinen, sind sie ge-
eignet, den Widerspruch zu beseitigen, der zwischen den Voraus-
setzungen Berzes und der bisher gefundenen Verteilung der sicht-
baren Hirnschädigungen bei der Schizophrenie besteht.
Head und Holmes stellen in ihren — gegenwärtig tonangeben-
den — Ansichten ebenfalls den Thalamus in einen gewissen Gegen-
satz zur Großhirnrinde; dieser Gegensatz soll klinisch zum Ausdruck
kommen können, wenn auch „im täglichen Leben alle Reize mehr
oder weniger Thalamus und Rindenzentrum zugleich erregen“.
18*
— 268 —
Fiir Head und Holmes ist die sensorische GroBhirnrinde ein
Organ, „dureh das die Aufmerksamkeit konzentriert werden kann
auf den Körperteil, der die Stelle des Reizes ist“. Unter normalen
Bedingungen sei die Tätigkeit des Thalamus von der Rindentätigkeit
beherrscht. Die Neugruppierung der sensorischen Impulse im
Thalamus geschieht so, daß sie sowohl auf „ihr essentielles Zentrum“
(im Thalamus) „und auf die sensorische Rinde Einfluß nehmen kön-
nen.“ Das Teilzentrum im Thalamus soll eine auswählende
Eigenschaft besitzen: es wird erregt durch empfindende Ele-
mente und lehnt es ab, mit solehen Impulsen zu reagieren, die der
reinen Diskrimination zugehören. Diese hingegen werden
leicht vom sensorischen Rindenzentrum angenommen. Wie man sieht.
sind unsere Ergebnisse mit dieser Auffassung von Head und Hol-
mes vereinbar; in der Korrelation Pulvinar-Großhirnrinde z. B. sind
es lokalzeichengebende, also besonders der Diskrimination dienende
“aktoren, die den Thalamus scheinbar unverändert passieren und
auf dem Wege der Kortiko-thalamischen Bahnen die Rinde erreichen.
Wir nehmen hier zu den Anschauungen von Head und Holmes
nicht eingehend Stellung, soweit sie Unterschiede zwischen der
Eigentitigkeit der Rinde und des Thalamus betreffen; die Beispiele.
die wir selbst hier besprochen haben, beziehen sich auf besondere
Verhältnisse, in denen die Thalamusrindenkorrelation als etwas ein-
heitlich Arbeitendes erscheint.
Wie uns scheint, liegt der Hauptunterschied zwischen unseren
Ergebnissen und den Anschauungen von Gelb, Goldstein,
Kleist, Schilder darin. daß wir in der Beziehung zwischen
Orientierung und Lokalisation im Raum einerseits. den proprio-
rezeptiven tonischen Reflexen andererseits vor allem die Spaltung
dieser Reflexe berücksichtigen: die zitierten Autoren scheinen uns eher
an eine Wirksamkeit dieser Retlexe selbst zu denken, in der sie als
etwas Ganzes. Ungeteiltes weiterbestehen. So spricht z. B. Kleist
(für extrapyramidale Bewegungsstörungen) von einer Enthemmung
von Bausteinen der Bewegungsformen: wir würden im gleichen
Fall von einer Störung eines zentralen reflexspaltenden Vorgangs
spreehen. dureh den Bewerungseffekte enthemmt und Bausteine für
die Bewegungsmelodien aus ihnen nicht gebildet werden. An einem
solchen Beispiel betrachtet, erscheint der Unterschied, den wir hervor-
heben, als subtil und vielleicht als unwesentlich. Dennoch liegt in
ihm eine Verschiedenheit, die zwei gegensitzliche, miteinander un-
vereinbare Anschauungen kennzeichnet.
— 269 —
Die eine Anschauung stellt den Reflex als elementare
Einheit der innervatorischen Tätigkeit auf; diese Anschauung geht
auf Sherrington zurück; für sie sind die zentralen Erscheinungen
bei der Wahrnehmung und bei der Bildung von Bewegungsmelodien
Teilphasenmodifizierter Reflexe; die andere Auffassung,
zu der wir uns bekennen, verwirft die Vorstellung, daß der Reflex
eine elementare Einheit des innervatorischen Geschehens sei; der
Reflex erscheint vielmehr als etwas, das aufgebaut und wieder ab-
gebaut wird; die stationären Reflexe sind nur ein Sonderfall; phylo-
genetisch betrachtet erscheinen auch sie nur als quasistationär.
Diese Anschauung geht zurück auf Jennings; sie wird mehr oder
weniger geteilt von Kappers, von Graham Brown u. a.; sie
findet eine besondere Formulierung in der Bokschen Theoriedes
Reflexkreises,nach der die Morphogenese der Reflexe folgender-
maßen eingeleitet wird: Vor dem Entstehen eines Reflexbogens gibt
die Kontraktion des Muskels Anlaß zu Sinnesreizen; nach dem Ent-
stehen des Retlexbogens gibt der (homologe) Sinnesreiz Anlaß zu
Kontraktionen des Muskels.
Die Morphogenese der thalamo-kortikalen Reflexspaltung, die wir
in den« vorigen Abschnitten dargestellt haben, erscheint als eine
Weiterführung dieser Bokschen Theorie des Reflexkreises. Aller-
dings ist dabei zu beachten, daß das Wort Sinnesreiz viel Unbestimmtes
in sich enthält und daß man darunter nicht allein den Fluß gebahnter
zentripetaler Erregungen zu verstehen hat, sondern auch spezifische
tropistiscehe Wirkungen im Sinne Cajals und hormonale
Wirkungen während des Wachstums. Es ist eine Fragestellung für
sich, ob und wieweit hormonale Wirkungen elektiv und spezifisch
auch auf verschiedene Anteile des zentralen Nervensystems sich er-
strecken in Analogie der spezifischen Wechselwirkung zwischen
Hormonen und autonomen Nervensystem. Aber nicht nur der
werdende kortikale Reflexbogen erscheint uns als Ausdruck einer
Spaltung tieferer Erregungskreise und der Ablenkung einer spezifi-
schen Energie nach oben; auch in jenen Vorgängen, die in den bereits
geschlossenen kortikalen Reflexbogen sich abspielen, während des
individuellen Lebens erscheinen uns die Phänomene, die die Leistun-
gen des Bewußtseins vom Reflex unterscheiden, die gestaltende Wahr-
nehmung, die Bildung spezifischer Bewegungsmelodien, die Konzen-
tration der Aufmerksamkeit usw., als Ausdrücke einer Spaltung von
Reflexen und einer Neuordnung von Erregungsfraktionen, nicht aber
als eine Folgewirkung bedingter Reflexe.
Wir kommen damit auf die bedingten Reflexe von Pawlow zu
sprechen. Sie erscheinen uns als zentrifugale Effekte innerhalb der
neuentstandenen und neuentstehenden, über die Rindenfelder gehen-
den Erregungskreise, die aus der Spaltung der tieferen mesenzephalen,
bulbären und spinalen Reflexe entstanden sind und während des
Lebens weiter entstehen. Sind solche kortikale Reflexkreise bereits
mechanisiert, produzieren sie Effekte, die sich bereits der Wirkung
subkortikaler einstellender Reflexe nähern, so können sie weiteren
interkortikalen Spaltungen unterliegen, aus denen wieder
ein „Bündel von Reflexen“ (v. Uexküll) sich entwickelt, in Gestalt
bedingter Reflexe Pawlows. Störungen solcher interkortikaler
Reflexspaltungen lassen sich aus den klinischen Befunden der
Agnosie, der Apraxie, der Aphasie usw. ablesen, in denen
übrigens vielfach auch die kortiko-thalamische Korrelation mitgestört
ist. Die gestaltete Wahrnehmung ist nicht eine Phase innerhalb
solcher bedingter Reflexe; viel eher geht sie aus deren Spaltung her-
vor. Wir können dies hier nur andeuten; die Hemmungsphänomene.
die die Gegenreaktion der Zentren enthält, werden nicht verständlich,
wenn man sie auf eine Hemmung bedingter Reflexe zurückführen will;
umgekehrt wird die negative Phase und die Hemmung der bedingten
Reflexe, wie sie Pawlow und seine Schule nachgewiesen haben, aus
zwei reziproken Zuständen verständlich, der Bildung von Vordergrund
und Hintergrund bei der Wahrnehmung, die hier auf die Gegenreaktion
der Zentren zurückgeführt worden ist.
Der Schluß der Erregungskreise, die über den Kortex gehen, er-
folgt verhältnismäßig spät, durch die Entwicklung der kortiko-
fugalen Thalamusbahnen und durch die Reifung der zugehörigen An-
teile des interkortikalen Assoziationsapparats. Die letztere Phase ist
bekanntlich bis in das reife Lebensalter hinein noch nicht vollendet
(Kaes); dem entspricht es, daß während des ganzen individuellen
Lebens bedingte Reflexe durch Übung und Gewöhnung aufgebaut,
durch Verlernen abgebaut und in anderen Kombinationen wieder neu
gestaltet werden.
Betrachten wir die reflexspaltende Wirkung des Systems Tha-
lamus-Großhirnrinde zu der Zeit, in der die neuen kortikalen Er-
regungskreise schon gestaltlich geschlossen sind, also während des
individuellen Lebens, so entspricht jedem reflexspaltenden Vorgang
durch dieses System nicht nur die Hebung und Zerteilung zentripeta-
ler Erregungen, sondern auch eine Hebung und Zerteilung zentri-
fugaler (motorischer) Erregungen, die aus dem zentrifugalen
Schenkel des Systems Großhirnrinde-Thalamus gleichsam abgesogen,
— 271 —
in der Großhirnrinde aber fein dispers verteilt werden. Erst der
Zusammentritt der dispergierten zentripetalen Erregung mit diesen
ursprünglich zentrifugalen Elementen führt zu einer Neugruppierung
im Sinne gestaltender Wahrnehmungen und kohärenter Bewegungs-
melodien. Wie sich dies aus einzelnen klinischen Beispielen ablesen
läßt, geht aus den Fällen gerichteter Selamorplopsie hervor, die wir
auch hier herangezogen haben.
In der Entwicklungsmechanik | erscheinen die kortikalen Er-
regungskreise noch nicht als geschlossen. Die erste Gegenreaktion
der Rinde auf die einstrahlenden Thalamusfasern ist die Kommis-
surenbildung; sie scheint den spezifischen Effekt der. Einstrah-
lung thalamischer Fasern bilateral symmetrisch zu dis-
pergieren. Als Organ, das dabei reagiert, betrachten wir die
gesamte Großhirnrinde in jenem frühen, unreifen Zustand, dem
diese Entwicklungsphase entspricht. Dabei schein die stark geschich-
tete, basale, peristriatäre Lage des Hirnmantels .eher negativ tro-
pistisch zu wirken, die schmale Scheitelregion der Mediane aber posi-
tiv anziehend’). Jedenfalls ist diese Art der Verteilung wirksamer
Kräfte erblich fixiert. Da die erste Balkenbildung sowohl wie die
positive Attraktion der ersten thalamo-fugalen Fasern auf jenes
bilateral-symmetrische Mediangebiet der Großhirnhälfte hinzielt, das
auch in der Reife der Träger einer Grundlage des Koordinaten-
stems des subjektiven Raumes ist, entspricht offenbar
2 attrahierende Kraft, die dasselbe Gebiet im unreifen Zustand aus-
übt, einem Erbfaktor, der einer raumbildenden Tätigkeit im
reifen Zustand homoler zugeordnet werden kann: Da die raum-
bildende Tätigkeit während des Lebens auf einer Speicherung zentri-
fugaler Erregung und der Attraktion konformer zentripetaler Er-
regungen aus den tieferen Kreisen der tonischen Reflexe beruht, kann
man den korrespondierenden Erbfaktor als eine Resultierende be-
trachten, die aus einer (über phylogenetische Zeiträume summierten)
spezifischen Speicherung solcher Erregungselemente und ihrer Bin-
dung innerhalb der Zelltätigkeit entstanden ist; doch kommt nur
jene Minimalwirkung dieser Vorgänge in Betracht, die eine Verände-
rung des Keimplasma zu induzieren vermag. Solche Erbfaktoren
werden im allgemeinen in die Zellkerne verlegt; man kann sich daher
1) In Anwendung einer Anschauung von Bok würde dies mit der
von Bok behaupteten Homologie des Striatums mit der Hisschen Grund-
platte, des medianstrebenden Pallium mit der Hisschen Flügelplatte überein-
stimmen (L. e. S. 693f.).
— 2172 —
vorstellen, daß die Kerne der Pyramidenzellen in der bezeichneten
‘unreifen Region des Hirnmantels besonders begünstigte Träger dieses
Erbfaktors sind oder, was wahrscheinlicher ist, daß sie während
einer bestimmten Phase der Differenzierung mit ihm beladen
werden.
In der Grundlage der Leistung dieses symmetrischen Gebietes
der Großhirnmediane ist also etwas enthalten, was man als phylo-
genetische Erinnerung bezeichnen kann. Sie erscheint gleichsam als
Kondensationskern, um den sich die Selbstdifferenzierung der Wachs-
tumsriehtungen gruppiert, zunächst die Einstellung der einzelnen
Zellen und ihrer gegenseitigen Abstände, dann erst die Wirkung der
reifen ThalamusgroBhirnkorrelation; die letztere enthält nach der
vegetativen Seite hin wechselseitige trophische Beeinflussungen, nach
der funktionellen Seite hin eine Speicherung spezifischer Erregungen.
die die Struktur der Zellen verändern und sieh dabei gegenseitig
gebunden halten. Man wird geneigt sein, diese Speicherung der Er-
regung und die Bindung ihrer Residuen, ihre Überführung in den
Zustand einer Latenz mit dem Vorgang der Erinnerung wäh-
rend des individuellen Lebens in Beziehung zu bringen;
den Erinnerungen der jüngsten Vergangenheit würden dann die
letzten Strukturveränderungen dieser Zellsysteme entsprechen, die
sie durch die Speicherung der Erregung in der Gegenreaktion auf
wiederkehrende Situationen erfahren haben; daß diese Veränderun-
gen zu subtil sind, um einzeln für sich morphologisch nachweisbar zu
sein, versteht. sich von selbst.
Man gewinnt so eine gewisse Anschauung darüber, wie man sich
die Existenz sogenannter Erinnerungszellen vorstellen kann, ohne die
einzelnen Erinnerungsbilder auf Zellen zu beziehen. Die Zell-
systeme, denen die Fähigkeit, Erregung aus den tieferen Retlex-
kreisen heranzuziehen, besonders intensiv eigen ist, müssen nicht
notwendig mit den Zellsystemen identisch sein, die eine besonders
starke Fähigkeit haben, diese Erregung zuspeichern. Nennt man
die letzteren Erinnerungszellen, dann entspricht die einzelne Erinne-
rungsspur, die eine solche Zelle enthält. einer gleichzeitig entstande-
nen Strukturveränderung; sie ist das Örtliche Differential der Verän-
derung, die die ganze Hirnrinde in der betreffenden Situation erfahren
hat und von der jedes Teilsystem nur eine Komponente enthält. Be-
stimmte Erinnerungen entsprechen also bestimmten Alterationen des
resamtorgans; man kann sich aber das Gesamtfeld der Erinne-
rung als sehichtenweise trennbar vorstellen, ohne daß seine Sehich-
tung mit den Schichten der Hirnrinde in einen unmittelbaren Zu-
— 273 —
sammenhang gebracht werden muß. Auch darf man sich das Feld
der Erinnerung mosaikartig aufgebaut vorstellen, ähnlich wie das
Gesichtsfeld.
6. Die spinulen Rezeptoren der sensiblen Erregung.
Die Übereinstimmung der Mechanismen spinaler und optischer
Allästhesie hat sich im vorigen immer wieder gezeigt. Wir wollen
hier noch einmal den Versuch von Dusser de Barenne heran-
ziehen und beachten, daß bei ihm die Strychninwirkung eine
Hauptrolle spielt.
Meyer und Gottlieb haben in Berücksichtigung der Ergeb-
nisse Dusser de Barennes den Satz aufgestellt, daß gleich-
zeitige koordinierte Kontraktionen ganzer Muskelgruppen nur durch
Vermittlung der rezeptorischen Neurone erzeugt werden kön-
nen, die überall miteinander durch Kollateralen verflochten sind; die
motorischen Neurone hingegen, die morphologisch mehr isoliert sind,
können Erregungszustände aufeinander nicht übertragen. „Es ist in
der Tat noch nie gelungen, durch künstliche Erregung eines motori-
schen Nerven in einem anderen motorischen Neuron eine Erregung
auszulösen (Meyer und Gottlieb).
Für die Träger zentrifugaler Wirkungen in der Großhirnrinde
gilt Ähnliches. An den Gruppierungen der Pyramidenzellen, an den
Faszikeln ihrer efferenten Axonen, an den kortiko-fugalen Anteilen
der Korrelation Thalamus-Großhirnrinde ist es nicht schwer, eine
mosaikartige, räumlich distinkte Eigenleistung abzulesen, die dem
Gesetze der Körperprojektion entspricht. Damit stimmt überein, daß
wir hier Beziehungen der Retinaprojektion und der Körperprojektion
kennen gelernt haben, die sich auf Eigenleistungen der zentri-
fugalen und der kommissurenbildenden Apparate der
(roßhirnrinde erstrecken; aus der Morphologie der Endigungen der
optischen Fasern in der Area calcarina würde sich zunächst eher ein
Strychnintetanus des Sehnerven ableiten lassen, als das binokuläre
Gesichtsfeld und die Bilder, die es erfüllen.
Auch für die Bolksche projektive Beziehung zwischen einzel-
nen Anteilen des Körpers und einzelnen Anteilen des Kleinhirns
gilt etwas Analoges: Die Art, wie die afferenten (z. B. die spinozere-
bellaren) Bahnen einstrahlen, hat den Autoren Verlegenheiten berei-
tet; sie ließ sich nicht recht in das Prinzip der Körperprojektion ein-
ordnen. „Die funktionelle koordinatorische Lokalisation, wie Bolk
sie sich denkt, bezieht sich aber auf die effektorische (also effe-
rente) Beherrschung der Körperteile“ (van Valkenburg, zit.
von Kappers). Es ist also auch im Kleinhirn wieder der effe-
rente (und der kommissurenbildende) Apparat, durch den die Kör-
perprojektion und die Beziehungen zur Körpermediane für den Aufbau
wie für die Leistungen des Organs zur Anschauung kommen, nicht
aber die Art der Einstrahlung und Dekomposition von Moos- und
Kletterfasern. | Oe
Diese Übereinstimmungen lassen darauf schließen, daß der
eigentliche Sinn der Morphologie der einstrahlenden sensiblen und
optischen Fasern bis jetzt noch verborgen geblieben ist. Selbstver-
ständlich ist die enthemmte tetanische Leistung des Strychnin-
krampfes nicht das physiologische Ziel dieser Anordnungen. Wir
haben bereits wiederholt davon gesprochen, daß die einstrahlenden
zentripetalen Fasern einen gestaltlichen Ausdruck enthalten für die
Notwendigkeit, einen Hintergrund des Weltbildes zu schaffen.
aus dem sich die gestalteten Eindrücke scharf hervorheben und in
den sie wieder zurücksinken können, wenn man ihrer nicht mehr be-
darf. Wir wollen nunmehr die Morphologie der einstrahlenden sen-
siblen und optischen Fasern auf diesen Gesichtspunkt hin genauer
durchsehen.
Wir betrachten zuerst die Dekomposition der hinteren Wurzel-
fasern an den verschiedenen Rezeptorenzellen, die das Grau des
Rückenmarkes enthält; eines dieser empfangenden Systeme ist es.
dessen polarisierende Wirkung auf die sensiblen Erregungen einen
Richtungsfaktor überträgt; wir sind bereits (S.243) zu gewissen
Anschauungen darüber gekommen, welches der Zellsysteme des
Hinterhorns dafür besonders in Betracht kommt.
Wir können selbstverständlich hier nicht alle Einzelheiten wie-
derholen, die in der Grundlage aller derartiger Betrachtungen ent-
halten sind: in den Forschungen Ramon y Cajals über die sen-
siblen Kollateralen und über die Zellen, an denen sie enden. Wir
bemerken aber, daß jede solche Einzelheit von uns sorgfältig berück-
sichtigt worden ist; die wenigen, für unseren Zusammenhang wicht!i-
gen Hauptpunkte, die wir hier hervorheben, sind nicht in Wider-
spruch mit allem dem, was wir nicht erwähnen.
Da es im Dusser de Barenneschen Versuch das nicht ver-
ciftete Hinterhorn war, von dem aus die Richtung der Allästhesie
bestimmt worden ist, interessieren uns zunächst die Kollateralen sen-
sibler Wurzelfasern, die im Hinterhorn enden; von diesen kommen
die Kollateralen des Kopfes und der zentralen Partie des Hinter-
horns, sowie die Kollateralen der Rolandoschen Substanz besou-
ders in Betracht (vgl. S. 256).
— 275 —
Es ist bekannt, daß die letzteren sich am spätesten entwickeln -
(Cajal). Ihre Entwicklung ist mit der Geburt noch nicht vollendet.
Die Verzweigungen nehmen oft erst das vordere (ventrale) Drittel
der Substantia Rolando ein und schreiten in den nächsten Tagen nach
der Geburt von dort zum dorsalen Grenzbezirk fort. Bereits ent-
wickelt sind beim Neugeborenen die Kollateralen des Hinterhorn-
kopfes und der zentralen Partien des Hinterhorns.
Wir haben in einem vorigen Abschnitt Anhaltspunkte dafür ge-
funden, daß der rezeptorische Apparat im Hinterhorn aus einem
System besteht, das ausschließlich richtende Lokalzeichen er-
teilt und aus einem System, das neben dieser Tätigkeit in einer
elektiven Weise die Empfindungsqualitäten der Oberflichensensibili-
tät aufnimmt und zentralwärts weitergibt. Von dem ersten, Lokal-
zeichen gebenden Apparat nahmen wir an, daß er in der Entwicklung
voraneilt; das tardive Verhalten der Kollateralen, die für die Sub-
stantia Rolando bestimmt sind, ihre rasche Entwicklung in der Zeit
nach der Geburt kann als Parallele zu der Anschauung Jacob-
sohns betrachtet werden, der die Substantia Rolando als Nucleus
sensibilis proprius bezeichnet hat.
Daraus ergibt sich die Vermutung, daß sich auf dem Wege der
Kollateralen der zentralen Hinterhorngegend propriozeptive Erre-
gungsfraktionen entmischen, die der richtende Apparat im Hinterhorn
an sich heranzieht; die Substantia Rolando wäre das erste rezepto-
rische System, an dem sich Erregungsanteile entmischen, die den
spezifischen. Empfindungsqualitäten der im kontralateralen Seiten-
strang weitergeleiteten Oberflächensensibilität zugeordnet sind.
Cajal hebt die enorme Menge der feinen vertikalen Fasern
hervor, die zu den Kollateralen des zentralen Hinterhornbereiches ge-
hören, ferner, daß sie zum Teil von den eintretenden Wurzeln schon
abgehen, bevor sich diese in ihre auf- und absteigenden Äste teilen.
Die zentralen Kollateralen des Hinterhorns kommen teils vom Bur-
dachschen Strang her, teils aus der Lissauerschen Randzone;
viele von ihnen teilen sich im Kopf des Hinterhorns in einen auf-
steigenden und absteigenden Ast. Man kann in allen diesen Eigen-
schaften Übereinstimmungen sehen mit dem hier angenommenen
Schicksal dieser Fraktionen der zentripetalen Erregung: daB sie von
den richtenden Zellsystemen des Hinterhorns zu einer Hintergrund-
wirkung verarbeitet werden, aus denen sich die Lokalzeichen scharf
hervorheben. Es ist wahrscheinlich, daß ein Teil dieser Erregungs-
fraktionen auch für die Leitung von Erregungen bestimmt ist, die
dem Tastsinn zugehören; dies entspricht der allgemein geläufigen
klinischen Auffassung, daß die Leitung des Tastsinns durch die
Hinterstränge und durch die Seitenstränge geht. Der resultierende
gebahnte Erregungsfluß, der dem Tastsinn zugeordnet ist, entspricht
klinisch einer gleichseitigen Leitung im Rückenmark; daraus würde
sich ergeben, daß dasselbe richtende Zellsystem, das der sensiblen
Erregung den Weg nach der gekreuzten Rückenmarkseite verlegt, die
Leitung der taktilen Erregungen gegen die gekreuzte Seite hin ab-
schließt.
Das letztere deckt sich so ziemlich mit der bekannten Hypo-
these Oppenheims über die Entstehung der Hyperästhesie beim
Brown-Séquardschen Symptomenkomplex; auch stimmt über-
ein, daß die taktile Allästhesie und der Brown-Sequardsche
Symptomenkomplex relativ enge klinische Beziehungen zueinander
haben. Der Versuch Dusser de Barennes selbst ist die Kom-
bination der Brown-Sequardschen Halbseitendurchschneidung
mit der Strychninwirkung.
Die Kollateralen der Rolandoschen Substanz sind bekanntlich
nach Cajal von zweierlei Art: Die einen verlaufen oberflächlich und
zeigen ein schr feines Kaliber. Die anderen sind verhältnismäßig
dick, teilweise (nur in den Wegstrecken der längeren Äste) myelini-
siert und verlaufen tief, um von innen her, z. T. in bogenförmigen
Kurven in die Rolandosche Substanz einzutreten. Nur die letz-
teren sind es, die sich reihenweise in büschelförmige Verzweigungen
ordnen; diese sind — ähnlich den Endbüscheln des N. optieus im
Genikulatum — mit rundlichen Lücken versehen, in die je eine
Gruppe der Rolandoschen Zellen eingepaßt ist. Diese Tiefen-
kollateralen stammen mit Sicherheit von Wurzelfasern (zumal aus
der innersten Partie des Burdachschen Stranges). Wir sehen in
ihnen den gestaltlichen Ausdruck dafür, daß sich die Erregungen.
die der gekreuzten Leitung von Schmerz- und Temperatur-Empfin-
dung zugeordnet sind, in einzelne Quanten sondern; die Zellgruppen
der Rolandoschen Substanz, die von ihr umhüllt werden, erschei-
nen als die primären Rezeptorengruppen für diese Erregungsfraktio-
nen; wir halten sie aber keineswegs für die einzigen Rezeptoren, die
für sich allein, ohne Zusammenarbeit mit anderen Zellsystemen, ihre
elektive Transformation auf den gekreuzten Weg des Seitenstrangs
hin bewirken.
Die feinen oberflächlichen Kollateralen der Rolandoschen
Substanz stammen nach Cajal wahrscheinlich aus endogenen
Fasern (zumal des Burdachschen Stranges). Nach Cajals An-
schauung entsprechen sie zum Teil den feinen Axonen der
— 2717 —
Rolandozellen selbst, die aus anderen Höhen stammen. Es
besteht ein innerer Flügel dieser feinen Kollateralen, der dem Bur-
dachschen Strang entspricht und ein äußerer Flügel, dessen Ele-
mente aus der Lissauerschen Randzone stammen.
Nach Cajal gehören die feinen oberflächlichen Kollateralen
also zu einem System, das Querschnittswirkungen nach aufwärts und
abwärts kontinualisiert. Die kurzen Axonen der Rolandoschen
Zellen bilden Etagen, die an der Ordnung und Überschichtung der
Wirkungssphire der einzelnen Dermatome beteiligt sein dürften.
Durch alles dies wird die Ähnlichkeit der Rolandoschen Zellen
mit den Körnern der Sehrinde, die schon für die Betrachtung gewöhn-
licher Schnittfärbungen besteht, noch mehr herausgehoben; nach der
Art ihrer Gruppierung ließen sie sich auch mit den Zell-
gruppen des C. geniculatum laterale vergleichen. Sie bilden mit die-
sen und mit den Körnern zusammen Beispiele ähnlich gruppierter
bzw. ähnlich gestalteter primärer Rezeptoren. die Anteile von zentri-
petalen Erregungen attrahieren und die zentripetale Erregung har-
monisch teilen.
Die feinen Kollateralen, die nach Cajal (wenigstens teilweise)
Endigungen von Axonen Rolandoscher Zellen sind, verlassen die
Rolandosche Substanz nicht. Es ist aber bemerkenswert, daß —
wie Cajal hervorhebt — die Zellen der Hinterhornspitze und der
äußeren basalen Partien des Hinterhorns eine Anzahl von Dendri-
ten in die Läppchen der Rolandoschen Substanz schicken, in
denen sie sich verzweigen. „Diese Beziehungen sind interessant: sie
lehren, daß die Zellen des Hinterhorns die sensitive Welle nicht nur
an ihrem Körper aufnehmen, sondern auch an ihren rückwärtigen
Verzweigungen. Es wäre möglich, daß die sensiblen Kollateralen,
die mit diesen beiden Partien der protop asma tigchen Körper artiku-
lieren, verschiedene sind“ (Cajal).
Dies sowie die Abbildung, auf die Cajal verweist (Fig. 121
d. O.) deutet auf die Möglichkeit hin, daß die Dendriten der zentra-
len Hinterhornzellen ein zweiter Rezeptorenapparat für die Effekte
der Eigenleistung der Substantia Rolandi sind, während die Körper
derselben Zellen von zentralen Kollateralen umsponnen werden, die
ihnen Substrate zuführen, aus denen sie ihre spezifischen Richtungs-
faktoren bilden bzw. erblich fixierte Richtungsfaktoren aufrecht er-
halten und von Fall zu Fall aktivieren. Trifft dies zu, so enthält
jenes Teilsystem von Hinterhornzellen, an dem feine Rolandosche
Kollateralen sich verzweigen, ein anschauliches Bild für eine rich-
tende Wirkung auf die Eindrücke von Schmerz und Temperatur.
Diese richtenden Zellen liegen auf derselben Seite wie die zugehöri-
gen Bezirke der Rolandoschen Substanz; ist ihre Wirkung dem
Ergebnis des Dusser de Barenneschen Versuches konform, so
erteilt sie den homolateralen Richtungsfaktor an Er-
regungen aus dem Bereich von Schmerz- und Temperatureindrücken;
auch hier läßt sich an eine absperrende Wirkung des kommissuralen
Apparates denken, der diese Erregungen zwingt, einen gekreuzten
Weg gegen die Seitenstränge hin einzuschlagen, ohne physiologischer-
weise mit den symmetrischen Richtungszellen im Hinterhorn der
anderen Seite in Berührung zu kommen. Im Versuch Dussser
de Barennes sind die sonst verschlossenen Wege dieses isolieren-
den Apparates geöffnet; die Allästhesie erstreckt sich auch auf die
Schmerzempfindung; Dusser de Barenne selbst hebt hervor, daß
Eingriffe an der zentralen Leitung der Schmerzempfindung offenbar
einen besonderen Zusammenhang mit dem Entstehen der experimen-
tell bedingten spinalen Allästhesie enthalten (vgl. S. 72).
Die physiologische und klinische Tatsache der gekreuzten Lei-
tung von Schmerz- und Temperaturempfindungen beweist, daß die
Zellen des richtenden Systems, die derartige Erregungen aufnehmen
und mit Lokalzeichen versehen, diesen Erregungen physiolo-
gisch offene Wege nur gegen die Richtung der Kommissur hin be-
reiten; wenn also Zellen, die zu diesem System gehören, ihre Axonen
in den gleichseitigen Seitenstrang lenken, so bedeuten diese Axonen
ebenfalls physiologisch verschlossene Wege. Das Umgekehrte kann
man sich für die Zellen des richtenden Apparats für Tasteindrücke
vorstellen. Beide Apparate könnten dann — selbst. für die feinsten
morphologischen Methoden — gleichgestaltet und gleichgerichtet er-
scheinen; das Verhältnis der Richtungen ihrer physiologisch offenen
und physiologisch geschlossenen Erregungswege wäre eben ein rezi-
prokes.
In einem vorigen Abschnitt (vgl. S. 245) haben wir aus entwick-
lungsgeschichtlichen Gründen angenommen, daß die zentralen Zellen
des Hinterhorns — auch soweit ihre Axonen nicht gekreuzte Wege
verfolgen — eine spätere Apposition zu dem Gesamtsystem des Kom-
missurenbündels sind und mit ihm zusammen im reifen Organ
einen Gesamtapparat bilden. Wir nahmen ferner an, daß dieser Ge-
samtapparat erst in einer späteren Phase elektiv durchgängig wird
für Erregungsfraktionen, die den besonderen Qualitäten der Ober-
tlächenreize elektiv zugeordnet sind. Fügen wir diese Ansicht hier
an. so ergibt sich die — gegenwärtig ziemlich allgemein angenom-
mene — Vorstellung, daß die „Schmerz- und Temperaturbahn* im
i Se ee ee _
— 279 —
Anfangsstück ihres Weges durch die vordere Kommissur kreuzt.
Außerdem aber zeigen sich die Zellen des Kommissurenapparates als
beteiligt an der elektiven Auswahl besonderer Qualitäten zentri-
petaler Erregungen; wir bezogen dies im früheren (S. 255) auf ver-
schiedene Abstufungen ihrer hemmenden Kraft, die den Rhythmus
der zentripetalen Erregungswellen in gesetzmäßig abgestufter Weise
zu verändern vermögen, in einer Art, die in pathologischen Fällen
mannigfachen verschiebenden Störungen zugänglich ist. Schließen
wir auch dies hier an, so ergibt sich\abermals eine Konformität
in Aufbau und Leistungen der spinalen und der kor-
tikalen rezipierenden Apparate zweiter Ordnung:
Sie sind in beiden Fällen gruppierte Zellen mit kommissuraler
Axonenrichtung; die Pyramidenzellen, die ihre Axonen in den Balken
entsenden, und die Zellen der vorderen Kommissur sind dann nach
der Seite der Funktion hin vergleichbar; wie bei den kortikalen
Störungen des Farbensinns Lichtungen im Bereich von Pyramiden- —
zellenschichten erscheinen (Lenz), so vermögen Schädigungen der
Zellen der vorderen Kommissur gleichseitige Störungen der Schmerz-
und Temperaturempfindung auszulösen, wie etwa bei der Syringo-
myelie.
Die weitere Verfolgung des gekreuzten Weges der „Schmerz-
und Temperaturbahnen“ in den Seitenstrang gehört nicht mehr in
den Zusammenhang, dessen Darstellung wir hier anstreben, ebenso-
wenig die genauere Morphologie der Reflexkollateralen. Nur miissen
wir betreffs des ersteren Punktes hervorheben, daB man sich die Uber-
tragung in den gekreuzten Seitenstrang morphologisch zweifellos als
komplex gebaut, aus mehreren Neuronenketten bestehend, vor-
stellen muB'): es kommen dabei mindestens die Endigungen der
Fasern des Kommissurenbiindels (Cajal) und eine Ubertragung
auf die Strangzellen der gekreuzten Seite in Betracht, zwischen die
vielleicht noch jene unbekannte Zwischenschaltung gelegt ist, die
Brissaud angenommen hat und die der eine von uns (P.) als eine
Wechselwirkung der sympathischen Neurone des Proc. reticularis mit
Strangzellen des Hinterhorns auffaßt. Erst aus dieser letzten Phase
der richtenden Wirkung des Gesamtapparates würde sich jene For-
mierung der langen gekreuzten Seitenstrangbahnen gestalten, die
in einer Anordnung den Seitenstrang betreten, wie sie sich aus dem
‘) Wie übrigens neuerdings wieder durch die Erfahrungen
0. Foersters bei der Seitenstrangdurchschneidung am Menschen gezeigt.
worden ist. ebenso durch die Erfahrungen von Karplus über die Aus-
sparung der genitalen Sensibilität bei Querschnittsläsion.
— 280 —
klinischen Befund des Brown-Séquardschen Symptomenkom-
plexes verschiedener Höhen und verschiedener partieller Empfin-
dungsstörungen in bekannter Weise ablesen läßt. Mit dieser letzten
Phase scheint uns auch die Bildung der segmentalen Gelenks-
zonen von Störungen der Obertlächensensibilität zusammenzuhän-
gen, die Brissaud entdeckt hat und die neuerdings wieder von
O. Fischer in den Mitteipunkt des Interesses gerückt worden ist.
Was den zweiten Punkt betrifft — die Rolle der gekreuzten
sensiblen Kollateralen erster und zweiter Ordnung — so erübrigt sich
zunächst die Besprechung derselben, soweit sie Reflexkollate-
ralen sind. Was aber diejenigen Anteile betrifft, die annähernd
symmetrisch an Hinterhornzellen herantreten und sie umspinnen. so
braucht nur auf das verwiesen zu werden. was wir schon mehrmals
(S. 244) hervorgehoben haben: auf die relativ geringe Entwicklung der
Kollateralen der hinteren Kommissur beim Menschen und bei vielen
Säugetieren, auf den protoplasmatischen Charakter eines Teiles der
hinteren Kommissur usw.; alles dies sind Anzeichen, die es morpho-
logisch verständlich machen, daß es sich hier nur um Nebenwege der
Erregung handelt. die physiologisch verschlossen bleiben und erst
unter den pathologischen Bedingungen einer Irradiation der sen-
siblen Erregungen sich öffnen.
Wir sehen also eine weitgchende Konformität in der Anordnung
‘der Rezeptoren in der Medulla spinalis und der Rezeptoren erster
und zweiter Ordnung im Zwischenhirn und in der Großhirnrinde. Wie
sich dieselbe Anordnung in der Rinde des Kleinhirns wiederfindet —
in einer besonders Klar überblickbaren Weise — kann hier nicht aus-
geführt werden. Neben der Konformität zeigen sich auch die zu
erwartenden Unterschiede: im spinalen Apparat ist die mediane Be-
zugsebene eine trennende: im Apparat des binokularen Gesichts-
feldes ist sie eine vereinigende. Diesem Unterschied lassen sich
jene morphologischen Eigenschaften des zerebralen optischen Appa-
rats zuordnen, die wir ineinem vorigen Abschnitt (S. 211) — teilweise
in Übereinstimmung mit den Anschauungen von Kleist — be-
sprochen haben.
© Wie zu erwarten war, illustriert die Dekomposition hinterer
Wurzelfasern einen Hauptsinn ihrer enormen gestaltlichen Kompli-
kationen, der mit dem Vorgang der Hintergrundbildung und
der Abstimmung auf bestimmte Lokalzeichen zusam-
menhängt. Die Rezeptorenzellen spalten die zentripetale sensible
Erregung zunächst in zwei Hauptanteile: der eine ist bestimmt, für
die Hintergrundbildung verarbeitet zu werden und wird von den
— 281 —
Rezeptoren der Thalamus-Rinden-Korrelation in bezug auf seine
direkten Wirkungen ferngehalten; zu ihm gehört nicht bloß der hier
besprochene Anteil, der an den zentralen Zellen des Hinterhorns zu
den Richtungsfaktoren des Tastraumes verarbeitet wird, sondern
auch der mächtige Anteil der zentripetalen Erregung, den die Zellen
der motorischen Kerne von den Reflexkollateralen her aufnehmen,
und die Anteile, die die Clarkesche Säule und die ihr homologen
Gruppen empfangen, aus denen das Gowerssche Bündel hervorgeht,
Diese ganze Wirkung zusammengenommen ist einem Diaphragma
vergleichbar, aus dem nur ein Teil der zentripetalen Erregungen nach
Richtung und Qualitäten elektiv geordnet weiterströmt; ein zweites
Diaphragma dieser Art bildet der Thalamus, ein drittes die Groß-
hirnrinde; die Eigenschaften der beiden letzteren lassen sich im
Grundplan mit dem spinalen Diaphragma vergleichen und doch wie-
der im einzelnen als verschieden auffassen in der Weise, wie es in
früheren Abschnitten (S. 70) besprochen worden ist.
Eine gemeinsame Eigenschaft aller dieser Diaphragmen besteht
in einer gewissen Verschieblichkeit ihrer Wirkungen, der zufolge das,
was unter physiologischen Verhältnissen den Vordergrund im Bereich
der Wahrnehmungen bildet, auch zu seinem Hintergrund werden kann
und umgekehrt. Hier deuten sich Beziehungen zu zwei reziproken
Zuständen an, die in den zentralen Diaphragmen sowohl neben-
einander als nacheinander gegeben sein können; erst über
diese simultanen und sukzessiven reziproken Zustände innerhalb
eines gleichartigen Zentrenbereichs scheinen uns weitere Ausgestal-
tungen zu der reziproken Innervation zu führen.
7. Die Spaltung der optischen Erregungen in der Area striata.
Die Einstrahlung der optischen Fasern in der Sehrinde und ihre
Dekomposition ist von uns bereits in früheren Abschnitten dieser
Arbeit kommentiert worden (S. 211). Auch hier sind die Ergebnisse
von Ramon y Cajal die Grundlage jener morphologischen Be-
trachtung. Wir wollen hier nur eıniges von dem zusammenstellen,
was sich uns im früheren aus dem Vergleich der Cajalschen Be-
funde mit ihren klinischen und physiologischen Parallelen ergeben hat.
Wir haben (nach Cajal) die große Häufigkeit der schrägen, oft
fast tangential zum Längsdurchmesser der Rinde gehende Richtung
vieler einstrahlender Faszikel der optischen Fasern hervorgehoben.
Dies deutet auf die Tendenz zu einer verhältnismäßig weiten Expan-
sion der sich dekomponierenden Faszikel inder Fläche hin. Wenn
Herrmann-Pötzl, Optische Allästhesie (Abhdl. H. 47). 19
— 282 —
man als morphologisches Kriterium der Sehstrahlungsfasern fiir die
Silberpräparate das gelten läßt, was Cajal angibt, für die Mark-
scheidenpräparate aber das annimmt, was Lenz für charakteristisch
hält, so findet man in den Einstrahlungszonen nicht selten zwischen
zwei Faszikeln, die spiegelbildlich symmetrisch einzustrahlen
scheinen, noch Faszikelfasern von mehr vertikaler Einstrahlungs-
richtung. Wir registrieren diesen Befund als vielleicht bedeutsam,
wagen aber vorläufig nicht, aus ihm Folgerungen über die Gruppie-
rung der einstrahlenden optischen Bündelchen zu ziehen. Die Frage
über deren Gruppierung halten wir noch für ungelöst; ob sie im Sinne
der Faszikelfeldermischung (Wilbrand,Henschen) vor sich geht
oder nicht, können wir weder bejahen noch verneinen. Unsere hier
verwertbaren eigenen Befunde werden wir anderweitig referieren, hier
aber im folgenden uns nur mit der Dekomposition der einzelnen
optischen Fasern befassen; das Wesentliche über die letztere läßt
sich nicht nur aus Silberpräparaten, sondern auch aus Markscheiden-
färbungen an Gefrierschnitten entnehmen, in einer Weise, an der sich
fast alle Beschreibungen Cajals getreu erkennen lassen.
Ihre ersten Kollateralen geben die einstrahlenden optischen
Fasern in die Gegend der tieferen Schichten (der Meynertschen
Solitärzellen und der Pyramidenzellen mit aufsteigenden Axonen) ab.
Im Sinne des früheren betrachten wir diese Tiefenkollateralen als den
Ausdruck einer Abspaltung von Erregungsanteilen, die von den Zell-
systemen der tiefen Schichten eine besondere Attraktion erfahren. So
weit diese Zellsysteme (besonders die Meynertschen Solitärzellen)
efferente Axonen entsenden, die der kortiko-fugalen Genikulatum-
bahn angehören, wird es naheliegend sein, die ihnen zustrebenden
(anscheinend nicht allzu zahlreichen) Kollateralen den Reflex-
kollateralen der spinalen Wurzelfasern zu vergleichen, was ohnehin
(Marburg, Kleist usw.) die herrschende Meinung ist. Wir er-
innern aber daran, daß wir der kortikofugalen Genikulatumbahn vor
allem eine adaptive Riickwirkung des Kortex auf das Ganglion
zuschreiben mußten (Abschnitt IV); wir betrachten daher die zu-
gehörigen Kollateralen nicht als einen gestaltlichen Ausdruck für
optisch-motorische Effekte, sondern eher als den Abschluß jener Er-
regungskreise zwischen Genikulatum und Area striata, die der trophi-
schen Korrelation der beiden Organe in erster Instanz zugehören;
auch sind wir keineswegs überzeugt, daß diese Tiefenkollateralen die
einzigen sind, die dieser Bestimmung dienen.
Soweit aber die Tiefenkollateralen eine Attraktion vom System
der Pyramidenzellen mit aufsteigenden Axonen ®erfahren, finden sie
283 —
(vgl. S. 115) Anschluß an den Lokalzeichen bildenden Gesamtapparat,
den wir (S. 195) genauer zu umgrenzen versucht haben. Im wesent-
lichen (wenn auch nicht ausschließlich) prävalieren in ihm die Eigen-
leistungen jener Pyramidenzellen, deren zentrifugale Axonenrichtung
der besondere Bau der Area striata gleichsam umgekehrt hat (S. 116).
Wir haben dies als eine gestaltliche Parallele mit der Umwandlung
zentrifugaler gerichteter optisch-motorischer Erregung in gerichtete
Lokalzeichen des Sehraums betrachtet; vergleichen wir das mit den
Verhältnissen im Hinterhorn des Rückenmarks, dann können wir bis
zu einem gewissen Grade diesen raumbildenden Apparat mit dem er-
weiterten System der Bogenfaserzellen (His) in Parallele bringen;
wir sehen aber in diesen tiefen Kollateralen nur eines der Systeme
von Angriffspunkten, an denen abgespaltene Quanten zentripetaler
optischer Erregung in den richtenden Vorgang der Lokalzeichen-
bildung eingehen. Wir zweifeln indessen nicht daran, daß jene Er-
regungsquanten, die von den Tiefenkollateralen abgespalten werden,
dem Vorgang zugehören, der einer Hintergrundbildung ent-
spricht, also der Gestaltung des Sehraums, nicht aber seines Inhalts.
Der erste Bereich, in dem sich die optischen Fasern in großen
Mengen dekomponieren, ist (Cajal) die innere Körnerschicht (IV c).
Von hier an ist für eine große Anzahl von Fasern der Endbereich ihrer
Hauptstämme gegeben (Cajal); es beginnt (wenigstens für eine
große Anzahl von ihnen) die Bifurkation, die sie in zwei Teil-
äste von annähernd entgegengesetzter Richtung spaltet. Offenbar ist
diese Art der Dekomposition, die Cajal als erster für so -viele
afferente Fasern gleichmäßig festgestellt hat, vergleichbar mit der
Teilung der eintretenden hinteren Wurzeln in einen aufsteigenden
und in einen absteigenden Ast; der Sinn dieses so häufigen Teilungs-
vorganges ist eigentlich noch unbekannt; es ist fraglich, ob er einer
exakt beweisharen Deutung zugänglich ist. j
Für die Teilung der hinteren Wurzelfasern ergibt die aufsteigende
und die absteigende Richtung der beiden Hauptäste Gelegenheit zu
einer naheliegenden Annahme. Da die Weiterleitung der zentripetalen
sensiblen Erregung im Rückenmark ihrem Hauptweg nach selbst-
verständlich die zentripetale ist, werden die aboral verlaufenden Teil-
äste der hinteren Wurzelfasern eher solche Erregungsquanten
repräsentieren, die von der Weiterleitung ferngehalten werden, sei
es, daß sie als Reflexkollateralen enden, sei es, daß sie in den Vor-
gang eingehen, der die Richtungsfaktoren der zentripetalen Er-
regungen bildet, sei es, daß sie sich an den Vorgängen beteiligen, die
in der Überschichtung der Dermatomgrenzen zum Ausdruck kommen..
/ 19*
— 284 —
Wenn auch mit Vorsicht, kann man also eher dem aszendieren-
den Zweig der hinteren Wurzelfaser eine Rolle im Vordergrund der
sensiblen Gestaltungen zusprechen, als dem deszendierenden Zweig.
Vielleicht gilt etwas Ahnliches auch fiir die Bifurkation der opti-
schen Fasern in der Area striata. Am ehesten könnte man annehmen.
daß diejenigen Teiläste, deren Richtung (im Querschnitt) gegen den
Boden der Fissura calcarina geht, bzw. diejenigen Äste, deren Rich-
tung (im Horizontalschnitt) polwärts zieht, bevorzugt sind, in dem
Sinne, daß man sie eher als physiologische Hauptwege der zentri-
petalen optischen Erregung betrachten kann, als die andern, ihnen
entgegengesetzt gerichteten. Die letztere sind also vielleicht (ganz
oder zum Teil) Nebenwege der optischen Erregung, die —
physiologisch gesperrt — erst bei irradiierenden Störungen oder nach
einer Blockade des Hauptweges eröffnet werden (S. 11). Da auf diese
Weise eine Hauptgruppierung von bevorzugten Wegen der zentri-
petalen optischen Erregung polwärts und gegen den Grund der
Fissura calcarina hin anschaulich gemacht werden Könnte, ist es auch
vorstellbar, daß der orale Teil der Area striata bei gleichem morpho-
logischen Aufbau doch in seine Leistungen physiologischer Weise
mehr zurücktritt und gewissermaßen mehr der Hintergrundsbildung
zuzuordnen ist. 7
Trifft dies zu, so ist es eine Parallele zu der Dämpfung der
peripheren Gesichtseindrücke beim erhaltenen zentralen Sehen,
einem — wie wir gesehen haben (S. 11) — umkehrbaren Vor-
gang. So scheinen die beiden reziproken Zustände, von denen am
Schlusse des vorigen Abschnitts die Rede war, in der Area striata
nicht nur nacheinander, sondern auch nebeneinander zu bestehen (ver-
gleichbar dem simultanen und dem sukzessiven Kontrast); vielleicht
ist gerade die Dichotomie der optischen Fasern ein besonderer ge-
staltlicher Ausdruck dafür.
Nicht zu übersehen ist eine besondere Angabe von Cajal: „Es
kommt nicht selten vor, daß die beiden Endverzweigungen der ge-
gabelten Äste in verschiedenen Höhen liegen“ (inner-
halb der IVe). Gerade solche Fasern würden an ihren Verlaufs-
richtungen bis zu einem gewissen Grade eine morphologische Prüfung
der oben ausgesprochenen Annahme gestatten; aus den früheren Ab-
schnitten dieser Arbeit, wie auch aus den Hypothesen von Kleist
und Bäräny, geht mit Wahrscheinlichkeit hervor, daß die Kollate-
ralen der tieferen Lagen eher in die Hintergrundbildung eingehen, als
in den Vorgang, der die Sehdinge selbst gestaltet. Jedenfalls aber
enthalten solche Fasern einen gestaltlichen Ausdruck für das Ver-
— 285 —
schwinden von Erregungsanteilen im Hintergrund, die sich unter
physiologischen und pathologischen Verhältnissen schichtenweise ent-
mischen können, ohne daß die Rezeptoren, an denen sie angreifen,
selbst unbedingt eine zusammenhängende Schicht bilden müssen
(vgl. S. 203).
Die Auflösung der optischen Fasern und ihre Beteiligung an der
Plexusbildung entspricht einerseits den attraktiven Wirkungen der
mittleren Sternzellen, andererseits der attraktiven Wirkung von
Körnern. Wir haben die Wirkung der letzteren mit einer Grundie-
rung des Sehraums in Zusammenhang gebracht, vermöge deren über-
schüssige optische Erregungen in zwei Komponenten gespalten wer-
den, entsprechend verschiedenen Frequenzen (S. 155). Diese Spal-
tung überschüssiger Hellerregungen erschien uns als zentraler Gegen-
vorgang gegen eine Art. von farbigem Abklingen der überschüssigen
Hellerregung: wir betrachteten ihn als die erste Staffel eines Vor-
gangs, der zur Abstimmung besonderer Zellkomplexe auf Wirkungen
dieser Frequenzen, also zur Bildung der Wilbrandschen sog.
Farbenzentren führt (8. 151).
Als Zwischenglied bei diesem Vorgang kommen jene Sternzellen
mit aufsteigenden Axonen in Betracht, die in der zweiten Schicht
enden (8.154), alsHauptangriffspunkt einer kortikalenaktivieren-
den Wirkung jene Pyramidenzellen der oberen Schichten, die in den
Befunden von Lenz bei doppelseitiger Farbenhemianopsie atrophiert
sind. Wir erwähnen das hier noch einmal, weil in dieser Anordnung
Parallelen zur Anordnung der Zellsysteme des Hinterhorns deutlich
sind: Die Anordnung der Körner und die Anordnung derRolando-
schen Zellen lassen sich homologisieren. ebenso die Anordnung jener
Sternzellen mit aufsteigenden Axonen und die zentralen Zellsysteme
im Hinterhorn (8.277), endlich die Anordnung jener Pyramidenzellen
der oberen Schichten mit dem System der vorderen Kommissur; nur
ist im spinalen Fall hier ein Anfangspunkt kommissuraler
Wirkungen gegeben, im Falle der Area striata aber ein End-
bereich kommissuraler Wirkungen: wir hatten Grund, in jenen
Pyramidenzellen der oberen Schichten Angriffspunkte des kommissu-
ralen Balkenapparats (oder seiner Zwischenschaltung) innerhalb der
Area striata selbst zu vermuten (8. 236).
Die physiologische Ähnlichkeit elektiver Rezeptoren der Wärme-,
der Kälteempfindung usw. mit den elektiven Rezeptoren für die drei
Grundfarben, wie sie die Helmholtzsche Dreikomponententheorie
annimmt (vgl. S. 155), kommt so auch in der Anordnung der zugeord-
neten morphologischen Apparate zum Ausdruck; die umkehrende,
— 286 —
komplementär wirkende Aktivierung der latenten Farbenabstimmun-
gen aber erscheint als eine Hauptleistung der Pyramidenzellen, nicht
der Körner. Auch die Anteile der optischen Erregung, die von den
Körnern und von jenen Sternzellen mit aszendierenden Axonen an-
gezogen werden, scheinen also einer Hintergrundwirkung zu dienen.
die die Farbenwahrnehmung nur in der Latenz vorbereitet.
Diejenigen optischen Fasern, die sich im lockeren Geflecht der
IVb, der Schicht der großen Sternzellen, dekomponieren, scheinen
jene Kollateralen zu entsenden, die am höchsten, bis an die Grenze
der Pyramidenschicht und vielleicht darüber hinaus vordringen. Wir
sahen in den letzteren den Ausdruck jener Diaphragmenwirkung. die
dem Umstand zuzuordnen ist, daß die oberen Schichten auf die
gleichseitige Bulbusenukleation mit Atrophie reagieren können.
die unteren Schichten nur auf die gekreuzte Wirkung derselben (im
Sinne der Hypothese von Kleist und der sie stützenden Befunde.
vgl. S. 205). Wir haben dabei die Frage, auf die Kleist und
Bäräny das Hauptgewicht legen, offen gelassen: Ob diese höchsten
Endplexus der optischen Fasern in der reifen Area striata eine zu-
sammenhängende Schicht bilden, die nur Dekompositionen homo-
lateraler optischer Fasern enthält oder ob die Diaphragmen-
wirkung, die hier vorliegt, eine Siebung der Erregung auf eine andere
Weise herstellt. Für die Entwickiung dieser Dekomposition gilt
jedenfalls die erstere Annahme nicht; wir beschränken uns darauf
hinzuweisen, daß jene höchsten Kollateralen und ihre Endpunkte
offenbar im reifen Organ die endgültigen Hauptwege der zentri-
petalen optischen Erregung zu enthalten scheinen, während die
tieferen Plexus (auch die in der IV b) der Hintergrundbildung zu-
geführt werden.
Indessen konnten wir auch die Eigenleistung dieser höchsten
Endplexus der optischen Fasern nur mit einer Umpolarisierung
der Erregungen mit homolateralen Lokalzeichen in Verbindung
bringen (vgl. S. 213), nicht aber mit einer Beteiligung an der Gestal-
tung der Sehdinge. So ist auch sie zunächst Hintergrundwirkung:
die Rolle der Axonen der großen Sternzellen, die in das Stratum
proprium calearinae, in die weiße Substanz absteigen (Cajal), ist
damals von uns offen gelassen worden. Was damals nur vermutet
worden ist, wird durch die folgenden Betrachtungen (8.262) sehr wahr-
scheinlich: daß die Erregungen. die sie entsenden, einen Anschluß an
die zentrifugalen Schenkel der tonisierenden optischen Reflexkreise
herstellen, deren Ursprungsstitte in Nachbargebieten der Area
striata zu suchen ist. Man Könnte also ihre Eigenleistung eher noch
/
; — 287 —
der gehobenen Stimmung und dem gespannteren Körperzustand zu-
ordnen, in die ein Schneewetter im Winter fast jeden gesunden
Menschen versetzt, als besonderen elektiven Vorgängen bei der Ge-
staltung der optischen Wahrnehmungen selbst.
Damit sind wir zu einem sonderbaren Ergebnis gekommen: Alle
einzeln sich abspaltenden Erregungsquanten, in die die zentripetale
optische Erregung zerfällt, alle Rezeptorensysteme, deren spezifische
Attraktion den Abbau der optischen Erregung in Fraktionen und
Quanten bewirkt, scheinen — für sich betrachtet — nur dämpfende
Wirkungen zu enthalten. Sie scheinen nur der Hintergrundbildung
anzugehören, der Bildung des Sehraums, seiner Lokalzeichen, der
dämpfenden Zerteilung überschüssiger Helligkeiten als Vorbereitung
einer Latenzwirkung, die deren weitere Verarbeitung nur einleitet.
Keine dieser Fraktionen, keines dieser Rezeptorensysteme scheint für
sich allein genommen einen Anteil an der bewußten optischen Wahr-
nehmung zu haben, die den Vordergrund des Sehakts bildet.
Doch entspricht dieses Ergebnis unseren Erwartungen: Die be-
wußte Wahrnehmung selbst, die Gestaltung und Richtung der Seh-
dinge, die den Sehraum erfüllen, erschien schon in der Untersuchung
der optisch-agnostischen Störungen als bedingt durch einstellende
Gegenwirkungen der Nachbar-Areae auf die Area striata, die durch
ein Zusammenspiel geordneter Komponenten einer Gesamt-
wirkung erst jene relafiv stabilen Diaphragmenwirkungen von Fall
zu Fall verändert, die der Area striata selbst zukommen. Die
wechselnden Wirkungen der zerebralen Gegenwelt
(v. Uexküll) auf die Area striata entwickeln das jeweilige
Weltbild; wir haben Angriffspunkte dieser Wechselwirkungen an den
Pyramidenzellen der oberen Schichten zu erkennen geglaubt (S. 208).
Abweichend von dem Vergleich mit dem photographischen Verfahren
ist aber diese Entwicklung nicht mit einem Fixierungsvorgang ge-
wöhnlicher Art verbunden; im Gegenteil, sie scheint sich zu einer voll-
bewußten Vereinheitlichung des Weltbildes am ehesten dann zu kon-
zentrieren, wenn die unmittelbaren Nachwirkungen des jeweils
wirksamen Weltbildes möglichst stark gedämpft, abgeschnitten und
einer Latenzwirkung zugeführt werden, aus der sie erst nach einer
längeren Pause wieder erwachen. Im Optimum dieser Wirkungen
scheint sich der Mittelpunkt des Gesichtsfeldes und der Mittelpunkt
des Feldes der Aufmerksamkeit annähernd zu decken; in welche Phase
dieser zentralen Gegenwirkung gegen die jeweilige Änderung der zen-
tripetalen optischen Erregungen das Auftauchen des Sehdings im
Mittelpunkt des Bewußtseins fällt, ist nicht eindeutig zu bestimmen.
— 288 —
Dieser Zeitpunkt fällt gewiß nicht mit dem ersten Auftreffen der
Anderung zentripetaler Erregungen zusammen, auch nicht mit dem
Einsetzen der motorischen Gegenwirkung, der Einstellungen auf
diese Veränderung hin; eher glauben wir, daß sie mit dem Augenblick
zeitlich enger Konstelliert ist, in dem beides, die zentrifugale wie die
zentripetale Erregungsveränderung, in einem großen Hauptteile sich
absättigen, einander binden und damit in die Latenz treten. Das
Auftauchen der Bilder im Bewußtsein, die Apperzeption des Welt-
bildes, scheint uns bis zu einem gewissen Grad vergleichbar zu sein
mit dem, was sich vor unseren Augen abspielt, wenn ein Vorstehhund
vor einer Kette von Hühnern steht, seine ganze Haltung sich an-
spannt, sein Blick starr gebannt ist. Hier ist der Reflex des Ein-
springens auf die Beute, der Instinktreflex, unterbrochen: er hat
sich nach außen in die tonische Einstellung der Haltung verwandelt,
nach innen vielleicht in ein auftauchendes Bild. So sehen wir in den
Vorgängen bei der optischen Wahrnehmung den Ausdruck einer
Reflexspaltung, ebenso, wie uns der Aufbau des Apparats, der
die optische Wahrnehmung vorbereitet, eine Spaltung mesenzephaler
Reflexkreise durch die Thalamusrindenkorrelation gezeigt hat.
8. Die Spuitung der optischen Erregungen im tachistoskopischen
Versuch.
Die Spaltung der afferenten Erregung durch die Zentren enthält
selbstverständlich ein unvollständiges Bild des Gesamtvorgangs der
Reaktion auf die zentripetalen Erregungen. Wir möchten sie als
den abbauenden Anteil dieses Gesamtvorganges betrachten; sie
wird komplettiert durch einen aufbauenden Vorgang; die zentri-
petale Erregung, bzw. die energetischen und materiellen Verände-
rungen, die ihr entsprechen, unterliegen einer ähnlichen Bearbeitung
durch die Zentren, wie das artfremde Eiweiß im Organismus, das
tief gespalten wird zu Bausteinen, aus denen arteigenes Eiweiß auf-
gebaut wird oder aufgebaut werden kann.
Von diesem aufbauenden Anteil des Gesamtvorgangs haben wir
in dieser Arbeit nur ein Kleines Gebiet betrachtet: die Bildung der
Lokalzeichen. Naturgemäß wäre diese Betrachtung erst vollständig,
wenn der Gesamtaufbau der Gestaltungen beim Wahrnehmungsakt
eingefügt werden würde. Ein nicht unbetriichtlicher Teil dieses Auf-
baus läßt sich für die optischen Wahrnehmungen durch eine Analyse
der optisch-agnostischen Störungen ermitteln; was sich dabei ergibt,
hat der eine von uns (P.) zusammenfassend an einer anderen Stelle
— 289 —
bearbeitet. Es zeigen sich dabei für die einzelnen Komponenten, nach
denen sich dieser aufbauende Vorgang vollzieht, große struktuelle
Ähnlichkeiten mit der hier betrachteten Lokalzeichenbildung. Auch
in den Einwirkungen der gnostischen Partialzentren findet sich die
Diaphragmenwirkung, durch die gewisse Anteile des wahrgenomme-
nen Komplexes in den Vordergrund gehoben, gewisse andere in den
Hintergrund zurückgedrängt werden. So ist die Wirkung jedes ein-
zelnen der zerebralen Systeme, die je einer Kategorie von optischen
Wahrnehmungen zugeordnet sind (Objekte, Situationen, Symbole usw.)
vergleichbar mit der Wirkung je einer sensibilisierenden Schicht; aber
auch hier geschieht die Sensibilisierung dadurch, daß andere, die je-
weils hervortretende Einheitsgestalt störende Komponenten der Ge-
samtwirkung niedergehalten und latent gemacht werden.
Wir sind berechtigt, den Vorgang der Lokalzeichenbildung ge-
trennt zu untersuchen und getrennt darzustellen von jenen Anteilen
der aufbauenden Wirkung, die zur Bildung von Gesamtgestalten die
engsten Beziehungen haben. Eine Darstellung, die von Befunden der
Hirnpathologie ausgehen, wird die Besprechung dieser beiden Teil-
gebiete getrennt halten müssen; es ergibt sich dies aus der klini-
schen Unabhängigkeit der gnostischen Störungen und der Störungen
der Lokalisation erkannter Gestalten. Die Befunde der Hirn-
pathologie stimmen hier mit jener psychologischen Auffassung zu-
sammen (Lotze), die uns von Anfang an auf unseren Wegen be-
gleitet hat: Daß das Lokalzeichen etwas ist, das zur Wahrnehmung
erst hinzukommen muß.
Wir verweisen also zur weiteren Verfolgung der aufbauenden
Zentrenwirkung auf die zitierte Darstellung der-optisch-agnostischen
Störungen. Wenn wir sie hier erwähnt haben, so geschah das, weil
sie ein Zwischenglied enthalten zwischen dem. was hier aus den
morphologischen Grundlagen der Erregungsspaltung durch die
Zentren abgelesen worden ist, und zwischen dem, was die Spaltung
der Eindrücke einer neu auftauchenden komplexen Gruppe von Seh-
dingen im tachistoskopischen Versuch ergibt. Diejenigen Anteile der
eben wirksam gewordenen optischen Eindrücke, die dem Bewußtsein
unmittelbar ferngeblieben sind, haben sich zu Nachwirkungen ge-
ordnet, in denen alle Kontrasterscheinungen fehlten, der Mechanismus
der positiven Nachbilder aber dominierte. Wir nahmen an, daß es
jener kontrastbildende zentrale Gegenvorgang ist, der — unter physio-
logischen Bedingungen stärker, als in diesem pathologischen Falle —
die für den gestaltenden Einheitsakt minder begünstigten Elemente
der Gruppierung zurückdrängt und im Hintergrund verschwinden läßt.
— 290 —
/
DaB dieses scheinbare Verschwinden nur eine Latenz bedeutet.
aus der ein groBer Teil der verschwundenen Impressionen wieder zu
sinnlicher Lebhaftigkeit und geometrischer Treue erweckt werden
kann, hat der eine von uns dadurch gezeigt, daß er die Aktivierung
dieser Elemente in den folgenden Traumbildern nachwies. Es fand
sich dabei auch, daß die spätentwickelten Elemente der Wahrnehmung
eine Art Eigenleben führen, in dem sie vom Originaleindruck weit-
gehend losgelöst sind und als einzelne gespaltene Quanten, als ein-
zelne Bausteine zu Neugruppierungen zusammentreten, die den Ge-
setzen der Traumbildung unterliegen, anderen Gesetzen, als sie für
die Gestaltung im Wachzustande gelten. Es konnte gezeigt werden.
daß sich für die Entwicklung von Anteilen der optisch wirksamen
Komplexe Traumzustand und Wachzustand zueinander reziprok
verhalten, so daß in dem einen Zustand dasjenige den Hintergrund
bildet, was im anderen Zustand im Vordergrund gestaltet erscheint.
In dieser Beziehung gleichen also Traumzustand und Wach-
zustand den reziproken Zuständen innerhalb eines Zentrums, in deren
einem die Hauptwege der Erregung eröffnet, gewisse Nebenwege der
Erregung aber geschlossen sind, während es in der Umkehrung dieses
Zustandes zum Verschluß der Hauptwege und zur Eröffnung der
Nebenwege kommen kann. Man bemerkt hier eine Beziehung zur
reziproken Innervation; man sieht aber auch, daß in dem Besproche-
nen allein die reziproke Innervation zweier Zentren noch nicht ge-
geben ist. Sie erscheint uns als ein Sonderfall des allgemeineren
Falles, daß ein zentraler Einheitsbereich durch einen physiologischen
Vorgang befähigt ist, abwechselnd zwei reziproke Zustände der eben
skizzierten Art durchzumachen. Die reziproke Innervation im eigent-
lichen Sinne bestünde dann darin, daß ein zweites Zentrum einen Zu-
stand im anderen Zentrum hervorruft, der reziprok ist zu dem Zu-
stand, in dem es sich selbst befindet: d. h. also, wenn sieh Zentrum a
im Zustand befindet, in dem es die Hauptwege der Erregung eröffnet.
die Nebenwere aber verschließt, so versetzt es das Zentrum a’ in
einen Zustand, in dem sich bei ihm die Nebenwege der Erregung er-
öffnen, die Hauptwege aber verschließen und so wechselweise. Nicht
selten wird sich dartun lassen. daß diese beiden Zentren aus einem
ursprünglich einheitlichen Zentrum hervorgegangen sind.
Vielleicht bedingt diese Ausgestaltung zweier reziproker Zu-
stände eines Zentrums in die reziproke Innervation zweier Zen-
tren eine physiologische Steigerung jener Kontrastwirkung. die aber
teilweise schon dureh die Abwechslung zweier umkehrbarer Zustände
in demselben zentralen Bereich gegeben ist. Wieviel von der Kontrast-
wirkung bei der Wahrnehmung, oder — im motorischen Bereich —
von der Hemmung antagonistischer Bewegungseffekte (Sherring-
ton) unbedingt auf eine Wechselwirkung zweier physiologisch trenn-
barer Bezirke zurückgeführt werden muß, wieviel schon in den alter-
nierenden Zuständen eines selbständigen Bereichs gegeben ist, ist eine
Grundfrage, die hier nicht weiter erörtert werden kann; sie hat z. B.
in der Theorie des labyrinthären Nystagmus und vieler anderer Vor-
gänge eine große Rolle gespielt.
Eine Theorie Verworns bezieht die reziproke Innervation auf
einen besonderen Schaltungsmechanismus. Wir können in diesem Zu-
sammenhang nicht auf sie eingehen; was wir an eigenen Befunden
und anderweitig vorliegenden Tatsachen hier zusammengestellt
haben, würde nicht ausreichen, auf die Morphologie der Rezep-
torengruppen ein Licht zu werfen, die bei der reziproken
Wechselwirkung zweier Zentren gegeben ist. Nur in bezug auf die
Verteilung der afferenten Wirkung in Hauptwegen und Nebenwegen
der Erregung können wir aus unseren Befunden vermuten, daß die
physiologisch verschlossenen Nebenwege der Erregung z. T. Be-
zirken mit einer spärlicheren Verbreitung sensibler Kollateralen
entsprechen, die physiologischen Hauptwege der Erregung aber viel-
leicht Bezirken mit dichter Plexusbildung der Kollateralen. Es wäre
dies eine Verteilung, die an das von v. Uexkiill hervorgehobene
Verhalten in einfachen Nervennetzen erinnert, in denen sich die Er-
regungsleitung zwar nach allen Seiten hin ausbreitet, aber „die
direkten Wege vor den Umwegen bevorzugt und sich schneller über
Strecken mit einem reichen Netz verbreitet, als über solche, die nur
spärliche Bahnen aufweisen“. Es ist aber hervorzuheben, daß in
jenen Zentren, von denen hier, im Zusammenhang mit unseren Be-
funden, die Rede ist, die Verbreitung der Erregungsleitung offenbar
eine verschiebliche ist, daß also auch Rezeptorengruppen, die von dem
diehtesten Kollateralen-Netz umgeben sind, durch die besonderen Ein-
flüsse, die die Vorgeschichte des Individuums und die Augenblicks-
wirkung enthalten, temporär zu physiologisch verschlossenen Neben-
wegen der Erregung werden können.
Ein Beispiel dafür, das fast an der Grenze zwischen Physiologi-
sehem und Pathologischem steht, ist die optische Allästhesie. Das-
selbe gilt für manche funktionell neurotische Erscheinungen, die der
taktilen Allästhesie verhältnismäßig nahekommen. Der hysterische
Transfert erklärt sich (Rumpf, M. Rosenthal) dadurch, daß
schon beim Gesunden jede Sensibilitätserhöhung auf der einen Körper-
seite eine gleichzeitige Verminderung der Sensibilität der anderen
— 2992 —
Seite zur Folge hat und umgekehrt. Macht man eine Körperstelle
durch Auflegen kalter Metallplatten weniger empfindlich, so ist die
homologe Stelle der anderen Seite empfindlicher geworden. Der
hysterische Transfert würde (unter dem Einfluß psychischer Wirkun-
gen, die hier nicht zu besprechen sind) diesen physiologischen Mecha-
nismus übertreiben: die organisch bedingte Allästhesie aber
würde ihn umdrehen. So sind auch in der Beziehung der Sensi-
bilität homologer Stellen physiologischer Kontrast und pathologische
Irradiation einander zugeordnet; sie scheinen miteinander zwei rezi-
proke Zustände zu bilden.
Berücksichtigt man alle diese Zwischenglieder, dann ist die
Spaltung der optischen Erregungen im tachistoskopischen Versuch
ein Augenblicksbild, das wie ein Modell im Bereich des Bewußtseins
dasselbe veranschaulicht, was die Spaltung der afferenten Erregung
der Zentren morphologisch und physiologisch erkennen läßt. Nur
wird man daran festhalten müssen, daß es die oberflächlich-
sten, gleichsam metastabilen Schichten der Hintergrund-
wirkung sind, die in jenen verspäteten optischen Entwicklungen sich
entmischen. Diese Nachentwicklungen erscheinen dann als psycho-
logische Teste für eine viel tiefer greifende Spaltung der Erregungen.
die in ein bewußtseinfernes Geschehen hinein allmählich ver-
dämmert; von der ungeheuren Menge der gebildeten Fraktionen sind
nur einige wenige nachweisbar: solche, die den Residuärwirkungen der
Wahrnehmung entsprechen und solche, die ihnen aus der unbekannten
Tiefe des außerbewußten Geschehens entgegengesendet werden; eigent-
lich sind in den meisten Fällen nur Reaktionsprodukte zwischen
beiden wirksamen Gruppen kenntlich; unsere Beobachtung 3 enthält
ein Beispiel, in dem es keiner Analyse bedarf, um die beiden Gruppen
voneinander zu trennen, da ihre Trennung schon in der klinischen
Beobachtung genügend anschaulich gemacht werden konnte.
Wir halten uns darum für berechtigt. jene Formel, die die Spal-
tung der optischen Erregung im tachistoskopischen Versuch ver-
anschaulicht, probeweise auf die Spaltung der afferenten Erregung
durch die Zentren auszudehnen. Nach ihr wird die afferente Erregung
durch das Zentrum zunächst in zwei Hauptgruppen zerlegt, in ähn-
licher Weise wie die Schwerkraft bei der Pendelbewegung (S. 28).
Die eine Komponente. die Kosinuskomponente, erscheint als die
spannende. Wir haben ihr zunächst das zugeordnet, was bei der
Wahrnehmung tonisierende Wirkungen entfaltet, vielleicht also
das, was nicht gestaltend verarbeitet wird, sondern den Hintergrund
der Gestaltenwelt bildet (S. 28). Die andere Komponente, die Sinus-
— 293 —
komponente, geht in einen anderen Bereich ein, den man sich als
senkrecht ausgedehnt vorstellen kann zu dem ersten Bereich. Wir
haben das dadurch ausgedrückt, daß wir dieser Komponente das
Zeichen der Zahlenlinie beigegeben haben, die auf der Linie der
reellen Zahlen senkrecht steht. Die Formel, die ein Gleichnis für
diese Vorgänge enthalten soll, lautet daher:
cosy + ising =e fl
Dies ist die Eulersche Relation. Ihr Argument ¢ kann in be-
kannter Weise durch eine Substitution zur Bestimmung der Koeffi-
zienten einer Fourierschen Reihe verwendet werden.
Daß die Spaltung der Erregung im tachistoskopischen Versuch
und allgemeiner in der Wirkung der Zentren auf die Fouriersche
Reihe und die Bestimmung ihrer Koeffizienten zurückführt, erscheint
uns selbstverständlich, da die Theorie der Klangfarbe in der bekann-
ten Hel mholtzschen Beziehung mit dem Satz von Fourier steht.
Nach ihm kann jede bedingte Kurve von der Periode A in eine
Reihe einfacher Wellen aufgelöst werden, für deren Amplituden-
verhältnisse die Gestalt der ursprünglich gegebenen Kurve maß-
gebend ist. So kann auch die komplizierte Schwingungsform, die
eine Saite bei beliebiger Art der Erregung annimmt, zerlegt wer-
den in übereinander gelegene Wellen, deren Länge gleich der doppel-
ten, der einfachen Saitenlänge, */;, */,, PJs ..... von ihr ist.
„In vollkommener Übereinstimmung damit übt das Ohr den
komplizierten Bewegungen der Luft gegenüber die Funktion eines
harmonischen Analysators aus, indem es genau die Töne heraushört,
welche den bei der geometrischen Zerlegung auftretenden einfachen
Wellen entsprechen.. Aber in unserem Bewußtsein, in unserem geisti-
gen Ohre verschmelzen die verschiedenen Töne, die das körperliche
Ohr zu gleicher Zeit empfindet, wieder zu einem einheitlichen Ganzen,
dem Klange“ (Riecke).
Die Spaltung der Erregung durch die Wirkung der Zentren
scheint uns also manches von dem anschaulich zu machen, das eine
harmonische Analyse der sensiblen und der optischen Er-
regungen anstrebt oder aufrecht erhält. Die Spaltung der optischen
Erregungen im tachistoskopischen Versuch erscheint uns als ein
relativ einfaches Modell des gleichen Vorgangs nach der psychologi-
schen und physiologischen Seite hin.
Schlußbemerkungen.
Wir greifen ein letztes Mal auf die tachistoskopischen Versuche
unserer Beobachtung 3 zurück: das Skotom, das jede Exposition
— 294 —
provoziert hat, erschien uns wie Kernschatten und Halbschatten auf
einer Projektionswand. Als Lichtquelle, die diese Projektions-
wand erleuchtet, ist nicht die Belichtung von auBen erschienen, nicht
die zuströmende optische Erregung; wir konnten die Belichtung, die
das Schema der Sonnenfinsternis zeigte, mit einer Wirkung verglei-
chen, die von den Zentren des Okzipitalhirns auf den Sehraum aus-
geübt wird. Der Befund unserer Beobachtung 4 und die gewonnenen
morphologisch-physiologischen Parallelen gestatten es, dieseinnere
Belichtung mit einer Wirkung der parieto-okzipitalen Richtungs-
zentren auf die Area striata in Zusammenhang zu bringen. Es
scheint uns, als enthielte diese Versuchsanordnung und ihre Ergeb-
nisse eine Ähnlichkeit mit dem Gleichnis von Plato.
„Die Dinge dieser Welt, welche unsere Sinne wahrnehmen, haben
gar kein wahres Sein: Sie werden immer, sind aber nie. Sie
haben nur ein relatives Sein, sind insgesamt nur in und durch ihr
Verhältnis untereinander; man kann daher ihr ganzes Dasein ebenso
gut ein Nichtsein nennen. |
Solange wir auf ihre Wahrnehmung beschränkt sind, gleichen wir
Menschen, die in einer finstern Höhle so fest gebunden säßen, daß sie
auch den Kopf nicht drehen können und nichts sehen als — beim Licht
eines hinter ihnen brennenden Feuers, an der Wand ihnen gegenüber
— die Schattenbilder wirklicher Dinge, welche zwischen ihnen und
dem Feuer vorübergeführt würden; und auch sogar voneinander, wie
jeder von sich selbst, eben nur die Schatten auf jener Wand.
Ihre Weisheit wäre aber, die aus Erfahrung erlernte Sukzession
jener Schatten vorauszusagen“ (Plato,zit. nach Schopenhauer,
Welt, 3. Buch).
Als das Licht des brennenden Feuers, das die Schattenbilder an
jener Wand entwirft, erscheint die innere Belichtung, von der wir
sprachen, die Sonne der Apperzeption. So ist jene Wand, auf der
das platonische Gleichnis nur Schattenbilder ziehen sieht, doppelt
beleuchtet, vom Innern der Höhle und von der Sonne der Umwelt
her. Wo sich die Strahlen der beiden Beleuchtungen harmonisch
treffen, wird die Wand durchscheinend; sie wird ein Diaphragma.
durch das immer mehr von der Welt in die Schattenbilder des
„wahren Sein“ Platos, der Ideen, des „allein Seienden“ gelangt.
So erinnert die Szenerie der Wechselwirkung zwischen Innenwelt und
Umwelt an die doppelte Beleuchtung auf alten Gemälden.
Wir denken an die Landschaft mit dem doppelten Schatten von
Rubens, über die Goethe mit Eckermann gesprochen hat.
Die dargestellten Figuren ..haben das Licht auf der uns zugekehrten
— 295 —
Seite und werfen die Schatten in das Bild hinein. Diesen schönen
Effekt schafft der Künstler dadurch, daß er diese hellen Figuren auf
einem dunklen Grund erscheinen läßt.“
„Aber dieser dunkele Grund, wodurch entsteht er?“ (Goethe).
„Es ist der mächtige Schatten, den die Baumgruppe den Figuren
entgegenwirft; aber wie? Die Figuren werfen den Schatten ins Bild
hinein? Die Baumgruppe aber wirft den Schatten dem Beschauer
entgegen?“ (Eckermann).
(Goethe): „Das doppelte Licht ist allerdings gewaltsam und
Sie können immerhin sagen, es sei gegen die Natur. Allein wenn es
‘gegen die Natur ist, so sage ich zugleich, es sei höher als die Natur...
Der Künstler will zu der Welt durch ein Ganzes sprechen; dieses
Ganze findet er aber nicht in der Natur, sondern es ist die Frucht
seines eigenen Geistes...“
Die doppelte Beleuchtung ist noch auf einem anderen berühmten —
Gemälde sichtbar. In der Landschaft von Rubens ist im Hinter-
grund die Stadt in Abendbeleuchtung. In dem Bild von Giorgi-
one, das genannt wird „Die drei Astrologen“, ist im Hintergrund
eine Landschaft im Abendschein; im Vordergrund, von einem zweiten
milden Licht beleuchtet, dessen Quelle man nicht sieht, stehen die
drei Gestalten des Bildes, rechts, während links eine dunkle Höhle
vor ihren Blicken liegt. Die eine Gestalt ganz rechts, ein Greis, in
Bildung und Tracht dem Lionardo ähnlich, hält in der Hand ein
Pergament mit astrologischen Zeichen; die mittlere Gestalt, im jünge-
ren Mannesalter, steht sinnend da, die Hände am Gürtel; am weite-
sten links an der Grenze zwischen Licht und Finsternis ist der Jüng-
ling; er sitzt, ein MeBinstrument in der Hand, und blickt mit dem `
Ausdruck gespanntesten Forschens ins Dunkel der Höhle.
Ob der Künstler selbst bewußt das Gleichnis Platos in sein
Gemälde hineinkomponiert hat, wissen wir nicht. Es ist möglich und
entspricht dem Geist jener Zeit, in deren führenden Künstlern die
Welt der platonischen Ideen lebendig war. Daß aber alle die Bilder,
von denen wir sprechen, mit dem platonischen Gleichnis zusammen-
stimmen, wird kaum verkannt werden können.
Die Ähnlichkeit, die sich hier findet, kehrt wieder in einer Ver-
suchsanordnung, aus der Wesentliches hervorgeht über die Art des
Erfassens und Gestaltens durchs Auge. Das physiologische Gesche-
hen, dessen Untersuchung diese Arbeit enthält, die doppelte Be-
leuchtung des Weltbildes durch die Sonne der Innenwelt und durch
die Sonne der Umwelt, hat sich in den Gemälden klar zum Kunst-
werk gestaltet. So ist das Kunstwerk selbst das klarste Kenn-
— 296 —
zeichen fiir das hier betrachtete zentrale Geschehen; die pathologi-
schen Phänomene, die hier bearbeitet worden sind, veranschaulichen
es am Abbau; das metaphysische Gleichnis und das Gemilde veran-
schaulicht das Wirken desselben Prinzips über den Aufbau hinaus
im Sinne einer Entelechie.
Zusammenfassung
Es kommt gelegentlich unter dem Einfluß zentraler Veränderun-
gen vor, daß gestaltlich richtig erfaßte Sehdinge an falschen Stellen
im Raume gesehen werden. Die erste Beobachtung dieser Art hat
E. Beyer an sich selbst während eines Migriineskotoms gemacht:
eine verwandte Erscheinung hat Ernst Freund beschrieben.
Sofern dabei richtig wahrgenommene Gegenstände im Sehraum
_ rechts statt links gesehen werden, oben statt unten usw., ist die Er-
scheinung ein Gegenstück zur taktilen Alloästhesie. Sie wird daher
zweckmäßig als optische Allästhesie zu bezeichnen sein.
Sofern die Sehdinge dabei wie halluzinatorische Erscheinungen auf-
tauchen, an ihrem richtigen Ort aber unbemerkt bleiben, gleicht der
Inhalt dieser Erscheinung physikalischen Luftspiegelungen; von
diesem Gesichtspunkt aus haben wir sie als Fata morgana des
Sehraums bezeichnet.
Wir haben dieses Symptom an einer Anzahl von klinischen Be-
obachtungen genauer untersucht; wir haben ferner in einem Fall unter
dem Zusammentreffen zweier Bedingungen (alter Parietalherd, Alko-
holhalluzinose) durch tachistoskopische Exposition komplexer Bild-
‘gruppen Erscheinungen ausgelöst, die zu diesem Symptom gehören.
Es hat sich für ein Zustandekommen ergeben, daß zwei Hauptbedin-
gungen zusammenwirken müssen:
1. eine Wirkung, die die Leistungen des zentralen Sehens herab-
setzt oder partiell schädigt,
2.eine Enthemmung bestimmter richtender Komponenten aus
dem Gesamtkomplex gemeinsamer einstellender Wirkungen.
die die okzipitale Konvexität auf die Area striata ausübt.
Dementsprechend fand sich in einem weiteren Fall, der vorüber-
gehend eine Auslöschung der Mitte des Gesichtsfeldes, erhaltenes
peripheres Sehen und eine Vertauschung von links mit rechts im Seh-
raum gezeigt hatte, die Kombination eines älteren Erweichungsherdes
im linken Okzipitalpol und eines frischen progredienten Erweichungs-
herdes, der von der rechten okzipitalen Konvexität seinen Anfang
nahm. Über die Serienuntersuchung des Gehirns wird berichtet.
— 297 —
Das Zusammentreffen dieser beiden Hauptbedingungen ermög-
licht einen Vergleich zwischen der optischen Allästhesie und der
spinal bedingten taktilen Allästhesie. die Dusser de Barenne
experimentell erzielt hat. Er kombinierte zwei Hauptbedingungen:
1.eine unilaterale Blockierung zentripetaler sensibler Rücken-
marksbahnen durch Halbseitendurchschneidung des Rücken-
marks:
2.einen lokalen Übererregungszustand des Hinterhorns kaudal
und gleichseitig zur Halbseitendurchschneidung (hervorgeru-
fen durch leichte lokale Strychninisation).
Wir fassen die Ähnlichkeit der Hauptbedingungen von optischer
und taktiler Allästhesie dahin zusammen, daß in beiden Fällen folgen-
des zusammentrifft:
Eine partielle Blockierung der zentripetalen Sinnesleitung und
eine Auslöschung spezifischer Richtungsfaktoren, die eine Folge eines
besonderen enthemmenden Vorgangs innerhalb jeweils örtlich be-
stimmbarer spezifisch abgestimmter Zentren ist.
