V\ S\d N 'o
I
UNIVERSITY OF CALIFORNIA
SAN FRANCISCO MEDICAL CENTER
LIBRARY
I
ij
i
i
1
. - LJßry rjy
» .;ORD UN.VERi:^
3 * .-■ASiTiiÄ mag
PAlO ALTO, CAUF.
r i *rv
Ou%>
ABHANDLUNGEN AUS DER NEUROLOGIE,
PSYCHIATRIE, PSYCHOLOGIE UND IHREN
GRENZGEBIETEN
BEIHEFTE ZUR MONATSSCHRIFT FÜR PSYCHIATRIE UND NEUROLOGIE
HERAUSGEGEBEN VON K. BONHOEFFER
"hEFT20
[Aus der Psychiatrischen und Nervenklinik zu Frankfurt a. M. (Prof. K. Kleist)
und der Deutschen Psychiatrischen Universitätsklinik in Prag (Prof. O. Poetzl).]
Dementia praecox,
intermediäre psychische Schicht
und Kleinhirn-Basalganglien-Stirnhirnsysteme
Von
Dr. Max Loewy (Marienbad)
Privatdozent für Psychiatrie und Neurologie an der Deutschen Universität in Prag.
BERLIN 1923
VERLAG VON S. KARGER
KARLSTRASSE x 5 .
Medizinischer Verlag von S. Karger in Berlin NW. 6
In den
Abhandlungen aus der Neurologie, Psychiatrie,
Psychologie und ihren Grenzgebieten
Beihefte z. Monatsschrift für Psychiatrie u. Neurologie, sind bisher erschienen:
Heft 1: Typhus und Nervensystem, Von Prof. Dr. Georg Stertz in
Breslau. (Vergriffen.)
Heft 2: Ueber die Bedeutung von Erblichkeit und Vorgeschichte
für das klinische Bild der progressiven Paralyse. Von Dr.
J. Pernet in Zürich. (Vergriffen.)
Heft 3: Kindersprache und Aphasie. Gedanken zur Aphasielehre auf
Grund von Beobachtungen der kindlichen Sprachentwickelung und
ihrer Anomalie. Von Priv.-Doz. Dr. Emil Fröschels in Wien. Mk.5.50
Heft 4: Epilepsie und Dementia praecox. Von Professor Dr. W.
Vorkastner in Greifswald. Mk. ö.—
Heft 5: Forensisch-psychiatrische Erfahrungen im Kriege« Von Priv.-
Doz. Dr. W. Schmidt in Heidelberg. Mk. 8.—
Heft 6: Verbindung endogener und exogener Faktoren in dem
Symptomenbilde und der Pathogenese von Psychosen. Von
Priv.-Doz. Dr. Hans Seelert in Berlin. Mk. 3.50
Heft 7: Zur Klinik und Anatomie der reinen Worttaubheit, der
Heilungsaphasie und der Tontaubheit. Von Priv.-Doz. Dr. Otto
Pötzl in Wien. Mit zwei Tafeln. Mk. 4.—
Heft 8: Die Spielbreite der Symptome beim manisch-depressiven
' Irresein. Von Prof. Dr. P. Schröder in Greifswald. Mk. 3.—
Heft 9: Die symptomatischen Psychosen und ihre Differential¬
diagnose. Von Priv.-Doz. Dr. Hans Krisch in Greifswald. Mk 2.25
Heft 10: Die Abderhaldensche Reaktion mit bes.Berücksichtigung ihrer Er¬
gebnisse i.d. Psychiatrie. Von Priv.-Doz. Dr. G.E wa 1 d in Erlangen. Mk. 9.—
Heft 11: Der extrapyramidale Symptomenkomplex (das dystonische
Syndrom) und seine Bedeutung in der Neurologie. Von Prof.
Dr. G. Stertz in München. (Vergriffen.) Mk. 6.—
Heft 12: Der anethische Symptomenkomplex. Eine Studie zur Psycho¬
pathologie d. Handlung. Von Priv.-Doz. Dr. 0. Albrecht in Wien. Mk. 4.—
Heft 13: Die neurologische Forschungsrichtung in der Psychopatho¬
logie und andere Aufsätze. Von Prof. Dr. A.Pick in Prag. Mk. 8.—
Heft 14: Ueber die Entstehung der Negrischen Körperchen. Von
Prof. Dr. L. Benedek und Dr. F. O. Porsche in Kolozsvar. Mit
10 Tafeln. Mk. 8.-
Heft 15: Ueber die Bedeutung und Entstehung der Stereotypien.
Von Priv.-Doz. Dr. Jakob Kläsi in Zürich. Mk. 1.50
Heft 16: Ueber Psychoanalyse. Von Dozent Dr.R.A Ilers in Wien. Mk. 2.—
Heft 17: Die Zergliederung des psychischen Krankheitsbildes bei
Arteriosklerosis-cerebrl. Von Nervenarzt Dr. S. J. R. de Monchy
in Rotterdam. Mk. 2.—
Heft 18: Epilepsie und manisch-depressives Irresein. Von Dr. Hans
Krisch in Greifswald. Mk. 2.—
Heft 19: Ueber die paranoiden Reaktionen in der Haft. Von Dr.
W. Försterling in Landsberg a. d. W. Mk..—.—
Heft 20: Dementia praecox, intermediäre psychische Schicht und
Kleinhirn - Basalganglien - Stirnhirnsysteme. Von Priv.-Doz.
Dr. Max Loewy in Prag-Marienbad. Mk. —.—
Heft 21: Metaphysik und Schizophrenie. Eine vergleichende psycho¬
logische Studie. Von Dr. G. Bychowski in Warschau. Mk. —
Heft 22: Der Selbstihord. Von Priv.-Doz. Dr. med. R. Weichbrodt in
Frankfurt a. M. Mk. —.—
Die Abonnenten der „Monatsschrift für Psychiatrie und Neurologie“
erhalten diese Abhandlungen zu einem um 20°/o ermäßigten Preise.
Die obigen Preise sind Grundpreise, die nach dem jeweiligen Umrechnungsschlüssel verviel¬
facht, die jeweiligen Verkaufspreise ergeben. Flir das Ausland gelten obige Preise in
Schweizer Franken als Verkaufspreise, ohne jeden Aufschlag; mit Ausnahme des Portos.
ABHANDLUNGEN AUS DER NEUROLOGIE,
PSYCHIATRIE, PSYCHOLOGIE UND IHREN
GRENZGEBIETEN
BEIHEFTE ZUR MONATSSCHRIFT FÜR PSYCHIATRIE UND NEUROLOGIE
HERAUSGEGEBEN VON K. BONHOEFFER
HEFT 20
[Aus der Psychiatrischen und Nervenklinik zu Frankfurt a. M. (Prof. K. Kleist)
und der Deutschen Psychiatrischen Universitätsklinik in Prag (Prof. O. Poetzl).]
Dementia praecox,
intermediäre psychische Schicht
und Kleinhirn- Basalganglien-StirnhirnSysteme
Von
Dr. Max Loewy (Marienbad)
Privatdozent für Psychiatrie und Neurologie an der Deutschen Universität in Prag
BERLIN 1923
VERLAG VON S. KARGER
KARI.STRASSE 13.
9 Q £ ft ik 5
W L -J ^
O |
r i
Alle Rechte Vorbehalten
Druck von Ernst Klöppel in Quedlinburg
Inhalt.