Unsere weitere Untersuchung beschäftigt sich mit der Art und
der Lokalisation dieses enthemmenden Vorgangs sowie mit dem Ver-
gleich der optischen Alkisthesie mit anderen, verwandten Symptomen
parieto-okzipitaler Herderkrankungen. Es ergeben sich dabei zahl-
reiche morphologisch-physiologische Parallelen zwischen dem feine-
ren Bau und den Leistungen der Area striata, insbesondere die Iden-
titit der v. Monakowschen trophischen und projektiven Bezie-
hung zwischen Area striata und Corpus geniculatum laterale mit der
Retinaprojektion und Doppelversorgung im Sinne von Wilbrand
und Henschen. Es wird gezeigt, daß die Retinaprojektion auf
richtenden Wirkungen beruht, die von der parieto-okzipitalen Kon-
vexität auf die Area striata und über diese hinweg auf das Corpus
geniculatum laterale ausgeübt werden. l
Schließlich ergeben sich Anschauungen über den Gesamtaufbau
jener Systeme, die das Koordinatensystem für die Einordnung räum-
licher Eindrücke schaffen und aufrecht erhalten. Es wird gezeigt, daß
sie teilweise mit dem erweiterten System der Bogenfaserzellen im
Sinne von His identisch sind und daß die Kommissurenbildung im
Großhirn als eine Fortsetzung und Erweiterung des His sehen
Bogenfasersystems zu betrachten ist. Diese Beziehungen werden ent-
wicklungsgeschichtlich und vergleichend phvlogenetisch verfolgt.
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S. 548 ff.
ABHANDLUNGEN AUS DER NEUROLOGIE,
"PSYCHIATRIE, PSYCHOLOGIE UND IHREN
GRENZGEBIETEN
BEIHEFTE ZUR MONATSSCHRIFT FUR PSYCHIATRIE UND NEUROLOGIE
ERAUSGEGEBEN VON K. BONHOEFFER
—
HEFT 48 a
(Aus der Prov.-Heil- und Pflegeanstalt Düsseldorf -Grafenberg [San.-Rat Dr.
H erting] und der Psychiatrischen Klinik der Medizinischen Akademie Düsseldorf
[Prof. Dr. Sioli.])
DIE PSYCHOSEN
DER SCHWACHSINNIGEN
VON
Dr. RUDOLF NEUSTADT
Assistenzarzt der Klinik
und Dozent für Psychiatrie und Neurologle
an der Medizinischen Akademie in Düsseldorf
*
MIT 2 TABELLEN IM TEXT
BERLIN 1928
VERLAG VONS. KARGER
KARLSTRASSE 39
Preis Mk. 15.60
für Abonnenten der „Monatsschrift für Psychiatrie und Neurologie“ Mk.14.—
y
MEDIZINISCHER VERLAG VON S. KARGER IN BERLIN NW 6
EIERN I EEA T E a a a ae ee a a a
Abhandlungen aus der Neurologie, Psychiatrie,
Psychologie und ihren Grenzgebieten
Heft 1: Typhus u. Nervensystem. Von Prof. Dr.G. Stertz in Marburg. Mk.6.—
Heft 2: Ueber die Bedeutung v. Erblichkeit u. Vorgeschichte für das klinische
Bild der progressiven Paralyse. Von Dr. J.Pernet in Zürich. (Vergriffen.)
Heft 3: Kindersprache und Aphasie. Gedanken zur Aphasielehre auf
-Grund von Beobachtungen der kindlichen Sprachentwickelung und
ihrer Anomalie. Von Priv.-Doz. Dr. Emil Fröschels in Wien. Mk. 7.80
Heft 4: Epilepsie und Dementia praecox. Von Prof. Dr. W. Vorkastner
in Greifswald (Vergriffen.)
Heft 5: Forensisch-psychlatrische Erfahrungen im Kriege. Von Priv.-Doz.
Dr. W. Schmidt in Heidelberg. Mk. 8.—
Heft 6: Verbindung endogener und exogener Faktoren in dem Symptomen-
bilde und der Pathogenese von Psyehosen. Von Priv.-Doz. Dr. Hans
Seelert in Berlin. Mk. 5.40
Heft 7: Zur Klinik und Anatomie der reinen Worttaubhelt, der Heilungsaphasie
und der Tontaubheit, Von Prof.Dr.Otto Pötzl in Prag. Mit2Taf. Mk. 7.—
Heft 8: Die Spielbreite der Symptome beim manisch-depressiven Irresein.
. Von Prof. Dr. P. Schröder in Greifswald. (Vergriffen.)
Heft 9: Die symptomatischen Psychosen und ihre Differentialdiagnose.
Von Priv.-Doz. Dr. Hans Krisch in Greifswald. (Vergriffen.)
Heft 10: Die Abderhaldensche Reaktion mit bes. Berücksichtigung ihrer Er-
gebnissei.d.Psychiatrie. VonPriv.-Doz.Dr.G.Ewald in Erlangen. Mk. 9.—
Heft 11: Der extrapyramidale Symptomenkomplex (das dystonische' Syn-
drom) und seine Bedeutung in der Neurologie. Von Prof. Dr. G.
Stertz in Marburg. (Vergriffen.)
Heft 12: Der anetliische Symptomenkomplex. Eine Studie zur Psychopatho-
logie d. Handlung. Von Priv.-Doz.Dr.O. Albrecht in Wien. (Vergriffen.)
Heft 13: Die neurologische Forschungsrichtung in der Psychopathologie
und andere Aufsätze. Von Prof. Dr. A. Pick in Prag. (Vergriffen.)
Heft 14: Ueber die Entstehung der Negrischen Körperchen. Von Prof. Dr.
L. Benedek u. Dr. F.O. Porsche in Debreczen. Mit 10 Tafeln. Mk. 15.—
Heft 15: Ueber die Bedeutung und Entstehung der Stereotypien. Von Priv.-
Doz. Dr. Jakob Kläsi in Basel. (Vergriffen )
Heft 16: Ueber Psychoanalyse. Von Dozent Dr. R. Allers in Wien. Mk. 3.60
Heft 17: Die Zergliederung des psychischen Krankheitsbildes bei Arterio-
sklerosis- cerebri. Von Nervenarzt Dr. S. J. R. de Monchy in
Rotterdam. Mk. 3.—
Heft 18: Epilepsie u. manisch-depresslves Irresein. Von Dr. Hans Krisch
in Greifswald. Mk. 3.—
Heft 19: Ueber die paranoiden Reaktionen in der Haft. Von Dr. W. För-
sterling in Landsberg a.d. W. Mk. 3.60
Heft 20: Dementia praecox, intermeditire psychische Schicht und Kleinhirn-
Basalganglien-Stirnhirnsysteme. Von Prof. Dr. Max Loewy in
Prag-Marienbad. Mk. 4.20
Heft 21: Metaphysik und Schizophrenie. Eine vergleichende psychologische
Studie. Von Dr. G. Bychowski in Warschau. Mk. 5.—
Heft 22: DerSelbstmord.VonPriv.-Doz.Dr.R.WeichbrodtinFrankf.a.M.Mk.1.50
Heft 23: Ueber die Stellung der Psychologie im Stammbaum der Wissen-
schaften und die Dimension ihrer Grundbegriffe. Von Dr. Heinz
Ahlenstiel in Berlin. Mk. 1.80
Heft 24: Zur Klinik der nichtparalytischen Lues-Psychosen. Von Dozent
Dr. H. Fabritius in Helsingfors. Mk. 4.—
Heft 25: en und Psychosen. Eine klinische Studie. Von
Dr. E. Leyser in Giessen. Mk. 4.—
Heft 26: Die Kreuzung der Nervenbahnen und die bilaterale Symmetrie des
tierischen Körpers. Von Prof. Dr.L.Jacobsohn-Lask inBerlin. Mk. 5.40
Heft 27: Kritische Studien zur Methodik der Aphasielehre. Von Priv.-Doz.
Dr. E. Niessl von Mayendorf in Leipzig. Mk. 6.—
Heft 28: Wesen u. Vorgang d.Suggestion. Von Dr.Erwin Strausin Berlin. Mk.4.80
Heft 29: Der hyperkinetische Symptomenkomplex und seine nosologische Stellung.
Von Dr. Kurt Pohlisch in Berlin. Mk. 6.—
Fortsetzung auf der 3. Umsching-Selte.
MEDIZINISCHER VERLAG VON S. KARGER IN :BERLIN.NW 6
HANDLUNGEN AUS DER NEUROLOGIE,
SYCHIATRIE, PSYCHOLOGIE UND IHREN
GRENZGEBIETEN
BEIHEFTE ZUR MONATSSCHRIFT FUR PSYCHIATRIE UND NEUROLOGIE
HERAUSGEGEBEN VON K. BONHOEFFER
(Aus der Prov.-Heil- und Pflegeanstalt Düsseldorf -Grafenberg [San.-Rat Dr.
Herting] und der Psvchiatrischen Klinik der Medizinischen Akademie Düsseldorf
[Prof. Dr. Sıoli.]ı
DIE PSYCHOSEN
DER SCHWACHSINNIGEN
VON
Dr. RUDOLF NEUSTADT
Assistenzarzt ler Klinik
und Dozent für Psychiatrie und Neurologie
an der Medizinischen Akademie in Düsseldorf
+
MIT2 TABELLEN IM TEXT
BERLIN 1928
VERLAG VONS. KARGER
KARLSTRASSE 39
Alle Rechte, insbesondere das der Übersetzung
in fremde Sprachen,vorbehalter
Buchdruckerei Ernst Klöppel, Quedlinburg a. H.
Herrn Professor Dr. Franz Sioli
in dankbarer Verehrung
zugeeignet
Vorwort
Mit der Widmung der folgenden Blätter an meinen Lehrer soll
nicht nur der übliche Dank für die Anregung und eingehende Förde-
rung der vorliegenden Untersuchungen ausgesprochen werden. Es
soll damit dokumentiert werden, daß diese Untersuchungen weit-
sehend von ihm angetrieben und in jeder Phase mitgedacht sind.
Daß Herr Prof. Sioli mich außerdem durch weitgehende Entlastung
vom klinischen Tagesdienst unterstützte, verpflichtet mich zu beson-
derem Dank.
Zu Dank verpflichtet bin ich auch dem Direktor der Provinzial-
Heil- und Pflegeanstalt Düsseldorf-Grafenberg, Herrn Sanitätsrat Dr.
Herting, dessen stets wohlwollendes und großzügiges Entgegen-
kommen mir die äußere Durchführung der Arbeit ermöglichte. Mein
Dank gilt ferner dem früheren und jetzigen Ärztekollegium der An-
stalt Grafenberg, den Verfassern vieler der benutzten Krankenblätter
— nicht nur darin zeigt sich die Arbeit als das Ergebnis des selt-
samen Gastverhältnisses, dessen sich die Klinik in der Provinzial-
anstalt erfreut — sowie den Herren Ärzten der Provinzial- und
Privatanstalten in Bedburg-Hau, Galkhausen, Klosterhoven, Königs-
hof, Krefeld, M.-Gladbach, Neuß und Tannenhof für die Überlassung
zahlreicher Krankenblätter. — Endlich erwähne ich, daß in Gesprä-
chen mit meiner Frau sich viele Einzelheiten formten.
Die Untersuchungen über die Psychosen der Schwachsinnigen
waren ursprünglich in einen weiteren Rahmen gesteckt als sie jetzt
vorliegen. Im Laufe der Arbeit richtete sich das Ziel immer mehr
auf die klinische Sammlung des Tatsachenmaterials, da diese Samm-
lung sich als unbedingte Voraussetzung für die noch ausstehenden
konstitutions- und erbbiologischen Untersuchungen erwies.
Da sich die Untersuchungen an Fachgenossen wenden, wurde
meist darauf verzichtet, typische Fälle der klinischen Gruppen zu
schildern, um mit der Erörterung jeder Krankheitsgruppe die Ana-
lyse besonderer Einzelfälle verbinden zu können.
Sollten die Untersuchungen dazu beitragen können, das Inter-
esse für ein von der klinischen Psychiatrie bisher zu unrecht ver-
nachlässigtes Gebiet neu zu erwecken, so wäre allein das be-
friedigend.
Düsseldorf, März 1928.
RUDOLF NEUSTADT.
Inhaltsübersicht
Seite
I. Einleitung Ge Wh e ee ep. Se. er ee ee ae DP?
Historische Entwicklung des Schwachsinnsbegriffs
Begriffsbestimmung und Umgrenzung des Schwachsinns .... 4
Allgemein-psychische Störungen bei Schwachsinn . .. . - . 14
Begrenzung der vorliegenden Untersuchungen { be ae es SEB
Nachweis des Schwachsinns . . ...... 2.2.2.2... . «29
Die Psychosen der Schwachsinnigen . . . . . 2 2 ... .. 19
II. Klinischer Teil -- +... - . ee © se © © es « 23-169
Allgemeine Cbersicht über das eigene Material. . . . . . . . 23
A) Manische Zustandsbilder . . . 2 2 2 1. 1 ee ee ee QF
B) Melancholische Zustandsbilder . . . . 2 2 2 2 2220. 52
C) Hemmungs- und Verstimmungszustiinde . . ..... .- . 69
D) Angstzustände . . 5... Woe 8 © a we ow Sow ee ee 82
E) Verwirrtheitszustände . . . . i j,k a ow a a” O
F) Hyperkinesen und katatone TOE E E EG |
G) Halluzinosen . . hen a er Bd ie Bee a ae, DT
H) Paranoide Zustandsbilder Ws ee Ade th, obs a. Be re, ya ne ee. var Ge ES
J) Unklare Fälle . . . . 2 2 2 20. iy. ae See ec 2 AR
K) Schwachsinn und Psychose. . . 2 2 2 2 2 we ew ee 145
L) Grenzfäle . ... e Sie ee ET ar. Ar as ee SE re pe Eee ed
M) Psychogene Reaktionen Sw Ha |
N) Haltlose . sp li, A SR AA. SR Aa ei Mee SE. he Ge, ee. Hee, re ee OT
III. Zusammenfassendes Ergebnis > - . > > 2 > + + + + + + 170
Die episodischen Psychosen der Schwachsinnigen (Sioli)
Literaturverzeichnis - >» >» 2 6 6 6 nennen. 182
I. Einleitung
Der Schwachsinn ist heute das Stiefkind der klinischen Psychi-
atrie. Wir meinen mit dieser Behauptung, daß trotz intensiver Be-
schäftigung mit einzelnen Fragen aus dem Gebiete des Schwach-
sinnes, etwa anatomischen oder ätiologischen, der Schwachsinn in
seiner klinischen Gesamterscheinung in der Klinik nicht die Rolle
spielt, die seinem Umfang, seiner sozialen Bedeutung und seinen
'psychopathologischen Varietäten entspricht und daß das Interesse
für den Schwachsinn immer mehr in die Grenzgebiete der psychiatri-
schen Arbeit gerückt ist, wobei die Kenntnis des Schwachsinns hinter
der anderer psychischer Abnormitäten zurückgeblieben ist.
Der heutige Stand wird aus der historischen Entwicklung, die
der Schwachsinn in der Psychiatrie durchmachte, verständlich. Der
alte Begriff des Blödsinns, der unseren heutigen Schwachsinnsbegriff
mit umschließt, war schon lange bekannt, insbesondere war es eine
Gruppe der Blödsinnigen, die Kretinen, die in allen psychiatri-
schen Abhandlungen, aber auch in künstlerischen Darstellungen
(Velasquez) eine große Rolle spielte, lange schon bevor von einer
ärztlich-klinischen Psychiatrie gesprochen werden kann, so bei
Paracelsus [zit. nach Weygandt (5)]. Noch lange in der Zeit
der modernen Psychiatrie, bis zu Griesinger 1876 und Arndt
1883 erhält sich diese besondere Abtrennung des Kretinismus von
den anderen Formen des Schwach- oder Blödsinns, gleich wie es bei
Pinel und schon vor diesem geschehen war. Man fand vielfach
nicht die Brücke, die den Kretinismus mit den anderen Formen des
Schwachsinns verbindet.
Das beruhte hauptsächlich auf der mangelnden Klärung der Be-
griffe in der jungen Wissenschaft. Wir finden beispielsweise bei
Pinel unter seinen Begriffen „démence“ und „idiotisme“ alle Arten
geistiger Schwäche, sowohl angeborene Schwachsinnszustände, wie
jede Form organischer Defektzustände, wie schizophrene Defekt-
zustände. Aus dieser Weite des Blödsinnsbegriffs wird verständlich,
daß Hoffbauer die Krankheiten der Seele wegen der Schilderung
des Blödsinns statt, wie ursprünglich vorgesehen, in einem in zwei
Bänden abhandeln muß. Am klarsten gibt Reil der damaligen An-
schauung über den Blödsinn Ausdruck, wenn er schreibt: „Er ist
Symptom und so wenig wie die Blindheit spezifische Krankheit, die
.
u Te
von einer Trägheit oder Zerstörung der Netzhaut, von Verdunkelung
der Säfte des Auges usw. entstehen kann“.
Dieser Ansicht widersprach Esquirol (1, 2) energisch. Es-
quirol beschränkte die Bezeichnung Idiotie auf die Zustände, die
wir in großen Zügen auch heute noch damit meinen. Er schreibt:
„Es herrscht eine große Verwirrung in Beziehung auf den Begriff
von Idiotie unter allen Schriftstellern, die über Geisteskrankheit ge-
schrieben haben.“ „Die Idiotie ist keine Krankheit, sondern sie ist
ein Zustand, in dem die intellektuellen Fähigkeiten nie bestanden ...“
„Die Verwirrtheit und die Idiotie sind wesentlich voneinander ver-
schieden, oder die Prinzipien jeder Klassifikation sind illusorisch.“
In diesem Sinne ist Esquirol auch der erste, der die Bezeichnung
Imbezillität rein auf den leichteren Grad der angeborenen geistigen
Schwächezustände beschränkte. Esquirols Anschauungen setzten
sich nur sehr schwer durch, so daß Otto noch 1862 die Begriffe
Geistesschwäche und Blödsinn, jenen für angeborene Defekte, die-
sen für später eintretende Krankheitsprozesse, definieren mußte.
Inzwischen waren Guislain (1), Ideler, Marc, Schnitzer
u. a. mehr oder weniger achtlos an Esquirols Anschauung vor-
beigegangen.
Mit der allgemeinen Anerkennung und klinischen Abtrennung
von angeborenem und erworbenem Schwachsinn tritt ein neuer Ge-
sichtspunkt in der Behandlung der Schwachsinnszustände hervor,
dessen Folgen sich noch heute auswirken, — die bewußte Ab-
trennung des angeborenen Schwachsinns von der
Lehre von den Geisteskrankheiten. Das Jahr 1859, das
Erscheinungsjahr der Lehrbiicher von Flemming, Neumann
und Wachsmuth, tritt dadurch besonders hervor. Wir finden
zwar diese Anschauung schon viel früher bei Heinroth und an-
gedeutet bei Ideler, ihre Auswirkung ist aber nicht zu vergleichen
mit den Folgen der nunmehr von allen Seiten gleichzeitig betonten
Ansicht. Neumann befaßt sich kaum mit der Idiotie, er fordert
für die Idioten besondere, von den Irrenanstalten völlig abgetrennte
Anstalten; Wachsmuth erwähnt die angeborenen geistigen
Schwächezustände überhaupt in keiner Form; Flemming scheidet
den angeborenen Blödsinn, der „auf einer Unvollkommenheit in der
sntwicklung des zentralen Nervensystems beruht“, ausdrücklich
von der Besprechung aus. Ebenso sind Schroeder v. d. Kolk
und Leidesdorf einige Jahre später der Ansicht, die Be-
sprechung des angeborenen Schwachsinns gehöre
nicht in das Gebiet der Psychiatrie. Unterstützend
un e
wirkte in derselben Richtung Morels Degenerationslehre, nach der
angeborener Blödsinn in der 4. Generation auftritt und zum Er-
löschen des Stammes führt; die Lehre begünstigte in bezug auf den
Schwachsinn einen ärztlichen Fatalismus.
Diese Ansicht ist für die folgende Generation maßgebend ge-
blieben und wahrscheinlich bestimmend für unsere heutige Kennt-
nis des Schwachsinns. Von den lehrbuchmäßigen Darstellungen der
nächsten Jahre geht Krafft-Ebing (1, 2, 3) nur kurz auf die an-
geborene Geistesschwäche ein, die er in die beiden Grade des Blöd-
sinns und Schwachsinns unterteilt; Griesinger berücksichtigt
neben den anatomischen Befunden hauptsächlich die scharfe Tren-
nung von Kretinismus und Idiotie: „Jeder Kretin ist ein Idiot, aber
nicht jeder Idiot ein Kretin.‘“ Ebenso befaßt Arndt sich in der
Hauptsache nur mit dem Kretinismus, während Schüle sogar wie-
der einen Schritt rückwärts macht, indem er die Hebephrenie, ,,die
zwar nicht auf dem Boden des Schwachsinns entsteht, aber meist zu
Schwachsinn führt‘ bei den Schwachsinnzuständen beschreibt. Dabei
hatte schon 4 Jahre vorher (1882) Kraepelin (1) das vielgestal-
tige Symptom der geistigen Schwäche nach modernen Gesichtspunk-
ten der Klinik und Psychopathologie analysiert.
Nur Emminghaus fördert in diesen Jahren grundlegend die
Kenntnis des Schwachsinns, als dessen leichtesten Grad er den schon
bekannten Formen der Idiotie und Imbezillität die Debilität neu an-
gliedert und sie von der „normalen Dummheit“ abgrenzt. Meynert
hatte dagegen in der Klinik kein Material zur Erforschung der Idio-
ten, und Wernicke schließt noch 1900 die angeborene Demenz von
der Besprechung in seinem Lehrbuch aus und verweist auf Em-
minghaus.
Die icluavigghe Zeit der klinischen Psychiatrie ließ also die an-
geborenen Schwachsinnszustände ziemlich unberücksichtigt, in der-
selben Zeit blieb auch die anatomische Erforschung des *Schwach-
sinns fast ohne fortschreitende Erkenntnis. Es war daher notwendig,
daß E. Sioli 1899 in seinem Referat über Imbezillität und 5 Jahre
später Weygandt (2) für eine stärkere Beschäftigung der Psy-
chiater mit dem angeborenen Schwachsinn warben. Weygandt
(4, 6) wiederholte seine Werbung bis in die letzten Jahre hinein
mehrfach, ohne viel Gegenliebe zu finden: Die von ihm zusammen
mit H. Vogt, später mit C. Kleefisch redigierte „Zeitschrift zur
Erforschung und Behandlung des jugendlichen Schwachsinns‘“ mußte
mit dem 8. Band ihr Erscheinen einstellen. Heute berücksichtigt in
hauptsächlich ärztlich eingestellten Publikationsorganen — neben
Fu EE
seinen eigentlichen Aufgaben — fast nur der Mitarbeiterkreis der
„Zeitschrift für Kinderforschung‘‘ den angeborenen Schwachsinn in
klinischer Hinsicht.
Das Gros der Arbeiten aus dem Schwachsinnsgebiet geht auf
spezielle Fragestellungen hinaus, entweder ätiologischer Art, wie bei
den zahlreichen Publikationen über Mongolismus, oder anatomisch-
pathogenetischer Natur, wie bei den Untersuchungen über die amau-
rotische Idiotie [Spielmever, A. Westphal und F. Sioli (2)!
oder der tuberösen Sklerose [Vogt (1) u. a.]. So ist es nicht ver-
wunderlich, daß die letzte Monographie über den angeborenen
Schwachsinn nicht von psychiatrischer sondern von kinderärztlicher
Seite, von Dollinger, stammt. —
Der Begriff des Schwachsinns war also in der älteren Literatur
schwankend und ist auch heute noch nicht fest umrissen. Hav-
mann schreibt, daß die Mehrzahl aller Seelenstörungen des Kindes
als Idiotie bezeichnet werde, H. Schnitzer nennt nach den Ergeh-
nissen der Literatur die Idiotie einen Sammelbegriff für alle Formen
geistiger Schwäche im Kindesalter; exakt geht Weygandt (1) vor.
der die verschiedenartigen kindlichen Schwächezustände unter den
Begriff der abnormen Kinder subsumiert.
Wir sind daher auch heute noch nicht der Notwendigkeit ent-
hoben, zu Anfang unserer Erörterungen den angewandten Begriff
des Schwachsinns zu präzisieren. Wir machen dabei den Versuch.
uns von der Norm her zu orientieren. Nach Lipmann sprechen wir
von „intelligenten“ psychischen Reaktionen dann, wenn sie ziel-
richtig und zielbewußt sind, sie äußern sich insbesondere in der
psychischen Gestaltungskraft, so daß die „Intelligenz“ sich als Fähig-
keit zum sach- und zielrichtigen Gestalten äußert‘). Diese Fähigkeit
ist nach Lipmann nur ein Bruchteil der psychischen Struktur, sie
gibt keinen Maßstab für die Entwicklungshöhe eines Menschen. Die
Fähigkeit zum sach- und zielrichtigen Gestalten ist aber nicht in
jeder Hinsicht gleichmäßig entwickelt, so daB Lipmann nicht von
der Intelligenz schlechthin spricht, sondern nur von Intelligen-
zen für bestimmte Gestaltungsvorgänge, also gewissermaßen von
Spezialintelligenzen. Wenden wir Lipmanns Intelligenzbegriff in
') Anm. Es konnte hier nicht die umfassende philosophische, psychologi-
sche und pädagogische Literatur über die Intelligenz erwähnt werden; das wäre
Aufgabe einer Spezialuntersuchung. Es sollte nur am Beispiel des Intelligenz-
begriffes eines anerkannten modernen Forschers gezeigt werden, daß die Be-
dürfnisse der Klinik nicht durch Untersuchungen an Gesunden befriedigt
werden.
as ae
bezug auf den Schwachsinn an, so kann die Äußerung der Intelligenz
offenbar in drei Punkten gestört sein, in ihrer Zielrichtung, in ihrer
BewuBtheit und in ihrer Spezialäußerung. Lipmann selbst unter-
scheidet „einen Schwachsinn des Erkennens (Nachgestaltens) und
einen Schwachsinn des Handelns (Umgestaltens), die nicht notwen-
dig vergesellschaftet auftreten“). Dem Kliniker erscheinen diese
Arten des Schwachsinns durch Störung der Zielrichtung (Schwach-
sinn im Nachgestalten) und durch Störung der Zielbewußtheit
(Schwachsinn im Umgestalten) nicht als prinzipiell Verschiedenes,
sondern nur als verschiedene Grade derselben klinischen Einheit.
Die klinische Betrachtungsweise deckt sich daher nicht völlig mit der
psychologischen; dem Psychologen wesentliche Differenzen der Art
erscheinen dem Psychiater als weniger bedeutsame Unterschiede des
Grades. Es ist nur natürlich, daß dem Arzt klinische Erfahrung
mehr gilt als theoretische Forderung.
Vollends geraten wir in Schwierigkeiten, wenn wir den Begriff
der Spezialintelligenzen an unserem Schwachsinnigenmaterial erpro-
ben wollen. Es liegt im Begriff der Schwachsinnsdiagnose, daß bei
ihr das, was wir als „Intelligenz für Lebenserfolg‘‘ bezeichnen wol-
len, neben der „Intelligenz für Begriffsbildung und Urteilsfähigkeit‘“,
die wir experimentell prüfen, herabgesetzt ist und daß ebenso andere
„Spezialintelligenzen‘“ in paralleler Weise gemindert sind. Erhal-
tene Spezialintelligenzen bei Schwachsinnigen lassen uns die Dia-
gnose zweifelhaft erscheinen oder da, wo sie es wirklich sind, ge-
hören sie zu den beachtenswerten Raritäten, worauf wir später bei
der Besprechung der talentierten Schwachsinnigen nochmals ein-
gehen.
Mag der Intelligenzbegriff des Psychologen mit der Norm noch
so gut übereinstimmen, so befriedigt er nicht für die Anwendung am
pathologischen Material. Wir sehen, daß der hinzugekommene
Krankheitsprozeß die psychischen Valenzen grundlegend
umgestaltet hat, daß die Struktur des Schwachsinnigen anders
ist als die Struktur des Intelligenten mit negativem Vorzeichen. Die-
ses Anderssein beruht biologisch teils auf dem zerstörenden Eingrei-
fen des Krankheitsprozesses, teils auf der mangelhaften Entwicklung
der Intelligenz.
Wir müssen also darauf verzichten, vom Begriff der Intelligenz
des Normalen Zugang zum Krankheitsbegriff des Schwachsinns zu
1) Vulgär drückt sich diese Ansicht in dem Satz aus: „Der Schwachsinnige
kann mehr als er weiß“.
— 6 —
finden. Theoretische Fundierungen des Schwachsinnsbegriffes unter
allgemeinen Gesichtspunkten sind. allerdings in der modernen Psy-
chiatrie nicht häufig. In den letzten Jahren haben sich nur Gruhle
(2) und Feuchtwanger darum bemüht. Nach Gruhle beruhen
die Abweichungen der Imbezillen von der Norm auf einer Abwei-
chung der Quantität. Gruhle vernachlässigt das durch die Krank-
heit im psychischen Geschehen grundlegend Veränderte, aller-
dings ohne daß dadurch die praktische Anwendung des Schwach-
sinnsbegriffs verhindert wird.
Eine wertungsfreie Definition des Schwachsinnsbegriffs gibt
Feuchtwanger, der als Schwachsinn bezeichnet „den spezifischen
Ausfall der Dispositionen des Denkens im engsten Sinne, also
der Erfassung von Relationen, des produktiven Bildens höherer
Relate abstrakter Art“. Feuchtwangers Gegenüberstellung des
Defekts der Denkdisposition und des Defekts der Denk-
leistung führt zu beachtenswerten Konsequenzen für die Umgren-
zung des Schwachsinnsbegriffes, mit denen sich unsere Anschauungen
darüber völlig decken.
Nach v. Domarus (2) dagegen, der allerdings seine Unter-
suchungen nur auf die leichteren Formen des schwachsinnigen Den-
kens erstreckt, liegt die Störung im schwachsinnigen Denken in der
Begriffsbildung und in der begrifflichen Synthese. Rein phänomeno-
logisch betrifft also nach v. Domarus das schwachsinnige Denken
nicht das Apriori im Denken, sondern das, was neuartig geleistet
werden muß. Auch diese Charakterisierung des schwachsinnigen
Denkens ist losgelöst von den Verhältnissen der Klinik.
Bedeutungslos für die Klinik ist die von Bristowe vertretene
Ansicht, der die Intelligenzschwäche durch eine Schwäche der ego-
istischen Instinkte verursacht glaubt.
Aus allem geht hervor, daß die Intelligenz bzw. der Intelligenz-
defekt der zentrale Faktor des Schwachsinns ist. Am eindringlich-
sten wird das immer wieder von Ziehen (1) betont, dessen Ein-
teilung der Psychosen durch das Eintreten oder Ausbleiben eines
Intelligenzdefektes bestimmend beeinflußt ist. |
Es ist aber nicht jeder Intelligenzdefekt, nicht jede Form psy-
chischer Schwäche gleichbedeutend mit Schwachsinn in klinischen
Sinne. Verschiedene positive und negative Kriterien des Symptoms
der psychischen Schwäche erlauben eine nähere Präzisierung des
Schwachsinnsbegriffes. Von diesen Kriterien stellen wir voran: Der
zentrale Faktor des Schwachsinns ist die Störung
der Intelligenz.
say ge eS
Diese Betonung ist nicht überflüssig, da in der klinischen Dia-
gnostik häufig die Annahme eines Schwachsinns auf Grund anderer
Kriterien erfolgt und dadurch das Bild des Schwachsinns verändert,
meist über Gebühr erweitert wird. Am häufigsten wird in der All-
tagspraxis Schwachsinn — wenn auch leichten Grades — dann an-
genommen, wenn anamnestisch Versagen in der Schulzeit nachzuwei-
sen ist. Untersucht man das psychiatrische Krankenmaterial auf den
Schulerfolg, so findet man in erstaunlich hoher Zahl ein- oder mehr-
maliges Sitzenbleiben u. zw. in einer weit über dem Durchschnitt
liegenden Häufigkeit. Durch große Zahlen könnte so der Eindruck
erweckt werden, daß Schwachsinn besonders zu Geisteskrankheit
disponiere, ein Schluß, der in neuester Zeit noch von Medow ge-
zogen wird. Geht man jedoch in der Einzeluntersuchung den Sitzen-
gebliebenen nach, so finden wir gerade unter den Psychopathen und
Manisch-Depressiven, die intellektuell aus dem Durchschnitt heraus-
ragen, häufig Repetenten einer oder mehrerer Schulklassen. Bei der
Organisation des Schulbetriebes — und es ist darin kein Unterschied
zwischen höheren, Mittel- und Elementarschulen — ist es nicht ver-
wunderlich, daß derartig konstitutionell Abgeartete im Schul-
erfolgzurückbleiben,auchbeiungeschädigteroder
sogar ausgezeichneter Intelligenz.
Es erheben sich auch prinzipielle Bedenken gegen den
Brauch, mangelnden Schulerfolg- mit Schwachsinn gleichzusetzen.
Diese beziehen sich gegen die darin gelegenen methodologi-
schen Fehler der Voraussetzung und Durchführung der
psychiatrischen Diagnostik. Zwar ist grade in der Psy-
chiatrie die Berücksichtigung der gesamten Lebensgeschichte von
besonderer Bedeutung, ihre wahre psvchiatrische Wertung erhält sie
jedoch erst aus der harmonischen Verschmelzung mit der Psychose,
nicht mit der gewaltsamen Zwischenschaltung der Psychose in die
Lebensgeschichte oder umgekehrt. Der methodologische Fehler in
der Voraussetzung des Verfahrens liegt darin: „Das Einjährige‘.
„das Abiturium“, „das Volksschulziel‘“ sind für uns kulturelle kom-
plexe Begriffe, deren Wert unter dem Einfluß gesetzlicher Bestim-
mungen, pädagogischer Methoden und örtlicher Eigentümlichkeiten
außerordentlich stark wechselt. Ein derartig wechselnder Kultur-
begriff darf nicht hauptsächlicher Maßstab sein für ärztliche Wertung.
Dazu liegt um so weniger Veranlassung vor, als unsere diagno-
stischen Methoden es uns ermöglichen, den charakteristischen Intelli-
genzdefekt des echten Schwachsinns von dem scheinbaren Schwach-
sinn der im Leben Zurückgebliebenen zu trennen.
a, a
Es ergibt sich daraus notwendig die Stellung, die ich (3) be-
reits früher zu ähnlichen Verkümmerungen des psychischen Lebens
eingenommen habe. Die allgemein bekanntesten Störungen körper-
licher Art, die zu geistiger Entwicklungshemmung führen und da-
durch Schwachsinn vortäuschen können, sind adenoide Vegetatio-
nen im Nasen-Rachenraum. 1874 von W. Meyer in Kopenhagen
beschrieben, wurde 1899 von Berkhan (1) darauf hingewiesen, daB
sie durch Aprosexie (= Unfähigkeit zur Konzentration der Aufmerk-
samkeit) einen Schwachsinn vortäuschen können, der durch den Er-
folg entsprechender chirurgischer Eingriffe als nicht bestehend er-
wiesen wird.
Weygandt (5) stellt seiner Einteilung des Schwachsinns die
beiden von ihm sogenannten „historischen Schwachsinnsgruppen‘‘,
den Schwachsinn infolge Erziehungsmangels und den infolge Sinnes-
mangels, voran. Dieser Ausscheidung psychischer Entwicklungs-
hemmung infolge mangelnder Erziehung oder infolge Defektes der
Sinnesorgane aus dem Begriff des eigentlichen Schwachsinns schlie-
ßen wir uns an, und wir lehnen mit Weygandt, Ziehen (3) u.a.
den von Ireland aufgestellten Begriff der „Idiocy by deprivation*
aus unseren prinzipiellen Anschauungen über den Schwachsinn ab.
Zwar sind taubstumme Kinder oft infolge einer allgemeinen Schädi-
gung öfters auch gleichzeitig schwachsinnig, doch beweisen die
Lebensschicksale von Laura Bridgeman und Helen Keller,
daß selbst schwerste Defekte mehrerer Sinnesgebiete nicht zwangs-
läufig mit Schwachsinn im Sinne eines Intelligenzdefektes verbunden
sein müssen.
Feuchtwanger (l.c.) weist noch auf eine besondere Form des
„unechten‘‘ Schwachsinns hin, die Herdstörungen des Gehirns. Tat-
sächlich ist der Fortschritt der psychiatrischen Erkenntnis, der seit
Liepmanns grundlegenden Arbeiten mit der Heraushebung der
verschiedenen Herdstörungen „aus dem undifferenzierten Schleim der
Demenz“ eingesetzt hat, für die Erkennung der kindlichen Schwach-
sinnsformen bisher wenig ausgenützt worden. Kinder, die infolge
Aphasie, Apraxie usw. — nach Typhus, Scharlach u. 4 Erkrankun-
gen — in ihrer psychischen Entwicklung zurückgeblieben sind, wer-
den zu häufig als Schwachsinnige betrachtet. Mit Recht schreibt
Feuchtwanger dagegen: „Es fehlt ihnen primär nicht die Dispo-
sition zu denken, erlebte Inhalte in neue Beziehungen produktiv zu
bringen. Ihnen fehlt das Mittel, das Werkzeug, höhere Denk-
leistungen zu produzieren.“ Gemeinsam hat also der „unechte“
Schwachsinn mit dem „echten“ den Ausfall der Denkleistung;
N, we
der echte Schwachsinn ist dagegen gekennzeichnet durch den Mangel
der Disposition des Denkens.
Eine derartige scharfe Trennung hat nicht nur Interesse im Hin-
blick auf die diagnostische und systematische Differenzierung der
verschiedenen Schwachsinnsformen, insbesondere des „Pseudo-
Schwachsinns‘ vom echten Schwachsinn, sondern ihr ganzer Wert
offenbart sich erst in den prognostischen Ausblicken, die sich durch
eine solche Differenzierung für die Methode und den Erfolg einer
heilpädagogischen Behandlung ergeben. Gerade dadurch wird die
Brauchbarkeit dieser theoretischen Grundlage erwiesen und sie als
Ergebnis klinischer Beobachtung gekennzeichnet.
Wenn wir Feuchtwangers Anschauung übernehmen, so
kann Schwachsinn nur primär sein. Wir scheiden
alle sekundären Verblödungen aus dem Schwach-
sinn aus.
Das gilt insbesondere für die Endzustände epileptischer und
schizophrener „Prozesse“. Sie unterscheiden sich vom Schwach-
sinn klinisch dadurch, daß sie Endzustände eines Prozesses sind,
während dem Schwachsinn das Merkmal des Prozeßhaften nicht zu-
kommt, er vielmehr durch sein stationäres Verhalten charakteri-
siert ist, psychopathologisch dadurch, daß sie die Intelligenz viel un-
gleichmäßiger destruieren und andere, persönlichkeitsnähere psychi-
sche Komplexe stärker alterieren als der unkomplizierte Schwach-
sinn. Dem Schwachsinn fehlt also das Merkmal des
Wechsels. Wir sprechen daher nicht mehr von primärem und
sekundärem Schwachsinn, wie es beispielsweise noch Emming-
haus tat.
In der gegebenen Definition des Schwachsinns liegt es, daß
Krankheiten, auch Hirnkrankheiten, nicht Schwachsinn
sind. Solange der Krankheitsprozeß, etwa eine Enzephalitis, akut
ist, stehen andere Symptome als der Schwachsinn im Vordergrund
und die Größe des eigentlichen Intelligenzdefektes ist neben den
anderen psychischen Störungen schwer zu erkennen. Dasselbe gilt
in verstärktem Maße für unsere Ansicht über die juvenile Paralyse.
Natürlich hinterläßt eine Gehirnerkrankung nicht selten Schwach-
sinn als Residualsymptom, der sich im Gegensatz zu dem
Endsymptom der „Verblödung“, klinisch und psychopathologisch
dann, wenn er im frühen Kindesalter erworben wird, in nichts von
dem angeborenen Schwachsinn unterscheidet. Die gebräuchliche
Zusammenfassung der „angeborenen“ und „früh erworbenen“
Schwachsinnszustände findet darin ihre Rechtfertigung.
>=, 0: =
Schwachsinn hat in einer Gehirnschädigung
sein Korrelat. Tuberöse Sklerose, amaurotische Idiotie, Por-
enzephalie u. a. Schwachsinnsformen mit erforschter Anatomie gelten
daher gern als Prototypen des Schwachsinns. Ihr zuweilen in späte-
ren Lebensjahren einsetzender Wechsel der klinischen Ausdrucks-
form sprengt nicht das Prinzip des Stationärseins, da es sich dabei
nicht um einen tatsächlich fortschreitenden Prozeß, sondern nur um
die in späteren Jahren deutlichere Manifestierung der functio laesa
handelt.
Alle diese Tatsachen zusammen setzen einer Ausdehnung des
Schwachsinnsbegriffs bestimmte Grenzen. Wir können daher Wev-
gandt (7) nicht folgen, der in seiner letzten Publikation über die
Gruppierung von Idiotie und Imbezillität die psychischen Symptome
der Metenzephalitis bei Kindern darunter aufführt und zwar nicht
nur die selteneren Fälle echter Intelligenzdefekte bei Metenzephalitis.
sondern auch die als Charakterabartungen bekannt gewordenen.
Gerade diese Fälle von „Wesensänderung nach Enzephalitis‘‘ lassen
alle oben genannten Kriterien des Schwachsinns völlig vermissen.
wie die von Bonhoeffer (3), Leyser, Homburger (2).
Thiele, Neustadt (1) u. a. durchgeführte Analyse dieser Zu-
stände ergibt. Wir können uns daher der genannten Meinung Wey-
gandts über die Subsumierung der psychischen Enzephalitis-
folgen der Kinder unter die Schwachsinnszustände nicht anschließen.
Unter Zusammenfassung der genannten Kriterien definieren wir
nunmehr dahin: Schwachsinn bezeichnet mangelhafte
Entwicklung im Geistigen, einen Intelligenzdefekt
auf Grund einer Gehirnschädigung, eine primäre
Störung der Dispositionen des Denkens, die ange-
boren oder in frühester Jugend erworben und sta-
tionär ist. Nur in dieser Bedeutung, die etwa der Obligophrenie
Kraepelins entspricht, wird die Bezeichnung Schwachsinn im
foleenden verwandt werden. —
Die klinische Symptomatologie des Schwachsinns ist so viel-
vestaltig, daß von jeher der Wunsch nach einer Gruppierung
der Schwachsinnsformen lebhaft war. Der erstrebenswerte
Zustand, alle Schwachsinnsformen nach einem Prinzip zu gruppie-
ren, ist bisher nicht erreicht. Nebeneinander stehen die Gruppierun-
een nach verschiedenen Gesichtspunkten, ohne daß die eine der
anderen unbedingt überlegen sei. Allgemein bekannt ist die Ein-
teilung der Schwachsinnsformennachden Temperaments-
äußerungen in torpide und erethische Schwachsinnige; eine der-
= AY bee
artige Gruppierung kann fiir die schweren Schwachsinnsformen
durchgehen, könnte auf viele der leichteren Schwachsinnsformen
jedoch nur mit Gewalt angewendet werden. — Ziehen (1) schreibt,
daß man sich nicht mit der Diagnose Schwachsinn beruhigen dürfe,
bevor nicht der ätiologische Faktor des Schwachsinns geklärt sei.
Die ätiologische Gruppierung der Schwachsinns-
formen ist außerordentlich fruchtbar gewesen; sie hat die Kennt-
nis der verschiedenen zerebral bedingten Schwachsinnsformen — °
aus Anlagestörungen, Entwicklungsstörungen und Hirnkrankheiten
— gefördert und auf die extrazerebral verursachten hingewiesen,
sowie therapeutischem Handeln Richtlinien gezeigt. Aber auch das
ätiologische Einteilungsprinzip vermag nicht dem Gesamtgebiet des
Schwachsinns gerecht zu werden, da die Ätiologie vieler mittlerer
und leichterer Schwachsinnsformen heute noch ungeklärt ist.
Feuchtwanger sieht als wünschenswert die Zuordnung des
Schwachsinns zum Gehirndefekt; einer derartigen Be-
trachtungsweise erscheinen Mongolismus, Kretinismus und ähnliche
Formen als „Auch-Schwachsinn“. Schließlich ist noch die Grup-
pierung des Schwachsinns nach seinem Grad ein
verbreitetes Prinzip. Praktisch ist es das wichtigste, da durch den
Grad des Schwachsinns in den meisten Fällen die heilpädagogische
Beeinflußbarkeit und das Lebensschicksal des Schwachsinnigen be-
stimmt wird. Jedoch hat die ätiologische Erforschung des Schwach-
sinns zu wichtige Erkenntnisse gezeitigt, um sie zugunsten einer
Gruppierung nach dem Grade des Schwachsinns vernachlässigen zu
können.
So ergibt sich heute die Notwendigkeit, die Schwachsinnsformen
nicht allein nach einem Prinzip zu gruppieren. Weygandt (4)
schrieb 1913: „Weder die Morphologie noch die Psychologie allein
reichen zum Einteilungsprinzip aus.“ Damals war noch nicht klar
zu sehen, daß der Schwachsinn das Modell sein konnte für alle die
klinischen Bestrebungen, die unter dem Namen der ,,mehrdimensiona-
len Diagnostik“ (Kretschmer), der „Strukturanalyse“ (Birn-
baum) zusammengefaßt sind. Wenn irgendwo, so sind für das Ge-
biet des Schwachsinns derartige Betrachtungsweisen unerläßlich.
Gehen wir von der allgemeinen Betrachtung der Gruppierung
des Schwachsinns zu seinen speziellen Erscheinungsformen über, so
sind es nur wenige Formen, bei denen ein Zweifel ihrer Zuordnung zu
dem hier vertretenen Schwachsinnsbegriff entstehen kann, es betrifft
das insbesondere die von Heller beschriebene Dementia infantilis
und den Infantilismus. Die Frage, ob die Dementia infantilis der
Neustadt, Die Psychosen der Schwachsinnigen (Abhdl, H. 48). 2
23 ADS cs
Dementia praecox oder dem Schwachsinn nähersteht, ist heute noch
in der Schwebe und bedarf zu ihrer Klärung eines viel größeren klini-
schen und anatomischen Materials als es bisher vorliegt.
Für den Infantilismus kann man weder als allgemeine Regel auf-
stellen: „Der Infantilismus ist eine Form des Schwachsinns“ noch gilt
das Gegenteil generell. Anton (1, 2) trennt die generellen von den
partiellen Infantilismen, unter diesen führt er den reinen psychischen
- Infantilismus auf. Sicher ist, daß nicht jeder Infantilismus mit
Schwachsinn verbunden ist, so ist zwar der von den Kinderärzten
sogenannte „Heubner-Herter‘ — der Infantilismus mit Hervor-
treten von Darmstörungen — häufig von psychischen Störungen,
selten von Schwachsinn begleitet (Kleinschmidt). Auch der
reine psychische Infantilismus läßt nicht genügend Kriterien des
Schwachsinns erkennen. Es handelt sich bei dieser Entwicklungs-
hemmung um eine gleichmäßige Störung aller psychischen Quali-
täten, nicht um eine Bevorzugung des Intellekts. v. Düring hat
Recht, wenn er den Infantilen als geschlossene Persönlichkeit be-
zeichnet, sozusagen in kleinerem Format. Wir betonen daher, daß
Infantilismus mit Schwachsinn vergesellschaftet sein kann, daß aber
die Infantilismen an sich keine geschlossene Gruppe
des Schwachsinns darstellen. Die psychischen Störungen der
Infantilen werden wir daher nicht besonders berücksichtigen. —
Die Fälle von „talentierten Schwachsinnigen‘“ haben von jeher
ein derartiges Aufsehen erregt, daß sie auch hier einer besonderen
Würdigung bedürfen. Wenn wir uns der gegebenen Definition des
Schwachsinns erinnern, so werden uns die Berichte über talentierte
Schwachsinnige allerdings mißtrauisch machen, um so mehr, als die
überwiegende Zahl aller beschriebenen Fälle aus der vorärztlichen
Zeit der Psychiatrie und aus ihren ersten Anfängen in der ersten
Hälfte des vorigen Jahrhunderts stammt. Nachdem man sich auch
in der Psychiatrie von der rationalistischen Spekulation der natur-
wissenschaftlichen Beobachtung immer mehr zugewandt hatte, wur-
den die Berichte über talentierte Schwachsinnige immer spärlicher,
und Emminghaus bezeichnete die sogenannten Talente der
Schwachsinnigen auf Grund seiner Beobachtungen als wenig wert-
voll. Arndt erkannte, daß die Talente der Schwachsinnigen oft
nur vorgetäuscht seien, daß es sich dabei meist nur um besonders
temperamentvolle, lebhafte und vordrängerische Naturen handele.
Die beschriebenen Talente selbst sollen künstlerische Gebiete wie
(Gedächtnisleistungen betreffen, so beschreibt Witzmann einen
Fall von auffallender Gedächtnisleistung für Kalenderdaten. Wizel
— 18 —
beschreibt einen Fall von Rechentalent, der einen Teil des Rechnens,
nur das Multiplizieren innerhalb eines gewissen Systems, beherrschte.
Der letzte derartige Fall ist, soweit ich sehe, von Berkhan (2)
beschrieben worden. Auch in diesem Fall konnte ein Schwachsinni-
ger Multiplikationen dreistelliger Zahlen ausführen, schnell aber
nicht richtig!’) |
Geht man die beschriebenen Fälle näher durch, so sieht man,
daß es sich in einzelnen Fällen um solche handelt, die nach einer
anfänglich guten geistigen Entwicklung erkrankten und nach einem
Trauma, einer Infektionskrankheit usw. in Demenz verfielen, von der
die eine erwähnte geistige Funktion nicht mit-
betroffen wurde; oder bei einem Schwachsinnigen
hebt eine einfache geistige Fähigkeit — Tongehör,
Gedächtnis — sich aus dem übrigen Niveau auffal-
lend hervor. Es handelt sich dabei mehr um eine Differenz
gegenüber den anderen psychischen Qualitäten als um eine echte
Höherleistung, wie beispielsweise die oft erwähnte Musikalität der
Mongoloiden sich durchweg in bescheidenen Grenzen hält. Das Kri-
terium des Talents, die selbständige Produktivität, vermissen wir in
allen Fällen. Wir sind daher nur mit größter Reserve berechtigt
von talentierten Schwachsinnigen zu sprechen. Wo einmal wirklich
echtes Talent nachzuweisen ist, ist dieser Umstand geeignet, die Dia-
enose eines Schwachsinns zu erschüttern.
Wenn wir noch erwähnen, daß der Schwachsinn fließend in die
„normale“ Dummheit übergeht, so dürfte damit die Umgrenzung
nach allen Seiten gezogen sein. —
Es bleibt nur noch übrig, zur Frage des „moralischen Schwach-
sinns‘“ Stellung zu nehmen. Die Literatur zu dieser Frage ist unüber-
sehbar und dieser von Prichard eingeführte Begriff hat heftige
literarische Kämpfe verursacht. Es handelte sich dabei um die
Frage, ob es eine selbständige „moral insanity“ gebe. Die Frage
hätte nicht auftauchen können, wenn nicht seit etwa 1870 in der
Begriffsbestimmung der moral insanity ein Wandel eingetreten wäre.
Die Ansichten standen sich in dieser Frage diametral gegenüber.
Schüle (l. c.) unterschied eine angeborene und eine erworbene
Form der moral insanity, die angeborene Form bezeichnete er als
eine Neurose. Ähnlich differenzierte Krafft-Ebing (1). Wit-
kowski erkannte moral insanity ohne Intelligenzdefekt nicht an,
') Anm. Unwillkürlich wird man dabei an Fritz Reuters „Onkel Brisig“
erinnert: „In der Fixigkeit bin ich ihm über, aber in der Richtigkeit, da is er
mich über.“
2
sa SR. ee
während Emminghaus glaubte, sie komme öfter ohne diesen vor.
Tiling, der die moral insanity auf ein exzessiv sanguinisches Tem-
perament zurückführt, berichtet eingehend über die Stellungnahme
zahlreicher Autoren zur moral-insanity-Frage bis zum Ende des vori-
gen Jahrhunderts.
Die Ansichten verschoben sich wesentlich mit der Erkenntnis
der psychopathischen Zustände im heutigen Sinne und schon
E. Sioli lehnt den Begriff der moral insanity energisch ab; statt
dessen sei die Bezeichnung „Imbezillität mit hervortretenden mora-
lischen bzw. ethischen Defekten“ zu wählen. Wenn seitdem auch
noch einige Male [Bleuler (1), H. W. Maier] versucht wurde,
die Existenz einer selbständigen moral insanity zu beweisen, so ging
doch die Hauptströmung dahin, entweder nur bei nachweisbarem
Intelligenzdefekt von moral insanity zu sprechen (Binswanger)
oder sie überhaupt als Krankheitseinheit abzulehnen [Ziehen (2).
Herzig (1, 2)] und die moral insanity als polyvalentes
Symptom zu betrachten. In dieser Richtung beschrieb Schae-
fer seine „Metaepilepsie‘“ als eine der Epilepsie nahestehende Gruppe
der moral insanity und Meggendorfer eine andere Gruppe als
„Parathymien‘“ mit Beziehungen zum schizophrenen Formenkreis.
Wir wissen heute, daß „moral insanity“ ebensowenig
eine Krankheitist wie „Größenwahn‘“, wir betrachten sie
als Syndrom und haben grade in den letzten Jahren die „moral-
insanity-ähnlichen‘“ Zustandsbilder der Morphinisten und Enzepha-
litiskinder ungeheuer an Verbreitung gewinnen bzw. neu entstehen
sehen. — j
Betrachten wir auch den Intelligenzdefekt als die zentrale Stö-
rung des Schwachsinns, so ist er nicht der einzige Defekt der
Schwachsinnigen. Es handelt sich vielmehr bei den Schwachsinni-
gen um einen Defekt der Gesamtpersönlichkeit, um
mehr als nur eine Intelligenzstörung. Jedoch sei nochmals betont,
daß die Intelligenzstörung innerhalb der Störung der Gesamtpersön-
lichkeit die prägnanteste ist, daß gerade sie den Schwachsinn i. e. S.
von anderen (primären und sekundären) Defektzuständen trennt.
Die Gesamtstörung des Schwachsinns läßt — neben den soma-
tischen usw. Untersuchungen — daher auch für psychische Unter-
suchungen so viele Betrachtungsweisen und Untersuchungsmöglich-
keiten zu, als es Teilkomponenten der Gesamtpersönlichkeit gibt. Es
läßt sich also jedes psychische Phänomen des Schwachsinnigen iso-
liert untersuchen. Diese Untersuchungen sind jedoch bisher weniger
beachtet worden.
— 15 —
Von den seelischen Einzelleistungen sind namentlich die Assozia-
tionen der Schwachsinnigen von Wreschner (1, 2), Wimmer
und insbesondere Ziehen (2) untersucht worden. Haymann be-
richtet ferner über die Untersuchungen von Lobsien über die Aus-
sagen der Imbezillen, von Moses über ihre Phantasietätigkeit, von
Imhofer über das musikalische Gehör Schwachsinniger sowie über
einen neuen Fall hervorragender Gedächtnisleistungen bei einem
hochgradig schwachsinnigen Kind, den Blin mitteilte Schle-
singer untersuchte die Charakterentwicklung schwachbegabter
Schulkinder im Vergleich zu ihrem psychischen Verhalten. Die Un-
tersuchungen von E. v. Domarus über das schwachsinnige Denken
wurden bereits erwähnt; endlich ' untersuchte in letzter Zeit
G. Schwab die Bedeutung der psychischen Struktur für die Form
des kindlichen Schwachsinns, indem er auf Parallelen gewisser psy-
chischer Gesamtstrukturen Schwachsinniger zu den Strukturelemen-
ten und Strukturebenen bestimmter Lebensalter hinwies.
Derartige Untersuchungen sind wertvoll in ihren Ergebnissen
für die allgemeine Psychopathologie wie für das Einzelindividuum.
Unter besonderen Verhältnissen können sie in ihren Ergebnissen
wertvoller sein als die Erforschung der Intelligenz. Niemals aber ist
bisher erwiesen, daß es möglich sei, die Klinik des Schwachsinns all-
gemein anders als am Intelligenzdefekt zu orientieren. Es ver-
mochten sich daher Einteilungsversuche des Schwachsinns nach an-
deren Merkmalen als der Intelligenz bisher nicht durchzusetzen. Daß
Esquirols (l. c.) Versuch der Einteilung der Schwachsinns-
zustände nach dem Grade ihrer Sprachentwicklung mit zunehmender
Kenntnis der zerebralen Herdstörungen und des Mechanismus der
extrazerebralen Sprachanteile immer mehr an Wert verlor, erscheint
nicht verwunderlich. Aber auch Solliers vielgerühmtes Prinzip
der Einteilung der Idiotie und Imbezillität nach dem Grade der Auf-
merksamkeit bzw. Aufmerksamkeitsstörung hat für die Klinik nicht
die Bedeutung, die ihm für die Heilpädagogik zukommt. Sollier
legt übrigens außer der Aufmerksamkeitsstörung noch einen ande-
ren, einen sozialen Maßstab zur Einteilung der Schwachsinnszustände
an, und er bezeichnet die Idioten als Extra-Soziale, die Imbezillen
als Anti-Soziale.
Gerade aus Solliers beiden Ordnungsprinzipien geht mit
Deutlichkeit hervor, daß alle Einteilungsprinzipien, die nicht auf der
Intelligenzstörung beruhen, nur von einem bestimmten Standpunkt
aus, nur für eine bestimmte Fragestellung Gültigkeit haben. Das
gilt auch besonders von dem jüngsten derartigen Versuch, dem von
Eu I, a
Nöll, der Intentionalität und Reaktivität bzw. deren Störungen als
Grundlagen der Schwachsinnstypen ansieht, die er als Ausdruck der
Schwächung der Sinnes-, Erinnerungs- oder Bewegungszentren be-
trachtet. Doch soll an dieser Stelle nicht mehr auf die Einteilung
der Schwachsinnszustände eingegangen werden.
Die psychologische Untersuchung der Schwachsinnigen ist am
umfassendsten von Rossolimo nach der von ihm sogenannten
Methode des „psychologischen Profils“ durchgeführt worden; aller-
dings befaßt Rossolimo sich mit den Schwachsinnszuständen, die
wir, als auf unklarer Begriffsbildung beruhend, ablehnen. Aus die-
sem Sammelbegriff „Schwachsinn“ heraus entwickelt Rossolimo
die asthenischen, amnestischen, prädementen und dementen Formen
des kindlichen Schwachsinns.
Merkwürdigerweise ist erst in letzter Zeit die Motorik der
Schwachsinnigen eingehender untersucht worden. Die Untersuchun-
gen gehen von Homburger (1) aus, der in mehrfachen interessan-
ten Abhandlungen das Thema behandelt hat. Danach publizierten
K. Jacob, Karger und Oseretzki ihre Untersuchungen. Wei-
tere Untersuchungen der Motorik der Schwachsinnigen erscheinen
aussichtsreich und fruchtbringend.
Vernachlässigt wurden in neuerer Zeit Untersuchungen über die
Affekte und Gefühle der Schwachsinnigen. —
Alle diese Untersuchungen einzelner seelischer Qualitäten der
Schwachsinnigen wurden hier erwähnt, um zu zeigen, welchen Weg
die Psychopathologie des Schwachsinns genommen hat und wo sie
heute steht. Es wird jedoch im folgenden die phänomenologische
Betrachtungsweise der Psychopathologie nicht durchgeführt. Wir
beschränken uns auf die deskriptiv-experimentelle Betrachtungs-
weise, die die klinische genannt wird. Und auch diese soll nicht auf
das klinische Gesamtgebiet des Schwachsinns angewandt werden,
sondern nur auf die Psychosen der Schwachsinnigen.
Neben dieser Beschränkung auf die klinische Betrachtungsweise
und die Bearbeitung der Psychosen der Schwachsinnigen, mußte ich
mir eine weitere Beschränkung dadurch auferlegen, daß mir nur
psvehische Störungen bei erwachsenen Schwachsinnigen zur Verfii-
eung standen. Entsprechendes Material bei jugendlichen Schwach-
sinniven bot unsere Anstalt nicht. Wenn auch mancherlei Abwei-
chungen der psvehotischen Schwachsinnigen in verschiedenem
Lebensalter als wahrscheinlich zu erwarten sind, so wiegt doch das
Fehlen des jugendlichen Materials um so leichter, als Hombur-
ger (2) in seiner „Psychopathologie des Kindesalters® auch den
er m =
Schwachsinn in einer so umfassenden Weise dargestellt hat, daß es
kaum möglich ist, dem dort Gesagten noch etwas hinzuzufügen.
Die Beschränkung auf erwachsene Schwachsinnige enthebt uns
der Notwendigkeit, zu den Methoden des Nachweises des Schwhch-
sinns eingehend Stellung zu nehmen. In allen Fällen hat das Ver-
sagen im Lebenskampf deutlicher gesprochen als es eine, wenn auch
noch so eindringliche, psychologisch-experimentelle Analyse ver-
möchte. Das enthebt uns natürlich nicht der Pflicht, den Intelligenz-
defekt des Schwachsinnigen durch eine oder mehrere der bekannten
Untersuchungsmethoden nachzuweisen, läßt uns aber den immer
noch nicht ruhenden Streit um die Wahl der Methoden weniger bren-
nend erscheinen als dem Jugendpsychiater und Heilpädagogen.
Zu den umstrittensten dieser Methoden gehört die Staffeltest-
serie von Binet-Simon-Bobertag, die sich in der Klinik am
meisten eingebürgert hat. Die Vorwürfe, die Ziehen (4, 5) diesem
Verfahren gemacht hat, sind, wenigstens vom Standpunkt des Klini-
kers aus, als übertrieben zu bezeichnen. In der Klinik kommt es
darauf an, schnell einen Überblick über die Intelligenz des Kran-
ken bzw. über seinen Defekt zu bekommen. Wegen der Mannig:
faltigkeit der Tests, die verschiedene Seiten des Intellekts berühren,
ist die Binet-Simonsche Methode dazu besser geeignet als alle
anderen Methoden, die nur einen Teil des Intelligenzdefektes mar-
kieren.
Freilich muß man sich der Unzulänglichkeiten der Methodik be-
wußt bleiben. Diese Unzulänglichkeiten hat aber bereits Bobertag
selbst hervorgehoben und nach Stern und Wiegmann arbeitet
neben anderen gerade Bobettag bis jetzt an der Verbesserung der
Methode. Sicher ist, daß ein Teil der Abneigung gegen die Binet-
Simon-Methode auf ihrer kritiklosen Anwendung beruht; wenn
beispielsweise Be yermann auf Grund des Ergebnisses des Binet-
Simon statt einer Pseudodemenz eine Imbezillität diagnostiziert, so
spricht das mehr gegen den Untersucher als gegen die Methode. Auch
die Angriffe von Pisani, der eine Methode wie den Binet-Simon
in der Psychiatrie weder für notwendig noch für zureichend hält,
sind nicht stichhaltig, weil sie von der Methode zuviel erwarten.
Pisanis Anforderungen an die Methode sind vergleichsweise so,
als ob die. Pupillenuntersuchung die gesamte neurologische Unter-
suchung ersetzen solle. Ebensowenig wie das möglich ist, ist
der Binet-Simonalleinzur Diagnoseeines Schwach-
sinns verwendbar. Im Gegenteil, wir werden den Test zur Dia-
gnose des Schwachsinns mittleren und leichteren Grades oft ent-
— 18 —
behren können, wie wir auf ihn zur Diagnose leichtester Schwach-
sinnsgrade immer verzichten müssen. Häufig wird die Verhaltens-
weise des Kranken bei der Untersuchung und bei der Erhebung der
Anamnese die Diagnose Schwachsinn schon als sicherstehend er-
scheinen lassen, bevor überhaupt eine geistige Funktion speziell
untersucht wurde.
In einem aber ist die Binet-Simonsche Methode für die
Klinik unübertroffen, in der Zuordnung eines Schwachsinnigen zu
einer der gebräuchlichen Gruppierungen des Schwachsinnsgrades.
Auf eine derartige Gruppierung können wir aus Gründen der
Verständigung nicht verzichten. Wenn auch von jeher und bis in die
neueste Zeit die Schwierigkeiten einer derartigen Gruppierung immer
wieder betont wurden, da der Schwachsinn alle Grade geistiger
Schwäche von der Dummheit bis zur tiefsten Verblödung umfaßt, so
ist doch in der heute üblichen Dreiteilung der Schwachsinnsgrade in
Debile, Imbezille und Idioten eine praktisch brauchbare Gliederung
gegeben. Es ist unnötig zu sagen, daß auch diese Gliederung — wie
jede Typisierung — nicht ohne Vergewaltigung im Einzelfall durch-
“zuführen ist. Doch umgrenzen die gleichen Bezeichnungen Debilitit,
Imbezillitit und Idiotie nicht bei allen Autoren die gleichen Begriffe;
die Grenzen der einzelnen Schwachsinnsgrade sind bei den verschie-
denen Autoren fließend.
Wenn wir eine praktisch-soziale Orientierung wählen, so bezeich-
nen wir als Idioten die nicht schul- und bildungsfähigen Schwach-
sinnigen, davon diejenigen, die kein Sprachvermögen erlangen, als
schwere Idioten. Die leichtere Form der Idiotie entspricht den Alters-
stufen 3—6 von Binet-Simon. Die schulungsfähigen Schwach-
sinnigen mit gröberen Defekten, die Imbezillen, entsprechen den Alters-
stufen 6—12 von Binet-Simon. Noch leichtere Schwachsinns-
grade, die Debilen, pflegen erst im werktätigen Leben, häufig unter
dem Einfluß besonderer Ereignisse, manifest zu entgleisen; sie gehen
über die Altersstufen von Binet-Simon hinaus; zu ihrer Erfas-
sung hat S. Fischer in den letzten Jahren eine Testserie ange-
geben. i
In dieser Möglichkeit zur Eingruppierung der verschiedenen
Schwachsinnsgrade, die mit der Binet-Simon -Methode schnel-
ler und ebenso exakt wie sonst durchgeführt werden kann, liegt ihre
Hauptstärke, unbeschadet dessen, daß zur psychologischen Durch-
dringung des Schwachsinns und zu seiner Diagnose zahlreiche andere
Methoden herangezogen werden müssen. Aber auch hier gilt: „Das
= JO. 2
Gute aus der Hand zu geben, weil man etwas Besseres wünscht, das
man noch nicht hat, wäre verfehlt“ [Sioli (2)]. —
Erinnern wir uns wieder des historischen Werdegangs des
Schwachsinnsbegriffs und seiner praktischen Bedeutung in der klini-
schen Psychiatrie. Wir finden es dann nicht verwunderlich, daß in
den verschiedenen Zeitabschnitten wesentlich Verschiedenes als
Psychose bei Schwachsinn bezeichnet wurde. Besonders bemerkens-
wert ist Jedoch, daß erst in den allerletzten Untersuchungen unseres
Gegenstandes [Luther (2), Wasner, Medow] eine begriffliche
Klärung versucht wurde. |
Es ist daher schwer, sich aus den verstreuten Bemerkungen in
der Literatur über die Psychosen der Schwachsinnigen eine Meinung
darüber zu bilden, ob damit dasselbe gemeint ist wie unser Thema.
Es hat aber den Anschein, als ob die Kenntnis der Psychosen der
Schwachsinnigen verbreiteter war als ihre spezielle Untersuchung
und Beschreibung. Das geht aus Bemerkungen von Sollier u. a.
hervor, die das Irresein der Idioten und Imbezillen ausdrücklich von
der Untersuchung ausschließen oder wie Schlesinger ihr Fehlen
besonders vermerken. |
Die Komplikation des Blödsinns mit fixem Wahn, Tobsucht oder
Narrheit war schon Reil bekannt. Nach Reils Schilderung han-
delte es sich nicht nur um Psychosen der Schwachsinnigen, doch läßt
die Darstellung daran denken, daß ihm auch diese bekannt waren.
Großen Wert legt Kieser auf diese Zustände, der schreibt:
„Durch Unkenntnis dieser Komplikation des örtlichen ‚oder all-
gemeinen Blödsinns mit .sekundärer Verrücktheit ist in der Lehre
von der Verrücktheit die größte Verwirrung entstanden, indem man,
beide nicht unterscheidend, die ursprüngliche idiopathische Verrückt-
heit und diese sekundäre zusammenwarf und miteinander gleich-
stellte, die Komplikation mit dem ursprünglichen Blödsinn dabei aber
ganz übersah (so bei Reil, bei Guislain und anderen neueren
Irrenärzten)‘“.
Diese Vorwürfe gegen Guislain erscheinen nicht berechtigt.
Zwar hat Guislain in der älteren Auflage seiner Phrénopathien
(1838) seine Ansicht nur verschwommen ausgedrückt, in der im Jahre
1880 erschienenen 2. Auflage seiner Lecons orales (herausgegeben
von Ingels) spricht er sich jedoch unmißverständlich aus; ja man
kann Guislain, den Beschreiber der ,,[mbécillité composée“, als
Pionier dieses Gebietes bezeichnen. |
Inzwischen hatte in Deutschland Krafft-Ebing den Begriff
der kombinierten Psychose geprägt und Siemens bearbeitete sie
— 20 —
in einer speziellen Untersuchung. Allerdings versteht Siemens
unter „kombinierter Psychose‘ wesentlich anderes als wir es heute
tun, so rechnet er dazu den Phasenwechsel des manisch-depressiven
Irreseins, manische Zustandsbilder bei Paralyse usw. Die Psychosen
der Imbezillen charakterisiert Siemens als inhaltsarm.
Wenn auch Siemens’ Anschauungen über „kombinierte Psv-
chosen‘ sich auf die Dauer nicht durchsetzten, so dauerte es doch
noch mehr als 20 Jahre — bis zum Ausbau der Kraepelinschen
Systematik — bis Gaupp (1) auf den eingeschlagenen Irrweg
hinwies.
Es soll jedoch an dieser Stelle nicht die Frage der „kombinier-
ten Psychosen‘ allgemein entrollt werden, vielmehr beschränken wir
uns hier auf die Darstellung der psychischen Störungen der Schwach-
sinnigen. ö
Die affektiven Störungen der Schwachsinnigen waren den älte-
ren Psychiatern gut bekannt. Es wurde vielfach dabei ein Parallelis-
mus zwischen dem Grade der geistigen Schwäche und der Form der
affektiven Störung angenommen. Eine anschauliche Schilderung gibt
Arndt, der die völligen Idioten apathisch fand, die Halbidioten
hatten eine Neigung zum Trübsinn, zur Melancholie, die den Imbezil-
len Nahestehenden seien maniakalisch. „Alle Imbezillen leichteren
Grades sind dagegen melancholisch, und die zuletzt erwähnten
oft in dem Maße, daß sie nicht selten schwerere melancholische An-
fälle, Ves. typicae abortivae, durchmachen. Diese letzteren können
bisweilen auch zu einer completa werden, indem die Melancholie in
eine Manie und diese wieder in eine Melancholie übergeht; sie kön-
nen aber auch in jeder anderen Form der typica sich zeigen. Manche
Formen der periodischen, manche Formen der zirkulären Psychosen
sind darum auch kaum als etwas anderes anzusehen, denn als Exazer-
bation der Imbezillität. Da wir etwa gleiches schon hinsichtlich der
Paranoia ausgesagt haben, die Paranoia aber nach allem nur eine
durch allerhand Parästhesien besonders gefärbte Imbezillität, meist
geringen Grades, ist, so ist die Imbezillitätan und für sich
so recht eigentlich der Boden, aus welchem die
bei weitem größte Mehrzahl aller Psychosen ihren
Ursprung nimmt. Sieist das Etwas, was die beson-
dere Disposition zu psychischen Erkrankungen,
oder die psychopathische Diathese, soweit sie ange-
boren oder ererbt ist, ausmacht“.
Hier finden wir einiges gesagt, was zu prinzipieller Bedeutung
erhoben wurde; es ist das erstens der schon erwähnte Parallelismus
= Di e
zwischen dem Grad der geistigen Störung und der Form der Stim-
mungsschwankung, zweitens die Ansicht, daß der Schwachsinn so
recht eigentlich der Mutterboden für das Entstehen aller Psychosen
sei, drittens, daß viele Psychosen nicht nur auf dem Boden des
Schwachsinns entstehen, sondern nichts anderes als Exazerbationen
des Schwachsinns seien. Gerade diese letzte Meinung ist im weite-
ren Verlauf der Forschung stark unterdrückt worden bzw. derartig
modifiziert worden, daß sie scheinbar einen ganz anderen Sinn
bekam.
Weitere prinzipielle Behauptungen, die immer wieder auftauchen,
sind die Angaben über die besondere Färbung der Psychosen der
Schwachsinnigen (Emminghaus, Wildermuth, Meynert,
Wollenberg, Ziehen, Scholz-Gregor, bestritten von
Wasner) sowie die über ihre besonders leichte Auslösbarkeit
(Kreuzer,Krafft-Ebing, Schnitzer, Wollenbergu.a.).
Alle diese Punkte werden schon in der ersten Arbeit „über die
Kombination angeborener geistiger Schwächezustände mit anderen
psychischen Krankheitsformen“ von A. Pick erwähnt. Wenn Pick
allerdings sagt, daß die Kombination von geistiger Schwäche mit
Verrücktheit besonders häufig sei, so geht aus seiner Schilderung
hervor, daß er damit Fälle von Schizophrenie meint. Noch schwächer
gestützt sind die Ansichten von Witkowski, der durch Hinzutritt
immer neuer Symptome eine ununterbrochene Stufenleiter vom
Schwachsinn zur Verrücktheit gehen sieht. Aus seiner Schilderung
ist ersichtlich, daß er mit der Bezeichnung Schwachsinn an Verblö-
dung organischer und schizophrener Natur denkt. So sind die älteren
Arbeiten wenig geeignet, als Basis für eine heutige Diskussion zu
dienen.
Allmählich wurden die Beziehungen des Schwachsinns zur
Dementia praecox mehr untersucht als die zu den zirkulären Psycho-
sen; in den letzten Jahren wurde diese Frage nur noch von Flügel
bearbeitet. Die Beziehungen zwischen Schwachsinn und Dementia
praecox sind außerordentlich kompliziert. Kraepelin (4) und
seine Schule vereinfachten diese Beziehungen durch Schaffung einer
Zwischenstufe, der Pfropfhebephrenie. Der größere Teil aller Aus-
führungen über die Psychosen der Schwachsinnigen beschäftigte sich
von nun an mit dem Krankheitsbild der Pfropfhebephrenie |Wev-
gandt (3), Schulze, Plaskuda (1)]. Da der Krankheits-
begriff der Pfropfhebephrenie sich außergewöhnlich schnell und weit
einbürgerte, so zeigte er damit, daß er einem klinischen Bedürfnis
entsprach, da das Gebiet der funktionellen Psychosen Kraepelins
nicht in den beiden großen Kästen des manisch-depressiven Irre-
seins und der Dementia praecox restlos aufging. Andererseits habe
ich a. a. O. gezeigt, welcher Mißbrauch allmählich mit der Diagnose
Pfropfhebephrenie getrieben wurde, Die Frage der Beziehungen des
Schwachsinns zur Schizophrenie kann jedoch heute noch nicht als
restlos geklärt gelten, und diese Frage wird in den folgenden Aus-
führungen eingehend erörtert werden. À
Hinter dieser Frage traten Gesamtdarstellungen der Psychosen
der Schwachsinnigen zurück, wie Wildmann mit Recht bedauert.
Nur Luther (1) gibt in neuerer Zeit einen Überblick über die wich-
tigsten psychotischen Störungen der Schwachsinnigen; aus der
Gruppe der chronisch verlaufenden Psychosen der Schwachsinnigen
hebt Luther eine Gruppe auf epileptoider Grundlage neu hervor.
Derartige Psychosen konnte Medow nicht nachweisen, er trennt
jedoch von den atypischen Psychosen der Oligophrenen — der
Pfropfschizophrenie, dem atypischen manisch-melancholischen Irre-
sein und der pseudokatatonen Situationspsychose — als für Schwach-
sinnige charakteristische Formen den einfachen Wahn der Schwach-
sinnigen und die schizoide Affektpsvchose der Oligophrenen.
Schon diese kurze Aufzählung zeigt, wie mannigfach die Bezie-
hungen des Schwachsinns zu den Psychosen sind. Es ist daher er-
staunlich, wie selten bisher diesen Beziehungen nachgegangen wor-
den ist. Vielleicht liegt eine Erklärung darin, daß es sich eben um
Schwachsinnige handelt. Bekanntlich sind die Psychosen der besse-
ren Stände mit vielgestaltiger Ausschmückung und der Möglichkeit
zu eingehender Selbstschilderung am interessantesten. Den Schwach-
sinnigen fehlen die sprachlichen Ausdrucksmöglichkeiten, sie ver-
mögen nicht zu fesseln und daher ist vielleicht die Mannigfaltigkeit
ihrer Störungen vielfach unbeachtet geblieben.
Zwei Gründe aber hinderten aktiv das tiefere Eindringen in
die Psychosen der Schwachsinnigen. Der eine Grund ist das Fehlen
ausführlicher Krankengeschichten in allen älteren Publikationen; die
bringt uns erst dieses Jahrhundert, eigentlich erst die letzte Zeit vor
dem Kriege. Der andere Grund bildet die Voreingenommenheit, mit
der man an die Schwachsinnigen herantrat; Beispiele dafür werden
sich in der weiteren Darstellung genügend zeigen.
II. Klinischer Teil
Schon die erste Sichtung des zur Verfügung stehenden Kranken-
materials ergab eine große Mannigfaltigkeit der psycho-
tischen Zustandsbilder, so daß sich eine Auswahl und
Gruppierung als notwendig erwies.
Vom 1. Januar 1924 bis zum 30. Juni 1927 wurden unter ca.
7000 Gesamtaufnahmen 380 Kranke (221 Männer, 159 Frauen) in
die Provinzial-Heil- und Pflegeanstalt Düsseldorf-Grafenberg aufge-
nommen, deren Krankenblätter den folgenden Ausführungen als
Grundstock dienten. Die weitaus größte Zahl dieser Kranken wur-
den von den Untersuchern als „Schwachsinn“ oder als „Schwachsinn
mit Psychose“ bezeichnet, nur ganz vereinzelte Fälle trugen andere
Diagnosen. Über die Zugehörigkeit dieser Fälle zu den psychotischen
Störungen der Schwachsinnigen wird in differentialdiagnostischen
Erörterungen Rechenschaft abgelegt werden. Die untersuchten Män-
ner sind mir alle persönlich bekannt und in Erinnerung, bei dem
größten Teil der Frauen dienen mir dagegen nur die von anderen
Untersuchern angefertigten Krankenblätter zur Unterlage.
Aus verschiedenen Gründen mußten 153 Krankenblätter von
Schwachsinnigen für eine weitere Bearbeitung ausscheiden: Ein Teil
der von Anfängern verfaßten Krankenblätter war zu dürftig. Es
zeigte sich hier die nicht selten zu beobachtende Tatsache, daß die
Diagnose „Imbezillität, Idiotie usw.“ richtig gestellt und begründet
war, daß aber die individuellen Besonderheiten des Falles nicht ge-
nügend hervorgehoben wurden, eine Tatsache, die bei der Sprödig-
keit des Materials nicht verwunderlich ist. Ein weiterer, sehr kleiner
Teil schied aus, weil es sich offensichtlich um Fehldiagnosen han-
delte. Es liegt in der Art der Materialauswahl, daß es sich stets um
die zu häufig gestellte Diagnose Schwachsinn handelte, während die
falsch diagnostizierten Psychosen der Schwachsinnigen, die z. B.
unter der Diagnose Schizophrenie liefen, hier nicht ausgekämmt wer-
den konnten. Es schied fernerhin der Teil von Schwachsinnigen
aus, der nicht aus psychotischen sondern aus sozialen Gründen in
unsere Obhut kam.
Es sollten ferner, wie bereits erwähnt, nicht alle psychischen
Varietäten der Schwachsinnigen hier untersucht “werden sondern
nur die psychotischen. Dadurch ergab sich die Frage, was ist
psychotisch? Auffallenderweise findet sich diese Frage bisher
in der psychiatrischen Literatur kaum erörtert, während dem Krank-
heitsbegriff grade in den letzten Jahren [Kronfeld, K. Schnei-
der (1), Pophal u. a.] erhöhtes Interesse zugewendet wurde. Es
ist jedoch, wie bekannt, geistige Erkrankung nicht mit den Begrif-
fen Psychose oder psychotisch identisch. Die „Geisteskrankheit“, die
Debilität und Psychopathie mit umfaßt, ist- der Oberbegriff von
„Psychose“. Man hat sich jedoch bisher wenig bemüht, den Teil,
den wir als Psychose unter den geistigen Erkrankungen abtrennen,
zu umgrenzen. Tatsächlich ist eine derartige Abtrennung außer-
ordentlich schwer, — um so notwendiger ist die Heraushebung des
„Psychotischen“ aus dem dunklen Gebiet psychiatrischer Intuition.
Besonders schwierig ist allgemein die Abgrenzung des Psycho-
tischen vom Psychopathischen. Gruhle (1) hat das außerordent-
liche Verdienst, die Differenzen klar und übersichtlich dargestellt
zu haben. j
Gruhle trennt:
Psychopathisch
abnorm
Psychopathisch,dasisttheo-
retisch:
der Ausdruck einer Anlage, einer an-
geborenen Disposition. Dieser Begriff
entspricht dem der Varietät in der
Biologie;
tatsichlich:
die Abweichung vom Durchschnitt,
von einem bestimmten Häufigkeits-
typus des betreffenden Alters und
Geschlechts. Die psychopathischen
Anlagen können sich im Lauf des
Lebens entwickem, verstärken (Ent-
wicklung der Persönlichkeit).
psychotisch
krankhaft
Psychotisch, das ist theore-
tisch:
der Ausdruck einer neu einsetzenden
Schädigung von außen (Gift im weite-
ren Sinne) oder von innen (krank-
hafte Stoffwechselvorgänge). Dieser
Begriff entspricht dem der Krankheit;
tatsächlich:
die Abweichung vom bisherigen Zu-
stand, von der gleichmäßigen Ent-
wicklung: das Einsetzen des Neuen,
aus dem Bisherigen nicht Ableitbaren:
die (vorübergehende oder dauernde)
Zerstörung des Vorhandenen (Ein-
setzen des Krankheitsprozesses).
Mit dieser Trennung von Psychose und Psychopathie hat
Gruhle die wichtigste Grenze der Psychose hervorgehoben. Bleibt
noch das allgemein Charakteristische „des Psychotischen“ zu be-
stimmen. Kronfeld sieht das Charakteristische des Psychotischen
in der Struktur des Erlebens. Dieses Charakteristikum ist außer-
ordentlich treffend. Der Nachteil einer derartigen Betrachtungs-
weise, der aber ihre Berechtigung nicht zu erschüttern vermag, liegt
darin, daß zum Nachweis des psychotischen Erlebens vielfach eine
nicht zu erzielende Mitarbeit des Kranken notwendig ist. Praktisch
suchen wir daher nach einer Erfassung des Psychotischen „von
außen‘, die die Psychose charakterisiert. Danach definieren wir —
wobei der Krankheitsbegriff in der Psychiatrie als genügend ge-
sichert vorausgesetzt wird —: Psychosen sind solche
krankhaften, also fremde und neuartige, seeli-
schen Erscheinungen, durch die die individuelle
psychische Entwicklungslinie vorübergehend oder
dauernd unterbrochen wird. Es deckt sich dabei der von
uns verwandte Begriff weitgehend mit der von H. Hoffmann dar-
gelegten „individuellen Entwicklungskurve‘“.
Halten wir uns an den gegebenen Begriff, so fallen damit alle
konstitutionellen psychischen Abnormitäten, wie etwa die erethischen
oder torpiden Schwachsinnsformen, für unsere Betrachtung fort; als
Dauer-Abnormitäten stören sie nicht die individuelle psychische Ent-
wicklungslinie, geben ihr vielmehr erst ihr typisches Aussehen.
Nur durch die begriffliche Klärung des Psychotischen gelang es
ferner, die nichtpsychotischen Erregungszustände von den psychoti-
schen zu trennen. Je nach der Persönlichkeitswertung handelt es
sich bei diesen Erregungszuständen der Schwachsinnigen mehr um
psychopathieähnliche, die damit in der Entwicklungslinie liegen,
oder um solche von psychotischem Wert. Allerdings sind die Über-
ginge und Zusammenhänge beider Arten von Erregungszuständen
sehr enge. Es zeigte sich jedoch, daß diese Zustände, die in ihrer
Erscheinungsform „psychopathisch“, in ihrem Persönlichkeitswert
„psychotisch“ sind, meist mit anderen Erscheinungen einhergehen
oder alternieren, wie Halluzinationen oder Verstimmungszuständen,
die ihnen den sicheren Wert der Psychose verleihen. Diese Zustände
sind in der folgenden Übersicht über unsere Fälle als Grenzfälle auf-
geführt. Grenzfälle sind sie insofern, als nicht jeder Einzelattacke,
wohl aber dem Gesamtverlauf der Erkrankung der Wert als Psychose
zukommt.
Unter den psychotischen Zuständen war eine Gruppierung nach
einheitlichen Gesichtspunkten vorzunehmen. Anfänglich war ge-
plant, die Psychosen in homonome und heteronome zu gruppieren;
es zeigte sicht jedoch, daß eine Reihe von Kranken in den verschie-
denen Krankheitsphasen bald homonome bald heteronome Bilder zeig-
ten, daß bei vielen anderen die Vermischung beider Symptomenreihen
so innig war, daß die Eingliederung unter die eine oder andere Kate-
gorie nur gewaltsam durchzuführen gewesen wäre. Es wurde weiter-
— 2 —
hin versucht, die Psychosen der Schwachsinnigen in Beziehung zu
den großen Formenkreisen der klinischen Psychiatrie zu setzen, ins-
besondere zu den sogenannten funktionellen Psychosen; aber auch
das erwies sich als undurchführbar aus Gründen, die später ausführ-
lich erörtert werden sollen. Es blieb schließlich nur die Möglichkeit
einer Gruppierung nach dem führenden Symptom,
eines Zusammenschlusses symptomatologisch ähnlicher Psychosen zu
einer einheitlichen Gruppe von Zustandsbildern. Aber auch die
symptomatologische Betrachtungsweise, die beispielsweise von
Pophal für Körpermedizin und Psychiatrie am höchsten geschätzt
wird, kann für die Betrachtung unseres Gebietes nur mehr eine vor-
läufige sein. Diese Vorläufigkeit ist nicht nur Folge der Unmög-
lichkeit zur exakten Zuordnung des Einzelfalles in ein Zustandsbild,
sondern mehr noch Ausdruck prinzipieller Bedenken.
Unter diesem Vorbehalt entfallen von unserem Material auf:
Manische Zustandsbilder . . . 2. .... . #18
melancholische Zustandsbilder . . . . . . . 13
Hemmungs- und Verstimmungszustände . . . . 28
ängstliche Erregungszustande . . . . . . . 20
Verwirrtheitszustinde . . . .. eee |)
Hyperkinesen und katatone Bereeunecsastiude . 9
halluzinatorische Zustandsbilder . . . . . . 22
paranoide Zustandshilder . . . er SD
Grenzfälle (Erregung und E bk Ge 88
Hysterie (Pseudodemenz) . . . . . . . . « HM
sozial und sexuell Haltlose . . . a ee |;
differentialdiagnostisch schwierige Fälle Er Ae
Fehldiagnosen . . . 2 2 2 2 2 2 0.0. 1
220
Zu dieser Einteilung ist einiges zu bemerken. Das Fehlen von
Dämmerzuständen ist vielleicht auffällige. Es wurden hier jedoch
keine Dämmerzustände bei Schwachsinnigen ohne andere epileptische
Symptome beobachtet. Es konnten daher diese Dämmerzustände
nicht ohne weiteres als Komplikationen des Schwachsinns betrachtet
werden. Auch bei allen anderen psychotischen Zuständen wurde
streng darauf geachtet, daß der Schwachsinn nicht durch eine mani-
feste Epilepsie a war, da nicht Psvehosen bei Epileptikern
beschrieben und untersucht werden sollten. Wir sind uns jedoch
bewußt, daß die Ausscheidung alles Epileptischen uns mehr als Ziel
— 27 —
unserer Bemühungen vorgeschwebt hat, als daß es tatsächlich er-
reicht wurde.
Es fehlen ferner alle Kombinationen von Schwachsinn mit
Arteriosklerose, Paralyse, seniler Demenz, Morphinismus usw., da es
sich bei derartigen Kombinierungen nicht eigentlich um „Psychosen
bei Schwachsinn“ handelt, und da die Frage, inwieweit der Schwach-
sinn ein pathogenetischer oder pathoplastischer Faktor der genann-
ten Psychosen ist, mehr ein Problem der Paralyse, Arteriosklerose
usw. darstellt als des Schwachsinns. Es wurden daher auch nicht
die Alkoholpsychosen der Schwachsinnigen besonders berücksichtigt;
wohl begegnet uns der Alkoholismus der Schwachsinnigen bei den
hier berücksichtigten psychotischen Zuständen.
Einige Grenzüberschreitungen über das Gebiet des Psychoti-
schen hinaus wurden vorgenommen. Einmal im Kapitel Schwachsinn
und Hysterie. Die Zahl dieser Fälle ist klein, besonders dann, wenn
man bedenkt, daß eine landläufige Meinung annimmt, jeder Hysteri-
sche sei auch schwachsinnig. Den Ausgangspunkt dieser Gruppe bil-
deten 4 Fälle von Pseudodemenz im Laufe von Gerichts- oder Ren-
tenverfahren bei hochgradig schwachsinnigen Persönlichkeiten. An
diese pseudodementen Zustandsbilder, denen der Wert einer Psychose
zukommt, schlossen sich unmittelbar einige wenige Fälle mit hysteri-
schen Einzelzügen (Anfällen, Tremor usw.) an. |
Nicht psychotisch ist die aufgeführte Gruppe der Haltlosen ins-
gesamt. Was die Haltlosigkeit mit den Psychosen verbindet, ist das
beiden gemeinsame Abbiegen der Lebenslinie. Schließlich dienten
gerade diese Fälle zur Abrundung des sozialen Schicksals der
Schwachsinnigen. |
12 Fälle konnten ohne eingehende differential-diagnostische Er-
örterungen nicht von vornherein einem der aufgeführten Zustands-
bilder zugezählt werden. Über ihre Zugehörigkeit soll im Laufe der
Untersuchung entschieden werden. Schließlich wurden 11 Fehl-
diagnosen mit in unsere Betrachtung eingezogen, weil jede dieser
Diagnosen einen Typus repräsentierte.
A. Manische Zustandsbilder.
Klarer und deutlicher als die anderen Gruppen heben sich die
manischen Zustandsbilder aus den psychotischen Störungen hervor.
Sie seien deshalb wegen ihrer relativen Durchsichtigkeit an den An-
fang der klinischen Betrachtungen gestellt.
Neustadt, Die Psychosen der Schwachsinnigen (Abhdl. H. 48). 3
Fall 1. (Alle Krankengeschichten sind auszugsweise wiedergegeben.)
Selma Lohr’). geb. 4. 2. 1879.
Als die Patientin am 18. 6. 1906, also im Alter von 26 Jahren, in die An-
stalt zu G. aufgenommen wurde, batte sie bereits mit 16 und 19 Jahren psycho-
tische Störungen mit Sinnestäuschungen, Reizbarkeit und Erregungszuständen
bis zur Tobsucht durchgemacht. die nach kurzer Dauer wieder abklangen. ohne
daß eine Anstaltsaufnahme notwendig geworden war. — Mit 23,24 Jahren hatte
sie ein uneheliches Kind geboren: damals trat keine psychische Störung auf.
Die Erkrankung im Jahre 1906 begann wenige Tage vor der Anstalts-
aufnahme, nachdem ihr Bräutigam ihr untreu geworden war und ihr durch
Heiratsversprechungen die Unterschreibung eines Wechsels auf über 1000 Mark
abgelockt hatte. Beginn mit Verstimmung und Unbesinnlichkeit. Danach Um-
schlag in heitere Stimmung und Zuversichtlichkeit. Patientin sieht sich von
Engeln umschwebt. die ihr sagen, sie werde bald sterben und zu ihnen kommen.
Bei der Aufnahme macht sie einen deprimierten Eindruck, gibt an, traurig
zu sein, am liebsten wäre sie tot, sie hätte ja doch nichts auf der Welt. Sie
habe heiraten wollen, zwei Tage vor der Hochzeit habe ihr Bräutigam sie ver-
lassen, jetzt habe sie ihr Brautkleid daliegen. Vorher habe ihr Bräutigam sie
einen Wechsel unterzeichnen lassen, dessen Höhe sie nicht angeben kann. Sie
sei nie in ihrem Leben recht lustig gewesen, seit ca. 10 Jahren sei das schlim-
mer geworden. Sie habe häufig Erscheinungen gehabt, Engel habe sie gesehen
und singen gehört; verstorbene Verwandte, so ihre Mutter und Schwester, seien
ihr oft erschienen, sie habe die Mutter schluchzen gehört und habe Leichen-
geruch wahrgenommen. In letzter Zeit sei sie ängstlich geworden, habe die
unbestimmte Vorstellung gehabt, daß sie verfolgt würde. „Es war, als ob es
eine Versuchung vom Teufel wäre: ich hatte aber nicht die Kraft, dagegen an-
zusehen.“ Draußen standen Leute, die sie z. T. verfluchten, z. T. aber für sie
beteten: am Bett knieten Tote.“ So geht es in ununterbrochener Folge beliebig
fort, wobei sie einen gewissen Rededrang entwickelt. Von psychomotorischer
Hemmung ist nichts zu bemerken.
Körperlicher Befund o. B.
Die Orientierung ist mangelhaft, das Gedächtnis weist Lücken auf, ihre
Kenntnisse sind schlecht, das Jahr habe etwa 300 Tage, die Monatsnamen kann
sie nicht zusammenbringen, einfache Additions- und Subtraktions-Aufgaben
werden falsch beantwortet, Geldstücke werden nicht richtig erkannt; die Auf-
merksamkeit während der Untersuchung ist gering.
| Die Diagnose lautete: Imbezillität.
In den nächsten Tagen zeigte sie sich schwachsinnig-mißtrauisch. soll durch
Unterschrift ihr Einverständnis mit der Stellung eines Pflegers erklären; ver-
weigert die Unterschrift, da sie meint, sie solle lebenslänglich in der Anstalt
bleiben und ihr Vermögen der Anstalt vermachen. Auf Zureden ihres Vaters
unterschreibt sie, fragt aber sofort brieflich beim Vater an, ob sie nicht doch
unterschrieben habe, daß sie ihr ganzes Leben in der Anstalt zubringen müsse.
Sie wünscht im übrigen ihre Entlassung, um zu heiraten: eine Stimme vom
Himmel habe ihr gesagt. daß ihr Bräutigam zu ihr zurückkehre.
Von Anfang Juli an ändert sich ihr Zustand, indem sie zuerst etwa 14
Tage lang eine übertriebene Heiterkeit zeigt, die allmählich in eine gleich-
') Sämtliche Namen sind Pseudonyme.
— 9 —
mäßig gehobene gute Stimmung ohne Wahnideen und Sinnestäuschungen über-
geht. In diesem Zustand wird sie Mitte August 1906 gebessert aus der An-
stalt entlassen.
2. Aufnahme am 5. 5. 1908 in die Anstalt zu Gr.
Aus der Anamnese des einweisenden Arztes ist zu erwähnen, daß die
Patientin von jeher auf die Männer verschossen gewesen sein soll.
Die jetzige Erkrankung begann vor 4 Wochen, als die Patientin bei den
Eltern ihres Bräutigams (des zweiten) weilte, um Vorbereitungen für die auf
den 9. Mai festgesetzte Hochzeit zu treffen. Die Kranke wurde erregt und
unruhig, lief viel im Zimmer umher, sprach unsinniges Zeug, verbrachte die
Nacht wachend, sieht Gesichter und hört Stimmen.
Bei der Aufnahme ist sie dauernd heiterer Stimmung, lacht, singt, reimt,
schüttelt ihre Haare, ist in ständiger Bewegung und Unruhe. Sie ist schlecht
orientiert, aber gut zu fixieren. Sie ist sehr zärtlich, klammert sich an den Arzt,
spricht davon, daß sie eine Puppe haben wolle, aber eine lebende, drückt dabei
ein imaginäres Kind lebhaft an ihre Brust; ihr Bräutigam hole sie nächstens
ab, dann werde sie eine eigene süße Puppe bekommen. Ist dauernd heiter,
lärmend, lacht übermütig, tanzt herum.
Schon am 12. 5. 1908 ist sie ruhig und geordnet, ist völlig orientiert, gibt
ausführlich und bereitwillig Auskunft, Hat an ihren Bräutigam einen langen,
etwas überschwänglich zärtlich gehaltenen Brief geschrieben. Fängt an zu
weinen, als sie von der Auflösung des Verlöbnisses hört. Schiebt die Schuld
auf ihre Schwester, die alle gegen sie aufhetze, sie sei darüber aufgeregt ge-
wesen, das sei jetzt aber vorbei. Ist noch völlig einsichtlos für das Krank-
hafte ihrer Erregung. Ist noch heiter und redselig, aber in der Stimmung
leicht umschlagend.
Von dieser Zeit an ständig zunehmende Beruhigung und Besserung. Hat
Krankheitseinsicht und wird am 15. 6. 1908 als genesen von Manie aus der
Anstalt entlassen.
3. Aufnahme 1 Jahr nach ihrer Heirat am 15. 6. 1910 in die Anstalt zu G.
wegen Verwirrtheit, Halluzinationen, Erregungszuständen geschlechtlicher Art,
Schamlosigkeit, periodischer Trunksucht, lautem, stundenlangem Singen. In
der Anstalt sofort Beruhigung. Entlassung am 20. 9. 1910 als genesen von
manischer Erregung bei Schwachsinn. Eine alkoholische Grundlage wurde in
Frage gezogen.
4. Aufnahme am 15. 4. 1914 in die Anstalt zu Gr.
Lebte inzwischen von ihrem Mann getrennt, der sich von ihr zurück-
gezogen hat. Beginn der jetzigen Erkrankung 3 Wochen vor der Aufnahme;
sie fing an zu singen, hörte singende Stimmen, die sie riefen; warf in ihrem
Zimmer alles durcheinander, lief im Hemd im Garten umher, bot sich Männern
auf der Straße zum Geschlechtsverkehr an.
Bei der Aufnahme ist sie erregt, so daß sie zur Unruhigen-Abteilung ge-
bracht wird. Sie ist dauernd laut, erregt, singt, spricht viel, reimt; dauernd
außer Bett. Ist völlig orientiert.
Ihr ganzes Wesen ist durch ihre erotischen Ideen beherrscht. Sie habe
die Nacht schlecht geschlafen, wenn der Arzt bei ihr gelegen hätte, hätte sie
besser geschlafen. „Kann ich Ihnen nicht mehr gefallen, wollen Sie keine
mehr haben, es ist doch so schön, geliebt zu werden, das Schönste, was es gibt.“
Sie nehme so gern alle Männer in den Arm, sie küsse so gern, einen Mann habe
3*
u 30 ee
sie gehabt, der sei so verrückt und das sei so schön. Arzt, Pflegerinnen und
Mitkranke versucht sie zu küssen.
Ab 20. 4. wird ihr Zustand besser, sie wird ruhiger, bekommt Einsicht.
schämt sich sehr über ihr früheres Verhalten, wird vorübergehend für einige
Tage auffallend still, danach wieder gleichmäßig freundlich, höflich, distanziert
und wird am 24. 7. 1914 als „genesen von manischem Erregungszustand“ wie-
der entlassen.
5. Aufnahme am 28. 8. 1918 in die Anstalt Gr.
Patientin ist inzwischen von ihrem Mann geschieden.
Seit 5 Wochen ist sie unruhig, läuft von Hause fort, hat Sinnestäuschun-
gen, singt nachts laut, schreibt stundenlang Briefe, drohte, eine Scheune an-
stecken zu wollen, benahm sich auffällig in der Kirche.
Bei der Aufnahme ist sie wieder heiter, erregt, singt religiöse Lieder.
schwatzt viel, gibt aber geordnet Auskunft. Sie sei seit 5—6 Wochen wieder
aufgeregt, sie mache sich Gedanken über ihren Schwager, der alles vertrinke
und die’ Wirtschaft ruiniere. Sie sei sehr unruhig gewesen, habe ihre ver-
storbene Schwester im Sarg liegen sehen, diese habe sie mit einem Auge immer-
fort angesehen; das könne sie beschwören. Auch habe sie zweimal eine
groBe weiße Gestalt gesehen: es sei eine Warnung für sie alle gewesen, daß sie
sich bessern sollten. Sie sei so oft in die Kirche gegangen, weil sie die Pre-
digt recht genau habe hören wollen; es sei wie eine Macht von oben gewesen.
die sie gezwungen hätte, beständig den Kopf zu drehen; eine Stimme habe zu
ihr gesagt, sie solle nicht auf die Predigt achten usw.
Bleibt bis Anfang Oktober lebhaft, heiter gestimmt. Von da an ruhiger.
Zeigt am 11. 11. 1918 Krankheitseinsicht, an ihre früheren Halluzinationen will
sie sich nicht mehr entsinnen können; das wisse sie nicht mehr, das müsse sie
sich wohl eingebildet haben. Wird genesen entlassen.
6. Aufnahme am 7. 7. 1919 in die Anstalt zu Gr.
Ist seit einigen Wochen verändert, behauptet, die Frau ihres Arbeit-
gebers sei eine Maitresse, sei geschlechtskrank, deshalb dürfe sie nicht auf das
Klosett gehen; treibt sich umher.
Bei der Aufnahme psychomotorisch erregt, Rededrang, Ideenflucht: ist
orientiert. Gibt an, Ninnestäuschungen zu hören, sie höre gute und böse Stim-
men. Die guten Stimmen sagen ihr, sie sei Jesus, sie bringe alle Menschen zur
Seligkeit, sie müsse dafür sorgen, daß sich die Menschen nicht verbrennen lassen,
das sei gottlos. Die bösen Stimmen seien die Sozialdemokraten, die sie ver-
derben wollten. Ihr Vater habe seine Schwiegertochter verführt, seitdem sei
ihre Mutter wieder lebendig geworden; sie habe die Mutter oft gesehen und
mit ihr gesprochen usw. Stimmung heiter, gehoben.
12. 12. 1919. Heiter, läppisch, erotisch, zutraulich-aufdringlich. „Ich er-
kenne Sie doch wieder, Sie sind mein Herr Gemahl. In Grafenberg habe ich
meinen Herrn Gemahl gesehen, den ich am liebsten in meine Arme genommen
hätte. Aber die Pflegerinnen haben mich zurückgehalten.“
4. 1. 1920. Schreibt einen Brief an „August Lohr, Arzt, Provinzial-Heil-
und Pflege-Anstalt Grafenberg.
Mein Einzig treuer Geliebter Gatte!
Teile Dir mit du Heiß Geliebter Gatte, daß ich solange wir getrennt leben
mit Wilhelm K. Rasierer O. W-str. 1 mal die Ehe gebrochen und zweimal mit
Heinrich F. Wenn wir auch Rechtskräftig geschieden worden sind so steht
— 31 —
doch in der heiligen Schrift Was Gott zusammenfügt daß soll der Mensch nicht,
scheiden. Verzeihe mir geliebter August daß ich Dich so bitter gekränkt habe
in Zukunft möchte ich Dir auch gerne dafür recht viele Freude bereiten. Kato-
lisch trauen lassen und mir sobald ich hier entlassen werde einen heiligen
Rosenkranz kaufen den ich um den Hals trage, dann wird mich doch sicher
kein Herr der Schöpfung um Liebe ansprechen und ich kann Dir doch treu
bleiben.“
9. 1. 1920. Sagt öfter: „Ich habe doch eben eine feine Stimme gehört.“
Versucht den Arzt, der ihrem Mann ähnlich sehe, zu küssen,
18. 2. 1920. Gibt an, eine Kusine (Vatersbruderstochter) sei geisteskrank.
Hört verlegen an, was sie im Beginn der Krankheitsphase gesagt habe, meint:
„Da war ich doch arg durcheinander, da weiß ich nichts mehr von.“ Ihr Mann
sei im Kriege gefallen, sie begreife nicht, wieso sie ihn habe wieder heiraten
wollen; da sei sie geisteskrank gewesen. Trotz dieser bereits gewonnenen
Einsicht fällt sie auf der Station noch durch eine ungewöhnlich aufdringliche
Lebhaftigkeit und Heiterkeit auf.
2. 3. 1920. Noch immer leicht erregt, redselig, zeigt ausgesprochenen
Tätigkeitsdrang. Wenn sie aufgeregt sei, brenne sie inwendig und sehe Feuer
vom Himmel. Alle 4 Jahre passiere etwas Komisches in der Welt. Die mei-
sten ihrer Gebete gingen in Erfüllung, sie glaube, sie genieße ein besonderes
Ansehen im Himmel.
Wurde Ende März beurlaubt, wurde aber wegen sexueller Entgleisungen
nach einigen Tagen wieder in die Anstalt G. zurückgebracht. Dort war sie bis
Ende April wieder erregter (ohne Wahnideen oder Sinnestäuschungen), wurde
von dieser Zeit an ruhiger und am 13. 7. 1920 gebessert entlassen.
7. Aufnahme am 12. 10. 1921 in die Anstalt zu Gr.
Aus der Einweisungsanamnese geht u. a. hervor, daß Patientin in der
Schule schlecht lernte und mehrfach sitzen blieb. Jetzt wieder seit einigen
Wochen hochgradig erregt, singt nachts, glaubt sich schwanger, spricht mit
Toten; zeigt manische Euphorie, Rededrang, ständiges Lachen, ist „mannstoll“.
Bei der Aufnahme völlig orientiert. Gibt u. a. zur Vorgeschichte an: Nach
der Schulzeit sei sie als Fräulein in einer Weinhandlung in Essen gewesen.
Dort sei ein Herr gewesen, den habe sie auch geliebt, „der Mann sucht doch
sein Heil bei der Frau. Man kann doch auch gerade so gut glücklich sein.
Warme Hände, Liebe ohne Ende.“ Danach sei sie Stütze in Bergheim gewesen,
danach in Elberfeld, bei einer Judenfamilie sei sie auch gewesen. Mit 30 Jahren
habe sie geheiratet. die Ehe sei geschieden worden.
Sie sei sehr glücklich, ihr fehle gar nichts, weil sie wisse, wenn sie ihrem
Mann ein Kind schenke, komme sie wieder mit ihm zusammen. Sie sei schwan-
ger, seit September habe sie keine Periode mehr. „Kommen Sie her, ich will
Ihnen auf die rechte Wange einen Kuß geben. Meine Mutter hatte auch so
schöne Brüste.“ Ist ideenflüchtig, bleibt dabei aber auf religiöse oder erotische
Dinge beschränkt, ist gehobener Stimmung. Will vom Arzt ein Kind haben.
Nach einem Monat tritt wesentliche Beruhigung ein. Patientin wird
freundlich, still, rubig, gehalten und distanziert und wird am 24. 12. 1921 als
genesen von periodischer Manie entlassen.
8. Aufnahme am 28. 2. 1924 in die Anstalt zu Gr.
Beginn der Erkrankung am 20. 2. 1924 unter denselben Erscheinungen
wie früher.
— 3 —
Umarmt und küßt bei der Aufnahme den Arzt.
Körperlicher Befund o. B. Wa.-R. —.
Persönlich, zeitlich und örtlich ist sie gut orientiert. Pat. ist in außer-
ordentlich starker motorischer Erregung, versucht dauernd die untersuchende
Ärztin zu umarmen, hat eine süßlich-erotische Miene, bittet die Ärztin, doch zu
ihr ins Bett zu kommen. redet sie mit „Herr Arzt“ an. Redet unaufhörlich von
ihren erotischen Erlebnissen. läßt sich nicht fixieren; kein Anhaltspunkt für
Sinnestäuschungen. Sagt, sie sei sehr guter Stimmung, wolle aber auch ihre
geschlechtliche Befriedigung haben. Ist heiter erregt, hat große Neigung, zärt-
lich zu werden, unaufhörlicher, ideenflüchtiger Rededrang.
Besserte sich und wurde am 28. 5. 1924 zur offenen Abteilung verlegt.
Dort blieb sie bis zum 1. 12. 1924. An diesem Tage wurde sie erregt. verwei-
gerte jede Beschäftigung, lief zum Gutshof, küßte die dort beschäftigten Män-
ner ab, redete verzückt mit ihren verstorbenen Angehörigen. Wurde zur
Wachabteilung und von dort wegen zunehmender Unruhe zur Unruhigen-Abtei-
lung verlegt.
Dort blieb sie bis zum Februar 1925 in einem Zustand heiterer Erregung
mit erotischer Färbung. Drängt sich an die Ärzte heran, bittet sie, in ihr Bett
zu kommen, will von jedem Arzt ein oder mehrere Kinder haben. Von Mitte
Februar an Abklingen der Erregung. wird im März wieder zur offenen Abteilung
verlert.
Von Mitte November 1925 bis Mitte März 1926 macht sie eine ebenso wie
die vorige gefärbte psychotische Periode durch. Seitdem lebt sie unauffällig
auf einer offenen Abteilung, beschäftigt sich regelmäßig und fleißig in der
Anstaltsküche, besucht Sonntags ihre Verwandten, ist völlig unauffällig.
Zur Ergänzung der Vorgeschichte und über ihre früheren psychotischen
Erlebnisse gibt sie am 9. 10. 1927 an:
Vater vor 2 Jahren 79jährig gestorben, war Tad witt: kein Potator. geistig
gesund. Mutter im Alter von 36 Jahren an Tuberkulose gestorben, war nerven-
gesund. Großeltern mütterlicherseits waren gesund, über Eltern des Vaters
nichts bekannt. Brüder und Schwestern der Eltern seien gesund, eine Kusine
(s. 0.) sei „auch“ in einer Anstalt gestorben. |
Ihre ältere Schwester sei im Wochenbett, ein Bruder mit % Jahren ge-
storben. 7 Geschwister leben gesund.
Cher ihre früheste Jugend weiß sie nichts. Besuchte die Volksschule in
W. „Betragen gut, aber Rechnen konnte ich schwer in den Kopf kriegen.“
Schreiben und Lesen seien besser gegangen: sie sei immer mitgekommen (vel.
oben!). sie habe aber immer Nachhilfe gehabt.
Nach der Schulzeit „in Pension“, zur Erlernung des Haushalts. Nach
% Jahr wurde sie dort krank. sah auferstandene Tote, u. a. ihre verstorbene
Mutter, die in einem Seidenkleid an ihr Bett kam. Das dauerte etwa 3 Wochen.
Danach war sie mit etwa 16/17 Jahren Stütze in B. Dort sei die Frau
des Hauses krank geworden; infolge der Aufregung sei sie dann auch wieder
krank geworden. Es seien damals sehr viele Tote gekommen, die alle zu-
sammen gebetet hätten. Dauer des Zustandes ea. 4—6 Wochen.
Nach einem Jahr als Stütze nach E. Dort lernte sie einen Maschinenbauer
kennen, mit dem sie sich verlobte. Diesem Mann unterschrieb sie einen Wechsel
von 35% Mark. Der Vater sei gegen die Heirat gewesen, der Bräutigam habe
aber sehr gedrängt. sie solle sich ein Brautkleid und ihm einen Hochzeitsanzug
— 8383 —
machen lassen. „Und da merkte ich erst, daß der gar kein Geld hatte, und
was ich unterschrieben hatte.“ Der Vater habe um den Wechsel 2 Jahre lang
prozessiert, schließlich habe alles zusammen 7000 Mark gekostet. Man habe ihr
dann klar gemacht, daß sie einem Schwindler in die Finger gefallen sei. Das
habe sie sich „in den Kopf gesetzt“, und sie sei krank geworden. Im Kran-
kenhaus sei sie von ihrer als Schwester verkleideten Mutter gepflegt worden,
die Mutter sei immer vom Himmel heruntergekommen und habe sie „so schön“
gepflegt.
Danach verlobte sie sich zum 2. Male. Kurz vor der Hochzeit starb ihre
Schwiegermutter; sie sah die Frau dann jede Nacht bei sich im Zimmer und
wurde wieder krank. Damals sei sie zuerst hierhergekommen. Sie habe unter
einem Tassenkörbehen „zwei große schöne blaue Augen“ gesehen. Sie habe
danach immer überall Augen gesehen, die ganzen Wände seien voller Augen
gewesen. So seien auch die Stimmen gewesen. Es waren ganz viele Stim-
men, die immer Bibelsprüche sagten; sie habe auch gesehen, wie die Toten auf
den Feldern arbeiteten, in den Wolken habe sie Tote mit weißen Kleidern ge-
sehen usw. Anfangs habe sie davor Angst gehabt. — Durch die Krankheit sei
die Verlobung wieder zurückgegangen.
Es sei dann nach ihrer Entlassung ein Kammerjäger zu ihnen ins Haus
gekommen, „so ein hübscher schwarzer Kerl“, nach 2 Tagen habe sie sich mit
ihm verlobt und am 27. 2. 1%9 geheiratet. Von dieser Zeit an hält sie ihre
verschiedenen Anstaltsaufenthalte nicht mehr streng auseinander. Manchmal
sei die Krankheit durch Ärger gekommen, manchmal von selbst.
Die Krankheit fing jedesmal damit an, daß sie nicht mehr schlafen konnte:
die Möbel in den Zimmern verwandelten sich alle in Gestalten, die Fenster öffne-
ten sich von selbst und Engel kamen herein, — aber nur wenn sie allein war.
Dann hörte sie die Toten seufzen und beten; sie habe immer an den Welt-
untergang denken müssen. — Warum sie heiter gewesen sei, wisse sie nicht, sie
habe lachen müssen, es sei wie ein Zwang über sie gekommen, fröhlich zu sein.
Während sie den größeren Teil ihrer Sinnestäuschungen, Affektstörungen
und Wahnideen ohne weiteres als krankhaft anerkennt, hält sie an einem Teil
ihrer Ideen unkorrigierbar fest, so glaubt sie bestimmt, daß ihre Mutter sie
z. Zt. im Krankenhaus gepflegt habe. „Ebenso wie Jesus können auch andere
auferstehen.“
Kenntnisse und Urteilsbildung:
Zahlenbegriff: +
Zählen 20—1 rückwärts: + `
Monatsnamen rückwärts: +
(Hauptstadt von Deutschland?): ... . „Ja, grad in der Landkarte, das
konnt’ ich nicht in den Kopf kriegen.“
(Große Flüsse?) „. . . Rhein, . . . Mosel . . ., ich kenn’ keine anderen.“
(Große Städte?): „Berlin... . Düsseldorf . . ., ja, große Städte.“
(Unterschied zwischen Irrtum und Lüge?): „. . . . Ja, das weiß ich nicht.“
(Dasselbe?): „Ja, irren ist menschlich.“ „Ich habe nur die ganz einfache
Schule besucht, Nähen und Stricken kann ich.“
(Geiz — Sparsamkeit?): „Sparsamkeit ist kein Geiz. Spare in der Zeit,
so hast du in der Not.“ (Geiz?): „Ja, das weiß ich nicht.“
(Baum — Strauch?): „Ein Strauch ist klein und hat einen ziemlichen Um-
fang, ein Baum ist doch ziemlich grade.“
— 4 —
(Bach — Teich?):. . . . (denkt intensiv nach): „Ein Bach ist schmal und
ein Teich ist tief; in solchen Sachen weiß ich nicht Bescheid.“
Altersstufe nach Binet-Simon: 11.
Die Kranke ist jetzt in ihrem Wesen freundlich, lächelnd, redselig, ein-
fältig. Der Affekt ist ihrer Lage angemessen, ist warm. Keine Einengung des
Interessenkreises, an allen Vorgängen in ihrer Umgebung nimmt sie in natür-
licher Weise teil. Die Auffassungsfähigkeit ist, im Rahmen ihrer Intelligenz,
ungestört; keine Gedächtnislücken, keine Merkfähigkeitsstörung.
Zusammenfassung: Eine aus bäuerlicher Familie stam-
mende schwachsinnige Patientin leidet seit ihrem 16. Lebensjahr
unter episodischen psychotischen Störungen, die sich mit jeder Wie-
derholung an Intensität und Dauer verstärken, so daß die Patientin
von ihrem 27. Lebensjahr an bis jetzt 8mal anstaltspflegebedürftig
wurde. Während die beiden ersten Krankheitsperioden mit Wahr-
scheinlichkeit reaktiv ausgelöst wurden, lassen sich solche auslösen-
den Ursachen für die späteren Krankheitsperioden nicht wahrschein-
lich machen. Die Psychose selbst ist gekennzeichnet durch Affekt-
störung, Sinnestäuschungen und in einigen Krankheitsperioden durch
vereinzelte Wahnideen; Verwirrtheit herrscht nicht vor. In der
ersten Krankheitsperiode besteht ein nicht sehr tief gehender depres-
siver Affekt, in allen anderen Perioden wird die Psychose durch die
vorherrschende manische Erregung mit Ideenflucht usw. gekenn-
zeichnet. Vom 35. Lebensjahr an ist die manische Erregung mehr
und mehr erotisch gefärbt. Eine Veränderung der Patientin, die für
das Vorliegen eines fortschreitenden psychischen Prozesses sprechen
könnte, ist nicht eingetreten.
Bei der Untersuchung der Frage, wie das Gesamtbild der be-
schriebenen Psychose aufzufassen ist, kann die Vorfrage, ob Frau
L. schwachsinnig ist, relativ kurz und bestimmt beantwortet werden.
Es liegt wohl mit Sicherheit ein Schwachsinn vor. Das geht nicht
nur aus ihren schlechten Schulleistungen, aus ihren mangelhaften
Kenntnissen und aus dem Ergebnis der Intelligenzprüfung hervor,
das beweist noch viel mehr ihr Lebensgang. Besonders das Verhal-
ten zu ihrem ersten Bräutigam ist dafür charakteristisch. Erst als
der Bräutigam von ihr die Bestellung seines Hochzeitsanzuges ver-
langte, „da merkte ich erst, daß der gar kein Geld hatte“, und trotz-
dem unterschreibt sie noch für ihn einen großen Wechsel, wenn auch
aus dem Unterschreiben eines Wechsels an sich in den einfachen
Kreisen der Frau L. nicht ohne weiteres auf Schwachsinn zu schlie-
Ben ist. Alles in allem ist Frau L. eine Debile höheren Grades.
Schwieriger gestaltet sich die Frage, wie die Psychose der
Selma L. klinisch einzuordnen ist, und welche Faktoren sie gestaltet
— 35 —
haben. Sicher ist, daB eine schizophrene ProzeBpsychose
nicht vorliegt. Die Begründung dieser Ansicht liegt in der
Krankheitsgeschichte selbst. Wenn diese Differentialdiagnose über-
haupt an den Anfang der Erörterungen gestellt wurde, so geschah
es deshalb, weil das zeitweilige Hervortreten von Wahnideen und
Sinnestäuschungen vielleicht an eine Schizophrenie denken lassen
könnte. Die Tatsachen sprechen gegen diese Ansicht und von den
behandelnden Ärzten ist nie an das Bestehen einer Schizophrenie ge-
dacht worden.
Betrachten wir die Sinnestäuschungen näher, so erscheint es
zweifelhaft, ob es sich bei der Patientin um echte Halluzinationen
handelt. Nach ihrer eigenen Schilderung, daß im Beginn ihrer Krank-
heit die Möbel anfangen ihr Aussehen zu verändern, ist es sicher,
daß es sich hierbei um illusionäre Vorgänge handelt.
Wir können diese Erscheinung auf optisch-illusionärem Gebiet in
Parallele setzen zu der gesamten psychomotorischen Erregung zu
Beginn der Psychose und sie ihr als psychosensorische Er-
regung gleichsetzen.
Mit der Annahme illusionärer Vorgänge allein, die sich u. a.
auch in den sicher nachgewiesenen Personenverkennungen äußern,
sind die vorkommenden Sinnestäuschungen nicht erschöpfend er-
k’irt. Es ist nämlich auffallend, daß die Kranke unvergleichlich viel
mehr von ihren phantastischen Sinnestäuschungen redet, als sie in
ihrem Verhalten von ihnen beeindruckt wird. Nur ein einziges Mal
in mehr als 20 Jahren enthält die Krankengeschichte den Vermerk:
„Kommt aus dem Bett und behauptet, soeben eine feine Stimme ge-
hört zu haben“; es handelt sich also wohl um einen sehr undeutlichen
Sinneseindruck. Nicht ohne Bedeutung erscheint die Angabe der
Patientin, daß sie alle Erscheinungen nur dann hatte, wenn sie allein
im Zimmer war. Im Verein mit der Art der Sinnestäuschungen (ver-
storbene Verwandte, die verstorbene Mutter im Seidenkleid, eine
Stimme vom Himmel ruft ihr zu, ihr Bräutigam werde sie doch hei-
raten, usw.) ist dadurch die Annahme gerechtfertigt, daß es sich bei
der Patientin im wesentlichen um lebhafte Phantasievorstellun-
gen, um Pseudohalluzinationen handelte. Dadurch wird
auch die jedesmalige schnelle Korrektur der Sinnestäuschungen ver-
ständlich und die Konzession der Patientin, „daß wohl alles falsch
gewesen sei, was sie sich eingebildet habe“. Für halluzinatorische
Vorgänge wäre eine derartig schnelle Kapitulation ungewöhnlich und
eher auf Dissimulation verdächtig. Mit der Annahme pseudohalluzi-
natorischer Vorgänge wird auch verständlich, warum die Patientin
Le OG. ut.
sich anfangs nach Abklingen der Psychose nicht mehr an die Sinnes-
täuschungen erinnern kann, denn eine Bewußtseinstrübung, die eine
Amnesie für die psychotischen Erlebnisse hinterlassen könnte, lag
nicht vor. Den Pseudohalluzinationen als Phantasievorstellungen
kommt ein geringerer Erlebniswert zu als den echten Halluzinatio-
nen, so daß jene leichter der Vergessenheit anheim fallen. Erst jetzt,
nach häufiger Wiederholung ihrer Erlebnisse, haften sie dauernd im
Gedächtnis.
Betrachten wir so die Sinnestäuschungen im Falle L. zum klei-
neren Teil als Illusionen, zum größeren Teil als Pseudohalluzinatio-
nen, während echte Halluzinationen fehlen, so tritt um so stärker der
manische Symptomenkomplex mit Rede- und Bewegungs-
drang, gehobener Stimmungslage und Ideenflucht in einer in unserem
Krankenmaterial seltenen Reinheit in den Vordergrund. Tatsächlich
war die Psychose in allen Perioden durch den manischen Sympto-
menkomplex bestimmend gefärbt. Dieser Symptomenkomplex stand
so‘sehr im Vordergrund, daß nach der nosologischen Klärung der
Sinnestäuschungen die Annahme einer manisch gefärbten Halluzi-
nose oder einer Degenerationspsychose im Sinne Schroeders (3)
nicht mehr diskutabel ist. Vielmehr nehmen wir nun das Vorliegen
einer echten periodischen Manie an.
Von dieser Annahme könnte die besondere siiBlich-erotische und
religiöse Färbung der Psychose ablenken, da diese Symptome
sich besonders gern bei Epilepsie finden. Nun zeigt die Patientin
nicht den geringsten Anhaltspunkt für eine manifeste oder latente
Epilepsie. Die teils süßliche, teils schamlose Erotik ist ferner nicht
eine charakterologische Eigenschaft der Patientin, sie findet sich nur
in ihren Psychosen; in den Intervallen ist die Kranke völlig frei von
dieser erotischen Aufdringlichkeit und frei von Bigotterie. Es ist
wohl nicht ohne Bedeutung, daß die erotische Note erst vom 35.
Lebensjahr an in der Psychose hervortritt und dann von Mal zu Mal
stärker wird. Es ist darin vielleicht eine Kompensation für die bio-
logisch und psychologisch abnehmende Liebesfähigkeit der alternden
Frau zu erblicken, also eine Artspezifische Altersfärbung,
wenn auch eine starke erotische Persönlichkeitseinstellung (unehe-
liches Kind) als präexistierend angenommen werden muß. Der Ein-
schlag des zunehmenden Alters äußert sich auch in der zunehmen-
den Dauer der psychotischen Zustände.
Die Färbung, die der Schwachsinn der Psychose gibt, ist
schwer zu erkennen. Es ist jedoch anzunehmen, daß durch den
Schwachsinn die Art der Pseudohalluzinationen, die Beschäftigung
u FN
mit dem Himmel, kurz, der ganze „religiöse‘‘ Einschlag der Psychose,
der keineswegs einer tiefen Religiosität in den Intervallen entspricht,
bestimmt wird.
Es ist unwahrscheinlich, daß bei L. eine große reaktive
Labilität im Sinne Kleists (5) besteht. Diese Annahme ist
nur wahrscheinlich zu machen, da die auslösenden Momente für
die beiden ersten Krankheitsattacken, die nicht zur Anstaltsaufnahme
führten, unklar geblieben sind. Dagegen ist mit größter Wahr-
-scheinlichkeit anzunehmen, daß die Untreue des Bräutigams im ersten
Falle, die Aufregungen der Vorbereitungen zur Hochzeit im zweiten
Falle — auch wenn die zukünftige Schwiegermutter nicht, wie sie
jetzt angibt, gestorben ist — den Stein ins Rollen gebracht haben.
Ob dabei der Schwachsinn der Patientin in diesem FaH prä-
disponierend gewirkt hat, kann nicht sicher entschieden wer-
den, da wir einerseits wissen, daß derartige Erregungen auch bei
Vollsinnigen manische und melancholische Zustände auslösen kön-
nen, jedoch andererseits die besondere psychische Labili-
tät und Vulnerabilität der Schwachsinnigen in
-Ausnahmesituationen bekannt ist. Da der Schwachsinn
der Frau L. manifest ist, werden wir gut daran tun, seine Bedeu-
tung nicht zu unterschätzen und ihm eine prädisponierende
Bedeutung für die Auslösung einzelner Krank-
heitsperioden zuzuschreiben.
Vieles ist noch unklar geblieben. Es ist z. B. unerklärt die Idee
der Patientin, ihre Brotherrin sei geschlechtskrank. Wir wissen
zwar, daß nach Beendigung des Krieges die Geschlechtskrankheiten
auch im Volksbewußtsein eine besondere Rolle gespielt haben — man
könnte so auch einen zeitlichen Faktorin der Färbung
der Psychose konstatieren aber inwieweit das für unsere
Patientin in Betracht kommt, läßt sich nicht mit Sicherheit be-
stimmen.
Die Psychose der Frau L. fassen wir also auf als eine perio-
dische Manie bei Debilität höheren Grades. Dem
Schwachsinn kommt dabei die Bedeutung eines prä-
disponierenden Moments für einzelne Krankheits-
perioden zu. Er drückt sich auch in den die Psy-
chose begleitenden Pseudohalluzinationen aus mit
ihrem religiösen Ideenkreis Die Psychose ist
ferner durch Alterseinflüsse spezifisch gefärbt.
Der Fall L. wurde vorangestellt, weil hier Schwachsinn und
manisches Zustandsbild ohne weitere Komplikation zusammentreffen.
— 38 —
Dieses Vorkommnis ist in unserem Material so selten, daß es be-
sonders erwähnt werden muß. Nur in 4 von 13 Fällen trifft die kon-
stitutionelle Minderwertigkeit mit der endogenen Veranlagung ohne
wesentliche andere schädigende Momente zusammen. In einem die-
ser Fälle kommt für den bisher einzig beobachteten Anfall der hoch-
gradig imbezillen Patienten die Heirat als auslösender Faktor in
Betracht. In den beiden anderen Fällen lassen sich auch auslösende
Ursachen nicht nachweisen, sie scheinen ganz nach endogenen Geset-
zen abzulaufen; in beiden Fällen ist übrigens die Psychose stärker
„schwachsinnig“ gefärbt als bei Frau L.
Bei dem größeren Teil der manischen Erkrankungen treffen drei
und mehr krankheitsbedingende Faktoren zusammen.
Zunächst die Gruppe der manischen Erkrankungen bei den
Schwachsinnigen mit innersekretorischen Störungen.
Fall2. Hermann Mier, geb. 3. 1. 1873.
Körperlicher Befund vom 30. 11. 1924 (Bilder in den früheren Kranken-
geschichten und einzelne Bemerkungen lassen darauf schließen, daß der körper-
liche Befund sich im wesentlichen seit der Erstaufnahme nicht geändert hat):
Größe 1,60: m, Gewicht 56 kg.
Knochenbau mittelkräftig; starke Kyphoskoliose der Brustwirbelsäule,
Lordose der Lendenwirbelsäule.
Muskulatur schlaff, spärlich. wenig entwickelt.
Das Fettpolster ist allgemein ziemlich reichlich, findet sich in besonderer
Anhäufung an Brust, Bauch und Oberschenkeln. Angedeutete Mammaebildung.
kein Drüsengewebe fühlbar, männliche Brustwarzenbildung.
Die Haut ist überall sehr zart, weich, glatt, nicht behaart. Hautfarbe
frisch, Turgor mäßig.
Das Kopfhaar ist sehr dieht und weich, nicht ergraut; die Augenbrauen
sind sehr spärlich: Bart- und Schnurrbarthaare spärlich, Backenbart fehlt völlig,
nur einige Haare an Oberlippe, Kinn und Hals: keine Behaarung der Achsel-
héhlen; Schamhaare fast völlig fehlend, nicht auf die linea alba übergehend:
keine Behaarung am sonstigen Körper.
Extremitäten senr lang: die Fingerspitzen reichen beim lockeren Herab-
hängen rechts bis 2 Querfinger oberhalb, links bis an den oberen Rand der
Patella.
Die unteren Extremitäten überragen die Oberlänge (auch ohne Kypho-
skoliose) ganz bedeutend, die proximalen Teile der Extremitäten die distalen.
Das Becken steht stark nach vorn geneigt; die Kyphose ist stärker nach
rechts. Die rechte Schulter steht höher als die linke.
Deutliche O-Beinbildung.
Plattfuß beiderseits.
Hirnschädel klein, Schädelumfang 52 em, Hinterhaupt stark vorspringend.
Gesicht von annähernd flacher Fünfeckform: Jochbögen und Mittelgesicht breit;
wulstige Lippen: rechter Mundwinkel wenig herabhängend: Nase kurz, sehr
breit: frische Gesichtsfarbe.
— 39 —
Gaumen flach, breit; Gebiß sehr lückenhaft, besonders im Oberkiefer;
Schneidezähne rhachitisch gekerbt, Zähne sehr kariös. Zunge kurz und unge-
wöhnlich dick.
Prominentia laryngea nicht vorspringend, beim Schlucken jedoch fühlbar.
Hals kurz, gedrungen.
Schilddrüse klein, weich.
Penis klein, dünn. Beide Hoden kirschgroß, weich, im entsprechend klei-
nen Skrotum.
Schenkelhernie beiderseits.
Organe der Brust und Bauchhöhle o. B.
Neurologischer Befund o. B.
Gesamteindruck: Eunuchoidismus. |
1. Aufnahme am 7. 6. 1907 in die Anstalt zu G.
Wurde aus der Anstalt zu D., wo er 1 Woche gewesen war, nach G. über-
führt. Aus der Begleitanamnese geht hervor, daß M. erst mit 3 Jahren laufen.
mit 4—5 Jahren sprechen lernte; er war von jeher gutmütig, lernte schlecht,
mußte aus Quinta wegen Unfähigkeit abgehen; verdiente sich erst als Bäcker
sein Brot, später konnte er es nicht mehr. Die jetzige Erkrankung (1907) ist
die ‘Ersterkrankung des Patienten.
Die Erkrankung begann vor einigen Monaten mit religiösen Ideen: M.
glaubte Jesus zu sein, stand auf der Straße, segnete alle Vorübergehenden, so
auch bei der letzten Fronleichnamsprozession, verursachte dadurch Störung und
Menschenansammlungen. War leicht aufgeregt und aggressiv. In der An-
stalt zu D. war er redselig: behauptete, mit der Jungfrau Maria verlobt zu sein,
eine große Mission auf der Welt erfüllen zu müssen.
Bei der Aufnahme in G. ist er in heiterer Erregung; ist persönlich, zeit-
lich und örtlich orientiert. Seine Stimmung ist gehoben, glücklich, „die beste,
er könne sich augenblicklich nichts besseres wünschen“. In den verschiedenen
Stellen. die er nach seiner Lehrzeit als Bäckerlehrling innegehabt habe, habe er
nie lange ausgehalten, „weil er sich erholen wollte“. Sagt, er sei mit der Jung-
frau Maria verlobt und habe das Gelübde der Keuschheit abgelegt. Sollte er
sich jedoch einmal mit einem Mädchen verloben, so würde er die Ablegung und
Haltung des gleichen Gelübdes von ihr fordern. Er habe die Kraft, Christus
nachzufolgen, fühle sich zu Wichtigem berufen, den roten Brüdern wolle er
schon zeigem wie das soziale Gesetz durchgeführt werden müsse. „Was ich
treibe, ist erst durch langjährige Überlegung zustande gekommen.“ Sinnes-
täuschungen sind nicht nachweisbar. Die Diagnose lautete: Hebephrenie,
Ende Juni fällt M. noch dadurch auf, daß er öfters über seinen Mitkranken
das Zeichen des Kreuzes macht: im übrigen ist er aber still und zurückhaltend.
Beschäftigt sich.
Im Oktober ist er völlig unauffällig und ruhig. Von den Einzelheiten
seiner Erregung will er nichts mehr wissen, stellt die religiösen Größenideen
direkt in Abrede. Meint aber, das sei alles nicht so schlimm gewesen. Wird
am 16. 10. 1907 gebessert entlassen.
2. Aufnahme am 18. 12. 1909 in die Anstalt zu G.
War in der ganzen Zwischenzeit Bäcker in einem Waisenhaus. Hatte im
Frühjahr 1909 einen maniakalischen Erregungszustand: Rückfall im September
1909 mit Größenideen und Ideentlucht. Wegen Gefährdung der Nahrungsmittel
— 40 —
aus dem Waisenhause entlassen. Bekam zu Hause Streitigkeiten mit der
Familie, deshalb in die Anstalt zu D. Dort erregt, gereizt, Größenideen.
Bei der Aufnahme zufrieden. zeigt ausgesprochen euphorische Stimmungs-
lage. Gibt an, nach seiner Entlassung von hier habe er sich wieder ganz ge-
sund gefühlt. In der Stelle als Bäcker im Waisenhaus zu B. habe es ihm sehr
gut gefallen, er denke da auch wieder hinzugehen. Er habe die Oberin um
Erlaubnis gefragt, seine Mutter zu besuchen. Es sei ihm aber direkt aufgefal-
len, daß auf der Reise der Schuster des Waisenhauses mit ihm fuhr. Da müsse
etwas dahinterstecken, das müsse er noch aufklären. Der Schuster habe ihm
gesagt, er passe in das Haus zu B. nicht. Am meisten habe er sich über den
Schweinehirten geärgert. der habe ihm immer vorgeworfen, daß er vom Grafen-
berg komme, und der sei doch Schnapstrinker und Idiot. Darum sei er zur
Oberin gegangen und habe gesagt: der oder ich. Er habe einen harten Kopf.
wisse, was er wolle, er lasse sich nicht für verrückt erklären. er sei höchstens
etwas nervös, aufgeregt. Wenn er auch manchmal etwas spreche, was die
Leute nicht verstehen. da müsse man eben drüber nachdenken. Er wolle seine
Mutter und seinen Bruder auch nach G. haben, und seine Brüder müssen wieder
zur katholischen Kirche zurückkehren. Es sei hart, wenn man gegen seine
eigene Familie ankämpfen müsse, die wollten ihn für verrückt erklären, er habe
sich ja auch toll genug angestellt, weil er wissen wollte, ob die wirklich die
Courage hätten. ihn für verrückt zu erklären.
Schwatzt so ununterbrochen vergnügt und lachend weiter. Die Diagnose
lautete dieses Mal: Imbezillität und Dementia praecox!
20. 12. Ist ruhig, orientiert, heiter. „Ich bin lustig — warum soll ich das
auch nicht sein?“
Von Ende Dezember 1909 an bessert sich der Zustand. M. wird im Januar
1910 in eine offene Abteilung verlegt, arbeitet fleißig und unauffällig als Haus-
arbeiter. Von da an wechseln in den Krankenblatteintragungen die Bezeich-
nungen des Patienten als euphorisch und mürrisch mehrfach miteinander ab.
Zur Ausbildung eines ausgesprochen psychotischen Zustandes kommt es jedoch
nicht mehr und am 4. 4. 1912 wird M. als gebessert entlassen.
3. Aufnahme am 27. 6. 1917 in die Anstalt zu B.
Beginn der Erkrankung 14 Tage vor der Aufnahme, angeblich infolge
Überanstrengung als Bäcker. Beginn mit Sinnestäuschungen (?) und religiösen
Ideen, glaubt, er und seine Mitmenschen müßten jetzt für ihre Sünden büßen.
Läuft dauernd in die Kapelle, um dort zu büßen. Um seine relikiösen Ideen
zu heilen, sei die Kirche da und nicht der Arzt. Bei allen Fragen lacht er
zuerst immer und erklärt die ganze Untersuchung für Unsinn. Nächtliche Stei-
gerung seiner Unruhe.
Bei der Aufnahme in B. ist er ruhig. lächelt oft während der Untersuchung,
ist völlig orientiert. Aus der Anamnese ist zu bemerken, daß er mit 16% Jahren
in ein Kloster gegangen ist, um Bruder zu werden. Er sei jedoch zu schwach
gewesen und mit 18 Jahren wieder aus dem Kloster entlassen worden. Die
Papiere aus G. seien falsch, er leide nicht an religiösen Wahnideen: „Was sind
religiöse Wahnideen? Ist das nicht Christus? Ist der Papst als oberster
Leiter der Kirche nicht unfehlbar? Müssen die Kinder den Eltern nicht gehor-
chen? Wenn ein Vater seinen Kindern etwas Falsches beibringt, die Kinder
werden erwachsen, wissen infolge falscher Erziehung nicht, was gut und böse
ist, müssen diese Kinder nicht nervenkrank werden? Wie es eine Freimaurer-
>.
loge gibt, so gibt es in der katholischen Kirche eine Einrichtung auch mit
geheimen Zeichen, aber nicht zum Hohne sondern zur Ehre Gottes“ usw. Ist
euphorischer Stimmung. Die Diagnose lautete jetzt: Manie.
Am 3. 8. 1917 wird er als ganz geordnet bezeichnet und als gebessert
entlassen.
4. Aufnahme am 31. 3. 1920 in die Anstalt zu G.
Wird wegen Paranoia eingeliefert.
Tritt vergnügt schwatzend und witzelnd ein, erkundigt sich nach den frü-
heren Ärzten und Pflegern. Bei der Untersuchung heitere Stimmung, ideen-
flüchtig, witzelnd. Ist jetzt städtischer Hilfsarbeiter. (Wie ist die Bezah-
lung?) „Oh, gut, wenn wir nicht genug kriegen, streiken wir. Das tun die
Pileger ja hier auch.“ (Lacht.) Gibt an, er habe studieren sollen, Priester
werden sollen, er habe aber nicht gewollt, sei lieber Bäcker geworden. Krank
sei er nicht, auch früher nicht gewesen. „Da hab’ ich mich genau so verstellt
wie jetzt. Ich wollt’ den Ärzten auf die Finger gucken.“ Witzelt viel. Wird
am 10. 4. als prüde und verschroben bezeichnet, bade nur in Badehose.
Am 7. 5. 1920 in noch leicht gehobener Stimmung, aber mit geordnetem
Verhalten gebessert entlassen.
Diagnose: Periodische Manie bei Debilität.
5. Aufnahme am 14. 5. 1924 in die Anstalt zu G.
Ist seit 2 Taxen wieder erkrankt.
Ist im allgemeinen ruhig und sauber, befindet sich in gehobener Stim-
mungslage, ist heiter, lacht viel. Ins Untersuchungszimmer bringt er seinen
Rosenkranz mit.
In seinen sprachlichen Äußerungen lebhaft, neigt zu Scherzen und Wort-
witzen. (Wo sind Sie hier?) Bergische Landstraße 2, Heul- und Flegelanstalt!“
(Lustig?) „Zweimal lachen ist besser als einmal Medizin nehmen.“ Lacht bei
den einfachsten Fragen, z. B. bei der Angabe seines Namens, laut los. Knüpft
an einzelne Worte neue Sätze und Gedankengänge. Spricht nacheinander von
einem Wartezimmer, einem Blumenstock und Davids Harfe, ohne daß der
Assoziationsfaden abgebrochen ist. Hat Neigung zum Symbolisieren, vergleicht
bei der Wiedergabe der Leseprobe die Biene mit einem arbeitsamen Volk, die
Taube mit der Regierung undeden Jäger mit den Franzosen, darüber hinaus
gibt er den Inhalt der Geschichte aber nicht wieder. Bringt Nebensächliches
und Banalitäten mit geheimnisvoller Stimme vor. Ausdrucksweise im allge-
meinen etwas läppisch und einfiltig. Macht um jede Kleinigkeit viel Worte.
Kein Anhaltspunkt für Wahnideen oder Sinnestäuschungen. Von seinen
Arbeitskollegen werde er verspottet „wegen seiner strengen Sittlichkeit“,
Kenntnisse: Fragen einfacher Art werden beantwortet, schwierigere nicht.
M. läßt sich durch solche Fragen jedoch nicht aus der Ruhe bringen und ver-
sucht sein Nichtwissen durch Stellung einer Gegenfrage zu verbergen. Umkehr
der Monatsnamen gelingt nicht richtig. Das Schulwissen ist lückenhaft, Fragen
danach werden unwillig beantwortet. (Hauptstadt von Preußen?) „Preußen
ist etwas anderes als Brandenburg.‘ (Hauptstadt von Bayern?) „Da fragen
Sie mich zu viel.“ (Religion?) „Bin gut katholisch.“ (Sonstige Religionen?)
„Evangelisch, die sonstigen Religionen kennt man gar nicht alle.“ (Morgen-
stund . . . .?) „Dasselbe wie: Sich regen, bringt Segen.“ (Irrtum — Lüge?)
„Eine Lüge ist wissentlich oder unwissentlich, ein Irrtum ist menschlich.“
— 42 —
Rechenvermögen: (7X8?) „56.“ — (12X12?) „166!“ — (101—19?) „87.
nein, 79!“ Kleinere Aufgaben richtig.
20. 5. 1924. Schreibt fortwährend seinen Lebenslauf auf, braucht dazu
eine ungeheure Menge Papier; lebt sonst heiter, aber ruhig, drängt sich nicht
vor. (Lustig?) „Ja, ich mache gern einen Scherz mit, er muß natürlich an-
ständig sein.“ (Krank?) „Ich bin jetzt ziemlich normal.“ (Warum hierher?)
„Ich war ein bißchen aufgeregt, bin meinen Gedanken zu sehr nachgegangen.“
(Was für Gedanken?) „Das sind religiöse, politische und sonstige Gedanken.
wie das so ist bei männlichen Personen.“ (Erscheinungen?) „Ja, was Sie
Visionen nennen, habe ich vor 3 Monaten gehabt.“ (Was?) „Die Schwestern,
wo ich früher Bäcker war.“ (Bei Tage?) „Ja, nachts schläft man, da sieht
man nichts.“
Nach einer weiteren Woche völlig beruhigt. Im Juni zur offenen Abtei-
lung verlegt, arbeitet unauffällig in der Gärtnerei. Wird am 10. 11. 1924 ge-
bessert entlassen.
Diagnose: Periodische Manie bei Debilität.
6. Aufnahme am 6. 12. 1926 in G.
Einweisung erfolgt wegen Verschlimmerung.
Patient ist wieder heiter erregt, benimmt sich ungezwungen, verkehrt mit
dem Arzt in undistanzierter und jovialer Weise.
Hat in der Zwischenzeit nur gelegentlich Notstandsarbeiten verrichtet.
keine feste Stellung gehabt.
Der Zustand des Kranken gleicht dem bei der vorigen Aufnahme bis in
Einzelheiten mit photographischer Treue. Nach 8 Tagen Abklingen der
heiteren Erregung.
Vom 20. 6. bis 10. 7. 1927 machte er wieder einen derartigen Zustand
heiterer Erregung durch, beschäftigt sich dann in erhöhtem Maße mit religiö-
sen Dingen.
Lebt seitdem ruhig und unauffällig in der Anstalt. ist stets heiter, sieht
alles im rosigsten Licht, hält sich für einen prachtvollen Menschen. Hat nicht
den Wunsch nach Entlassung.
Zusammenfassung: Bei einem schwachsinnigen Eunuchoi-
den treten vom 34. Lebensjahr an periodisch manische Zustände auf,
die ihn anstaltspflegebedürftig machen. Alle Krankheitsphasen sind
durch religiöse Ideen besonders gefärbt. Die Dauer der einzelnen
Krankheitsperiode beträgt durchschnittlich 3 Wochen. Die einzel-
nen psvchotischen Zustände gleichen sich weitgehend. Nach über
20jähriger Krankheitsdauer und vielen psychotischen Attacken ist
ein Defektzustand nicht eingetreten.
Wieder können wir bei der Betrachtung der Psychose das Vor-
liegen eines Schwachsinns bejahen. Dafür spricht die späte Ent-
wicklung, das schlechte Fortkommen auf der Schule, das Ergebnis
der Intelligenzpriifung und das Lebensschieksal, wobei der Berufs-
wechsel vom Bäckergesellen zum Hilfs- und Notstandsarbeiter einen
bedeutenden sozialen Abstieg bedeutet. Dem Grade nach bezeichnen
wir auch M. als debil.
u AR: we
Die Frage, ob bei M. eine Dementia praecox vorliegt, ist in An-
betracht der zahlreichen Probleme des Falles minder wichtig, muß
aber : wieder beantwortet werden, weil die Diagnose früher
gestellt wurde. Es handelte sich dabei aber um eine Fehldiagnose,
und derselbe Untersucher, der 1909 eine Dementia praecox annahm,
stellte 1920 die Diagnose periodische Manie. Man kann übrigens
vermuten, daß die sich aufdrängende Affektstörung zusammen mit
den „auffälligen“ Äußerungen über ein Keuschheitsgelübde für sich
und seine eventuelle Frau anfangs zur Fehldiagnose Hebephrenie ge-
führt hat. |
Der Verlauf der Erkrankung verrät, daß es sich nicht um eine
schizophrene Psychose handelt. Im Vordergrund steht die Euphorie
mit teils geordneter, teils ungeordneter Ideenflucht. Zurück tritt
hier die motorische Erregung, die sich nur während des 5. Anstalts-
aufenthaltes in erhöhter schriftlicher Betätigung äußert. Die „atypi-
schen“ Erscheinungen der Manie sind in diesem Fall geringgradiger
als im vorigen. In der Einweisungsanamnese zur 3. Anstaltsaufnahme
wird zwar das Vorkommen von Sinnestäuschungen erwähnt, in der
Anstalt wurde im Verhalten M.s jedoch nichts dafür Sprechendes be-
merkt. Das, war er 1924 über seine „Visionen“ sagt, ist ganz
unklar. |
Bei den Wahnideen handelt es sich im wesentlichen um Größen-
ideen, für eine Manie nichts Ungewöhnliches. Alle Wahnideen haben
eine religiöse Färbung. Es ist das zweifellos die Färbung, die der
Eunuchoidismus der Gesamtpersönlichkeit verleiht. M. macht aus
der Not eine Tugend. Schon in früher Jugend hat er einen Hang
zum Kloster, zum Zölibat. Er ist zum Klosterdienst zu schwächlich.
Aber auch im weiteren Leben behält er diese Einstellung zur Keusch-
heit — weil er nicht anders sein kann. Seine Arbeitskollegen ver-
spotten ihn daher wegen seiner „strengen Sittlichkeit“.
Das ist seine Grundeinstellung zum Leben in seinen psychose-
freien Zeiten, und dieser Grundzug setzt sich in die Psychose fort.
Es ist daher nicht erlaubt, das Keuschheitsgelübde, das er für sich
abgelegt hat, und das er von seiner Frau verlangen würde, als
„Wahnidee‘“ zu betrachten. Im Gegenteil, für ihn ist es die einzige
Möglichkeit, seinen Defekt mit der Wirklichkeit in Übereinstimmung
zu bringen. Und so betrachtet sind zwar seine wirklichen Wahn-
ideen, sit venia verbum, eunuchoid gefärbt, sie verlieren aber in
bezug auf die eunuchoide Persönlichkeit alles „Unsinnire“. Was
kann es für einen Eunuchoiden Natürlicheres geben als die Wahn-
idee, mit der Jungfrau Maria vermählt zu sein? Das erscheint als
Neustadt, Die Psychosen der Schwachsinnigen (Abhdl. H. 48). 4
Sa AA
Zentralpunkt seiner Wahnideen, und von hier aus entwickelt sich
zwanglos die Reihe seiner religiösen Größenideen.
Es ist zu vermuten, daß ein so wichtiger Faktor der Persönlich-
keit wie der Eunuchoidismus mehr als nur pathoplastisch in die Psy-
chose eingreift. Die pathogenetische Bedeutung des Eunuchoidismus
für die Psychose ist aus mehrfachen Gründen wahrscheinlich. Es
ist dabei insbesondere an die Untersuchungen von Bostroem (3)
über verworrene Manien zu erinnern. Bostroem konnte zeigen,
.wie in seinen Fällen ein endogener und ein exogener pathogenetischer
Faktor sich zum Symptomenbild zusammenkoppelten. So klar lie-
gen allerdings die Verhältnisse im Falle M. nicht, da die Psychose
bei M. in Symptomengestaltung und Verlauf der Eigengesetzlichkeit
endogener manischer Erkrankungen im wesentlichen folgt. Wichti-
ger erscheint allerdings die Tatsache, daß Sterling in seiner
Studie über den Eunuchoidismus einen psychotischen Typ der Eunu-
choiden beschreibt, mit dem der Fall M. sich fast völlig deckt. Es
ist das der zweite Typ Sterlings, der Typ der imbezillen Eunu-
choiden, die sich bei gewisser geistiger Stumpfheit gut den Lebens-
bedingungen der Umwelt anpassen und zu manischen Erregungen
neigen. Aus dieser Typisierung Sterlings scheint hervorzugehen,
daß es sich um Gesetzmäßigkeiten handelt.
Auch der Fall M. steht in unserem Material nicht vereinzelt da.
Er vereinigt sich mit 3 weiteren Fällen zu einer Gruppe von
innersekretorischen Störungen und manischen Zustands-
bildern bei Schwachsinnigen. Das Material an ausgesprochen inner-
sekretorischen Störungen ist in der hiesigen Gegend so klein, daß wir
in dem Zusammentreffen von Schwachsinn mit innersekreto-
rischen Störungen und Manie mehr als eine Zufälligkeit
erblicken. Wir gehen jedoch nicht soweit, in der eunuchoiden
Abartung das pathogenetische Moment der Psychose zu sehen; ohne
die Annahme einer zirkulären Veranlagung wird die Psychose nicht.
verständlich.
Es scheinen die verschiedenen innersekretorischen Schäden in
gleicher Weise die Psychose der Schwachsinnigen zu beeinflussen.
Für eine ganze Schwachsinnsgruppe, den Mongolismus, deren Ver-
ursachung durch polyglanduläre Störungen wahrscheinlich ist, gilt
die Euphorie als geradezu typisch. Unsere Gruppe umfaßt außer M.
noch einen weiteren Eunuchoiden, der zweimal wegen reaktiv-mania-
kalischer Erregungszustände in der Anstalt war und der außerdem
noch an einer Lungen- und Kehlkopftuberkulose erkrankt ist, ferner
einen Kretinösen, und endlich einen jetzt 21jährigen leicht Mongo-
z |; a
loiden, der sich seit der Pubertätszeit in einem Zustand fast dauernd
anhaltender manischer Erregung befindet. Die Gemeinsamkeiten,
die M. mit den übrigen Fällen dieser Gruppe verbinden, lassen daran
denken, der innersekretorischen Abartung pathogenetischen Wert
beizulegen.
Die 3. Gruppe manischer Zustandsbilder bei Schwachsinnigen ist
durch Alkoholismus kompliziert. Diese Gruppe umfaßt 3 Fälle.
Zwei dieser Fälle, über die nicht ausführlich berichtet werden
soll, zeigten weniger abgesetzte manische Phasen als einen Dauer-
zustand von gehobener Stimmung, phantastischen
Größenideen und nicht zu bremsenden Rededrang:
bei klarem Bewußtsein, erhaltener Orientierung, ohne motorische Er-
regung. Beide waren in der Anstalt außerordentlich gutmütig, beide
bestritten ihren Alkoholismus. Der chronische Verlauf der Psychose
und die eigentümlich flache Euphorie der Patienten lassen vermuten,
daß die Psychose nicht nur durch den Alkoholismus gefärbt, sondern
auch ursächlich hervorgerufen war. Für eine Veranlagung im Sinne
einer echten Manie fanden sich keine Anhaltspunkte.
Schwierigere Fragen rollte wieder der letzte Fall dieser
Gruppe auf.
Fall 3. Bäuker, Engelhardt; geb. 29. 3. 1867.
Aufgenommen ohne Anamnese am 6. 8. 1925.
Aus dem körperlichen Befund: Kleiner Mann in schlechtem Ernährungs-
zustand, Größe 1.54 m. Gewicht 48 kg, relativ grobknochig, Blasenschädel;
zahnlose, atrophische Kiefer: linke Gesichtshälfte kleiner als rechte; völlige
Trübung der Hornhaut links (Betriebsunfall); sonstiger körperlicher und neuro-
logischer Befund o. B.
B. kommt in ziemlicher Erregung zur Aufnahme, redet viel, ist völlig ver-
wahrlost. In seinen Taschen und seinem Gepäck hat er eine ganze Sammlung
wertlosen Inflationsgeldes, Steine, Papierfetzen u. a. völlig wertlose Sachen.
In seiner „Brieftasche“ sind u. a. eine ganze Reihe Posteinlieferungsscheine über
Briefe an den Staatsanwalt. Seine Habe bewacht er mit ängstlichen Blicken,
kann sich nur schwer davon trennen, versucht möglichst viel davon mit in den
Wachsaal zu nehmen und bringt auch zur Untersuchung alle seine Sachen mit
ins Arztzimmer.
Hier zeigt er eine außerordentliche Lebhaftigkeit in Sprache und Bewe-
gungen, entwickelt einen ungewöhnlichen Rededrang, redet unaufhörlich auf
den Untersucher ein. Meist handelt es sich um ausgesprochen affektbetonte
Dinge, von denen er spricht, z. B. von der Entziehung seiner Rente, seiner Ver-
bringung hierher usw. Er knüpft leicht an und beantwortet Fragen in län-
gerer, umständlicher Weise. Zeitweilig knüpft er in assoziativ-ideentliichtiger
Weise an, z. B. (Hauptstadt von Deutschland?) „Berlin.“ (Hauptstadt von
Bayern?) „Württemberg und Österreich ist Schweden, Moskau ist Rußland
und Petersburg.“ Den Faden der Erzählung verliert er trotz seiner großen
Weitschweifigkeit nicht, er kommt immer wieder auf die Entziehung seiner
4%
eos AG A
Rente zurück; macht in seinen Erzählungen einen kindlich-schwachsinnigen
Eindruck.
B. ist in dauernder motorischer Unruhe, seine Ausdrucksbewegungen sind
zahlreich, sehr zappelig. Die Stimmung ist labil, meist heiter gehoben, doch
fängt B. auch leicht an zu weinen, wenn er von dem Tode seiner Frau usw.
spricht; ist dann aber schnell wieder in gehobener Stimmung.
B. ist völlig orientiert, Bewußtsein und Auffassung sind ungestört, er zeigt
keine gröberen Gedächtnislücken; Merkfähigkeit herabgesetzt.
Er gibt an, daß er nachts mehrmals dadurch geweckt worden sei, daß
Menschen in seiner Nähe sich darüber unterhalten haben, im Jülicher Zuchthaus
wollten die Zuchthäusler ihre Wärter umbringen, dann ausbrechen und den
Staatsanwalt töten. Er habe deshalb 8—9mal an den Staatsanwalt geschrieben.
Die Stimmen seien vollkommen deutlich durchs Fenster gekommen aus Rich-
tung Aachen oder Rote Erde. Die „schwedische und österreichische Besatzung“
habe deshalb nachts Patrouillen aufgestellt; nach einiger Zeit sei wieder alles
ruhig gewesen.
Kenntnisse und Urteilsfähigkeit: B. rechnet schnell, aber falsch, z. B.
(5X7?) „48, ne 40! (17+22?) „49“ (11924?) „IT“ (9X82 „TI“ usw.
(Wieviel Erdteile?) „Ich habe ein Buch gelesen, darin stand 15000 Trillionen
Erdteile, 2 Sonnen und 2 Monde!“ (Größte Flüsse Deutschlands?) Richtig
beantwortet. — Spontan schreibt er: „Samstach, ten 8. 8. 1925. Jesund Nor-
mahl.“ Sagt dazu: „Ich wollt’ mich jet üben im Schreiben, dann würd mir die
Zeit nit so lang und ich hätt auch wat davon.“ (Luther?) „Der erste Erfinder
vom evangelischen Glauben.“ (Bismarck?) Der deutsche Reichskanzler, der
überall verehrt wird.“ (Adam?) „Soll der erste Mensch gewesen sein: be-
wiesen ist es ja nicht.“ (Irrtum — Lüge?) Ja. et gibt en Notlüge und en
Zwangslüge, eine Romanlüge und zum Lachen ne Lüge, das geht in wissentliche
Beschuldigung, das geht ins Strafrechtliche, darauf stehen 2 Jahre Zuchthaus:
es taugt beides nichts . . . ein Irrtum ist zu tun und eine Lüge spricht man
von selber aus.“ (Bach — Teich?) „Klares Wasser und schmutziges Wasser.‘
(Baum — Strauch?) ..Da gibts keinen Unterschied.“ (Mit dem Hute in der
Hand .. .?) „Das sind Menschen, die die Gerechtigkeit ehren und christlich
denken.“ — In sehr vielen seiner Äußerungen fällt die religiöse Färbung auf.
sowie seine große Zufriedenheit mit sich selbst, der Güte seiner Leistungen.
seinem Fleiß usw. — Altersstufe 11 nach Binet-Simon.
Zur Vorgeschichte gibt er an: Beide Eltern an Altersschwäche gestorben,
waren nervengesund. Vater trank nicht. — Der älteste Bruder sei Bahnbeam-
ter gewesen, habe ein Sittlichkeitsverbrechen an einem Kind begangen. sei mit
6 Monaten Gefängnis bestraft worden. Der zweite Bruder habe immer ver-
kommen ausgesehen, habe viel getrunken, sei jetzt in einem Kloster unter-
gebracht. „Der dritte Bruder ist Schuster, gesund und bald der reichste in der
Pfarrei.“ Eine Schwester ebenfalls im Kloster, lahmt am linken Fuß. liegt
schon 4 Jahre im Bett. — Er selbst war 25 Jahre verheiratet, hatte 5 Kinder.
davon drei früh gestorben, ein Sohn im Krieg gefallen, 1 Tochter verheiratet.
„Die ist noch schlauer als ich, die sieht alles in die Zukunft.“ Die Frau hatte
öfters Wutausbrüche. „Wir schlugen uns. aber die Frau fing zuerst an.“
Angeblich normale Entwicklung in früher Kindheit, keine Kinderkrank-
heiten. keine Krämpfe usw. In der Schule schlecht gelernt, „hatte zu viele
Hindernisse beim Lernen.“ konnte nichts behalten. blieb deshalb sitzen und
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wurde auch von der Kommunion zurückgesetzt. „Ich habe aber später alles
nachgeholt.“ \
Nach der Schulzeit wurde er Federmesserreider. Mit Ausnahme der
Jahre 1914—16, in denen er in E. selbständig ein Geschäft hatte, betreibt er
dieses Handwerk ununterbrochen seit 1881, teils in Fabriken, teils in Haus-
industrie. „Das ist eine sehr schwere Arbeit, dabei muß man sehr viel im
Kopf haben.“
Seit dem 1. April 1925 sei er Aufseher in den städtischen Anlagen und als
Gärtner beschäftigt. Dort sei er kürzlich an einer abgelegenen Stelle von
3 Männern überfallen worden, es wurden ihm 46 Mark, die Invalidenmarke und
seine Taschenuhr abgenommen. Er sei deshalb ins Krankenhaus gekommen,
von dort hierher.
Diagnose: Manischer Erregungszustand bei Imbezillität.
Wird am 7. 9. 1925 auf sein Drängen hin wesentlich gebessert entlassen.
2. Aufnahme am 4. 1. 1926.
Nach der Einweisungsanamnese ist B. unehelich geboren. Wird wegen
Alkoholmißbrauch eingewiesen.
Ist erregt. lebhaft, in gereizter Stimmung, fühlt sich zu Unrecht in die
Anstalt gebracht. Gibt aber zu, ab und zu Kognak getrunken zu haben. Der
Rededrang ist dieses Mal weniger stark als früher, die motorische Erregung ist
stärker: ist außerordentlich gut gelaunt. Kramt viel auf der Abteilung umher,
sammelt alles mögliche. Wird nach 14 Tagen ruhiger und am 6. 4. 1926 in ein
Kloster abgeholt.
3. Aufnahme am 5. 8. 1926.
Kann in dem Kloster nicht gehalten werden, da er unruhig ist, mit den
alten Leuten schreit und zankt. Glaubt, sein Bett solle zerschlagen werden,
aus seinem Schrank solle ein Gerüst um den Kirchturm gemacht werden usw.;
dadurch erregt.
Bei der Aufnahme unruhig, erregt. redet viel, bleibt nicht im Bett. Bei
der Untersuchung klar. interessiert. Affekt lebhaft, gehoben; redet unaufhör-
lich, kommt vom Hundertsten ins Tausendste. Größenideen: Vor dem Kriege
habe man ihn als Reichstagsabgeordneten nach Berlin gesandt, aber als er
seine erste große Rede gehalten habe, sei er verhaftet worden. Der Kaiser
habe ihn auch besucht, der sei ein Freund von ihm. „Da sind wir auch spa-
zieren gegangen und in einer alkoholfreien Wirtschaft gewesen. Der Kaiser
hatte Uniform an, ich in Zivil.“ Auf das Unglaubwürdige hingewiesen, bricht
er ab: „Dann wollen wir über was anderes reden. Das ist eine Beleidigung.“
Aucenblicklich fängt er aber wieder an, von seinen guten Beziehungen zum
alten Kaiserhaus zu erzählen.
(Krank?) ..Nein, normal und gesund an Geist und Körper.“ (Weshalb
hier?) „Ich war in S. im Kloster, da war es so schön wie im Vorhimmel.
Immer gebetet, bei jedem Essen. bei jedem Aufstehen.“ Jetzt sei die Stadt S.
hankrott. und weil er das erzählt habe, sei er aus S. hierher gebracht worden
(Gerät dabei in lebhafte Erregung. (Was im Kloster gemacht?) „Spülen,
kehren, Säle und Schlafräume reinigen, alle Arbeit. Zu jedem Saal 21 Eimer
tragen. Gartenarbeit für 52 Mann. Grasholen für das Vieh, Wäsche begießen,
die ist in einem Kloster groß. Weil ich noch jung bin (59 Jahre!), machte ich
das gern.“ (Zanksüchtir?) „Die Freireligiösen gehören nicht in ein Kloster.
Das gibt immer Streit: ich bin unschuldig. Die beten evangelische Gebete im
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Kloster. Das kann ich doch nicht dulden.“ Gerät dabei in Erregung, die in
ausgesprochene Heiterkeit übergeht.
Wird am 28. 8. 1926 in die Anstalt zu B. überführt. Arbeitet dort fleißig.
Am 11. 2. 1927 in die Anstalt zu G. überführt. Anfänglich ruhig und
unauffällig.
Am 23. 5. 1927 sind im Krankenblatt Wahnideen und Sinnestäuschungen
vermerkt. (Stimmen?) „Mit den Ärzten in Grafenberg habe ich vor ein paar
Tagen gesprochen. Der Reichspräsident spricht auch öfter zu mir.“ (Papst?)
„Die Kirche in S. soll neu geweiht werden, habe ich ihm gesagt. Die Kriminal
hat die Kirche verunreinigt, Schweinerei gemacht.“ Der Kaiser habe ein Dienst-
mädchen in S. genotzüchtigt, das habe er angezeigt, der Kaiser leugne alles ab.
Der Kaiser flüstere ihm öfters zu, was alles im Staat in Unordnung sei, was
geregelt werden müsse. Redet unaufhörlich. — Im August ist der Zustand
unverändert, schwätzt und schreibt viel, will wallfahrten, wünscht „katholischen
Kautahak“. Mit dem Kaiser habe er mal gesprochen am 1. Mai wegen
Entlassung.
9. 9. 1927. Drängt immer uneinsichtig fort. Redet und schreibt viel.
Hilft fleißig im Hause, ist fast stets in gehobener Stimmung. |
Zusammenfassung: Der Messerreider Engelhardt B., der
aus einer „degenerativ‘ belasteten Familie stammt, erkrankt im 58.
Lebensjahre an einer Psychose mit Rede- und Bewegungsdrang,
Sammelsucht, heiter-gehobener Stimmung; vorher hatte er einen
Krankheitszustand mit akustischen Halluzinationen durchgemacht.
Nach wenigen Wochen klingt die Psychose wesentlich ab. Nach
einem Jahr wird B. mit demselben Zustandsbild wegen Alkoholismus
wieder in die Anstalt eingeliefert; erneutes Abklingen der Psychose.
Nach einem weiteren halben Jahr erneute Anstaltsaufnahme wegen
zunehmender Erregung mit Wahnbildung und Sinnestäuschungen,
dabei Ideenflucht und Euphorie. Der Zustand besteht jetzt seit 11
Jahren.
Ist .es berechtigt, die Psychose des B. unter die manischen Zu-
standsbilder zu rechnen, handelt es sich nicht eher um eine manisch
gefärbte Halluzinose? Wir glauben diese Frage verneinen zu müs-
sen. Im Gesamteindruck des Patienten überwiegt weit der manische
Symptomenkomplex mit Rede- und Bewegungsdrang, Sammelsucht
und Euphorie bis in das jetzige Krankheitsstadium hinein. Auch der
periodische Verlauf der Psychose spricht für eine manische Erkran-
kung. Es ist dabei sicher, daß es sich bei den Befunden an den Ent-
lassungstagen um tatsächliche, nicht um scheinbare Besse-
rungen handelte; auch in der Zeit von August 1926 bis Mai 1927
scheint B. völlig unauffällig gewesen zu sein. Keineswegs handelt
es sich also um eine zusammenhängende Krankheitsphase; der peri-
odische Verlauf der Psychose kann als gesichert gelten.
— 49 —
In diese periodische Psychose hat zweifellos der Alkoholismus ein-
gegriffen, vielleicht als auslösendes Moment, wahrscheinlich auch im
Sinne einer Verstärkung einzelner Symptome. Die halluzinatorischen
Vorgänge vor Beginn der ersten Krankheitsperiode sind durch ihre
Art wohl als charakteristische alkoholische Halluzinose gekennzeich-
net. An dem Realitätswert der Sinnestäuschungen für B. ist nicht zu
zweifeln, das beweist wohl seine Reaktion darauf, seine Einschreibe-
briefe an die Staatsanwaltschaft. Später allerdings gibt er an, er
habe an die Staatsanwaltschaft geschrieben, um den Kaiser wegen
Notzucht anzuzeigen. Vielleicht hat beides B. zu seinen Schreiben
veranlaßt.
Wenn auch an dem Vorkommen echter Halluzinationen bei B.
nicht gezweifelt werden kann, so ist es doch auch in diesem Falle
zweifelhaft, ob alle erwähnten Sinnestäuschungen als solche auf-
zufassen sind. Die Tatsache, daß die letzterwähnten Sinnestäuschun-
gen teils in enger Verbindung mit den Größenideen der Manie stehen,
teils den Erfüllungen seiner Wünsche dienen, läßt sie eher als
wahnhafte Einbildungen denn als Sinnestäuschungen er-
scheinen. Mit dieser Annahme deckt sich auch der klinische Verlauf,
der eine ungünstige Wendung nicht erkennen läßt.
Mit dieser Erkenntnis wird auch die Annahme einer paraphre-
nen oder arteriosklerotisch-wahnbildenden Krankheit hinfällig. Nach-
dem die Krankheit jetzt fast 3 Jahre besteht, wäre gerade in dem
hohen Lebensalter des Patienten ein schnelles und deutliches Fort-
schreiten der Wahnbildung und Halluzinationen, oder eines von bei-
den, zu erwarten gewesen. Statt dessen tritt eher eine Rückbildung
der Halluzinationen ein und ihr Ersatz durch wahnhafte Ein-
bildungen. Der manische Affekt erhält sich ungeschwächt, körper-
liche und psychische Symptome einer zunehmenden Arteriosklerose
sind nicht bemerkbar.
Da das Auftreten eines ersten manischen Anfalls im 58. Lebens-
jahr durchaus ungewöhnlich ist, müssen wir dem Alkoholismus eine
auslösende Rolle zuschreiben, und wir fassen jetzt die Psychose des
B. folgendermaßen auf: Der Alkoholismus führte bei dem
schwachsinnigen B. zu einer Alkohol-Halluzinose;
diese löste eine latente manische Anlage aus und
bildete so den vorbereitenden Boden für die perio-
dische Manie. In die Manie geht die Halluzinose
nicht mit ein, vielmehr scheint eher eine Rück-
bildung der Halluzinose einzutreten. Die Manie selbst
ist durch den Schwachsinn in ausgesprochenem Maße in der Sympto-
mengestaltung beeinflußt.
In Parallele mit diesen beiden Gruppen steht ein Fall eines
28jährigen Mädchens, das am 3. 4. 1926 bei uns aufgenommen wurde,
nachdem es am 14. 3. 1926 nach einer schweren Geburt von einem
gesunden Knaben entbunden worden war und im Anschluß daran
eine Pneumonie durchmachte. Am Tage nach ihrer Entlassung aus
dem Krankenhaus brach eine Manie aus, die etwa 5 Wochen anhielt.
Auch in diesem Falle ist anzunehmen, daß Schwangerschaft, schwere
Geburt und fieberhafte Erkrankung als vorbereitende pathogenetische
Faktoren der Manie anzusehen sind.
Waren die bisherigen Psychosen bei Debilen und Imbezillen
durch einen Reichtum des psychotischen Erlebens ausgezeichnet, so
lassen die Psychosen der schwereren Schwachsinnsgrade eine solche
Mannigfaltigkeit vermissen.
Fall 4. Paul Loh, geb. 21. 3. 1906.
Aufgenommen am 12. 1. 1926.
Ist von Jugend auf in einer Idioten-Anstalt gewesen, hat etwas lesen und
schreiben gelernt. Hat zeitweilig Anfälle von Manie mit freudig erregter. ge-
hobener Stimmung, fuchtelt mit den Händen in der Luft herum, singt. predigt,
lacht, dreht sich rund usw. Kann wegen Mangel an geeignetem Personal nicht
in der Schwachsinnigen-Anstalt bleiben.
Körperlich: Azteken-Schädel, Pelzmützenbehaarung, sonst o. B.
L. ist sehr laut, spricht mit kindlicher Sprache, möchte wieder zu den
Schwestern zurück; lacht unmotiviert, schüttelt vor Freude mit den Händen.
Redet viel, immer nebensächliches, unwichtiges Zeug aus seinem beschränkten
Vorstellungskreis. Spricht mit halb singender, halb weinerlicher Sprache mit
manchmal sich steigerndem Affekt. wobei er kindlich lacht und wie ein kleines
Kind die Hände schüttelt. Mit besonderer Freude sagt er immer wieder einige
Sprüche her:
Loh, das macht man so,
Benedicamus domino.
Oder:
Ich darf nicht kratzen
Mit meinen Tatzen,
Mit meinen Pfoten,
Das ist verboten.
Sein häufiges unmotiviertes Lachen steigert sich manchmal zum Krähen
und Schreien. «dabei ist das Krähen von ansteckender Heiterkeit. Er grimas-
siert lebhaft. verzieht den Mund, schnauft, macht alles in kindlicher Weise nach.
Wissensschatz sehr gering.
27. 1. 1926: Überführt nach B.
„Benimmt sich wie ein kleines Kind.“
15. 2. „Ist nicht an die Arbeit zu bringen. Schreit und kräht, wenn von
Arbeit die Rede ist.“
8. 4. „Geht zur Kolonne. Ist zufrieden“. Lebt seitdem stumpf und
ruhig in der Anstalt dahin. |
Zusammenfassung: In diesem Fall einer manischen Er-
regung eines Schwachsinnigen, der an der Grenze der Idiotie steht,
verläuft die Manie wie bei Vollsinnigen, der Affekt hat dieselbe an-
steckende Wärme. Dagegen äußern sich die Erscheinungen der
Manie infolge des hochgradigen Schwachsinns elementar, die Sym-
ptomengestaltung ist primitiv und grenzt infolge ihrer Einförmigkeit
ans Katatone.