Seite
I. Ueber eine intermediäre psychische Schicht. 4
II. Die Verschiedenartigkeit der pathogenetischen Erklärungen der
Dementia praecox.39
III. Ein Grand für die Vielgestaltigkeit in Symptomatologie, Zustands-
bildero, Verlauf, Ausgang und pathogenetischen Erklärungen
der Dementia praecox (intermediäre psychische Schicht und
Basalganglienerkrankung).74
IV. Schlussätze und Zusammenfassung.114
* »
1. lieber eine intermediäre psychische Schicht.
:.V- Nach einem Vorträge gehalten im „Lotos“ zu Prag, 28. II. 1922.
• . •
Psvchopathologische Fragestellungen „ und psychiatrische Er-
fahrungen sind es. auf denen das hier wiederzugebende eigene
Psychologische aufgebaut wurde. Es werden daher vor allem auch
psychopathologisch gerichtete Arbeiten und Autoren neben Fach-
psvchologen zum Belege oder Vergleiche herangezogen.
Nun haben aber neuere Autoren, sowohl Psychopathologen als
Psychologen Spezialuntersuchungen psychologischer Art als teils irre¬
führend, teils überflüssig abgelehnt, im Hinweise auf die Unfruchtbar¬
keit der psychologischen Systematik. Die Psychopathologen betonen
dieser gegenüber besonders die Bedeutung der Vulgärpsychologie des
normalen Sprachgebrauchs als für die psychopathologischen Fragen
wie überhaupt für das Verständnis normalen und gestörten Erlebens
wichtiger.
Es wurde auf die Gefahren der systematischen und konstruktiven
Psychologie hingewiesen, die in ihrer Mosaikbildung liegen: in der
Zerlegung des Erlebten und seiner Wiederzusammensetzung, beides-
mal unter Zerstörung des Stromes des Denkens.
Trotzdem mir dieser Verzicht unberechtigt erscheint, kann nicht,
geleugnet werden, daß zum Zwecke des psychologischen Studiums
fixierende Einstellungen auf psychische Akte erfolgen müssen, wo¬
durch diese Veränderungen erleiden, und nicht nur die Akte, sondern
auch konsekutiv die Inhalte verändert werden können. Auch durch
V
Festhaltung der Inhalte entstehen Störungen des Ablaufs und der Zu¬
sammenhänge: sagen wir „der psychischen Koordination“, in der
psychologischen Untersuchung, und damit geht es ähnlich wie bei der
Beachtung einer koordinierten Bewegung, auf deren Störung durch
die Hinlenkung der Aufmerksamkeit insbesondere A. Pick hin¬
gewiesen hat. Ein hübsches Bild dafür gibt ein alter Simplizissimus-
scherz vom Tausendfuß und der Schnecke: Die Schnecke beneidet
den Tausendfuß um seinen schönen Gang und fragt: „Lieber Tausend¬
fuß, wie machst du das, daß du so schön schreitest? Mit welchem
Bein trittst du zuerst aus, mit dem ersten, dem neunundneunzigsten,
dem einhundertundfünfunddreißigsten?“ Der Tausendfuß dachte nach
und konnte nickt mehr gehen. Nun müssen wir aber Inhalte und Akte
zum Zwecke ihres Studiums beachten und fixieren, durch diese Fest¬
haltung entsteht sozusagen ein gehärtetes psychisches Präparat. Das
ist aber etwas anderes als eine Erscheinung im Flusse des psychischen
Geschehens. Auch die experimentelle Psychologie, welche wechselnde
Erscheinungen produziert, arbeitet mit künstlicher Vereinfachung und
künstlicher Komplizierung und vor allem schaltet sie beim
Studium von Empfindungen, Vorstellungen, Begriffen, Urteilen, Ge¬
fühlen, Relationen usw. deren normales Ziel, „den bio¬
logischen Zw ec k“, aus, schafft also ein Kunstprodukt:
denn „ihre Aufgaben“ sind zwar Zielsetzungen, aber n i c h t die
biologischen, sie arbeitet also mit Zielverlust.
Die Erlebnis- und Wertpsychologie, welche zwar das Leben und
Erleben in seinen Zusammenhängen und Beziehungen, in seiner
Relativität und Subjektivität zu erfassen sucht, ist ihrerseits wieder
eben deswegen zu einer gewissen Verschwommenheit der fixierenden
Einstellungen genötigt, um die Weite ihres Blickfeldes nicht zu
verlieren.
Über diesen Punkt und die Unterschiede der Anschauungen
mögen uns herausgegrilTene Ausführungen verschiedener Autoren
instruieren.
Im Kapitel Psychologie seiner „Philosophie, ihr Problem und
ihre Probleme, Einführung in den kritischen Idealismus“ (Göttingen
1 *• > 11). weist Paul Natorp (Marburg) auf Ähnliches hin:
Zwar braucht die Wissenschaft Abstraktionen, gerade um des Konkreten
Herr zu werden. Aber diese wollen nicht Trennungen bedeuten, sondern bloße
Abgrenzungen für ein Denken, das gerade darauf ausgeht, das letzte ungetrennt
Konkrete Schritt um Schritt der Erkenntnis zu erobern und damit dem Be¬
wußtsein zu erhalten und zu sichern. Freilich kommt sie mit dieser Aufgabe
nie zu Ende. Sie gibt als solche nur Gesetze, aUo Allgemeines zu er¬
kennen und wenigstens nicht das letzte Einzelne; Abstraktes, und
nicht das letzte Konkrete; in ihren so sicheren Feststellungen kommt der
Fluß des Werdens gleichsam zur Erstarrung. In dieser dreifachen Beziehung
scheint die letzte Wahrheit des Wirklichen unerfaßt zu bleiben, verflacht, um
schließlich verschoben zu werden. Der Grund, aus welchem die Wissenschaft
so vorgeht, ist klar; sie gewinnt auf diesem Wege ein Wissen, welches,
genau so weit als es reicht, gesichert ist. Nur scheint, was wir mit solcher
Sicherheit erkennen, nicht das zu sein, was wir zuletzt erkennen wollten: das
Wirkliche, in seiner vollen Lebenswahrheit; sondern ein mehr oder weniger
erMarrtes, also totes Bild desselben (8. 139).
S. 140: Für die Wissenschaft i s t geradezu der Gegenstand das Gesetz,
das Gesetz der Gegenstand. Aber mit dieser einzigen, uns erreichbaren gegen¬
ständlichen Erkenntnis würden wir freilich betrogen sein, wenn wir in ihr die
endgültige Darstellung des Gegenstandes (als des zu Erkennenden) sehen wiir-
1. Ueber eine intermediäre psychische Schicht.
Nach einem Vorträge gehalten im „Lotos“ zu Prag, 28. II. 1922.
Psychopathologische Fragestellungen^ und psychiatrische Er¬
fahrungen sind es. auf denen das hier wiederzugebende eigene
Psychologische aufgebaut wurde. Es werden daher vor allem auch
psychopathologisch gerichtete Arbeiten und Autoren neben Fach¬
psychologen zutn Belege oder Vergleiche herangezogen.
Nun haben aber neuere Autoren, sowohl Psychopathologen als
Psychologen Spezialuntersuchungen psychologischer Art als teils irre¬
führend. teils überflüssig abgelehnt, im Hinweise auf die Unfruchtbar¬
keit der psychologischen Systematik. Die Psychopathologen betonen
dieser gegenüber besonders die Bedeutung der Vulgärpsychologie des
normalen Sprachgebrauchs als für die psychopathologisehen Fragen
wie überhaupt für das Verständnis normalen und gestörten Erlebens
wichtiger.