Es schließt sich hier ein letzter Fall an, der weniger zu diagno-
stischen Zweifeln als zu einer gewissen Schwierigkeit der Einord-
nung führt.
Fall5. Es handelt sich um einen jetzt 28jährigen Schwachsinnigen
leichten Grades. der während seiner Militärzeit mit 18 Jahren zum ersten Mal
dadurch auffällig wurde, daß er eines Morgens nicht zum Dienst kam und
behauptete, mit der Zarin von Rußland und Frau Wilson geschlafen zu haben.
Einige Tage später kamen für alle Kompagnie-Angehörigen gegen Nachnahme
Nasenformer an und für die Kahlköpfigen Haarfärbemittel, deren Zusendung
B. veranlaßt hatte. Im Laufe seiner weiteren Erkrankung. die ihn in verschie-
dene Anstalten brachte. fiel er durch unsinnige Größenideen auf, die großen-
teils anmuteten, als ob sie eigens zum Verulken der Ärzte produziert worden
seien. Nach einiger Zeit klangen diese Erscheinungen ab und B. „entließ
sich selbst“.
Ein anderes Mal wurde B. in eine Anstalt verbracht, weil er im Mittel-
punkt einer westdeutschen GroBstadt-auf einem Baume saß und allerhand
Faxen machte; er hatte mit einem Amerikaner (?) gewettet, daß er dort den
ganzen Tag sitzen würde, Auch dieses Mal entwich er aus der Anstalt.
B. lebt jetzt wieder in der Anstalt; ist in seinem Verhalten wieder wie
früher nach Abklingen der psychotischen Zustände; er ist aber dauernd „über
dem Strich“, der Schalk sitzt ihm in den Augen, er ist dauernd zu Scherzen
geneigt, wenn er dazu animiert wird: versucht häufig, Poussagen anzufangen;
hält sich aber, sich selbst überlassen, ruhig und unauffällig.
Es ist nicht verwunderlich, daß bei dem ersten Anstaltsaufent-
halt das Vorliegen einer „Pfropfhebephrenie‘‘ erwogen wurde. Der
weitere Krankheitsverlauf hat dagegen entschieden. Es hat sich
weder eine affektive Verblödung noch eine autistische Einengung
der Persönlichkeit ausgebildet, noch eine Verschrobenheit usw. Das
„Faxige“ ist der Grundzug seiner Persönlichkeit, einer offenen,
heiteren Natur. Es ist bei B. eine dauernde hypomanische Stimmungs-
lage vorhanden. Aus dieser heraus erwachsen periodische Manien, die
sich deutlich von der Grundstimmung abheben. Aus diesem Grunde
wurde der Fall B. der Gruppe manischer Zustandsbilder zugerechnet,
für die oben im Falle Lohr ein ausführliches Beispiel gegeben wurde.
— 52 —
Die Gruppe der manischen Zustandsbilder der Schwachsinnigen
- umfaßt also 14 Fälle, d. i. etwa 6 % des Gesamtmaterials. Der
Schwachsinn gab den Zustandsbildern durch eine ge-
wisse Art von Sinnestäuschungen, Pseudohalluzinationen und wahn-
haften Einbildungen eine charakteristische Färbung. Es
zeigte sich ferner, daß mit dem Grade des Schwachsinns
die Reichhaltigkeit der Symptomengestaltung pa-
rallel geht, daß bei den höchsten Schwachsinnsgraden die
manische Störung ein symptomenarmes, stereotypes Gepräge an-
nimmt. Das gilt jedoch nur für die höchsten Schwachsinnsgrade, bei
den Debilen und Imbezillen zeigt die Psychose eine Reichhaltigkeit
wie bei Vollsinnigen.
Es ist ferner hervorzuheben, daß das Zusammentreffen
von Schwachsinn und Manie keineswegs häufig ist.
In 8 von 14 Fällen (= 60 %) kommt noch ein weiterer Fak-
tor in Gestalt einer innersekretorischen Störung, von Alkoholismus
oder Schwangerschaft hinzu. Es konnte in einer Reihe von Fällen
gezeigt werden, daß erst durch die exogene Noxe die manische An-
lage manifestiert wurde. Der Schwachsinnige neigt also
nicht sehr zu endogenen manischen Zuständen und
ebenfalls nicht stark zu manischen Reaktionsfor-
men.
B. Melsschelische Zustandsbilder.
Die melancholischen Zustandsbilder der Schwachsinnigen waren
weniger differenziert als die manischen, boten untereinander und im
Vergleich mit den Depressionen der Vollsinnigen weniger markante
Eigentümlichkeiten, die eine Gruppierung wie bei den manischen
Zuständen gestatteten.
Die Mehrzahl der Depressionszustände war endogener Natur
wie der folgende:
Fall6. Reihmann, Gerhard: geb. 29. 12. 1890.
Eingeliefert am 8. 4. 1919 wegen Melancholie und Selbstmordgedanken.
Körperlich: schwächlich, schlecht genährt, sonst o. B.
Psvchisch: ruhig, gedrückt, nachdenklicher Gesichtsausdruck. Gibt an.
seit 8 Tagen außer Arbeit zu stehen, weil er nicht mehr konnte: er sei seit 3—4
Wochen traurig. Er habe in letzter Zeit immer so Gedanken, daß er im Moment
gar nicht wisse, was er mache, Er habe selbst die Finger zwischen eine Ma-
schine gehalten. Er wolle seinen trüben Gedanken nicht nachgehen, müsse es
aber schließlich doch, er werde mit Gewalt zu solchen Taten hingezogen. —
Schlaf, Appetit schlecht. Depressive Stimmung, spricht leise, zögernd; Auf-
fassung. Orientierung gut.
ur BER ae
Hält sich in den nächsten Tagen still für sich, spricht nicht mit den
anderen Kranken; äußert gelegentlich wieder Selbstbeschädigungsideen.
Wird am 23. 4. 1919 von der Frau gegen ärztlichen Rat ungeheilt abgeholt.
2, Aufnahme am 13. 12. 1926.
Eingewiesen wegen Suizid- bzw. Selbstverletzungsversuchen.
Körperlich: schlechter Ernährungszustand, Größe 1,61 m, Gewicht 48 kg.
Schlaffer Gesamttonus. Innere Organe, neurologischer Befund o. B. — In Ab-
heilung begriffene, handtellergroße Narbe am Kinn und an den Lippen; Fehlen
des Endgliedes des rechten Zeigefingers; strahlige Narben am rechten Unter-
schenkel und an der Radialis links (alles von Selbstbeschädigungen stammend):
Narbe am linken Ellenbogen (Kriegsverletzung).
Psychisch: still und ruhig; Nahrungsaufnahme und Schlaf ausreichend. Bei
der Untersuchung sehr still, sitzt reglos auf dem Stuhl, macht ein beküm-
mertes und ratloses Gesicht, Stirn in tiefe Querfalten gelegt; sieht ratlos, manch-
mal fast verstört um sich. Macht u. a. die Angabe, seine Mutter sei geistes-
krank gewesen: das sei ihm erzählt worden, er sei beim Tode der Mutter erst
6 Jahre alt gewesen. Sonstige Familie o. B.
In der Schule mäßig gelernt, Rechnen fiel schwer, blieb sitzen. Nach der
Schulzeit Schreiberlehrling auf einem Büro; die Firma ging ein, da hatte er
keine Lust mehr zum Lernen, da ihm das Rechnen so schwer fiel. War dann
Packer, nach dem Kriege Hilfsarbeiter, zuletzt Bau-Hilfsarbeiter; letzter Arbeits-
tag 10. 12. 1926. — Seit einem Vierteljahr habe er immer andere Gedanken.
(Traurig?) „Ja, mißgestimmt.“ (Warum?) „Ich war froh, daß ich Arbeit
hatte, aber die war mir zu schwer.“ (Selbstvorwürfe?) „Nein.“ (Angst?)
„Nein.“ (Lebensmüde?) „Das gerade nicht.“ (Aber?) „Ja, wie ich dazu
komme, das weiß ich auch nicht.‘ Er habe in der letzten Zeit mehrfach ver-
sucht, sich das Leben zu nehmen. Vor einem Vierteljahr hing er sich an die
Dachrinne vor’s Fenster und dachte, wenn sie abbricht, dann fällst du her-
unter und bist tot. Sie brach aber nicht ab, darauf sei er wieder ins Fenster
eingestiegen. Einen ähnlichen Suizidversuch unternahm er vor einem Monat
am Treppengeländer. Schließlich habe er am 11. 12. 1926 Benzin getrunken
und angesteckt, wodurch er sich am Kinn verbrannte. Es sei aber nur ein
kleines Fläschchen Benzin gewesen. Es habe ihn stets dazu getrieben, sich das
Leben zu nehmen.
Keine Wahnideen und Sinnestäuschungen. Klar, besonnen, orientiert.
(Krank?) „Ja, ich fühle mich krank.“ (Was fehlt Ihnen?) „Ich fühle mich
immer so traurig.‘ — Rechenvermögen, Schulkenntnisse, Urteilsfähigkeit
herabgesetzt.
Frau R., die einen schwachsinnigen Eindruck macht und nicht viel Aus-
kunft geben kann, weiß nicht, wann die frühere Depression beendet war; ihr
Mann sei aber in der Zwischenzeit wieder ganz gesund gewesen, „wie früher“.
Vor einiger Zeit habe der Mann sich aus dem Fenster stürzen wollen; jetzt sei
ihr etwa 8 Tage vor der Aufnahme das veränderte und trübsinnige Wesen ihres
Mannes aufgefallen.
In der Anstalt bessert sich der Zustand wesentlich und R. wird am
13. 1. 1927 von seiner Frau abgeholt.
Zusammenfassung: Der von Jugend auf leicht schwach-
sinnige Hilfsarbeiter R. erkrankt im 29. Lebensjahr mit Depression,
— 4 —
Hemmung und Neigung zur Selbstbeschädigung. Nach einiger Zeit
Abklingen des Zustandes. Wiedererkrankung im 36. Lebensjahr.
Beginn mit ungewöhnlichen und unzweckmäßigen Selbstmord-
versuchen. Hemmung, Ratlosigkeit, Krankheitsgefühl; keine Selbst-
vorwürfe, kein Angstgefühl. Nach 4 Wochen weitgehende Besse-
rung des Zustandes. i
Bemerkenswert an der Psychose des R. ist ihre außerordentliche
Farblosigkeit. Das ist das Kennzeichen des größten Teils der
melancholischen Zustandsbilder der Schwachsinnigen. Sie ist wohl
der Ausdruck des Schwachsinns und die Folge davon, dab
dieser Teil der Schwachsinnigen — wir werden unten auch andere
Reaktionsweisen schildern — den aufsteigenden depressiven Affekt
nicht mit den übrigen Persönlichkeitskomponenten verbindet. Wir
sehen darin gewissermaßen das Urbild der endogenen De-
pression ohne ihre psychologische Weiterverarbeitung. Wir sehen
daher ‘auch dauernd ein gewisses Fremdheitsgefühl bestehen
bleiben; der Schwachsinnige identifiziert sich nicht mit seinem patho-
logischen Affekt. Es kommt daher nicht zur Ausbildung von Angst-
gefühlen und Selbstvorwürfen; aber das fremdartige Erleben ruft
Ratlosigkeit hervor.
Auffallend ist weiter an der Psychose, daß sie sich ein-
schleicht. Der reduzierte Körperzustand läßt erkennen, daß die
Depression bereits längere Zeit vor der Anstaltsaufnahme bestand;
es liegt auch kein Anlaß vor, daran zu zweifeln, daß bereits der
Suizidversuch 3 Monate vor der zweiten Anstaltsaufnahme der Aus-
druck derselben Depression war, die ihn im Dezember 1926 in die
Anstalt brachte. Mann kann daran denken, daß bei der psychischen
Indolenz der Schwachsinnigen (oder ihrer Umgebung?) erst ein ge-
wisser Grad der Depression vorhanden sein muß, bis sie sich kundtut.
Es ist hier auch darauf hinzuweisen, daß die Depression bei R.
in einer sehr flachen Kurve verlief. Das ist auch ein Charakte-
ristikum der Schwachsinnigen-Depressionen; immer wieder finden
wir den einschleichenden Anfang und ein versickerndes Ende. Diesen
flachen Verlauf der Depression fanden wir, mit je einer Ausnahme,
bei allen männlichen und weiblichen Kranken. Auch das ist der
Ausdruck der mangelnden oder unvollkommenen psychologischen
Verarbeitung der Depression und des sich daraus ergebenden Man-
gels einer notwendigen Korrektur der psychischen Gesamteinstellung.
wodurch sich bei Vollsinnigen eine Cäsur zwischen Psychose und
Normzustand ergibt.
Beachtenswert ist ferner bei R. die Unzweckmäßigkeit und Un-
sinnigkeit der Suizidversuche. Es ist naheliegend, auch hierin eine
Folge des Schwachsinns zu sehen. Ich betone jedoch, daß die Un-
sinnigkeit einer affektiv verursachten Handlung allein nicht für
Schwachsinn spricht, und niemalskann aus der Unsinnig-
keitund Unzweckmäßigkeit von Affekthandlungen
das VorliegeneinesSchwachsinnserschlossen wer-
den. In diesem Falle spricht jedoch manches für die Annahme, die
unzweckmäßigen Suizidversuche seien zwar nicht Ausdruck, aber
Folge des Schwachsinns. Dafür spricht vor allem die geringe Affekt-
stärke, die ihn beeindruckte, ihn in mehr unbestimmter Weise
veranlaßte, etwas in Richtung Suizid zu unternehmen. Am zielklar-
sten erscheint noch der erste Suizidversuch durch Herabfallenlassen
von der Dachrinne, während ihm bei den beiden anderen Suizidver-
suchen wohl nur eine ganz verschwommene Suizidabsicht vorge-
schwebt hat. Da hier Suiziddemonstrationen nicht anzunehmen sind,
ist die Annahme erlaubt, auch in der Unzweckmäßigkeit der
Suizidversuche den Ausdruck der mangelnden Ver-
arbeitung des pathologischen Affektes zu sehen.
Eine Psychose mit zirkulärem Verlauf, mit vorwiegenden De-
pressionszuständen zeigt der folgende
Fall 7. Frühling, Ludwig: geb. 19. 9. 1886.
Aufgenommen 6. 10. 1926. Hatte bereits vor % Jahr einen ähnlichen Zu-
stand durchgemacht, der nach 8 Wochen mit völliger Heilung endete. Jetzt
Beginn der Erkrankung am 3. 10. mit Erregung, Beziehungsideen, Eifersucht,
Mißtrauen, Schlaflosigkeit und wechselnder Stimmungslage: morgens heiter,
abends traurig. i
Aus der Eigenanamnese ist hervorzuheben: 2 Brüder und 1 Schwester an
Tuberkulose gestorben, 6 Geschwister leben gesund. Mutters-Mutter war geistes-
krank, endete durch Selbstmord. Eltern gesund. — Normale Kindheitsentwick-
lung. In der Schule schlecht gelernt, zweimal sitzen geblieben. Später ver-
schiedene Beschäftigungen. Nicht aktiv gedient wegen MindermaB (Größe
1.50 m). Während des Krieges 3 Monate eingezogen, sonst reklamiert. — Ver-
heiratet seit 16 Jahren, 1 gesundes Kind. — Letzter Arbeitstag 2. 10. 1926 als
Hilfsarbeiter in einer Karbonitfabrik. |
Seit einiger Zeit habe er in der Fahrik Sorgen gehabt, meinte, er solle
verdrängt werden, habe immer geglaubt. die Leute wollten ihm etwas, wie das
gekommen sei, wisse er selbst nicht. Er könne auch nicht bestimmt sagen,
wie es genau gewesen sei. Zu Hause sei er aufgeregt gewesen, deshalb hierher.
F. zeigt eine leichte motorische Unruhe, leichten Bewegungsdrang, sieht
sich häufig im Zimmer um, zappelt mit den Beinen. Sprachlich unauffällig.
Affekt ängstlich, unsicher, dabei geringe Affekttiefe. — Auffassung und Auf-
merksamkeit o. B. — Ortlich und zeitlich schlecht orientiert. (Lügen haben
kurze Beine?) „Kleine Menschen lügen alle!“ — Kein Anhaltspunkt für
Sinnestiiuschungen,
a 2
In der folgenden Zeit ist F. außerordentlich unproduktiv, still: der Affekt
ist ständig mißmutig. Es treten tageweise Besserungen auf: F. wird am
10. 1. 1927 von den Angehörigen abgeholt.
2. Aufnahme am 30. 4. 1927.
Soll angeblich seit einigen Wochen gemütskrank und durch Erregung
(„Depression und Sinnestäuschungen“) gemeingefährlich sein.
Ist bei der Aufnahme lebhaft. unruhig, gereizt. Gibt an. daß er seit seiner
Entlassung von hier noch nicht gearbeitet habe: er habe bisher noch „krank
gefeiert“. Damals sei er hierher gekommen, weil die Leute in der Fabrik ihn
verdrängen wollten. Jetzt habe er vor 8 Tagen mit der Frau wegen seines
Sohnes Krach bekommen. In eine Auseinandersetzung mit dem Sohne habe
sich die Frau eingemischt und habe einen Teil von den Schlägen, die der Sohn
bekommen sollte, mitgekriegt. Wenn er aufgeregt sei. falle das gewöhnlich
etwas stark aus. Seitdem habe er täglich Wortwechsel mit seiner Frau gehabt,
sei deshalb von 2 Beamten hierhergebracht worden. Krank sei er nicht.
F. ist außerordentlich gereizt. lebhaft im Wesen, ganz der Gegensatz zu
seinem vorigen Aufenthalt. Der Gesichtsausdruck ist gespannt. Mißtrauisch
hetritt er das Untersuchungszimmer, in dem vorher Salvarsan gespritzt worden
war, und sagt gereizt. er wolle aber keine Spritze hahen. — Für sein aufge-
regtes Verhalten zu Hause ist er einsichtslos. — Voll orientiert.
Rechenvermögen: (5X7?) . . „2! (7X8?) .. 48.. 54 (1714+22?)
0.049" usw. (Erdteile?) ... 4! (HeiBen?) ... (Irrtum — Lüge?)
„Wahrheit und Gerechtigkeit!“ (Bach — Teich?) „Fließendes und stehendes
Wasser.“ Kann nur mühsam buchstabierend lesen. Binet-Simon A. S. 9.
In der Anstalt bald Beruhigung. Mitte Mai 1927 tritt ein Umschlag ein,
F. wird mißmutig. verstimmt, gehemmt. Im Juni ist er noch außerordentlich
still, mißmutig, geistig sehr unproduktiv; im ganzen jedoch leicht gebessert.
Am 12. 7. wird F. gebessert nach Hause beurlaubt. Hier tritt eine weitere
Besserung ein: F. nimmt seine frühere Arbeit wieder auf und ist bis jetzt. tätig.
Zusammenfassung: Ein Schwachsinniger mittleren Grades
erkrankt mit 40 Jahren an einem Depressionszustand von 8 Wochen
Dauer, danach völlige Gesundung. 15 Jahr später Neuerkrankung
mit Schlaflosigkeit, Erregung, Mißtrauen, Beeinträchtigungsideen,
wechselnder Stimmungslage. Der Zustand bildet sich allmählich zu
einer Depression aus; bei Beginn der Besserung wird F. von seinen
Angehörigen abgeholt. Nach einigen Monaten Wiederaufnahme in
gehoben-gereizter Stimmung mit Erregung, nach 4 Wochen Umschlag
in eine mißmutig gefärbte Hemmung; endgültiger Ausgang in
Heilung.
Nachdem F. jetzt sofort wieder seine Arbeit aufgenommen hat,
nach der ersten Entlassung jedoch nicht, ist man wohl berechtigt,
den Zustand vom Oktober 1926 bis Juli 1927 als eine Krankheits-
phase anzusehen. F., dessen GroBmutter durch Suizid infolge Geistes-
krankheit endete, hat also bisher 2 Krankheitsperioden durch-
gemacht. In die 2. Krankheitsphase, die mit einer mißmutigen De-
u. BT a
pression begann und endete, schob sich ein mehrwöchiger Zu-
stand von Erregung und Gereiztheit ein. Ebenso flach wie die De-
pression war auch der Erregungszustand.
Die depressiven Phasen waren durch Mißmut besonders gekenn-
zeichnet, stärker als durch eigentliche Depression. Der Mißmut
machte F. verschlossen, und er erschien geistig völlig unproduktiv.
Man hatte stets das Gefühl bei F., vor einem herabgelassenen Vor-
hang zu stehen. Es ist zu vermuten, daß hinter diesem Vorhang sich
keine buntbewegte Bühne befand, daß tatsächlich dahinter alles leer
war. Und so färbte der Schwachsinn die Psychose mit einer Leere,
die uns sonst infaust erscheint. Daß diese Leere beiSchwach-
sinnigen nicht auf eine ungünstige Wendung hin-
weist, ist verständlich und beachtenswert. — Auch
bei F. fehlen Angst- und Versündigungsideen.
Der bereits erwähnte einzige Fall mit Selbstvorwürfen usw. bot
auch noch in anderer Hinsicht einige Besonderheiten, so daß er noch
kurz erwähnt sei.
Fall 8 Peter Neumann, geb. 12. 6. 1886.
Aufgenommen am 4. 5. 1926, nachdem er bereits seit Januar 1926 wegen
Melancholie in ärztlicher Behandlung stand.
Körperlicher Befund bei der Aufnahme: Größe 1,64 m; Gewicht 52% kg.
Schmächtiger Knochenbau, gering entwickelte Muskulatur, mäßiger Ernährungs-
zustand. Haut, Schleimhäute, Haare, Zähne o. B. Lunge, Unterleibsorgane,
Urin o. B. Herz: nicht verbreitert, Töne rein, regelmäßig, paukend; Puls mittel-
weich, voll, 120 in der Minute. Blutdruck 152/90 mm Hg. — Leichtes Gesichts-
beben, Fazialis sonst o. B. — Pupillen gleich, mittelweit, rund: L. R. prompt,
aber eingeschränkt, A. und C. R. +. Augen sonst o. B. — Patellarsehnen-
reflexe beiderseits lebhaft, re=li, beiderseits von der Tibiakante auslösbar;
Patellarklonus beiderseits; sonstige Reflexe o. B., keine pathologischen Reflexe.
— Leichtes Schwanken bei Fuß-Augen-Schluß; Tremor der Hände. — Motilität,
Sensibilität o. B. Sprache stotternd. — Linker Hoden fehlt (operativ entfernt
wegen Tuberkulose), linker Daumen verstümmelt (Unfall). — Blut: Wassermann,
Sachs-Georgi, Meinicke negativ. Liquor: Wassermann (ausgewertet), Nonne.
Pandy, Weichbrodt, Zellzahl, Goldsol, Mastix negativ.
Zur Vorgeschichte gibt er u. a. an: Vaters-Vater war geisteskrank, war
28 Jahre in der Anstalt zu D. Vater an „Wasser“ gestorben, Mutter 80 Jahre,
lebt (hypomanisch), eine Schwester hochgradig kurzsichtig (hypomanisch und
schwachsinnig); 3 Brüder an Schwindsucht gestorben: sonstige Familie o. B.
Er selbst hatte Rippenfellentziindung und Hodentuberkulose. In der
Schule schlecht gelernt, einmal sitzen geblieben, konnte schlecht rechnen. Nach
der Schulzeit Gärtner, jetzt seit 21 Jahren Wegearbeiter in städtischen Dien-
sten; ledig. Er sei seit 3 Monaten müde und matt, so daß er nicht mehr arbei-
ten könne.
Psychisch: Völlig orientiert; sich selbst überlassen ruhig, teilnahmslos für
die Umgebung. Bei der Untersuchung zittrig, unsicher, kommt allen Aufforde-
rungen mit Hast und Unruhe nach. Gesichtsausdruck depressiv leer, dabei rat-
los. Gedächtnisbesitz, Merkfähigkeit ungestört. Rechnen: (5X7?) . . . ,.45!*
(17422?) .... (11-4?) .. . „7!“ Schulwissen: (Deutsche Flüsse?) ....
„Rhein, ... Meer .. .!“ (Erdteile?) ... „4.“ (?) „Australien . . .“ (Haupt-
stadt von Bayern?) . . . „Bayern.“ Urteilsfähigkeit und Begriffsbildung (z. T.
später erhoben): (Bach — Teich?) „Bach fließt, Teich steht.“ (Baum —
Strauch?) „Strauch ist klein, Baum ist groß.“ (Treppe — Leiter?) „Sind beide
gleich,“ (Irrtum — Lüge?) ... „Da ist kein Unterschied zwischen.“ (Mor-
genstunde . . .?) ... (Mit dem Hute .. .?) ... „Mit Stock und Hut
kommt man durch das ganze Land.“ — Binet-Simon A. 8. 10.
Die Denkvorgänge sind erschwert, F. ist völlig ratlos, bewegt dauernd die
Lippen, leise vor sich hinsprechend. (Traurig?) „Habe eine alte Mutter von
80 Jahren.“ (Was ist damit?) „Wenn ich glücklich zurückkäme, wäre die froh.“
10. 5. 1926. Liegt mit ängstlich gespanntem und ratlosem Gesicht im Bett.
jammert stets leise vor sich hin, ist traurig und äußert nicht recht verständ-
liche Versündigungsideen: ist bei seinen Äußerungen sehr erregt und stot-
tert stark.
25. 5. 1926. Noch immer ängstlich-erregt und ratlos. macht sich Vorwürfe.
daß er nicht genug gearbeitet habe, glaubt deshalb, daß er „unschädlich“ ge-
macht werden soll. Äußert sich sehr unklar.
5. 6. 1926. Versuchte sich gestern mit einem Taschentuch an der Bett-
stelle zu erhängen. — Schlaf schlecht, Nahrungsaufnahme gering.
3. 7. 1926. Nicht mehr ratlos verwirrt, aber noch ängstlich und still. steckt
voller Selbstvorwürfe.
3. 8. 1926. Nachdem er in den letzten Tagen sich etwas beschäftigte, ver-
langt die Mutter jetzt in einem groben Brief die Entlassung des Sohnes. Un-
geheilt entlassen.
6. 8. 1926. Die Mutter bringt N. wieder, da es zu Hause nicht mit ihm
eing: stand den ganzen Tag ängstlich weinend und ratlos umher, glaubte stets.
daß er wiedergeholt werden sollte. Versuchte. sich die Kehle zu durchschneiden.
sich aus dem Fenster zu stürzen. Machte sich Vorwürfe, die Krankenkasse be-
logen und bestohlen zu haben: die ganze Familie komme auf die Richtstätte.
Äußerte, er sei verloren. ihm könne niemand mehr helfen.
15. 10. 1926. Zustand im wesentlichen unverändert. macht mehrfach Suizid-
versuche: ängstlich zespannter Gesichtsausdruck, äußert immer noch Ver-
sündigungsideen: meint. er habe die Krankenkasse betrogen usw,
12. 2. 1927. Steht jetzt auf, ist ruhiger. weniger ängstlich, keine Ver-
sündizungsideen; initiativlos,
15. 8. 1927. Deutlich gebessert, will selbst zur Feldkolonne.
11. 10. 1927. Arbeitet regelmäßig. Nicht mehr ratlos, spricht mit lauter
Stimme. Allgemeinzustand läßt noch zu wünschen; Gewicht 55 ke. Das Essen
schmecke ihm nicht: er könne keine Minute schlafen. (Traurig?) „Ja, über die
Krankheit der Mutter.“ (Stimmt.) (Lebensmüde?) „Nein.“ (Warum früher”)
„Nein, das wollt ich nicht.“ Wodurch die „Momente“ früher gekommen seien.
wisse er nicht. Neurologisch o. B. Blutdruck 135:92 mm/Hg.
Zusammenfassung: Peter N. erkrankt mit 40 Jahren an
einer depressiv gefärbten Psychose. In deren Anfang lassen sich
einige organisch-neurologische Symptome, sowie Blutdruckerhöhung
sa GN a
nachweisen. Im Beginn der Psychose steht Ratlosigkeit im Vorder-
grund, später treten Angstgefühle und Versündigungsideen stärker
hervor. Mehrfache Suizidversuche. Der depressive Zustand ver-
schlimmert sich wieder im Anschluß an eine Beurlaubung nach
Hause, er hält lange an und ist nach 112jähriger Dauer langsam am
Abklingen. Die neurologischen Störungen sind jetzt nicht mehr vor-
handen.
Die Frage, ob der Fall N. zu den melancholischen Zustands-
bildern zu zählen ist, kann bejaht werden. Diese Frage, die bei
einem Vollsinnigen nicht gestellt werden würde, ist hier berechtigt,
weil die Psychose sich in ihrer Symptomatologie weit von den
übrigen melancholischen Zuständen der Schwachsinnigen abhebt, ins-
besondere durch ihren gewissen Formenreichtum. Wie bereits er-
wähnt, ist N. der einzige von den 7 Männern dieser Gruppe mit
Selbstvorwürfen bzw. Versündigungsideen. Auch ein ausgesproche-
ner Angstaffekt ist, wie oben gezeigt wurde, nicht charakteristisch
für die Depression der Schwachsinnigen. Andererseits spricht natür-
lich das Vorhandensein von Angstgefühl und Versündigungsideen
nicht gegen eine Depression, und die Mischung der Symptome ist bei
N. derart, daß wir den Fall eher bei den Depressionszuständen als
bei den später zu beschreibenden Angst- und Erregungszuständen
eingruppieren zu müssen glaubten. Es verbindet den Fall N. mit
den anderen melancholischen Zustandsbildern auch das oben als für
Schwachsinnige charakteristisch bezeichnete ,,Versickern der De-
pression’, das eben während der Niederschrift dieser Zeilen bei N.
vor sich geht, und das anscheinend durch die begründete Nieder-
geschlagenheit über die lebensgefährliche Erkrankung seiner Mutter
noch protrahiert wird’).
Besonders bemerkenswert macht den Fall N. die Ratlosig-
keit. Diese drängt sich anfangs so vor, daß es nicht angängig er-
scheint, die Ratlosigkeit auch hier psychologisch zu erklären, wie
es oben für einen Teil der Fälle möglich war. Es hatte vielmehr die
Ratlosigkeit bei N. einen durchaus organischen Charakter und es
wurde anfänglich das Bestehen einer organischen Erkrankung stark
in Betracht gezogen. Da nur allgemeine Hirnerkrankungen in Frage
kamen, bleibt nach dem Ausscheiden metaluischer Erkrankungen in
der Hauptsache die Möglichkeit einer arteriosklerotischen Gehirn-
schädigung. Dafür konnte auch die geringe Hypertension zu Beginn
der Erkrankung sprechen. Gerade aber darin ist ein geringes Be-
j
') Inzwischen ist N. geheilt entlassen worden.
Neustadt, Die Psychosen der Schwachsinnigen (Abhdl. H. 48). 5
ex, 60 ces
weismittel zu sehen, da die Abhängigkeit der Blutdruckhöhe von
Affekten nur zu gut bekannt ist und jetzt eine — periphere —
Arteriosklerose nicht mehr nachweisbar ist. Die Steigerung der
Patellarreflexe bleibt immerhin verdächtiger; doch läßt sich jetzt
nachträglich nicht mehr entscheiden, ob diese Störung organisch oder
funktionell verursacht war; das Fehlen jeglicher anderer Symptome
spricht eher für die funktionelle Verursachung der Reflexsteigerung.
Aber selbst, wenn bei N. ein kleiner apoplektischer Insult an-
fangs vorgelegen haben sollte, ist die Psychose in ihrem Gesamt-
verlauf nicht als durch die Arteriosklerose hervorgerufen zu be-
trachten. Die vielleicht arterioskleroseverdächtigen Symptome
klingen bald ab, die Psychose läuft weiter und zwar nicht nach dem
Typ arteriosklerotischer und anderer exogener Psychosen, sondern
nach dem Modus endogener, speziell schwachsinnig-endogener
Psychosen.
Es erscheint auch aus diesem Grunde die Annahme einer zere-
bral-arteriosklerotischen Störung wenig wahrscheinlich. Dagegen
ist das Vorliegen eines seit frühester Jugend bestehenden Schwach-
sinns sicher. Die Verursachung dieses Schwachsinns ist, wie so
häufig, unklar. Trotzdem muß daran gedacht werden, und es spricht.
vieles dafür, daß die exogene Färbung der Psychose Ausdruck der-
selben Hirnschädigung ist, die den Schwachsinn ursprünglich herbei-
geführt hat, daß also mit anderen Worten die Psychose durch
den Schwachsinn in spezifisch exogenem Sinne ge-
färbt ist. Darin wäre allerdings der Fall N. ebenfalls eine Be-
sonderheit, denn die exogene Färbung findet sich außerdem nur noch
in einem Fall einer Depression im Rückbildungsalter. In diesem Fall
sind auch Versündigungsideen vorhanden.
Fall 9. Anna Michael, geb. 21. 7. 1873.
Aufgenommen am 2. 1. 1926. Kleine Frau (1,47 m) in gutem Ernährungs-
zustand. Körperlich, neurologisch o. B.
Aus der Autoanamnese: Beide Eltern früh gestorben, Vater war Trinker.
5 Geschwister, zu denen Pat. keine Beziehungen unterhält, leben angeblich
gesund. Über Geistes- und Nervenkrankheiten in der weiteren Familie nichts
bekannt. — Ehemann, Bahnarbeiter August M., trinkt stark. 7 Kinder. 1 Sohn
im Alter von 27 Jahren hat seit dem 15. Lebensjahr Krämpfe. Sämtliche Kinder
seien schwachbegabt, waren in der Schule „nieht vom besten“. —
Sie selbst hatte als Kind viel Kopfschmerzen, keine sonstigen Krank-
heiten. In der Schule schlecht gelernt, da sie schlecht begreifen konnte; blieb
sitzen. Nach der Schulzeit Gutsmagd, mit 20 Jahren nach Westdeutschland zu
ihrem Bruder; Heirat mit 22 Jahren. — Seit 1920 Menopause.
Seit Mai 1925 sei sie traurig. Sie sei damals in einen Brunnen gesprungen.
um sich das Leben zu nehmen. Sie habe immer so Angst gehabt; sie wisse
= EET
selbst nicht, warum; nur immer Angst gehabt. Sie wurde aus dem Brunnen
herausgeholt, war danach noch trauriger. Friiher habe sie viel gesprochen, jetzt
könne sie mit keinem Menschen, nicht einmal mit ihren Kindern, sprechen. —
Sie habe eine große Sünde getan, das habe sie früher nicht gewußt; sie habe
früher immer ihre Mutter geärgert. Jetzt komme das alles heraus, was sie früher
getan habe: deswegen mache sie sich Vorwürfe: auch der Schwägerin habe sie
Böses nachgesagt.
Jetzt sei sie nicht mehr lebensmüde. Ihre Kinder seien auch ganz ver-
dorben und hörten nicht mehr auf sie. Wenn sie nur Hilfe von oben hätfe, dann
ginge es: sie allein könnte es nicht mehr zusammenkriegen. Mit der Arbeit
werde sie nicht fertig. überall fehle es, sie wisse nicht, wo sie mit der Arbeit
anfangen solle.
Während der Untersuchung sitzt sie mit gesenktem Kopfe da, spricht
langsam, leise. mit monotoner Stimme, weint. ringt die Hände, schüttelt den
Kopf. jammert. schluchzt. Auffassung, Aufmerksamkeit erschwert, mangelhaft
orientiert. Gesichtsausdruck ängstlich. ratlos-traurig. Schulwissen, Rechen-
vermögen sehr dürftig. ebenso das Ergebnis der Intelligenzprüfung. Diagnose:
Depression im Rückbilaungsalter bei angeborenem Schwachsinn.
15. 1. 1926. Still, gehemmt. spricht spontan nicht und antwortet nicht auf
Fragen. Nahrungsaufnahme schlecht.
24. 3. 1926. Beschäftigt sich etwas, spricht nie spontan ein Wort; stets
schwer gehemint. verstimmt, depressiv. Überführt in die Anstalt K.
In K. beginnt Mitte Mai 1926 eine allmähliche Besserung, sie ißt besser,
nimmt an Körpergewicht zu, beschäftigt sich regelmäßig, bekommt Interesse für
die Umgebung und nimmt natürliches Interesse an den häuslichen Verhältnissen:
wird am 4. 8. 1926 gebessert entlassen.
2. Aufnahme am 6. 7. 1927.
Nach ihrer Entlassung aus K. war sie zunächst zufriedenstellend gesund:
jetzt seit einigen Wochen wieder Verschlimmerung. Nach Angabe des ein-
weisenden Arztes Beginn „ohne Ursache mit Unruhe, Schlaflosigkeit, Gedächtnis-
schwäche. Heißhunger und Nahrungsverweigerung‘“. Weiterhin Angst, Ver-
folgungsideen, hörte Rufe aus der Luft; verweigert den Kindern das Essen,
schlägt sie, wenn sie Essen fordern, „sie dürften nicht essen“. Geht mit Messer
und Gabel auf die Kinder los, sucht die Kinder zu vergiften. Will nicht, daß
jemand außer ihr kocht, bewacht ängstlich den Herd, den sie nicht verlassen
will: brütet in der Küche vor sich hin.
Jetzt in besserem Ernährungszustand als früher. Ist ängstlich, sträubt sich
gegen jede Nahrungsaufnahme. Ängstlich, stöhnt und jammert, dabei in leichter
psychomotorischer Unruhe: sprachlich stärker gehemmt, bringt meist nur ein
„Oh, oh“ heraus: alle Denkvorgänge sehr verlangsamt; krank sei sie nicht, sie
sei nur ängstlich und traurig. — Kein Anhaltspunkt für Sinnestäuschungen.
Der Zustand dauert bis jetzt (Ende Oktober 1927) unverändert fort.
Zusammenfassung: Die 53jährige Patientin erkrankt mit
Angst, Depression, Suizidideen, Versündigungsideen, Selbstvorwür-
fen, wird mit der Arbeit und dem Leben nicht mehr fertig; nach an-
fänglicher leichter Erregung später stärkere Hemmung; Besserung
des Zustandes nach 1!1»jähriger Dauer. Nach 1 Jahr Neuerkrankung
mit Angst, Schlaflosigkeit, Nahrungsverweigerung, Angst, Wahn-
en
— 62 —
ideen und vielleicht Sinnestäuschungen; anfänglich stärkere Erregung,
jetzt Angst mit geringer motorischer Unruhe bei völliger sprachlicher
Hemmung.
Das typische Bild der agitierten Melancholie im Rückbildungs-
alter. Ein Schulbeispiel für die von Bumke (1) vertretene Ansicht,
daß der Involution ein krankheitsbildender Wert für die Entstehung
der Melancholie zukomme, daß die endogene Anlage allein sich nicht
durchzusetzen vermöge. Es ist daher nicht verwunderlich, daß die
Psychose der Frau M. einen starken exogenen Einschlag hat, der
sich am stärksten in der Ratlosigkeit äußert. Andererseits gilt für
Frau M. dasselbe, was oben im Falle N. gesagt wurde: das Bild der
Psychose steht nicht so sehr unter dem Einfluß des Angstaffektes,
um sie bei den Angstzustinden einzugruppieren; es treten dazu die
„fremdartigen‘‘ Beimengungen, die wir dort finden werden, nicht ge-
nügend prägnant hervor. Es zeigt außerdem der periodische Ver-
lauf der Psychose, daß sie den zirkulären Formen zuzurechnen ist,
die wir hier inerster Linie im Auge haben.
Vergleicht man die Psychose der Frau M. mit depressiven Er-
krankungen im Involutionsalter bei Vollsinnigen, so wird sich hier
kaum ein Unterschied zeigen. Auch bei Vollsinnigen haben die de-
pressiven Psychosen im Rückbildungsalter eine exogene Färbung.
Seelert nimmt diese Erkrankungsform als eine seiner Prototypen
für die Verbindung endogener und exogener Faktoren. Man wird
daher nach dem Einfluß des Schwachsinns auf die Psychose fahnden.
Wir nehmen dabei an, daß Frau M. tatsächlich schwachsinnig ist.
denn ihre intellektuellen Fehlleistungen waren auch während ihres
ersten Anstaltsaufenthaltes wesentlich hochgradiger als die sonsti-
gen psychischen Ausfallserscheinungen; natürlich verbietet die noch
bestehende Psychose den Grad des Schwachsinns festzulegen.
Es zeigt sich nun, daß pathoplastische Einflüsse
durch den Schwachsinn in der Psychose nicht auf-
zudecken sind. Das könnte zu Zweifeln an dem Bestehen eines
Schwachsinns führen, wenn nicht einige andere Fälle — ebenfalls
weibliche Kranke — deren Schwachsinn auch in psvchosefreien Zei-
ten sicher gestellt ist, dasselbe auffällige Verhalten zeigten. In dem
einen dieser Fälle handelt es sich um eine jetzt 30jährige Debile, die
sich seit 3 Jahren in wechselnd starkem Hemmungs- und Depressions-
zustand befindet mit typischen Insuffizienzgefühlen, „mit jedem Kind
wurde mir der Haushalt schwerer, ich kann nur einen ganz kleinen
Haushalt führen“, so begann die Äußerung ihrer Depression und so
klagt sie noch jetzt. Im anderen Fall handelt es sich um eine Imbe-
— 63 — i
zille, bei der durch Wohnungslosigkeit eine reaktive Depression aus-
gelöst wurde. Als eihzige Charakteristika der Depression bei
Schwachsinn zeigten diese beiden Fälle den als für Schwachsinnige
typisch erkannten flachen Verlauf der Depression und ihr langsames,
unbestimmtes Ende, das Versickern. Wir.können daher als eine
neue Gesetzmäßigkeit formulieren, daß in einer kleinen Zahl
von Fällen die Depression unbeeinflußt durch den
Schwachsinn bleibt. Streng genommen kann das nur bei
Frau M. behauptet werden; hier allerdings hat man um so stärker
den Eindruck, daß die klimakterische Depression und der Schwach-
sinn unabhängig und unbeeinflußt voneinander in derselben
Persönlichkeit bestehen.
Es soll sich hier die Erörterung eines Falles anschließen, bei dem
aus einer Reihe vielgestaltiger Symptome schließlich Angst und Ver-
sündigungsideen als dominierend restierten; daher die differential-
diagnostische Erörterung des Falles im Anschluß an die melancholi-
schen Zustandsbilder.
Fall 10. Switer, Otto, geb. 5. 7. 1879.
Aufgenommen 4. 11. 1925 wegen „Tobsuchtsanfalls“.
Körperlich: Größe 1,54 m, Gewicht 47 kg, zarter Knochenbau, mittel-
kräftige Muskulatur. — Fazialisinnervation rechts unten schwächer als links. —
Pupillen eng, wechselnde Pupillenstarre mit Verziehung, besonders links
(A. Westphalsches Symptom), dazwischen L. A.C. R. ungestört; Patellar-
reflexe beiderseits gesteigert, beiderseits gekreuzter Adduktorenreflex. Körper-
lich, neurologisch sonst o. B. — Blut: Wa.-R., S.-G. negativ. Liquor: Wa.-R.,
sowie Nonne, Pandy, Weichbrodt, Zellzahl, Goldsol, Mastix ohne pathologischen
Befund.
Aus der Eigenanamnese: Ein Bruder ertrunken, Familie sonst, soweit be-
kannt, 0. B. — S. selbst war stets klein und als Kind schwächlich; hat mit
12 Jahren eine schwere fieberhafte — ihm sonst nicht bekannte — Krankheit
durchgemacht. In der Schule schlecht gelernt, konnte schwer begreifen, war
immer zurückhaltend, viel für sich allein. — Nach der Schulzeit als Müller
tätig: ist in seiner jetzigen Stellung seit 1912,
Aktiv gedient 1901—1903 bei einem Infanterie-Regiment in Posen. 1914
bis 1918 wieder eingezogen, nicht verwundet. War 1915 in der Anstalt G. wegen
Anfällen. Er sei damals, nachdem er sich schon vorher bei der Arbeit nicht
wohlgefühlt hatte, zusammengebrochen. Er habe gewiß einen Sonnenstich ge-
habt. Der Oberleutnant habe ihn nicht in Urlaub fahren lassen wollen, da habe
er sich sehr aufgeregt und Anfälle bekommen. Er sei bei den Anfällen fast
besinnungslos gewesen, habe fast nichts bemerkt. Erst in G. sei er wieder zu
sich gekommen (kann sich aber noch an den Eisenbahntransport entsinnen), dann
sei es besser geworden, und er war gesund bis zum Kriegsende. Nach Kriegs-
schluß wieder in seine frühere Stellung zurückgekehrt, in der er jetzt noch ist.
Letzter Arbeitstag: 3. 11. 1925.
Be en
Verheiratet seit 1907, 3 Kinder, 1 Fehlgeburt. Die Frau ist am 1. 5. 1925
an den Folgen einer Mittelohrentzündung gestorben. Zuerst habe er drei Monate
nach dem Tode der Frau die Wirtschaft geführt, dann habe er sich eine Wirt-
schafterin genommen.
„Durch die Wirtschafterin ist es hauptsächlich gekommen.“ Er habe vor-
gehabt, sie zu heiraten. Dann sei sie so abstoßend geworden und nachher sei
ein anderer Herr gekommen, „und somit kam die Eifersucht“; sie sei aber nicht
begründet. Er habe die Wirtschafterin schließlich aus Eifersucht hinausgeworfen
und sich eine andere genommen, die habe ihn auch heiraten wollen, aber ver-
kehrt habe er mit dieser nicht. Schließlich sei gestern die alte Haushälterin
wiedergekommen und er habe sich keinen Rat mehr gewußt.
Jetzt seien seine Nerven erregt; wenn er so aufgeregt sei. könne er sich
nicht bezähmen. Aber er wolle sich jetzt Mühe geben, sich zu bezähmen und
brav sein, so weit er könne. Er sei jetzt ganz „entnervt“: bei der Arbeit habe
er die Leute nicht mehr einteilen können, war aufgeregt und müde. Seitdem die
Frau gestorben ist, habe er Stimmen gehört. Die Stimmen höre er aus seinem
Innern ganz deutlich.
Es quäle ihn immer ein inneres Gefühl. (Was?) „Ein Angstgefühl.“ Wenn
er nachts im Bett liege, habe er immer Angst, daB ihn einer kriegen würde. wenn
eine Tür knarre. In einer Nacht habe er auf einem Speicherzimmer getobt, dab
man ihn gar nicht halten konnte. Er schreie dann alles, was das Angstgefühl
ihm eingebe. Es sei so, daß immer das Beste, was er gerne haben möchte, ihm
genommen werde. (Wer will Ihnen das nehmen?) „Die Angst so.“
Gestern sei er zum Arzt gegangen, weil er so schlecht schlafe. Danach
habe das Toben angefangen, er habe geweint, daß er sich nicht halten konnte.
Danach sei er zu Bett gegangen, es sei ihm schlechter geworden; er sei daher
im Hemd auf die Straße gelaufen, habe geschrien vor Schmerzen, weil es ihm
so arg im Kopf steche. Heute würde er das nicht mehr machen. Er sei deshalb
hierher gebracht worden. Er sei krank, könne nicht schlafen und habe keinen
Appetit.
S. spricht langsam, leise, gehemmt: macht im ganzen Wesen einen etwas
verschlossenen, gehemmten und mißtrauischen Eindruck. Der Gesichtsausdruck
ist gedrückt, gespannt und in geringem Grade ratlos. Der Affekt ist traurig.
ängstlich, gespannt, aber nach außen hin wenig ausgeprägt. Er sagt, er sei
traurig, das werde aber wieder besser. Er freue sich, daß der Doktor alles so
schön aufschreibe und sagt, daß er Zutrauen zu ihm habe. Dabei fängt er heftig
an zu weinen. — Völlig orientiert: Auffassung, Aufmerksamkeit ungestört; Keine
Gedächtnislücken, Merkfihigkeit intakt: Denkvorgänge geregelt: Rechen-
vermögen gut, Schulwissen sehr lückenhaft, Begriffs- und Urteilsbildung gut.
Drückt sich etwas geschraubt aus und wendet Fremdwörter verstümmelt an.
z. B. (Wer war Luther?) „Der Konfirmator vom evangelischen Glauben.“
Ist in den nächsten Tagen dauernd unruhig, hastig, ängstlich, äußert mehr-
fach weinerlich: „Ich will alles wieder gutmachen, was ich schlecht gemacht
habe“ u. a. Nach einer Woche erholt er sich, nimmt an Gewicht zu, wird
psychisch freier, nicht mehr ängstlich und traurig. Wird am 22. 12. 1925 ge-
nesen entlassen.
Zusammenfassung: Der kleine und stets schwächliche
Müller S. erkrankt zum ersten Male während des Kriegsdienstes mit
¢
zei IB ee
einem hysterisch gefärbten „Nervenzusammenbruch‘“, von dem er
sich schnell wieder erholt. Im Mai 1925 verliert er seine Frau und
von da an stellen sich Angstgefühle ein und Sinnestäuschungen illu-
sionärer Art, ferner Schlaf- und Appetitlosigkeit. Diese Symptome
steigern sich zu ängstlichen Erregungszuständen, als er eifersüchtig
auf seine Haushälterin ist und enden mit einem sinnlosen Fortlaufen
im Hemd, als er schließlich zwischen 2 Haushälterinnen nicht ein
noch aus weiß. In der Anstalt ängstlich-depressives Zustandsbild
mit Selbstvorwürfen. Ausgang in Heilung.
Ein eigentlicher Schwachsinn ist bei S. nicht nachzuweisen.
Die Krankengeschichte wurde jedoch hier angefügt, um die geistige
Schwäche, die bei S. vorliegt, in differentialdiagnostischen Erörterun-
gen vom Schwachsinn abzugrenzen. S. ist ein kleiner und grazil ge-
bauter Mann, der bis zum Kriege in seiner sozialen Laufbahn und in
seinem psychischen Verhalten unauffällig war. Unter den außer-
gewöhnlichen Verhältnissen des Krieges bricht er zusammen, erholt
sich aber rasch. Nach dem Kriege arbeitet er sich noch zum Ober-
müller empor. Er ist unauffällig bis zum Tode seiner Frau. Von da
an treten Angst und Schlaflosigkeit auf, er hat das Gefühl, daß er
geholt werden soll, daß man ihm immer alles nehme usw. Da er
sich den häuslichen Verpflichtungen nicht mehr gewachsen fühlt,
nimmt er eine Wirtschafterin, zu der er in nähere Beziehungen tritt,
die ihm untreu wird und sich ihm wieder zuwendet, als er sich be-
reits für eine andere entschieden hat. In diesem Konflikt begeht er
unsinnige Handlungen und wird erregt.
Wir haben bereits erwähnt, daß aus der Unsinnigkeit von Affekt-
handlungen nicht auf Schwachsinn zu schließen ist. Was S. aber
minderwertig erscheinen läßt, ist sein starkes Versagen in besonde-
ren Situationen. Im Verein mit seinem körperlichen Habitus sehen
wir dieses Versagen als Ausdruck seines Gesamt-Infantilis-
musan. „Infantil“ ist auch sein Verhalten in der Psychose, als be-
reits der stärkste Affekt abgeklungen war. Er hat nachts Angst, daß
er geholt werde (wohl vom „schwarzen Mann“), er will sich bemühen,
ruhig und „schön brav‘ zu sein, er freut sich, „daß der Arzt alles so
schön aufschreibe‘“. Das ist eine besonders infantile Ausdrucksweise,
die dem Puerilismus mancher psychogener Zustände äußerlich ähnelt,
hier aber aus anderen Gründen diesem nicht gleichgestellt werden
kann.
Wir sind nun der Meinung, daß der Infantilismus nicht eine be-
sondere Form des Schwachsinns ist. Er ist eine Form der geisti-
gen Abartung, ebenso wie Schwachsinn und Psychopathie, aber er ist
— 66 —
eine besondere Form. Der Infantile ist eine geschlossene, nicht
defekte Persönlichkeit, eine Minderwertigkeit an einer ideellen Norm
gemessen, aber eine relative Minderwertigkeit. So gestaltet sich
der Lebensweg des Infantilen anders als der des Schwachsinnigen;
beim Fehlen ungewöhnlicher Widerstände kann er sozial auf-
steigen, mit den Verhältnissen eines durchschnittlichen
Lebensganges wird er fertig. Aus diesen Gründen lehnen wir es
daher ab, die Psychose des S. und ähnliche Zustände bei Infantilen
als „Psychosen bei Schwachsinn“ zu bezeichnen. Es erübrigt sich
daher, auf die verursachenden und gestaltenden Faktoren der Psy-
chose einzugehen und die Wege zu verfolgen, die von ihr aus zu
den psychopathischen Reaktionen führen. —
An die 13 sicheren Fälle dieser Gruppe schließen sich 5 weitere
Fälle an, bei denen nachträglich die angenommene Diagnose „Debili-
tät + Depression“ wenig wahrscheinlich oder sicher falsch erscheint;
4 von diesen 5 Krankenblättern sind allerdings von Anfängern an-
gefertigt. Es zeigte sich bei diesen Fehldiagnosen eine gewisse
Gesetzmäßigkeit, 3mal handelte es sich um die Verkennung einer be-
ginnenden Schizophrenie, zweimal um die ungenügend begründete
Annahme einer Debilität bei echten endogenen Depressionen.
Die 3 ersten Fälle zeigten weitgehende Übereinstimmung unter-
einander. Es handelte sich um 20—21jährige junge Menschen
(2 Männer, 1 Frau), die wegen mehrfach wiederholter ernsthafter
Suizidversuche anstaltspflegebedürftig wurden. Ein adäquater Grund
für die Suizidversuche lag nicht vor, vielmehr war es „der Gedanke,
den Himmel verscherzt zu haben“, „Liebeskummer“ (über eine meh-
rere Jahre zurückliegende Liebschaft) und „Schwermut“, die zu
immer neuer ,Wiederholung der Suizidversuche führten. In allen
Fällen bestand kein depressiver, sondern ein paradoxer und läppi-
scher Affekt ohne Tiefe. Schwachsinn war weder nach dem Lebens-
gang noch dem Intelligenzbefund vorhanden; wohl fanden sich
schizophrene Paralogien. Es soll in einem späteren Kapitel auf die
symptomatologische Differenzierung der Affekt-, Intelligenz- usw.-
Störungen bei Schwachsinn und Schizophrenie eingegangen werden.
Hier soll deshalb nur die prinzipielle Bedeutung der gestellten Fehl-
diagnosen hervorgehoben werden. Diese liegt, wie ich das bereits an
anderer Stelle ausgedrückt habe, in der Überschätzung des
psychopathologischen Einzelsymptoms, hier in der
Überschätzung der Suizidversuche, die fälschlicherweise zur An-
nahme einer Depression führten. Daneben beruht die Verkennung
— 67 — |
des leeren schizophrenen Affektes mit der „Gedankenleere‘“‘ der
Schwachsinnigen nur auf mangelnder Erfahrung.
Die beiden anderen Fehldiagnosen „Debilität + Depression‘
nahmen m. E. Æ Unrecht eine Debilität an. Der Schwachsinn war
durch den Lebensgang nicht erwiesen, in der ängstlichen mit Hem-
mung verbundenen Depression zeigten sich intellektuelle Ausfälle.
Diese als alleinige Stütze für die Annahme einer Debilität zu be-
nutzen, ist unzureichend. —
Überblicken wir noch einmal die Gesamtheit der melancholischen
Zustandsbilder bei Schwachsinnigen, so sind sie durch eine gewisse
Einheitlichkeit und Einförmigkeit auffallend. Diese
Tatsachen zeigen sich nicht nur in unserem Material, sie gehen auch
aus den Untersuchungen von Flügel hervor. Flügels Ergeb-
nisse decken sich zum großen Teil mit den hier gefundenen. So
fand Flügel häufig stumpfen Eindruck des Affektes, entsprechend
den hier beschriebenen Änderungen der Affektäußerung; Flügel
betont ferner die Häufigkeit des Fehlens jeglicher wahnhafter Ideen-
ausbildung, insbesondere das Fehlen von Versündigungsideen. Flü-
gel vergleicht die Depressionen der Schwachsinnigen mit denen der
Vollsinnigen. Da sich seine Ergebnisse weitgehend mit den unsrigen
decken, sei die graphische Übersicht über den Vergleich der De-
pressionen bei Voll- und Schwachsinnigen, wie Flügel sie an
seinem Material errechnete, hier wiedergegeben.
. Tabelle I.
600
e g t
GE Melancholie bei debilen Frauen. CLI Melancholie bei debilen Männern.
a) Stumpfer Eindruck des Affektes, b) Fehlen jeglicher wahnhafter Ideenausbildung,
c) starke körperliche Beschwerden, d) Beziehungs- und Verfolgungsideen, e) starke
psychogene Erscheinungen, f) Suizidideen, g) Suizidversuche, h) Sinnestäuschungen,
i) Verstindigungsideen.
Ohne auf alle Einzelsymptome noch einmal näher einzugehen,
die an unserem kleineren Material naturgemäß einige Abweichungen
zeigen mußten, soll nur eine wesentliche Differenz hervorgehoben
ete: or foe
werden, die Zahl der Suizidversuche. In 84 % unseres Materials,
d. i. in 11 von 13 Fallen, wurden ernsthafte Suizidversuche vorge-
nommen. Der Suizidversuch ist also gerade eines der konstantesten
Symptome unseres Materials, während Flügel ihn nur in durch-
schnittlich 38 % findet. Man kann diese auffallende Differenz viel-
leicht mit der Annahme erklären, daß die religiösen Bindungen in
der oberbayerischen Bevölkerung stärker sind als in der des rhei-
nisch-westfälischen Industriegebietes.
Noch in einem wies das Krankenmaterial dieser Gruppe eine auf-
fällige Häufung auf, in den Angaben über familiäre Belastung.
‘Nun enthält diese „Belastung“ die ungleichwertigsten Angaben. Hier
die verschiedenen Belastungsmomente zu klären, war an Hand der
Krankengeschichten nicht möglich; es erwies sich aber auch schwierig,
durch Befragen der vielfach selbst schwachsinnigen Angehörigen zu-
verlässige Angaben zu erhalten. Es seien deshalb, ohne Stellung-
nahme zu dem Ergebnis, die Daten hier angeführt, wie sie in den
Krankenblättern vermerkt sind. Nur in 3 von 13 Fällen ist über
Geisteskrankheiten usw. in der Familie nichts bekannt oder findet
sich ihr Fehlen ausdrücklich vermerkt. In 3 Fällen wird starkes
Potatorium des Vaters angegeben, davon in einem Fall auch Potato-
rium des Großvaters; in einem Fall wird die Mutter als schwachsinnig
bezeichnet; in einem Fall ist die Mutter schwermütig (der Vater
Trinker); einmal die Großmutter gemütskrank; zweimal die Mutter,
einmal der Vater geisteskrank; einmal eine Schwester schwachsinnig:
einmal eine Schwester gemütskrank; im selben Fall ein Bruder in
vielen Anstalten und in der mütterlichen Familie mehrere Fälle von
Geistesstörung und Epilepsie; in einem Fall sind „alle Geschwister
nervös“ und ein Bruder gemütskrank; in einem Fall endlich bildet
das Potatorium des Vaters mit dem Schwachsinn der Patientin und
dem Potatorium des Ehemannes die Grundlage für den Schwachsinn
aller Kinder, von denen eines epileptisch ist.
Resiimieren wir unsere Erfahrungen aus den melancholischen
Zustandsbildern, so stellen wir zuerst fest, daß sie von. einer Ein-
förmigkeit sind, die gröbere Differenzierungen verbietet. Wir
sehen ferner, daß der größte Teil dieser Zustände endogen be-
dingt ist; nur in einem Fall finden wir eine reaktive Depression.
In Einzelheiten sehen wir die melancholischen Zu-
standsbilder aufs stärkste dureh den Schwachsinn
beeinflußt. Das zeigt sich in dem Fehlen von Ver-
sündigungsideen, in der Seltenheit von Angst-
sefühlen, in der Farblosigkeit der Zustandsbilder, in dem
— 69 —
Fremdheitsgefühl, das die Psychose auslöst, und in der Rat-
losigkeit, die wir teils psychologisch erklären, teils
als durch die organische Schwachsinnsgrundlage hervorgerufen,
erkennen konnten. Die Eigenart der melancholischen Zustands-
bilder bei Schwachsinnigen zeigt sich ferner in ihrem schleichen-
den Beginn, ihrem flachen Verlauf und ihrem lang-
samen Versickern. Wir konnten zeigen, daß der größere Teil
der den Schwachsinnigen in der Depression eigentümlichen Sym-
ptome auf der mangelnden Stellungnahme der Per-
sönlichkeit zum pathologischen Affekt beruht, daß
also die Eigenart der melancholischen Zustandsbilder Aus-
druckundFolgedesSchwachsinns ist. Wir sahen ferner,
daß die Leere der Persönlichkeit bei Schwachsinnigen nicht
Ausdruck einer ungünstig verlaufenden Psychose sein muß, und in
einem Einzelfall fanden wir, daß eine exogene Schädigung
den ursprünglichen Schwachsinn so unterdrückte, daß
eine Beeinflussung der Psychose durch den Schwachsinn nicht fest-
stellbar war. Endlich wurde der Infantilismus aus dem
Schwachsinn ausgeschieden.
C. Hemmungs- und Verstimmungszustände.
Die Übersicht über das Gesamtmaterial zeigt, daß die Hem-
mungs- und Verstimmungszustände außer den an sich ungleichwerti-
gen Grenzfällen am zahlreichsten vorkommen. Das legt schon von
vornherein den Gedanken nähe, Verstimmungszustände
seien für Schwachsinnige typisch. Diese Behauptung ist
auch z. B. von Luther (2) aufgestellt worden, der die reizbare
Verstimmung als Kerngruppe der Psychosen auf dem Boden des
Schwachsinns bezeichnete. Mit dieser Einschränkung auf die epi-
leptoide reizbare Verstimmung können wir Luthers Ansicht nicht
voll bestätigen, doch nähern sich unsere Ergebnisse den seinigen im
übrigen sehr. Allgemein wird die Ausdehnung dieser Gruppe wesent-
lich von der Weite des Begriffs der „Verstimmung‘ abhängig sein.
Wir fassen in der hier gewählten Gruppierung den Begriff der
Verstimmung wesentlich enger als Gaupp (2) ihn s. Zt. als Begriff
der allgemeinen Psychopathologie definierte. Es erwies sich das aus
den Verhältnissen der Klinik heraus als notwendig. Während in der
allgemeinen Psvchopathologie die Melancholie eine Spielart der
Verstimmung ist, handelt es sich hier gerade um die Grenzzie-
hung zwischen Melancholie und Verstimmung.
Schon darin liegt die Betonung dessen, daß wir in diesem Zusammen-
ze; TO as
hang unter Verstimmungen nur unlustbetonte Zustände
meinen. Diese scheiden sich von der Melancholie durch die größere
Häufigkeit ihres reaktiven Auftretens, durch ihr meist schnelleres
Abklingen, durch die geringere Tiefe des depressiven Affekts mit
seinern häufigeren Übergang in Gereiztheit, durch die geringere Aus-
strahlung auf die anderen als die affektiven Persönlichkeitskompo-
nenten, durch Besonderheiten des klinischen Verlaufs, die den größe-
ren Teil der Verstimmungen näher zu anderen als den zirkulären
Formenkreisen rücken lassen, endlich durch andere Eigentümlich-
keiten der Gesamtgruppe, die, wie die weitere Untersuchung zeigen
wird, die Sonderstellung der Verstimmungszustände begründend dar-
tun. Diese Charakteristik der Gesamtgruppe enthält implizite in
sich, daß nicht in jedem Einzelfalle die genannten Eigentümlichkeiten
vorhanden oder nachweisbar sein müssen, daß vielmehr im Ein-
zelfall die besondere Ausprägung eines der genannten
Symptome maßgeblich sein kann für die Zuordnung des Falles zu
den Verstimmungszuständen. Daß diese Zuordnung bei den geschil-
derten Eigentümlichkeiten der Melancholien der Schwachsinnigen im
einzelnen nicht leicht ist, daß auf der anderen Seite die Gefahr einer
Grenzüberschreitung zu psychopathischen Zuständen hin naheliegt,
darf nicht zum Übersehen einer Kerngruppe von Verstimmungs-
zuständen führen, die von beiden Polen gleichweit entfernt ist und
sich klar von anderen psychotischen Zuständen abhebt. In den
Randgebieten, die hier allerdings besonders groß sind,
herrscht bei den Verstimmungszuständen ebensowenig symptomato-
logische Reinheit wie es sonst üblich ist.
Mit den Verstimmungszuständen wurden die Hemmungszustände
zu einer Gruppe vereinigt; mehr aus einem äußerlichen Grund — die
Gruppe der Hemmungszustände umfaßt nur 3 Fälle — als aus inne-
rem Zusammenhang. Eine auffallende Gemeinsamkeit beider Grup-
pen liegt darin, daß auch die Hemmungszustände nichts Einheit-
liches umfassen und in verschiedene Krankheitszustände ausmünden.
Wegen der Kleinheit der Gruppe seien die Hemmungszustände
vorangestellt. Gemeint sind damit solche Zustände, bei denen bei
erhaltenem Bewußtsein die sprachliche und motorische Hemmung
gegenüber den Alterationen anderer psychischer Funktionen im
Vordergrund steht, nicht aber sind gemeint Stuporen.
Jeder der drei Fälle mit Hemmung zeigte ein anderes Bild und
leitete sich aus anderem Ursprung ab. Im ersten Fall lag eine mit
Hemmung verbundene Depression vor. Solche Zustände
sind bei den Melancholien der Vollsinnigen auch bekannt. Auch in
diesem Fall handelt es sich nur um eine durch Hemmung besonders
gefärbte Melancholie; wir tragen daher keine Bedenken, den Fall den
melancholischen Zustandsbildern mit besonderer Färbung zuzuzählen.
Für die Zugehörigkeit dieses Falles zu den Melancholien spricht auch
die Art der familiären Belastung: Ein Bruder der Großmutter müt-
terlicherseits war schwermütig und starb durch Selbstmord, zwei
Kusinen der Großmutter waren gemütskrank und eine Kusine der
Mutter „starb an Schwermut“. Neben der Hemmung fiel die Patien-
tin durch Ratlosigkeit auf.
Der zweite Fall betrifft einen hochgradig Imbezillen (Binet-
Simon: A. S. 7), der wegen Erregungszuständen eingeliefert wurde.
Derartige Zustände wurden hier bei ihm nicht beobachtet. Dagegen
zeigte der Patient sich dauernd „gehemmt“, d. h. ohne stärkere äußere
Reize tat er nichts. Die Hemmung ist bei ihm der Ausdruck der Ini-
tiativelosigkeit infolge des Fehlens jeglicher Interessen; sie ist
weder Folge krankhafter Affektstörungen noch wahnhafter Vorgänge.
Es handelt sich um eine „Pseudo-Hemmung“. Sie ist nicht ein
eigentlich psychotisches Symptom, sondern die Grundstimmung.
Diese Grundstimmung charakterisiert den torpiden Imbezil-
len. Solche Fälle sind häufig; da sie nicht eigentlich psychotisch
sind, sind sie für unsere weiteren Untersuchungen ohne Interesse.
Der dritte Fall zeigte wieder eine andere Färbung; die Patientin
stand allerdings nur einen Tag in unserer Beobachtung.
Fall 11. Eva, Gertrud; geb. 21. 6. 1901.
Aufgenommen 21, 12. 1924.
Größe 1,32 m; starke Kyphoskoliose der Brustwirbelsäule, körperlich
sonst o. B.
Über Geistes- und Nervenkrankheiten, Alkoholismus usw. in der Familie
nichts bekannt. Mutter und eine Schwester starben an Lungen- bzw. Gehirn-
tuberkulose.
Patientin lernte rechtzeitig sprechen, spät laufen, lernte in der Schule
schwer, mußte deshalb die Mittelschule verlassen. Nach der Schulzeit 1 Jahr
Modistin, konnte angeblich das Sitzen nicht vertragen; seitdem zu Hause. Eva
spielte noch mit 18 Jahren mit ihren Puppen.
Ist jetzt seit 3—4 Monaten verändert, ist stumpf, wortkarg, teilnahmslos,
arbeitete nicht mehr, konnte auch keine Besorgungen mehr machen; meinte, sie
wäre die Sonne, fragte, ob ihr Vater wirklich ihr Vater sei. Sollte am 21. 12.
etwas besorgen, ging statt dessen ins Stadttheater und wollte sich dort aus-
ziehen.
Ist still, ruhig, gehemmt, Denkvorgänge verlangsamt, es fällt ihr schwer,
aufzufassen und zu antworten, nieht nur infolge des Intelligenzdefektes, sondern
mehr infolge der Hemmung, die sie oft trotz Aufmunterung nicht überwindet:
antwortet einsilbig.
u, OP es
Persönlich, örtlich und über ihre Umgebung orientiert, die Mitkranken
bezeichnet sie als „Verrückte“; zeitlich schlecht orientiert, kennt vom laufenden
Datum nur das Jahr. Sinnestäuschungen und Wahnideen werden von ihr an-
fänglich verneint, auf Vorhalt gibt sie aber zu: „Ich bilde mir ein, ich bin
Jesus.“ (Wie kommen Sie dazu?) „Das weiß ich selbst nicht.“ Auch gibt sie
zu, sich einmal eingebildet zu haben, sie sei die Sonne. „Ich bin immer dumm
gewesen,“ fügt sie, wie zur Entschuldigung, hinzu. (Mehrfach weggelaufen?)
„Ja.“ (Weshalb?) „Ich war trotzig.“ (Lieber hier oder zu Hause?) ..Mir ist
alles gleich.“ Affekt indifferent. — Schulkenntnisse, Rechenvermögen, Begriffs-
bildung sehr mangelhaft.
Zusammenfassung: Bei der 23jährigen hochgradig Schwach-
sinnigen tritt eine geistige Veränderung ein, die sich in Stumpfheit,
Teilnahmslosigkeit, Unbrauchbarkeit zur Arbeit und sinnlosen Fehl-
handlungen äußert; außerdem treten Wahnideen auf.
Die kurze Dauer der Beobachtung verbietet naturgemäß, weit-
gehende Betrachtungen an den Fall zu schließen. Motorische und
sprachliche Hemmung stehen jedoch so deutlich im Vordergrund, daß
die Störung dadurch im wesentlichen gekennzeichnet ist. Dazu
kommt Wahnbildung. Es besteht jedoch ein deutlicher Abstand der
Patientin zu ihren Wahnbildungen. Sie sagt selbst: „Ich bilde mir
das ein, ich bin so dumm“. Die Wurzeln ihrer wahnhaften Einbil-
dungen sind nicht aufgedeckt worden.
In der Psychose den Beginn einer Schizophrenie zu sehen, ist
nicht ausreichend begründet. Doch ist die „schizoide Färbung“ des
Hemmungszustandes unverkennbar; in den „schizoiden Affektpsycho-
sen“ Medows sind solche Zustände nicht mit enthalten, doch dürfte
der Zustand diesen Psychosen gleichwertig sein.
Der Hemmungszustand der Schwachsinnigen umfaßt also völlig
Ungleichwertiges. Wir konnten hier drei verschiedene Grundlagen
der Hemmungszustände aufzeigen. Es erwiesen sich dabei die Hem-
mungszustände so deutlich als Äußerungsformen anderer Vorgänge
und Zustände, daß die Abgrenzung vonHemmungszustän-
den als besonderer klinischer Gruppe der Psycho-
sen der Schwachsinnigen unnötig erscheint. Das ent-
spricht den allgemeinen Erfahrungen der Klinik. —
Die Verstimmungszustände gliedern sich in mehrere deutlich ge-
trennte Gruppen. Die Gliederung in mehrere Untergruppen ist hier
noch deutlicher als bei den manischen Zuständen. Die Hauptgruppe
bilden die epileptoid gefärbten Verstimmungszustände. Diese Gruppe
umfaßt 12 Fälle.
Fall 12. Wagemann, Ludwig: geb. 24, 11. 1900.
Aufgenommen 28. 9. 1926.
St, GR ga
Wird wegen eines „mittelschweren Depressionszustandes“, dem dritten seit
dem Kriege, eingewiesen.
Der Vater war Epileptiker, ist im Status gestorben. Mutter gesund. Ein
Bruder Kopfschuß, 1 Schwester schwachsinnig, 2 weitere Geschwister gesund.
‚Ein Großonkel väterlicherseits in Anstalt gestorben an Geisteskrankheit.
Körperlich: Chvostek I, I] und III beiderseits, elektrische Übererregbar-
keit; Tremor, Hyperhydrosis, sonst o. B.
Als Kind Krämpfe bis zum 2, Lebensjahr; Rachitis, sonstige Krankheiten
nicht bekannt. In der Schule konnte er nicht so richtig mit, blieb sitzen. Nach
der Schulzeit Fabrikarbeiter. Von 1918 bis 1920 Soldat, war u. a. im Baltikum.
Während dieser Zeit habe er nach größeren Anstrengungen Anfälle bekommen.
Es sei ihm bei diesen Anfällen das Blut zu Kopf gestiegen, und er habe dann
nicht mehr gewußt, was los war; er konnte sich gewöhnlich vorher setzen, habe
sich nie dabei verletzt. Die Anfälle seien stets von ganz kurzer Dauer gewesen.
An dieser Stelle der Erzählung macht W. plötzlich einen versunkenen Eindruck,
blickt vor sich hin, gibt keine Antwort, nach 2—3 Sekunden lächelt er, spricht
etwas leise murmelnd vor sich hin und sagt dann laut: „Jetzt können wir weiter-
machen.“ Typische Absence. W. weiß nicht. wie oft er diese Zustände hat;
seine Frau hat solche Zustände überhaupt noch nicht beobachtet. Noch nie
Krampfanfälle gehabt.
Er habe sich früher mit Spiritismus beschäftigt, habe mehrfach an spiri-
tistischen Sitzungen teilgenommen. Er habe sich wegen nächtlicher Angstanfälle
mit diesen Dingen beschäftigt. Einmal sei er auch in einen Trance-Zustand ver-
fallen, er sei ganz willenlos gewesen, als ob ihm das Gehirn blutleer gelaufen
wäre, habe alle Fragen beantwortet, könne sich aber an nichts mehr entsinnen.
Jetzt glaube er, daß alles Unsinn war.
Verheiratet seit 1922 mit gesunder Frau, 1 gesundes Kind, 1 künstliche
Fehlgeburt. Er sei immer leicht aufgeregt gewesen. habe sich häufig darüber
Gedanken gemacht, daß er es im Leben nicht so weit gebracht habe, wie er
wollte. Vor einem halben Jahr habe die Frau, die es bei ihm nicht mehr aus-
halten konnte, ihn verlassen, eine Stellung angenommen und das Kind ins
Waisenhaus gebracht. Seitdem sei er traurig, sei lebensmiide gewesen, habe
einmal versucht, sich mit Gas zu vergiften; jetzt denke er aber wegen des
Kindes nicht mehr daran.
Die Frau gibt noch ergänzend an, daß die Ehe von Anfang an unglück-
lich war, da der Mann stets wenig gearbeitet habe. Durch Freunde sei er zum
Bummeln verführt worden; trank nicht. Der Mann sei stets aufgeregt gewesen,
habe die Frau mißhandelt, mit dem Messer bedroht, habe Möbel und Geschirr
zerschlagen, nachts zum Fenster hinausgeschrien. Sie liege jetzt zum zweiten
Male in Scheidung, beim ersten Male habe sie sich wieder mit dem Mann ver-
söhnt, sei jetzt aber zur Scheidung fest entschlossen.
Psychisch war W. klar, besonnen, orientiert; keine Wahnideen oder Sinnes-
täuschungen; Auffassung, Aufmerksamkeit, Gedächtnis, Merkfähigkeit ungestört.
Rechenvermögen ausreichend, sonstiges Schulwissen lückenhaft. Begriffsbildung
für einfache Begriffe ausreichend, für abstrakte Begriffe mangelhaft, ebenso für
schwierigere Urteilshildung. Affekt vorwiegend depressiv, wenig tiefgehend, labil.
Nach körperlicher und geistiger Erholung wünschte W. schon nach einer
Woche seine Entlassung.
=s Ai
Zusammenfassung: Der Vater des Debilen war Epilep-
tiker, er selbst hatte als Kind Krämpfe gehabt. Nach Beendigung
der Militärzeit traten kurzdauernde Anfälle von Bewußtseinstrübung
auf; eine typische Absenze konnte beobachtet werden. Früher häufi-
ger Erregungszustände und Angstgefühle, jetzt ein länger dauernder
Verstimmungszustand, angeblich seit 7 Jahren der dritte derartige
Zustand. Chvostek und elektrische Übererregbarkeit sind nachzu-
weisen.
So klar wie in diesem Falle liegen die Beziehungen zur Epilepsie
in dieser Gruppe sonst nicht. In keinem weiteren Falle sind epilep-
tische Erkrankungen in der Verwandtschaft bekannt geworden. Nur
in 2 Fällen wurden Krämpfe in der frühesten Jugend angegeben; in
diesen beiden Fällen und in zwei weiteren lag Trunksucht des Vaters
vor. Ein familiärer Zusammenhang mit epileptischen Erkrankungen
lag also im wesentlichen bei der Gesamtgruppe nicht vor.
Es fragt sich daher, ob es berechtigt ist, den Fall W. unter die
epileptoiden Verstimmungen der Schwachsinnigen zu zählen oder ob
er als Verstimmung bei einem schwachsinnigen Epileptiker zu gelten
hat. Die Meinung darüber kann schwankend sein, doch handelt es sich
sicher nicht um Verstimmungen bei einem genuinen Epileptiker. Es
sprechen vielmehr die Art der Bewußtseinstrübungen und die Zeichen
der Übererregbarkeit für das Vorliegen einer sogenannten „Über-
erregbarkeits-Epilepsie“, die wir hier, wie Sioli (3) kürzlich dar-
gelegt hat, aus der Gruppe der funktionellen Epilepsien herausheben;
im gleichen Sinne spricht auch die fehlende epileptische Verblödung,
auch nur in spurweiser Andeutung. Das Zusammentreffen von
Schwachsinn und Übererregbarkeits-Epilepsie gehört nicht zur Regel
und nicht zum reinen Bilde dieser Epilepsieform. Man kann daher
in diesem Falle Schwachsinn und Epilepsie als nebeneinander be-
stehend betrachten, und daher ist man berechtigt, den Fall W. den
epileptoiden Verstimmungen der Schwachsinnigen zuzuzählen.
In den übrigen Fällen äußerte sich die epileptoide Komponente
nicht durch manifeste Symptome der Krampffähigkeit und Krampf-
bereitschaft, sondern durch das Vorhandensein der psychischen Äqui-
valente der Epilepsie, von denen Angstanfälle und triebhaftes Weg-
laufen am häufigsten vorkamen. Der klarste Fall dieser Art mit
triebhaftem Fortlaufen, Angstzuständen und periodisch auftretenden
autochthonen reizbaren Verstimmuneszuständen, die mit Stirnkopf-
schmerz verbunden waren, war durch eine Erkrankung an Enzepha-
litis, die zwar keine neurologischen Symptome hinterlassen hatte, so
kompliziert, daß die Annahme einer epileptoiden Verstimmung bei
as. Wee jee
Schwachsinn nicht geniigend gesichert werden konnte, zumal der
Schwachsinn nur leichteren Grades war. Der Fall diente der Gruppe
jedoch als Modell.
Nur wenig ausgeprägt zeigte der folgende Fall den epileptoiden
Einschlag. |
Fall 13. Halni, Franz; geb. 15. 2. 1903.
Aufgenommen 15. 10. 1926.
Meldet sich freiwillig zur Aufnahme, ist in der Stimmung wechselnd. meist
gedrückt; ist klar, völlig orientiert. Gibt zur Vorgeschichte an: Vater, Hafen-
arbeiter, ist Trinker. Mutter und eine Schwester gesund; ein Bruder sei blöde.
besuchte die Hilfsschule, hat keinen Beruf. 2 Schwestern der Mutter seien auch
blöde, leben in Anstalten; über sonstige Geisteskrankheiten in der Familie
weiß er nichts.
Er selbst sei früher nie ernstlich krank gewesen (vom Vater wird an-
gegeben, daß er vom 6.—20. Lebensmonat Krämpfe hatte), habe in der Schule
schlecht gelernt, sei aber nie sitzen geblieben. Nach der Schulzeit Schlosser-
lehrling; Gesellenprüfung nicht bestanden. Seit 2 Jahren Bauarbeiter, jetzt
arbeitslos. Habe mäßig gelebt.
Seit seiner Entlassung aus der Schule habe er öfter „Schwermutsanfälle“
gehabt. Zu diesen Zeiten habe er besonders viel onaniert, täglich; habe sich
darüber immer Vorwürfe gemacht. Er habe daher auch öfters mit dem Ge-
danken gespielt, sich das Leben zu nehmen, habe aber noch nie einen tatsäch-
lichen Versuch dazu gemacht. In solchen „schwermütigen“ Zeiten höre er auch
öfters, wie ihm bekannte Personen über ihn sprechen, er höre z. B., wie seine
Angehörigen sagen: „Du bist kein Kerl, du läufst herum wie eine Gipsfigur.“
Auch fühle er sich dann von seinen Freunden „verfolgt“, die ihn zu einem
Luderleben beeinflussen wollten. Er höre solche Sachen ganz deutlich. Er werde
auch zum Grübeln beeinflußt, habe Angst vor allerhand dummen Gedanken.
mache sich Vorwürfe wegen der Onanie usw.
Solche Zustände seien von verschieden langer Dauer, zwischen 3 Wochen
und 3 Monaten. 1925 sei er wegen eines solchen Zustandes von Hause fort-
gelaufen, war mehrere Monate unterwegs: danach sei er wieder ganz gesund
und munter gewesen. Jetzt habe er sich aus Angst in die Anstalt aufnehmen
lassen. 3
Mimik und Motorik sind plump, linkisch; sein sprachlicher Ausdruck ist
unbeholfen und kindlich; er antwortet langsam, leise und zögernd. Der Affekt
ist gedrückt und leicht ratlos, nicht sehr tief, dabei leicht zu beeinflussen.
Rechenvermögen, Schulkenntnisse lückenhaft: Intelligenz herabgesetzt:
Binet-Simon: A.S. 10. Ä
Nach einigen Tagen trat eine Besserung ein: er wurde freier, natürlicher;
gab an, manches in den ersten Tagen. was er nicht verstand, auf sich bezogen
zu haben. |
Nachdem H. 3 Wochen schwachsinnig-gutmütig, aber sonst unauffällig
war, mußte er nach dieser Zeit wieder in den Wachsaal gelegt werden, da er
wieder von Selbstmordgedanken sprach und stärker verstimmt war; dieser Zu-
stand hielt etwa 8 Tage an. Danach wieder wie früher. Gebessert entlassen am
31. 12. 1926.
Neustadt, Die Psychosen der Schwachsinnigen (Abhdtl. H. 48). 6
‘
| a
Zusammenfassung: Franz H. machte als Kind Krimpfe
durch, die später nicht mehr auftraten. Nach der Schulzeit erkrankte
er an „Schwermutsanfällen‘“ mit Angst, Selbstvorwürfen und akusti-
schen Sinnestäuschungen: diese beschränken sich auf einen be-
stimmten Personenkreis. Während dieser Zustände von verschiede-
ner Dauer „Weglaufen‘‘; danach wieder normale Zeiten. Stimmung
wenig gedrückt.
Als Verstimmung ist dieser Zustand zu bezeichnen, weil er nicht
die Höhe einer Melancholie erreicht. Als epileptoide Verstimmung
wird er bezeichnet, weil epileptische Antizedenzien in Form von
Krämpfen und triebhaftem Weglaufen vorhanden sind. Wir können
daher in dieser Verstimmung ein epileptisches Äquivalent einer nicht
manifesten Epilepsie sehen. Es ist anzunehmen, daß in diesem Falle
dieselbe Noxe, die den Schwachsinn verursacht hat, auch die Epi-
lepsie bzw. ihre psychischen Symptome hervorgerufen hat. Schwie-
riger ist jedoch der Zusammenhang in den Fällen zu erkennen, in
denen nicht wie bei H. manifeste epileptische Erscheinungen voran-
gegangen sind, in denen nur psychische Symptome der Epilepsie
nachweisbar sind; man muß hier eine nicht nur latente sondern auch
rudimentäre epileptische Veranlagung annehmen.
Bemerkenswert ist, daß es nicht gelingt, aus den Zustandsbildern
die epileptoide Verstimmung zu erkennen. Nur dadurch sind sie
einheitlich charakterisiert, daß sie autochthon entstehen; doch
genügt dieses Kriterium allein nicht zu ihrer Anerkennung als epi-
leptoide Verstimmung. Nur durch ihr Zusammentreffen
mit anderen Symptomen der Epilepsie sind sie hin-
reichend als epileptoide Verstimmungen gekenn-
zeichnet; die Zustandsbilder selbst sind ziemlich farblos.
Die übrigen Fälle standen in ihren Beziehungen zur Epilepsie
meist näher bei H. als bei W. Die Einheitlichkeit dieser Gruppe
zeigte sich auch im Lebensalter, der älteste Fall war 32, der
jüngste 20 Jahre. Männer zu Frauen waren wie 8:4 an dieser
Gruppe beteiligt. Fast einheitlich war auch die kurze Dauer der
Verstimmungszustände, in 10 von 12 Fällen klangen die Erscheinun-
gen in wenigen Tagen ab. Mehrfach wurde ein Phasenwechsel
insofern bemerkt, als Zeiten mit besonderer Neigung zur Häufung
von Verstimmungszuständen mit längeren Zeiträumen ohne jede
psychotische Störung abwechselten.
Nicht zu den epileptoiden Verstimmungszuständen wurden die
teils reaktiven, teils endogenen impulsiv-elementaren Entladungen
vieler Schwachsinniger gezählt; diese Zustände sind unter den Grenz-
Zu T ‚ie
fällen aufgeführt, weil dem Einzelzustand nicht psychotischer Wert
zukommt, sondern erst ihrer Gesamtheit.
Die nun folgende Gruppe von Verstimmungszuständen, die
8 Fälle umfaßt, ist die Gruppe der reaktiven Verstimmungs-
zustände; sie enthält 2 Fälle, die außerdem noch Alkoholmiß-
brauch treiben.
Ein charakteristisches Beispiel für diese Gruppe von Verstim-
mungszuständen ist: _
Fall 14. Rot, Theodor; geb. 10. 6. 1901.
1. Aufnahme 12. 3. 1925.
Ist bei der Aufnahme ziemlich verwahrlost; körperlicher Befund o. B.
Gibt zur Vorgeschichte an: Vater an Herz- und Leberleiden gestorben,
trank stark; Mutter und 6 Geschwister leben gesund.