Es wurde auf die Gefahren der systematischen und konstruktiven
Psychologie hingewiesen, die in ihrer Mosaikbildung liegen: in der
Zerlegung des Erlebten und seiner Wiederzusammensetzung, beides-
mal unter Zerstörung des Stromes des Denkens.
Trotzdem mir dieser Verzicht unberechtigt erscheint, kann nicht
geleugnet werden, daß zum Zwecke des psychologischen Studiums
fixierende Einstellungen auf psychische Akte erfolgen müssen, wo¬
durch diese Veränderungen erleiden, und nicht nur die Akte, sondern
auch konsekutiv die Inhalte verändert werden können. Auch durch
Festhaltung der Inhalte entstehen Störungen des Ablaufs und der Zu¬
sammenhänge: sagen wir „der psychischen Koordination“, in der
psychologischen Untersuchung, und damit geht es ähnlich wie bei der
Beachtung einer koordinierten Bewegung, auf deren Störung durch
die Hinlenkung der Aufmerksamkeit insbesondere A. Pick hin¬
gewiesen hat. Ein hübsches Bild dafür gibt ein alter Simplizissimus-
sclierz vom Tausendfuß und der Schnecke: Die Schnecke beneidet
den Tausendfuß um seinen schönen Gang und fragt: „Lieber Tausend¬
fuß. wie machst du das, daß du so schön schreitest? Mit welchem
Bein trittst du zuerst aus, mit dem ersten, dem neunundneunzigsten,
dem einhundertundfünfunddreißigsten?“ Der Tausendfuß dachte nach
.)
und konnte nickt mehr gehen. Nun müssen wir aber Inhalte und Akte
zum Zwecke ihres Studiums beachten und fixieren, durch diese Fest¬
haltung entsteht sozusagen ein gehärtetes psychisches Präparat. Das
Dt aber etwas anderes als eine Erscheinung im Flusse des psychischen
«Geschehens. Auch die experimentelle Psychologie, welche wechselnde
Erscheinungen produziert, arbeitet mit künstlicher Vereinfachung und
künstlicher Komplizierung und vor allem schaltet sie beim
.Studium von Empfindungen, Vorstellungen, Begriffen, Urteilen, Ge¬
fühlen, Relationen usw. deren normales Ziel, ,.d e n bio¬
logischen Zweck“, aus, schafft also ein Kunstprodukt;
denn ,.ihre Aufgaben“ sind zwar Zielsetzungen, aber n i e h t die
biologischen, sie arbeitet also mit Zielverlust.
Die Erlebnis- und Wertpsychologie, welche zwar das Leben und
Erleben in seinen Zusammenhängen und Beziehungen, in seiner
Relativität und Subjektivität zu erfassen sucht, ist ihrerseits wieder
«dien deswegen zu einer gewissen Verschwommenheit der fixierenden
Einstellungen genötigt, um die Weite ihres Blickfeldes 1 nicht zu
verlieren.
Uber diesen Punkt und die Unterschiede der Anschauungen
mögen uns herausgegriffene Ausführungen verschiedener Autoren
instruieren.
int Kapitel Psychologie seiner „Philosophie, ihr Problem und
ihre Probleme, Einführung in den kritischen Idealismus“ (Göttingen
l'.tllj. weist Paul Natorp (Marburg) auf Ähnliches hin:
Zwar braucht die Wissenschaft Abstraktionen, gerade um des Konkreten
Herr zu werden. Aber diese wollen nicht Trennungen bedeuten, sondern bloße
Abgrenzungen für ein Denken, das gerade darauf ausgeht, das letzte ungetrennt
Konkrete Schritt um Schritt der Erkenntnis zu erobern und damit dem Be¬
wußtsein zu erhalten und zu sichern. Freilich kommt sie mit dieser Aufgabe
nie zu Ende. Sie gibt als solche nur Gesetze, al 3 o Allgemeines zu er¬
kennen und wenigstens nicht das letzte Einzelne; Abstraktes, und
nicht das letzte Konkrete; in ihren so sicheren Feststellungen kommt der
Fluß des Werdens gleichsam zur Erstarrung. In dieser dreifachen Beziehung
scheint die letzte Wahrheit des Wirklichen unerfaßt zu bleiben, verflacht, um
schließlich verschoben zu werden. Der Grund, aus welchem die Wissenschaft
so vorgeht, ist klar; sie gewinnt auf diesem Wege ein Wissen, welches,
genau so weit als es reicht, gesichert ist. Nur scheint, was wir mit solcher
Sicherheit erkennen, nicht das zu sein, was wir zuletzt erkennen wollten: das
Wirkliche, in seiner vollen Lebenswahrheit; sondern ein mehr oder weniger
erstarrtes, also totes Bild desselben (S. 139).
S. 140: Für die Wissenschaft i s t geradezu der Gegenstand das Gesetz,
das Gesetz der Gegenstand. Aber mit dieser einzigen, uns erreichbaren gegen¬
ständlichen Erkenntnis würden wir freilich betrogen sein, wenn wir in ihr die
endgültige Darstellung des Gegenstandes (als des zu Erkennenden) sehen wiir-
6
den. Also bleibt, auch aller noch so weit durchgeftihrten Objektivie¬
rung gegenüber, immer die Frage nach der letzten, erfüllten Wirklichkeit, die
man mit dem Worte „Lebe n“ eigentlich meint. Auch durch irgendeine bloß
äußere Zusammennehmung der theoretischen, der ethischen und ästhetischen
Objektivierung würde diese Frage nicht erledigt sein (S. 141).
S. 144: Die Hartnäckigkeit der im Grunde seltsamen Täuschung des
DualismusvonAußen-undlnnenwelt hat aber in der Tat einen
sehr tiefliegenden Grund: Man fühlt, daß dem Subjektiven irgendein Eigenwert
doch bleiben muß. Es ist in der Tat das Subjektive, das man untersucht: Das
Meinen, der Schein, gerade alles das, was die Naturwissenschaft als für ihre
Aufgabe der Objektivierung unbrauchbar auf Seite stellt; die Sinnestäuschung,
die ganze Überkleidung der Dinge mit Farbe, Ton, überhaupt Empfindungs¬
qualität; das Logisch-Irrationale; der Widerspruch selbst; vollends das dunkle,
dumpfe Fühlen in Lust und Schmerz und das ganz eigenartige, allem Natur¬
wissenschaftlichen seitab liegende Phänomen des Strebens. Man befragt direkt
das Subjekt, läßt es ganz aus seiner Subjektivität heraus, fern jedem Objektivi¬
tätsanspruch, nur sich aussprechen und macht dann allen solchen subjektiv¬
sten Befund zum Problem einer neuen Wissenschaft, die demnach wohl mit
Fug die „Wissenschaft des Subjektiven“, also, da man dieses das Psychische
nennt, „Psychologie“ wird genannt werden dürfen.
S. 145. Aber um die Aussage kommt man keinesfalls herum. Auch
wenn man sein eigenes, unmittelbares Erleben, z. B. Farbenempfindung, Schmerz¬
gefühl. wie auf der Tat betreffen möchte, um es an der Gerichtsstelle der Wis¬
senschaft zur Anzeige zu bringen, so wird man, um es anzuzeigen, es doch
irgendwie aussprechen müssen. . . . Jede solche Aussage, solche Bestimmung,
ist aber schon Objektivierung; also ist es nicht mehr das Subjektive in seiner
Reinheit, was man zur Anzeige bringt, sondern allenfalls ein Hinweis auf
es. . . . Die Täuschung hierüber war möglich und fast unentrinnbar, weil und
solange man auf den Unterschied der Stufen der Objektivierung
nicht achtete. Man glaubt leicht, das Subjektive schon erreicht, wenn man in
der Tat nur von irgendeiner gegebenen, auf eine niedere Stufe der Objektivie¬
rung zurückgetreten ist.
S. 147: Aber eben in der Tatsache jener Stufenreihe der Objek¬
tivierung liegt nun der Hinweis auf das wahre und ganz eigenartige Pro¬
blem einer Darstellung der Subjektivität selbst und als
solcher, und damit auch etwas, w r ie eine neue Problemdimension
der Wissenschaft.
S. 152: Indessen bleibt die Erkenntnis der Subjektivität doch immer a b -
h ä n g i g von den Objektivierungen jeder Art und Stufe; sie kann allein ge¬
wonnen werden im Rückgang von einer gegebenen Stufe der Objektivie¬
rung zu den dieser gegenüber niederen Stufen.
S. 153: Man hat zwar vielfach vom „inneren Sinn“, von Selbstbeobachtung,
Selbstanschauung gesprochen, als ob es ein direktes Anschauen des eigenen
Innenlebens sei. Aber schon seit Langem wird bestritten, daß es ein solches
Organ oder eine solche Funktion der inneren Selbstschau überhaupt gebe.
Unsere vorausgeschickten Erwägungen verneinen es bestimmt. Es sind über¬
haupt nicht zwei gesonderte Reihen von Erscheinungen:
Erscheinungen des Bewußtseins und Erscheinungen der äußeren Natur. Etwas
erscheint, das heißt schon, es ist Einem bewußt. Also ist alle Erscheinung
7
Erscheinung für ein oder in einem Bewußtsein. Aber „es erscheint“ heißt
zugleich „es stellt sich mir als Gegenstand“ (auf irgendeiner Stufe der Ver-
gegenständlichung) dar.
Hören wir nun hierzu noch eine extreme Vertreterin der Er¬
lebnis-, Beziehungs- und Wertpsychologie: Vera Strasser in
ihrem Buche „Psychologie der Zusammenhänge und Beziehungen“
(1921, Berlin, Springer), im Kapitel: Das Seelische, S. 65:
Die menschliche Seele ist an sich weder ein Sicherungs-, noch
nur ein Orientierungs- und Selbsterhaltungsorgan. Eine derartige Auffassung
würde es sich leisten, die menschliche Seele viel zu sehr zu vereinfachen und
zu verflachen, sie viel zu stark ins rein Praktische, in das Zweckmäßige der
momentanen Weltordnung hineinzuversetzen und hätte das Geheimnis, welches
das reine Leben ausmacht, das Leben an sich, das des Praktischen Grundlage
und Kitt ist, das aber die menschliche Seele durchwirkt und umwebt, nicht ge¬
nügend eingeschätzt und erfaßt. . . . Die menschliche Seele ist einmal ein
Verbindungsmaschenwerk, das fest verzweigt und verwoben, ein andermal
kaum sichtbar, kaum fühlbar, wie die # Verbindung der Ursprungswelle und
Uferwelle, sein kann. Die menschliche Seele enthält die Vorstellung von sämt¬
lichen Gefühlen und das Gefühl von sämtlichen Vorstellungen und dazu noch
ein unfaßbares Etwas, das nie durch die Wechselwirkungen mit der Außenwelt
in Bewegung gesetzt wurde. Wille ist die Dynamik der Seele,
wie er die Dynamik der Persönlichkeit ist.
S. 66: Die Seele ist ein Ich-Sein, das aus dem, was wir erkennen und nicht
erkennen können, besteht; ist aber auch ein Orientierungs-, ein Erkennungs-,
ein Vorbereitungs-, ein Sicherungs-, ein Selbsterhaltungsorgan, Persön¬
lich k e i t ist Körper und Seele.
S. 66: Aufspeichern der Erfahrungen des äußeren und inneren Lebens, An*
sammeln der Bilder über den Körper und über die äußeren und inneren Vor¬
gänge, all’ das zusammen bildet das Gesamtbewußtsein. . . .
S. 69: Das im Vordergründe stehende „registrierende Be¬
wußtsein“ ist das Produkt des Nichtbewußten und der momentanen
Wechselwirkung und der Beziehungen zwischen Außen- und Innenwelt. Wie
die Staatsorganisation eine ungefähre Ordnung im Chaos der Vielen ist, so ist
auch das wirkliche Bewußtsein eine Ordnungsrichtung im Chaos der
Vorstellungen des Ichs und der Umwelt, im Ich. Das Gesamtbewußtsein ist
ül>erhaupt alles das, was in mir an Vorstellungen, Gefühls- und Erlebniserfah¬
rungen enthalten sich vorfindet: im Vergleich zur Seele, die außer dem immer
erneuten Bewußtsein, also dem Gesamtbewußtsein, ein Etwas enthält, das bis
dahin sich noch durch keinerlei Erfahrung in Funktion gesetzt hat. Im Dienste
des Gesamtbewußtseins stehen Sinnesorgane, Interessen, Aufmerk¬
samkeit, Gedächtnis, Wille, Beziehungen. Die Fähigkeit des Gesamt¬
bewußtseins an sich ist eine größere als das, was das Bewußtsein
von ihr in Funktion setzt und verwendet. Damit soll gesagt sein, daß im Ge¬
samtbewußtsein mehr als nur der empirische Teil oder einmal empirisch ge¬
wesene Teil enthalten sein kann.
S. 69. Im Traum kommt das Bewußte und Nichtbewußte zum Vorschein.
Das heißt, der Traum ist chaotisch, weil ihm der Regulator des wirklichen Be¬
wußtseins fehlt. Im Traum tritt das Gesamtbewußtsein in Funktion.
8
S. 82. I n den Funktionen des l>e n kens lind F ii h 1 e n s
äußert sich der ganze Ban unseres Körpers mit seinen ursprünglichen Funktio¬
nen. den Trieben, das stets wandelbare Material unseres Gesamtbewußtseins,
die Fähigkeit der Wiederholung bis zur Mechanisierung unserer Gedächtnis¬
funktionen, kurz alle unsere psychischen Phänomene. . . . Jede lokalisierte
Sensation, jede Empfindung teilt sich dem ganzen Körper mit und versetzt
ihn in eine gewisse Bewegung, die wir nicht immer als solche bemessen können.
An komplizierten Empfindungen diffuser, nicht unbedingt an einer einzigen
Stelle lokalisierter Natur, wie z. B. der Schmerzempfindung von einem inneren
Organ aus, kann man den Übergang von E m p f i n d u n g zu m G e f ii h 1
deutlich sehen.