Er selbst entwickelte sich spät, lernte spät laufen. Von Kinderkrankheiten
nichts bekannt. Vom 6.—9. Lebensjahr besuchte er die Volksschule, blieb zwei-
mal sitzen; war danach bis zum 14. Jahr in der Hilfsschule. Nach der Schulzeit
Hilfsarbeiter in verschiedenen Betrieben, zuletzt in einer Mineralwasserfabrik.
Wurde in allen Stellen nach kurzer Zeit wegen häufigen Zuspätkommens und
starker Nervosität wieder entlassen. Wegen starker Nervosität habe der Arzt
ihn auch in die Anstalt eingewiesen.
In der Schule sei sein Betragen gut gewesen, er habe viele Freunde gehabt.
Zu Hause habe er es dagegen sehr schlecht gehabt; er habe sich nie mit der
Mutter vertragen können. Wenn er abends müde von der Arbeit nach Hause
kam, habe die Mutter gesagt, er brauche nicht immer zu essen, er sei ein
„Freßbalg“. Seine Geschwister hätten dem zugestimmt, sie hätten ihn auch nicht
leiden können. Sonntags sei er abends häufig etwas spät nach Hause gekommen,
dann seien zu Hause alle über ihn hergefallen, hätten geschimpft, daB er zu viel
Geld ausgäbe. Dabei habe er seinen Verdienst regelmäßig der Mutter abgegeben
und nur Sonntags ein kleines Taschengeld bekommen.
Wegen seiner starken Nervosität sei er abends immer erst spät ein-
geschlafen und habe morgens nicht so früh aufstehen können. Deshalb fast
jeden Morgen Streitigkeiten mit seiner Mutter und seinen Dienstherren, worüber
er sich sehr aufregte.
Sonntags trinke er ca. 3—4 Glas Bier, in der Woche nicht. Er habe sich
wegen der Mädchen häufig Sonntags auf dem Tanzboden mit anderen Burschen
gezankt; er sei leidenschaftlicher Tänzer und rege sich beim Tanzen sehr auf.
Erster Geschlechtsverkehr mit 16 Jahren, seitdem auch Onanie. — Jetzt komme
er in die Anstalt, weil er zu allem unlustig sei.
Psychisch ruhig, leicht ratlos, orientiert. Teilnahmslos für die Vorgänge
der Umgebung, leicht gehemmt, mißmutig, aber nicht eigentlich deprimiert. Er
gibt an, er habe in der vorletzten Nacht den Schall von Stimmen gehört, die
von draußen hereindrangen. Näheres gibt er darüber nicht an; sonst habe er
noch nie Stimmen gehört. Im Traum sehe er manchmal Gespenster, habe aber
dabei nie Angst empfunden. — Kein Anhaltspunkt für Wahnideen. Auffassung,
Merkfähigkeit ungestört. Schulwissen, Rechenvermögen schlecht.
(Bach — Teich?) „Teich ist größer, Bach ist länglich.“ (Treppe — Leiter?)
„Eine Leiter kann man schlecht heraufgehen, eine Treppe kann man rascher
6*
ur IR eee
heraufgehen.“ (Irrtum — Lüge?) „Wenn einer mal gelogen hat, sagt der eine.
das ist ein Irrtum.“ (Mit dem Hute...?) „Da war sicher Sturm, da hat er den
Hut in die Hand genommen und ging durch’s ganze Land.“ Binet-Simon:
ALS. 8.
Nach einer Woche ist R. in einem wesentlich anderen Zustand, ist frei.
verträglich und zugänglich, zeigt keine Spur mehr von Verstimmung; arbeitet
regelmäßig. Wird am 1. 4. 1925 gebessert entlassen.
, 2. Aufnahme am 10. 1. 1927.
Meldet sich freiwillig zur Aufnahme. Gibt an, nach seiner Entlassung
zuerst wieder in der Mineralwasserfabrik gearbeitet zu haben. Nach % Jahr
sei er wegen Arbeitsmangel entlassen worden. Danach habe er auf dem Aus-
stellungsgelände in einer alkoholfreien Wirtschaft als Hausdiener gearbeitet:
seit Oktober 1926 erwerbslos.
Am 24. 12. 1926 sei er kirchlich getraut worden. Er wolle aber jetzt wieder
von der Frau fort. So habe er sich das nicht gedacht. Die Schwiegermutter
habe ihn mit dem Stocheisen bedroht. Er habe eine geschiedene Frau von
27 Jahren mit 2 Kindern geheiratet. Sie habe ihn zum heiraten verleitet: sie
habe ihm alles Mögliche versprochen, was er bekäme, wenn er sie heirate. Jetzt
müsse er noch für die 2 Kinder mitsorgen, da der andere Mann die Frau im
Stich lasse.
Die Frau habe ihm u. a. auch geschrieben, sie hätte ein Kind von ihm;
das sei aber nicht wahr. Das Kind sei von einem anderen, mit dem sie sich
auf der Kirmes herumgetrieben habe. Von ihm könne das Kind nicht sein, da
er noch nie richtig mit der Frau verkehrt habe. Vor der Ejakulation werde das
Glied schlaff.
Ist gedrückt und mißgestimmt. Wird von der Frau wieder abgeholt.
Zusammenfassung: Theodor R. ist im Alter von 24 Jahren
zuerst anstaltsbedürftig, da er mißmutig, gedrückt und arbeits-
unlustig ist; dieser Zustand entwickelt sich im Anschluß an häus-
liche Zankereien mit Mutter und Geschwistern und klingt nach kur-
zer Zeit wieder ab; R. ist während des weiteren Anstaltsaufenthalts
unauffällig und fleißig. Nach 2 Jahren kehrt er freiwillig in einem
ähnlichen Zustand in die Anstalt zurück, 14 Tage nach seiner Hoch-
zeit. Von den Erlebnissen in der Ehe ist er schon nach kurzer Zeit
zermürbt. l
Hervortretend ist bei R. die ausgesprochene Psycholabilität, die
Neigung, mit Verstimmungen zu reagieren. Die auslösenden Ur-
sachen sind unter sich ziemlich ungleichwertig, im ersten Fall sind
es häusliche Auseinandersetzungen, wie sie in ähnlicher Lage und
gleicher Form viele junge Leute haben; sobald R. in geordnete Ver-
hältnisse kommt, verschwinden dann Mißmut und Arbeitsunlust.
Beim zweiten Mal sind die Konflikte, die die Verstimmung ver-
ursachen, ernsterer Natur. Den Anforderungen der Ehe ist R. nicht
gewachsen, eine bei Imbezillen nicht seltene Erscheinung. Das er-
scheint wesentlicher als die von ihm angegebenen unangenehmen
— 79 —
Einzelheiten, deren Richtigkeit nicht sicher gestellt werden kann.
Im Vordergrund steht die Lebensuntüchtigkeit, als deren
Reaktion Verstimmungszustände auftreten.
Diese Erscheinung findet sich auch bei den anderen Fällen dieser
Gruppe wieder. Es sind daher meist nichtige Gründe, die den
Anstoß zu den Verstimmungszuständen geben, so führt der Verlust
einer Brieftasche zum Suizidversuch durch Erhängen und einem lang-
dauernden Verstimmungszustand oder in einem anderen Fall die
` Nichtbeachtung, „kein Mensch hatte ein freundliches Wort für mich“.
Nur in 2 Fällen sehen wir in einem Militär-Renten- und Zivilverfahren
ein einigermaßen adäquates Verhältnis zwischen auslösender Ursache
und Verstimmung. Die starke Reaktion auf kleine Ursachen wird
durch die durch den Schwachsinn bedingte und dauernd bestehende
Minderwertigkeit verständlich. Diese Minderwertigkeit führt den
Schwachsinnigen, wenn überhaupt, so zu einer abnormen Verarbei-
tung seiner Erlebnisse. Infolge seines Schwachsinns
vermag er die Ereignisse nicht in ihrem richtigen
Wert zu schätzen. Die zahlenmäßige Überlegenheit der
Verstimmungszustände, die in ihren inneren Bedingungen
allerdings nicht gleichwertig sind, zeigt damit doch eine typische
Verhaltens-und Reaktionsweise der Schwachsinni-
genan. Als typisch ist diese Verhaltensweise auch deshalb zu be-
zeichnen, weil sie sich nicht nur als Reaktion auf äußere Erlebnisse
sondern auch ebenso häufig als Ausdruck innerer Vorgänge de-
monstriert.
` Die Gruppe der reaktiven Verstimmungszustände umfaßt 8 Fälle,
darunter 2, die durch gelegentlichen Alkoholabusus kompliziert sind.
Besunderheiten bieten die Fälle mit Alkoholismus gegenüber den
Verstimmungszuständen der Nichttrinker nicht. In 4 Fällen wurde
der Verstimmungszustand durch einen nicht sehr planmäßig durch-
geführten Suizidversuch eingeleitet. Die durchschnittliche Dauer
dieser Gruppe von Verstimmungszuständen ist länger als bei den
epileptoiden.
Es schließen sich hier 3 Fälle von neurasthenischer Ver-
stimmungan. Diese Fälle sind charakterisiert durch die Neigung
zu Erregungen und zum Versagen. Es handelt sich aber nicht um reak-
tive Erregungszustände, durch besonderen Anlaß hervorgerufen, son-
dern um Versagen auf die gewöhnlichen Anforderungen des täglichen
Lebens hin. Sie unterscheiden sich dadurch von der vorigen Gruppe
der Verstimmungszustände. In allen 3 Fällen handelte es sich um
schwächliche, fast infantile Menschen mit den körperlichen und seeli-
— 80 —
schen Symptomen der Neurasthenie, die durch ihre Konstitution
geradezu fiir neurasthenische Reaktionen pridisponiert waren. Dem
Grade des Schwachsinns nach waren die Kranken hochgradig Debile
bzw. leichtere Grade der Imbezillität. In einem Fall lag Belastung
mit einer periodischen manischen Psychose der Mutter vor, in den
beiden anderen Fällen war die Tuberkulose unter den Eltern und
Geschwistern stark verbreitet. — Bei der Klarheit dieser Gruppe
erübrigt sich eine Beispielsgebung.
Als letzte Gruppe ist aus den Verstimmungszuständen die
Gruppe der depressiven Verstimmungszustände heraus-
zuheben. Diese Gruppe ist ebenfalls klein und umfaßt nur 2 Fälle.
Fall 15. Paul Meit, geb. 25. 10. 1907.
Aufgenommen 10. 3. 1926.
Vater gesund, unauffällig: Mutter verlogen, stiehlt. Eine Schwester ge-
storben. Keine familiäre Belastung. |
P. war stets sehr still, ängstlich, in der Schule unaufmerksam. stumpf.
war wenig brauchbar, machte alles falsch. Schon im 9. Lebensjahr wurde vom
Arzt seelische Abnormität festgestellt. Zeitlicher Beginn der jetzigen Er-
krankung nicht sicher feststellbar. Die von Jugend an auffallende Ängstlichkeit
wuchs in letzter Zeit mehr und mehr an: schließlich Verfolgungsideen. Schlaf-
losigkeit, nächtliche Unruhe, seit Jahren viel Kopfschmerzen, fast ständig
depressive Stimmungslage mit Hang zum Weinen; läuft von Hause weg.
Körperlich: Mundfazialis links schwächer als rechts; Patellarreflex
links > rechts, links von Tibiakante auslösbar: geringer Exophthalmus; sonst o.B.
Gibt an: Vater furchtbar erregt, schläft die ganze Nacht nicht: Mutter
gesund; keine Geschwister; von Geisteskrankheiten in der Familie nichts
bekannt.
Er selbst sei nie krank gewesen; keine Krämpfe, kein Bettnässen usw.
Vom 6.—13. Lebensjahr Volksschulbesuch. blieb zweimal sitzen; im letzten
Schuljahr aus wirtschaftlichen Gründen bei einem Bauern gearbeitet. Danach
Schtosserlehrling und als solcher (19 Jahre!) bis jetzt im väterlichen Ge-
schäft tätig.
In der Schule und zu Hause habe er nie Streitigkeiten gehabt. Kein
Alkohol- oder Nikotinabusus, kein Geschlechtsverkehr. Er kenne keine ge-
schlechtliche Regung. weiß angeblich nichts von einer Erektion, „auf so was
achte er nicht“. Er halte sich immer allein, gehe nur mit seinem 21jährigen
Freund aus.
(Traurig?) „Wie meinen Sie das?“ Er sieht dabei den Arzt hoffnungslos
an und fängt. leise an zu schluchzen. (Warum weinen Sie?) „Weil ich von zu
Hause weg bin.“ (Brüllt laut los.) Glaubt, er solle ewig in der Anstalt bleiben:
beruhigt sich momentan auf die Zusicherung hin, daB er wieder gesund werde.
— (Verfolgt?) „Nein.“ (Stimmen?) „Nein.“ (Gestalten?) „Nein. Ich bin wohl
mal nachts aufgestanden, daß ich starke Kopfschmerzen hatte und habe mich
ins Fenster gelegt; aber gehört und gesehen habe ich noch nichts.“ (Viel
Kopfschmerzen?) „Seitdem ich im Krankenhaus bin, wo ich meine Ruhe habe,
habe ich keine Kopfschmerzen mehr.“ (Selbstmord?) (Ganz erstaunt): „Wer
en SSL, de
sagt dat dann. was ein Quatsch, ich bin doch nicht toll.“ (Von Hause fort-
gelaufen?) (Entrüstet): „Wer sagt das denn, noch nie; vielleicht wegen Krach?,
nein; nur vor vielen Jahren mal, als ich kein gutes Zeugnis hatte, bin ich mal
einen Tag weggewesen. Mein Vater ist nämlich sehr streng.“ (Gedanken be-
einflußt?) „Wie, ich komme ja mit niemand zusammen, höchstens mit meinem
Freunde: allein gehe ich nie aus.“ (Warum hier?) „Das weiß ich selber nicht.“
(Krank?) „Ich fühle mich ganz wohl, krank bin ich überhaupt nicht.“ (Be-
schwerden?) „Überhaupt nicht. gar nichts.“.Sagt dann plötzlich: „Wissen Sie,
warum ich traurig bin? Weil Herr Dr. X. gesagt hat, ich käme überhaupt nicht
mehr nach Hause.“
In Mimik und Motorik gehemmt, bewegungsarm. Gesichtsausdruck nichts-
sagend, leer: spricht leise, spontan wenig. Affekt leicht gedrückt, weint. wenn
er von „zu Hause“ spricht, ist sonst aber zufrieden. — Orientierung, Auffassung,
Aufmerksamkeit, Merkfihigkeit usw. ungestört. — Rechenvermögen, Schul-
kenntnisse sowie Allgemeinwissen mäßig. Urteilsfähigkeit leidlich, z. B. (Irr-
tum — Lüge?) „Lüge ist, was nicht wahr ist, Irrtum, wenn man sich vertut.“
(Treppe — Leiter?) „Leiter ist anders gebaut wie eine Treppe.“ (Eile mit
Weile?) „Das a ich schon mal gehört, kennen tue en das nicht.“ — Binet-
Simon: A. — S. 10.
Ist EATE sehr leicht erregbar und verstimmt, nach etwa einem Monat
aber gleichmäßig, frei, heiter, wenig hervortretend; bekommt freien Ausgang.
18. 6. 1926. Hat gestern vor kleinen Mädchen exhibitioniert und versucht,
sich an den Kindern tätlich zu vergehen. Hat angeblich dem Kinde gedroht, er
werde ihm den Hals abschneiden, wenn es etwas sage. — M. streitet alles ab.
Überführt in die Anstalt B. Dort gibt er alles zu, was er gemacht hat;
gibt an, es sei das erste Mal gewesen. Hält sich weiterhin in B. gut, arbeitet
in der Sattlerei: ist psychisch unauffällig, wird am 16. 10. 1926 gebessert ent-
lassen.
Zusammenfassung: Der von Jugend auf schwachsinnige
Paul M. erkrankt mit 19 Jahren an Schlaflosigkeit, Unruhe, depressi-
ver Stimmungslage und angeblichen Verfolgungsideen; schon im
9. Lebensjahr fiel er durch „seelische Abnormität“ auf. In der An-
stalt tritt bald eine Besserung des Zustandes ein. Danach fällt er
durch Exhibitionismus auf. In mehreren Monaten weiterer Anstalts-
behandlung psychisch unauffällig.
Die Abgrenzung dieses und des zweiten Falles als einer besonde-
ren Gruppe depressiver Verstimmungszustände beruht im wesent-
lichen auf negativen Kriterien; das Fehlen neurasthenischer Erschei-
nungen ist offensichtlich, ebenso fehlen auslösende Ursachen. Das
Exhibitionieren kann nach der Art seiner Ausführung nicht als
epileptoide Triebhandlung angesehen werden, es war offenbar längere
Zeit vorbereitet. So bleibt als Kennzeichen der Verstimmung die
depressive Affektlage, die nach einiger Zeit wieder abklang. Das
rechtfertigt die besondere Abtrennung. Die Annahme einer begin-
nenden Schizophrenie ist durch den Verlauf nicht gerechtfertigt,
= R o
weder wurde anfangs das Bestehen schizophrener Symptome, wie
entsprechender Affektstörungen, Wahnideen, Sinnestäuschungen, Ge-
dankenbeeinflussungen, katatoner Motilitätsstörungen usw. festge-
stellt, noch zeigten sie sich jemals im weiteren Verlauf des Anstalts-
aufenthaltes, der natürliche Kontakt mit der Persönlichkeit war nach
Abklingen des depressiven Affekts voll erhalten. — Als Kriterium
des Verstimmungszustandes bleibt also die depressive Affektlage in
einer solchen Abschwächung und Mischung mit anderen Symptomen,
daß es nicht zweckmäßig erscheint, diesen und ähnliche Fälle den
melancholischen Zuständen zuzuzählen. -
Der zweite Fall dieser Gruppe betrifft eine 54jährige Frau, die
6 Wochen vor der Aufnahme erkrankte, — nicht zum ersten Male in
ihrem Leben — und die bei ausgesprochenen hypochondrischen und
Beziehungsideen einen wenig depressiven Affekt und ein theatrali-
sches Wesen zur Schau trug. Besondere Altersfärbung zeigte die
Verstimmung im übrigen nicht.
Wir haben bisher versucht, die verschiedenen Untergruppen der
Verstimmungszustände zu sondern. Es ist jedoch nicht unsere Mei-
nung, daß durch eine derartige Sonderung tiefe Gräben zwischen den
einzelnen Gruppen gezogen werden. Neben den Sonderheiten drängt
sich die Gemeinsamkeit des größten Teils der Verstimmungszustände
auf, nämlich die enge Beziehung zum Schwachsinn. Wir sehen, wie
die Verstimmungszustände — das abweichende Verhalten
der beiden depressiven Verstimmungszustände fällt demgegenüber
nicht ins Gewicht sich gewissermaßen organisch aus
dem Schwachsinn herausentwickeln. Die Hälfte dieser
Zustände ist als konkomittierender Ausdruck der organischen
Schwachsinnsgrundlage zu betrachten, ein kleiner Teil entspringt
der allgemeinen Schwäche, der Rest leitet sich aus abnormer Verar-
beitung psychischer Erlebnisse infolge der geistigen Minderwertig-
keit und Lebensuntüchtigkeit her. Es ist damit nicht gesagt, daß
jeder Verstimmungszustand auf Schwachsinn beruht. Aber wir sehen
nach unseren Untersuchungen im Verstimmungszustandden
psvehotischen Zustand der Schwachsinnigen, der
ihrer zerebralen und psychischen Konstitution
adäquat ist. Das zeigt auch die Häufigkeit ihres Vorkommens.
D. Angstzustände.
Die Abgrenzung einer besonderen Gruppe von Angstzuständen
bedarf bei dem heutigen Stand unserer Anschauungen einer Recht-
fertigung. Bekanntlich hatte Wernicke die Angstpsvchose als
— 83 —
besondere Krankheitsform gelten lassen, die zwar durch die Angst-
melancholie mit den anderen Formen zirkulärer Erkrankungen ver-
bunden war, als Angstpsychose aber eine selbständige Stellung ein-
nahm. Wie häufig Wernicke derartige selbständige Angst-
psychosen sah, geht aus seinen Ausführungen nicht hervor, es ist
vielleicht jedoch nicht zufällig, daß in dem einzigen Fall, den Wer-
nicke in seinem „Grundriß“ beschreibt, von ihm ein Schwachsinn als
Grundlage als wahrscheinlich angenommen wird. Nun hat Forster
in seinem Buch überzeugend dargelegt, daß Angstzustinde immer
nur Phasen im Verlaufe andersartiger Psychosen sind, und die An-
nahme einer selbständigen Angstpsychose kann daher nicht mehr als
gerechtfertigt gelten. Dagegen ist es auffallend, daß in der Litera-
tur über die Psychosen der Schwachsinnigen von Wildermuth
(1887) bis Medow (1925) die Angstpsychosen, wenn auch unter
verschiedenen Bezeichnungen, immer wieder zum Vorschein kommen.
Das ruft die Vermutung hervor, daß Angstpsychosen bei Schwach-
sinnigen eine besondere Rolle spielen. Auch bei der Durchsicht un-
seres Materials drängten sie sich durch ihre Zahl auf. Das gab Ver-
anlassung, die Angstzustände als besondere klinische Gruppe in die-
ser vorläufigen Einteilung des Materials herauszuheben.
Es war zu untersuchen, ob den Angstzuständen der Schwach-
sinnigen ein anderer nosologischer Wert zukäme als bei den Vollsin-
nigen, ob es sich hier um eine einheitliche Gruppe handelt. Das be-
sondere Hervortreten ängstlicher Erregungszustände bei Schwach.
sinnigen ließ von vornherein ein solches Verhalten als nicht unmög-
lich erscheinen. Es zeigte sich jedoch bei näherem Eingehen, daß
eine Trennung der Angstzustände in mehrere Untergruppen unum-
gänglich sei. Außer drei Einzelfällen mit Sonderstellung zerfielen
die Angstzustände in 3 Gruppen, die ängstlich-paranoide, die ängst-
lich-halluzinatorische und die ängstlich- depressive. Am stärksten
von diesen Gruppen sind die Angstzustände, die mit Wahnbildung
einhergehen; diese Gruppe umfaßt 8 bzw. 9 Fälle.
Zuerst ein Fall mit relativ geordneter Wahnbildung.
Fall 16. Hubert Witthaus, geb. 6. 2. 1877.
Aufgenommen 10. 10. 1925.
Aus der Anamnese des einweisenden Arztes geht u. a. hervor, daB W.
sich bis zum 3. Lebensjahr normal entwickelte, dann im Anschluß an einen
Scharlach schwachsinnig wurde, daß er danach stumpf und vergeßlich war.
in der Schule nicht voran kam und den Schreinerberuf. für den er bestimmt
war, aus geistiger Schwäche nicht erlernen konnte. Er lebt als Arbeiter und
wohnt bei seinem Schwager. .
— 84 —
Die jetzige Erkrankung begann mit der Einführung des 10-Stundentages:
seitdem hat er Feinde in der Fabrik, weil er damals zuerst wieder die Arbeit
aufgenommen hat. Die Feinde wollen ihn aus der Fabrik heraushaben, haben
gesagt, er sei ein Sittlichkeitsverbrecher, alles mögliche haben sie ihm nach-
gesagt, so daß er vor 14 Tagen die Arbeit niederlegte. Seitdem war er ängst-
lich, unruhig und aggressiv, bedrohte seine Nichte mit „kalt machen“, nachts
wollte er nicht in sein Zimmer gehen, da er sich stellen müssen; wollte aus dem
Fenster springen, um sich das Leben zu nehmen.
Körperlich fand sich bei W. eine Differenz der beiderseits verzogenen
Pupillen (links stärker als rechts) mit träger und wenig ausgiebiger Licht-
reaktion. Fehlen der Konvergenzreaktion, fehlende muskuläre Konvergenz.
Außerdem hernia epigastrica. Der übrige körperlich-neurologische Befund bot
nichts Besonderes, insbesondere waren alle Reaktionen in Blut und Liquor
negativ. — Bei der körperlichen Untersuchung benimmt er sich sehr un-
geschickt. will häufig vor Beendigung der Untersuchung sein Hemd wieder an-
ziehen und scheu geängstigt aus dem Zimmer laufen.
Er gibt an, daß der Vater an Herz-, die Mutter an Magenleiden in höherem
Alter gestorben sind; eine Schwester lebt gesund. Von Geisteskranklleiten in
der Familie nichts bekannt. Er selbst habe im Alter von 10 oder 12 Jahren
Scharlach gehabt, 1915 Gesichtsrose.
In der Schule habe er schlecht gelernt, war nicht in der Hilfsschule, ist
mehrfach sitzen geblieben, wurde aus der 3. Klasse entlassen. „Ich war immer
etwas beschränkt.“ Nach der Schulzeit erlernte er das Schreinerhandwerk:
lernte nicht zu Ende, warum, wisse er nicht; ist seitdem Hilfsarbeiter. 1916 bis
(1918 war er eingezogen, machte Etappendienst. Nach dem Kriege in Fabriken
gearbeitet, ist in seiner jetzigen Stellung seit 4 Jahren.
Als der 10-Stundentag eintrat, sei er zur Arbeit gegangen, die anderen
nicht. Seitdem habe er „überall allerwärts“ Feinde. Die seien immer hinter ihm
her, schimpften, bedrohten ihn mit Schlägen. Die hätten ihm allerlei vor-
geworfen, einmal ein Sittlichkeitsverbrechen; das sei aber nicht wahr. Seit-
dem sei auch seine Familie anders zu ihm; er wohne bei seinem Schwager.
dessen Tochter lege ihm jetzt überall Hindernisse in den Weg: wenn er eine
schöne Stellung hätte haben können, dann habe sie immer hintelephoniert,. so daß
er die Stellen nicht bekommen habe. l
Der Schwager habe immer mit seiner Frau (der Schwester des Pat.) Streit.
wolle ihr immer den Hals abschneiden. Sagt dann, er könne es noch nicht
glauben, daß seine Schwester tot sei. Gibt aber zu, nicht genau zu wissen,
ob sein Schwager der Frau den Hals tatsächlich abgeschnitten hat. „Na, laß sie
es machen. Schweinhund, die letzte Zeit. Na, is ja besser so wie so.“ Er er-
zählt dann weiter eine konfuse Geschichte über einen Familienstreit, bei der er
Reales mit Wahnhaftem mischt. Der Familienzank sei der Grund zu der ganzen
Geschichte gewesen. — Er habe sich nicht das Leben nehmen wollen, er sei aus
dem Fenster geklettert. damit man ihn nicht kriegen könne, seine Nichte habe
er umbringen wollen, weil sie ihm das Fortkommen verdorben habe.
Ist persönlich. zeitlich, örtlich vollkommen orientiert. Aufmerksamkeit
ist gut. Die Merkfähigkeit im Sinne einer erschwerten Reproduktion herab-
gesetzt. Die Auffassungsfihigkeit ist ausreichend, unterliegt jedoch leichten
affektiven Schwankungen. Von Zeit zu Zeit murmelt er vor sich hin: „Ja. laß
sie nur machen.“ Er spricht leise, monoton, ist in seinem sprachlichen Aus-
7
druck schwerfällig, ungeschickt. Der Affekt ist gespannt-ängstlich. Zeitweilig
beginnt er zu schluchzen, dann wieder sitzt er anscheinend versunken da, fährt
auf eine kleine Bewegung im Zimmer ängstlich-erschreckt auf. In seinen Äuße-
rungen wiederholt er sich immer wieder, kommt immer wieder auf die An-
gelegenheit in der Fabrik und die Familienzankereien zurück.
Denkvorgänge, Urteilsfähigkeit. Begriffsbildung, Schulwissen und Rechen-
vermögen sehr gering. Binet-Simon: A. S. 10.
Der Zustand hält etwa 14 Tage unverändert an: W. klagt täglich darüber.
daß er Angst habe, man werde ihm was tun, ihn verhauen, ihn an der Erlangung
einer Stelle verhindern. Nach etwa 14 Tagen beginnt eine gewisse Einsicht, er
bezeichnet selbst seine Befürchtungen als unnötig. Es schließt sich daran ein
Zustand von stiller Versunkenheit an, der etwa einen Monat anhält. Danach
wird W. wieder lebhafter. natürlicher, heiterer: keine neuen Wahnbildungen.
Nachdem er noch eine fieberhafte körperliche Erkrankung durchgemacht hat,
wird er am 22. 4. 1926 ungeheilt von Schwachsinn, gebeilt von ängstlich-para-
noidem Verstimmungszustand entlassen.
Zusammenfassung: Ein bis dahin unauffälliger Schwach-
sinniger erkrankt im 48. Lebensjahr im Anschluß an erregende Vor-
fälle mit Wahnbildung geordneter Art und Angstgefiihlen; Dauer des
Zustandes etwa 1 Monat. Danach Übergang in einen leicht depressi-
ven Zustand von gleicher Dauer. Endausgang in Heilung.
Klinisch ist der Zustand als paranoische Reaktion zu bezeichnen.
Es ist nicht unwahrscheinlich, daß von seinen Arbeitskollegen an-
fänglich Drohungen gegen ihn wegen seines Verhaltens in der
Arbeitszeit-Frage geäußert worden sind. Unwahrscheinlich ist da-
gegen schon, daß diese Drohungen monatelang gegen ihn geäußert
worden sein sollen, ohne daß aus Drohungen auch Tätlichkeiten wur-
den. Damit beginnt wahrscheinlich schon die wahnhafte Verarbeitung
der Ereignisse. Sicher wahnhaft ist dagegen seine Einstellung gegen-
über seiner Nichte, die überall hintelephoniert, damit er keine neue
Stellung bekommt und seine Einstellung gegenüber seinem Schwa-
ger, von dem er bald angibt, er habe seiner Frau den Hals abge-
schnitten, bald es aber nicht genau weiß. Die gesamte Wahnbildung
klingt nach einem Monat ab. In Anbetracht der Kürze der paranoi-
schen Reaktion hat sie bereits eine beträchtliche Höhe (bis zum
Halsabschneiden) erreicht. Das wird verständlich aus dem Schwach-
sinn der erkrankten Persönlichkeit, in dessen Folge die Kritik
über die wahnhaften Vorgänge noch leichter und weitgehender ver-
loren geht, als es bei Vollsinnigen der Fall ist.
Paranoische Reaktionen sind mit einem unlustbetonten Affekt
stets verbunden, doch gehört das Hervortreten eines deutlichen
Angstaffektes nicht zur Regel. Dieser Angsfaffekt ist mit der
Stärke der Wahnbildung verbunden und dokumentiert sich damit
us IRR Az,
ebenfalls als ein Symptom, das für die Reaktionsweise Schwachsinni-
ger typisch ist; das sagt nicht, daß umgekehrt aus einer ängst-
lichen Färbung auf Schwachsinn zu schließen ist.
Nur noch in einem weiteren Fall war die Wahnbildung so ge-
ordnet wie bei W. In diesem Fall erwuchsen die_Wahnideen aus illu-
sionären Verkennungen eines Alkoholintoleranten; in wenigen Tagen
entwickelte sich daraus ein Angstzustand, der eine Färbung durch
Alkoholismus nicht erkennen ließ; bei der Entlassung des Kranken
nach 6 Wochen war der Zustand noch nicht völlig zurückgegangen,
aber deutlich im Abklingen. .
So geordnet wie in diesen Fällen war in den übrigen Fällen die
Wahnbildung nicht, vielmehr war hier die Angst Ausdruck oder Be-
sleitsymptom unklarer Wahnvorgänge, unklar wenigstens für den
Beobachter.
Fall 17. Andreas Winter: geb. 18, 4. 1892.
Aufgenommen 8. 8. 1924.
Wird in erschépftem Zustand — Größe 1.54 m, Gewicht 37 kg — auf-
genommen. War vom 25.—28. 7. 1924 im Krankenhaus zu L.. ist dort am 28. 7.
entlaufen. ging halbbekleidet nach Hause, trieb sich darauf etwa 8 Tage im
Walde umher, wahrscheinlich ohne Nahrung zu sich zu nehmen, kam dann
völlig erschöpft nach Hause zurück.
Macht bei der Aufnahme einen gedriickten und versunkenen Eindruck.
Ist völlig orientiert. schenkt aber den Vorgängen in der Umgehung wenig
Beachtung. Seine Reaktion auf Fragen und Aufforderungen ist wechselnd. Er
fühlt sich krank. wich hab's an den Nerven“. Traurig sei er nicht. mache sich
keine Vorwürfe. (Stimmen?) „Laute und leise Stimmen.“ (Was sagen die?)
„Worte.“ (Was denn?) ..... (Keine Antwort.) (Verfolgt?) „Ja.“ (Von wem?)
...Ob das wegen der Religion ist. weiß ich nicht .. .“ Bei allen Antworten
ist er ratlos. zögernd und ängstlich.
Er gibt an. daß Eltern und 4 Geschwister gesund seien. cine Schwester set
in einer Anstalt gewesen. Näheres weiß er über deren Krankheit nicht. Er
selbst habe in der Schule schlecht welernt. sei mehrere Male sitzen geblieben.
Nachher als Fahrikarbeiter. später als Schuster gearbeitet: keine Gesellen-
prüfung. 1915 bis Kriegsende Jäger: 1917 kurze Zeit nierenkrank gewesen:
keine Rente. Seit dem Kriege sei er immer kränklich: in ärztlicher Behandlung
stehe er jetzt seit einigen Monaten: weshalb er behandelt werde, wisse er nicht.
Vor ungefähr 2 Wochen habe der Arzt ihn ins Krankenhaus überwiesen.
Im Krankenhaus habe man gesagt. es wäre so schlimm mit seiner Krankheit.
es wäre aber gar nicht so schlimm, deshalb sei er nach Hause gelaufen. „Zu
Hause sind sie immer an mir gewesen wegen der Religion. die Schwester, die
Schwägerin, die haben mich davon abgebracht.“ Da sei er von Hause weg-
gegangen. sei 4 Tage im Wald gewesen und habe von Waldbeeren gelebt. In
der vorletzten Nacht sei er nach Hause zurückgekehrt. „lch wußte nicht, worum
es sich handelte, bis auf den letzten Tag: da bin ich dahinter gekommen. daß
es sich um die Religion handelt. Die wollten mir aber nicht richtig sagen.
worum es sich handelte, sonst hätte ich denen gesagt. daß ieh mich... . denen
= 87 ce
anschließen wollte.“ (Was wollen Sie jetzt tun?) „Gar keine, wirklich nicht.“
Eine genaue Formulierung seiner offenbar vorhandenen religiösen Wahnideen
ist nicht zu erzielen.
Wie in seinen sprachlichen Äußerungen, so drückt sich auch in Mimik und
Motorik seine Ratlosigkeit aus, außerdem erscheint er verlegen, versunken, ge-
drückt und ängstlich. \
Keine Echosymptome, keine Katalepsie, Befehlsautomatie usw.
In den nächsten Tagen tritt die Angst deutlicher hervor und beherrscht
das Bild. Im sprachlichen und motorischen Verhalten sind Hemmung und
Sperrung zugleich vorhanden.
Von Anfang September an nimmt die Angst immer mehr zu. W. nimmt
keine Nahrung mehr zu sich, so daß er mit der Sonde genährt werden muß.
Die Angst beherrscht ihn völlig; häufig verkriecht er sich voller Angst unter
der Bettdecke, wehrt beim Füttern unter den Zeichen höchster Angst ab.
Dieser Zustand hält in den nächsten Monaten unverändert an: meist liegt
er mit dem Kopf in die Kissen gebohrt da; spricht spontan nicht: antwortet auf
Fragen ganz leise und langsam, kaum verständlich. Nahrungsaufnahme spontan
sehr schlecht.
8. 12. 1924. Ist körperlich aufs äußerste abgemagert, setzt dem Essen
großen Widerstand entgegen. Ist völlig ablehnend, spricht nicht, ist lebhaft-
ängstlich, steckt offenbar voller Wahnideen.
15. 12. 1924 Exitus letalis; c. m.: Lungentuberkulose. Klinische Diagnose:
Ängstlich-paranoides Zustandsbild bei angeborener Geistesschwäche. Patho-
logisch-anatomische Diagnose: Lungentuberkulose: Atrophie sämtlicher Organe.
Zusammenfassung: Ein Schwachsinniger mittleren Grades
erkrankt im 32. Lebensjahre an unklaren religiösen Wahnideen.
Während anfangs die Ratlosigkeit das Bild bestimmt, tritt später
immer mehr die Angst hervor. Die Angst bleibt bis zum Tode vor-
herrschend; man hat dauernd den Eindruck, daß die Angst durch
Wahnideen unterhalten wird. |
In der Sprache des Alltags gesagt ist W. ein Mensch, „den die
Angst zu Tode gehetzt hat“. Das Angstsymptom ist vorherrschend
und hält bis zum Tode an; eine Schwächung des Affektes tritt nicht
ein. Es ist daher nicht angängig, die Psychose des W. als eine
Form schizophrener Erkrankung zu betrachten. Auch für die andere
Annahme, einer besonderen Form melancholischer Erkrankung, findet
sich kein genügender Anhalt. Anfänglich steht in allen sprachlichen
und motorischen Äußerungen die Ratlosigkeit im Vordergrund. Es
fragt sich daher, ob der Gesamtzustand als symptomatische Psychose
bei Tuberkulose zu betrachten ist. Dagegen spricht, daß anfangs ein
wesentlicher tuberkulöser Prozeß nicht vorlag, daß die Tuberkulose
erst im Laufe der Psychose, insbesondere nach Einsetzen des Absti-
nierens, aktiver wurde. Auch das Fehlen anderer Symptome exo-
gener Natur spricht gegen das Vorliegen einer symptomatischen
eee DO tet
Psychose, ferner auch die im Laufe der Erkrankung ständig zuneh-
mende Ersetzung der Ratlosigkeit durch reine Angst. Alle Gründe
sprechen dafür, daß es sich bei Winter um einen autochthonen Vor-
gang handelt, um einen Vorgang allerdings, der durch die Tuber-
kulose und den Schwachsinn deutlich beeinflußt ist. Was dabei im
einzelnen Folge der Tuberkulose und was des Schwachsinns ist, kann
nur mit Gewalt getrennt werden. Wahrscheinlich haben beide Fak-
toren in derselben Richtung gewirkt. Daß der Schwachsinn die
Psychose beeinflußt hat, kann nicht zweifelhaft sein, da unser Mate-
rial noch 5 weitere Fälle dieser Art umfaßt. In allen Fällen handelte
es sich um wenig ausgeprägte Wahnbildungen und lebhafte Angst-
symptome. Alle Fälle gingen nach einiger Zeit in Heilung aus. In
einigen Fällen bestand teilweise oder völlige Amnesie für die psycho-
tischen Erlebnisse.
Dieser Gruppe der ängstlich-paranoiden Zustände wurde aus der
Gruppe der Differentialdiagnosen ein Fall zugezählt und dadurch
diese Gruppe auf 9 Fälle erhöht.
Fall 18 Grünling, Wilhelmine: geb. 12. 1. 1904. -
Aufgenommen aın 16. 3. 1927 in die Anstalt zu A.
Aus der Anamnese des einweisenden Arztes geht hervor, daB der Vater
gesund lebt, daß die Mutter an Trunksucht gestorben ist, daß eine Schwester
veistesschwach ist. Die Patientin war ebenfalls von Jugend auf geistesschwach,
lernte in der Schule schlecht und blieb mehrfach sitzen. Nach dem Tode der
Mutter kam sie in Fürsorgeerziehung, da sie den Jungens nachlief. In der
Anstalt fiel sie durch vieles und törichtes Schwätzen auf. War dann mehrere
Jahre als Hausmädchen in einem Krankenhaus, wurde dort wegen Verkehrs mit
jungen Männern entlassen und suchte sich selbst eine Stellung bei einem Pastor.
8 Tage vor der Aufnahme hatte sie starkes Bluten aus Nase und Mund.
erschien kurz darauf absonderlich. wurde unruhig, sah sich verfolgt. Konnte
wegen zunehmender Unruhe nicht im Krankenhaus behalten werden.
Bei der Aufnahme in A. wog die 1,49 m große Patientin 49 kg; sie zeigte
außer Tremor der Hände körperlich-neurologisch keine Besonderheiten.
Zeitlich und über ihre Person ist sie orientiert; sie glaubt in der H.-Apo-
theke in A. zu sein. Zur Vorgeschichte macht sie im wesentlichen dieselben
Angaben wie der einweisende Arzt. Sie sei jetzt 3 Jahre in F. bei dem
Pastor gewesen und habe ihre Kühe in Treue gut gehütet.
Sie sei hierher gekommen, sie solle ausprobiert werden, sie sei im Haus
angefallen worden von den Franzosen oder sonst jemand, mit dem Messer sei
man hinter ihr her gewesen, sie sollte für ihre Unschuld bluten, sie habe das
nicht geschworen. Man wollte sie im Schlafzimmer totschießen, am ganzen
Körper habe man sie behandelt. In ihrer Phantasie sehe sie schreckliche Ge-
stalten. Redet unaufhörlich weiter, verworren, kommt vom Hundertsten ins
Tausendste. Ist zwischendurch fixierbar und gibt richtige Antwort. Ist dauernd
stark unruhig. ängstlich, läuft ständig umher.
— 89 —
AuBert in den nächsten Tagen starke Vergiftungsideen, zeigt manirierte
Sprechweise und bringt in jedem Satz das Wort „gut“.
Ist bis Ende März 1927 fast unverändert, dauernd' ängstlich, behauptet, sie
solle für andere Dreck essen, man wolle ihr die Ehre nehmen, habe sie über-
fallen. Schreibt an ihren Vater: „Ich will in meine neue noch alles wieder gut
machen und muß wieder nach dem Krankenhause zurück, es darf kein Todes-
urteil gesprochen werden. Es wird strafbar oder im Zuchthaus will ich meine
gute. gute Ehre selbst gut machen, bitte alle um Conveckt.“
Wird im April ruhiger, weniger ängstlich, statt dessen verschlossener. un-
zugiinglicher, spricht nicht, lächelt bei Anrede; muß gefüttert werden.
Im Mai tritt eine leichte Besserung ein, sie fängt an, sich spontan für
einiges zu interessieren, ist aber noch wenig zugänglich: lacht häufig un-
motiviert.
Wird am 2. 7. 1927 nach G. überführt; „ungeheilt von Imbezillität“.
Hier verhielt sie sich still und ruhig, sitzt bei der Untersuchung anfangs
in schlaffer Haltung da, in sich versunken, nimmt keinen Anteil an der Um-
gebung. Ihr Gesichtsausdruck ist stumpf und leer. Fragen beantwortet sie
zögernd, mit leiser, tonloser Stimme, dabei verlegen lächelnd. Bei der Frage
nach ihrer Religion meint sie, sie sei katholisch, sie könne aber auch evange-
lisch sein, weil sie mal mit einem Evangelischen verkehrt habe.
Über ihre Schulzeit gibt sie jetzt an, sie sei ein paarmal sitzen geblieben.
„Die Bibel und den Katechismus konnte ich immer ganz gut.“ Während ihrer
Dienstzeit bei dem Pastor in F. habe sie den Glauben verloren. „Der Pastor
hat gesagt, ich sollte doch in die Kirche gehen, ich wollte aber nicht. Ich
traute mich nicht mehr, ich hatte immer Angst.“ Spricht dann in faselnder
Weise von einem Mann, der den Weg wissen wollte, den sie nicht habe beleidi-
gen wollen. Der Pastor habe dann schließlich gesagt, sie sei krank, und sie
sei im Auto nach A. gebracht worden.
(Wo hier?) „Ich weiß nicht, ob es Köln ist.“ (Haus?) „Krankenhaus,
nicht?“ (Was für Leute hier?) „Kranke, Fräulein hat mir gesagt, die wären
alle krank, hier könnte man aber auch wieder heraus. Ich denke, die Kranken-
kassen, das läuft sich doch mit der Zeit ah.“
(Wer ich?) „Ich weiß nicht, der Oberarzt.“
(Wie lange hier?) „Ich weiß nicht, 3 Tage.“
(Jahr?) „27 oder 28.“
(Monat?) „Ich weiß nicht, Mai oder Juni oder Juli.“
(Wochentag?) „Weiß ich nicht.“
(Verfolgt?) „Ich weiß nicht, heute nicht mehr.“
(Stimmen?) „Nein.“ (Gestalten?) „Nein.“
Ist langsam, schwer besinnlich; beantwortet bei der Intelligenzprüfung
den größeren Teil der Fragen mit: „Ich weiß nicht.“
Vorläufige Diagnose: Imbezillität (+ Hebephrenie?).
Ist in den ersten Tagen nach der Aufnahme noch ziemlich teilnahmslos,
steht untätig umher, muß zum Essen angehalten werden. Beschäftigt sich von
Mitte Juli an im Gemüseraum; lacht noch viel vor sich hin. Wird Ende Juli
in eine halboffene Abteilung verlegt.
Im August fängt sie an, ziemlich schnell zuzunehmen, bittet daher Ende
August um Feldarbeit, da sie nicht so dick werden wolle. Beschäftigt sich
seitdem regelmäßig und fleißig mit Feldarbeit, hat trotzdem weiter zugenom-
=. Gs Se
men: jetziges Gewicht 62 kg. Ist jetzt schwachsinnig heiter, sonst völlig un-
auffällig.
3. 11. 1927. Kommt mit leicht gezierten Schritten') ins Untersuchungs-
zimmer; lächelt natürlich-freundlich, gibt bereitwillig Auskunft; hat Interesse
an der Untersuchung. Lächelt über ihren früheren Zustand, den sie als krank-
haft empfindet, wird bei Fragen nach Einzelheiten etwas verlegen. Motorik
leicht geziert; in Mimik und sprachlichem Ausdruck nichts Unnatürliches.
(Wie lange hier?) „Ich meine, 5 Monate.“
(Weshalb hierher?) „Ich war krank.“
(Was gefehlt?) „Nervenkrank.“
(Woran gemerkt?) „Am Kopf.“ |
(Wieso?) „Ich hab’ in der Stellung alles durcheinander gesprochen.“
(Was?) „Ich weiß davon nichts mehr.“
(Überfallen worden?) „Das ist nicht wahr gewesen, das hab’ ich gemeint.
ich hatte nachts immer Angstgefühle.“
(Weshalb Angst?) „Weiß ich nicht, es war bei dem Pastor einmal ein-
gebrochen worden, seitdem hatte ich immer Angst.“
(Wann eingebrochen?) „Ein paar Tage vor Weihnachten.“
(Gestalten?) „Ja, hab’ ich nachts gesehen und sprechen gehört; jetzt bin
ich gesund.“
(Wie war die Geschichte mit dem Mann?) „Weiß ich nicht mehr.“
(Verfolgt?) „Nein.“ l
(Religion?) „Katholisch.“
(Bestimmt?) „Ja, ich gehe auch wieder in die Kirche.“
(Seit wann so dick?) „In der letzten Zeit.“
(Früher schon?) ..Ja, mit 16 Jahren war ich auch so dick.“
(Grippe?) „Nein, nur Lungenentzündung, da war ich 3 Jahre alt.“
(Früher schon krank?) „Nein, nie.“
(Schule?) „Auf der Schule gut gelernt.“ (?) „Zweimal sitzen geblieben.“
Körperlich-neurologisch o. B.
Persönlich, zeitlich, örtlich völlig orientiert.
Aufmerksamkeit gut, Merkfähigkeit ungestört.
(Stimmung?) „Immer gut.“
(Noch Angst?) „Seitdem ich hier bin, nicht mehr.“
(Erdteile?) „Die Sonne, der Mond und die Sterne!“
(Hauptstadt von Deutschland?) „ . . . Das weiß ich nicht.“
(Berlin?) „Es kann sein.“
(Kaiser?) „Kaiser Wilhelm Il.“
(Jetzt noch?) „Das weiß ich nicht.“
(Hindenburg?) „Weiß ich nicht?“
(Bismarck?) „Weiß ich auch nicht.“
(Große Flüsse?) „Der Rhein . . . das Meer.“
(Religion?) „Katholisch.“
(Sonst noch?) „Evangelisch, jüdisch und Heidenmission.“
(Baum — Strauch?) „Der Baum!“ (7) „Strauch ist klein, Baum groß.“
(Kind — Zwerg?) „Das weiß ich nicht.
'y Anm. Inzwischen ist auch die Motorik der Kranken völlig unauffällig
geworden,
se O ae
(Treppe — Leiter?) „Treppe geht man herauf und ’ne Leiter braucht man
zum Fensterputzen.“
(Neid?) „Weiß ich nicht.“
(Mitleid?) „Wenn einem was passiert ist.“
(Gerechtigkeit?) E
(5X7?) = „421“ (15479) = 20 (15:5?) .....
(6X8?) = „32!“ (17+ 227) = „42!“
Binet-Simon: A. S. 10.
Zusammenfassung: Bei der jugendlichen Patientin ent-
wickelt sich aus Angstgefühlen und Wahnideen ein Erregungszustand
mit Rededrang, motorischer Unruhe, Zerfahrenheit. Die Wahnideen
bleiben länger bestehen als die Angst. Es schließt sich an ein Zu-
stand von stumpfer Initiativelosigkeit mit läppischem Affekt. Durch
eine Periode der Schwerbesinnlichkeit läuft die Psychose in völlige
Unauffälligkeit aus.
Der Schilderung ist wenig hinzuzufügen. Die Psychose wurde
wegen ihres Beginns mit ängstlicher Erregung und konfusen Wahn-
ideen hier subsumiert. Der Ablauf zeigt mit Sicherheit, daß eine
„Pfropfschizophrenie“ nicht vorliegt; von März bis Juli 1927 konnte
man daran denken. Der jetzige Zustand, der in direkter Rede belegt
wurde, zeigt, daß irgendwelche schizophrenen Defektsymptome nicht
vorliegen. Gedankengang und sprachliche Äußerungen sind kon-
zentriert, knapp; die Stimmung ist ihrer Lage angemessen; nirgends
zeigt sich die für Schizophrene charakteristische seelische Unaus-
ceglichenheit. Es findet sich jetzt an Pathologischem nur die Im-
bezillität. Wenn auch eine Bewußtseinstrübung, auch leichteren
Grades, nicht nachweisbar war, so ist die Psychose durch ihren
charakteristischen Gesamtverlauf mit Erregung, Abfall, Schwer-
besinnlichkeit und Ausgang in Heilung als exogene Psychose gekenn-
zeichnet. Bei dem Fehlen jeglicher anderer Ursachen müssen wir
den Schwachsinn selbst als den exogenen Schaden betrachten, der
die Psychose hervorgerufen hat.
Es schließt sich dieser Gruppe ein Einzelfall an, in dem bei
einem 60jährigen Mann mit nicht unerheblicher Arteriosklerose sich
Wahnideen und ängstliche Erregung ausbildeten. Der Zustand, der
jetzt seit 313 Jahren ohne erkennbaren Fortschritt und ohne Rück-
bildung anhält, ist im wesentlichen arteriosklerotischer Natur, wenn
er auch in Einzelheiten durch den Schwachsinn beeinflußt ist.
Die Gruppe der Angstzustände mit Halluzinatio-
nen folgt in der Stärke den paranoid gefärbten Angstzuständen; sie
umfaßt 5 Fälle. Angst und Ratlosigkeit stehen hier noch stärker im
Vordergrund als bei der vorigen Gruppe.
Neustadt, Die Psychosen der Schwachsinnigen (Abhdl, H. 48). 7
— 92 —
Fall 19'). Fritz Kern, geboren 19. 5. 1889, ledig. Schleifer, wird am
15. Juli 1924 in die Anstalt Grafenberg aufgenommen. Die Familienanamnese
ist 0. B. Er selbst war von früher Jugend an geistig zurückgehlieben: besuchte
die Schule vom 6. bis 14. Lebensjahr, blieb aber stets sitzen: er kann kaum
lesen und nur mit kleinen Buchstaben etwas schreiben. Auffassung. Merkfähig-
keit und Urteilsfähigkeit sind entsprechend gering; das Intelligenzalter nach
Binet-Simon beträgt 7 Jahre. Körperlich bietet K. außer einer beträchtlichen
Myopie links mit eingeschränkter Lichtreaktion der linken Pupille sowie einer
Parese des rechten unteren Fazialisastes nichts Besonderes.
Im April 1924 wurde K. wegen .allgemeiner Depression und leichten Ver-
folgungsideen“ in ein Krankenhaus eingeliefert, von dort Ende Mai 1924 gegen
ärztlichen Rat wieder abgeholt, aber 4 Wochen später in bedeutend verschlech-
tertem Zustand wieder zurückgebracht. Er war unruhig und verwirrt, glaubte
seine Krankheit auf eine Geschlechtskrankheit zurückführen zu müssen. Hat
Gehérshalluzinationen und Illusionen. glaubt sich von der Polizei verfolgt,
fürchtet umgebracht zu werden.
Bei uns fiel vor allem seine ängstliche Verstörtheit auf. Er hat vor allem
und jedem Angst, fragt sofort, ob ihm nichts passieren werde, ängstigt sich,
sich ins Bett zu legen usw. Neben seinen Angstgefühlen und gleichzeitig
damit bricht immer wieder ein Lächeln durch. das ohne Tiefe und der Situation
nicht angemessen erscheint. Es erscheint dadurch der Eindruck eines läppi-
schen und paradoxen Affektes.
Gespräche in seiner Umgebung deutet er als die Stimmen der Schwestern
und Patienten des Krankenhauses in K. Dazu hört er dauernd, daß er er-
schossen werden soll. „Wenn sie mich totschießen wollen, dann ist mir das
egal. aber dann will ich vorher in die Kirche gehen: ich bin ein religiöser
Mann. Deshalb kann ich auch nachts nicht schlafen. Ich weiß gar nicht, was
ich getan haben soll.“ Er hört dauernd. daß er erschossen werden soll. ist
daher ängstlich und erregt. Die Diagnose lautete: Ängstlicher Verwirrtheits-
zustand bei Imbezillität.
Dieser Zustand hält in der nächsten Zeit unverändert an. Er steht dauernd
unter dem Einfluß optischer und akustischer Sinnestäuschungen. Er hört den
Schuß. der ihn und seine ganze Familie hinstrecken soll. schon fallen und sieht
seine Mörder auf sich zukommen.
Der Zustand hält in unveränderter Form und Stärke bis zur zweiten
Septemberhälfte 1924 an. Von da an tritt ziemlich rasch eine Änderung ein,
Sinnestäuschungen und Wahnideen treten zurück. die Angst läßt etwa im
Oktober nach: K. wird in seinem Wesen freier, in Verhalten und Affekt natür-
lich und wird am ?. 11. 1924 geheilt entlassen. Seither ist K. gesund geblieben.
Zusammenfassung: Es handelt sich also in diesem Fall um
einen Schwachsinnigen höheren Grades, der im 35. Lebensjahr psy-
chotisch erkrankt. Die Psychose nimmt nach anfänglichem Schwan-
ken einen außerordentlich heftigen Charakter an. Es treten zahl-
reiche ängstlich gefärbte Sinnestäuschungen und Wahnideen auf, die
durch inhaltliche Einförmigkeit gekennzeichnet sind; daneben tritt
*) Derselbe Fall wie Nr. 2 meiner Arbeit über „Pfropfschizophrenie.“
— 93 —
ein heiterer, aber leerer Affekt hervor. Nach einem halben Jahre
sind sämtliche Erscheinungen abgeklungen, es bleibt eine heitere,
natürliche, schwachsinnige Persönlichkeit zurück, die nicht die ge-
ringsten Zeichen eines schizophrenen Schubes aufweist.
Dieser Fall, der a. a. O. als Beispiel einer schizophrenieähnlichen,
aber nicht schizophrenen Psychose angeführt wurde, ist gleichzeitig
auch ein Beispiel für Angstzustände mit Halluzinationen. Die Hallu-
zinationen scheinen in diesem Fall die Angst hervorzurufen. Der be-
drohliche Inhalt der Halluzinationen steht in einem natürlichen Ver-
hältnis zur Stärke des Angstaffektes. Was nach unseren Erfahrun-
gen als für Schwachsinnige typisch anzusehen ist, ist die Ein-
förmigkeit der Angstpsychose, in der monatelang nur einige
wenige Halluzinationen vorhanden sind, in der immer wieder der
Schuß fällt, durch den die Brüder oder er selbst hingestreckt wird,
usw. Durch Einförmigkeit, durch stereotype Wieder-
holung, ist nicht nur die Psychose bei K., sind nicht nur die hallu-
zinatorischen Angstzustände, sondern die Gesamtgruppe der
Angstzuständeist dadurch gekennzeichnet.
Auch in anderen Eigenschaften zeigten die Fälle dieser Gruppe
große Übereinstimmung untereinander, sowohl in Symptomengestal-
tung wie Verlauf. Das zeigt die Schilderung eines weiteren Falles
dieser Gruppe.
Fall 20. Bertha Feige, geb. 14. 2. 1908.
Aufgenommen 31. 7. 1926.
Wurde durch die Feuerwehr als „unbekannte Frau“ eingeliefert, trieb sich
weinend auf der Straße umher.
Ist in mäßigem Ernährungszustand, zeigt sonst körperlich nichts Beson-
deres.
War nach der Aufnahme hier außerordentlich unruhig und erregt, lief im
Saal umher, blieb nicht im Bett, ging auffallend oft zum Klosett, schlug einmal
heftig die Türe zu, nahm den anderen Patientinnen das Essen fort.
Ins Untersuchungszimmer will sie anfänglich nicht hineingehen, sträubt
sich heftig und heult „ich mag nicht“. Läßt sich aber dann leicht überreden,
steht anfangs stumpf und läppisch lächelnd umher. Im Untersuchungsbett ver-
kriecht sie sich gleich unter die Decke. Bei der körperlichen Untersuchung
sträubt sie sich manchmal sehr heftig unter Weinen und dem Ausdruck leb-
hafter Angst. Sonst nimmt sie an der Untersuchung wenig Interesse, spielt mit
der Decke, trommelt an der Wand, verkriecht sich dazwischen mit ängstlichem
Gesichtsausdruck.
Auf Fragen antwortet sie meist schnell, doch häufig unter Vorbeireden,
insbesondere bei Rechenaufgaben: (227) = „3!“ (2+1?) = „5!“ (6X7?) = „8!“
Ein Teil der Fehlantworten ist durch erschwerte Auffassung verursacht,
z. B.: (Name?) „Betty Feige.“ (Alter?) „12.“ (Ich meine 18?) „Kann sein,
12 oder 18. (Wann geboren?) „14. Januar 1900.“ (Jetziges Datum?)
„14. Januar.“ (Jahr?) „1900.“
7*
— 94 —
Ab und zu kommt unter leerem Lächeln ein beziehungsloser Satz: „Sind
Sie auch krank?“ . . . „Ich habe an Ihnen keinen Spaß.“
Auf die Frage, was sie so oft auf dem Klosett tue, erzählt sie andeutungs-
weise eine dunkle Geschichte, die sichere Anhaltspunkte für Sinnestäuschungen
enthält. Auf dem hohen Baum hätte ein Mann gesessen, nachts werde sie
immer gerufen, sie solle herunter kommen und Schweinerei machen. Dann er-
zählt sie von einem Mann, der habe so ein langes Ding gehabt und ihr in den
Bauch gestochen, dann sei sie ohnmächtig geworden. (Was für ein Ding?)
„Ein Dolch.“ „Der hat mich hingeworfen.“ Redet immer wieder davon, ihr
werde zugerufen, sie solle herunter kommen und Schweinerei machen, zwei
Frauen hätten auf dem Klosett Schweinerei gemacht und ihr da unten hinge-
griffen. Bei näherem Befragen sagt sie stets unter kindischem Lachen: „Weiß
ich nicht.“ (Angst?) „Ja, die Polizei kommt mich holen.“ Bei einem Ge-
räusch von Stimmen, die vom Garten herauf kommen, meint sie gleich, man
rufe sie. Ri
Der Affekt ist wechselnd, bald ängstlich, bald unbesorgt, kindlich-heiter.
bald weint sie. Sprachlich wechseln heiterer Rededrang und ablehnend-ängst-
liches Schweigen miteinander ab. Diagnose: Ängstlicher Erregungszustand mit
Halluzinationen bei Schwachsinn.
Der Vater gibt an, die Mutter der Patientin habe während des Krieges
eine Depression durchgemacht: sonst keine Geisteskrankheiten in der Familie.
Die Tochter sei als Kind mehrfach auf den Kopf gefallen. In der Volks-
schule habe sie schlecht gelernt, nach einmaliger Versetzung sei sie immer
sitzen geblieben, wurde nach 7jährigem Schulbesuch aus der zweituntersten
Klasse entlassen. Seitdem half sie der Mutter im Haushalt: hielt sich zu-
friedenstellend.
Am Sonntag, den 25. 7. sei sie wie gewöhnlich zur Kirche gegangen, aber
nicht zurückgekommen. Sie sei mit einem Mann in einen anderen Ort gegan-
gen, wo sie von der Polizei aufgegriffen wurde. Es sei wahrscheinlich, daB der
Mann sie nicht gebraucht habe. — Soweit der Vater erfahren hat, hat die
Tochter am Sonntag einige Glas Bier getrunken; darauf führt er den Zustand
der Tochter zurück.
Nach etwa 14 Tagen wird die Patientin ruhiger, nimmt Interesse an ihrer
Umgebung; äußert nichts mehr über Wahnideen und Sinnestäuschungen. Nur
noch in Gegenwart eines Arztes ist sie erregt, ängstlich und weint. Nach
einer weiteren Woche ist auch in Anwesenheit des Arztes keine Angst mehr
vorhanden: sie ist ruhig, gibt geordnet Auskunft. Von ihrer Krankheit weiß
sie nur noch, daß sie Angst gehabt und verwirrt gesprochen hat. Woher alles
gekommen ist, weiß sie nicht anzugeben.
Beschäftigt sich regelmäßig im Gemiiseraum, ist psychisch unauffällig und
wird von den Eltern am 30. 8. 1926 abgeholt.
Zusammenfassung: Die 18jährige Betty F. kehrt eines
Sonntags vom Kirchgang nicht nach Hause zurück, geht mit einem
fremden Mann in eine benachbarte Stadt und wird einige Tage spä-
ter in einem Zustand von ängstlicher Erregung mit Sinnestäuschun-
gen und Wahnideen in psychiatrische Obhut gebracht. Nach 14
Tagen klingt der Zustand allmählich ab, die Erinnerung bleibt un-
genügend.
— 95 —
Nach dem Befund der Genitalien ist ein regelrechter Koitus
nicht erfolgt. Man kann ihm daher nicht eine ursächliche Wirkung
zuschreiben. Wahrscheinlich ist jedoch, daß das Erlebnis als solches
zusammen mit dem ungewohnten Alkoholgenuß in derselben Rich-
tung wirkten, wenn nicht beides schon der Ausdruck der beginnen-
den Psychose war. Wenn wir die Psychose als reaktiv entstanden
betrachten, so finden wir eine derartige Reaktionsweise nicht als für
Schwachsinnige streng spezifisch. Es ist jedoch nicht möglich, die
ganze Psychose aus Erlebnissen herzuleiten; an dem Vorkommen
autochthoner Symptome, an echten Halluzinationen ist nicht zu
zweifeln. Auch die Verwirrtheit ist stärker, die Art der Erinnerungs-
schwäche mit einzelnen Erinnerungsresten anders als bei rein reakti-
ven Psychosen. Verwirrtheit und Amnesie geben der Psychose eine
exogene Färbung.
Ratlosigkeit und Verwirrtheit — sie finden sich bei allen Fällen
dieser Gruppe — können daher als Charakteristika der halluzinatori-
schen Angstzustände bezeichnet werden. Die Zustände sind dadurch
als Zustände mit exogenem Einschlag gekennzeichnet. Ob sie über-
haupt als exogene Psychosen zu bezeichnen sind, wird später erörtert
werden. Schon hier ist jedoch festzustellen, daß die exogene
Färbung der halluzinatorischen Angstzustände ins-
gesamt nur Folge des zugrundeliegenden Schwach-
sinns sein kann. |
Es ergibt sich aus der starken exogenen Färbung der Psychose,
daß im Einzelfall eine Trennung des halluzinatorischen Angstzustan-
des von der Halluzinose mit Verwirrtheit nur schwierig möglich ist.
Der Vergleich mit den unten beschriebenen Halluzinosen zeigt, daß
die hier durchgeführte Trennung nach dem führenden
Symptom nicht sehr beweiskräftig und äußerlich
ist, ddß Wesensverwandtes und innerlich Zusammen-
sehöriges dadurch auseinandergerissen wird, wie ich
das in der Einleitung betont habe. |
Deutlicher erscheint dagegen die Grenze zwischen den melancho-
lischen Zuständen und den Angstzuständen mit depressi-
vem Affekt ohne wesentliche Wahnbildung oder Sinnestäuschun-
gen, die sich als weitere kleine Gruppe aus den Angstzuständen
herausheben. Diese Gruppe umfaßt nur 3 Fälle, von denen 1 Bei-
spiel gegeben sei.
Fall 21. Lauer, Ernst: geb. 5. 5. 1907.
Aufgenommen 16. 2. 1926.
zu. 206) .2=:
Aus der Anamnese des einweisenden Arztes ist kein Anhaltspunkt fiir
geistige Erkrankungen in der Familie zu entnehmen. Der Patient selbst sei mit
5 Jahren noch unrein gewesen, war gutmiitig, still, stumpf, unaufmerksam in
der Schule, hatte schlechtes Gedächtnis, lernte in der Hilfsschule nur seinen
Namen schreiben. kaum lesen. — 8 Tage vor der Einlieferung wurde L. aus
unbekannter Ursache unruhig, erregt, ängstlich, schlaflos, behauptete, er würde
verhaftet und käme in Ketten; er werde auf der Straße photographiert und sein
Bild käme in die Zeitung oder ins Kino. Wandte sich deshalb zweimal hilfe-
suchend an die Polizei.
Körperlich zeigte er Zittern der Zunge, Gesichtsbeben, plumpe Gesichts-
bildung mit Differenz der beiden Hälften, leichte Sattelnase, leicht herabhängen-
den Mundwinkel re., gleiche und ausgiebige Fazialisinnervation; mangelnde
Konvergenzbewegung der Augen, sonst keine Bewegungseinschränkung, keinen
Nystagmus; gleiche, mittelweite, entrundete Pupillen, die auf Licht, Akkommo-
dation und Konvergenz träge und sehr wenig ausgiebig reagieren (inkomplette
absolute Pupillenstarre); einen nicht dekompensierten Mitralfehler: sämtliche
Reaktionen in Blut und Liquor — einschließlich Kolloidkurven — sind negativ.
L. ist bei der Aufnahme völlig verstört und gespannt: er antwortet lang-
sam, wie träumend.
Bei der Untersuchung ist er ebenfalls stark verlangsamt, schwerfällig. Die
Auffassung ist erschwert, jede Frage muß mehrfach wiederholt werden, bevor
L. antwortet. (Geburtsdatum und Geburtsort gibt er richtig an. Sein Vater
sei vermißt (nach der Anamnese des Arztes gestorben), die Mutter sei gesund.
2 Geschwister seien frühzeitig an Kinderkrankheiten gestorben. 4 Geschwister
leben gesund. (Sind die alle gescheit?) „Ja, sicher, die sind alle grad’ so
gescheit wie ich.“ Ein älterer Bruder sei einmal mehrere Jahre in einer An-
stalt gewesen.
Er selbst habe früh sprechen und laufen gelernt. Er sei 1 Jahr zur Volks-
schule gegangen, dann bis zum 14. Lebensjahr in die Hilfsschule. Er habe dort
lesen, schreiben und rechnen gelernt. Seit wann er stottert, weiß er nicht.
Nach der Schulentlassung habe er zuerst als Bügelmacher gearbeitet, dann bei
der Messerfabrikation als „Pliester“ und zuletzt in einer Fabrik für Plattfuß-
einlagen. Sein sprachliches Ausdrucksvermigen zeigt sich bei der Schilderung
des Lebensganges sehr mangelhaft, und er kann nicht richtig erklären, was für
Arbeit er eigentlich in der Fabrik verrichtet und wie weit seine Selbständig-
keit ging. Zuletzt habe er vor Weihnachten gearbeitet, sei dann wegen Arbeits-
mangel entlassen worden.
Er fühle sich seitdem krank, habe schlechte Verdauung, schlechten Stuhl-
gang und „das Gelbe“ (meint Gelbsucht), und sei deshalb zur Erholung hierher
gekommen. Er gibt zu, aufgeregt gewesen zu sein. (Weshalb?) „Wegen die
Arbeiter-Stremonstration.“ (Was hatten Sie damit zu tun?) „Nichts.“ (Warum
denn aufgeregt?) „Ich sollte in den Frontkänpferbund eintreten, konnte aber
wegen anderen Leuten nicht eintreten.“ (Wer sind die anderen Leute?) „Mein
Freund, Adolf T., der wollte nicht haben, daß ich eintrete.“ (Sie glaubten, daß
Sie verhaftet werden sollten?) „Das hat mein Vater gesagt.“ (Weshalb?)
„Daß ich von zu Hause weg sollte.“ (Weshalb will der Vater das?) „Der will
immer mehr zu sagen haben. Dabei ist er nieht einmal richtig verheiratet. Sie
können sich doch denken, daß da keine richtige Ordnung ist.“ (Hat Ihnen
jemand zugerufen, daß sie verhaftet werden sollten?) „Ja. das fiel in der Ver-
a. SO 25.
sammlung vor.“ (Wie war das mit dem Photographieren?) „Daß sie mich auf-
nehmen, im Kino-Film.“ (Waren Sie im Kino zu sehen?) „Ja.“ (Wie
hieß der Film?) (Verlegen): „So’n....so’n.. . Filmauftrag!“ (Stimmen?)
„Nein.“ (Gestalten?) „Nein.“ (Krank?) „Ja.“ (Was fehlt?) „Das sagte
ich Ihnen doch eben schon.“ (Nerven?) „Ja.“ (Seit wann?) „Ich war
immer jet schwach.“
Örtlich ist L. orientiert, zeitlich ist er nicht orientiert; er glaubt, es sei
jetzt Januar 1919. Auch über die jüngstvergangene Zeit ist er im unklaren.
glaubt, wenige Stunden nach der Aufnahme, er sei 4 Tage hier.
Dabei sind ihm Zahlen- und Zeitbegriffe wenigstens im groben geläufig.
Die Monatsnamen zählt er richtig auf, ihre Umkehr gelingt ihm allerdings nicht.
Ebenso kann er vorwärts richtig zählen. (Rückwärts?) „20, 20, 18, 16, 14, 20!“
Schulwissen, Rechenvermögen, Urteilsfähigkeit, Begriffsbildung entspre-
chend dürftig. Binet-Simon: A. S. 7.
Sprachlich und motorisch ist L. außerordentlich langsam und schwerfällig.
spontan bewegt er sich kaum. Die Mimik ist unverändert starr. L. macht
einen gespannten, verträumten und ängstlichen Eindruck. Die Affektlage ist
gleichmäßig. (Angst?) „Ja.“ (Wie lange schon?) „Schon seit vor Weihnach-
ten.“ (Weshalb?) „Weiß ich nicht.“ (Traurig?) „Ja.“ (Weshalb?)
(keine Antwort.) (Vorwürfe?) „Ja.“ (Was?) „Daß sie mich hier nicht tot-
machen.“ (Wer sol! Ihnen denn hier was tun?) .. . „Weil man so kalt ist.“
Der Zustand hält bis Ende Februar unverändert an. Von da an tritt all-
mählich eine Besserung ein, die sich zuerst im motorischen Verhalten äußert.
Im März äußert er gelegentlich Beziehungsideen, ist ängstlich-mißtrauisch. Das
tritt allmählich immer mehr zurück, es folgt eine Zeit auffallender Stille, danach
zeigt er ein schwachsinniges, aber sonst unauffälliges Verhalten. — Wird am
4. 5. 1926 als gebessert entlassen.
Zusammenfassung: Der hochgradig Imbezille L. erkrankt
im 19. Lebensjahr mit Angst, Erregung, unklaren Beziehungs- und
Verfolgungsideen, nachdem einige kleinere Erregungen voraufgegan-
gen waren. In der Psychose sind Wahnbildungen dauernd nachzu-
weisen, treten aber neben der ängstlichen Hemmung wenig hervor.
Neue Symptome treten weiterhin nicht auf. Im Laufe einiger Monate
klingen alle Erscheinungen ab und es wird wieder der Normalzustand
erreicht.
An eine juvenile Paralyse ist bei dem klinischen Verlauf und
dem serologischen Befund nicht zu denken. Es konnte fernerhin die
Psychose nicht ohne weiteres den melancholischen Zuständen zuge-
zählt werden. Angst und Beziehungsideen stehen stärker im Vorder-
grund als die eigentliche Depression. Doch wird sich der Übergang
zu den melancholischen Zuständen nicht verkennen lassen, in den
beiden anderen Fällen dieser Gruppe noch weniger als im Fall L.
Ob diese Zustände in innerer Beziehung zu den Melancholien
stehen, oder ob es sich nur um eine besondere depressiv gefärbte
Spielart der Angstzustände handelt, kann erst die Zukunft lehren.
Was die depressiven Angstzustände von den einfachen Melancholien .
trennt, ist der auch bei ihnen wieder unverkennbar exogene Ein-
schlag, der Symptomenbild und Verlauf beeinflußt, und der der Aus-
druck der zerebralen Schwachsinnsgrundlage ist, die sich bei L.
außerdem in neurologischen Störungen äußert.
Zu der Gruppe der Angstzustände gehören noch zwei Einzelfälle.
Im ersten Fall handelt es sich um eine Schwachsinnige, die mit 58
und 60 Jahren an einem ängstlichen Erregungszustand erkrankt, der
im Anfang mit Ratlosigkeit, Verwirrtheit und Desorientierung ver-
bunden ist. Die erste Krankheitsperiode ging nach 9 Monaten in
Heilung aus, die zweite Krankheitsperiode hält jetzt seit Februar
1926 ununterbrochen an, nachdem ‚die Patientin dazwischen 1 Jahr
gesund war. In beiden Phasen fällt die Kranke durch ungewöhnlich
zahlreiche nihilistische Wahnideen auf, wie sie auch sonst bei Depres-
sionen im höheren Lebensalter vorkommen. Die Ratlosigkeit gibt
der Psychose jedoch eine so besondere Note, daß außerdem ein Zu-
sammenhang mit dem Schwachsinn nicht unwahrscheinlich ist.
Im letzten Fall endlich handelte es sich um einen ängstlichen
Erregungszustand, der im Anschluß an homosexuelle Handlungen,
die zur Anzeige kamen, ausbrach, schnell eine große Höhe erreichte
und über 3 Monate anhielt. Wir fassen diesen Fall als reaktiven
Angstzustand auf. — °
Der Überblick über die Angstzustände zeigt also, daß auch
die Angstzustände der Schwachsinnigen keine ein-
heitliche Gruppe bilden. Die Wurzeln der Angst stecken teils
in paranoiden, teils in halluzinatorischen, teil in depressiven Vor-
gingen. Es ist dabei nicht immer klar zu trennen, was primär und
was sekundär ist.
Trotz der Verschiedenheit ihrer Herleitung zeigen die Angst-
zustände eine Reihe von Gemeinsamkeiten. Es ist einmal die Ein-
formigkeit der Symptombildung; das Symptom, das den
Angstaffekt zuerst hervorrief oder mit ihm verbunden war, bleibt.
während des ganzen Verlaufs der Psychose bestehen; eine wesent-
liche Neubildung von Symptomen findet nicht statt. Eine weitere
(Gemeinsamkeit liegt im Ablauf der Psychose; sämtliche Fälle —
mit Ausnahme der beiden durch Arteriosklerose komplizierten — gin-
ven in Heilung aus. Eine dritte Gemeinsamkeit liegt im Grade
des Schwachsinns bei Angstpsychosen: alle Fälle betrafen Imbe-
zille. Bei der Seltenheit von Idioten in unserem Krankenmaterial
besagt das Fehlen ängstlicher Erregungszustinde bei Idioten nicht
viel, dagegen ist das Fehlen derartiger Zustände bei Debilen beson-
— 99 —
ders zu bemerken. Die Annahme, der Schwachsinn miisse erst einen
gewissen Grad erreicht, d. h. es müsse erst eine besondere Schwere
des Defekts vorliegen, bevor es zur Ausbildung derart massiver
Angstzustände komme, liegt daher nahe. Diese Annahme wird noch
durch die weitere Gemeinsamkeit der Angstzustände gestützt, durch
ihre ausgesprochene organische Färbung. Eine wei-
tere Eigenheit, die vorwiegt, ist das Alter der Befallenen; in 12
von 20 Fällen handelt es sich um jugendliche Kranke im Alter von
18 bis 23 Jahren. Zuletzt sei nochmals die Häufigkeit des Vor-
kommens von Angstzustinden hervorgehoben.
Alle diese Gemeinsamkeiten und Besonderheiten dürfen nicht
darüber hinwegtäuschen, daß wir es nicht mit einer klinisch
einheitlichen Gruppe zu tun haben. Sie zeigen aber, daß wir
in der Angst, die teils durch die Kritiklosigkeit der Schwach-
sinnigen psychologisch erklärbar, teils durch ihre Hirnschwäche
organisch begründet ist, eine typische Verhaltensweise
der Schwachsinnigen zu sehen haben. Erwachsen so auch die
Angstzustände aus verschiedenen seelischen Trieben, so sind sie
doch, wenn auch nicht als spezifisch, so doch als charakteristisch
für Schwachsinnige zu bezeichnen.
E. Verwirrtheitszustände.
Die Verwirrtheit, die sich in Lockerung der Denkzusammen-
hänge, in Störung der Außenwelt-Ich-Beziehung äußert, bietet in
ihrer Erscheinungsform bei den Schwachsinnigen keine großen Be-
sonderheiten gegenüber der bei Vollsinnigen. Wir finden hier alle
bekannten Typen der inkohärenten, ideenflüchtigen, halluzinatori-
schen, stuporösen Verwirrtheit. Der Bewußtseinszustand der Ver-
wirrtheitszustände der Schwachsinnigen wechselte zwischen völliger
Bewußtseinsklarheit und leichtester Trübung des BewuBtseins. Nur
in einem Fall war die Verwirrtheit als Ausläufer eines außerhalb der
Anstalt durchgemachten Dämmerzustandes anzusehen. Oneirvide
Verwirrtheitszustände, wie sie Mayer-GroB geschildert hat, fan-
den sich unter unserem Material nicht. Es zeigte sich gerade in
diesem Kapitel die besondere Schwierigkeit und Sprödigkeit des
Schwachsinnigen-Materials, da zur psychologischen und psychiatri-
schen Aufhellung von Verwirrtheitszuständen Selbstschilderungen
und kritische Stellungnahmen der Erkrankten unerläßlich sind, zwei
Erfordernisse, die durch Schwachsinn erschwert werden. So bleiht
bei den Verwirrtheitszuständen der Schwachsinnigen nur zu dem
— 100 —
Stellung zu nehmen, was sie der Fremdbeobachtung zeigen. Auf-
fallend ist wieder die Häufigkeit der Verwirrtheitszustände der
Schwachsinnigen.
Fall 22. Moritz, Hermann, geb. 18. 2. 1887.
Aufgenommen am 23. 4. 1927, weil er seit einiger Zeit durch psychische
Veränderung auffällig war; er zeigte sich geschwätzig, war stimmungslabil.
Wollte Kriminalbeamter werden, da er glaubte, durch seinen Blick Menschen
und Tiere zu beherrschen: „alles gehorcht meinem Blick.“ Er unterhält sich
mit Tieren, stiert stundenlang vor sich hin, „wo er etwas sieht, was sonst nie-
mand sieht.“ Ist nachts unruhig, spricht laut vor sich hin; ist euphorisch, aber
labil, trägt ein ausgesprochenes Selbstbewußtsein zur Schau.
Ist bei der Aufnahme außerordentlich unruhig, redet viel, ist motorisch
lebhaft. so daß er zur Unruhigen-Abteilung gelegt wird. Dort ist er wechselnd.
liegt bald teilnahmslos im Bett. spricht nicht, verweigert jede Auskunft. ist
deprimiert, fängt leicht an zu weinen. Nach einiger Zeit ist er unruhig, kra-
kehlt, schlägt sich mit anderen Kranken, läuft umher, schreit durch den Saal.
ist ängstlich und behauptet, unsichtbare Leute wollten ihn abholen, um ihn
lebendig zu verbrennen.
Der körperlichen Untersuchung setzt er keinen Widerstand entgegen,
nimmt daran aber auch kein Interesse. Auf Fragen antwortet er nicht, zuckt
nur mit den Achseln, kneift die Lippen fest zusammen. spricht nichts, hat einen
sespannten Gesichtsausdruck. Stellt sich in die Mitte des Untersuchungs-
zimmers und macht schnelle lebhafte Schüttelbewegungen des Kopfes und der
Arme, die er auf Aufforderung unterbricht. In seinem Bett legt er sich unter
die Decke und weint.
Ist in den nächsten Tagen wechselnd, bald weinerlich, bald strahlend-
euphorisch und ausgelassen: gibt aber auch dann noch keine Antwort. Am
2. 5. spricht er zum erstenmal mit dem Abteilungsarzt und bittet um Verlegung
auf eine ruhige Abteilung.
Hier gibt er geordnete Auskunft, ist zeitlich noch leicht desorientiert, ört-
lich und persönlich orientiert. Gibt u. a. an, ein Bruder habe Eiter im Kopf
infolge Gasvergiftung und Kopfverletzung: sonstige Geistes- und Nervenkrank-
heiten beständen nicht in der Familie.
Er selbst sei stets schwächlich gewesen, habe in K. die Volksschule be-
sucht und sei aus der 3. Klasse entlassen worden. Da er so klein war, sei er
erst mit 7 Jahren zur Schule gekommen und sei zweimal sitzen geblieben. Nach
der Schulzeit erlernte er von 1900 bis 1904 das Friseurhandwerk, bestand die
Gesellenprüfung mit gut. War danach bis 1908 in kleineren Orten Friseur-
gehilfe: da er aber zu wenig verdiente, ging er 1908 als Arbeiter in eine
Gummifabrik.
Heirat 1910: 4 gesunde Kinder. keine Fehlgeburt. Von März 1915 an als
Armierungssoldat eingezogen: war vorwiegend in Warschau. Nach dem Kriege
wieder bei seiner alten Firma; letzter Arbeitstag 19. 4. 1927.
1908 bis 1909 habe er bei Versuchen, aus altem Gummi neuen zu machen,
Tmal Gasvergiftung bekommen: sei jedesmal bis zu % Stunde bewußtlos ge-
wesen; war deshalb nie in ärztlicher Behandlung, hat wegen der Gasvergiftun-
gen nie mit der Arbeit ausgesetzt.
— 101 —
In die Anstalt sei er gekommen, weil er dorthin „hinoptisiert‘“ worden
sei. Das sei im städtischen Krankenhaus nachts gemacht worden, von wem.
wisse er nicht. Er habe das daran gemerkt, daß ihm in den verschiedenen
Sprachen Fragen gestellt wurden. Man habe ihn auch bis 180 Grad in Narkose
gebracht, aber seine Nerven seien zu stark dazu gewesen. Sonst sei nichts
passiert.
Was auf der Unruhigen-Abteilung passiert sei, wisse er nicht. Dort sei
er noch „im Bann“ gewesen. Der sei am 5. Tag weggegangen. Jetzt sei alles
weg, er werde nicht mehr hypnotisiert oder sonst belästigt. An seine früheren
Äußerungen, daß alles seinem Blick gehorche usw., könne er sich nicht mehr
entsinnen. Er habe aber viel Ärger ınit seiner Frau, die nicht ordentlich sei.
die Kinder und den Haushalt verkommen lasse. Er gibt zu, daß die Frau
schon immer unordentlich gewesen sei, aber erst in letzter Zeit ärgere er sich
darüber.
Zu den geäußerten Wahnideen nimmt. er keine Stellung, empfindet sie nicht
als krankhaft, korrigiert sie nicht. Hat leicht ideenflüchtigen Rededrang,
euphorische Stimmung. Merkfihigkeit ungestört. Rechenvermögen, Schul-
wissen, Urteilsfähigkeit, auch für einfache Begriffe, sehr gering.
Diagnose: Abklingender Verwirrtheitszustand mit Halluzinationen bei
Schwachsinn.
In den nächsten Tagen läßt der Rededrang nach, die euphorische Stim-
mung weicht einer mittleren Stimmungslage. Die geäußerten Wahnideen wer-
den als unsinnig bezeichnet, eine Erklärung dafür findet er nicht.
Beschiftigt sich im Juni und Juli beim Anstaltsfriseur. Hat leichte
Größenideen, fühlt sich als „stellvertretender Meister“, ist sonst psychisch un-
auffällig. Seine Entlassung ist in Aussicht genommen, als aın 30. 7. sein Vater
und seine Frau, die schlecht miteinander stehen, sich bei einem Besuche treffen
und in Gegenwart des Kranken eine große Szene aufführen.
Nachdem er am folgenden Tag etwas gedrückt war, ist er am 1. 8. plötz-
lich wieder erregt und verwirrt. Die Verwirrtheit ist vorwiegend manisch, sein
Blick ist strahlend-glänzend, er fühlt sich als „Hans im Glück“, will die ganze
Anstalt kommandieren. Grüßt militärisch, gibt dem Arzt mit abgehackten Be-
wegungen die Hand, hat eine besonders aufrechte Haltung, seine Motorik zeigt
eine lebendige Beweglichkeit. Der Kopf ist stark gerétet. M. redet in
unklarer Weise von Autos, die er in 3 Reihen nebeneinander zu einem Grabe
fahren sieht. Sein sprachlicher Ausdruck ist lebhaft betont, es besteht aber
kein Rededrang. Motorisch befindet er sich in ständiger Unruhe. Der Zu-
stand hält unverändert vom 1. bis 20. 8. 1927 an und ist an diesem Tage plötz-
lich wie abgeschnitten.
Im Oktober fiel M. dann einige Tage durch grundlose Verstimmung und
Weinen auf. Suizidabsichten äußerte er nicht.
2, 11. 1927. Ist freundlich, heiter: strahlender Blick. Kommt Aufforde-
rungen mit lebhafter Motorik nach, sitzt sonst ruhig und natürlich da. (Stim-
mung?) „Ganz gut, nur ich sehne mich nach Hause.“ (Warum geweint?)
„Weil ich mich nach Hause sehne.“ (Weint heftig, läßt sich schnell beruhigen.)
(Krank?) „Nein.“ (Früher?) „Nein“ (Weshalb hierher?) „Weiß ich nicht.
ich war erst 4 Tage im Krankenhaus, da bin ich unruhig gemacht worden und
hierher hinoptisiert worden.“ (Nerven?) „Mitunter ja.“ (Woran gemerkt?)