Das Gefühl ist eigentlich ein Mitmachen des Körpers an einer Empfin¬
dung oder an einem geistigen Erleben. Darin ist die Denkfähigkeit schon ein¬
geschlossen. Das Denken ist die Fähigkeit, zwischen den Sinnesempfindun¬
gen der äußeren und inneren Beziehungswelt Kombinationen zu schaffen. Das
Denken ist auch begleitet von den Bewegungen, den ,.Schwingungen“ des ge¬
samten Körpers und bildet auf diese Weise das Gefühl, das schon deswegen
mit dem Denken unauflöslich verbunden ist. Beim ..Gefühlsmenschen“ ist die
Quantität der körperlichen Mitschwingungen (Zusammenspiel des zentralen und
sympathischen Nervensystems) größer, die körperliche Mitarbeit eine ausgiebi¬
gere als beim ..nüchternen“ Verstandesmenschen. Aber wirklich trennbar ist
keines vom anderen. Wir können uns an dem erfreuen, dasjenige erfühlen,
was unser Denken und Erfassen versteht. Bei dieser Freude schlägt das Herz
stärker, der ganze Körper ist in Schwingung versetzt, die Motilität ist inten¬
siver. alles zusammen bildet das begleitende Gefühl einer erlebten, das heißt
erdachten, aus den Beziehungen entstandenen Denkfunktion.
(Anm. M a x L ö w y: Heißt wirklich erlebt so viel wie erdacht? Ich
glaube, erlebt ist viel mehr und auch viel weniger als erdacht. 8. u.)
Lust und Unlust sind schon Bewertungen des Denkens und Fühlen». nicht
aber etwas Primäres. Jedes Denken, jedes Handeln, jedes Empfinden ist be¬
gleitet vom gesamten körperlichen Mitmachen und bildet dieses berühmte Ge¬
fühl, das man im gewöhnlichen und im wissenschaftlichen Alltagsgebrauch vom
Denken abzusondern beliebt.
S. 86. Wenn wir uns irgendwie in der Welt, in unserem Leben orientieren
wollen, so sind wir nicht allein vom Denken, sondern auch vom Fühlen geleitet.
Da unser Ich nicht lediglich Begriffs-, wohl aber auch ein Aufnahme- und ein Hin¬
gabesubjekt ist, so bleibt das ganze Denken und Fühlen nicht nur darauf ge¬
richtet, anzugreifen, unsere Triebe zu befriedigen, sondern dient uns vielmehr
direkt dazu, daß wir uns über uns in der Welt zu orientieren und die Welt
über uns ergehen zu lassen vermögen.
S. 86. Schon das Kind beginnt zu abstrahieren. Das Anfangs- und das
schwachsinnige Denken gelangen nicht zur Abstraktion. Mit der Entwicklung
des Denkens bildet sich auch die A b s t r a k t i o n s f ä h i g k e i t. Sie ist,
eine Entkonkretisierungs- und damit eine Objektivierungsfähigkeit, die uns
unter anderem dazu verhilft. uns auch im Konkreten nicht zu verlieren. Sie
ermöglicht uns von der greifbaren Materie uns zu emanzipieren, das große
Ganze zu ordnen. Abstraktionsfähigkeit verschafft uns in diesem Sinne auch
ein Sicherheitsgefühl inmitten der Gesellschaft von Gegenständen, in der Um¬
gebung von Handlungen, von Tatbeständen usw.
S. !H>. Die Vorstellungsmasse ..Persönlichkeit 1 ' ist, wenn man sie in der
Wandlung und nicht geronnen starr sich denkt, im Momente der Betrachtung
eine somatische Anlage, samt dem psychischen Ballast (Erlebnisse, Erlebnis¬
fähigkeiten, wobei ich mir jegliche »Sinneseindrücke als Erlebnisse denke, für
die wir nur verschiedene Intensitäten zu registrieren verstehen). Ein psy¬
chischer Gesamtballast, der jedoch nicht in der Form eines aufgespeicherten
Materials zu verstehen ist, sondern durch die Lebensschwungkraft, durch den
fortwährenden Regulator, den Willen bewegt wird, was das Nämliche bedeutet
wie in Funktion, in Bewegung gesetzt werden. Der Wille ist die Dy¬
namik. die Aktion, die Bewegung unserer Persönlichkeit, in der wir vor¬
wärts schreiten (sc. leben). Die Persönlichkeit schließt also die G e -
s a m t h e i t des psychischen Materiales eines Individuums in
sich, während der Wille die Funktion d e r g e s a m t e n Persön¬
lichkeitist.
Manches in den Ausführungen Vera »Strassers erinnert
mich an S e nt o n s Lehre von der „Mneme“, von den ,.Engrammen",
vielleicht auch an Bergsons „Gedächtnis“ und „Erinnerung“,
wenn ich Gedächtnis mit Remanenzen und Erinnerung mit apper-
•/.cptiver Wahrnehmung, mit Auffassung übersetzen darf. Auch
manchen meiner eigenen Anschauungen über die Genese gewisser
psychischer Phänomene und ihrer Beziehungen, welche ich in ver¬
schiedenen psychiatrischen und psycho-pathologischen Arbeiten aus¬
gesprochen habe. s. u„ nähert sich Vera Strassers Lehre, und
doch mag ich nicht verschweigen, daß Vera Strassers mit
beneidenswerter Frische und unangekränkelt von blasser Skepsis
vorgetragene Auffassung des Psychischen aus einem einheitlichen
Gesichtspunkte in der Vereinfachung zu weit geht, so weit, daß der
Schlüssel für die psychopathologische Beobachtung von Einzel-
symptomen öfters darin nicht mehr enthalten ist und uns daher
entglitte. Es scheinen mir überhaupt gröbere Gebietsabgren¬
zungen. wie sie in W e r n i c k e s Schema zusammen mit der hier
von mir auszuführenden Konzeption „einer gebietsverbindenden,
intermediären psychischen Schicht“ sich darbieten, für psychopatho-
logisehe Fntersuchungen günstiger. Dies deswegen, weil sie ein Ver¬
gleichen und Abgrenzen und Wiederverbinden von Funktionen und
Funktionsstörungen, auf welches Vergleichen und Abgrenzen es uns
in der Psychopathologie überhaupt und hier besonders ankommt,
besser zu gestatten scheinen.
Hören wir weiter vergleichend einen Denkpsychologen schärferer
Richtung. Ich folge hier dem Absätze: „Denkpsychologie“ aus der
„Psychologie der frühesten Kindheit“ von William Stern.
2. Aufl., 1921 (Leipzig, bei Quelle & Meyer).
S. 240: Die Denkpsychologie hat die Verschiedenartigkeit des Anschau¬
lich-Vorstellungsmäßigen und des Abstrakt-Begrifflichen fcstgestellt. S. 2.‘58:
10
Der „Gedanke“ ist als Bewußtseinsinhalt betrachtet nicht eine vernickelte Vor¬
stellungverflechtung oder ein hochwertiger Vorstellungextrakt, sondern etwas
Neues, was zum Vorstellungsinhalt hinzutritt. Das Bewußtsein erschöpft sich
nämlich nicht in konkreten Erlebnissen anschauungsmäßiger Art, sondern es
bezieht diese Inhalte auf Gegenstände, die außerhalb seines Erlebens
selbst liegen. Das Kind hat von seiner Puppe die verschiedensten Wahr¬
nehmungen gehabt, optisch und taktil, in verschiedener Größe, je nach der
Entfernung in verschiedenen Beleuchtungen, von verschiedenen Seiten. Diese
Wahrnehmungen leben in mannigfachen mehr oder minder deutlichen Vorstel¬
lungen fort — aber nicht die Wahrnehmungen und Vorstellungen seines Innern
benennt das Kind, wenn es von seiner Puppe erzählt, sondern den iden¬
tischen Gegenstand da draußen, der als solcher nicht konkret erlebt
wird, dennoch aber gewußt wird, als der gemeinsame und identisch blei¬
bende Beziehungspunkt vieler Erlebnisse. Im Bewußtsein vorhanden ist also
jetzt neben dem vorstellungsmäßigen Inhalt noch die Bezugnahme auf etwas
Objektives: — die moderne Denkpsychologie nennt diesen für alles eigentliche
Denken entscheidenden abstrakten Bewußtseinsinhalt im Anschluß an Hus-
s e r 1 die „intentionale Bezieh un g“.
Im obigen Beispiel erstreckt sich die Intention auf einen Einzel¬
gegenstand und führte uns zum Individualbegriff. Aber wir sind auch
imstande, allgemeine Gegenstände („die Menschheit“, „das Tier“),
ebenso Relationen zwischen Gegenständen („Zweck“, „Ort“, „Kau¬
salität“, „Zahl“), zu denken. Und so gewiß alle diese Gedanken der
konkreten Vorstellungen als ihrer Materialien bedürfen, so gewiß sind
sie doch selbst abstrakte, unanschauliche — trotzdem durchaus ein¬
deutige — Bewußtseinsinhalte. Das gleiche gilt von den Urteilen:
Sie entstehen erst, wenn ich zu den Vorstellungen oder Vorstel¬
lungsverflechtungen die positive oder negative Intention, die Überzeugung von
Existenz oder Nichtexistenz des Gedachten füge. Aber der Unterschied zwi¬
schen Vorstellen und Denken liegt nicht nur auf dem Gebiete der Bewußt¬
seinsphänomene als solchen, auch die Tätigkeit, welche die Psyche hier
und dort vollführt, ist ganz verschiedener Natur. Die Verknüpfungen und
Abläufe des Vorstellungslebens sind wesentlich passiv: Eindrücke wirken nach.
Vorstellungen treten zusammen zu Komplexen, diese Verbindungen festigen
sich durch häufige Wiederholung — alles Vorgänge, die gleichsam von selber
ablaufen, denen das Ich mehr als Zuschauer gegenübersteht. Nun gibt es*aber
ein ganz anderes Verhalten: über jenem Vorstellungsgetriebe steht eine aktive
Energie, welche zwischen den Vorstellungen wählt, um an diese oder jene die
intentionale Beziehung anzuheften, welche ferner im Hinblicke auf ein erst zu
erreichendes Ziel (die „Aufgabe“) unter den unzähligen möglichen Assoziatio¬
nen eine bestimmte in Wirksamkeit treten läßt und andere zurückdrängt,
welch** endlich nicht nur vorhandene Verknüpfungen verwertet, sondern nie
zusammen dagewesene Bewußtseinselemente erstmalig synthetisch vereinigt zu
einem Gedanken. Alle diese aktiven Leistungen: Wahl, Determination, Hem¬
mung, Synthese sind uns ja auch schon anderwärts begegnet, (z. B. bei der
konstruktiven Phantasie): sie aber führen dann zur „Denk“tätigkeit, wenn die
Intention auf objektive Gültigkeit des Ergebnisses den Prozeß begleitet und
11
bestimmt. Hierbei ist wichtig, daß das Ergebnis erst ein zu erzielendes, also
gegenüber den vorhandenen Gedanken und Vorstellungen des Individuums
neu ist; alles Denken ist ein Hinausgehen über das Gegebene. Sobald die
Bewußtseinsbewegung lediglich Wiederholung früherer Bewußtseinsprozesse ist,
liegt nicht Denken, sondern reproduktives Vorstellen vor; daher kommt es,
daß ähnliche Prozesse in ihrer Äußerungsweise die logische Form von Denk¬
akten zeigen können, ohne psychologisch solche zu sein. Hierin liegt eine
große, meist nicht genügend beachtete Schwierigkeit der psychologischen
Analyse.
Der (auf Gegenstandserstellung resp. auf objektive Gültigkeit des Denk¬
ergebnisses gerichtete Gedanke, also) „intentionale“ Gedanke als Bewußtseins¬
element und das Beherrschen der Bewußtseinsbewegung durch aktives Hin¬
streben auf neue Intentionen — das sind die beiden psychologischen Grund¬
merkmale alles Denkens.
S. 270/271: In allem Fühlen und Wollen bekundet sich — weit entschie¬
dener als im Vorstellen und im Denken — das Ich in seiner Ganzheit;
Gemütsbewegung und Willensakt sind Verhaltungsweisen der lebendigen Ich-
einheit gegenüber einem Objekt, das zu ihr in Beziehung tritt. Diese Tätigkeit
des Ich aber ist „alternativ“, d. h. bewegt sich zwischen den zwei entgegen¬
gesetzten Polen der Zuwendung oder Abwendung: sie ist daher am besten als
„Stellungnahme“ zu bezeichnen; die Stellungnahme des Erlebens führt zu den
beiden Gefühlsrichtungen der Lust und der Unlust; die Stellungnahme des Han- •
delns führt zu den beiden Wlllensrichtungen des Hinstrebens (Begehrens) und
Widerstrebens (Abwehrens). Auch das Urteil gehört mit seinem Bejahen und
Verneinen, Billigen und Mißbilligen in die Kategorie der Stellungnahme. Das
einheitliche Individuum ist nicht nur psychisch, sondern auch phy¬
sisch. In der Tat erstreckt sich das Stellungnehmen ungeschieden auf diese
beiden Seiten der Persönlichkeit; die Beschränkung der Betrachtung auf das
„nur Psychische“ wäre eine künstliche Isolation. So gehört zum Gemütsaffekt
der Furcht die körperliche Bewegung des Zurückweichens, Schreiens, Er¬
blassens. ebenso wie das Bewußtseinsphänomen des „Furchtgefühls“; zu irgend¬
einer Willenshandlung gehört die äußere Tat, eine bestimmte Innervation (oder
Hemmung) der Gliedmaßen, ebenso wesentlich wie das Bewußtseinsphänomen
der Entscheidung. Der Form nach haben wir zu trennen: Reaktive und
spontane Stellungnahme. Das Stellungnehmen tritt auf als Reaktion, wenn
ein äußeres Objekt erst den Anreiz dazu gibt, daß das Individuum sich positiv
(lustvoll, begehrend) oder negativ (unlustvoll, abwehrend) verhält. Spontan ist
dagegen die Aktion, wenn sie aus dem Innern des Individuums quellend ihr
Objekt erst selber sucht. Beim Reagieren ist der Mensch gebunden an die
seiner Machtsphäre entzogene Wirklichkeit der äußeren Verhältnisse; in der
Spontaneität ist sein Stellungnehmen frei, d. h. nicht ursachlos, sondern be¬
stimmt durch die immanente Zielstrebigkeit seiner eigenen Persönlichkeit.
In dieser Schärfe ist nun freilich die Gegenstellung von Reaktion und Spon¬
taneität, in der Wirklichkeit nie vorhanden; denn jede Stellungnahme, die der
Mensch vollzieht, ist sowohl von äußeren wie von inneren Bedingungen ab¬
hängig. Die Reaktion ist um so reiner, je mehr die augenblickliche
Konstellation der Lebensbedingungen die Stellungnahme bestimmt; die
Spontaneität ist um so reiner, je mehr eine über den Augenblick hinausgehende
innere Beschaffenheit des Individuums der Stellungnahme das ent-
12
scheidende Gepräge aufdrückt. Die seelische Entwicklung zeigt hier in dein
allmählichen Wachsen des spontanen Anteils eine ganze Stufenleiter von
Phasen.