„Ich kriegte ein Taubheitsgefühl im Kopf, das muß von den früheren Benzin-
— 102 —
vergiftungen herkommen, ich bin 7mal betäubt gewesen, ich kann überhaupt
kein Benzin mehr riechen; sobald ich an die Luft komme, ist es weg.“ (Krimi-
nal werden?) „Nein, das waren alles nur Phantasien; ich will an meine Arbeit
wieder gehen, wo ich dran gewesen bin; ich habe ein kolossales Interesse an
Gummi.“ (Tiere durch Blick beherrscht?) „Davon weiß ich nichts mehr.“
(Autos in drei Reihen?) „Davon weiß ich nichts mehr.“ (Warum unruhig?)
„Weiß ich nicht.“
Schulwissen und Rechenvermögen, ebenso Begriffs- und Urteilsbildung sind
jetzt bedeutend besser als früher, doch immer noch lückenhaft, z. B. (119—24?)
2.2.96! (65:13?) . . . „Das kann ich im Kopf nicht rechnen.“ (Erdteile?)
. „Europa, . . . Asien, Rußland, Brasilien und Afrika und Amerika.“
(Irrtum — Lüge?) „Das ist derselbe Ausdruck.“
(Morgenstund . . .?) „Man soll morgens früh aufstehen und arbeiten und
nicht bis um 10 oder 11 schlafen.“
(Jeder ist seines Glückes Schmied?) „Wenn zwei zusammen in Frieden
leben und sich gut verstehen.“
Binet-Simon: A. S. 11.
Zusammenfassung: Der leicht Schwachsinnige erkrankt
mit 40 Jahren erstmalig mit Erregung und Verwirrtheit, in der er
ein ausgesprochenes SelbstbewuBtsein zur Schau trägt, sich unge-
wöhnliche Fähigkeiten zulegt, mehrfachen Wechsel zwischen eupho-
rischer oder ängstlicher Erregung und ängstlichem Stupor zeigt. Der
Zustand hält etwa 11 Tage an, dann ziemlich plötzliches Ende. Nach
3 Monaten erneuter Verwirrtheitszustand von 20tägiger Dauer, vor-
wiegend manischer Färbung mit motorischer Erregung und Sinnes-
täuschungen. Später kurzdauernder Depressionszustand. Ausgang
in Besserung.
Trotzdem das Bewußtsein nicht völlig klar war, war die Be-
wußtseinstrübung nicht derartig, daß man berechtigt ist, den Fall
den von Kleist (5) beschriebenen episodischen Dämmerzuständen
zuzurechnen. Die weitgehenden Ähnlichkeiten sind jedoch unver-
kennbar und man kann den Fall, den wir als episodische Verwirrt-
heit bezeichnen, als „schwächeren Grad“ eines episodischen Dämmer-
zustandes betrachten; die Differenz des höheren Erkrankungsalters,
als Kleist es fand, erscheint dabei weniger wichtig. Nun trennt
zwar das Fehlen der stärkeren Bewußtseinstrübung diesen Fall und
die übrigen Verwirrtheitszustände von den episodischen Dämmer-
zuständen Kleists, es erscheint aber zweckmäßig, hier die Grenzen
nicht unnötig scharf zu ziehen, denn der episodische Verlauf der
Verwirrtheitszustände ist in unserem Material in 12 von 20 Fällen
nachzuweisen, wobei auch die einzelnen Krankheitsphasen weit-
gehende Übereinstimmung in der Symptomengestaltung erkennen
lassen.
— 103 —
Einzelne AuBerungen des Kranken, wie ,,ich bin unruhig ge-
macht worden“, vielleicht auch einige motorische Absonderheiten las-
sen die Frage des Vorliegens einer schizophrenen Verwirrtheit er-
örtern. Daß die Diagnose nur beim Vorliegen massiver Symptome
aus dem Verwirrtheitszustand selbst gestellt werden kann, ist be-
kannt. Außerhalb seiner Verwirrtheit hat M. jedoch nichts Schizo-
phrenes in Motorik, Gedankengang und Affekt an sich. Eher er-
wächst die Verwirrtheit bei M. aus einer zyklischen Konstitution, da
er bisher fast immer euphorisch oder depressiv war.
Ein Zusammenhang der Verwirrtheitszustände mit den vor 20
Jahren durchgemachten Gasvergiftungen, den M. selbst annimmt,
kann nicht erkannt werden. Doch ist es nicht ausgeschlossen, daß
die mehrfachen Schädigungen eine allgemeine Disposition zu organi-
schen Reaktionen, wozu die Verwirrtheitszustände zu rechnen sind,
geschaffen haben. Der 2. Verwirrtheitszustand ist offenbar reaktiv
bedingt, ohne in Symptomengestaltung und Verlauf als psychogene
Verwirrtheit zu bezeichnen zu sein.
Ungeklärt erscheint noch die Frage der Bewußtseinsqualität der
Verwirrtheitszustände und die eng damit verbundene Frage der Am-
nesie. Objektiv sind Zeichen einer stärkeren Bewußtseinstrübung
nicht erkennbar, um so auffallender erscheint die Amnesie für die
psychotischen Erlebnisse. Das ist nicht eine Besonderheit des Einzel-
falles, sondern findet sich regelmäßig in dieser Gruppe. Immer wie-
der erfolgt hier als Antwort auf Fragen nach Einzelheiten der
Psychose: „Weiß ich nicht mehr.“ Wenn man dagegenhält, daß M.
kurz nach dem Abklingen des ersten Verwirrtheitszustandes noch
Auskunft über seine Erlebnisse gab, später jedoch nicht mehr, wenn
man weiter ein derartiges Verhalten bei Vollsinnigen in der Regel
nicht sieht, so sind Zweifelan der Echtheit der Amnesie
berechtigt. Man muß vielmehr die Möglichkeit erwägen, daß
Schwachsinnigen die „Peinlichkeit‘‘ eines Verwirrtheitszustandes be-
sonders aufdringlich ist oder die andere, daß die Verarbeitung der
fremdartigen psychotischen Erlebnisse für den Schwachsinnigen auf
dem Wege des Nicht-wissen-wollens am schnellsten und leichtesten
erfolgt. Auch das wäre schließlich eine Art Amnesie, nicht aber eine
zerebral verursachte. — Ausdrücklich sei hier die hy Wa
Natur dieser Annahme betont.
Ein Fall mit wechselnden Zustandsbildern der Verwirrtheit ist
der bereits früher beschriebene Fall H. R. Dieser Fall sei hier noch-
mals angeführt, weil nur in 2 Fällen unseres Materials die Ver-
— 104 —
wirrtheit mit Stupor verbunden war, in allen anderen Fallen
ging die Verwirrtheit mit Erregung einher.
Fall 23. Heinrich Richartz, geb. 7. 11. 1879.
Aufgenommen am 5. 11. 1924.
Seit Juni 1919 machten sich zeitweilig Wahnideen bemerkbar. R. glaubte
sich von einem Amtsgerichtsrat Schmitz verfolgt, von dem er den Auftrag be-
kommen habe, ein Mädchen zu gebrauchen und hinterher zu töten. Der Ge-
richtsrat verfolge ihn, weil er ihın den Gefallen nicht tue und das Mädchen
nicht totmache. Diese Wahnideen bringt er in geordneter Form ständig vor.
führt sie auf ein bestimmtes Erlebnis zurück und entwickelt sie nach Art einer
Paraphrenie. Er sagt weiter: der @erichtsrat habe ihm verboten, das Ruhr-
gebiet zu verlassen, weil er ihm zu viel in die Papiere gesehen habe. Der
Gerichtsrat sähe in ihm einen ebenbürtigen Gegner zu einem Säbelduell. —
Diese Wahnideen sind bis März 1925 in unveränderter Form nachweisbar, von
da an treten sie immer mehr zurück und bleiben vom Patienten unbeachtet.
Über die Familie des Kranken ist Objektives nicht bekannt. Nach eigener
Angabe kommen Geisteskrankheiten oder Schwachsinnszustände nicht vor. Er
selbst habe sich normal entwickelt. sei in der Schule stets mitgekommen. Nach
der Schulzeit traten Schwierigkeiten für ihn auf, er konnte den Weberberuf, für
den er bestimmt war, nicht erlernen, war schließlich Hilfsarbeiter. Beim Militär
wurde er mit 3 Monaten Gefängnis bestraft, weil er sich durch einen Kamera-
den verleiten ließ, 3 Tage über seinen Urlaub zu bleiben; war nach eigener
Angabe ein schlechter Soldat. Im Krieg war er beim Wachkommando. Nach
seiner Dienstzeit wurde er landwirtschaftlicher Hilfsarbeiter.
Nach einer halbjährigen Pause völliger Unauffälligkeit liegt er eines Mor-
gens bis aufs Hemd entkleidet auf der Veranda der offenen Abteilung, wo er
inzwischen untergebracht war: seine Kleider liegen auf dem Anstaltsfriedhof.
Er ist ablehnend, spricht kein Wort und verweigert die Nahrung, ist in völligem
Stuporzustand. Das Füttern mit der Sonde behagt ihm offenbar sehr, trotzdem
er einmal äußert, er wolle sterben. Nach 13tiigiger Abstinenz schreibt er auf
einen Zettel: „Bis morgen früh nicht füttern. Morgen früh möchte ich den
Herrn Professor sprechen. Ganz gleich um wieviel Uhr. Morgen mittag werde
ich wieder essen, dann ist die Zeit vorbei, die bestimmt ist. Sprechen darf ich
erst morgen früh.“
Am folgenden Morgen gibt er dann an, es handele sich um die Aufwiege-
lungsgeschichte mit Dr. H. 2 Bergleute seien gedungen worden, ihn totzu-
schlagen. Am 7. November hätte er 8 Tage Zeit, dann würde er hier ange-
guckt, in der Nähe würde ein Wassergrab gemacht, ginge er nicht rein, so
dürfe er 8 Tage nichts essen. „Es wäre besser, wenn er in der Zeit nichts
sprechen tite, um nichts zu verraten.“ Anfang Dezember 1925 gibt er an,
Dr. H. habe ihm befohlen, nach Ostfriesland zu gehen, dort. müsse er bis zum
27. d. M. an einem Ort, an dem drei Baracken stehen, verhungert sein.
Diese und andere unsystematisierte Wahnideen beherrschen die Psychose
bis Ende 1925. Von da an treten die Wahnideen zurück, bis etwa Ende Februar
1926 der Normalzustand des Patienten wieder völlig erreicht ist. Seitdem ist er
in einem gleichmäßigen Zustand guter Stimmung, von unermüdlichem Fleiß,
durch jede Beachtung fühlt er sich in natürlicher Weise geehrt, beim Sprechen
ist er gern militärisch stramm und in Ton und Haltung.
— 105 —
Von den früheren Wahnideen ist jetzt nichts mehr nachweisbar. Auf
Fragen nach seinen früheren Erzählungen über den Gerichtsrat wird er sicht-
lich verlegen, kann sich nur mühsam an den Zusammenhang erinnern, weiß
nicht, wie er zu seinen Äußerungen gekommen ist. Für die Vorgänge während
der Periode des Abstinierens gibt er jetzt eine psychologische Motivierung.
Er sei damals betrunken gewesen, da er deshalb zur geschlossenen Abteilung
zurücksollte, sei er aus Protest in den Hungerstreik getreten. Man habe ihm
gesagt, in 3—4 Tagen werde er schon aufhören zu hungern, und da habe er be-
weisen wollen, daß er über 10 Tage lang hungern könne.
Urteilsfähigkeit, Schulwissen, Allgemeinbildung sowie Rechenvermögen
gering. Binet-Simon: A. S. 9/10. — Irgendwelche schizophrenieverdächtigen
Symptome liegen nicht vor.
Zusammenfassung: Es handelt sich also um einen
Schwachsinnigen mittleren Grades, der nach der Schulzeit im Leben
versagt. Spätestens seit seinem 40. Lebensjahre entwickeln sich bei
ihm phasisch auftretende Wahnideen. Zwei dieser Phasen wurden
von uns beobachtet. In der ersten Phase sind die Wahnideen mehr
systematisiert, in der zweiten Phase werden nach einem anfänglichen
Stuporzustand nur unsystematisierte Vergiftungs- und Verfolgungs-
ideen produziert. Die Erscheinungen lassen an die Entwicklung einer
paranoiden Schizophrenie bei Imbezillität denken. Nach einigen Mo-
naten sind jedoch sämtliche Erscheinungen völlig abgeklungen, wer-
den zum Teil psychologisch verarbeitet und zurück bleibt die Grund-
persönlichkeit eines heiteren Schwachsinnigen, der in keiner Weise
schizophren verändert ist.
Was über die Beziehungen dieses Falles zur Schizophrenie kurz
zu sagen ist, ist a. a. O. gesagt worden, so daB diese Beziehungen
hier nicht noch einmal erörtert werden müssen. Derartige Erörterun-
gen lassen sich an fast jeden der vorhergehenden und folgenden Fälle
knüpfen und es werden daher die Beziehungen von Schwachsinn und
Schizophrenie später im Zusammenhang erörtert.
Die Psychose des R. wurde hier und nicht unter die paranoiden
Psychosen eingruppiert, weil dort nur Fälle mit dauernd klarem Be-
wußtsein und mit vorwiegend paranoiden Erscheinungen, gemäß un-
serem Einteilungsprinzip, eingereiht wurden. Von dem Vorwiegen
paranoider Erscheinungen kann, wenigstens während der längeren
hier durchgemachten Krankheitsphase, nicht gesprochen werden. Für
den Stupor aber ist nach der Art seines Beginns und seines Endes
eine Verwirrtheit als Grundlage anzuerkennen. |
Ob R. früher bereits an Verwirrtheitszuständen erkrankt war,
ist nicht mit Sicherheit festzustellen, da R. früher nicht in psychia-
trischer Beobachtung stand. Nach den Angaben des einweisenden
— 106 —
Arztes ist das Bestehen früherer Verwirrtheit jedoch als wahrschein-
lich anzunehmen. Sicher ist, daß die seit 1919 aufgetretenen psycho-
tischen Zustände in dem Inhalt der Wahnbildung sich weitgehend
untereinander glichen.
Die Symptome der Verwirrtheit pflegen schon bei Vollsinnigen
so wechselnd und vielgestaltig zu sein, daß es fast unmöglich er-
scheint, im Verwirrtheitszustand den Einschlag der schwachsinnigen
Persönlichkeit zu erkennen. Es sei daher noch ein Fall mitgeteilt, in
dem die besondere Ausprägung der Erscheinungsform nur durch den
Schwachsinn begründet erscheint.
Fall 24. Adele Schweinerl, geb. 24. 8. 1880.
1. Aufnahme am 3, 11. 1924 wegen Wahn- und Verfolgungsideen, nächte-
langem Umhertreiben, Gewalttätigkeit.
Ist in gutem Ernährungszustand. Rechte Nasolabialfalte verstrichen:
linke Pupille entrundet; starkes Silbenstolpern. Im übrigen körperlich-neuro-
logisch o. B. — W.-R.: —.
Sie ist ruhig, gibt willie Auskunft, gerät aber beim Sprechen in Erregung.
die durch Silbenstolpern noch verstärkt erscheint. Auffassung, wenigstens für
einfache Dinge, ungestört. Aufmerksamkeit leidlich. Örtlich und persönlich
orientiert. kann Monat und Jahr nicht angeben. Keine Störung der Merk-
fähigkeit, keine gröberen Gedächtnislücken. Rechnen kann sie nur innerhalb
des kleinen Einmaleins, übriges Schulwissen ebenfalls sehr dürftig, Urteils- und
Unterschiedsfragen, auch einfacher Art, werden nicht beantwortet.
Sie gibt an, aus gesunder Familie zu stammen, sei selbst früher nie krank
gewesen. In der Schule habe sie gut gelernt, sei aber zweimal sitzen geblie-
ben. Nach der Schulzeit Kindermädchen und in Putzstellen. In ihrer ersten
Stelle als Kindermädchen habe sie einen Unfall gehabt, der Kinderwagen sei
ihr auf die linke Hüftseite gefallen, damals habe sie einen Nervenschock be-
kommen. Heiratete mit 29 Jahren, 2 Fehlgeburten. Der Mann sei seit 4 Jahren
blasenleidend, könne das Wasser nicht bei sich behalten: aus der Schilderung
geht hervor, daß der Mann auch impotent ist. Lues wird negiert.
In letzter Zeit habe sie viel Streitigkeiten mit ihrem Mann und den Haus-
bewohnern. Alle im Hause seien gegen sie. Alle wollten immer Geld von ihr
geliehen haben und schimpften und erklärten sie für verrückt, wenn sie ihnen
keines gäbe. Sie sei deshalb zur Beobachtung hierhergekommen. Sie sei nicht
krank. An Verfolgungswahn litte sie nicht. Sie habe sich nur über die Leute
in ihrer Wohnung geärgert, sie könne das Poltern in der Wohnung über sich
nieht vertragen. Gibt zu. daß sie deswegen aus der Wohnung fortgegangen
sei und nachts im Freien übernachtet habe. — Kein sicherer Anhaltspunkt für
Sinnestäuschungen. Affekt ziemlich gleichmäßig flach.
Wird am folgenden Tage wieder abgeholt.
2. Aufnahme am 9. 2. 1926. l
Der einweisende Arzt schreibt: „Frau Sch. leidet an hochgradigen Ver.
folgungsideen. Sie glaubt. eine Frau, welche über ihr wohnt, rufe ihr Schimpf-
worte zu. 2. B.: „Du verrücktes Frauenzimmer, du mußt ins Tollhaus.“ Sie
antwortet auf diese angeblichen Worte mit Ausdrücken wie: „Du Hure, Sau-
mensch“ usw. Sie entblößt sich. streckt den Hintern zum Fenster hinaus, hat
— 107 —
ihre Geschlechtsorgane mit Schuhcreme geschwirzt, schlift stets drauBen unter
dem Torweg des Wohnhauses auf der Erde hockend. Sie macht ihren Stuhl-
gang vor ihre Türe und wirft denselben den Hausgenossen vor die Tür und auf
die Treppe. Auch schmiert sie die Haustreppe mit Schuhcreme an.“
Körperlich zeigt sie wieder Gesichtsbeben, Fazialisdifferenz, entrundete.
aber prompt und ausgiebig reagierende Pupillen, Silbenstolpern; sämtliche
Reaktionen in Blut und Liquor sind negativ.
Psychisch ist sie im wesentlichen unauffällig. Sie ist ruhig, benimmt sich
geordnet, entschuldigt sich, daß sie unangezogen zur Untersuchung komme.
Zur Vorgeschichte gibt sie im wesentlichen dasselbe wie früher an, nur be-
hauptet sie jetzt, sie habe keine Fehlgeburten gehabt und ihr Mann sei nicht
blasen- sondern magenleidend.
Nach ihren Handlungen befragt, streitet sie alles ab, das sei alles nicht
wahr. Sie sei in die Anstalt gekommen, weil sie Streit mit den Hausbewohnern
bekommen habe. Krank sei sie nicht, nur etwas nervös.
Spontan spricht sie nicht, auf Befragen gibt sie geordnete Auskunft mit
verwaschener Sprache. Zeitlich ist sie vollkommen desorientiert, örtlich und
persönlich dagegen orientiert. Zur zeitlichen Desorientierung ist noch hinzu-
zufügen, daß sie die Monatsnamen nicht einmal alle kennt. Das Schulwissen
ist dürftig. Urteils- und Unterschiedsfragen werden überhaupt nicht beant-
wortet: ihre Rechenfähigkeit fällt dagegen auf. Die Merkfähigkeit ist herab-
gesetzt: seit wann sie schlecht behalten könne, wisse sie nicht.
Der Ehemann gibt an, daß er die Frau seit 17 Jahren kenne, der erste
Eindruck sei gewesen, sie sei schwermütig. Bald habe er aber gemerkt, daß
sie geistig zurückgeblieben sei. Sie kenne auch jetzt noch nicht die Uhr; lese
nie. habe an nichts Interesse. — Im ersten Ehejahr habe sie mal ein Kind ab-
treiben lassen, seither sei sie nie mehr gravide gewesen.
Seit 2 Jahren sei sie verändert. Sie ziehe sich zurück, sei menschen-
scheu, schließe sich Tag und Nacht ein. 1920 hatte sie mit einer Hausgenossin
großen Streit, bei dem sie bedroht wurde. Seitdem habe sie Angst vor der
Frau und allen anderen Hausbewohnern; sie sei von den Hausbewohnern
schikaniert worden. Die Angst habe sich schließlich in Wut verwandelt. Sie
stellte sich ans Fenster, hob die Röcke hoch und rief unanständige Worte hin-
aus. Wußte nicht mehr, wie sie sich gegenüber den Hausbewohnern verteidi-
gen sollte, rief deshalb alle möglichen Worte und schmierte Kot an die Türen
der Mitbewohner. Die Frau sei ängstlich gewesen, habe sich aber sonst in der
eigenen Wohnung unauffällig benommen. i
Am 7. 3. 1926 stand sie morgens auf. wollte zum Klosett gehen, warf ihren
Kot und die Monatshinden auf den Hof; blieb den ganzen Tag fort, zog sich auf
der Straße aus, spuckte die Passanten an, blieb nachts unter dem Torweg des
Hauses sitzen. AB zwei Tage nichts, deshalb zur Anstalt.
Die Frau sei dumm und wisse sich nicht zu verteidigen. Deshalb ver-
halte sie sich so.
Frau Sch. bleibt in der Anstalt äußerlich geordnet, schiebt alle Schuld den
Hausmitbewohnern zu, hält sich nicht für krank. Bietet außer ihrem Schwach-
sinn nichts Besonderes. Wird am 22. 4. 1926 von ihrem Mann abgeholt.
Katamnese am 9. & 1927. Der Zustand hat sich seit der Entlassung ge-
bessert. Derartige Zustände wie früher sind nicht mehr eingetreten. Der
Neustadt, Die Psychosen der Schwachsinnigen (Abhdl. H. 48), 8
— 108 —
Mann ist mit ihr zufrieden, sie führt den Haushalt ordentlich. lebt in Frieden
mit den Hausbewohnern. °
Zusammenfassung: Die hochgradig schwachsinnige Patien-
tin fühlt sich durch die Mitbewohner des Hauses beeinträchtigt, stellt
sich feindlich zu ihnen ein, läuft von Hause fort. Zwei Jahre später
tritt derselbe Zustand in verstärktem Maße auf; sie ist in stärkerer
Erregung und begeht eine Reihe von Handlungen, die teils völlig
sinnlos, teils wenig zweckvoll, aber sinngemäß erscheinen. Seit. ihrer
Entlassung aus der Anstalt ist die Patientin jetzt seit 11,» Jahren un-
auffällig.
Der Schilderung ist wenig hinzuzufügen. Es wurde bei beiden
Anstaltsaufenthalten an eine Paralyse gedacht; diese ist durch den
jedesmaligen negativen serologischen Befund und durch den weiteren
Verlauf auszuschließen. Auch das Bestehen einer anderen erworbe-
nen organischen Gehirnerkrankung ist nicht wahrscheinlich, da ein
Fortschreiten eines Gehirnleidens nicht bemerkbar ist. Wir betrach-
ten die Verwirrtheit als aus dem Schwachsinn erwachsen und durch
diesen genügend begründet. Es ist dabei wahrscheinlich, daß die
von dem Ehemann angenommene Erklärung, „die Frau sei dumm und
deshalb verteidige sie sich so‘ für den größeren Teil der Symptome
zutrifft. Es ist der Charakter des größten Teils ihrer Handlungen als
Protesthandlungen unverkennbar; Protesthandlung ist auch noch das
Anschwärzen der Genitalien, die sie den Nachbarn zeigt oder zeigen
will. Darüber hinaus sind Einzelsymptome, wie das Abstinieren,
Folge ihrer Gesamteinstellung zur Umwelt, nicht aber mehr als
direkte Symptome ihrer Verteidigung gegen die Nachbarn auf-
zufassen. Abgesehen davon ist der Gesamtzustand Ausdruck und
Folge des hochgradigen Schwachsinns, durch den die Kritik für den
„Verlust.des Schamgefühls‘ ebenso beeinträchtigt ist, wie die Ein-
sicht für die Unzweckmäßirkeit ihres Handelns und die Steuerung
. der offenbar dahinterstehenden Wahnbildung. Daß bei der hochgradig
schwachsinnigen Person wieder eine derartige Korrektur eingetreten
ist, daß sie wieder zur sozialen Einordnung fähig wurde, ist be-
sonders bemerkenswert.
Die Verwirrtheitszustinde der Schwachsinnigen betrafen in 12
von 20 Fällen Personen zwischen 40 und 44 Jahren. Das gegensätz-
liche Verhalten der Altersverteilung gegenüber den Angstzuständen
ist bemerkenswert. Ein Fall war älter, die übrigen Fälle wesentlich
jünger. Es war nun bei der Hauptaltersgruppe eine wesentliche
Arteriosklerose weder zu erwarten noch nachzuweisen, so daß es nicht
angingig ist, die Verwirrtheitszustinde als arteriosklerotischer Natur
— 109 —
zu betrachten. Andrerseits ist es nicht möglich aus psychologischen
Eigentümlichkeiten dieser Altersgruppe die besondere Neigung zu
Verwirrtheitszuständen herzuleiten. Man muß daher annehmen, daß
die in diesem Alter einsetzende Rückbildung zusammenmit
dem Schwachsinn eine besondere biologische Bereit-
schaft zu Verwirrtheitszuständen schafft; dabei bleibt
bisher noch der pathogenetische Weg dieser Zustände unklar.
Die jüngeren Patienten dieser Gruppe zeigten sämtlich in ihrer
Verwirrtheit Grimassieren, Stereotypien und läppischen Affekt, ohne
daß der Verlauf eine Schizophrenie erwiesen hat. Solche Fälle bilden
den symptomatologischen Übergang zu den Verwirrtheitszuständen
der Schizophrenen, wenn auch das innere Wesen beider Zustände
wesentlich voneinander verschieden ist. In mehreren unserer Fälle
von schubweise verlaufender Schizophrenie bei Vollsinnigen begann
die jedesmalige Verschlechterung mit einem Verwirrtheitszustand.
Derartige Fälle sind nicht selten. Wenn in solchen Fällen anam-
nestisch zu eruieren ist, daß der Kranke wegen Widerspenstigkeit
und Unzugänglichkeit in der Schule sitzen blieb — ein solches
Krankenblatt liegt gerade vor mir —, so ist man auf Grund derartiger
Angaben nicht zur Annahme einer Pfropfpsychose berechtigt, zumal
wenn in der Psychose selbst Schwachsinnssymptome nicht erkenn-
bar sind.
Es sei hier noch der Fall eines 18jährigen Schwachsinnigen
höheren Grades erwähnt, der 3 Monate vor der Anstaltsaufnahme
einen ersten epileptischen Anfall bekommen hatte. Er machte einen
erregten, aber bewußtseinsklaren Eindruck, zeigte einen inkohärenten
Rededrang. Auf die Frage, warum er in jeder Hand einen Pflaumen-
kern fest umschlossen hält, antwortet er z. B.: „Kautabak, das darf
ich nicht sagen, gut durchfroren. Werden, Kettwig a. d. Ruhr, da
hab ich ein guter Freund, Übergewicht für den Verein, aber nicht
nachfolgen, sonst übertrifft’s für den überlassen.‘ Läßt sich nicht
körperlich untersuchen. Schreit: „Ich spring auf Galopp, weil ich
hier nackt ausgezogen bin. Wie käm’ ich dazu, diesen Born zu über-
treffen?“ Bei der Pupillenuntersuchung: „Sie sollen mich nicht so
feurig androhen.“
Nach 8 Tagen klingt der Zustand ab. Die Diagnose zwischen
einem epileptischen Dämmerzustand und einem Verwirrtheitszustand
bei Schwachsinn blieb offen. Nach 2 Monaten wurde die Diagnose
durch einen neuen schweren Dämmerzustand mit deutlicher Bewußt-
seinstrübung von 4tägiger Dauer im Sinne der Zugehörigkeit zur
Epilepsie entschieden. Anfälle sind bisher nicht mehr aufgetreten,
8*
— 110 —
doch spricht die Entwicklung des Gesamtzustandes im Anschluß an
einen ersten epileptischen Anfall für eine Epilepsie mit bemerkens-
wert frühzeitig auftretenden Dämmerzuständen.
Dieser Fall zeigt wieder, daß trotz der Häufigkeit der
Verwirrtheitszustände der Schwachsinnigen die
Diagnose Schwachsinnspsychose nicht aus dem Zu-
standsbild zu stellen ist, sondern nur aus dem
Verlauf.
F. Hyperkinesen und katatone Erregungszustände.
Die nunmehr folgende Gruppe unseres Schwachsinnigenmaterials,
Hyperkinesen und katatone Erregungszustände, ist klein; sie
umfaßt nur 9 Fälle, 7 Männer und 2 Frauen. Eine echte hyper-
kinetische Motilitätspsychose im Sinne Kleists (4) ist unter diesen
Fällen nicht vorhanden, doch kommt die Hyperkinese einer der beiden
Frauen einer hyperkinetischen Motilitätspsychose sehr nahe. Was
den genannten Fall und die anderen Fälle dieser Gruppe von den
hyperkinetischen Motilitätspsychosen trennt, ist die stärkere Mit-
beteiligung affektiver Erregung und paranoider oder halluzinato-
rischer Vorgänge als nur der Psychomotilität. Das ist auch das Kenn-
zeichen der unkomplizierter und einförmiger gestalteten psycho-
motorischen Erregungszustände, die wir als katatone bezeichnen;
dieser Teil unserer Gruppe umfaßt 7 Fälle.
Das Material ist zu klein, um Untersuchungen über die Stellung
der Hyperkinese daran anzuknüpfen und über die Frage, ob es sich
um einen einheitlichen Symptomenkomplex handelt. Diese Frage ist
vor kurzer Zeit an einem groBen Material untersucht worden.
Pohlisch kommt zu dem Ergebnis, daß der hvperkinetische
Symptomenkomplex keine nosologische Einheit bildet, daß
mindestens vier verschiedene Formen zu unterscheiden sind. Dieser
Meinung treten wir bei. Neue Gesichtspunkte ergibt unser Material
nicht. Es wird daher auf dessen besondere Darstellung verzichtet.
Erwähnt sei nur, daß es sich bei unseren Hyperkinesen nicht um
solche im Verlauf von Schizophrenie handelte, sondern um an-
scheinend selbständige Erkrankungen.
In dieser besonderen Betonung der Trennung von Hyperkinesen
und Schizophrenie liegt, daß wir nicht glauben, daß beide Zustände
besonders eng miteinander verbunden sind. Wir betonen weiterhin
schon hier, daß wir in einem katatonen Erregungszustand nicht un-
bedingt ein Zeichen eines Verblödungsprozesses sehen, und daß
— 111 —
Hyperkinese und katatone Erregung in vielen Fällen untereinander
näher verwandt sind als mit jeder Form schizophrener Erkrankung.
Das rechtfertigte ihre Zusammenfassung zu einer Gruppe.
Erregung und Stupor wechseln bei Schwachsinnigen ebenso mit-
einander ab wie bei Vollsinnigen.
Fall 25. Freidank, August, geb. 6. 1. 1903.
Aufgenommen 14. 10. 1925.
Wuchs angeblich unter normalen Verhältnissen auf; lernte in der Schule
schlecht, wurde aus der 3. Klasse entlassen; kann weder lesen, noch schreiben.
Die Mutter soll hysterisch sein. Ein Schwester von 8 Jahren sitzt zum dritten-
mal in der ersten Klasse.
F. war vom 14. 10. bis 1. 11. 1924 wegen eines Depressionszustandes im
Krankenhaus in W. Saß dort immer still umher, gab kaum Antwort, war
schlaflos, nachts unruhig, störend; litt an Beeinträchtigungsideen, wollte keine
Arznei nehmen, da er glaubte. vergiftet zu werden; griff die Krankenwärter an.
Nahm nach 14 Tagen seine Arbeit wieder auf.
Wurde am 14. 5. 1925 erneut dem Krankenhaus in W. zugewiesen wegen
Verbrennung des rechten Fußrückens. Saß tagsüber wieder für sich umher,
hielt sich meist von den anderen Kranken fern, war nachts einige Male un-
ruhig, lief umher und rief: „Jetzt kriegen sie mich.“ VerlieB eines Morgens
das Krankenhaus, erschien dann in der Privatsprechstunde des behandelnden
Arztes und erklärte, die Schwestern im Krankenhaus wollten ihn verhaften
lassen. Ließ sich aber bewegen, wieder ins Krankenhaus zurückzukehren; dort
war er noch einmal eine Nacht sehr erregt. Wurde im Juni 1925 endgültig aus
dem Krankenhaus entlassen.
Seitdem hat er die Arbeit nicht wieder aufgenommen. Hat in der Zwi-
schenzeit nachts noch dreimal „Anfälle“ gehabt, den letzten Anfall hatte er
in der Nacht vom 11. zum 12. 10. Soll dabei die ganze Wohnung demoliert
haben. Ist seitdem am Schreien, Singen und Toben.
Nach der Aufnahme in der Anstalt liegt er zunächst ruhig im Bett. Im
Untersuchungszimmer weigert er sich, das Hemd auszuziehen, läßt den Arzt
nicht in seine Nähe kommen, schreit und tritt beim Versuch einer körperlichen
Untersuchung.
Gegenüber allen Aufforderungen verhält er sich vollkommen ablehnend.
Redet dauernd in schimpfendem Ton mit dem Arzt. Er sei doch kein Schul-
junge. daß er so behandelt werde. „Habe ich vielleicht schon mal mit Ihnen die
Schweine gehütet?“ „Sie wollen Sozialdemokratie sein? Sie wollen doch bloß
dumme Leute suchen.“ „Wenn Sie mich für verrückt erklären wollen, da müs-
sen Sie aber früher aufstehen. Ich verzichte auf Ihre Badekur usw.“ Bringt
alles in heftigem Zorn hervor, sieht grimmig aus.
Auf Fragen antwortet er mit Vorbeireden. (Datum?) „25. Juni.“ (Wie-
viel Finger?) „25.“ (Wieviel Nasen?) „5.“ Wird bei Befraxen immer er-
regter und zittert am ganzen Körper. Eine geordnete Anamnese ist von ihm
nicht zu erheben. (Woher kommen Sie?) ¿Das sehen Sie doch.“ (Was sind
Sie?) „Was Sie auch sind.“ (Wo beschäftigt?) „In Grafenberg.“ (Krank?)
„Nein, ich bin faulenzerkrank.“ „Verschaffen Sie mir Arbeit. dann gehe ich
arbeiten. dann geht's mir wieder besser.“ (Stimmen?) „Wat is dat denn vor en
Dier? Sowat hab’ ich noch nit gegessen.“
— 112 —
= Der Zustand hält in der nächsten Zeit unverändert an. F. ist ablehnend.
gereizt, unzugänglich, verlangt anderes Essen, droht dem Arzt mit allem mög-
lichen. Springt plötzlich aus dem Bett, greift die Pfleger an und schlägt andere
Patienten.
10. 11. 1925. Liegt starr mit angespannten Muskeln im Bett, spricht
nichts, auch nicht auf Anrede. Abstiniert, wird gefüttert. Nach 2 Tagen ißt
er wieder selbst. Liegt in der nächsten Zeit häufig mit angehobenem Kopf im
Bett oder steht in verschrobener Stellung neben seinem Bett; greift plötzlich an.
27. 1. 1926. Verlegt in die Anstalt B.
In B. hält der Zustand anfangs unverändert an. F. ist dort unrein. muß
zuweilen gefüttert werden, greift plötzlich Personal und Kranke an, offenbar
unter dem Einfluß von Halluzinationen, schlägt Scheiben entzwei.
Der Zustand hält in dieser Form bis etwa Oktober 1926 an. Von da an
iBt F. regelmäßig, Wahnideen und Sinnestäuschungen, verschrobene Manieren
usw. treten nicht hervor; erscheint anfangs noch etwas initiativelos, arbeitet
später regelmäßig. Erregungen sind seit länger als einem Jahr nicht mehr
aufgetreten. | :
Zusammenfassung: Im Alter von 22 Jahren erkrankte
August F. an einem kurzdauernden Depressionszustand mit Be-
ziehungsideen. Wiederherstellung der Arheitsfihigkeit. Nach einem
Jahr im Anschluß an eine Verbrennung Neuerkrankung. Ist tagsüber
still, ablehnend, nachts unruhig; voller Wahnideen. Die Erregungs-
zustände sind kurzdauernd. Von Oktober 1925 an tritt eine wesent-
liche Änderung ein. F. ist fast ständig aufs heftigste erregt oder
negativistisch-ablehnend; verweigert zeitweilig die Nahrung, greift
unmotiviert Kranke und Personal an, nimmt katatone Haltungen ein.
Nach einem Jahre tritt eine Besserung ein, ohne schizophrene Defekt-
symptome zu hinterlassen. Die Besserung hält bisher an.
Der Fall ist insofern nicht einwandfrei, als sein dauernd erregtes
oder ablehnendes Verhalten hier den Nachweis eines Intelligenz-
defektes unmöglich machte; doch erscheint der Schwachsinn durch
die anamnestischen Angaben — dreimal sitzen geblieben, kann nicht
lesen und schreiben — ausreichend gesichert.
Die Frage ist, ob die Psychose des F. als Katatonie bzw. Dementia
-priicox zu bezeichnen ist. Der zeitweilige Zustand des F., insbesondere
in der Zeit von Oktober 1925 an bis zum folgenden Jahr, ließ durch
Nahrungsverweigerung, unmotivierte Erregung usw. daran denken.
Der weitere Verlauf stützt jedoch die Annahme einer Dementia
präcox nicht genügend. Es ist eine Besserung von einem Grad und
einer bisherigen Dauer eingetreten, die für Katatonien ungewöhnlich
ist. Insbesondere aber spricht das Fehlen eines schizophrenen Autis-
mus und das Ausbleiben von Grimassieren oder katatonen Manieren
auch nur in Andeutung mit Wahrscheinlichkeit gegen eine Katatonie.
— 113 —
Unmöglich erscheint es jedoch nicht, daß sich bei F. später noch
eine Schizophrenie ausbildet. In Analogie mit anderen Fällen unseres
Materials, die z. T. länger beobachtet sind, erscheint das spätere
Eintreten einer Schizophrenie jedoch wenig wahrscheinlich. Sollte
F. später noch schizophren erkranken, so wären die seit 1924 auf-
getretenen psychotischen Zustände als Beginn der Schizophrenie zu
betrachten. Bemerkenswert bliebe in diesem Falle die lange Zeit-
dauer, die zur Manifestierung sicher schizophrener Defektsymptome
notwendig wäre.
Für eine psychiatrische Ansicht, die nicht ohne weiteres alles
Katatone, Halluzinatorische und Paranoide als Schizophrenie be-
trachtet, sondern die Gesamtheit der Erscheinungen und den end-
gültigen Verlauf ebenso berücksichtigt, kommen solche diagnosti-
schen Erwägungen wie bei F. für die Mehrzahl der katatonen Er-
regungszustände bei Schwachsinnigen überhaupt nicht in Betracht.
Es findet sich dabei der Parallelismus, daß mit zunehmer Intelligenz-
schwäche die Erregungszustände und motorischen Entäußerungen
„immer katatoner‘ werden. Es sind daraus weitgehende Schlüsse
über die Verwandtschaft von Katatonie und Schwachsinn gezogen
worden, die u. E. unberechtigt sind. Im Gegenteil kann die ,,Rein-
heit‘. der katatonen Bewegungsstörungen der Schwachsinnigen von
ihrem Vergleich mit der Krankheit Katatonie eher abhalten.
Jedenfalls wird in vielen Fällen von katatoner Erregung bei Schwach-
sinn der Gedanke an das Bestehen einer Katatonie sehr fern liegen,
wie im folgenden Beispiel:
Fall 26. Danner, Johann, geb. 19. 6. 1879.
Aufgenommen 4. 5. 1925.
Ist seit jeher idiotisch. Hatte bisher im Armenhaus gelebt. Einige Tage
vor der Aufnahme traten plötzlich „Krämpfe in den Händen“, Sinnestäuschun-
gen und Erregung auf. — Patellarreflexe gesteigert, sonst kein pathologischer
Befund.
Die körperliche Untersuchung zeigte einen kleinen gut genährten Mann
von unproportioniertem Körperbau, mit großem Rumpf, aufgeblasenem Leib
und mit kurzen Ober- und Unterextremitiiten, mit schlaffer Muskulatur und
geringer Hyperflexibilität der Gelenke. Der Hirnschädel ist auffallend groß.
ausgesprochener Blasenschädel, Schädelumfang 59 cm. Fons olympicus. Das
Gesicht hängt klein, asymmetrisch und nach rechts verschoben am Hirnschädel.
Es besteht Strabismus divergens mit Internusparese links. Pupillen gleich,
mittel, rund, reagieren auf alle Qualitäten prompt und ausgiebig. — Der II. Aor-
tenton ist akzentuiert, der Puls klein und beschleunigt. — Feuchte R. G. über
der r. Lungenspitze. — Die Patellarreflexe sind beiderseits gesteigert, von der
Tibiakante auslösbar: gekreuzte Adduktorenzuckung beiderseits. Oppenheim
und Gordon bds. +: sonstige pathologischen Reflexe fehlen. — Sensibilität
1 — 114 —
nicht sicher zu prüfen. — Genu valgum links. — Im übrigen intern-neurolo-
gisch o. B.
D. verhält sich nach der Aufnahme hier unruhig, redet dauernd laut vor
sich hin, betet viel, ist nachts schlaflos und unruhig, hat mehrfach Erbrechen.
Geht mit ungraziösem, patschendem Gang, mit gebogenen Knien und
linkem genu valgum unbeholfen im Zimmer umher, — nach Aussehen und Be-
wegung das typische Bild des „Dorftrottels“. Dann macht er sinnlose Faxen
und Gebärden: stellt stramm die Füße zusammen, setzt mal ein Bein vor, hebt
einen Arm hoch und macht zitternde Winkbewegungen mit der Hand: befühlt
seinen Nabel, beklatscht seinen Leib; dann wieder beugt er sich weit hinten-
über, sperrt weit den Mund auf und ektropioniert mit den Fingern die Unter-
lider: dann spuckt er auf den Boden und wischt mit dem nackten Fuß da-
durch. Im Anschluß daran steht er in faxiger Haltung minutenlang bewegungs-
los da, beginnt darauf wieder eine der eben beschriebenen Bewegungen in
Schnelligkeit auszuführen. Murmelt dabei häufig wie in leisem Gebet vor
sich hin.
Einzelnen leichteren Aufforderungen kommt er bei der körperlichen Unter-
suchung nach, den meisten nur in unsinnig-faxiger Weise. (Name?) +. (Alter?)
we... ich bin Johann Danner.“ (Wie alt?) „44.“ (Wann geboren?) „14. Juni
1883.“ (!) (Was schreiben wir jetzt für ein Jahr?) „Ein Schaltjahr.“ (In welcher
Stadt hier?) „Das ist die Lampe.“ (Zeigt unter faxigen Bewegungen danach.)
(Wo kommen Sie her?) „Das weiß ich nicht.“ (?) „Aus dem Armenhaus in W.“
Sämtliche Antworten sind von Strammstehen, Rumpf vor- und rückwärts-
beugen oder einer anderen der beschriebenen Bewegungen begleitet. Die
meisten Fragen werden nicht erfaßt, werden mit unsinnigen Gebärden be-
antwortet.
Der Affekt ist stumpf. die Stimmungslage indifferent. Intelligenzalter nach
Binet-Simon 4,2. — Bewußtsein nicht getrübt.
In den folgenden Tagen steigert sich die Unruhe. D. läuft planlos umher,
versteckt sich irgendwo, brüllt ängstlich los, wenn er angeredet wird, wälzt sich
auf der Erde herum. Ist besonders nachts durch Singen, Beten, Klatschen in
die Hände usw. störend: wird deshalb zur Unruhigen-Abteilung verlegt. Dort
nimmt nach anfänglichem Absinken die Unruhe und Erregung späterhin wesent-
lich zu und am 12. 6. 1925 tritt der Exitus letalis ein.
Die Sektion zeigte u. a. einen ausgesprochen schiefen Schädel sowohl an
Schädeldach wie an der Basis. die rechte Seite ist bedeutend kleiner als die
linke. Bei der Herausnahme des Gehirns entleeren sich große Mengen Liquor.
CGehirngewicht: 1450 g — Dura, Pia und Gefäße o. B.
Das Gehirn erscheint sehr groß. Die Großhirnhemisphären sind schwap-
pende Säcke. Zwischen ihnen liegt der -Balken als verdünnte zum Teil durch-
sichtige Haut frei. Vorgedrängt und ebenso durchsichtig ist die Gegend des
Infundibulums. Die Cysterna magna cerebello-medullaris ist zu einem gut
taubeneigroßen Sack geworden, nach dessen Eröffnung das Kleinhirn ein-
gebuchtet erscheint und ein breiter Eingang in den IV. Ventrikel offen liegt.
Nach Durchschneiden des Balkens eröffnen sich die Seitenventrikel, die
eine außerordentliche Anfüllung mit Liquor zeigen. Hirngewicht nach Eröffnung
und Entleerung des linken Seitenventrikels aber ohne völlige Entleerung rechts:
1187 g.
— 15 —
Die Gefäßplatte des III. Ventrikels bedeckt ihn getrübt und verdickt und
ist mit dem Thalamus fest verwachsen. Der IV. Ventrikel ist nicht erweitert.
Alle Ventrikel sind sehr stark granuliert. — Die Hemisphärenwand des Groß-
hirns ist 1 cm dick. — An der Konfiguration der Großhirn- und Kleinhirn-
windungen keine Mißbildungen.
Pathol.-anat. Diagnose: Hydrocephalus internus anscheinend beruhend auf
Verwachsungen der Gefäßplatte über dem III. Ventrikel.
Zusammenfassung: Ein mit Hydrozephalus behafteter Idiot
erkrankt im 46. Lebensjahr an einer mit psychomotorischer Erregung
einhergehenden Psychose. Im Vordergrund stehen faxig-stereotype
Bewegungsstörungen hyperkinetischer und akinetischer Natur. Zeit-
weilig tritt daneben allgemeine Unruhe hervor, die sich in Beten,
Singen und Schreien äußert. Die Symptome, insbesondere der stereo-
type Bewegungsdrang steigern sich so, daß nach einem Monat der
Exitus letalis eintritt.
Die Psychose des D. etwa als Spätkatatonie zu bezeichnen,
hieße den Schizophreniebegriff wieder so zu erweitern, daß er prak-
tisch als „Einheitspsychose“ zu betrachten wäre. Außer den stereo-
typen katatonen Bewegungsstörungen fehlen alle Symptome der
Schizophrenie.
Ebenfalls scheint es nicht ohne weiteres möglich, die Psychose
als „Psychose bei Hydrozephalus‘ zu bezeichnen. Denn D. starb nicht
unter den Zeichen zunehmenden Hirndrucks, sondern unter denen
der akuten Erschöpfung, und die Sektion ergab das Vorliegen alter
Hirnveränderungen. Ein Anhaltspunkt dafür, daß der Hydrozephalus
sich in der letzten Lebenszeit verändert habe und daß auf dessen Ver-
änderung die Psychose zurückzuführen sei, fand sich weder klinisch
noch anatomisch. Daß der Hydrozephalus und die übrigen Hirn-
schädigungen als Vorbedingung der psychomotorischen Störung
zu betrachten war, ist jedoch wahrscheinlich. Die Psychose selbst
betrachten wir dagegen als endogener Natur. Daß sie sich gerade des
katatonen Hirnmechanismus bediente, ist, da es sich um einen Idioten
handelte, kein Zufall.
Es seien hier noch 2 Fälle aus der letzten Zeit erwähnt, in denen
bei 20- und 22jährigen Kranken katatone Erregungszustände auf-
traten. In beiden Fällen trat schon nach dem ersten vor 2 Jahren
aufgetretenen Erregungszustand eine deutliche schizophrene Persön-
l:chkeitsänderung ein. In beiden Fällen wurde ein Schwachsinn als
Grundlage angenommen. Die Annahme des Schwachsinns konnte sich
nur auf die anamnestischen Angaben gründen, daß beide Kranke im
letzten Schuljahr sitzen geblieben waren. In der Psychose waren
Schwachsinnssymptome dagegen nicht erkennbar. Entsprechend
— 116 —
unseren erörterten Prinzipien der Diagnose des Schwachsinns halten
wir auf Grund des klinischen Verlaufs in beiden Fällen das Bestehen
eines Schwachsinns für nicht erwiesen. Es handelt sich also auch
nicht um ,,Pfropfkatatonien“.
Katatone Erregungszustinde fanden wir also bei Schwach-
sinnigen mittleren Grades, die unser Material hauptsächlich umfaßt,
nicht häufig. Mit Ausnahme je eines jüngeren und älteren Falles
fielen die katatonen Erregungszustände zwischen das 20. und
30. Lebensjahr, das Alter, in dem auch bei Vollsinnigen Katatonien
prävalieren. Wir betrachten die katatonen Erregungszustände der
Schwachsinnigen jedoch nicht als Zeichen einer Schizophrenie, trotz
ihrer endogenen Natur. Wenigstens für einen Teil dieser Zustände
ist wahrscheinlich, daß ihre katatone Färbung durch den Schwach-
sinn bedingt ist.
G. Halluzinosen.
Die Halluzinosen bei Schwachsinnigen sind häufig. Der Zahl
nach folgen sie den Grenzfällen und den Verstimmungszuständen;
ihre Zahl in meinem Material beträgt 22 Fälle. 18 Halluzinosen traten
bei Männern auf, nur 4 bei Frauen. Der auf Grund dieser Ge-
schlechtsverteilung naheliegende Schluß, die Halluzinosen der
Schwachsinnigen seien nichts anderes als Alkoholhalluzinosen, ist
durch unsere Untersuchungen nicht gerechtfertigt. In nur 2 Fällen
lag Alkoholismus vor, in weiteren 2 Fällen war er zweifelhaft. Alle
anderen Fälle hatten sicher keinen Alkoholmißbrauch getrieben. Es
ist daher nicht angängig, die Halluzinosen der Schwachsinnigen als
zufälliges Zusammentreffen von Schwachsinn und Alkoholhalluzi-
nosen zu betrachten.
Hervorzuheben ist die Trennung der Halluzinosen in episodisch
und chronisch verlaufende Formen. Es deckten sich hier die episo-
disch verlaufenden Fälle in bezug auf die Zeitdauer nicht mit den
akuten Halluzinosen der Trinker. Nach Schröder (1) klingen die
akuten Alkoholhalluzinosen in 1—4 Wochen nach der Anstaltsauf-
nahme, d. h. praktisch nach Alkoholentzug, wieder ab. Eine so kurze
Krankheitsdauer ist bei den Halluzinosen der Schwachsinnigen un-
gewöhnlich; sie sind zudem nicht selten durch Wiederholung gekenn-
zeichnet. 9 Fälle bezeichnen wir danach als episodische Halluzinosen.
Bemerkenswert ist weiterhin die große Zahl der chronischen Hallu-
zinosen; deren Zahl beträgt 13.
Diese Zahl ist auffallend hoch im Vergleich mit der Zahl der
episodischen Halluzinosen unseres Materials und im Vergleich mit
— 117 —
dem Vorkommen chronischer Halluzinosen überhaupt. Der dadurch
gegebene Verdacht, es handele sich bei den chronischen Halluzinosen
um Zustandsbilder aus dem schizophrenen Formenkreis, trifft nicht
zu, wie weiter unten gezeigt wird. Es handelt sich vielmehr bei den
Halluzinosen der Schwachsinnigen um Zustandsbilder, die in ihrer
Mehrzahl weder Beziehungen zum Alkoholismus noch zur Schizo-
phrenie erkennen lassen, deren ätiologische Grundlage im Dunkeln
liegt. Die Untersuchung soll zeigen, inwieweit dem Schwachsinn eine
ätiologische und dispositionelle Bedeutung für Halluzinosen zukommt.
Die Sinnestäuschungen betrafen alle Sinnesgebiete, mit Vor-
wiegen optischer und akustischer Halluzinationen. Die Symptomen-
gestaltung der Psychosen war daher reichhaltig. Da in vielen Fällen
auch Angstgefühle vorhanden waren, nahm die Psychose häufig einen
lebhaften Charakter an, der in einigen Fällen an Verwirrtheit grenzte.
Durch ihre Lebhaftigkeit drängten sich die Halluzinosen vor, so daß .
wohl kein Fall übersehen sein dürfte. Es soll bereits hier erwähnt
werden, daß trotz der Reichhaltigkeit der Sinnestäuschungen nicht
immer ein richtiges oder endgültiges Urteil über den Charakter der
Sinnestäuschungen gewonnen werden konnte. Manches, was während
der Psychose als echte Halluzination erschien, wurde später vom
Kranken selbst als illusionäre Verkennung geschildert. Dieselbe Un-
sicherheit finden wir ebenfalls nicht selten bei nicht-schwachsinnigen
Halluzinanten.
Wie sehr auch in anderer Beziehung die Halluzinosen bei
Schwachsinnigen denen der Vollsinnigen gleichen können, zeigt der
folgende Fall, der nicht frei von alkoholischem Einschlag ist.
t
Fall 27. Ekkehard, Emil; geb. 26. 12. 1877.
Aufgenommen am 9. 7. 1924.
Der Vater des Kranken war Potator; starb an den Folgen des Alkoholismus
mit 58 Jahren. Mutter an Karzinom gestorben. Die Geschwister des Kranken
sollen gesund sein.
Ekkehard, der mehrfach bestraft war, fiel nach der letzten Haftentlassung
im April 1924 durch seine Störungen auf. Nach seiner eigenen Angabe war er
schon im Gefängnis 4 Jahr lang krank gewesen, hatte Kopfdrücken und hörte
Stimmen, die fast immer über seine Frau sprachen und von geschlechtlichen
Dingen sprachen. E. wird als unruhig, gewalttätig, schamlos und unsittlich
bezeichnet.
Die körperliche Untersuchung ergab an pathologischen Befunden: geringe
Konvergenzschwäche links: gleichweite, runde Pupillen, Lichtreaktion links
träge und wenig ausgiebig, rechts o. B.; keine pathologischen Reflexe; Silben-
stolpern; Wa.-R. im Blut und Liquor, Nonne-Apelt negativ, keine Zell-
vermehrung; sonstiger Körperlich-neurologischer Befund o. B.
== IR m
Bei der Aufnahme flüstert E. vor sich hin: „Hypnose.“ (Was ist damit?)
„Ja, die haben mich wieder.“
Bei der Untersuchung ist er leicht aufgeregt, antwortet schnell. Gibt zur
Vorgeschichte u. a. an, der Vater habe infolge des Alkohols an Verfolgungs-
wahn gelitten. Er selbst habe in der Schule schlecht gelernt, sei viermal ver-
setzt worden, ebensooft sitzen geblieben. (Nach der objektiven Anamnese ist
E. nur zweimal versetzt worden.) Nach der Schulzeit war er Färber.
1911 habe er Tripper gehabt, schildert die damalige Behandlung als
Tripperbehandlung. Lues und Alkoholabusus werden negiert. (Von der Frau
des E. wird dagegen ein miBiger Alkoholmißbrauch angegeben.)
Er ist mehrfach mit Freiheitsstrafen belegt worden. außer vielen kürzeren
Strafen hatte er an größeren 1 Jahr Gefängnis wegen Hehlerei, 2% Jahre wegen
schweren Diebstahls, 7 Monate wegen Widerstandsleistung und zuletzt
15 Monate Gefängnis wegen Hehlerei. Diese letzte Strafe war im April 1924
verbüßt.
Alle Äußerungen des Patienten sind lebhaft, er zeigt einen leichten Rede-
drang, er spricht geordnet, unter Begleitung zahlreicher Gestikulationen. Im
übrigen ist die Gesamtkörpermotorik unauffällig. Der Affekt ist lebhaft, heiter.
gehoben; es besteht Neigung zu Scherzen. „Ich bin immer guter Dinge. SpaB
machen kann ich gut, ich bin immer ganz fidel“ (Gesichtsausdruck freundlich
heiter. Orientierung, Auffassungsfähigkeit, Merkfähigkeit, Gedächtnis ungestört.
Schulwissen, Rechenvermögen, Begriffsbildung und Urteilsfähigkeit sind dürftie.
Seine Krankheit hahe im Januar 1924 im Gefängnis angefangen. Er habe
anfangs schwarze schattenhafte Gestalten gesehen, fühlte sich verfolgt und
hörte Stimmen. Jetzt höre er hauptsächlich Stimmen. (Woher?) „Die sprechen
immer mit mir aus Rittershausen.“ (Was?) „Alles sprechen die mit mir, die
halten sich im After auf. Ich spreche die Dämonensprache, ja. Ich hab’ immer
dagegen gearbeitet: hätte ich mich doch nicht damit abgegeben, dann wäre
ich gescheiter gewesen. Die machen alles, ich habe Studien daran gemacht, die
hypnotisieren mich. In die Augen sind sie mir mit dem Sonnenstrahl gewesen.
Die können alles, die sind eingearbeitet, die haben alle Hintermänner, die
arbeiten mit Übertragung. Die können mich befriedigen mit Wörtern und tät-
lich, ich hab vieles mitgemacht, ich hab damit gekämpft. Die sagen einfach:
bißchen steh’ und dann kommen lassen, kommen lassen und dann kommt es
bei der Frau und auch bei dem Manne. Die können Kopfeindrücke machen.
Gehirnanschwellungen machen, Samen entziehen. Die haben mich auch schon
angefaßt.“
(Gestalten?) „Ja, sicher sehe ich die.“ (Wo?) „Im After, in der Scheide,
im Rachen.“ (Verfolgt?) „Ja. ich kämpfte doch damit.“
In der Folgezeit läßt der heitere Rededrang nach, Wahnideen und Sinnes-
täuschungen bleiben hestehen. Im Oktober meint er, „die Stimmen hören nie
auf“, die rufen ihm immer noch Unanständiges zu. Ist trotzdem stets euphorisch.
— Beschäftigt sich regelmäßig.
17. 2. 1925. Fragt bei der Visite: „Wann werde ich denn mal vernommen.
ich könnte Ihnen ganz tolle Sachen erzählen.“ Lächelt dabei geheimnisvoll, ist
offenbar über die Art seiner Sinnestäuschungen amüsiert.
1. 4. 1925. „Ich kenne dieses Geheimnis, das mir aufgelegt worden ist.
Es ist Hypnose. Hypnose geht weiter bis zur Verklärung. Ein ganzer Mensch
kann es nieht sein, sondern Tiere. Denn die können sich verklären in mehrere
— 119 —
Gestalten: 1. In Maikäfer oder in Bienen oder in Hausfliegen und als Wurm
können sie auch gehen. Diese Tiere können besetzen den Rachen, Stimmgabel
und Gehör, Augen und After und sind imstande, sämtliche Krankheiten zu
setzen, wenn sie ausgebildet sind. Um dieses zu beseitigen, schlage ich, als Un-
wissenschaftlicher, Medizin vor. Diese Medizin muß viele Bestandteile haben,
möglichst salzig, auch Schlafpulver. Wenn ich solche Tiere totschlage, oder
wenn ich abends im Bett liege, nehmen sie andere Gestalt an; einige bleiben da
zur Beaufsichtigung. Sie können in sämtliche Körperteile, wo Löcher drin sind,
hineingehen. Diese Tiere sind imstande, jeden Menschen bei Tage und be-
sonders bei Nacht zu beeinflussen. Sie können besonders nachts mit den Ge-
danken Spiel inszenieren.“
(Dämonensprache?) „Jeder, der diese Krankheit besitzt, ist besessen. Die
Dämonensprache ist die innerliche Sprache. Ich bin imstande, mit jedem der
besessen ist, zu sprechen.“
(Sprechen die Tiere auch mit Ihnen?) „Ja, natürlich, entweder mit meiner
Stimme oder mit ihrer Stimme. Es sind immer Männerstimmen, die kennen
mich durch und durch. Sie sagen immer, es wären auch ein paar Frauen da-
bei, aber ich glaub’ das nicht.“
(Was sagen die Stimmen?) „Die erzählen alles. Die treiben mich be-
ständig nach Haus. Die Stimmen, die gehen bei die Weiber, die kriechen in
die Scheide, gehen tätlich vor, befriedigen die Weiber. Wenn Mann und Frau
belastet sind, dann sind die Tiere auch bei der Frau. Die Stimmen haben mich
jetzt das ganze Jahre belogen, die sprechen kein Wort die Wahrheit. Aber
jetzt sind sie nur nachts da.“
Fragt dann zweifelnd, ob die Tiere auch durch den Geschlechtsteil in den
Hoden klettern können. Hat entsprechende Körpersensationen und sich auch
schon zum Schutz den Penis verbunden.
(Wer macht die Verfolgungen?) „Das muß Hypnose sein. Wer Hypnose
gelernt hat, wird die machen. Das sind perverse Menschen, die sich gern auf
anderer Leute Knochen legen. Daß das Bekannte sind, ist klar. Ob meine Frau
die kennt, weiß ich nicht. Das sind 5 oder 6 Mann.“
Er gibt an, daß diese Erscheinungen ganz plötzlich im Januar 1924 in einer
Nacht begonnen haben. Später sei er Tag und Nacht belästigt worden; jetzt
wieder nur Nachts. „Im Guten fingen sie an ‚ich bin Gott‘, von der anderen
Seite ‚ich bin Jesu‘. Als ich frech wurde, sagten die Stimmen: ‚Wir schneiden
dir den Kopf ab, wir sind 20 Mann‘.
AuBerlich bleibt E. unauffällig. Durch das Zurückgehen der Stimmen am
Tage hält er sich für außerordentlich gebessert und bedrängt seine Frau sehr,
ihn abzuholen. Wird am 23. 4. 1925 leicht gebessert entlassen.
Katamnestische Erhebungen ergaben, daß E. kurz nach seiner Entlassung
aus der Anstalt die Arbeit wieder aufnahm, daß Wahnideen und Sinnes-
täuschungen nach einigen Monaten vollkommen abgeklungen waren, daß E.
völlig unauffällig lebte. Er trank nicht mehr.
Zusammenfassung: In der Haft erkrankte der 47jährige,
stark schwachsinnige E. mit abstrusen, Wahnideen und Sinnes-
täuschungen mehrerer Sinnesgebiete. Der Zustand erreicht eine hohe
Intensität, hält länger als 114 Jahr an, davon länger als 1 Jahr nach
— 120 —
Beendigung der Haft und klingt ganz allmählich wieder ab. Defekt-
symptome bleiben nicht zurück.
Schon das hohe Alter zu Beginn der Erkrankung machte die An-
nahme einer sich entwickelnden Schizophrenie unwahrscheinlich. Der
weitere Verlauf mit dem endgiiltigen Ausgang in Heilung schlieBt
das Vorliegen einer Schizophrenie in schliissiger Weise aus.
Dagegen ist der Aushruch der Psychose in der Haft nicht als
zufällig zu betrachten. Solche Störungen sind seit den Arbeiten von
Rüdin (1), Wilmanns (1) u. a. klinisch gut bekannt und sind
gerade bei Schwachsinnigen nicht selten. Es kommt weiter hinzu,
daß nach Rüdin (2) besonders gern bei wiederholter und länger
dauernder Strafe solche halluzinatorische Zustände auftreten.
Die Psychose des E. ist jedoch so eigenartig, daß sie als Haft-
psychose nicht genügend charakterisiert ist. Ihre Eigenart zeigt sie
in Symptomengestaltung und Verlauf.
Ungewöhnlich ist die Psychose durch das Fehlen irgendwelcher
Beeinflussungs- und Verfolgungsideen durch Staatsanwalt, Gefängnis-
direktor, Mitgefangene oder Gefängniswärter, die sonst fast stets die
Grundlage der halluzinatorischen Gefängnispsychosen bilden. Nur
ganz im Beginn der Psychose scheinen die Stimmen — „sei still, wir
schneiden dir den Hals ab; wir sind 20 Mann“ — den angsterregenden
persekutorischen Charakter gehabt zu haben, wie er sonst bei Haft-
psychosen üblich ist. Von da an nehmen die Halluzinationen und
Wahnideen einen phantastischen Charakter an und stehen scheinbar
nicht mehr mit der Situation, aus der sie erwachsen sind, im Zu-
sammenhang. Nur in der sexuellen Färbung bewahren sie offenbar
den Zusammenhang mit der Situation des Gefangenen.
Diese Abweichung in der Symptomgestaltung würde allein nicht
ausreichen, der Halluzinose des E. eine Sonderstellung zuzuschreiben.
Hinzu kommt die Besonderheit des Verlaufs, die lange Dauer. Es ist
auffallend und ungewöhnlich, daß eine derartige Psychose nach Ent-
lassung aus der Haft und nach Beendigung der Freiheitsstrafe nicht
in kurzer Zeit abklingt. Ein Äußerer — etwa sozialer — Anlaß für
die Zweckmäßigkeit zur weiteren Unterhaltung der Psychose in der
Freiheit ist bei E. nicht erkennbar. Es müssen also andere Faktoren
als die, die sonst eine Haftpsychose verursachen, mitgewirkt und die
Dauer der Psychose bestimmt haben. Als einer dieser Faktoren käme
Alkoholismus in Betracht. Aber selbst, wenn man annimmt, daß
Alkoholmißbrauch die Psychose in der Zeit zwischen Haftentlassung
und Anstaltsaufnahme erhalten hat, bleibt die lange Fortdauer nach
Alkoholentziehung ungewöhnlich.
— 121 —
Wir müssen daher nach anderen, konstitutionellen oder disposi-
tionellen Gründen suchen, die die Halluzinose des E. unterhalten.
Eine körperliche oder zerebrale Erkrankung als Ursache ist aus-
zuschließen. Dagegen scheint der Alkoholismus des Vaters und sein
späterer Verfolgungswahn für eine familiäre Veranlagung zu
sprechen, und das dürfte auch für die Psychose des E. nicht be-
deutungslos sein. Daneben ist aber auch mit Sicherheit der Schwach-
sinn als ein Faktor anzusehen, der die Dauer der Psychose ursäch-
lich bestimmt. Der einzelne Fall kann diese Ansicht nur wenig
stützen, aber die Gesamtheit der episodischen Halluzinosen ‘spricht
unzweifelhaft dafür, daß der Schwachsinn selbst als derjenige Faktor
zu betrachten ist, der die lange Dauer der Halluzinose verursacht.
In den 9 Fällen dieser Gruppe betrug die Dauer der Halluzinose im ersten
Fall 16 Monate, im 2. Fall 6 Monate, im 3. Fall 1% Jahr, im 4. Fall 7 Monate,
im 5. Fall 1% Jahr, im 6. Fall 10 Tage, im 7. Fall 4 Monate, im 8. Fall 20 Monate
und im 9. Fall 7 Monate; sie war also nur in einem Fall von kurzer Dauer.
` Die Sinnestäuschungen des E. sind besonders auffällig. Sie haben
eine außergewöhnliche Herkunft und einen amorphen Charakter, der
zeitweilig an ihrer Natur als Sinnestäuschungen zweifeln läßt. Jeden-
falls ist an vielen Stellen der Übergang in Wahnideen ein fließender.
Es kann jedoch das Vorkommen von Sinnestäuschungen nicht völlig
geleugnet werden. Der Kranke selbst bezeichnet seine Empfindungen
als „Stimmen hören“, und das Vorhandensein derartiger Gehörs-
täuschungen ist wenigstens zeitweilig als sicher anzunehmen. Eben-
so kann an dem Vorkommen von optischen Halluzinationen und von
Körpersensationen nicht gezweifelt werden. Merkwürdig ist, daß er
die Gestalten in allen Körperöffnungen hört und sieht in einer Art
Synästhesie. Es soll hier nicht die nähere Natur dieses Vorganges
untersucht werden, doch bestätigt sein Vorkommen die Ansicht
Schröders (2, 4), der betont, daß der Als-Ob-Charakter der
Phoneme bei defekten Kranken besonders leicht verloren geht. Diese
Meinung ergab sich uns bereits durch die Untersuchung früherer
Fälle, z. B. der Fälle Lohr und Mier und drückt sich auch in der in
der Einleitung dieses Abschnittes erwähnten häufig unbestimmten
Art der Sinnestäuschungen aus. So sehen wir also den Schwachsinn
als pathogenetischen und pathoplastischen Faktor in die Halluzinose
eingreifen.
Dieselbe Beobachtung ergibt sich aus den anderen Fällen dieser
Gruppe. In diesen Fällen, in denen Alkoholismus und Haft nicht die
Rolle spielen wie bei E., tritt der Gedanke an die verursachende Be-
deutung des Schwachsinns noch stärker hervor.
— 122 —
Fall 28. Elisabeth Eller; geb. 31. 12. 1884.
Erste Aufnahme am 13. 9. 1917. Seit etwa 4 Wochen bestanden Schiaf-
losigkeit, Kopfschmerzen, Sinnestäuschungen und Erregungen.
Bei der Aufnahme war sie unruhig, schimpfte nachts, lief viel umher.
machte einen schwachsinnigen Eindruck, war sehr redselig, sprach konfus.
Sie komme jetzt aus K. Der Kaiser habe das angeordnet, wer die meisten
Birnen habe und wer für rein befunden würde. Bei ihrem Großvater habe ein
altersschwarzes Bild gehangen, sie habe gesagt es sehe aus wie der Teufel, da
sei es weggenommen worden. Sie habe Nonne werden wollen, sei 1% Jahr hei
den Franziskanerinnen in A. und B. gewesen. Man habe sie aber weggeschickt.
sie habe nicht genug Nächstenliebe, sie sei noch zu stolz. Danach sei sie alle
die Jahre bis jetzt als Mädchen in K. im Kloster gewesen und habe dort ge-
arbeitet. Sie habe viel mit dem Kaiser zu tun. Jetzt sei sie in die Anstalt ge-
kommen, weil sie so aufgeregt und arg nervös sein solle. Das komme vom
Krieg. Nachts sei sie im Bett in den Ruinen herumgefahren, das habe sie nicht
etwa geträumt, sondern es sei wirklich so gewesen. Einmal seien alle Schwestern
und die ganze Welt so mitgefahren. Sie sei in die Luft hereingeflogen, dann in
ein Zimmer getan worden, wo Geschlechtskranke gewesen seien, es wurde ge-
sprochen, als wenn sie sich mit den Soldaten aufgehalten hätte: sie habe Holz-
werk gesehen und sei über das unterirdische Wasser in den Ruinen gefahren.
Gott Vater sei selber gekommen und habe eine Ecke im Himmel aufgemacht.
Das Kaiserpaar sei durch den Schornstein in die Höhe gekommen, der Schwarze
und Bismarck. Der Schwarze sei sie selbst gewesen, sie sei verdolemtscht oder
verdoppelt worden. Gott Vater habe mit dem flammenden Schwert dagestanden.
die heilige Dreifaltigkeit. Der Teufel habe sie aus dem Schornstein geholt und
Bismarck habe ihr Blattläuse auf den Kopf gestreut. Die heilige Dreifaltigkeit
habe sie in die Höhe gehoben und sie ans Fenster gestellt, da sei der Schwarze
aus ihr herausgeflogen und erfroren.
Sie läuft dabei viel umher, ist unruhig, schimpft und singt. Ist besonders
nachts sehr lebhaft und beklagt sich morgens, daß sie nicht in Ruhe gelassen
werde, man mache ihr Schattenbilder an der Wand vor, wer das tue, wisse
sie nicht.
Der Zustand steigert sich in der ersten Zeit nach der Aufnahme noch: die
Sinnestäuschungen werden stärker, der Rededrang nimmt zu, wird zeitweilig
zerfahren, die Unruhe wird größer. Dieser Zustand hält bis April 1918 in un-
verminderter Stärke an.
Von Mai 1918 an tritt eine deutliche Beruhigung und Besserung ein, im
Juni fängt sie an sich zu beschäftigen, hält sich äußerlich geordnet. spricht
spontan nicht mehr von ihren Wahnideen und Sinnestiuschungen, gibt aber im
August auf Befragen noch zu, mit dem Kaiser in Verbindung zu stehen. durch
elektrische Ströme im Keller und durch Dynamitbomben geblendet zu werden.
Bis zum Ende des Jahres spricht sie auch auf Befragen nicht mehr davon, als
Erinnerung sind ihr „Schattenbilder“ zurückgeblieben, die sie gesehen habe.
Einen Grund für das Auftreten der Schattenbilder kann sie sich nicht denken.
Sprachlich, motorisch und im Gedankengang ist sie geordnet, machte ge-
regelte Angaben zur Vorgeschichte, gibt Auskunft über ihre Eltern (Vater ver-
unglückt, Mutter an Ca. gestorben), Geschwister und die weitere Familie. in
der ihr von geistiren Störungen, Alkoholismus usw. nichts bekannt ist. Sie
selbst sei immer beschränkt gewesen. habe in der Schule schlecht gelernt, sei
— 123 —
mehrfach sitzen geblieben, habe nach der Schulzeit Typhus gehabt: sei einige
Zeit im Kloster gewesen, habe sich aber dazu nicht geeignet; sei seitdem immer
Dienstmädchen gewesen.
Sie ist klar, geordnet, orientiert. Merkfähigkeit ungestört. Schulwissen
gering, Rechenvermögen sehr schlecht, Begriffs- und Urteilsbildung sehr dürftig.
Wird am 10. 3. 1919 genesen entlassen.
2. Aufnahme am 14. 10. 1927.
Über den Beginn der diesmaligen Erkrankung ist nichts Näheres bekannt
geworden. — Körperlicher Befund o. B.
Bei der Aufnahme redet sie ununterbrochen, der Affekt ist indifferent, das
Benehmen ausgesprochen theatralisch. Auf der Abteilung ist sie sehr unruhig.
sträubt sich beim Ausziehen, läuft schimpfend im Saal umher, schlägt und tritt.
Schläft nachts nur kurze Zeit, ist laut, sagt, „ich war schon vor 10 Jahren hier.
ich bin nicht krank; meine Kinder hat man mir geraubt,“ führt viel fromme
Redensarten, weint, ist kaum im Bett zu halten, ständig laut.
Bei der Untersuchung sitzt sie dagegen ruhig auf ihrem Stuhl, ist fixier-
bar. Persönlich, zeitlich und örtlich ist sie völlig orientiert. Erkundigt sich,
als der Arzt auf die Uhr sieht, wieviel Uhr es sei.
(Weshalb hierher?) „Weshalb, das weiß ich selbst nicht, ich meine immer
man hat mich vergiftet.“ (Wer?) „Herr Dr. St. hat mir immer gesagt, ich wäre
vergiftet, der hat mich untersucht.“ (Weshalb untersucht?) „Ich hatte so ein
schlimmes Knie, nachher hat es mir so weh im Geschlecht getan.“
(Wann hier?) „Vor 10 Jahren. Der Herr Dr. D. war damals hier.“ (Wie
lange?) „Beinahe 2 Jahre.“ (Weshalb?) „Da war ich schwächer wie heute, da
hatte ich Unterernährung, da hat man mich schlimmer betäubt wie jetzt.“ (Da-
mals betäubt?) „Ja, sicher oben im Kopf, das war ja so schlimm.“ (Jetzt auch?)
„Jetzt nicht.“ (Wann in K.?) „Vor 8 Jahren bevor ich hierher kam.“
(Warum aufgeregt?) „Ich bin doch nicht aufgeregt.“ (Doch.) „Da soll
man nicht aufgeregt werden, mein Gott hat mir doch selbst gesagt, die Toten
sind von den Gräbern aufgestanden. Sie müssen es selbst doch wissen, was los
ist.“ (Stimmen?) „Ja, ich bin auch mit Stimmen verbunden, elektrisch.“
(Fühlen?) ..Nee, das fühl ich nicht; als man so ein Jucken, das fühl ich wohl.“
(Gestalten?) „Nein, Gestalten sehe ich keine, das hab ich früher mal gesehen, da
war ich krank.“ (8 Jahre lang Stimmen gehört?) „Ach nee. das ist ja jetzt erst
14 Tage, der Apotheker wirds wohl wissen in Düsseldorf, der Dr. K., der weiß Be-
scheid.“ (Schlaf?) „Ich habe fast nichts geschlafen.“ (Stimmung?) „Ach, wie soll
die sein. Mit Gott ist meine Stimmung gut: ich habe ein ruhiges Gewissen. Sie
sind mit den Augen am knipsen, das brauchen sie gar nicht zu tuen. Sie sind
doch der Doktor oder kein richtiger Arzt?“ (Immer in Stellung?) ‚Ja, sicher.“
(Oft gewechselt?) „Nein, ich bin jetzt über 8 Jahre in einer Stellung gewesen.“
Macht geordnete Angaben zur Familien- und Eigenanamnese. Psychischer
Befund, Intelligenzbefund usw. wie früher. — Der Zustand hält bisher ziemlich
unverändert an. Die Prognose wird günstig gestellt.
Zusammenfassung: Die 35jéhrige Schwachsinnige (Debile)
Elisabeth E. erkrankt ohne äußeren Anlaß mit Sinnestäuschungen,
Wahnideen, Unruhe. Die Sinnestäuschungen sind hauptsächlich
optischer Natur, doch betreffen sie auch die Körperfühlssphäre. Die
Halluzinationen haben szenenhaftes Gepräge. Allmählich tritt eine
Neustadt, Die Psychosen der Schwachsinnigen (Abhdl, H. 48), 9
— 124 —
deutliche Verwirrtheit hinzu. Nach Monaten klingt die Psychose
langsam ab und geht schließlich in Heilung über. Nach 10 Jahren
Wiedererkrankung mit Unruhe, optischen, akustischen Halluzina-
tionen, Körpersensationen; Beziehungsideen, Vergiftungsfurcht. Der
Zustand hält vorläufig noch an.
_ Elisabeth E. fällt durch die Verwirrtheit, besonders während der
ersten Erkrankung, aus dem Rahmen dieser Gruppe. In den meisten
Fällen dieser Gruppe waren Erregung und Verwirrtheit nicht vor-
handen, wie im Fall Ekkehard, oder nur eben angedeutet. Besonnen-
heit herrscht vor. Trotzdem wurde der Fall zu den Halluzinosen ge-
rechnet, weil die Sinnestäuschungen eher auftraten und länger an-
hielten als die Verwirrtheit. Es zeigt aber der Fall, wie überall
zwischen den Symptomenkomplexen die Grenzen fließende sind, wie
gerade in diesem Fall die Grenze gegenüber den Verwirrtheits-
zuständen verwischt ist. Es gilt daher alles, was über die Verwirrt-
heitszustände gesagt wurde, auch für Eller. |
Die Gründe, die in diesem Fall zur Halluzinose führten, sind
nicht klar. Alkoholismus liegt nicht vor, ebensowenig eine andere
exogene Noxe oder psychogene Verursachung. Über familiäre Ver-
anlagung zu Psychosen allgemein und besonders zu Halluzinosen ist
nichts bekannt geworden. Aber selbst wenn eine solche Veranlagung
familiärer Natur vorhanden wäre, muß sie noch durch Inanspruch-
nahme pathogenetischer Zwischenglieder aktiviert werden. Als einer
dieser Aktivatoren ist sicher der Schwachsinn anzusehen. Wir folgern
das aus der Zahl der Halluzinosen, für die eine neu erworbene Ursache
nicht nachgewiesen ist. Welche anderen Faktoren allerdings letzten
Endes den Anlaß zur Halluzinose geben und welche ihr Abklingen
nach langen Monaten verursachen, bleibt wieder unklar.
Im Falle Eller fehlen anamnestische Angaben über die prä-
psychotische Persönlichkeit; es ist dieses der einzige Fall der Gruppe,
in dem Angehörige keine Auskunft geben konnten. Von den übrigen
wurde ein Fall als freundlich, lebhaft, heiter geschildert, die rest-
lichen 7 Fälle übereinstimmend als stille, zurückgezogene Menschen
bezeichnet mit deutlicher Selbstunsicherheit und Neigung zum Ver-
sagen. Ob in einer derartigen psychischen Konstitution eine be-
sondere Affinität zu Halluzinosen begründet ist, soll im Zusammen-
hang mit den chronischen Halluzinosen besprochen werden.
Im Lebensalter bevorzugten die Halluzinosen das 4. Lebensjahr-
zehnt; ein Fall war unter 20 Jahren, ein Fall unter 30 Jahren (dieser
Fall ist durch Alkoholismus kompliziert), ein Fall über 40 Jahre, die
übrigen Fälle standen zur Zeit ihrer Erkrankung zwischen dem 30.
— 125 —
und 40. Lebensjahr. Eine besondere oder eindeutige familiäre Ver-
anlagung zu Psychosen ließ sich nicht nachweisen.
Die äußere Trennung nach dem Verlauf in episodische und
chronische Halluzinosen ließ auch eine innere Wesensverschiedenheit
erwarten. Diese Erwartung wird jedoch durch die klinischen Tat-
sachen nicht bestätigt. Der größere Teil der chronischen Halluzi-
nosen unterscheidet sich von den periodischen eben nur durch den
Verlauf; für die Wertung des Gesamtvorganges der Halluzinose er-
scheint diese Differenz nur wenig bedeutungsvoll. In einem kleineren
Teil der chronischen Halluzinosen treten aber allmählich zu ihnen
fremdartige psychische Elemente hinzu, die weder dem Schwachsinn
noch der Halluzinose an sich eigen sind. In diesen Fällen, in denen
es zur Entwicklung eines schizophrenen Prozesses kommt, liegt eine
innere Wesensverschiedenheit gegenüber der Mehrzahl der episodi-
schen und chronischen Halluzinosen vor.
Es soll diese Gruppe mit der kurzen Schilderung eines Falles be-
ginnen, dessen Verlaufseigenart teils die enge Verbindung der chro-
nischen mit den episodischen Halluzinosen erkennen läßt, teils dem
Fall eine Sonderstellung unter allen hier beobachteten Halluzinosen
zuweist.
Fall 29. Braun, Johann; geb. 27. 1. 1872.
Aufgenommen am 7.5. 1924.
Von der Familie Braun ist nur bekannt, daß eine Schwester des Patienten
gesund lebt. Der Kranke selbst entwickelte sich spät, lernte erst im vierten
Lebensjahr laufen, lebte seit Jahren in einem Ptlegehaus.
Seine Erkrankung begann im Jahre 1922 mit Kopfschmerzen, später traten
Verfoleungsideen hinzu. B. wurde zunehmend unruhiger, brannte nachts Licht,
da er glaubte, daß er ermordet werden sollte. Konnte wegen der zunehmenden
Unruhe nicht in dem Pflegeheim bleiben.
An körperlichen Störungen zeigte B. verbildete Ohrmuscheln, angeblich
als Frostfolgen, wahrscheinlich als Resterscheinung früherer Ohrhämatome; der
Knochenbau war im allgemeinen grazil; dagegen war das Gesicht grobknochig,
plump; der rechte Mundwinkel hängt herab; die Patellarretlexe sind gesteigert;
Patellarklonus beiderseits, Fußklonus rechts; Hypertonie der unteren Extremi-
täten, rechts = links; Adduktorenspasmus rechts = links; linkes Bein im
ganzen 3 cm dünner als rechtes; sonstiger Befund o. B.
Bei der Aufnahme zeigt er sich ängstlich, sagt: „Mir ist ein Todesurteil
von der Direktion gefällt.“ Ist im übrigen ruhig, aufmerksam, faßt Fragen
richtig auf, ist orientiert; Gedächtnis ohne grobe Lücken, Merkfähigkeit nicht
herabgesetzt. Die Stimmung ist indifferent, dabei ist B. leicht argwöhnisch, so
will er z. B. seinen Namen nicht schreiben, in der Annahme, er könne etwas
für sich Ungünstiges unterschreiben. Kann kaum lesen und schreiben. Schul-
kenntnisse, Rechenvermögen sehr dürftig. Urteils- und Unterschiedsfragen, auch
einfachster Art, werden nicht beantwortet. Binet-Simon: A, S. 6/7.
G*
— 126 —
Zur Vorgeschichte gibt er u. a. an, außer Zahnschmerzen und Kopf-
schmerzen in der letzten Zeit habe er keine Krankheiten durchgemacht. Gibt
aber im selben Augenblick an, er sei immer viel krank gewesen. Die Beine
seien von frühester Jugend an „schief“ gewesen, der. linke Fuß sei früher
schlimmer gewesen als heute. In der Schule habe er gut gelernt (!), einen Beruf
habe er nicht erlernen können. Da die Eltern früh gestorben seien, habe er bei
Verwandten etwas im Haushalt geholfen. Nach deren Tod sei er ins Pflege-
heim in L. gekommen.
Dort habe man ihn in der letzten Zeit verstoßen, alles sei durch einen
Diakonen gekommen, der ihn habe abschlachten wollen. (Krank?) „Krank
direkt nicht, ich bin hier zur Erholung.“ (Weshalb?) „...wegen ... wegen —
ich war mal so schwindelig, ich habe mal so allerhand gesprochen.“ (Verfolgt?)
„Da war einer in dem Hause da, der war immer mit mir am reden.“ (Wer?)
„Das war ein Diakon, den hörte ich immer sprechen.“ (Was?) „So Redensarten.
der muß sterben, der soll sterben.“ (Wer sagt das?) „Das muß wohl von dem
Diakon kommen.“ (Jetzt noch?) „Jetzt gerade nicht, aber gestern noch.“ (Sonst
noch was?) „Nein, das ist hauptsächlich der Diakon. sonst nichts Besonderes.“
(Gestalten?) „Weitere Gestalten sehe ich nicht.“
In der ersten Zeit seines Aufenthaltes ist B. ziemlich unauffällig. er redet
zwar manchmal noch von dem Diakon, der noch über ihn spricht, wird jedoch
wenig davon beeindruckt. Er ist gutmütig, anstellig für einfache Arbeiten, hilfs-
bereit zu anderen Kranken. schwachsinnig-zutraulich und freundlich.
Im Dezember 1925 fällt er durch sein verändertes Wesen auf. Er ist reiz-
bar, unverträglich, ständig in leichter Erregung. Schimpft hinter der Visite her:
„Der Professor will mich töten.“ Nach dem Grund dieser Ansicht befragt. er-
klärt er, das werde ihm vorgehalten. Er höre das: „Du wirst ermordet, wirst
geschlachtet. Der Professor ist damit einverstanden.“ Das höre er jetzt fast
täglich bei Tag oder Nacht. „immer wird davon geredet“. Er höre das ganz
deutlich von oben, von überall her — aber nicht vor dem Fenster und unter
dem Bett — er höre das so deutlich, als ob einer mit ihm spräche. Fügt gemiit-
lich lächelnd hinzu: „Meinen Sie denn, das ist Einbildung? Nee.“ (Doch. das
meine ich.) „Sicherlich nieht, und dann sollte ich eingesperrt werden, wenn
Besuch da wäre, da sollte ich mich nieht sehen lassen, das höre ich.“ (Hören
Sie eigene Gedanken?) „Nee, das sind nicht meine Gedanken. Ich kann Ihnen
die Namen nicht alle nennen, ich kenn" sie ja nicht alle. Aber der Herr Leh-
mann (ein anderer Kranker) ist auch immer am Sticheln und viele andere hier
auf der Abteilung.“ Verträgt sich nieht mehr mit seinen Mitkranken und wird
deshalb auf eine andere Abteilung verlegt.