Zu jeder Reaktion gehört ein Reiz, der sie auslöst. Zwischen Reiz und
Reaktion herrscht normalerweise ein Zweck Zusammenhang, in dem die
Reaktion diejenige psychische oder physische Stellungnahme zum Reiz bedeu¬
tet, die im Sinne der Lebenserhaltung des Individuums liegt. Dabei braucht
zwischen beiden Gliedern des Zweckzusammenhangs keine Ähnlichkeit zu be¬
stehen. Der Stich einer Nadel und die Gefühlsreaktion des Schmerzes haben
keine Ähnlichkeit miteinander, ebensowenig der Anblick eines Kuchens und
die Willensreaktion des Zugreifens. Die meisten Reaktionen gehören dieser
,.h eterogene n“ Form an, namentlich beim Erwachsenen. Daneben aber
gibt es eine Gruppe der ..homogenen Reaktionen“, die zwar weniger umfang
reich, aber doch von größter Bedeutung ist. insbesondere in der Kindheit. Bei
ihnen besteht die Tendenz, den Inhalt des Reizes in ähnlicher
Weise zu wiederholen.
Nun kann sich die homogene Reaktion sowohl auf die physische, wie
auf die psychische Seite des Stellungnehmens erstrecken. Der erste Fall ist uns
bekannt genug, es ist die Nachahmung körperlicher Tätig¬
keit, deren Bedeutung uns beim Sprechen. Spielen und anderwärts begegnet.
Der zweite Fall ist die S u g g e s t i o n , die in der Tat auch nichts anderes
ist als Nachahmung, aber ein Nachahrnen psychischer Stellungnahme.
(Anm. Max L ö w v: Hierzu möchte ich bemerken, daß ich 1911 die Ein¬
fühlung als bewirkt durch M i t b e w r e g u n g e n bei Ausdrucksbewegungen
anderer oder sonstigen Bewegungen in der Außenwelt erklärt und in unseren
Mitbewegungen die retrograd-assoziativ wirksame Ursache unseres Mittulikvis,
Mitlachens, Mitweinens, Mitgähnens, ja in letzter Linie des Verständnisses der
Außenwelt überhaupt gesucht habe. Weiter habe ich (1918: Über Hypnose etc.)
zeigen können, daß die suggestive Einwirkung mit Hilfe von „8 i g n a l e n“
(Worten oder willkürlich gegebenen Stellungen, z. B. des Gefesselten, des Ge¬
kreuzigten etc. oder durch Gesten als Zeichen) die Erweckung von Mitbewe¬
gungen, Sensationen, Zuständlichkeiten, Gemütslagen des Hypnotisierten auf
retrograd - assoziativem Wege anstrebt. Wir benützen also beim Hyp¬
notisieren und Suggerieren unseren Apparat der Ausdrueksbew'egungen und
den Mitbewegungs- und Einfühlungsapparat des Hypnotisierten, wie wir zum
eigenen Einfühlen und Verstehen unseren eigenen Mitbewegungsapparat
gebrauchen.)
Vergleichen wir weiter in dieses Gebiet der Denkpsychologie
Gehöriges aus der „Allgemeinen Psychopathologie 14 von Karl
Jaspers, II. Aufl., Berlin 1920, bei Springer, vorerst im Kapitel
Bewußtseinszustand.
S. 92, 93: Das Ganze des m o m e n t a n e n Seelenlebens nennen wir
Bewußtsein. Bildlich stellen wir uns das Bewußtsein gewissermaßen als
die Bühne vor, auf der die einzelnen seelischen Phänomene kommen und gehen,
oder als das Medium, in dem sie sich bewegen. Dies Bewußtsein, das
jedem psychischen Phänomen als psychischem eigen ist, wechselt seine Art auf
sehr mannigfache Weise. Im Bilde gesprochen wird z. B. die Bühne sehr eng
(Bew’ußtseinsenge), «las Medium trübe (Bewußtseinstrübung) usw.
13
Schon unser augenblickliches Bewußtsein ist kein gleichmäßiges.
Wir veranschaulichen uns diese Verschiedenheit im Bewußtseinsgrad der ein¬
zelnen Elemente am besten durch eine Welle. Nur e i n G i p f e 1 ist im
klarsten Bewußtsein, von da ab zieht sich nach allen Seiten eine Reihe weniger
bewußter Phänomene, die wir meistens gar nicht bemerken. Um den Blick¬
punkt des Bewußtseins lagert sich ein nach der Peripherie hin immer dunkler
werdendes Blickfeld. Bei planmäßiger Selbstbeobachtung kann man diese
Bewußtseinsgrade (d. i. Aufmerksamkeitsgrade. Bewußtseinsstufen) unter¬
suchen. Damit psychische Phänomene als bewußte angesprochen werden kön¬
nen. müssen sie irgendwann auch bemerkbar sein. Wir werden uns hüten,
u n b e in e r k t e Vorgänge mit außerbewußten zu verwechseln. Das
Bewußtsein hat nämlich zweierlei Bedeutung: Das wirkliche psychi¬
sche Dasein und das Wissen um das Dasein eines seelischen Phä¬
nomens bei sich.
(Anm. MaxLöwy: Hierzu möchte ich bemerken, daß wir als vollbewußt
nur das wirklich Bemerkte anerkennen dürfen, und daß, wie ich seinerzeit
(„Aktionsgefühle“, 1908) ausführte, das Kennzeichen und charakteristische Vor¬
zeichen des Bemerkens durch ein Gefühl (eine Bewußtheit) des psychisch Tätig¬
seins bei dem betreffenden Akte (beim Erleben eines Inhalts) dargestellt wird.
Zwar kann dieses „Denkgefühl“ (Fühlen des psychischen Agieren») auch fehlen
und trotzdem der betreffende Inhalt vollbewußt erlebt werden. Er erscheint
aber dann als fremd, entfremdet (vgl. die von W e r n i c k e so genannten
autoehthonen Ideen und die Entfremdung der Wahrnehmungswelt in der De¬
personalisation). Dieses Denkgefühl meiner Nomenklatur entspricht wohl dem,
was Jaspers als „das Wissen um das Dasein eines seeli¬
schen Phänomens bei sic h“ bezeichnet und ist das, was neuerdings
,.I c h a k t i v i t ä t im Erleben“ genannt wird. [Kronf eld, 1922]).
S. 89: Ist beim Menschen der Gesamtzustand des Seelenlebens im großen
und ganzen intakt — Menschen, die im übrigen schwerste psychische Störun¬
gen: Wahnideen, echte Halluzinationen, Umwandlung ihrer Persönlichkeit usw.