Dort ist er nach einigen Tagen wieder unauffällig und wie früher schwach-
sinnig-heiter. Im April 1925 versucht er aus der Anstalt zu entweichen, wird
eingeholt und wehrt sich äußerst heftig gegen eine Zurückbringung in die An-
stalt. Zeigt lebhafte Angst, schreit laut, weil er geschlachtet werden solle:
brüllt mehrere Stunden lang hintereinander vor Angst, beruhigt sich dann und
ist nach ein paar Tagen wieder in seinem gewöhnlichen Zustand. Er ist nur
zeitweilig etwas mißtrauisch und fürchtet. daß der Lehmann ihm was antuen
werde: ist sonst unbektimmert,
Im August 1925 macht er wieder einen solehen Zustand durch, wobei die
Angst jedoch weniger stark hervortritt als früher. — Wird am 27. 1. 1926 in die
Anstalt B. verlegt. nachdem er bis zu dieser Zeit unauffällig war.
— 127 —
In B. machte er im Februar und März 1926 wieder ähnliche Zustände durch.
Behauptet durch die „Naturstimmen‘“ aufgezogen und geärgert zu werden. Er
höre, er müsse die Anstalt verlassen. „Ich weiß ja, daß man mich in Grafenberg
schlecht gemacht hat.“ In B. höre er nur, er solle die Anstalt verlassen.
In einem neuen Zustand von Angst, Erregung und Halluzinationen im
Oktober 1926 hört er dagegen wieder, er solle geschlachtet werden. Hat Angst,
daß man ihn in die Anstaltsmetzgerei holt. Die Kommunisten wollten ihn auf
dem Schlachthof schlachten. — Solche Zustände sind seither noch mehrfach
aufgetreten, beklagt sich z. B. einmal über seine Mitpatienten: „immer das
Drohen mit Mord“. In den Zwischenzeiten lebt er friedlich. fleißig und zu-
frieden dahin.
Zusammenfassung: Der hochgradig Imbezille Johann Br.,
der außerdem die Resterscheinungen einer zerebralen Kinderlähmung
zeigt, erkrankt mit 50 Jahren an einer Psychose mit Wahnbildung
und Gehörshalluzinationen bedrohlichen Inhalts. Der Inhalt der ge-
sprächsweise wahrgenommenen Halluzinationen besagt eine Be-
drohung seines Lebens, die von ihm bekannten Personen ausgeht.
Die Halluzinationen sind Init lebhafter Angst verbunden. Derartige
Zustände steigen schnell an und klingen gewöhnlich in kurzer Zeit
ab. Sie treten in Zwischenräumen von 1 bis 6 Monaten auf. In der
Zwischenzeit, in der eine volle Korrektur der Wahnbildung nicht ein-
tritt, schwankt B. zwischen leichtestem Mißtrauen und schwach-
sinniger Heiterkeit. Der Konnex mit der Umwelt bleibt stets lebhaft,
in der Psychose im Sinne einer lebhaften Ablehnung, in der
Zwischenzeit im Sinne einer offenen Freundlichkeit, eines aus-
gesprochenen sozialen Gemeinschaftsgefühls und Hilfshereitschaft.
Die Halluzinose des Braun ist mit der Terminologie der Körper-
medizin als „chronisch-rezidivierend‘‘ zu bezeichnen. Chronisch ist
die Wahnbildung, die nie ganz zurückgeht, rezidivierend die Hallu-
zinationen. Aber die Wahnbildung steht im engen Zusammenhang
mit den Sinnestäuschungen, solange er nicht unter dem Einfluß
von Sinnestäuschungen steht, kümmert ihn seine Wahnbildung
nicht. Dieser kommt daher kein selbständiger Krankheitswert zu.
Es wurde die Psychose des Braun daher den Halluzinosen zugezählt.
Als chronische Halluzinose wurde sie bezeichnet, weil der gesamte
Krankheitsvorgang als einheitlicher betrachtet wurde.
Wie ist nun der Krankheitsvorgang zu verstehen? Da in den
äußeren Verhältnissen des Braun sich nichts geändert, da Alkoholis-
mus nicht in Frage kommt, wird man nach endogenen Ursachen
suchen. Obwohl eine Arteriosklerose während seines hiesigen
Aufenthaltes nicht oder noch nicht nachzuweisen war, wird man,
- bei dem Fehlen jeglicher anderer erkennbarer Ursachen, in Alters-
— 128 —
vorgängen die wesentlichste Ursache zum Ausbruch der Halluzinose
zu sehen haben. Eine derartige Annahme ist durch die Erfahrungen
bei Vollsinnigen in der beginnenden Rückbildung nicht gestützt. Man
wird daher den Schwachsinn und die in diesem Falle grobe mani-
feste Hirnschädigung als pathogenetischen Hilfsfaktor nicht unbe-
rücksichtigt lassen dürfen. Durch das Zusammentreffen von Rück-
bildungsvorgängen mit Hirnschädigung ist dann die genügende
Grundlage für die Halluzinose gegeben.
Die Gestaltung der psychotischen Symptome selbst ist in vielen
Einzelheiten unverkennbar durch den Schwachsinn beeinflußt, so in
der fehlenden Korrektur der Wahnbildung in der psychosefreien Zeit.
dem Herkommen der Halluzinationen aus dem allernächsten jeweili-
gen Gesichtskreis usw. Die Gründe, die das An- und Abschwellen
der Halluzinationen bedingen, sind unklar.
Die Psychose des Braun ist der einzige Fall mit chronisch-inter-
mittierendem Verlauf. Die übrigen chronischen Halluzinosen zeig-
ten den üblichen Verlauf mit einer ständig fast gleichmäßigen Stärke
der Halluzinationen wie der folgende Fall.
Fall 30. Franz Leubach, geb. 8. 4. 1877.
Erste Aufnahme am 11. 2. 1924.
L. hat seit einigen Wochen die Idee, man wolle ihm etwas antun, hört
Stimmen. die ihm zurufen: „Du wirst erschossen,“ ist deshalb aufgeregt und zer-
schlägt zu Hause die Möbel. Droht damit. sich zu erhängen.
Körperlich zeigt L. mikrozephalen Turmschädel, Schädelumfang 50 cm,
Schwerhörigkeit rechts (alte Otitis media), alte Fraktur des linken Oberarm-
kopfes mit Verkürzung, Schwächung und Bewegungseinschränkung. Sonst kein
pathologischer Befund.
Ist bei der Untersuchung klar. ruhig, zeigt angemessenen Affekt. Gibt u.a.
zur Vorgeschichte an, daß der Vater Trinker war, mit 47 Jahren gestorben ist.
Mutter und 5 Geschwister sollen gesund leben. Über Geisteskrankheiten in der
Familie weiß er nichts. Als Kind habe er mehrfach Augenerkrankungen durch-
gemacht. In der Schule habe er schlecht gelernt. war in der Hilfsschule. Nach
der Schulzeit erlernte er zuerst das Maurerhandwerk. Nach dem Tode seines
Vaters setzte er das aber nicht fort. sondern ging in die Grube. Danach war
er als Ausschachter beschäftigt. Von 1916—1918 saß er wegen Felddiebstahls
im Gefänenis. Dort kam er mit dem linken Arm in eine Drahtseilbahn. Nach
der Entlassung aus dem Gefängnis trieb er einen Lumpenhandel. Danach war
er als Notstandsarbeiter und seit 1921 als Hilfsarbeiter in einer Spiegelglas-
fabrik beschäftigt.
Vor dem Kriege habe er ziemlich viel getrunken und sei mehrfach wegen
Schlägereien in betrunkenem Zustand mit Freiheitsstrafen von 3—6 Monaten
bestraft worden. Er ist seit 27 Jahren kinderlos verheiratet, die Frau brachte `
aus erster Ehe 7 Kinder mit.
L. ist von sich sehr eingenommen, sagt z. B. auf die Frage: (Mit dem
Hute ... .?) „das ist ein Rätsel. Ich kann aber sonst alles, was ich gesehen
ar at > ee Une EEE
— 129° —
habe, ich bin ein schlauer Arbeiter, der alles gut kann.“ Der Affekt ist leicht
euphorisch. Denkvorgiinge gering. Urteilsfahigkeit herabgesetzt; Schulkennt-
nisse sehr gering. L. kann nur seinen eigenen Namen schreiben. Binet-Simon:
A. S. 8.
Kein Krankheitsgefühl. (Verfolgt?) „Ich glaube von der Arbeit aus.“
(Weshalb?) „Weil ich Spaß an der Arbeit habe.“ (Stimmen?) „Vor 8 Tagen habe
ich schimpfende Stimmen gehört, ich tät erschossen werden oder ähnliches.“
(Gestalten?) „Die habe ich gesehen vor 8 Tagen und schon früher, als ich den
Schrecken bekam. Man hat über mich gesprochen.“ (Was denn?) „Der muß
fort, heute abend da kriegen wir ihn in der Halle. — Ich konnte den ganzen
Abend nicht sprechen vor Schreck, und mein Bett hat gezittert.“ (Wann war
das?) „Schon vor 8 Wochen.“ (Und jetzt?) ..Ich beschäftige mich jetzt nicht
mehr damit, — ich will doch wieder arbeiten.“ (Alles richtig gehört und ge-
sehen?) „Ja, das war richtig, ich hab mir das alles zugezogen. Das alles ist
gekommen, weil ich so schlau und gut angesehen bin, darum, weil alle sich
auf mich verlassen konnten.“ Ein anderes Mal steht er jedoch zweifelnd zu
seinen Erlebnissen, weiß nicht, ob er alles richtig gehört habe, oder ob er es sich
nur eingebildet habe. Ein sicherer Anhaltspunkt für noch vorhandene Sinnes-
täuschungen findet sich nicht.
L. beteuert mehrfach, daß die Stimmen weg seien, daß er sie nur in der
Fabrik gehört habe. Wird auf Wunsch der Frau am 3. 3. 1924 entlassen.
Zweite Aufnahme am 29. 11. 1924, weil er sich in letzter Zeit wieder
stärker beeinflußt und verfolgt fühlte, hörte Stimmen: „Der wird erschossen.“
Meint, wenn ihm einer zu nahe käme, würde er schon mit ihm fertig werden.
Sofort nach der Aufnahme gibt er einem anderen ruhig im Bett liegenden
Kranken eine schallende Ohrfeige. Behauptet, der Kranke habe ihm mit Er-
schießen gedroht. Will am anderen Tag sich nicht an den Vorfall entsinnen
können.
Gibt an, er habe seit seiner Entlassung bis vor 6 Wochen regelmäßig ge-
arbeitet. Er habe sich damals wegen seines Ohrenleidens und wegen Magen-
beschwerden krank gemeldet. Er höre seit dieser Zeit wieder Stimmen: „Der
muß beseitigt werden; der muß sterben.“ Die Leute auf der Straße hätten ge-
sagt: „Das ist der Mann.“ Die Stimmen seien vollkommen sinnlich, als ob je-
mand mit ihm spreche: Nur der Neid der Leute wollte ihn beseitigen; er habe
nämlich eine große Erfindung gemacht, daraufhin könne er heute in jeder Glas-
fabrik ankommen. Die Stimmen seien mit Kopfschmerzen verbunden, hätten
zwar seit seiner Einlieferung in die Anstalt nachgelassen, seien aber noch vor-
handen.
Der Affekt ist tlach-euphorisch, gehoben. Mit einer Art Siegermiene, mit
verschränkten Armen und sichtbarem Stolz liegt er im Bett.
Der Zustand hält unverändert an. Gelegentlich hört er, daß die Mit-
kranken ihm nach dem Leben trachten, gerät dann in Streit. Hält auch sonst
an seinen Sinnestäuschungen fest und motiviert seine Wahnideen mit seiner
außerordentlichen Befähigung. Ein Beurlaubungsversuch miBlang.
Allmählich entwickelt er immer deutlichere Größenideen. Verlangt 25 Mil-
lionen, weil er festgehalten werde, oder verspricht dem Arzt entsprechende
Summen, wenn er ihn entlasse. Zeitweilig leugnet er, jemals Stimmen gehört
zu haben, dann steht er deutlich wieder unter dem Einfluß seiner Halluzina-
tionen, die ihm zurufen: „Nun mach mal voran.“ Die Stimmung schwankt
— 130 —
zwischen Gereiztheit und Euphorie. Wenn er unter dem Einfluß seiner Sinnes-
täuschungen seine Entlassung verlangt, die ihm abgelehnt wird, droht er mit
seinen Hilfsmitteln. die ihm zur Verfügung ständen, um seine Entlassung zu er-
zwingen.
Wird am 26. 1. 1926 in die Anstalt K. überführt. Lebt dort unverändert.
(laubt. man habe ihm sein Geld zurückgehalten. Jetzt sei das Geld in K. und
würde ihm nicht verabfolgt. Ein schweres Vermögen sei ihm vermacht worden.
Daß er in Grafenberg festgehalten worden sei. liege an dem Pfleger. Der Erst-
ptleger habe ihm öfter Gift ins Essen getan. Alle Pfleger seien daher verhaftet
worden. Er habe auch einen Hof in E. Auch sonst habe er noch alle möglichen
Sachen. Er habe auch hier das ganze Haus übernehmen sollen. Er stehe weit
über dem höchsten Staatsanwalt. Wenn der Arzt einmal niedergeworfen werde.
könne er ihn wieder hochstellen. Von Paris. Amerika und Indien sei Geld für
ihn gekommen. 60 Häuser gehörten ihm. Ganz R. gehöre ihm. Seine Pension
hetrage 800 Mark. Er habe nie gewußt, daß er so hoch gestanden habe. schon
als er noch beschäftigt gewesen sei. — Steht dabei dauernd unter dem Einfluß
von Sinnestäuschungen. Hört eine Mädchenstimme, die ihm zuruft: „Du be-
kommst dein Geld. Du kannst 30 000 Mann beschäftigen. Dir gehört alles“ usw.
Ist ständig gut gelaunt, euphorisch. Der Zustand hält bisher unverändert an.
Zusammenfassung: Im Alter von 47 Jahren erkrankt der
mikrozephale, hochgradig schwachsinnige Hilfsarbeiter Franz Leu-
bach mit Sinnestäuschungen, die anfänglich scheinbar schnell vorbei-
sehen, dann aber wiederkehren und jetzt seit Jahren ununterbrochen
bestehen. Schon von Beginn der Psychose an bestehen Wahnideen,
die zur Erklärung der Sinnestäuschungen dienen. Später nehmen
die Wahnideen immer mehr den Charakter von reinen Größenideen
an. Entsprechend dieser Wandlung der Wahnideen variiert der In-
halt der Sinnestäuschungen. Ein prozeßhafter Zerfall der Persön-
lichkeit ist nicht eingetreten. °
Es ist unschwer, in der Psychose das Zusammentreffen mehrerer
ursächlicher Faktoren zu erkennen. Was dabei über die ursächliche
Mitwirkung des Alkohols zu sagen ist, ist bereits bei Ekkehard ge-
sagt worden. Wie dort, kommt auch bei Leubach dem Alkohol mit
größter Wahrscheinlichkeit ursächliche Bedeutung zu, ohne daß aus
dem Alkoholismus allein die Halluzinose zu erklären ist. Mit dem
Fall Braun hat Leubach den Ausbruch der Halluzinose im beginnen-
den Rückbildungsalter gemeinsam. Überhaupt scheint die Zeit um
das 47. Lebensjahr herum für die psychotische Anfälligkeit des älte-
ren Schwachsinnigen besonders kritisch zu sein; s. a. oben Fall 22,
der ebenfalls mit 47 Jahren erkrankte. In Alkoholismus, Rück-
bildungsalter und Schwachsinn sehen wir die drei Ursachen, die bei
Leubach zur Halluzinose führten und die Psychose unterhalten.
Dureh seine Komplikation mit Alkoholismus und Rückbildung
ist der Fall Leubach keineswegs als Prototyp der chronischen Hallu-
— 131 —
zinosen zu bezeichnen. In den übrigen Fällen chronischer Halluzinose
handelte es sich um etwa 30—35jährige Patienten ohne Alkoholis-
mus. Bei dem Fehlen jeglicher anderer exogener Ursachen müssen
wir in diesen Fällen dem Schwachsinn bzw. dem Gehirndefekt einen
erhöhten Wert für die Entstehung der Halluzinose zumessen; wir
können jedoch nicht entscheiden, ob dieser erhöhte Wert des
Schwachsinns sich in einer erhöhten Labilität und einer Erschwerung
der Korrektur erschöpft, oder ob er als ursächlicher Faktor allein in
Betracht kommt.
Noch in einer anderen Beziehung unterscheidet sich der Fall
Leubach von dem Gros unserer chronischen Halluzinosen dieser
Gruppe. In jedem anderen Fall hätte die Krankengeschichte gezeigt,
daß neben den stets gleichbleibenden Halluzinationen keine wesent-
liche Wahnbildung vorhanden ist. Wenn trotzdem der Fall Leubach
als Repräsentant dieser Gruppe gewählt wurde, so geschah es mit
Rücksicht auf die Entstehung der vorliegenden Untersuchungen. Es
war nämlich der Fall Leubach derjenige Fall, an Hand dessen Herr
Professor Sioli seinerzeit zuerst die Probleme der Schwachsinns-
psychosen mit mir erörterte und die Ansichten vertrat, die diese Blät-
ter dargelegt haben und noch weiter begründen sollen. Es sei daher
wegen der Eigenart des Falles Leubach nochmals betont, daß in den
übrigen Fällen von chronischer Halluzinose Wahnbildung nicht
wesentlich hervortrat.
In einer Hinsicht, die in diesem Zusammenhang am wichtigsten
erscheint, stimmt die Psychose des Leubach mit den übrigen Fällen
dieser Gruppe überein, in dem Ausbleiben eines schizophrenen Zer-
falls. Das erscheint — weniger für den Fall Leubach als für die
jüngeren Fälle dieser Gruppe — als wichtigstes Ergebnis, daß die
Chronizität des Halluzinosevorganges nicht
gleichbedeutend ist mit schizophrener Erkran-
kung. Von den 13 chronischen Halluzinosen trat nur in drei
Fallen, die unten noch besonders besprochen werden, eine schizo-
phrene Entwicklung ein. In 9 von 13 chronischen Hallu-
zinosen trat eine schizophrene Entwicklung sicher
nicht ein. Wenn trotzdem die Halluzinosen chronisch wurden, so
zeigt sich darin ebenfalls die groBe Bedeutung, die dem Schwachsinn
fiir derartige Zustinde zukommt.
Bei Leubach ist eine Entwicklung der psychotischen Symptome
unverkennbar. Die Sinnestiiuschungen sind daran weniger beteiligt
als die Wahnideen. Das legt den Gedanken nahe, die Psychose dem
Gebiete der Schizophrenie oder dem der Paraphrenie zuzuzählen.
Eine derartige Ansicht würden wir jedoch nicht teilen. Für die An-
nahme einer Schizophrenie fehlen genügende Symptome. Der Affekt
ist dauernd ungeschwächt geblieben, eher als hypomanisch zu be-
zeichnen. Zeichen von Autismus, katatone Symptome fehlen völlig.
Auch die Annahme einer Paraphrenie läßt sich durch entsprechende
Defektsymptome nicht stützen. Schließlich ist die Annahme einer
Paranoia infolge des dauernden Bestehens echter Halluzinationen
auszuschließen.
Die geringgradige Entwicklung in der Psychose des L. durch
stärkeres Hervortreten von Größenideen ist wahrscheinlich Aus-
druck des zunehmenden Riickbildungsprozesses. Diese Annahme
drängt sich um so stärker auf, als den chronischen Halluzinosen der
jüngeren Kranken jeglicher prozeßhafte Einschlag fehlt. Bei diesen
jüngeren Kranken bestehen die Halluzinationen heute noch wie vor
Jahren, ohne überhaupt deutlich wahnhaft verarbeitet worden zu
sein. Prozeßhafte Entwicklung liegt also nicht im
Wesen der chronischen Halluzinosen bei Schwach-
sinn; wo sie auftritt, ist sie als besonderer Einschlag zu werten. Die
chronische Halluzinose der Schwachsinnigen steht damit in Paral-
lele zu den paranoid-halluzinatorischen Zustandsbildern bei Hirnlues
oder malariabehandelter Paralyse.
Von den bisher beschriebenen Gruppen erscheinen also die
Halluzinosen als die prognostisch ungünstigste Form. Ihre Neigung
zu chronischem Verlauf ist groß; nur in etwas mehr als 13 der Fälle
sahen wir bei ihnen einen günstigen Ausgang.
Wo Halluzinosen als Beginn einer späteren schizophrenen Er-
krankung auftreten, bedürfen sie besonderer Untersuchung. Ein Bei-
spiel dafür ist der folgende Fall.
Fall 31. Paul Clemens, geb. 9. 1. 1901.
Aufgenommen am 2. 6. 1924.
Seit dem 5. 5. 1924 war C. verändert. Grübelte viel vor sich hin, hatte
Angst. sah Gestalten, die ihm und seinem Bruder den Hals abschneiden wollten.
fühlte sich von der Polizei verfolgt, machte einen Suizidversuch. — Lernte in
der Schule schlecht, war in den letzten Schuljahren in der Hilfsschule.
Außer Blasenschädel und Asymmetrie des Gesichts bot er körperlich und
neurologisch nichts Besonderes.
Bei der Untersuchung ist er ruhig, liegt mit affektlosem Gesichtsausdruck
im Bett, nimmt wenig Interesse an der Untersuchung. antwortet auf Fragen
prompt. — Über Krankheiten in der Familie weiß er nichts, ebenso nicht über
seine früheste Kindheit. In der Hilfsschule habe er drei Klassen durchgemacht,
sei vorher in der Volksschule sitzen geblieben. Vom 14. Lebensjahr an war er
Bergmann bis Anfang 1924. Wurde wegen Beteiligung an einem Streik ent-
lassen. Seit dieser Zeit sei er krank.
— 13 —
C. bringt alles mit monotoner Stimme vor, kurz und zurückhaltend, er
sieht den Untersucher nicht an, schaut unverwandt auf seine Füße; ist be-
wegungsarm, steif. (Traurig?) „Ja.“ (Warum?) „Man will mir was.“ (Deshalb
ängstlich?) „Nein, ängstlich bin ich nicht.“ (Wer will Ihnen was?) „Die
Stimmen.“ (Was denn?) „Ich verstehe das nicht alles. Ich hau’ dich auf den
Kopf und so sagen sie. Meinem Bruder wollen die auch was tun; das geht aber
wenig bei ihm.“ (Gestalten?) „Nein, sehe ich nicht.“ — Ist unfrei, gedrückt.
Urteils- und Begriffsbildung, Schulkenntnisse, Rechenvermögen sehr gering.
Binet-Simon: A. S. 8.
C. zeigt sich dauernd initiativlos, klagt häufig über die Stimmen, die ihm
was tun wollen; zeigt dabei einen leeren Affekt. Legt sich einmal in das Bett
eines Mitkranken, sagt dabei: „In meinem Bett spukt es, vielleicht werde ich
hier gesund. Was haben die immer mit den Stimmen an meinem Bett herum
zu machen.“ l |
Nach Angabe der Eltern begann die Krankheit damit, daß C. behauptete,
an seinem Auge hingen Gespenster, er würde mit Pflastersteinen beworfen, man
haue ihn auf den Kopf. Stand in den Ecken umher und sagte ängstlich: „Da
kommen sie.“ Meinte, er und sein Bruder sollten von Verfolgern umgebracht
werden, |
Ist dauernd stumpf, initiativlos, spricht nur auf Befragen von seinen
Sinnestäuschungen. Wird am 10. 2. 1925 in die Anstalt M. überführt.
In M. ist er stumpf, nicht zu fixieren, scheu. Gibt an, keine Stimmen mehr
zu hören, Angst habe er auch nicht mehr. Es gefalle ihm gut in der Anstalt, es
gehe ihm überhaupt gut. Er möchte wohl entlassen werden, will aber auch noch
gern in der Anstalt bleiben; ist zu jeder Beschäftigung bereit. (Jahr?) „1910.“
(Monat?) „August.“ (Wo hier?) „Weiß nicht.“ — Wird weiterhin als teilnahms-
los, lässig in Haltung und Körperpflege bezeichnet. Steht leer lachend und
grimassierend umher. äußert spontan nichts: muß zu allem dauernd angehalten
werden. Antwortet auf Fragen meist „ich weiß nicht“. Gibt Geburtsdatum und
Alter richtig an, örtlich und zeitlich nicht orientiert. Geisteskrank sei er nicht,
wohl „Gurgelkrank“. Zu Hause habe er Stimmen von Selbstmord, erschießen
und aufhängen gehört, 1910 habe er hinterm Bett einen Mann gesehen. In M.
habe er noch nichts gesehen oder gehört. Das Haus hier „sei nichts für ihn.“ —
(3X 72) .... (74-8?) .... (Flüsse?) „Rhein, Hernekanal.“ (Hauptstadt von
Deutschland?) „Elsaß-Lothringen, Berlin.“ Sitzt stumpf umher. Grimassiert,
lacht einfältig, sieht starr zum Fenster hinaus, bohrt sich mit dem Finger in
der Nase. Antwortet auf dieselbe Frage bald so und bald so. Zeigt nicht das
geringste Interesse für seine Umgebung; ist affektlos, leer, unsauber. Wird am
10. 12. 1925 als gebessert von Dementia präcox auf imbeziller Grundlage aus
M. entlassen. | | |
Auf eine Anfrage teilt der Vater im November 1927 mit, daß C. im Jahre
1926 noch einmal in der Anstalt W. untergebracht war, daß der Zustand aber
im wesentlichen unverändert sei. Gearbeitet habe Paul nicht wieder, das sei
auch nicht möglich, da er noch immer seme Hauptbeschwerden im Kopf habe
und überhaupt nicht zu bewegen sei, daß Haus zu verlassen. Insbesondere
könne er kein Lampenlicht vertragen und verkrieche sich, wenn Licht an-
gezündet werde, in die finstersten Zimmerecken. Er spreche nicht und sei
menschenscheu.
— 134 —
Zusammenfassung: Ein bis dahin als imbezill Angesehe-
ner erkrankt mit 23 Jahren an Wahnideen unbestimmter Art, an
akustischen und wahrscheinlich auch optischen Halluzinationen so-
wie Störungen der Körperfühlsphäre. Der Affekt erscheint von vorn-
herein wenig beteiligt. Nach wenigen Monaten entwickelt sich das
Bild einer leeren affektarmen, versunkenen Schizophrenie. Der Zu-
stand hat sich bis in die letzte Zeit hinein ständig verschlimmert.
Der Krankengeschichte ist wenig hinzuzufügen. Die Annahme
einer Schizophrenie dürfte wohl nicht angezweifelt werden und be-
darf deshalb keiner Begründung. Es fragt sich, ob es sich um eine
„Pfropf‘‘schizophrenie handelt. Diese Annahme kann nach der Vor-
geschichte nicht sicher bejaht werden. Nach den Angaben der
Eltern war C. von Jugend auf still, wenig auffallend, hatte wenig
Neigung, sich an seine Geschwister oder anderweitig anzuschließen.
Außerdem sei er dumm gewesen und deshalb in die Hilfsschule ge-
kommen. Immerhin ist auffallend, daß C. erst in den 3 letzten Schul-
jahren in der Normalschule nicht mehr mitkam, und wir können
daher annehmen, daß in diesem Lebensalter eine Veränderung bei C.
eingetreten ist. C. befand sich daher bis zum Ausbruch der Hallu-
zinose in dem von Weveandt geschilderten Zustand eines frühen
Schizophrenen, der praktisch einem Imbezillen gleichsteht.
Dieselben Erscheinungen ließen sich in drei weiteren Fällen
nachweisen, die auch als „Pfropf“schizophrenien hätten imponieren
können. Auch bei diesen fand sich stets zu irgendeiner frühen Zeit
des Lebens eine derartige Persönlichkeitsänderung, daß man berech-
tigt ist, die Gesamterkrankung als Schizophrenie zu bezeichnen.
Typischerweise lag das Erkrankungsalter dieser Hallu-
zinanten 10 und mehr Jahre früher als dasErkran-
kungsalter der episodischen und chronischen Hal-
luzinosen bei Schwachsinnigen. Ein Anhaltspunkt dafür,
daß sich Halluzinosen mit schizophrenem Verlauf auch bei sicheren
Schwachsinnigen ausbilden, findet sich nicht. Wo in jugend-
lichem Alter Halluzinosen mit schizophrenem Ver-
lauf bei anscheinend Schwachsinnigen auftreten,
muß man die Gesamterkrankung als Schizophrenie
betrachten.
Vergleicht man diese Halluzinosen mit den Zuständen, wie sie
etwa der Fall Kern zeigte, also mit durch Halluzinationen kompli-
zierten Angstzuständen, so ist die wesentlich andere Affekt-
beteiligung in beiden Zuständen unverkennbar. Man wird
daher leicht geneigt sein, in der Affektbeteiligung einen prognosti-
— 135 —
schen Hinweis zu suchen. Medow hat so die schizoide Affekt-
psychose von der Pfropfschizophrenie abgetrennt und von
Medow, Luther u. a., die sich bemühten, das Gebiet der
Pfropfschizophrenie einzuengen, wurde als signum mali ominis
die Affektleere angegeben. Wir haben der Geltung dieser
Ansicht bei Schwachsinnigen bereits oben bei den melancho-
lischen Zustandsbildern widersprochen und unsere Meinung durch
den Fall Frühling belegt. An dieser Stelle müssen wir unseren
Widerspruch wiederholen. Es sei deshalb noch einmal an die Charak-
teristik der präpsychotischen Persönlichkeit der heilenden Halluzi-
nanten erinnert. Diese wurden fast übereinstimmend als scheu, still,
zurückhaltend bezeichnet; und diese stillen Menschen waren auch in
der Psychose nicht anders. Sie gingen fast alle wenig aus sich her-
aus, der Affekt schien wenig mitbeteiligt und nicht selten leer zu
sein, trotzdem diese Kranken später wieder gesund wurden. Der
Einwand, daß es sich hier eben nur um den ersten Schub einer De-
mentia praecox handele, daß diese Kranken später doch eine Schizo-
phrenie bekämen, ist bisher durch keinen Fall, der zu den episodi-
schen Halluzinosen gezählt wurde, bestätigt worden. Wir sehen also
am Beispiel der Halluzinosen wieder, daß Affektleere in Psy-
chosen bei Schwachsinnigen nicht unbedingt eine
schlechte Prognose bedeuten muß. Im ganzen aber
ist die Prognose der Halluzinosen der Schwach-
sinnigen durch ihre Neigung zur Chronizität nicht günstig.
Der „schizoide“ Schwachsinnige hat anscheinend
eine besondere Neigung zu Halluzinosen.
P2
H) Paranoide Zustandsbilder.
Wahnbildung bei Schwachsinnigen ist nicht selten. Wir haben
oben gesehen, wie bei einzelnen Psychosen die Wahnbildung auf dem
Schwachsinn ursächlich beruht und in fast allen angeführten Bei-
spielen sind, wenigstens zeitweise, Beziehungs-, Größen- oder andere
Wahnideen erkennbar. Wahnideensindtvpische Begleit-
symptome der PsychosenderSchwachsinnigen. Diese
Tatsache wird aus der Einstellung der Schwachsinnigen zu den
Lebensanforderungen psychologisch verständlich. Läßt man jedoch
die Fälle, in denen Wahnideen als Begleiterscheinungen von Angst-
zuständen, Halluzinosen, Verstimmungszuständen usw. auftreten, un-
berücksichtigt, so ist der verbleibende Rest der wahnbildenden Er-
krankungen sehr klein. Wir konnten nur 8 Fälle unter die para-
— 136 —
noiden Psychosen zählen. Und auch in diesen 8 Fällen lagen nicht
eindeutige Wahnbildungen vor, sondern in 6 Fällen war die Wahn-
bildung diffus, unbestimmt in Richtung und Äußerungsform, und in
3 von diesen 6 Fällen war außerdem das Erwachsen der Wahn-
bildung aus halluzinatorischen Erlebnissen wahrscheinlich. Nur in
einem Fall lag Wahnbildung vor, die der Paranoia bei Vollsinnigen
in etwa gleichzusetzen ist, im letzten Fall handelt es sich um eine
paranoide Reaktion, die durch den Schwachsinn ihre besondere Fär-
bung erhält. In 3 Fällen war die Wahnbildung chronisch, in den
übrigen Fällen klang sie nach einiger Zeit ab; das waren gerade die
Fälle, in denen der Verdacht auf außerdem vorhandene halluzina-
torische Vorgänge bestand. Führendes Symptom war jedoch in allen
Fällen die Wahnbildung.
In den paranoiden Psychosen der Schwachsinnigen waren in
allen Fällen als Komponenten die krankhafte Affektgrundlage mit
Neigung zu Mißtrauen und Beeinträchtigung und eine typisch
schwachsinnige Verarbeitung der Lebensereignisse nachweisbar. Als
einziges Beispiel der paranoiden Schwachsinnspsychosen sei der Fall
angeführt, der in der Mitte steht zwischen den Fällen mit völlig un-
reordneter Wahnbildung und dem bereits erwähnten Fall mit leid-
lich geordneter Wahnbildung.
Fall 32. Elisabeth Kaiser. geh. 17. 6. 1876.
Aufgenommen am 22, 7. 1927 zur Begutachtung im Entmündigungs-
verfahren.
Das Gutachten stützt sich außer auf die eigene Beobachtung auf die Akten
des schwebenden Entmündirungsverfahrens des Amtsgerichts 0., die Vormund-
schaftsakten der Amtsgerichte W.. B. und O. und 3 Bände Strafakten des
Amtsgerichts QO.
Der Bürgermeister in W. stellte am 6. 1. 1927 den "Antrag auf Entmündi-
eung der Frau K. unter Beifiigung folgenden ärztliehen Attestes: „Frau K. ist
mir seit Jahren bekannt als krankhafte Querulantin, die dauernd von fixen
Ideen beherrscht wird. Ihrem ganzen Verhalten nach scheint sie nicht mehr im-
stande zu sein, die Tragweite ihrer Handlungen und Worte zu überschauen.
Bei mündlichen Verhandlungen irrt sie dauernd ab, verliert völlig den Faden
und endet dann gewöhnlich in unhegriindeten Beschimpfungen ihrer Umwelt,
der Beamten usw., wodurch sie schon mehrfach mit dem Gericht in Kontlikt
gekommen ist und wegen Beamtenbeleidigung verurteilt worden ist...“
Gleichzeitig beruft sich der Bürgermeister auf ein Schreiben des A. G. O.. in
dem die Einleitung des Entmündigungsverfahrens wegen Geistesschwäche
empfohlen wird. In diesem Schreiben wird ausgeführt. daß Frau K. das Gericht
häufig besucht, aber auf Ladung ausbleibt. daB sie ungeheuer viel Anträge stellt.
aber, wenn diese aufgenommen und ihr vorgelesen seien, die Unterschrift ver-
weigert mit der Begründung. sie könne nicht lesen und wisse daher nicht, ob
das ihr Vorgelesene in dem Schriftstück stehe und verlange die Zusendung einer
— 137 —
beglaubigten Abschrift, um den Inhalt des Schriftstücks prüfen lassen zu
können.
In den Entmündigungsterminen am 29. 1. und 12. 2. 1927 erscheint sie
nicht. Ihre Vernehmung am 19. 2. 1927 ergibt kein klares Bild ihres Geistes-
zustandes. Der Sachverständige nimmt das Vorliegen eines Querulantenwahns
an und empfiehlt ihre Beobachtung. Der Aufforderung, sich bis zum 20. 5.
freiwillig in der Anstalt zur Beobachtung zu melden, kommt Frau K.
nicht nach.
In den Akten befindet sich die Abschrift einer Entscheidung vom
11. 1. 1927, durch welche die Ehe der Eheleute Kaiser gemäß § 1568 B. G. B.
geschieden und Frau K. für schuldig erklärt wird mit der Begründung: Frau K.
ist überall als Querulantin bekannt, die seit Jahren die Stadt und Polizei-
verwaltung in W. und das Amtsgericht in O. mit Eingaben und Beschwerden
überschwemmt und die Beamten häufig in gröblichster Weise beleidigt, so daß
sie bereits dieserhalb in eine Reihe von Strafverfahren verwickelt worden ist.
Dieses Verhalten läßt darauf schließen, daß sie sich ihrem Manne gegenüber
ebenso unverträglich verhält.
Aus den Vormundschaftsakten ist ersichtlich, daß die damalige Arbeiterin
Elisabeth G. am 25. 1. 1903 einen unehelichen Knaben gebar, als dessen Vater
sie den wegen (Geisteskrankheit entmündigten Bronislaus O. bezeichnete. Dieser
bestritt zwar die Vaterschaft, zahlte der G. aber 300 Mark, die mündelsicher
für das Kind angelegt wurden. Die G. erklärte sich damit notariell für ab-
gefunden. 1%4 gebar sie wieder ein uneheliches Kind, als dessen Vater sie
wieder O. bezeichnete, der die Vaterschaft wieder bestritt.
Im Jahre 1918 ließ sie durch ein Rechtsberatungsinstitut erklären, sie sei
seiner Zeit durch Drohung zur Unterschriftleistung bei der Vergleichsverhand-
lung genötigt worden, sie wisse aber gar nicht, was sie unterschrieben habe,
da sie weder lesen noch schreiben könne, Seitdem macht sie dauernd ihre an-
geblichen Ansprüche an den Vater ihres ersten Kindes geltend und bestreitet,
daß sie überhaupt jemals eine Abfindungserklärung unterzeichnet habe.
Am 15. 4. 1921 wird sie vom Schöffengericht O. wegen Beleidigung zu
einer Gesamtgefiingnisstrafe von 6 Wochen verurteilt. Aus der Urteils-
begründung geht hervor, daß sie seit Jahren die Behörden belästigt, die
Beamten gröblich beschimpft, die Richter als Verbrecher bezeichnet usw. Die
Strafe hindert sie nicht, die Beleidirungen fortzusetzen.
Der Gefiingnisarzt hält 1923 eine Beobachtung gemäß § 81 Str. Pr. O.
für notwendig.
Am 21. 3. 1923 wird sie vom Schöffengericht O. zu 6 Wochen Gefängnis ver-
urteilt wegen Beleidigung des Amtsgerichtsrats H., dem sie vorwarf, ein Spar-
kassenbuch unterschlagen zu haben. Staatsanwalt und Angeklagte legten gegen
das Urteil Berufung ein. Zur Berufungsverhandlung vor der Strafkammer am
11. 9. 1923 erschien sie jedoch nicht, sondern sandte folgendes Telegramm:
„Lehne Verhandlung mit Befangen ab. Unbekannt, keine Beleidigung. Frau
Hubert Kaiser.“ — Ein weiteres Beleidigungsverfahren gegen einen Polizei-
beamten wurde am 27. 12. 1923 eingestellt, weil sie die Beleidigung widerrief.
Körperlich-neurologischer Befund o. B.
Geordnete Angaben zur Vorgeschichte sind von ihr kaum zu erhalten,
da sie teils aus mibtrauischer Einstellung heraus mit vielen oft harmlosen
Angaben zurückhält, anderseits häufig abschweift und in zügellosem Rede-
— 138 —
drang ohne sachliche und chronologische Ordnung von ihren Rechtsangelegen-
heiten zu reden beginnt.
Gibt dann doch ihre Personalien an. (Geschieden?) „Nein, ich lebe ge-
trennt.“ Ihr Mann dagegen sei von ihr geschieden. (Geburtstag?) „Das steht
doch in den Papieren.“ Sie sehe immer erst nach, wenn sie gefragt werde.
„Überhaupt — so fraet man dumme Leute aus.“ Gibt dann aber ihre Perso-
nalien vollständig an und über ihre Eltern und Geschwister Auskunft. Über
Geisteskrankheiten, Alkoholismus usw, in der Familie weiß sie nichts. (War
der Vater aufgeregt?) Lächelt mißtrauisch und pfiffig und meint, man wolle
sie „fangen“, ;
Mit 7 Jahren sei sie in die Schule gekommen. (Warum nicht mit 6 Jahren?)
„Mit 6 Jahren geht man auch in die Schule? Das ist das erste, was ich höre.
Herr Oberarzt.“ Sie habe „so ziemlich“ gelernt. „Dafür habe ich mich nicht so
interessiert: die Hauptsache war arbeiten, so wie ich jetzt auch am arbeiten
bin, trotzdem sie mich vernichten wollen.“ Sie habe „etwas“ lesen und schrei-
nen gelernt. Heute könne sie es nieht mehr: sie sei in der Schule nie versetzt
worden. „Wenn ich was zu schreiben habe, dann finde ich schon Leute.“
Nach der Schulentlassung bis 1907 war sie Gutsarbeiterin. Lernte auf dem
Gut ihren Mann kennen, den sie am 25. 5. 1907 heiratete. „Mein Mann ist ein
echter Rheinländer, der stehlen und lügen kann.“
Sie habe 3 Söhne, darunter einen unehelichen. Krank sei sie nie gewesen.
Sie trinke ein- bis zweimal in der Woche einen Schnaps, sonst nicht.
1915 habe ihr Mann Typhus gehabt und eine Granatsplitterverletzung.
Seitdem seien seine Nerven kaputt, er sei nicht mehr gescheit, bekomme An-
fälle, in denen er sie mißhandele, hole sie manchmal mitten in der Nacht aus
dem Bett und stelle sie auf den Kopf. Er brauche sie „wie ein Tier“, „von
hinten wie ein Hund“, „im After“, ferner per os et per linguam. Kurz, er sei
verrückt, daß sehe man doch schon daraus, daß er einmal eine Perücke auf-
gesetzt, diese mit Rübenkraut beschmiert und dann gefragt habe: bin ich
nicht schön?
Am 8 März habe ihr Mann sie „rausreschmissen“. Das Gericht habe sie
darauf „verleitet“, gegen ihren Mann auf Unterhalt zu klagen; sie habe das
getan. aber es sei alles abgelehnt worden. Sie habe dann „ein englisches Kind
groB gezogen für Schlafen und Kost“. „Dann sind immer Spione gekommen
und haben immer die Frau aufgewiegelt, bloß das die Leute mich sollten ent-
lassen. daß ich kein Unterkommen haben sollte.“ Schließlich hätten die Leute
sie fortgeschickt, „aus Furcht, daß sie sieh mit der Gemeinde verfeinden
könnte“. Dann habe sie eine Frau „mit Tuberkulose und lungenleidend“ ge-
pflest. bis auch diese Leute „aufgewiegelt“ worden seien und sie entlassen
hätten.
Ihre verschiedenen Bestrafungen seien völlig unrechtmäßig erfolgt: „Lügen
wird geglaubt; ich kann nicht dafür.“
Alles bringt sie mit großem Redeschwall vor. Protestiert nach der Auf-
nahme gegen ihre Anstaltsunterbringung. Nicht sie, sondern ihr Mann müsse
beobachtet werden. Poltert, räsonniert, krakehlt bei jeder Gelegenheit, wird
dabei aber gegen Personen nicht ausfallend, hat tausend Wünsche und An-
träge: arbeitet dabei stets fleißig. Nach Abschluß der Beobachtungszeit zeigt
sie keine Lust. die Anstalt zu verlassen, will bleiben, bis sie eine angemessene
Wohnung habe.
— 139 —
Der Affekt ist gehoben; macht sich über die Mitkranken lustig. „Wie sie
da sitzen mit die Holzvögel.“ Ist mehrfach gereizt, stets mißtrauisch, arg-
wöhnisch. Mimik entsprechend dem Affekt lebhaft; oft pfiffiges Lächeln bei
Fragen, hinter denen sie etwas Besonderes vermutet. Motorik frei, un-
gezwungen, lebhaft. z
Persönlich, zeitlich, örtlich vollkommen orientiert. Auffassung. Aufmerk-
samkeit ungestört.
Gedankenablauf und Ideenassoziation zeigen einerseits in ihrem Tempo
eine Beschleunigung in ideenfluchtähnlicher Weise verbunden mit lebhaftem
Rededrang, andererseits eine gewisse Ungeordnetheit und Verworrenheit, ohne
daß man berechtigt wäre, von einer eigentlichen Inkohärenz oder Zerfahren-
heit zu sprechen. Sobald man sich mit ihr beschäftigt, beginnt sie in endlosem
Redeschwall von ihren Angelegenheiten zu sprechen. kommt von einem aufs
andere, ohne aber den Faden ganz zu verlieren und völlig vom Thema ab-
zukommen, läßt in ihrer Darstellungsweise eine sachliche und chronolorische
Scheidung stark vermissen. Sie entwickelt eine ganze Anzahl von Beeinträch-
tirungsvorstellungen. die weniger ein umrissenes System von Wahnideen als
vielmehr einen Kreis von wirklichen, aber schwachsinnig verarbeiteten und
wahnhaft umgedeuteten Erlebnissen darstellen. Sie behauptet, sie laufe seit
Jahren umher, „ohne Recht zu kriegen“. Die: Sache gehe auf das Jahr 1907
zurück. „197 hat das Gericht in B. ein Sparkassenbuch gemacht — Bruno
Kaiser — unmiindiges Geld und jetzt. 1919 krieg’ ich vom Gericht in O. einen
Brief, ich muß nach dem Gericht kommen — ich komme hin — da nimmt mir
der Amtsrichter H. das Sparkassenbuch ab und hat eins ausgestellt auf den
Namen G. Mein Sohn hat beim Ehestand den Namen „Kaiser“ gekriegt.“
(Warum war es Ihnen nicht gleich, ob das Sparkassenbuch auf diesen
oder jenen Namen ausgestellt war?) Erregt: „Was. gleich? Wie der Junge
geboren war. mußte das Gericht festsetzen, daß der Vater ihn groß zog bis
sechzehntes Jahr. Ich bin doch keine Hure nicht, ich hab’ mich doch nicht
bezahlen lassen, und nun sagen sie ich hab’ mich abfinden lassen und sie sagen.
ich hab’ unterschrieben — ich hab’ gar nicht unterschrieben — ich hab’ drei
Kreuze gemacht — und das war ein ganz anderes Papier. Und das haben sie
auf Beamtenbeleidigung herausgebracht, und der Staatsanwalt hat gesagt, da-
mit die Sache aus der Welt kommt. krieg ich 6 Wochen Gefängnis. Die hab’
ich auch abresessen. Und so ein Lügen wird geglaubt. So haben sie mich
1907 verkauft.“ „Die Herren fressen von meinem Geld und ich muß Hunger
leiden, und sie werden auch noch staatlieh geschützt und machen eine Lüge,
ich bin geistesgestört.“ Wiederholt redet sie davon, daß sie vom Vater ihres
unehelichen Kindes noch eine Abfindung zu bekommen habe, dann habe sie
genug Geld, um sich auf ihrem Grundstück in E, ein Haus zu bauen.
Verrückt sei sie nicht. „So wird das gemacht mit Lügen und Betrügen.“
„Ich hab’ Tiefsinnige behandelt und eine Geisteskranke behandelt und eine
Verrückte behandelt. Ich weiß, wie die aussehen. Ich gehöre nicht dazu.“
Die 9 Ärzte, bei denen sie in Behandlung gewesen sei, sollten nur ihre Papiere
schicken. „Dann kommt die Sache ganz anders.“ Ein Obersekretiir habe ihr
noch neulich gesagt: „Wer Ihnen § 51 machen will, der muß früh aufstehen.“
Außerdem habe sie jetzt „dem Oberlandeshauptmann®’ die Sache unterbreitet:
der werde seine Beamten schon zurecht setzen. Ihr Mann freilich behaupte.
sie sei verrückt. „O, der ist raffiniert. Er sagt, wo er raffiniert ist, ist er
Neustadt, Die Psychosen der Schwachsinnigen (Abhdl, H. 48). 10
— 140 —
raffiniert, wo er anständig ist, ist er anständig. Und er sagt. ich müßte in den
Zoologischen Garten und im Panoptikum, und es müßte ein Schild dran: Vor-
sicht. die Frau beißt! Und dann sagt er immer, eine Spinne beißt mein Gehirn
kaputt. Der ist ja. selbst verrückt. Aber die anderen, die Behörden und das
Gericht. die haben Spaß daran. daß sie unsere Ehe kaputt gemacht und meinen
Mann verrückt gemacht haben. Uns machen sie kaputt, und sich decken Sie.
daß man nichts gegen ihre Schlechtigkeiten machen kann.“ Sie sei aber jetzt
vorsichtig. „Ich bin 1907 hereingefallen: das passiert mir jetzt nicht mehr.‘
„Ich lehne immer alles mit Befangen ab.“ „Einfache Schrift ist gelogen. dop-
pelte Schrift ist echt. Ich unterschreibe nichts, wovon ich nicht ein Dupli-
kat habe.“
Sobald auf ihre Entmündigung angespielt wird, wird sie gereizt. „Ich
einen Vormund? So sehen Sie aus! Dann hätten Sie mir einen Vormund
geben sollen 1903 oder 1907, wie sie mich verkauft haben. Ich soll entmün-
digt werden. damit sie mir staatlich mein Grundstück entreißen können, und
meinen Mann wollen sie schützen und die Herren, die mich betrogen haben.
Ich soll denen schon helfen: dem Herkules, dem Bürgermeister werd’ ich das
schon klar machen: ich lehne alles wegen befangen ab.“
Sobald sie aus der Anstalt entlassen sei, gehe sie nach W. Sie verlange
Schadenersatz für die Zeit, wo sie hier „unter Freiheitsberaubung“ gewesen
sei. Vielleicht werde sie wieder heiraten. „Wenn der Mann ein Saumensch
von der Gemeinde gekriegt hat. heirate ich auch. Es wird schon einer kom-
men. Jch habe ja auch ein Grundstück. Da wird eine Haus drauf gebaut.
Wenn ich die Abfindungssumme Kriege, habe ich Geld genug.“ „Entmündigen
lassen tue ich mir nicht.“
Auf diese Ideen kommt sie mit großem Wortschwall immer wieder zu-
rück. Eine formale Intelligenzprüfung ist bei ihr nicht durchzuführen. Sie
läßt sich auf keine entsprechenden Fragen ein, wird ablehnend: „So fragt man
dumme Leute aus!“ „Ich laß’ mich nicht für dumm verschleißen.“ „Da ver-
weigere ich meine Aussage.“ „Das hat mit der Unterschlagung nichts zu tun.“
Beim Vorlegen einer Rechenaufgabe sagt sie mit ernster, warnender Stimme
und Miene: „Ich will Ihnen was sagen. So gern ich mit Ihnen ausgekommen
hin, aber mit Rechnen fangen wir nicht an. Sie wollen mich unterdrücken
mit Rechnen. Lesen und Schreiben. Ich bin schon genug betrogen.“ — In der
Gerichtspraxis hat sie eine gewisse, allerdings von wenig Verständnis getra-
gene Routine erworben. Sonst sind ihre intellektuellen Fähigkeiten, soweit
feststellbar, sehr gering.
Die Begutachtung führte aus. daß es sich bei Frau K. um eine paranoide
Geistesstörung handelt mit im Vordergrund stehenden Beeinträchtigungsideen.
Von den verschiedenen Möglichkeiten paranoider Geistesstörung wurde das
Vorliegen einer organischen Geisteskrankheit auf Grund des körperlichen Be-
fundes, die Annahme einer paranoiden Schizophrenie auf Grund des Fehlens
aller schizophrenen Zerfallserscheinungen, die nach so langer Krankheitsdauer
nachweisbar sein müßten, abgelehnt. Ebenso wurde die Annahme einer echten
Paranoia und ihrer Unterform, des Querulantenwahns, abgelehnt, weil die
Wahnideen zu wenig systematisiert, zu verworren und ungeordnet vorgebracht
werden. Am ehesten sei noch eine Paraphrenie in Betracht zu ziehen. Dagegen
spreche, daß es sich bei Frau K. nicht um ein fest umrissenes Wahnsystem
handele, als vielmehr um eine Anzahl wirklicher, aber in unrichtig und schwach-
— 141 —
`
sinniger Weise verarbeiteter und wahnhaft umgedeuteter Erlebnisse. In An-
betracht der intellektuellen Geistesschwäche, die angeboren oder in frühester
Jugend erworben sei. wurde die Psychose der Frau K. als paranoide
Entwieklung einer von jeher intellektuell minderwerti-
gen Persönlichkeit bezeichnet. Es wurde weiter betont, daß die
Geistesstérung einen solchen Grad erreicht hat, daß Frau K. infolge Geistes-
schwärhe ihre Angelegenheiten nicht zu besorgen vermag, daß also die Vor-
aussetzungen des § 6. Absatz 1 B. G. B. bei ihr gegeben sind.
Zusammenfassung: Die aus § 1568 B. G. B. geschiedene
Ehefrau Kaiser, jetzt 51 Jahre alt, lebt seit Jahren mit den Polizei-
behörden und dem Gericht ihres Wohnortes im Kampf. Sie fühlt sich
vom Wohlfahrtsdirektor und einem Amtsgerichtsrat um die Alimente
für ihr 1903 geborenes uneheliches Kind betrogen. Einen nach der
Geburt des Kindes getätigten Abfindungsvertrag ficht sie 15 Jahre
später an und behauptet nach wieder einigen Jahren, ein derartiger
Vertrag sei überhaupt nicht gemacht worden.
Sie ist ständig von Mißtrauen gegen alle Gerichte erfüllt, lehnt
alles „wegen befangen“ ab, wird mehrfach wegen Beleidigung ver-
urteilt. Außer von den Behörden fühlt sie sich noch durch ihren
Mann beeinträchtigt und mißhandelt und Dan ganz allgemein von
Spionen umgeben.
Versucht man die Art der Wahnbildung zu analysieren, so fällt
besonders ihr amorphes Wesen auf. Das macht auch die klinische
Einordnung der Psychose schwierig. Mit Sicherheit kann jedoch das
Vorliegen einer paranoiden Schizophrenie ausgeschlossen werden.
Die Abgrenzung der wahnbildenden Erkrankungen gegenüber der
Schizophrenie erscheint allerdings heute, wo allgemein ihre affektive
Grundlage stärker betont und in der Annahme einer Konstitutions-
legierung durch die Tübinger Schule begründet wird, weniger dring-
lich als zu der Zeit, in der hauptsächlich Specht für die manische
Komponente in der Paranoia eintrat. Es erübrigt sich daher, noch-
mals besonders das Fehlen schizophrener Defektsymptome nach-
zuweisen. f
Die Begutachtung sagt, daß am ehesten eine Paraphrenie vor-
liege. Eine echte Paraphrenie bestehe dagegen auch nicht, weil es
sich mehr um einzelne wahnhaft verarbeitete Erlebnisse als um ein
expandiertes Wahnsystem handelt. Damit käme die Wahnbildung
doch wieder der paranoiden nahe. Und es dürfte sich tatsächlich um
eine Paranoia bei Frau K. handeln, eine Paranoia allerdings von be-
sonderer Färbung. Sie ist dadurch auffallend, daß nach 10jähriger
Dauer nur der Mann. ein Richter und der Vorsteher des Wohlfahrts-
10°
š — 142 —
amtes in die Wahnbildung einbezogen sind, sonstige Personen nur in
sehr unbestimmter Weise. Im Sinne einer Paranoia, insbesondere
einer Rechtsquerulantin, ist die Entwicklung also langsam, ,,lenden-
lahm‘. Diese Erscheinung, die wir mit Berze als Schwächung der
psychischen Aktivität bezeichnen, zeigt sich auch im sonstigen Ver-
halten der Frau Kaiser: sie opponiert zwar anfänglich gegen ihre
Beobachtung, nach Ablauf der Beobachtungszeit legt sie jedoch
keinen Wert darauf, die Anstalt zu verlassen, um sich erneut in den
Rechtskampf zu stürzen. So zeigt sich die Paranoia der Frau Kaiser
schwach in Extensität und Intensität. Wenn diese Schwäche auch
primär als Affekt- oder Antriebsschwäche zu bezeichnen ist, so zeigt
sie doch die Bedeutung des vollen Intellekts für die Äußerung affek-
tiver Vorgänge. Es bestätigt sich hier die alte Erfahrung, daß
Schwachsinnige keine Paranoia bekommen, weil bei ihnen „die Ver-
arbeitung nach großen einheitlichen Prinzipien“ fehlt (E. Schultze).
Wäre Frau Kaiser vollsinnig, so wäre es bei ihr nicht zur Ausbildung
dieser Wahnideen gekommen, oder sie wäre an einer echten Para-
noia erkrankt.
An dem Schwachsinn der Frau K. ist m. E. trotz ihrer Ab-
lehnung gegenüber einer geregelten Intelligenzprüfung nicht zu
zweifeln. Es sei dabei nicht geleugnet, daß ein Teil ihrer mangeln-
den Kenntnisse auf äußeren Verhältnissen beruht. Keineswegs ist die
Schwachsinnsstufe allein nach ihren mangelnden Fähigkeiten im
Lesen, Rechnen und Schreiben zu bestimmen; eine Idiotie liegt bei
ihr nicht vor. Frau K. machte jedoch in ihrer ganzen Äußerungs-
form und in ihren gelegentlichen Angaben der Vorgeschichte, so-
weit sie ihre paranoide Erkrankung nicht betraf, einen derartig
schwachsinnigen Eindruck, daß an dem Vorliegen einer hochgradigen
Imbezillität nicht gezweifelt werden kann.
Diese Imbezillität erst gibt der paranoiden Psychose das para-
phrene Aussehen, verhindert eine systematische Ordnung der Wahn-
ideen und macht ihren klaren sprachlichen Ausdruck zur Unmöglich-
keit. Es wird dadurch das Bild einer Paraphrenie am ehesten vor-
getäuscht. Wir sehen also den Schwachsinn die paranoide
Psyehose dispositionell und in ihrer Symptomen-
gestaltung in stärkster Weise beeinflussen. Die-
selbe Schwachsinnsgrundlage, die den Schwach-
sinnigen im allgemeinen leicht zur Wahnbildung
disponiert, hindert die Entwieklung einer echten
Paranoia und gibt den paranoiden Psychosen ein
atypisches Gepräge.
— 143 —
Diese Tatsache läßt sich leicht in allen Fällen dieser Gruppe
zeigen. Sie geht soweit, daB man in einem Fall vorübergehender
reaktiv-paranoider Störung versucht ist von einer paraphrenen
Reaktion zu sprechen, einer sonst nicht üblichen Krankheits-
bezeichnung. Es soll damit nur gezeigt werden, wie stark der
Schwachsinn auch das Bild der paranoiden Reaktionen abändert. Es
ist natürlich, daß bei der Seltenheit reiner paranoider Zustände der
Schwachsinnigen und ihrem atypischen Bild prognostische Schlüsse
im Beginn der Psychose nur mit Vorsicht zu ziehen sind.
Es wurde bereits erwähnt, daß der Fall Kaiser in bezug auf die
Systematisierung der Wahnbildung von allen beobachteten Fällen
etwa in der Mitte steht. In den Fällen, die unterhalb dieser Ordnung
bleiben, liegt in 4 Fällen eine Wahnbildung ganz diffuser und kind-
licher Art vor, so z. B. werden irgendwelche Ereignisse oder Gegen-
stände mit dem Teufel in Verbindung gebracht. Aber auch in dem
Fall, der eine bessere Ordnung der Wahnideen und eine konsequen-
tere Verfolgung seines Kampfes um Kriegs- und Unfallrente zeigt,
der mit Erfolg einige Zeitungen für seinen „Fall“ interessiert hat,
zeitweilig von Parteien und Gewerkschaften unterstützt wird, ist die
ganze Psychose durch seinen Schwachsinn beeinflußt und abgeändert.
In jeder Zeile seiner unzähligen Briefe, mit denen er mindestens seit
1915 die obersten Behörden bombardiert, ist der Schwachsinn un-
verkennbar und gibt dadurch auch diesem Fall das verworrene Ge-
präge, das wir als für Schwachsinnige typisch erkannten.
Der 8. Fall dieser Gruppe könnte mit eben derselben Berechti-
gung den Verstimmungszuständen zugezählt werden. Es ist ein jetzt
45jahriger Hilfsarbeiter, der seit 1913 bis jetzt etwa 10mal wegen
eines Verstimmungszustandes in der Anstalt war. Seit 1924 nun lebt
er mit einem Bürobeamten der Anstalt, mit dem er eigentlich nichts
zu tun hat, im Kampf. Hat den betreffenden Beamten fälschlicher-
weise wegen Freiheitsberaubung angezeigt und fühlt sich von ihm
verfolgt. Mißtrauen ist ein wesentlicher Grundzug dieser im übrigen
geordneten Persönlichkeit. Die Verstimmungszustände laufen an-
scheinehd ohne Zusammenhang neben der paranoiden Einstellung her.
Diesen Fällen sebließt sich noch eine Fehldiagnose an. ein Fall einer
paranoiden Schizophrenie, bei der auf Grund einer nach Schwachsinn tendie-
renden — übrigens unrichtigen — Autoanamnese ein paranoider Zustand bei
Schwachsinn angenemmen wurde. Die Psychose selbst zeigte nichts Atypi-
sches, so daß sie keiner weiteren Erwähnung bedarf.
Dem Alter nach fielen die paranoiden Zustände ins 4. und
5. Lebensjahrzehnt. Das haben sie also mit ähnlichen Zuständen bei
— 144 —
Vollsinnigen gemeinsam. In der übrigen Symptomatologie aber
zeigten sie ausgesprochene Besonderheiten als Folge des Schwach-
sinns.
J. Unklare Fälle.
Nachdem wir in unseren bisherigen Erörterungen die meisten
differential-diagnostisch schwierigen Fälle einer der abgegrenzten
Gruppen eingefügt haben, bleiben noch immer 5 Fälle, die wir in
dieser Gruppe der unklaren Fälle vereinigen. Bei 3 von diesen Fällen
bleibt zu entscheiden, ob die vorliegenden Schizophrenien als „Pfropf-
schizophrenien“ zu bezeichnen sind. Die Schizophrenie ist in allen
Fällen sichergestellt und zwar handelt es sich bei allen drei Patien-
tinnen um außerordentlich schnell und schwer verblödete Schizo-
phrenien bei jugendlichen Personen. Die Patientinnen selbst sind in
einem Zustand von faseliger Verblödung, in dem ihre
präpsychotische intellektuelle Konstitution nicht mehr zu beurteilen
ist. Die objektive Anamnese ergab schlechte Schulleistungen, eine
Patientin war sogar 4mal sitzen geblieben. Die Angaben der An-
gehörigen waren zur Entscheidung der Frage, ob die früh auf-
getretene Lebensuntüchtigkeit auf charakterologischen Eigenheiten
oder intellektueller Schwäche beruhe, nicht zu verwenden. In allen
drei Fällen kamen mehrfach Geisteskrankheiten — also wohl nicht
„Gemütskrankheiten“ — in der Familie vor; in einem Fall Geistes-
krankheit und Schwachsinn. Die Frage des Vorliegens einer Pfropf-
schizophrenie konnte aus dem Befund nicht mit Sicherheit bejaht
werden, ebensowenig wie es oben im Fall Clemens möglich war. Es
wurden ferner zwei weitere Fälle, in denen der BesuchderHilfs-
schule in klarer Weise wegen besonderer charaktero-
logischer Schwierigkeiten notwendig war, nicht als Pfropf-
schizophrenie anerkannt und von der weiteren Untersuchung und Be-
wertung ausgeschlossen.
Schwieriger sind die diagnostischen Zweifel in den Fällen der
beiden männlichen Kranken, die hierher gerechnet wurden, zu lösen.
Im ersten Fall handelt es sich um eine akut aufgetretene paranoid-
halluzinatorische Erkrankung eines 22jährigen Imbezillen. Der Zu-
stand ging durch ein faxiges Stadium in einen kurzdauernden mani-
schen Zustand über. Nach einmonatiger Unauffälligkeit tritt ein
Verstimmungszustand auf mit inadäquatem Affekt, beziehungslosen
Reden, unmotivierten und impulsiven Errerungszuständen, Wahn-
ideen und Erregung; dieser Zustand hält mehrere Monate an. Danach
ist der Kranke auffallend still, zurückgezogen, spricht vor sich hin,
— 145 —
erimassiert. Endlich ist er wieder von Oktober 1926 bis Ende Januar
1927 in dem Zustand eines leicht torpiden Imbezillen, der sonst un-
auffällig ist. Über den weiteren Verlauf konnte leider von den Eltern
nichts in Erfahrung gebracht werden. Gesamtdauer des Anstalts-
aufenthaltes ein Jahr, davon 34 Jahr in psychotischen Ausnahme-
zuständen. l
Wir sind wenig geneigt, hier an eine beginnende Schizophrenie
zu denken, da ein entsprechender Defektzustand nicht zurück-
geblieben ist. Vielmehr handelt es sich um eine Schwachsinns-
psychose, die dadurch ihre Besonderheit erhielt, daß sie nacheinander
eine große Reihe von Zustandsbildern durchlief und dadurch ohne
Gewalt keinem der erwähnten Zustände zugezählt werden konnte.
Wir betrachten den Zustand als eine Gesamt-Psychose. — Einen
Wechsel zwischen zwei Zustandsbildern sahen wir nicht selten in
anderen Fällen.
Der letzte Fall endlich steht seit 1924 in unserer Beobachtung.
Der Kranke ist in der Schule dreimal sitzen geblieben, zeigt schlechte
Intelligenzleistungen, doch ist das Ergebnis der Intelligenzprüfung
stets sehr wechselnd. Fragen, bei denen er das eine Mal versagt, be-
antwortet er zur anderen Zeit mit guter Sinnerfassung. Doch ist das
eigentliche Schulwissen stets sehr dürftig. Der Kranke befindet sich
dauernd in einem Hemmungszustand. Der Affekt ist wenig tief, nicht
depressiv, nicht leer. Zeitweilig überrascht er durch seine sprach-
lichen Äußerungen, so kürzlich beim Vorzeigen des Binet-Bildes
Fensterpromenade: „Ja, wenn man dem was schenken würde, würde
der dann den Dreien aus dem Wege gehen?“ (?) „Wenn er geradeaus
geht, würde er stürzen.“ Ein prozeßhafter Verlauf ist in dieser chro-
nischen Psychose bisher nicht erkennbar. Symptomatologisch ist der
Zustand am besten als ein solcher von initiativeloser Ver-
sunkenheit mit pathologischen Einfällen zu be-
zeichnen. Die nosologische Zuordnung dieser Psychose ist noch un-
geklärt.
K. Allgemeines über Schwachsinn und Psychose.
Nachdem wir bisher das klinische Material geordnet und ge-
sichtet haben, die klinischen Bilder an Beispielen beschrieben und
ihre Verbundenheit mit dem Schwachsinn untersucht haben, ist es
jetzt vor der weiteren klinischen Schilderung notwendig, einiges über
die Beziehungen des Schwachsinns zu den Psychosen zu sagen. Es
soll dabei an dieser Stelle in der Hauptsache untersucht. werden, wie
die bisher niedergelegten Ansichten über diese Beziehungen durch
— 146 —
unser klinisches Material verifiziert werden, insbesondere sollen, ent-
sprechend den geschilderten Symptomenkomplexen, die Beziehungen
des Schwachsinns zum manisch-depressiven Irresein und zur Schizo-
phrenie erörtert werden. Was wir darüber hinaus über die klinische
Stellung der Schwachsinnspsychosen allgemein annehmen, soll erst
in der zusammenfassenden Besprechung der Ergebnisse Erwähnung
finden.
Entsprechend ihrer praktischen Wichtigkeit und der breiten
literarischen Erörterung über die Beziehungen des Schwachsinns zu
allen Formen der Schizophrenie stellen wir diese Beziehungen in
unseren Untersuchungen voran. Gemäß der Beschränkung des
Materials auf erwachsene Kranke scheidet die Erörterung der Be-
ziehungen der Dementia infantilis und Dementia praecocissima zu
Schwachsinn und Schizophrenie im wesentlichen aus. Völlig können
diese Beziehungen nicht übergangen werden, weil die Untersuchungen
dieser in Anstalten und Kliniken nicht sehr häufig vorkommenden
Zustände Ergebnisse gezeitigt haben, deren Kenntnis für unsere
Meinungsbildung wichtig ist. Erschwerend wirkt hier allerdings der
Umstand, daß der Umfang und die pathogenetische Zugehörigkeit
dieser Krankheitsbilder bisher nicht einheitlich bestimmt ist. Eine
Reihe von Autoren sieht mit de Sanctis in diesen Zuständen nur
den besonders vorzeitigen Beginn einer schnell zur Verblödung
führenden Dementia praecox. Andere [Heller, Weygandt (3)
u. a.| halten einen schnell eintretenden und tiefen Verblödungs-
zustand durchaus nicht für typisch. Beide Autoren bevorzugen die
Bezeichnung Dementia infantilis und lassen die Beziehungen dieses
Krankheitsbildes zu Schwachsinn und Schizophrenie einstweilen noch
offen. Sowohl das eine wie das andere Krankheitsbild deckt nicht
völlig die Fälle, die von Vogt (2) und Raecke als Katatonie im
Kindesalter beschrieben worden sind; diese Fälle zeigen am ehesten
Verwandtschaft mit den von Weichbrodt, Voigt und
Villinger beschriebenen. In allen diesen letztgenannten Fällen
handelt es sich in der Mehrzahl um echte Schizophrenien. Was aber
diese Beschreibungen und Untersuchungen, soweit sie sich damit be-
schäftigen, gemeinsam zeigen, ist die Tatsache, daß eine Reihe in
früher Kindheit beginnender und schubweise verlaufender Schizo-
phrenien in ihren Intervallen Defektzustände hinterlassen. Dadurch
sind diese Individuen nicht nur praktisch den Imbezillen gleich-
gestellt, sondern es ist auch dem ärztlichen Untersucher unmöglich,
aus dem Zustandsbild allein die differentialdiagnostische Entscheidung
zwischen einfacher Imbezillität und schizophrenem Defektzustand zu
— 47 —
fällen. Wenn solche Zustände in späteren Lebensjahren, etwa der
Pubertät, wieder akut werden, wird nicht selten das Vorliegen einer
Pfropfschizophrenie angenommen. Eine derartige Benennung dieser
Zustände ist, soll die Bezeichnung Pfropfschizophrenie überhaupt
einen begrifflichen Sinn haben, nicht angebracht. Beachtenswert
bleibt jedoch in diesem Zusammenhang die Tatsache des nicht selte-
nen Vorkommens derartiger in langjährigen Intervallen aufeinander-
folgender schizophrener Verläufe bei jugendlichen Personen.
Diese Beobachtungen sind in relativer Unabhängigkeit vom
klinischen Entwicklungsgang des Begriffs der Pfropfhebephrenie ge-
funden worden. Die Begriffsbildung der Pfropfhebephrenie geht auf
Kraepelin (4) zurück. Krae'pelin nahm an, daß die Dementia
praecox sich oft auf einen ausgeprägten Schwachsinn aufpfropfe,
und „daß die aus der Jugend stammenden Abweichungen durch
einen ersten, im frühesten Lebensalter erfolgten Schub derselben
Krankheit erzeugt sind, die späterhin als Dementia praecox auf-
tritt.“ ... „Durch diese Annahme wird ein Licht auf gewisse Formen
der Idiotie geworfen, bei denen wir ausgeprägte katatonische Stö-
rungen beobachten, Grimassieren, Speicheln, Negativismus, Hal-
tungs- und Bewegungsstereotypien. Es wäre sehr wohl möglich, daß
wir in ihnen Frühformen der Dementia praecox vor uns haben, zu-
mal wir bei den schweren Verblödungen dieser, Krankheit ganz die-
selben rhythmischen Bewegungen auftreten sehen, wie sie uns so oft
bei der Idiotie begegnen. Masoin hat ähnliche Vermutungen aus-
gesprochen, deren Richtigkeit sich möglicherweise auf anatomischem
Wege genauer prüfen läßt.‘
In diesen Worten Kraepelins liegt eine nicht zu übersehende
Inkonsequenz. Nach der Schilderung Kraepelins handelt es sich
entweder um ein „Wiederaufflackern‘ eines früheren Zustandes, also
nicht um eine „Aufpfropfung“. Oder Kraepelin hat den Begriff
des Schwachsinns in verschiedener Bedeutung angewandt; wie ich
bereits anderweitig betont habe, ist letzteres der Fall, die Mehr-
sinnigkeit des Schwachsinnsbegriffs zieht sich durch Kraepelins
damaliges Werk dauernd hin.
Kraepelin hielt also die Identifizierungsmöglichkeit der
Dementia praecox mit manchen Idiotieformen aus der Gemeinsam-
keit der Bewegungsstérungen für wahrscheinlich. Dieser Annahme
widersprach Weygandt (3) als erster. Wevgandt, der das
Gesamtproblem des Zusammenhangs von Idiotie und Dementia prae-
cox behandelte, wies darauf hin, daß die motorischen Störungen der
Idioten kein Beweis für ihre Verwandtschaft mit Dementia praecox
— 148 —
seien, daß sie weniger in den Bewegungsstörungen der Katatonie
als in gewissen Entwicklungsperioden der normalen Kindheit ihr
Analogon finden. Nach Weygandt untersuchte Plaskuda (1,2)
das große Material der Schwachsinnigenanstalt in Lübben speziell
auf das Vorkommen von Stereotypien und sonstigen katatonischen
Erscheinungen. Plaskuda fand nun Stereotypien bei 60 % der
tiefstehenden Idioten, gar nicht bei den leichteren Idiotiegraden
seines Materials. Mit Recht weist Plaskuda darauf hin, daß die
Annahme des Bestehens einer Dementia praecox bei 60 % aller
schweren Idiotieformen gezwungen wäre, und daß niemand eine der-
artige Annahme macht. Er betont ferner, daß es ja nicht diese
schweren Idiotieformen seien, an denen die Frage der Pfropfschizo-
phrenie erörtert werde, sondern die psychotischen Störungen der
Imbezillen. Allein daraus geht hervor, daß der Begriff der
Pfropfhebephrenie in den 7 Jahren, die seit Kraepelins Meinungs-
äußerung verflossen waren, sich stark erweitert hatte. Plaskuda
kommt im übrigen zu dem Schluß, daß die Stereotypien der schweren
Idioten mit den Bewegungsstörungen der Katatonen nicht wesens-
verwandt seien. Es spricht nur für diese Annahme, daß die analy-
tische Betrachtung der Stereotypien, die Kläsi in den letzten
Jahren durchführte, zu demselben Ergebnis gelangt.
In den Jahren, die seit der Publikation von Plaskuda ver-
flossen sind, hat sich die Hauptströmung der Psychiatrie von der
entwicklungsgeschichtlichen Betrachtungsweise der katatonen Be-
wegungsstörungen einer hirnmechanistischen zugewandt. Den Anlaß
dazu gaben zwei neue Impulse. Der erste Impuls ging von den
Kleistschen (1) Untersuchungen über die psychomotorischen
Störungen der Geisteskranken aus. Diese Untersuchungen, deren
Grundlagen heute auch von Kleist nicht mehr voll aufrecht er-
halten werden, haben neben Bonhoeffers Untersuchungen der
exogenen Reaktionsformen wesentlich dazu beigetragen, den vieler-
orts starren psychiatrischen Reflexvorgang: katatone Bewegungs-
störung-Krankheit Katatonie zu brechen. Die Syndromenlehre
Hoches hat sich wohl für das Katatonie-Syndrom auf Grund der
Kleistschen Untersuchungen am ehesten und verbreitetsten
Geltung verschafft. Diese Geltung ist sogar bis in die engste Schule
Kraepelins gedrungen, wie u. a. die Untersuchungen von
Lange (1) zeigen.
Wenige Jahre nach diesem ersten erfolgte ein neuer, zweiter
Impuls in derselben Richtung. Dieser Impuls ging von der Enzepha-
litis--Epidemie und ihren Folgezustiinden aus. Die Namen Steiner,
— 149 —
®
Fränkel, Steck, Schilder, Bostroem (1) und Stertz —
um nur einige zu nennen — kennzeichnen die Entwicklungslinie.
Die Einzelheiten ihrer Untersuchungen bedürfen hier keiner Erwäh-
nung. Trotz Differenzen in Einzelheiten, die sich mehr auf den Ver-
gleich der schizophrenen und enzephalitischen Motilitätsstörungen
und ihrer auslösenden Ursachen beziehen (Differenz der An-
sichten über die Schichtung von Gerstmann-Schilder und
Bostroem, Prämotorium Stertz) stimmen sie darin überein,
daB der katatone Mechanismus ein präformierter
Hirnmechanismus ist, der durch verschiedene Ur-
sachen und durch Störungen von verschiedenen
Hirnstellenausin Gang gebracht werden kann. Wenn
nichts anderes, so würde dieses gesicherte Ergebnis der Enzephalitis-
forschung die Stellungnahme zu den katatonen Störungen der
Schwachsinnigen bestimmen müssen. Jedenfalls kann heute aus dem
Vorkommen der unter dem Namen „Idiotenbewegungen‘“ bekannten
Motilitätsstörungen — Stereotypien, Hyperkinesen, Manieren, Nega-
tivismen — bei Schwachsinnigen nicht mehr eine innere Verwandt-
schaft mit der Katatonie, dem Zustandsbild der Schizophrenie, er-
schlossen werden.
Trotzdem Kraepelin (5) selbst später (S. 949) vor der Über-
schätzung der katatonischen Symptome warnte, spricht er sich doch
wieder an anderer Stelle seines Buches (S. 2302) für die krankheits-
spezifische Bedeutung des Auftretens ungewöhnlicher Symptome aus.
Da Kraepelin an dieser Stelle über das Vorkommen von psychi-
schen Störungen bei Schwachsinnigen im allgemeinen spricht, sei sie
hier wegen der Bedeutung, die Kraepelins Ansicht naturgemäß
erlangen mußte, wörtlich zitiert:
„Umstritten ist die Frage, ob die bisweilen bei Oligophrenen
beobachteten auffallenderen seelischen Krankheitserscheinungen,
Sinnestäuschungen, Wahnbildungen, Erregungen, Verstimmungen,
Stuporzustände, Äußerungen desselben Leidens sind, das die Ver-
standesschwäche bedingt, oder ob wir es dabei mit anderweitig ver-
ursachten, selbständigen Beimischungen zu tun haben. Daß letzteres
für die gelegentlichen alkoholischen Zufälle gilt, bedarf keiner Er-
örterung. Ich bin aber geneigt, überhaupt anzunehmen, daß aus-
gesprochene Geistesstörungen nicht zum Bilde des kindlichen
Schwachsinns in dem hier umgrenzten Sinne (vom Ref. ge-
sperrt) gehören. Zweifellos kommen aus äußeren oder inneren An-
lässen öfters vorübergehende Aufregungen oder Verstimmungen vor;
ebenso sind manche Kranke dauernd erregt, unruhig oder mürrisch
— 150 —
@
und reizbar. Dagegen wird das Auftreten neuer, ungewöhnlicher
seelischer Krankheitserscheinungen in der Regel eine andere Be-
deutung haben. In erster Linie muß man die Möglichkeit einer
schizophrenen Erkrankung im Auge behalten, wie sie sich gern
(gesperrt vom Ref.) auf der Grundlage eines kindlichen Schwach-
sinnes entwickelt; dafür spricht namentlich auch das Auftreten von
Wahnvorstellungen, Sinnestäuschungen, Stuporzuständen. Weiterhin
aber kann es sich, falls eingreifende äußere Anlässe gegeben sind,
namentlich Berührungen mit dem Strafgesetz, um hysterische oder
psychogene Erkrankungen handeln, die mit dem Schwachsinn an
sich in keiner Beziehung stehen. Endlich kommen hier und da auch
anfallsweise wiederkehrende Psychosen vor, die wohl als Er-
scheinungsformen des manisch-depressiven Irreseins zu deuten sind,
wenn auch die Ausprägung der Krankheitserscheinungen öfters
ziemlich verwaschen ist.“
An dieser Stelle interessiert namentlich die Ansicht Kraepe-
lins über das Auftreten schizophrener Psychosen bei Schwach-
sinnigen. Kraepelin (8) hat dieselbe Ansicht noch bis zu seiner
letzten publizistischen Äußerung über diese Frage beibehalten. Man
mag über die wissenschaftliche Bedeutung dieser Ansicht streiten,
sicher ist, daß sie praktisch von weittragender Bedeutung wurde,
und daß der Begriff der Pfropfschizophrenie sich sehr schnell und
weitgehend einbiirgerte. Diese schnelle Beliebtheit des Begriffs
zeigt, daß er einem Bedürfnis der praktischen Diagnostik entsprach
in der Zeit, in der noch nicht durch Kleist, Schröder u. a. die
Bearbeitung des großen Gebietes zwischen manisch-depressivem
Irresein und Dementia praecox in Angriff genommen war. Von den
Ergebnissen dieser Forschungen hat die praktische Diagnostik der
Schwachsinnpsychosen vielerorts ebensowenig Kenntnis genommen
wie von den oben erwähnten Ergebnissen der Katatonieforschung.
Es sind daher teilweise monströse Gebilde entstanden, wie die
„maänisch-depressive Pfropfschizophrenie“ in den Untersuchungen
von Frank. Auch ohne derartige Einzelbeispiele anzuführen, die
sich beliebig häufen lassen, muß man heute von einem Mißbrauch
der Diagnose Pfropfschizophrenie sprechen. Sie ist
der große Sammeltopf geworden, in den heilbare Psychosen bei
Schwachsinnigen bedenkenlos hineinkommen; ja, aus dem „atypi-
schen“ Verhalten mancher akuter Psychosen — insbesondere bei
Jugendlichen — will man auch ohne weiteren Anhaltspunkt die
„schwachsinnige“ Färbung der Psvehosen entnehmen und diese
Psychosen den Pfropfschizophrenien zuzählen können.
— 151 —
Die Unhaltbarkeit der jetzigen Situation kann
nicht besser gekennzeichnet werden als durch die Tatsache, daß im
Frühjahr dieses Jahres an einem Tage allein auf der Männerseite
fünf Kranke mit der Diagnose Pfropfhebephrenie
von verschiedenen Stellen in die Anstalt Grafenberg eingewiesen
wurden. Keiner der Kranken führte die Diagnose mit
Recht. In 2 Fällen handelte es sich um inzwischen abgeklungene
Halluzinosen, im 3. Fall um einen inzwischen geheilten periodischen
Verwirrtheitszustand, im 4. Fall wurde bei einer schizophrenen Er-
krankung zu Unrecht eine Schwachsinnsgrundlage angenommen, im
5. Falle endlich zeigte der Schwachsinnige starke charakterologische
Dauerauffälligkeiten durch Reizbarkeit und Unzugänglichkeit, aber
keine Zeichen einer psychotischen Veränderung. Aus solchen Fällen
also rekrutiert sich die Gruppe der Pfropfschizophrenien! Es ist zu
bezweifeln, daß die Freunde der ‘Diagnose Pfropfschizophrenie sich
in diesen Fällen auf Kraepelin berufen können.
Man muß sich dabei nochmals die Art vergegenwärtigen, mit der
häufig die Diagnose Schwachsinn gestellt wird. Wir bezeichneten es
einleitend schon als unzulässig, dann Schwachsinn anzunehmen,
wenn „ohne besonderen äußerlich bedingten Anlaß Volksschüler
mindestens um eine Klasse in dem Schulziel zurückbleiben.‘“ Was
aus dieser Anschauung folgt, zeigt wieder die Arbeit von Medow,
der unter diesem Gesichtspunkt intellektuelle Minderwertigkeit bei
44 % der Fälle mit manisch-depressivem Irresein, bei 62 % der
Hebephrenien und bei 40 % der Epileptiker fand. Es blieben also
Manisch-Depressive und Schizophrene häufiger in der Schule sitzen
als Epileptiker. Nun lehrt doch die tägliche klinische Erfahrung, daß
Epileptiker viel häufiger von Hause aus schwachsinnig sind als bei-
spielsweise manisch-depressive Kranke, daß der Schluß, den Medow
zieht, mit der Erfahrung also nicht übereinstimmt. Aus dem auffällig
häufigen Versagen der Hebephrenen in der Schulleistung vermögen
wir nur die Folgerung zu ziehen, daß die Hebephrenen in großer
Zahl schon so frühzeitig durch charakterologische Abartung oder den
Beginn des psychotischen Prozesses auffällig wurden, daß sie zur
Erfüllung normativer Leistungen nicht mehr fähig waren.
Eine solche Häufigkeit des Zusammentreffens von Schwachsinn
und Schizophrenie finden andere Autoren nicht. Am nächsten kommt
diesen Zahlen O. Schulze, der in 30 % der Dementia-praecox-
Fälle Schwachsinn fand. Schulze schließt aber trotz der statisti-
schen Häufigkeit des Zusammentreffens von Schwachsinn und Schizo-
phrenie nicht auf ihre Wesensverwandtschaft, er betont ausdrück-
lich, daß er keine Brücken zwischen beiden Erkrankungen sieht und
meint, daß es sich um Steigerungen besonderer Schwachsinnsformen
handelt, nicht um echte Krankheitskombination. Es ist anzunehmen.
daß Schulze damit die Ansicht der damaligen Klinik O. Bins-
wangers kundgab.
Alle übrigen Autoren finden angeborene Geistesschwäche bei
Schizophrenen in weit geringerer Zahl, so Plaskuda in 15 %.
Kraepelinin”7 %. Die letzte Untersuchung über den Gegenstand
liegt von Braun vor an dem Material der Münchener Klinik.
Braun fand sehr schlechte Begabung in 1,8 %, schlechte Begabung
in 17,5 %, zusammen in 19,3 %, der Rest hat durchschnittliche bis
außergewöhnliche Begabung. Dabei fand sich die größte Häufigkeit
nicht bei der mittleren Begabung, sondern 64,5 % der Schizophrenen
waren ausgesprochen gut oder sehr gut begabt. Die Ansicht, die man
bei der Untersuchung von Schizophrenen eindrucksmäßig bekommt,
‘daß nämlich ihr größerer Teil überdurchschnittlich begabt ist, was
Bleuler auch früher schon behauptet hat, wird durch diese Zahlen
bestätigt. Jedenfalls kann von einer engeren Beziehung zwischen
Schwachsinn und Schizophrenie nicht die Rede sein. Nachdem in
den letzten Jahren die präpsychotische Persönlichkeit der Schizo-
phrenen näher analysiert worden ist, nachdem der Begriff des
Schizoids, wenn auch in seiner näheren Umgrenzung schwankend,
heute Gemeingut der Psvchiatrie geworden ist, verlieren die älteren
Statistiken weiterhin an Bedeutung und die Zusammenhänge von
Schizophrenie und Begabung bzw. Minderbegabung bedürfen heute
neuer Untersuchung, nicht nur der Beurteilung nach dem äußeren
Schulerfolg.
Schon jetzt läßt sich jedoch sagen, daß, wenn überhaupt
die Annahme einer Pfropfschizophrenie in dem Sinne gerechtfertigt
ist, daß zu einem in bestimmter anderer Richtung determinierten
Schwachsinn später eine sichere schizophrene Prozeßpsychose hin-
zutritt, es sich nur um ein höchst seltenes Vorkommnis
handeln kann. In dieser Ansicht werden wir durch das Ergebnis
unserer Untersuchung bestärkt. Sichere Fälle von Pfropf-
schizophrenie konnten wir überhaupt nicht beob-
achten; es blieben jedoch, wie erwähnt, einige wenige Fälle, in
denen wir ihr Nichtvorhandensein nicht mit genügender Sicherheit
ausschließen konnten. Die Annahme, daß es sich in diesen Fällen
um das Wiederaufflackern einer früheren schizophrenen Erkrankung
handelt, kann in unseren Fällen mit Sicherheit weder bewiesen noch
widerlegt werden.
— 153 —
Es ist fast natürlich, daß in den verschiedenen Anstalten, in
denen unsere Kranken sich befanden, im einen oder anderen Fall
die Diagnose Pfropfschizophrenie gestellt wurde; inkeinem Fall
«rer, der mir in persönlicher Nachuntersuchung zugänglich war,
war wirklich eine schizophrene Persönlichkeits-
umwandlungeingetreten; in allen anderen Fällen ließ schon
das Krankenblatt das Ausbleiben eines schizophrenen Zerfalls er-
kennen.
Dieses Ergebnis ist vielleicht überraschend. Es steht jedoch nur
scheinbar im Gegensatz zur Literatur. Denn, was bisher als Pfropf-
schizophrenie geschildert worden ist, kann wenig überzeugen; so ist
unter den von Plaskuda (1) geschilderten Fällen die Annahme
eines angeborenen Schwachsinns nur in ganz wenigen Fällen über-
zeugend dargelegt worden, Wasner dagegen ist zu sehr geneigt,
auch episodische, heilbare Psychosen als Schizophrenie zu bezeichnen.
Solche diagnostischen Schwierigkeiten, die sich überall finden, lassen
es müßig erscheinen, die in der Literatur als Pfropfschizophrenie be-
zeichneten Psychosen einzeln zum Vergleich mit unserem Kranken-
material heranzuziehen, besonders dann, wenn ein anderer Schwach-
sinnsbegriff angewandt ist. Das erübrigt sich um so mehr, als auch
in den lehrbuchmäßigen Darstellungen der letzten Jahre der Pfropf-
schizophrenie nur ein kleiner Raum zugewiesen wird. Bumke (3)
z. B. denkt nur in einigen Fällen chronischer Halluzinose bei
Schwachsinnigen an eine Pfropfhebephrenie, Reichardt erwähnt
derartige Pfropfpsychosen überhaupt nicht, womit er sich von den
Fesseln der Tradition frei macht. Aber selbst Bleuler (3), dem,
man gewiß nicht eine zu enge Fassung des Schizophreniebegriffs vor-
werfen wird, trennt die Pfropfhebephrenie von den eigentlichen
Schizophrenien ab, indem er betont, daß bei den Pfropfhebephrenien
die affektive Zugänglichkeit meist erhalten bleibt. Wenn wir diese
Pfropfpsychosen noch etwas weiter von der Schizophrenie abrücken,
so bedeutet das gegenüber der Ansicht des Meisters der Schizo-
phrenie-Lehre nur einen kleinen, nicht sehr bedeutungsvollen Schritt.
Eine scharfe Trennung der Psychosen bei Schwach-
sinnigen und der Schizophrenie erscheint wegen vieler äußer-
licher Ähnlichkeiten um so notwendiger. Diese Ähnlichkeit
betrifft einmal die Mannigfaltigkeit der vorkommenden Zustands-
bilder. Schon Plaskuda (2) hatte auf die Mannigfaltigkeit der
Erregungszustände bei Idioten hingewiesen; die neueren Unter-
suchungen von Luther, Medow sowie die vorliegenden lassen
erkennen, daß der Formenreichtum der Psychosen der
— 154 —
Schwachsinnigen entsprechend der Abnahme des
Schwachsinnsgrades steigt. Es wurde jedoch gezeigt, daB
es sich um nicht schizophrene Psychosen handelt. Mit
dem steigenden Formenreichtum der Zustandsbilder steigt auch die
Zahl der psychopathologischen Einzelsymptome, deren äußere Ahn-
lichkeit Anlaß zu differentialdiagnostischen Erwägungen geben wird.
Sie hier einzeln aufzuführen, ist deshalb zwecklos, weil das Einzel-
symptom häufig einen Unterschied in beiden Psychosen nicht er-
kennen lassen wird und seine spezifische Bedeutung erst
im Gesamtverband der seelischen, speziell der psvchotischen
Symptome erhält. Mayer-Groß spricht von der Atmo-
sphäre des Schizophrenen, „die wir spüren, aber nicht be-
grifflich erfassen können“, und die zu den Einzelsvymptomen hinzu-
kommen muß, um aus den Symptomen das Krankheitsbild werden zu
lassen. Auch Maver-Groß glaubt, daß „vielleicht durch eine
stärkere Berücksichtigung der Gesamtumstände, in denen die Svm-
ptome eingebettet sind“, unsere Kenntnis wachsen wird. Schließlich
wird noch der Verlauf etwaige Schwierigkeiten lösen. Wir erwarten,
daß auch diejenigen Schizophrenien, die nicht in ununterbrochener
Folge zur Verblödung führen, sondern durch weitgehende Remissio-
nen unterbrochen sind, in ihren guten Zeiten ein deutliches Absinken
des geistigen Niveaus gegenüber der präpsychotischen Zeit aufweisen
und schizophrene Symptome noch erkennen lassen. An „Heilung
ohne Defekt“ glauben wir bei Schizophrenien nicht.
Schließlich seien noch die Forschungen der letzten Jahre über
den schizophrenen Reaktionstvp (Popper) erwähnt, die vielleicht
geeignet sind, auch die Beziehungen von Schwachsinnspsycehosen
und Schizophrenien neu zu beleuchten. Popper versteht darunter
solche Zustände, die nach seelischen Erschütterungen unter einem
Bilde verlaufen, das ihre symptomatologische Trennung von der
Schizophrenie häufig unmöglich macht. Auf Veranlassung von
E. Kahn werden diese Zustände jetzt als schizoide Reaktionen
bezeichnet; Kahn legt dabei weniger Wert auf das auslösende
Agens als auf die Zugehörigkeit dieser Reaktionen — entsprechend
seinem Begriff des Schizoids — in den „Umkreis“ der Schizophrenie.
Schließlich haben Jacobi und Kolle auf die Beziehungen dieses
Reaktionstyps zu den exogenen Reaktionen hingewiesen, Beziehun-
gen, mit denen Bumke (2) eine Revision der Dementia-praecox-
Lehre anstrebt. Aus diesen verschiedenen Meinungen läßt sich bis-
her entnehmen, daß die Entwicklung unserer Anschauungen über
einen Teil der Schizophrenien denselben Weg gehen wird, den sie,
— 155 —
wie oben gezeigt wurde, für katatone Störungen bereits gegangen
ist, von der Krankheitseinheit über die Syndromen-
lehre zum psychischen oder Hirnmechanismus. Da-
mit würden die Beziehungen von Schwachsinnspsychosen und Schizo-
phrenie wieder auf eine völlig veränderte Basis gestellt.
Die Beziehungen des Schwachsinns zum manisch-depressiven
Irresein sind weit weniger kompliziert als die zur Schizophrenie.
Das entspringt nicht einer inneren Differenz, sondern nur der mehr
zufälligen Tatsache, daß diese Beziehungen durch Theorienbildung
nicht vorzeitig und unrichtig kompliziert wurden. Man hat sich mit
der Feststellung des Vorkommens manisch-depressiver Erkrankungen
bei Imbezillität begnügt. Allgemein ist zu erkennen, daß eine der-
artige Krankheitskombination selten ist. Stransky erwähnt sie
nicht, Rehm betont ausdrücklich ihre Seltenheit. Auch unter den
100 Fällen von Lange mit katatonischen Einschlägen der manischen
Erkrankung fanden sich nur wenige Schwachsinnige, darunter nur
4 Fälle von nicht durch Alkohol usw. komplizierter Manie bei
Schwachsinn. Auch unser Material zeigt, daß zwar echte manisch-
depressive Erkrankungen bei Schwachsinnigen vorkommen, daß sie
jedoch selten sind.
Der andere Punkt, der Beachtung fand, ist die Färbung des
manisch-depressiven Irreseins durch den Schwachsinn. Ziehen (2)
nennt beispielsweise die „melancholischen, bzw. hypochondrischen
Wahnvorstellungen auffällig unbestimmt und inhaltsarm, die Angst
auffällig weinerlich. Die maniakalische Heiterkeit hat etwas
Albernes, die Ideenflucht ist äußerst monoton. Witzige Pointen
fehlen ganz.‘ Allgemein sind in der Literatur keine anderen Sym-
ptome als charakteristisch für das manisch-depressive Irresein bei
Schwachsinnigen angegeben, als wir sie am eigenen Material auch
sahen und oben beschrieben haben, so daß sich ihre nochmalige Auf-
zählung erübrigt. Hinzuweisen ist nur noch darauf, daß die als
häufig erkannten Symptome der Schwachsinnigen-Melancholien nicht
streng spezifisch sind und Bumke (3) warnt „vor der irrigen An-
nahme des Schwachsinns bei gewissen manisch-depressiven Misch-
zuständen, bei denen Rededrang ohne Ideenflucht besteht und die
sprachlichen Leistungen infolgedessen auffallend dürftig erscheinen.“
Komplizierend kann ein Schwachsinn eine manische oder melan-
cholische Erkrankung dann färben, wenn es sich um die Abgrenzung
der Dementia praecox vom manisch-depressiven Irresein handelt.
Wie Trömner betont — und wir schließen uns dem an — ist der
Neustadt, Die Psychosen der Schwach-innigen (Abhdl. H. 48). 11
— 156 —
manische Affekt des Imbezillen oft läppisch. Läppisch ist aber eben-
so der Affekt des Hebephrenen. Wir sahen ferner, daß die Depression
der Schwachsinnigen oft leer ist, ohne daß damit die entsprechende
Prognose schizophrener Erkrankung verbunden ist. Wir werden in
solchen Fällen die differentialdiagnostischen Schwierigkeiten eher als
aus der Analyse des Einzelfalles aus den allgemeinen Erfahrungen
über Schwachsinnspsychosen lösen können. Diese besagen, wie ge-
zeigt wurde, daß in entsprechenden Fällen die Annahme einer
schizophrenen Erkrankung nicht gerechtfertigt ist.
Welches Ergebnis zeigen nun die Psychosen der Schwachsinnigen
in der Frage der kombinierten Psychosen? Es soll hier nicht die
Gesamtfrage über kombinierte Psychosen aufgerollt werden und es
sollen ferner nicht die Kombinationen des Schwachsinns mit Arterio-
sklerose, Paralyse usw. in Betracht gezogen werden, da sie nicht
Gegenstand der klinischen Untersuchung waren. Für die übrig-
bleibenden funktionellen Psychosen ist die Fragestellung durch die
klinische Systematik wesentlich eingeschränkt gegenüber der Zeit,
da sich Krafft-Ebing, Pick und Siemens über kombinierte
Psychosen, insbesondere bei Schwachsinnigen, äußerten. Ja, man
muß sagen, daß die Zeitentwicklung der hier zu erörternden Frage
geradezu ungünstig war. Während Gaupp (1) in seiner früheren
Bearbeitung der Frage die Kombinationen der Schwachsinnigen nicht
vernachlässigte, meint er jetzt (3): „daß zur angeborenen Imbezillität
bisweilen die Schizophrenie als „Pfropfschizophrenie“ hinzutritt, ist
kein Problem .. .*
Wäre die Meinung, die Gaupp hier vertritt, richtig, so wäre
die Kombination „Pfropfschizophrenie‘“ ebensowenig ein Problem wie
Morphinismus oder Arteriosklerose bei Imbezillität. Da wir sie als
nicht richtig erkannt haben, beginnt das Problem an der negativen
Seite. Die Frage lautet hier: Warum kombiniert sich der Schwach-
sinn selten oder gar nicht mit manisch-depressivem Irresein oder
Schizophrenie? Was darauf nach dem heutigen Stand unserer Kennt-
nisse zu antworten ist, wird sich aus der Zusammenfassung unserer
Untersuchungen im Schlußkapitel ergeben. Schon hier sei jedoch
darauf hingewiesen, daß Geist vor mehr als 20 Jahren schon die
Frage in dem Sinne beantwortet hat, daß manische und schizophrene
Zustandsbilder bei Schwachsinnigen nicht auf eine Krankheits-
kombination hinweisen, sondern Ausdruck derselben Erkrankung
sind, die ursprünglich zum Schwachsinn geführt hat.
— 157 —
L. Grenzfälle.
Entsprechend der oben gegebenen Definition umfaßt diese
Gruppe die Fälle, deren einzelner seelischer Ausnahmezustand nicht
den Wert einer Psychose hat, bei denen aber Abweichungen vom
seelischen Grundzustand so häufig und so langdauernd auftreten,
daß sie in vieler Beziehung den Psychosen gleichzusetzen sind. Es
handelt sich also im wesentlichen um Reaktionen bei schwach-
sinnigen Persönlichkeiten, die auf den ersten Blick als psycho-
pathisch erscheinen könnten. Nicht ihr Schwachsinn an sich bringt
sie in psychiatrische Behandlung, sondern ihre Reaktionsweise gegen-
über den Lebensereignissen. Es soll untersucht werden, inwieweit
der Schwachsinn diese Reaktionsweisen bestimmend beeinflußt.
Die Beziehungen zwischen Schwachsinn und Psvchopathie sind
früher wesentlich einfacher dargestellt worden als sie jetzt er-
scheinen; beide Zustände erwuchsen der „degenerativen Anlage‘, die
Psychopathien waren gewissermaßen Geschwister des Schwachsinns.
Koch spricht daher von den „angeborenen psychopathischen
Minderwertigkeiten“. In Kraepelins Systematik wurden die
psychopathischen Zustände später (V. Aufl.) dem Entartungsirresein
zugezählt; der Schwachsinn wurde als Entwicklungshemmung davon
abgetrennt. Die seitdem angebahnte Entwicklung hat diesen Weg
ständig fortgesetzt und heute sind Schwachsinn und Psychopathie
im Sinne des obigen Vergleichs nur noch als ganz entfernte Ver-
wandte zu bezeichnen. Die Darstellung der psvchopathischen Per-
sönlichkeiten und der psychopathischen Reaktionen, wie sie
Schneider (2, 3) uns gegeben hat, läßt Beziehungen der psycho-
pathischen Abartungen zum Schwachsinn völlig vermissen. Und wir
betonen, daß auch nach unserer Ansicht innere Beziehungen zwischen
beiden Zuständen in der Regel nicht bestehen, daß die psycho-
pathische Störung nicht „natürlich“ aus dem Schwachsinn heraus-
wächst. Wo psychopathische Störungen mit angeborenem Schwach-
sinn zusammen vorkommen, ist daher dieses Zusammentreffen eben-
sosehr ein Problem wie die Kombination von Schwachsinn mit einer
der großen Psychosen. 7
Als Grenzfälle wurden die in dieser Gruppe vereinigten Fälle
auch deshalb bezeichnet, weil sie sich von den psychopathischen
Zuständen der Vollsinnigen in mancherlei Beziehungen unterscheiden:
äußerlich durch die große Zahl von Fällen, die für lange Zeit an-
staltspflegebedürftig blieben, wesentlich durch die enge Ver-
knüpfung der hier gemeinten Fälle mit psychotischen Zuständen. Das
11*
— 158 —
Gros der hier vereinigten Fälle kann als Ausläufer eines der psycho-
tischen Zustandsbilder — der depressiven, ängstlichen, hyper-
kinetischen, halluzinatorischen, paranoiden — betrachtet werden.
Grenzfälle sind es also zu den Psychosen hin.
Wenn sie nicht als „Verdünnungen“ an die einzelnen Zustands-
bilder angeschlossen wurden, sondern zu einer neuen klinischen
Gruppe zusammengeschlossen wurden, so erschien das wegen ihrer
Gemeinsamkeiten berechtigt. Außerdem waren diese Fälle, die mit
verschiedenen psychotischen Zustandsbildern in Beziehung standen,
dazu geeignet, die enge Verbundenheit der beschriebenen Zustände
untereinander aufzudecken. So zeigt sich schließlich die ganze
GruppederGrenzfällealsengmitdenpsyehotischen
Zuständen verwandt.
Es wurde diese Behauptung vorangestellt, weil sie die Betonung
des ersten und nachhaltigsten Eindrucks ist, den die erste Durch-
sicht dieser größten Gruppe aus der individuellen Mannigfaltigkeit
hinterließ. Immer wieder drängte sich der Eindruck auf, daß diese
„psvchopathischen“ Reaktionen eigentlich mehr psychotisch seien.
Die Gründe hierfür seien an einem Fall dargestellt.
Fall 33 Werner Salz, geb. 22. 9. 18%.
Aufgenommen am 4. 12, 1925 wegen mehrfacher Suizidversuche. Schnitt
sich Anfang November 1925 die Pulsader links durch; ist am 1. 12. 1925 aus
dem 2. Stock zum Fenster hinausgesprungen; hegt noch ständig Suizid-
absichten.
Körperlich zeigt S. außer einigen Öperationsnarben und Verletzungs-
narben. sowie einer elektrischen Übererregbarkeit am nerv. ulnaris nichts
Besonderes.
Nach der Aufnahme war er ruhig. ziemlich mürriseh, dabei im ganzen
Wesen leicht gehemmt und hin und wieder gereizt. Dieser Zustand hält nur
2 Tage an, danach ist er frei im Wesen und unauffällig.
Er gibt u. a. an, daß der Vater verunglückte, als er % Jahr alt war: die
Mutter lebe gesund, ebenso seine einzige Schwester. die verheiratet sei. Von
Geistes- und Nervenkrankheiten. Alkoholismus und Epilepsie in der weiteren
Familie weiß er nichts.
Er selbst habe als Kind Diphtherie durchwemacht (Tracheotomienarbe),
mit 8 Jahren eine Lungenentzündung und sich mit 14 Jahren eine schwere
Verbrennung am rechten Fuß zugezogen (Narben). — In der Schule habe er
schlecht gelernt (nach Angaben seines Arztes „immer nervös und schlechter
Schüler“). sei mehrfach sitzen geblieben. Konnte schlecht rechnen und lesen.
das Schreiben sei gut gegangen. Nach der Schulentlassung mit 14 Jahren er-
lernte er 3 Jahre lang den Formerberuf.
Am 7. 8 1917 wurde er zum Militär eingezogen. War von Oktober 1917
bis November 1918 als Infanterist an der Front, war nieht verwundet. krank
oe 9
oder verschüttet.
— 19 —
Nach dem Kriege habe er wieder als Former gearbeitet, zuerst bis 1920.
Danach war er ein Jahr lang Bauarbeiter (Grund?), ist seit 1921 wieder Former
und zwar dauernd bei demselben Werk. Gearbeitet habe er zuletzt am 27. 11.
1925. An diesem Tage sei er ins Krankenhaus gebracht worden, weil er zum
Fenster hinausgesprungen sei. Daß er das gemacht habe, sei Schuld seiner
Frau.
Er sei seit dem 2, Mai 1925 mit gesunder Frau verheiratet. Er habe nie
einen starken Geschlechtstrieb gehabt; in der Ehe ergaben sich dadurch
Schwierigkeiten, daß er die Frau nur höchstens zweimal wöchentlich befriedi-
gen konnte. Zuerst sei er trotzdem ganz gut mit seiner Frau ausgekommen.
Vor 6 Wochen aber habe seine Frau ihn vor ihren Freundinnen wegen
seiner Schwäche blamiert. Darüber habe er sich erregt und seine Frau gegen
den Magen geschlagen. Sie sei umgefallen und sofort zu einem Arzt gebracht
worden; Ernstliches sei aber nicht passiert. Ihm habe es sofort hinterher
sehr leid getan, und er habe sich sehr um seine Frau bemüht. Vom Arzt aus
habe sie nicht mit ihm nach Hause gehen wollen; da ihre Eltern sie aber nicht
aufnahmen, sei sie abends doch in die Wohnung zurückgekehrt.
Am Sonntag, den 26. 11. habe er in einer Wirtschaft mit einem Bekannten
Krach bekommen. Dieser habe ihm vorgeworfen, er habe seine Frau getreten;
das sei nicht wahr und daher sei es zum Streit gekommen. Er sei vom Wirt
dann aus dem Lokal gewiesen worden. Seine Frau, die bei dem Vorfall zu-
gegen war, sei aber nicht mit ihm zusammen aus der Wirtschaft gegangen,
sondern habe ihn draußen warten lassen. Er habe dann noch 4 Stunden im
Schnee gestanden und auf seine Frau gewartet.
Als er am folgenden Tage von der Arbeit nach Hause gekommen sei, war
die Frau mit Wäsche und Kleidern fort. Sie wohne seitdem bei ihrem Onkel
und sei nicht zur Rückkehr zu bewegen. Sie habe vielmehr die Scheidungs-
klage eingereicht. Sie sei auch wiel mit anderen Männern herumgelaufen, ob
sie ihm aber untreu gewesen sei, wisse er nicht. Die ganze Art der Schilde-
rung des Beginns und Verlaufs seiner Ehe zeigt, daß er von Anfang an der
unterlegene Teil war und geheiratet worden ist.
Anfang September 1925 habe er Streit mit seiner Frau gehabt, weil sie
ein Sonntagskleid nicht schonen wollte. Daraufhin habe er im Ärger versucht.
sich mit dem Rasiermesser die Pulsader aufzuschneiden. Aber es sei nicht tief
genug gegangen, und es habe nur wenig geblutet. Auch habe es ihn bald
wieder gereut.
In der letzten Zeit sei er sehr traurig gewesen, insbesondere seit seine
Frau von ihm fortgegangen sei. Er habe 4 Tage nichts gegessen, „weil er sich
das so sehr in den Kopf gesetzt“ hatte. Infolgedessen sei er in der Fabrik
ohnmächtig zusammengebrochen. Er habe deshalb für 8 Tage ins Kranken-
haus gesollt. dort sei er aber schon nach 2 Tagen fortgelaufen. Unterwegs
habe er dann ein Mädchen mit Schneebällen beworfen, deshalb sollte er ein
Protokoll bekommen. Darüber habe er sich so aufgeregt und sei deshalb zu
Hause aus dem 2, Stock zum Fenster hinausgesprungen. Verletzt habe er
sich nicht. Er habe Glück gehabt.
Von seinen Suizidversuchen spricht er ohne gemütliche Anteilnahme, ins-
besondere ohne Erregung. Er bezeichnet sie als „Blödsinn“.
In seinem ganzen Verhalten, sprachlichem Ausdruck wie Körpermotorik
wirkt er naiv und kindlich. In der Beurteilung seines eigenen Verhaltens
— 160 —
zeigt er sich uneinsichtig; die Möglichkeit, sich anders einzustellen und zu
verhalten, als er es ‚getan hat. leuchtet ihm nicht ein.
Persönlich. zeitlich und örtlich ist er völlig orientiert. Der Affekt ist
sleichmäßig, seiner Lage entsprechend. Auffassung. Aufmerksamkeit, Ge-
dächtnis sind ungestört. Die Merkfähigkeit ist stark herabgesetzt. Das
Rechenvermögen, auch für einfachste Aufgaben, sehr gering. Schulwissen sehr
lückenhaft. Urteils- und Untersehiedsfragen werden fast gar nicht beantwortet.
Binet-Simon: A. S. 10.
Verhält sich in der Anstalt ruhig und unauffällig; ist eutmütig. pflegt
hiltsbedürftige Patienten. Wünscht zu Silvester Urlaub, der ihm abgeschlagen
wird, da die Gefahr besteht. daß er zu seiner Frau geht. Ist daraufhin am
31. 12. 1925 aus der Anstalt entwichen.
Diagnose: Triebhandlungen bei Schwachsinn (ungeheilt).
Zusammenfassung: Der Imbezille Werner Salz kommt
ohne größere Schwierigkeiten durchs Leben bis zu seiner Heirat. Aus
sexueller Impotenz erwachsen Konflikte und Spannungen. Diese ent-
laden sich in Schlägereien und Suizidversuchen. Der Anlaß zu den
Suizidversuchen ist oft sehr geringfügig.
Es scheint klar zu sein, daß es sich hier um reaktive psvcho-
pathische Handlungen handelt. Es ist jedenfalls schwer, das Gegen-
teil in diesem Fall zu beweisen; dazu genügte auch die Beobachtungs-
dauer nicht. Unsere abweichende Ansicht erwächst auch hier wieder
nicht aus dem Einzelfall, sondern aus der Betrachtung der Gesamt-
gruppe. Es scheint allerdings anfänglich so, als ob es sich immer um
reaktive Störungen handele, erfolgt doch die Anstaltsaufnahme meist
wegen eines „reaktiven“ Erregungs-, Verstimmungs- oder Ausnahme-
zustandes.
(seht man jedoch den einzelnen Fällen nach, so zeigt sich die
Reaktivität vielfach als sehr zweifelhaft. Nicht ganz von der Hand
zu weisen ist die Annahme einer reaktiven Verstimmung in einem
unserer Fälle, der seit Jahren deshalb anstaltspflegebediirftig ist.
weil er Streitigkeiten mit der Familie mit Suizidversuchen zu beendi-
gen pflegt. In vielen Fällen wird aber als auslösendes Agens nur
Alkoholgenuß nachzuweisen sein. Derartige Fälle können wir aber
nicht mehr als „reaktive“ betrachten; wir sehen vielmehr zwischen
dem Alkoholeenu®B und dem späteren geistigen Ausnahmezustand
einen zwar kausalen, aber nicht verständlichen Zusammenhang im
Sinne von Jaspers. Daß jemand nach Alkoholgenuß verstimmt
wird oder anfängt zu halluzinieren, ist ein psychologisch nicht er-
faßbarer Zusammenhang. Wir sind also in diesen Fällen nicht be-
rechtigt, von reaktiven Zuständen zu sprechen.
Entscheidend für unsere Ansicht der notwendigen Trennung
der hier gemeinten Zustände von Ähnlichen psycho-
— 161 —
pathischen Erscheinungen Vollsinniger war der Verlauf. Es
zeigte sich in den Fällen, die länger in Beobachtung blieben, wie bei-
spielsweise nicht selten bei einem depressiven Dauerzustand plötz-
lich heftige Erregungszustände ohne äußeren Anlaß auftraten.
Der Einwand, daß der Anlaß dem Beobachter entgangen sein könne,
ist für die Gesamtheit dieser Erregungszustände nicht gerechtfertigt:
Motivierungen wurden naturgemäß nach dem Abklingen der Er-
regungszustände in einem Teil gegeben. Nicht selten wurde jedoch
nur als Begründung der Erregung angegeben „ich konnte nicht
anders, ich mußte das tun“.
Der häufigste und bekannteste Typ dieser Gruppe ist der weib-
liche, schwachsinnige Fürsorgezögling; unter den 18 weiblichen
Patienten dieser Gruppe waren 17 Fürsorgezöglinge. Jeder kennt
diesen Typ, der unversehens auf Mitkranke oder Personal losgeht -
oder seine Erregung an Mobiliar oder Scheiben losläßt. Keine
Krankenkategorie ist in Anstalten schwieriger zu behandeln als die
Gruppe der schwachsinnigen und „psychopathischen‘“ Fürsorge-
zöglinge. Der Abstand dieser Fälle zu den anderen Psychopathen
jeder Art ist nicht zu übersehen.
Der Unterschied ist in erster Linie durch die elementare
Triebhaftigkeit dieser Fälle gegeben. Sehen wir, wie beim
Psychopathen überhaupt leicht alle Register gezogen werden, be-
sonders häufig die des Affekts, so fallen dieselben Erscheinungen bei
Schwachsinnigen durch ihre in der Regel elementarere Wucht auf,
durch ihr leichtes Anspielen und durch ihr nicht seltenes Auftreten
rein aus einem inneren undifferenzierten Gefühl heraus. Sie nähern
sich damit ähnlichen Zuständen bei organischen Erkrankungen, wie
Metenzephalitis und Epilepsie. Und es scheint uns, daß ein Teil
dieser Zustände den Trieb- und Drangzuständen
der Enzephalitiker mehr als phänomenologisch nahe-
kommt, ein anderer Teil der reizbaren Verstimmung der Epilep-
tiker entspricht. Gerade dieser Teil zeigt die reizbare Verstimmung
ebenso konstant wie die Epileptiker. Wir bezeichnen daher weiter-
hin die Fälle dieser Gruppe nicht mehr als psychopathische, sondern
als enzephalopathische Störungen bei Schwach-
sinn, das soll heißen, daß in diesen „psychopathischen‘ Zügen der
Schwachsinnigen eine besondereorganische Färbung, wie
bei Hirnkranken, auftritt. Mit einer solchen Anschauung eröffnet
sich uns der Grund für die empirisch längst festgestellte Tatsache
der schlechteren Beeinflußbarkeit der schwachsinnigen „Psycho-
pathen‘“; er ist nicht in ihrem Schwachsinn, ihrer „Kleinverständig-
— 162 —
keit“, ihrer intellektuellen Schwäche zu suchen, sondern in der dem
Schwachsinn zugeordneten Enzephalopathie mit ihren Trieb-
entgleisungen. Auf die Konsequenzen, die sich aus dieser An-
schauung für eine veränderte Stellungnahme in ärztlich-pädago-
gischer und manchmal auch in forensischer Beziehung ergeben
können, sei hier nur hingewiesen.
Betrachten wir unter diesem Gesichtspunkt noch einmal den
Fall Salz, so werden wir auch bei ihm die abnorme Triebhaftigkeit
konstatieren, die sich bei Salz speziell in der Form der Suizid-
versuche äußerte, die aber so bestimmt hervortrat, daß sie den Unter-
sucher zur Annahme von Triebhandlungen bei Schwachsinn führte,
längst bevor die hier dargelegte Anschauung formuliert war. Es sei
jedoch nochmals betont, daß der Eindruck der enzephalopathischen
‚Störung sich mehr aus der Bearbeitung der Gesamtgruppe ergab als
aus dem Einzelfall, und daß bei diesem die Entscheidung zwischen
psychopathischer und enzephalopathischer Abartung häufig erst
nach längerem Verlauf zu treffen ist. Wir sind nämlich nicht der
Meinung, jeder Erregungszustand eines Schwachsinnigen sei enze-
phalopathischer Natur.
Ein weiterer Grund, der unsere Meinungsbildung beeinflußte,
war die auffällige Verbundenheit der Enzephalopathien mit den
früher beschriebenen psychotischen Zustandsbildern. In nicht
seltenen Fällen wurde ein Wechsel von mehreren Zustandsbildern
beobachtet, entweder in unmittelbarer Aufeinanderfolge, oder in
Form verschiedener Zustandsbilder bei mehrfachen, durch ..gesunde
Zeiten“ voneinander getrennten Erkrankungen. Es wurden daher
nicht einfache Erregungszustände bei Schwachsinn in diese Gruppe
aufgenommen, sondern nur solche Kranke, bei denen außer Er-
regungszuständen mindestens noch ein weiteres Zustandsbild —
depressiver, ängstlicher, halluzinatorischer, paranoider Natur — je-
mals beobachtet wurde.
Die enge Zusammengehörigkeit der Einzelfälle dieser Gruppe
zeigte sich noch in zwei weiteren, mehr äußerlichen Merkmalen, die
dureh ihr fast konstantes Vorkommen der Gruppe ein besonderes
geschlossenes Aussehen verliehen, Suizidversuche und Kriminalität.
In 33 Fällen dieser Gruppe waren Suizidversuche, meist zu wieder-
holten Malen, vorausgegangen; am häufigsten wurde der Versuch ge-
macht, die Pulsadern zu öffnen, an zweiter Stelle folgte der Suizid-
versuch durch Erhängen. — Die Kriminalität dieser Gruppe war
ebenfalls groß: eine zahlenmäßige Angabe erübrigt sich, da die Zahl
der tatsächlichen Vergehen — insbesondere bei den jugendlichen
— 163 —
Patientinnen — erheblich größer war als die Zahl der gerichtlichen
Bestrafungen. Bei den Männern lagen vor Brandstiftung, Eigentums-
vergehen und am häufigsten Exhibitionismus und Päderastie. Doch
ist daraus eine zwangsläufige Verbundenheit von Exhibitionismus
usw. mit Schwachsinn nicht zu konstatieren.
Dem Grad des Schwachsinns nach herrschten die höheren Grade
der Debilität und die leichteren Grade der Imbezillität vor. Idioten
fehlten in dieser Gruppe, stärkere Imbezillitäten waren seltener. Die
leichteren Grade der Debilität dürften z. T. in der Statistik als
Psychopathien aufgezählt worden sein. Wir müssen daher annehmen,
daß die Gruppe der Grenzfälle oder Enzephalopathien noch umfang-
reicher ist, als sie hier umfaßt werden konnte.
Die Gruppe umfaßte nur Fälle zwischen 17 und 25 Jahren, so
daß ein altersspezifischer Gesamteinfluß, der der aus-
gehenden Pubertät, als wahrscheinlich vorhanden anzunehmen ist.
Als Fehldiagnosen wurden dieser Gruppe noch zwei besondere
Fälle angegliedert. Der eine Fall fiel durch eine Reihe besonderer
Fehlhandlungen auf, so ließ er als Kraftwagenführer einmal nach
einem verschuldeten Unfall einfach seinen Wagen stehen, lief von
der Unfallstelle fort, weil er glaubte, daß er so am leichtesten un-
erkannt bliebe. Auch in sonstigen unangenehmen Situationen war
sein Wesen durch „Kopflosigkeit‘‘ gekennzeichnet. Ein intellektueller
Schwachsinn bestand nicht; ein Beispiel für die schon mehrfach er-
wähnte Tatsache, daß aus der Unsinnigkeit von Affekthandlungen
ein Rückschluß auf Schwachsinn nicht erlaubt ist.
Der andere Fall war hauptsächlich durch seine Anamnese
interessant. Der 19jährige Kranke war seit 2 Jahren in seinem
Wesen verändert und bot die „typische“ Vorgeschichte des Met-
enzephalitikers. Körperlich zeigte er dagegen keine für Enzephalitis
sprechenden Symptome. Das war um so auffallender, als er auch in
der Anstalt wie ein wesensveränderter Enzephalitiker wirkte mit
seinem vorlauten Wesen, seiner Quenglichkeit, Aufdringlichkeit und
seinen triebhaften Störungen. Das Bild änderte sich schlagartig nach
Entfernung hypertrophischer Gaumen- und Rachenmandeln. Der
Kranke war aus äußeren Gründen noch über ein Jahr nach der
Operation in der Anstalt, war fleißig, ordentlich und unauffällig und
bot in der ganzen Zeit keinerlei Symptome von Psycho- oder Enze-
phalopathie oder Schwachsinn. |
Fassen wir schließlich das Ergebnis dieser stärksten unserer
Krankheitsgruppen zusammen, so betonen wir nochmals, daß uns
das Zusammentreffen von Schwachsinn und Psychopathie nicht als
— 164 —
selbstverständlich erschien und daß die nähere Untersuchung dieser
Fälle zeigte, daß die mannigfaltigen Symptomenbilder dieser Gruppe
von Grenzfällen geeinigt. waren durch die Grundlage der Enzephalo-
pathie.
M. Psychogene Reaktionen.
Daß ein Schwachsinniger psychogen rezgiert, erscheint weniger
auffällig als das Verhalten der in der vorigen Gruppe beschriebenen
Fälle. Ja, wenn man sich an Kraepelins (6, 7) früher vertretene
Anschauung über das Wesen hysterischer Erscheinungen erinnert.
daß solche Ausdrucksformen der Gemütsbewegungen, wie Darwin
gezeigt habe, „wahrscheinlich als Reste uralter Schutzeinrichtungen
zu betrachten‘ seien, „die durch die höhere Ausbildung eines über-
legenden, zielbewußten Willens überflüssig geworden und ver-
kümmert sind‘, so erscheint das Zusammentreffen von psychogenen
Störungen, insbesondere in ihrer hysterischen Erscheinungsform, mit
Schwachsinn als natürlich. Aber auch wenn man anderer Ansicht ist
als Kraepelin über Entstehung und Bedeutung hysterischer
Krankheitserscheinungen, wird man annehmen können, daß der
Schwachsinn die Entstehung psychogener Störungen begünstigt.
Den Ausgang dieser Gruppe stellten nicht die hysterischen
Störungen dar, sondern 5 Fälle von Pseudodemenz. Diese Fälle
gaben den Anlaß dazu, die psychogenen Reaktionen an die Psychosen
anzuschließen; erst diese Fälle verbanden die eigentlichen hysteri-
schen Schwachsinnigen mit den psychotischen.
Das Bild der Pseudodemenz der Schwachsinnigen bot gegenüber
dem hei Vollsinnigen wenig Auffälliges. Vielleicht war das Bild noch
eine Spur aufdringlicher als gewöhnlich; aber groß war die Differenz
sicher nicht. Es war uns nicht möglich, ein Symptom der Pseudo-
demenz zu erkennen, das die Pseudodemenz der Schwachsinnigen
besonders kennzeichnete. Von den 5 Fällen traten 2 im Verlaufe von
Strafverfahren auf, 3 im Verlaufe von Zivilverfahren und zwar je
einmal während eines Unfallrenten-, Militärrenten- und eines Zivil-
verfahrens (Riickgiingigmachung eines Verkaufs, Anfechtung der
Geschäftsfähigkeit). Die näheren Umstände, aus denen heraus sich
in diesen Verfahren die Pseudodemenz entwickelte, sind so merk-
würdie, daß sie kurz erwähnt werden sollen. In dem Unfall-
Verfahren war dem hochgradig Imbezillen (Binet-Simon: A. S. 7)
von seinem Bruder vor der Beobachtung genau eingeschärft worden,
wie er sich zu verhalten habe. Die Familie, deren Mitglieder fast alle
erwerbslos waren, setzte ihre Hoffnung auf die Rente des schwach-
— 165 —
sinnigen Bruders bzw. Sohnes. Dieser führte die ihm zuerteilte Rolle
gut durch, ohne daß bei ihm selbst anscheinend Rentenbegehrungs-
vorstellungen deutlich ausgeprägt waren. — In dem Zivilverfahren
-sollte der Verkauf eines Grundstücks während der Infiationszeit
durch den Imbezillen von seinem Vormund angefochten werden auf
Grund der Geschäftsunfähigkeit des Verkäufers. Die Pseudodemenz
fiel nun nicht, wie eher zu erwarten, mit der Zeit der Begutachtung
zusammen, sondern sie war Monate vorher. Als der Patient später
nochmals zum Zwecke der Begutachtung in unsere Beobachtung kam,
bot er nur das einfache Bild der Imbezillitit. Man muß in diesem
Fall erwägen, ob der Wunsch nach der Wiedererlangung seines Be-
sitztums die Pseudodemenz ausgelöst hat, oder ob hier eine besonders
leichte Auslösbarkeit des pseudodementen Mechanismus vorlag, zu
dessen Manifestation die Aufregungen des Prozeßverfahrens allein
geniigten, ob die Pseudodemenz hier als „Flucht in die Krankheit“
zu betrachten ist vor einem Prozeßverfahren, in das er gegen seinen
Willen durch seinen Vormund hineingezogen wurde. Das Zusammen-
treffen der Pseudodemenz mit dem Beginn des Prozesses und nicht
mit der Begutachtung läßt diese Annahme nicht ganz ungerecht-
fertigt erscheinen. — Der dritte Fall von Pseudodemenz fiel durch
unsinnige Handlungen schon zu Hause auf, indem er z. B. mittags
mit der brennenden Grubenlampe über die Straße lief.
Die beiden pseudodementen Kriminellen waren dadurch beson-
ders bemerkenswert, daß die Pseudodemenz im Verlauf von Straf-
verfahren wegen relativ geringfügiger Vergehen auftrat. Der eine
Kranke war früher bereits zweimal wegen Vergehens gegen § 176,
Abs. 3 Str. G. B. mit hohen Gefängnisstrafen bestraft worden, ohne
im Untersuchungsverfahren oder im Strafverfahren zu erkranken.
Jetzt war er dagegen nur wegen Veruntreuung von 10 Mark an-
geklagt, hatte schlimmstenfalls eine kurze Freiheitsstrafe zu er-
warten. Eine Anfrage bestätigte ausdrücklich, daß dem Kranken
weitere Straftaten nicht vorgeworfen wurden. Der andere Fall, eine
Dirne, erkrankte ebenfalls unter diesem auffälligen Umstand. Sie
war früher mehrfach wegen gewerbsmäßiger Unzucht mit mehreren
Monaten Gefängnis bestraft worden ohne zu erkranken; jetzt war
Anklage wegen Widerstandsleistung gegen sie erhoben, also wegen
eines nicht sehr schweren Vergehens, und sie erkrankte an einem
Ganserschen Dämmerzustand, der 5 Tage nach der Aufnahme in die
Anstalt abklang. Man kann in beiden Fällen annehmen, daß erst die
zunehmende Kriminalerfahrung den Anlaß zur Krankheitsreaktion
ergab, aber auch diese Annahme würde nicht dem widersprechen.
was uns nach dem bisher Gesagten wichtig erscheint, daß nämlich
die Verbindung zwischen Schwachsinn und Pseudo-
demenz nicht so zwangsläufig und eng ist, wie u. U.
nicht unwahrscheinlich war, daß auch den Schwachsinnigen erst be-
sondere Anlässe in diese Situation zu bringen vermögen.
In 7 Fällen war der Schwachsinn mit hysterischen Anfällen ver-
bunden. Einmal traten die Anfälle im Verlauf eines Militärrenten-
verfahrens, einmal im Verlauf eines Strafverfahrens auf. In den
anderen Fällen handelte es sich um Anfälle, die sofort nach einem
erregenden Erlebnis auftraten, so einmal im Anschluß an die Ent-
deckung eines von der Patientin begangenen Diebstahls, in anderen
Fällen im Anschluß an häusliche Auseinandersetzungen. Zwei dieser
Kranken zeigten derartige Dauererscheinungen charakterologischer
Art, daß wir sie als hysterische Persönlichkeiten bezeichneten. Die
übrigen Fälle ließen außer dem Schwachsinn keine wesentliche
psychische Abartung erkennen; bei ihnen blieben die Anfälle isolierte
hysterische Erscheinungen nach besonders erregenden Situationen. —
Im übrigen war die Ausbeute dieser Gruppe spärlich; Anlässe und
Erscheinungsweisen unterschieden sich nicht von denselben Störun-
gen bei Vollsinnigen, trotzdem in diese Gruppe nur hysterische An-
fälle bei sicheren Imbezillitäten gerechnet wurden. Um so weniger
war bei den leichteren Schwachsinnsgraden eine Lifferenz gegen-
über den hysterischen Anfällen der Vollsinnigen zu erwarten. Der
hysterische Anfall der Schwachsinnigen unterschied sich weder in
seiner Verursachung noch in seiner Erscheinungsweise von dem des
Vollsinnigen. Durch das Fehlen anderer hysterischer Erscheinungen
in der Mehrzahl der Fälle erweist sich der „Anfall“ vielleicht als
ein besonders leicht auszulésendes Symptom mancher
Schwachsinnigen.
Endlich umfaBte diese Gruppe noch zwei Imbezille mit psycho-
venen Lähmungen. In beiden Fällen sind, die Erscheinungen äußerst
hartnäckig und bestehen jetzt schon jahrelang. In einem Fall liegt
eine psychogene Stimmbandlähmung vor (angebliche Kriegs-
verletzung). Die „Lähmung“ des zweiten Falles ist von besonderer
Art, sie besteht in einer Art Pfötchenstellung der Hände mit
Krümmung des Ringfingers beiderseits. Sobald man dem Patienten
die Finger streckt, leidet er an „Sprachaussetzung“, d. h. er spricht
nicht. Er selbst meint, „das ist der beste Beweis für meine schwere
Leiden“. Beim Sprechen bedient er sich einer puerilen Sprechmanier.
Sein Verhalten dem Arzt gegenüber wechselt zwischen übertriebener
Unterwiirfigkeit und schimpfender Erregung. Den Mitpatienten
— 167 —
gegenüber ist er herrisch und unduldsam. Außer seinen Leiden an
„zeitweiliger Sprachaussetzung“ und an „Fingerkrümmung‘“ kann
er noch, wie er sagt, „mit die Pupille wackeln“; das besteht in einem
einfachen gewollten Zittern der Augen, das er bald auf Wunsch
vorführt, bald zur Demonstration der besonderen Schwere seiner Er-
krankung benutzt. Der Zweck, den der Kranke mit seiner „schweren
Krankheit“ erreichen will, ist die Erlaubnis zum Orgelspielen in der
Hauptverkehrsstraße Düsseldorfs. Es ist nicht überflüssig zu er-
wähnen, daB der Patient bei seiner ersten Aufnahme in Grafenberg
sechs ärztliche Atteste bei sich hatte, die die Notwendigkeit zur Zu-
erteilung des Orgelstandplatzes aus ärztlichen Gründen. befür-
worteten!
Fälle von induziertem Irresein, das in der Form der von den
Franzosen sogenannten Folie imposee (nach Ast) bei Schwach-
sinnigen besonders häufig sein soll, wurden von uns nicht beobachtet.
Insgesamt zeigte sich also, daß die Verbindung von Schwach-
sinn mit psychogenen Reaktionen nicht so häufig ist, daß die An-
nahme einer besonderen Disposition der Schwachsinnigen zu hysteri-
schen Symptomen daraus gerechtfertigt ist. Wir betonen das noch-
mals, weil die Zeit nicht allzu fern liegt, in der man alle psycho-
pathischen Störungen aus dem Schwachsinn entspringen sah, glaubte
doch selbst ein Meister wie Dubois (zit. nach Oppenheim), daß
die Zwangsneurose auf Schwachsinn beruhe. Aber nichtalles,
was unlogisch erscheint, ist deshalb als schwach-
sinnig zu bezeichnen.
N. Haltlose.
Mit der Darstellung der haltlosen Schwachsinnigen wird der
Umkreis der Psychotischen sicher und völlig verlassen; wir können
die Haltlosen auch nicht mehr in das Grenzgebiet der Psychosen
rechnen wie die Enzephalopathien und die psychogenen Reaktionen
des Dämmerzustandes und der Pseudodemenz. Die Erwähnung der
haltlosen Schwachsinnigen sollte aber deshalb nicht übergangen
werden, weil diese Spielart erst das soziale Schicksal der Schwach-
sinnigen abgerundet hervortreten läßt, und weil ihre Abtrennung
von den Enzephalopathien wesentlich ist. Es soll nicht der Eindruck
erweckt werden, als ob alle psychischen Abartungen der Schwach-
sinnigen, die nicht-psychotischer Natur sind, Ausdruck ihrer Enze-
phalopathie sind. Es sind vielmehr die Haltlosen die echten
Psychopathen unter den Schwachsinnigen. Sie stellen
— 168 —
die klinisch größte Gruppe der psvchopathischen Persönlichkeiten
bei Schwachsinn dar. Ihre charakterologische Struktur ist ziemlich
einheitlich, sie sind fast durchweg den haltlosen Hyperthymikern,
wie K. Schneider (2) sie gezeichnet hat. zuzuzählen.
Stellt man die äußeren Erscheinungsformen der Haltlosen neben
die unserer Grenzfälle, so ist die Übereinstimmung zwischen beiden
muppen bei oberflächlicher Betrachtung recht groß. Alle 5 weib-
lichen Kranken dieser Gruppe waren Fürsorgezöglinge, bzw. in Für-
sorgeerziehung gewesen. Übereinstimmend zeigten sie Haltlosigkeit
in sexueller Beziehung. Aber auch sonst waren die Lebensschicksale
phantastisch-bewegt, abenteurerhaft. In keiner Dienststellung hielten
sie es lange aus, überall Hefen sie bald fort, ebenso von Hause. Der
Fürsorgeerziehung und der Anstaltsbehandlung suchten sie sich
durch wiederholte Fluchtversuche zu entziehen. Wenn auch gelegent-
lich Erregungen auftraten, so waren diese Persönlichkeiten im ganzen
in der Anstalt nicht schwierig zu behandeln, wirkten eher durch ihre
leicht gehobene Grundstimmung angenehm. Alles elementar Trieb-
hafte fehlte ihnen; psychotische Zustände wurden bei ihnen nicht be-
obachtet. Den immer wieder hervortretenden Grundzug ihres Wesens
bildete die Hyperthymie, den ihres Verhaltens die Haltlosigkeit.
Die männlichen Kranken dieser Gruppe fielen ebenfalls durch
die Zahl ihrer Sexualdelikte auf. Nur ein Kranker war völlig straf-
frei. Drei Fälle waren wegen Exhibitionismus bestraft, zum Teil
mehrfach, zwei weitere Fälle wegen Päderastie, davon einer gleich-
zeitig auch wegen Sodomie, zwei weitere wegen homosexueller Ver-
gehen; in drei Fällen war von Sexualdelikten nichts bekannt, hier
lagen Einbruchsdiebstähle u. a. Eigentumsvergehen vor. Einige der
wegen Sexualdelikten Bestraften waren außerdem wegen Eigentums-
vergehen, Bettelns und Vagabundage teils im Arbeitshaus, teils im
Gefängnis gewesen. Auch diese männlichen Patienten waren, mit
Ausnahme der beiden Homosexuellen, in der Anstalt keine lästigen
und unbequemen Elemente. Da ihnen durch die Anstaltsbehandlung
die Möglichkeit zu ihrer speziellen Form der Entgleisung unter-
bunden war, wirkten sie in ihrem übrigen Verhalten nicht ungünstig.
Entweichungen waren auch bei den männlichen Kranken häufig.
So groß die äußere Ähnlichkeit der Erscheinungen bei den
schwachsinnigen haltlosen Psyehopathen und den enzephalopathi-
schen Zuständen sein mag, so ist ihre innere Wesensverschiedenheit
nicht zu übersehen. Bei den psvehopathischen Persönlichkeiten
sehen wir, wie auf Grund der abnormen seelischen Veranlagung ein
in sich geschlossenes Lebensschieksal aufgebaut ist. Kann man
— 169 —
dieses Lebensschicksal eine Strecke übersehen, so läßt sich hier mit
einiger Sicherheit die Weiterentwicklung im gleichen Sinne voraus-
sagen und die Méglichkeit zur sozialen Einordnung bestimmen. Denn
es zeigte sich ja, daß der schwachsinnige hyperthy-
mische Psychopath unter geeigneten Umständen
zur sozialen Einordnung fähig ist, gerade in bezug auf
Gemeinschaftsgeist und Hilfsbereitschaft.
Anders in den von uns so genannten Fällen von Schwachsinn
mit enzephalopathischen Symptomen. Es genügt nicht, den Unter-
schied in der größeren Explosibilität der Enzephalopathen zu suchen.
Die Stärke einzelner Affektausbrüche und die Affektansprechbarkeit
ist in beiden Gruppen nicht wesentlich verschieden. Hinzu kommt
bei den enzephalopathischen Zuständen das Unberechenbare ihres
Verhaltens, das Elementar-Triebhafte, das nicht Ausdruck höherer
seelischer Vorgänge ist, sondern Folge eines undifferenzierten
Dranges. Daraus entwickeln sich dann unerwartet wesensfremde
Zustandsbilder, die wir bei den Psvchopathen in dieser Form nie
sehen.
Die Haltlosigkeit ist nicht die alleinige psychopathische
AuBerungsform bei Schwachsinn, sie ist aber die häufigste. Sie
wurde daher als Beispiel gewählt, um zu zeigen, daß bei
Schwachsinnigen von den Enzephalopathien die
„echten“ Psychopathien abzutrennen sind. Die Be-
ziehungen der Psychopathie bei Schwachsinnigen zu den Psychosen
sind nicht enger als diese Beziehungen allgemein sind.
Ill. Zusammenfassendes Ergebnis:
Die episodischen Psychosen der Schwachsinnigen (Sioli).
Bewor wir die Folgerungen aus unseren Untersuchungen ziehen.
resümieren wir noch einmal die bisher gewonnenen Ergebnisse über
Psychosen bei Schwachsinnigen.
Wir wiederholen nochmals, daß wir den Schwachsinnsbegriff
auf stationäre intellektuelle Defektzustände beschränken. Kombi-
nationen des Schwachsinns mit Paralyse, Arteriosklerose u. a. orga-
nischen Erkrankungen wurden von der Untersuchung ausgeschlossen,
da diese Krankheitskombinationen mehr Interesse verdienen im
Rahmen der genannten Psychosen als im Rahmen der Unter-
suchungen über Schwachsinn. Es wurden ferner alle die Psychosen
von der Betrachtung ausgeschlossen, in denen der Schwachsinn mit
deutlichen epileptischen Erscheinungen verbunden war.
Dagegen wurde eine Reihe von Fehldiagnosen; wenn auch nur
kurz, mit in die Betrachtung eingeschlossen, weil sie typisch er-
schienen. Die Mehrzahl der Fehldiagnosen war dadurch bedingt.
daß auf Grund besonderer Symptome — Kopflosigkeit, Unsinnig-
keit von Handlungen, besonderer Leere einer Psychose, auffallender
Unproduktivität usw. — ohne sonst nachgewiesenen Schwachsinn ein
solcher angenommen wurde. In einem kleineren Teil der Fälle
wurde das Bestehen eines Schwachsinns angenommen auf Grund
anamnestischer Angaben über schlechten Schulerfolg. Es wurde in
einleitenden Erörterungen und am praktischen Beispiel gezeigt, daß
die anamnestischen Angaben dieser Art allein nicht zur Annahme
eines Schwachsinns genügen können.
Die nach Abzug der Fehldiagnosen verbleibenden 209 Fälle
wurden nach Zustandsbildern gruppiert. Deren Untersuchung zeigte:
1. Die manischen Zustandsbilder umfassen Wesensverschiedenes. Nur
ein kleinerer Teil ist als endogen-manischer Zustand zu erkennen.
In den meisten Fällen ist der manische Zustand Ausdruck des Zu-
sammentreffens von Schwachsinn mit einer exogenen Noxe. Die
endogenen Manien beeinflußt der Schwachsinn als pathoplastischer
Faktor, in den dureh exogene Schäden komplizierten Fällen tritt der
Schwachsinn vielfach als pathogenetischer Faktor konkurrierend
neben die exogene Noxe. Das manische Zustandsbild wird durch den
— 11 —
Grad des Schwachsinns in der Symptomengestaltung beeinflußt und
wird bei Idioten einförmig-stereotyp. Im ganzen ist das Vorkommen
manischer Zustandsbilder bei Schwachsinnigen nicht häufig.
2. Bei den melancholischen Zuständen erwies sich das Ver-
hältnis von rein endogenen Psychosen zu denen mit exogenem Ein-
schlag gerade umgekehrt wie bei den Manien; der größere Teil der
Depressionen war endogener Natur. In ausgesprochenster Weise be-
einflußte der Schwachsinn die melancholischen Zustände, besonders
die endogenen. Als typisch für Melancholie bei Schwachsinn ohne
exogenen Einschlag finden wir die „flache Kurve‘ der Melancholie,
d. h. ihren schleichenden Beginn, ihre geringe Tiefe der Depression
und ihr allmähliches, langsames Abklingen. Wir erklärten diesen
Verlauf mit der mangelhaften psychologischen Verarbeitung des
depressiven Affekts durch den Schwachsinnigen. Aus dieser mangeln-
den Verarbeitung des Affekts erklärten wir auch das beobachtete
Fremdheitsgefühl, die Ratlosigkeit, das Fehlen von Selbstvorwürfen
und Versündigungsideen. Deren Vorkommen wurde nur in den Fällen
beobachtet, in denen eine exogene Noxe vorhanden war. Suizid-
versuche wurden in 84 % aller Fälle unternommen. Die direkte und
indirekte familiäre Belastung mit Psychosen, die allerdings nicht
eindeutig ist, ist bei den melancholischen Zustandsbildern auffällig
groß. — Der Zahl nach waren Melancholien ebenso häufig wie Manien.
3. Die Aufstellung einer besonderen Gruppe von Hemmungs-
zuständen erwies sich als unnötig. — Verstimmungszustände sind
für Schwachsinnige typisch. Zahlenmäßig stehen sie nach den Grenz-
fällen an zweiter Stelle. Die Verstimmungszustände stellen, wie auch
die vorigen, ebenfalls keine einheitliche Gruppe dar. Am häufigsten
sind die epileptoiden Verstimmungen, das sind die Verstimmungs-
zustände, die zu anderen Zeiten noch Erscheinungen bieten, die auch
psychische Zeichen der Epilepsie sind. Einwandfreie Epileptiker
wurden hierher nicht gezählt. Fälle, die in Verblödung übergingen,
wurden nicht beobachtet. An zweiter Stelle folgten die reaktiven |
Verstimmungszustände, in diesen Fällen zeigte sich eine große
Psycholabilität. Drei Fälle mit neurasthenischen Verstimmungs-
zuständen, die danach folgten, waren durch ihren ganzen psycho-
somatischen Habitus zu neurasthenischen Reaktionen prädisponiert.
Endlich waren in 2 Fällen die Verstimmungszustände depressiv ge-
färbt, ohne Depressionen zu sein. Trotz der Mannirfaltirkeit der
Wurzeln, aus denen die Verstimmung sich herleitet, erscheint der
Verstimmungszustand als klinisch genügend einheitliche Gruppe,
und die psychologische Analyse zeigt, daß der Verstimmungszustand
Neustadt, Die Psychosen der Schwachsinnigen (Abhdl. H. 48). 12
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Tran: it =
eine Unlustreaktion ist, die dem Schwachsinn adäquat ist, daß die
Verstimmung aus dem Schwachsinn gleichsam „organisch“ heraus-
wächst.
4. Die Angstzustände umfassen wieder mehrere Untergruppen.
Am häufigsten sind die ängstlich-paranoiden Zustände, mit teils
geordneter, meist ungeordneter und konfuser Wahnbildung. Die
Höhe der Wahnbildung konnte auf die durch den Schwachsinn ver-
ursachte Kritiklosigkeit zurückgeführt werden. Es schließt sich den
Angstlich-Paranoiden ein weiterer Fall an, der in Zustandsbild
und Verlauf die Kriterien einer exogenen Pyschose erkennen ließ.
und in dem außer dem Schwachsinn keine ursächlichen Momente für
die exogene Färbung erkennbar waren. Dieselbe exogene Färbung
der Psvehose ohne nachweisbaren Grund (außer dem Schwachsinn)
zeigt die zweite Untergruppe der Angstzustinde, die der ängstlich-
halluzinatorischen Fälle. Diese fallen außerdem durch die Ein-
förmigkeit auf, mit der die Sinnestäuschungen sich durch die ganze
Dauer der Psychose hinziehen; außerdem war der größere Teil dieser
Fälle ratlos, verwirrt. Die Einförmigkeit ließen auch die Ängstlich-
Depressiven erkennen; alle Fälle gingen in Heilung aus. Beachtens-
wert ist, daß nur Imbezille unter Angstzuständen erkranken und die
häufix exogenen Einschläge in der Gesamtgruppe, für die sich eine
andere Ursache als der Schwachsinn nicht nachweisen ließ. Die Not-
wendigkeit, bei Schwachsinnigen die Angstzustände als klinisch
scharf umrissene Gruppe besonders abzutrennen, ergab sich nicht.
Doch zeigten sich die Angstzustände ebenfalls als eine typische —
nicht spezifische Reaktionsform der Schwachsinnigen. — Das
Prädilektionsalter der Angstzustände lag zwischen 18 und 23 Jahren.
5. Als Prädilektionsalter der Verwirrtheitszustände erwies sich
das 40. bis 44. Lebensjahr. Bei dem Fehlen anderer Gründe wurde
daher für diese Lebensjahre der beginnenden Rückbildung eine be-
sondere biologische Bereitschaft zu Verwirrtheitszuständen an-
genommen. 60 % der Verwirrtheitszustände verliefen periodisch.
Sie zeigten — abgesehen vom Bewußtseinsgrad — teilweise auf-
fallende Ähnlichkeit mit den episodischen Dämmerzuständen
(Kleist). Ein Fall zeigte das Bild der stuporösen Verwirrtheit.
Symptomatologisch war eine besondere Färbung der Verwirrtheits-
zustände durch den Schwachsinn nur in einem Fall deutlich zu er-
kennen. Der Bewußtseinsgrad wechselte zwischen voller BewuBt-
seinshelligkeit und leichtester Trübung. Um so auffallender war die
fast regelmäßig festzustellende hochgradige Amnesie, für deren Vor-
handensein nach einem Grund gesucht wurde.
6. Hyperkinesen und katatone Erregung bei erwachsenen
Schwachsinnigen sind nicht häufig. Die wenigen Fälle, die wir be-
obachten konnten, standen im dritten Lebensjahrzehnt. In keinem
Fall war die katatone Erregung Symptom einer schizophrenen Er-
krankung. Es ist wahrscheinlich, daß die Benutzung des katatonen
Mechanismus in vielen Fällen durch die dem Schwachsinn zugrunde
liegende Hirnschädigung bedingt ist.
7. Halluzinosen wurden häufig beobachtet. Wir trennten sie in
periodische und chronische Verlaufsformen. Alkoholismus und
Schizophrenie waren nicht die ursächlichen Faktoren der Hallu-
‚zinosen. Der Schwachsinn beeinflußte die Halluzinosen in aus-
gesprochener Weise. Er zeigte sich in der oft unklaren Art der
Sinnestäuschungen und vor allem in der Dauer der Halluzinosen.
Diese war bedeutend länger als die Dauer der „akuten Halluzinose“
der Trinker, mit der sie im übrigen die Prognose teilt. Durch eine
Halluzinose mit chronisch-intermittierendem Verlauf waren die
periodischen Halluzinosen fließend mit den chronischen verbunden.
Außer in der Verlaufsform zeigte sich im übrigen in Symptomatologie
und ätiologischen Faktoren keine Differenz zwischen den episodi-
schen und chronischen Halluzinosen; ein Zerfall trat auch bei
letzteren nicht ein. Alkoholismus spielte in wenigen Fällen eine
unterstützende Rolle, in einem Falle außerdem die Haft. Als allen
Fällen gemeinsame und meist einzige Grundlage der Halluzinose war
nur der Schwachsinn erkennbar. Der Schwachsinn ist als patho-
genetischer Faktor der Halluzinosen zu betrachten. Das Prädilek-
tionsalter der episodischen und chronischen Halluzinosen war das
4. Lebensjahrzehnt.
Es wurden den Halluzinosen noch drei halluzinatorische Zu-
standsbilder bei jüngeren Patienten zugerechnet, die später schizo-
phrene Defektsymptome zeigten. Nach allem, was in diesen Fällen
bekannt geworden war, sind wir genötigt, hier die Gesamterkrankun-
gen als Schizophrenie zu bezeichnen.
Soweit Berichte über die präpsychotische Persönlichkeit der
Halluzinierenden vorlagen, zeigte sich eine besondere Affinität der
Halluzinosen zu schizoiden Persönlichkeiten. Die durch die Grund-
persönlichkeit beeinflußten Erscheinungen der Halluzinose gaben
keinen Anhalt für eine gute oder schlechte Prognose des Einzelfalles.
Die Prognose der Gesamtgruppe der Halluzinosen ist durch ihren
häufig chronischen Verlauf nicht als günstig zu bezeichnen.
8. Während Wahnbildung eine Begleiterscheinung fast aller vor-
kommenden Zustandsbilder ist, sind die hauptsächlich paranoiden
12*
— 174 —
Zustände selten. Die Wahnbildung ist durch den Schwachsinn deut-
lich gefärbt. Es kommt nicht zur Ausbildung einer geordneten Wahn-
bildung, paranoide Entwicklungen und Reaktionen erhalten durch
den Schwachsinn einen paraphrenen Einschlag; alles ist verworren.
wenig geordnet. Auch hier besteht Neigung zu chronischem Verlauf.
9. Als Sondergruppe wurden 5 Fälle abgetrennt, in denen teils
bei sicher vorhandener Schizophrenie die Schwachsinnsgrundlage
aus äußeren Gründen nicht genügend geklärt werden konnte, teils
bei Nicht-Schizophrenen die Einordnung in eines der geschilderten
Zustandsbilder unmöglich war.
10. In der Untersuchung über das Verhältnis des Schwachsinns
zu den Psychosen wurde darauf hingewiesen, daß vielfach nament-
lich die Beziehungen zwischen Schwachsinn und Schizophrenie als
enger betrachtet werden, als sie in Wirklichkeit sind. Das beruht
teils auf der Nichtberiicksichtigung des nicht seltenen Vorkommens
von Frühschizophrenien mit einem durch lange Intervalle unter-
brochenem Verlauf, teils auf diagnostischer Überwertung einzelner
„schizophrener‘‘, beispielsweise katatoner Symptome, teils auf einer
zu weiten Fassung des Schwachsinnsbegriffs, nicht nach dem Sym-
ptom des Intelligenzdefektes, sondern allein nach dem des sozialen
Erfolges.’ Dadurch kommt eine Häufung von diagnostisch nicht halt-
baren Pfropfschizophrenien zustande. Wenn es überhaupt echte
Pfropfschizophrenien gibt, so ist das sicher ein sehr seltenes Vor-
kommnis. — Die Begründung für manche äußerlichen Ähnlichkeiten
zwischen Schwachsinnigen-Psychosen und Schizophrenie wird durch
die neueren Untersuchungen über den schizoiden Reaktionstyp ge-
geben. Es ist eine Weiterentwicklung unserer Anschauungen in
dieser Richtung zu erwarten.
Die Beziehungen des Schwachsinns zum manisch-depressiven
Irresein sind hauptsächlich komplikatorischer Natur, indem sie die
Diagnose der Manie oder Melancholie erschweren können. Ebenso
wie in unserem Material wird auch in der Literatur das Zusammen-
treffen von Schwachsinn und manisch-depressivem Irresein als selten
angegeben.
11. Die Grenzfälle bilden die größte Gruppe unseres Materials.
Die Einzelfälle dieser Gruppe weisen Beziehungen auf zu fast allen
der beschriebenen psychotischen Zustandsbilder; die Beziehungen zu
den Psychosen sind enge. Als Gesamtgruppe heben sie sich jedoch
rentigend von diesen ab. Sie sind geeint durch ihre elementare
Triebhaftigkeit, durch ihre abnorme Explosibilität und durch ihre
Neigung, rasch von einem Zustand in den anderen überzugehen. In
vielen Fällen sind die psychotischen Zeiten kurz. Die Grenzfälle
haben Beziehungen zu den Drangzuständen jugendlicher Metenzepha-
litiker und zur reizbaren Verstimmung der Epileptiker und sind wie
diese als Enzephalopathien, zu bezeichnen. Ihre Ähnlichkeit mit
Psychopathien ist nur eine oberflächliche. Dem Alter nach handelt
es sich hier um jugendliche Menschen zwischen 17 und 25 Jahren.
Auffällig ist die Gruppe noch durch die hohe Zahl der Suizidversuche
und durch die Häufigkeit krimineller Handlungen.
12. Die Verbindung zwischen Schwachsinn und psychogenen
Reaktionen ist nicht als auffällig eng zu bezeichnen. Nur wird viel-
leicht der „Anfall“ besonders leicht ausgelöst. Dieser tritt, wie auch
bei Vollsinnigen, zur Erreichung eines Zweckes und im Anschluß an
unangenehme Situationen auf. Dasselbe gilt für hysterische Lähmun-
een bei Schwachsinnigen. Interessant ist, daß pseudodemente Ver-
haltensweisen besonders gern durch Gesamtsituationen hervor-
gerufen werden, weniger durch einen bestimmten Zweck bedingt sind
(cf. Situationsstupor!). |
13. Der Haupttyp der schwachsinnigen Psychopathen wird von
den haltlosen Hyperthymikern dargestellt. Die Ähnlichkeit dieser
Gruppe mit den Enzephalopathen ist nur eine oberflächliche. Be-
ziehungen der schwachsinnigen Psychopathen zu den Psychosen sind
ebensowenig vorhanden wie sonst zwischen Psychopathie und
Psychose. |
Man kann nicht behaupten, daß die bisher durchgeführte Grup-
pierung der Schwachsinnigen-Psychosen nach Zustandsbildern rest-
los befriedigt. Gerade die zusammenfassende Darstellung unserer
klinischen Ergebnisse zeigt, daß Verschiedenstes in jedes Zustands-
bild eingeht. Das veranlaßt uns, aus allen Zustandsbildern die be-
sonderen Fälle herauszunehmen. Hier sind die besonderen Fälle die-
jenigen, die als Erscheinungsform eines der großen Formenkreise zu
betrachten sind. Lassen wir die Fehldiagnosen sowie die Haltlosen,
als nicht zu den Psychosen gehörig, fort und gruppieren die diffe-
rentialdiagnostisch schwierigen Fälle dort ein, wohin wir sie als zu-
gehörig erkannten, so ergibt sieh nunmehr folgende Einteilung:
Endogene Manien . . . . .-. . 5 Fälle
Endogene Depressionen . . . . . 11 Fälle
Unklare Fälle . . . . . . . . 5 Fälle
21 Fälle = ca. 12 %.
— 176 —
Manien exogener Färbung . . . . 9 Fälle
Depressionen exogener Färbung . . 3 Fälle
Verstimmungszustände . . . . . 28 Fälle |
Angstzustinde . . . 2 . . . . 22 Fälle Episodische
Verwirrtheitszustinde . . . . . . 20 Fälle Psychosen
Katatone Erregungen. . . . . . 9 Fille f _ der
Halluzinosen . . . 2 . . . . . 21 Fälle | Schwachsinnigen
Paranoide . . . 2 . . . . . . 8 Fälle (Sioli).
Grenzfälle — Enzephalopathien . . 35 Fälle
Psychogene Reaktionen . . . . . 14 Fälle
169 Fälle = ca. 88 %.
Wir begnügten uns damit, die Psychosen von den Zustands-
bildern abzutrennen. Von einer weiteren Verschiebung der Fälle
innerhalb der einzelnen Zustandsbilder und von deren Zusammen-
schluß zu Symptomenkomplexen wurde abgesehen, da auch das
nicht weiterführen konnte, so hätte z. B. das „affektive Syndrom“
Manien, Melancholien und Verstimmungszustände umschließen
müssen, während wir oben sahen, daß allein in die Verstimmungs-
zustände vier verschiedene Elemente eingegangen sind.
Andererseits zeigte es sich, daß keines der Zustandsbilder voll-
kommen rein war, daß in jedem Zustandsbild Symptome fast aller
anderen nachzuweisen waren. Es ging daraus die doch nahe Ver-
wandtschaft der Zustandsbilder untereinander hervor, und es mußte
deshalb möglich sein, sie nicht nur voneinander abzugrenzen, sondern
sie auch nach einem einheitlichen Gesichtspunkt zusammenzufassen.
Aus der folgenden Tabelle II ist ersichtlich, inwieweit die ein-
zelnen Zustandsbilder sich in ihren Hauptsymptomen über-
schneiden.
Tabelle II.
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Die notwendige Zusammenfassung konnte nur die klinische
Einheit geben, die Zustandsbilder und Verlauf gleichermaßen be-
rücksichtigte. Die verbindende klinische Einheit wurde von Sioli
„episodische Psychosen bei Schwachsinnigen" be-
nannt. Sieht man noch einmal die im klinischen Teil gegebenen Bei-
spiele durch, so wird es klar, warum die Psychosen der Schwach-
sinnigen als mehrere eng benachbarte Psychosen be-
trachtet werden. Einer besonderen Begründung, daß z. B. die hier-
hergehörigen Manien mit den Halluzinosen nicht identisch sind, be-
darf es nach der klinischen Schilderung nicht mehr. Andererseits
ist klar, daß die verschiedenen Psychosen durch Gemeinsamkeit des
Verlaufs und durch Mischung der Symptome eng miteinander ver-
bunden sind. Erst ein weiteres Eindringen in die episodischen Psy-
chosen der Schwachsinnigen wird lehren, welche Faktoren ihre ver-
schiedenen Erscheinungsformen verursachen. Notwendig erscheinen
dazu vorerst erbbiologische und Konstitutionsuntersuchungen.
Wenn wir uns auch bewußt sind, daß es mehrere Formen episo-
discher Psychosen bei Schwachsinn gibt, so erscheinen uns doch
deren Gemeinsamkeiten so groß, daß wir vorläufig mit ihnen noch
als mit einer Einheit rechnen, so lange nicht offensichtlich
ist, daß ihre Einzelformen heterogen sind. Ihre stärkste . Ein-
heitlichkeit gewinnen sie durch den ihnen zugrunde liegenden
Schwachsinn. Die episodischen Psychosen der Schwachsinnigen sind
ohne den Schwachsinn nicht denkbar. In allen Zustandsbildern von
den Manien bis zu den Enzephalopathien — die psychogenen Reak-
tionen fallen hier fort — sahen wir, wie der Schwachsinn die Psy-
chose als einer von mehreren oder als alleiniger pathogenetischer
Faktor beeinflußte. Heute, wo wir uns in der konstitutionspatholo-
gischen Ara der Psychiatrie befinden, die in Kretschmers Lehren
ihren stärksten Ausdruck findet, ist diese Tatsache nicht über-
raschend. Ja, wir suchen gerade danach, ob sich die episodischen
Psychosen nicht organisch aus dem Schwachsinn entwickeln, ob der
Schwachsinn ihr konstitutioneller Mutterboden sei.
Aus dem eben Gesagten und der klinischen Schilderung geht
hervor, daß die Verhältnisse so liegen, daß der Schwachsinn als
konstitutionell-pathogenetischer Faktor die Psychose formt. Wir
werden weiter unten noch das Hauptmerkmal erwähnen, das den
Schwachsinn als konstitutionelle Vorbedingung der episodischen
Psychosen charakterisiert.
An dieser Stelle sei erst die Frage beantwortet, ob der
Schwachsinn eine besondere Bereitschaft zu Psy-
— 18 —
chosen überhaupt schafft. Nach unseren Erfahrungen glau-
ben wir diese Frage mit einiger Vorsicht bejahen zu können, waren
doch 60 % aller hier aufgenommenen Schwachsinnigen psvchotisch.
Wenn man bedenkt, daß es sich um episodische Psychosen handelt,
so taucht sogar der Gedanke auf, ob nicht alle Schwachsinnigen zu
irgendeiner Zeit ihres Lebens einmal psychotisch werden. Mit Vor-
sicht können wir die gestellte Frage jedoch deshalb nur beantworten,
weil unser Material, trotzdem es aus fast 7000 Aufnahmen gewonnen
wurde, nur gering und wahrscheinlich auch einseitig ist. Von einer
Stelle allein aus kann die Frage überhaupt nicht mit Sicherheit ge-
löst werden, denn es ist verständlich, daß das Schwachsinnigen-
Material in Idiotenanstalten sich anders zusammensetzt als unser
eroßstädtisches, schnell fluktuierendes Material und beides wieder
anders als das in den Familien lebende. Aus diesem Grunde wurde
auch gar kein Wert darauf gelegt, in welchem Prozentverhältnis
die einzelnen Psychosen zueinander standen, da dieses Verhältnis
immer nur für unser eigenes Material gültig sein konnte. Es genügte
uns zu zeigen, daB bei Schwachsinnigen mannigfache episodische
Psychosen vorkommen, und wir gewannen aus unserem Material den
Eindruck, daß diese Psychosen besonders häufig seien.
Bevor wir auf die Beziehungen der episodischen Psychosen der
Schwachsinnigen zu den anderen Psychosen eingehen, stellen wir
fest, daß damit im wesentlichen dasselbe gemeint ist wie mit den
von Medow sogenannten „schizoiden Affektpsychosen“. Auch
Medow ist der Ansicht, daß diese Psychosen scharf von schizo-
phrenen Psychosen zu trennen seien. Gerade das ist mit ein Grund
für uns, ihre Bezeichnung als schizoide Psychosen abzulehnen; ganz
abgesehen davon, daß wir Beziehungen zu bestimmten anderen
Psychosen glauben annehmen zu müssen. Mit der Bezeichnung
„Affektpsychosen“ will Medow ausdrücken, daß der Affekt hei
diesen Psychosen im Gegensatz zu den Pfropfschizophrenien un-
gestört ist. Wir konnten jedoch an mehrfachen Beispielen zeigen,
daß die Affektstörung sogar ein schizophrenes Gepräge haben kann.
Wir lehnen daher auch die Bezeichnung „Affektpsychose“ ab und
bevorzugen die nichts präjudizierende Bezeichnung „episodische
Psychosen bei Schwachsinn“. Doch sei nochmals ausdrücklich be-
merkt, daß unsere Ablehnung nur die von Medo w gewählte Namens-
gebung betrifft, nicht das Ergebnis seiner Untersuchungen an sich.
Es ist wahrscheinlich, daß der größte Teil aller bisher als
Pfropfschizophrenien bezeichneten Fälle in unseren episodischen
Psychosen aufgeht. Es sei deshalb zuerst einiges über deren Be-
ziehungen zur Schizophrenie gesagt. Diese Beziehungen sind in jeder
Hinsicht negativ zu bezeichnen. Klinisch können wir sagen, daß
Psychosen bei sicher Schwachsinnigen, mögen sie noch so „schizo-
phren“ gefärbt sein, keine Schizophrenien sind. Dasselbe ergibt sich
in bezug auf den Krankheitsvorgang: mögen die episodisehen Psy-
chosen der Schwachsinnigen in Einzelfällen noch so sehr im schizo-
phrenen Mechanismus ablaufen, schizophrene Prozeßpsychosen sind
es nicht. Wir haben vielmehr den Eindruck gewonnen, daß Schwach-
sinn und Schizophrenie sich zwangsläufig ausschließen.
Diese empirisch gefundene Tatsache bestätigt die theoretischen
Anschauungen über das Wesen der Schizophrenie als heredodegene-
rativer Systemerkrankung, wie sie von Kleist (3) und neuerdings
von Westphal (2) vertreten werden. Westphal hat dargestellt,
aus welchen Gründen hier die Anatomie noch nicht klärend wirken
kann, und warum wir deshalb noch auf hypothetische Annahmen an-
gewiesen sind. Man kann annehmen, daß diese Hypothesen nicht
allzu weit von der Wirklichkeit entfernt sind, und man muß an-
nehmen, daß das Gehirn der Schwachsinnigen bereits so verändert
ist, daß es nicht mehr zur Degeneration in den Systemen der Schizo-
phrenie fähig ist. |
Diese Ansicht wird auch durch das Fehlen einer Kombination
von Schizophrenie + Paralyse gestützt. Sinngemäß dasselbe hat
Gurewitsch vor Jahren über den Ausschluß von Epilepsie und
Schizophrenie gesagt und auch eine der unseren ähnliche Begründung
angenommen. Gaupp (4) argumentiert dagegen, „aber es kommt
vor“. Sicher ist jedoch, daß die Kombination von Dementia praecox
und Epilepsie sehr selten ist, viel seltener als es der Häufigkeit beider
Erkrankungen entspricht. Das Problem ist also mit der Konstatie-
rung des Zusammentreffens beider Krankheiten nicht erledigt,
sondern es beginnt hier erst und es bleibt zu untersuchen, welche
Bedingungen die seltene Kombination herbeigeführt haben. Das-
selbe gilt für die sicher sehr seltenen Kombinationen von Schwach-
sinn und Schizophrenie. Solche Raritäten können jedoch die ali-
gemeine Gültigkeit der Ansicht, daß Schwachsinn und Schizophrenie
sich ausschließen, ja ausschließen müssen, nicht umstürzen.
Nicht wesentlich anderes ist über die Beziehungen von Schwach-
sinn und manisch-depressivem Irresein zu sagen. Die Verhältnisse
liegen hier einfacher, als die Seltenheit einer Kombination beider Er-
krankungen weniger bezweifelt wird. Doch sehen wir an unserem
Material, daß echte manisch-depressive Erkrankungen bei Schwach-
sinn sicher häufiger zu finden sind als Schizophrenien. Bei der hypo-
— 180 —
thetischen Natur des manisch-depressiven Irreseins, die nicht eine
so zwangsmäßige und allgemeine Hirngebundenheit wie bei den
Schizophrenien erwarten läßt, ist das Vorhandensein manisch-
depressiver Erkrankungen bei Schwachsinnigen nicht verwunderlich.
Doch sei nochmals auf die Seltenheit dieser Kombination hin-
gewiesen. Die episodischen Psychosen der Schwachsinnigen zeigen
in einzelnen ihrer Erscheinungsformen zwar Berührungspunkte mit
dem manisch-depressiven Irresein, in ihrer Gesamtheit stehen sie
ihm aber so fern, daß wir sie nicht als atypisches manisch-depressives
Irresein bei Schwachsinn bezeichnen können. Atypisch in der Er-
scheinungsform durch den Schwachsinn zeigten sich die echten
manisch-depressiven Zustände. Die eigentlichen episodischen Psv-
chosen fallen aus dem Begriff des Atypischen heraus, sie sind Sonder-
erkrankungen. |
Nachdem wir das Vorhandensein enger innerer Beziehungen
zwischen Schwachsinn, insbesondere den episodischen Psychosen,
und Schizophrenien bzw. manisch-depressivem Irresein abgelehnt
haben, soll noch ein Wort über die Beziehungen zur Psychogenie ge-
sagt werden. Daß es sich bei den episodischen Psychosen nicht um
„psychogene Psychosen“ handelt, bedarf nach der klinischen Schil-
derung wohl nicht mehr eines besonderen Beweises. Immerhin muß
erwähnt werden, daß in 41 Fällen dem Ausbruch der Psychose
bzw. der Aufnahme in die Anstalt Erlebnisse nachweisbar voran-
gingen, auf die der Ausbruch der psychischen Störung wahrschein-
lich zurückzuführen war. Eine derartige Zahl ist imponierend und
betont besonders die starke Psycholabilitit der
Schwachsinnigen.
Praktisch ergibt sich daraus die Forderung, daß im Umgang
‘mit Schwachsinnigen ihrer psychischen Veranlagung durch besondere
Rücksichtnahme Rechnung zu tragen ist, und daß, wo dieser Umgang
ärztlicher Natur ist, die bewußt-psychotherapeutische Beein-
flussung der Schwachsinnigen nie unterlassen werden darf. Psycho-
therapie ist vorbeugend und heilend anzuwenden; ohne entsprechende
Psychotherapie verrennen sich die Schwachsinnigen in ihren Psy-
chosen immer mehr.
Eng erscheinen die Beziehungen der episodischen Psychosen zu
den exogenen Reaktionen. Wir sahen in einer Großzahl der Fälle
einen exogenen Einschlag in Symptomengestaltung und Verlauf.
Doch ist es nicht gerechtfertigt, die episodischen Psychosen der
Schwachsinnigen zu den exogenen Reaktionsformen Bonhoeffers
zu rechnen. Wohl erwiesen sie sich als exogene Psychosen in dem
Sinne wie etwa Arteriosklerose oder Epilepsie.
Sind also die episodischen Psychosen der Schwachsinnigen
nichts weiteres als epileptische Psychosen? Wir verneinen diese
Frage, trotzdem die Verwandtschaft mit den epileptischen Psychosen
eine nahe ist. Wir glauben jedoch nicht, daß es allein aus den
psychotischen Bildern möglich ist, die episodischen Psychosen als
epileptische zu bezeichnen. Zu einer solchen Annahme ist außerdem
noch die Manifestierung der Krankheit Epilepsie notwendig, die sich
entweder in Anfällen oder psychisch in der fortschreitenden Ver-
blödung äußert. Ein fortschreitender Zerfall tritt bei den Schwach-
sinnigen mit episodischen Psychosen nicht ein. Wir sehen daher
wohl eine Verwandtschaft, nicht aber eine Identität der epileptischen
und der episodischen Psychosen bei Schwachsinn.
Enge Beziehungen hat auch ein Teil der episodischen Psychosen
der Schwachsinnigen zu den von Kleist beschriebenen episodischen
Dämmerzuständen. Wir haben auf diese Beziehungen bereits mehr-
fach hingewiesen. Es erscheint uns nicht zufällig, daß unter den
9 von Kleist beschriebenen Fällen 3 schwachsinnig sind, vielleicht
auch ein vierter Fall (Fall 1). Daß jedoch auch hier nur eine Ver-
wandtschaft besteht und keine völlige Identität, bedarf keines be-
sonderen Beweises mehr.
Dasselbe gilt, und darum sei es nur ganz kurz erwähnt, über
die Beziehungen der episodischen Psychosen bei Schwachsinn, ins-
besondere ihrer halluzinatorischen und paranoiden Formen, zu den
Halluzinosen der Syphilitiker (Plaut), zu den Tabespsychosen
[Westphal (1), Sioli (1), Fabritius u. a.], zu den Psychosen
bei Hirnlues [Westphal und Sioli (1)] und zu den paranoid-
halluzinatorischen Umwandlungen malariabehandelter Paralytiker
(Gerstmann u. a.). Zu allen diesen Psychosen sehen wir Be-
ziehungen ohne eine Identität annehmen zu Können.
Wir sehen also, daß die episodischen Psychosen der
Schwachsinnigen sich aus dem Kreis der exogenen
Psychosen als Sonderform herausheben. Ihre exogene
Natur ist durch den Schwachsinn bedingt, auf den die mannigfachen
Erscheinungsformen sich immer wieder zurückführen lassen. Wir
sehen außerdem, daß Schwachsinnige wenig Neigung haben, an
anderen als an den hier beschriebenen „episodischen Psychosen der
Schwachsinnigen (Sioli)“ zu erkranken, ja, daß der Schwachsinn
der Entstehung anderer Psychosen mehr oder weniger hinderlich ist.
Schwachsinn bedeutet also insofern für das betreffende Individuum
— 182 —
eine besondere Konstitution, auch in der Méglichkeit des Ausbruchs
einer Psychose, ihrer Form und Art. Mag alsoauchSchwach-
sinn eine besondere Disposition zu Psychosen be-
deuten, so ist es nicht eine Disposition zu allen
möglichen Psychosen, sondern nur eine spezifische
Disposition zu den beschriebenen episodischen
Psychosen.
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