«larbieten können, so pflegen wir zu sagen, der Kranke ist besonnen. Be¬
sonnenheit nennen wir den Bewußtseinszustand, in dem bei Abwesen¬
heit eines intensiveren Affektes die Bewußtseinsinhalte die durch¬
schnittliche Klarheit und Deutlichkeit besitzen, der Ablauf des
seelischen Lebens geordnet und von Zielvorstellungen abhängig ist. O b -
j e k t i v e Zeichen der Besonnenheit sind die Orientiertheit, („das
präsente Bewußtsein der geordneten Totalität seiner individuellen Welt“), und
die Fähigkeit, sich auf Fragen hin zu besinnen, und sich etwas zu m e r -
k e n. Dieser Bewußtseiuszustand ist der für eine Beziehung zu anderen Men¬
schen. für ein gegenseitiges Verständnis geeignetste. Mit zunehmender Ver¬
änderung des seelischen Gesamtzustandes wird es uns immer schwieriger, uns
mit den Kranken in Beziehung zu setzen. Nur in dem Maße, als dies über¬
haupt möglich ist. können wir in unmittelbarem Miterleben
Kenntnis über ihre inneren Vorgänge bekommen. Bedingung einer geistigen
Beziehung zwischen uns und dem Kranken ist seine Fixierbarkeit. Wir nennen
Fixierbark eit die Fähigkeit, auf Fragen und Aufgaben so zu reagieren,
daß aus der Reaktion das Verständnis der Aufgabe mit Sicherheit hervorgeht.
Während der normale Mensch für alle Aufgaben fixierbar ist. nimmt diese
Fi xierbarkeit mit der Veränderung des seelischen Gesamtzustandes
14
immer mehr ab. Die Kranken reagieren nicht mehr verständlich auf eine
Frage, es gelingt aber vielleicht noch, auf eindringliche wiederholte Fra¬
gen zuweilen eine Reaktion hervorzurufen. Sie sind durch leichte und be¬
langlose Fragen, wie nach Persönlichkeit, Herkunft, Ort, noch fixierbar,
auf schwierigere Aufgaben, auf Fragen nach ihren Ideen, gehen
sie nicht mehr ein. Sie sind vielleicht noch für optische Reize (Bilder)
fixierbar, antworten aber nicht mehr auf sprachliche Reize.
S. 34 im Kapitel: Das Gegenstandsbewußtsein. „G e g e n s t a n d“ im wei¬
testen Sinne nennen wir alles, was uns gegenübersteht, alles, was wir mit dem
inneren, geistigen Auge oder mit den äußeren Augen der Sinnesorgane vor uns
haben, erfassen, denken, anerkennen, alles, auf das wir als auf ein Gegen¬
überstehendes innerlich gerichtet sein können, mag. dies nun wirklich
oder unwirklich, anschaulich oder abstrakt, deutlich oder undeutlich sein.
Gegenstände sind uns gegenwärtig entweder in Wahrnehmungen oder
in Vorstellungen. In den Wahrnehmungen steht der Gegenstand leib¬
haftig (andere Ausdrücke: als „fühlbar gegenwärtig“, mit dem Gefühle
lebendigen Ergriffenseins, mit Objektivitätscharakter) in den Vorstellungen
bildhaftig (als abwesend, * mit Subjektivitätscharakter) vor uns. Bei Wahr¬
nehmungen sowohl wie bei Vorstellungen unterscheiden wir drei Elemente: Das
Empfindungsmaterial (z. B. rot, blau, Ton in der Höhe c usw.),
räumliche und zeitliche Ordnung und den intentionalen Akt.
Das Empfindlingsmaterial wird durch den Akt gewissermaßen beseelt, gewinnt
erst durch ihn Gegenständlichkeit und Bedeutung, ist uns durch ihn ein be¬
stimmter Gegenstand in bestimmter Weise. Man nennt diesen Akt auch Ge¬
danken, Bedeutungsbewußtsein, Worte, die die Umgangssprache meistens im
anderen Sinne gebraucht (Gedanke — Urteilsinhalt, Bedeutungsbewußtsein —
Bewußtsein von der Bedeutung eines Zeichens oder eines Symbols, z. B. eines
Wortes). Es besteht nun weiter die phänomenologische Tatsache, daß diese
intentionalen Akte auch ohne die Basis von Empfindungsmate¬
rial Vorkommen. Uns kann etwas ganz unanschaulich gegenwärtig
sein als ein bloßes Wissen um etwas, z. B. bei schnellem Lesen. Wir haben den
Sinn der Worte durchaus deutlich gegenwärtig, ohne uns die gemeinten Gegen¬
stände anschaulich vorzustellen. Dieses unanschauliche Gegenwärtighaben
eines Inhaltes nennt man Bewußtheit. Diese kann wiederum entweder
entsprechend der Wahrnehmung eine leibhaftige sein, wenn wir z. B.
hinter uns „jemand“ gegenwärtig wissen, ohne ihn wahrzunehmen und ohne ihn
vorzustellen (man nennt das in der Umgangssprache, man habe ein „Gefühl“,
daß jemand da sei), oder sie kann entsprechend der Vorstellung eine bloß
gedankliche Bewußtheit sein, wie die meist vorkommenden. In den bis¬
her gemeinten Wahrnehmungen, Vorstellungen und Bewußtheiten sind uns
einzelne konkrete Gegenstände gegenwärtig. Außerdem haben wir im
Gegenstandsbewußtsein: Beziehungen, Sachverhalte, Richtigkeit und Unrichtig¬
keit, Realität usw. Die psychischen Phänomene, in denen uns solche Dinge
klar gegenwärtig sind, nennen wir Gedanken und Urteile. Der Inhalt
solcher Urteile kann auch in rudimentärer Form — man pflegt dann wiederum
gern von „Gefühlen“ zu reden — als bloßes „Wissen“ gegenwärtig sein. Auch
dieses unformulierte, nicht geklärte, sondern unmittelbare gewissermaßen naive
Wissen nennt man Bewußtheit.
Wahrnehmungen, Vorstellungen, Bewußtheiten, Urteile sind seelische
Phänomene, bezeichnen die D a s e i n s \\ e i s e , in der uns Gegenstände
15
gegenwärtig sind. Nach dem Inhalt betrachtet sind uns in allen diesen
Formen die Welten des Gegenständlichen bewußt: 1) die sinnliche Welt,
das Greifbare, Sichtbare, Hörbare, 2) die seelische Welt, das in der sinn¬
lichen Erscheinung verstandene, uns unmittelbar zu vergegenwärtigende seeli¬
sche Leben der Menschen und 3) die Welt der Werte, der Forderungen, die
uns entgegentreten (Wahrheit, Schönheit, Sittlichkeit usw.). Bei der Beschrei¬
bung des seelischen Lebens ist uns die Erfassung der Inhalte, die be¬
stimmte Menschen haben, Hilfsmittel, ebenso wie die Messung
dieser subjektiven Inhalte der einzelnen an den objektiven, allgemein gültigen
Inhalten, die Gegenstand anderer Wissenschaften sind. Je nach dem augen¬
blicklichen Gesichtspunkt — ob man an die Art der Gegebenheit oder
an den Inhalt denkt, sind die inhaltlichen oder die phänomenologischen
Untersuchungen nebensächlich. Dem Kranken sind durchweg die In¬
halte das allein Wichtige. Auf die Art der Gegebenheit vermögen sie sich
oft gar nicht zu besinnen: Sie werfen Halluzinationen, Pseudohalluzjnationen,
Wahnbewußtheiten usw. durcheinander, da sie so „nebensächliche“ Dinge nie
unterschieden haben. Es scheint, daß viele Kranke auch dieselben Inhalte in
schneller Zeitfolge in den verschiedensten phänomenologischen Gegebenheits-
formen vor dem geistigen Auge haben können. Indem so in einer akuten
Psychose etwa derselbe Eifersuchtsinhalt in den verschiedensten Formen wie¬
derkehrt, könnte man sehr mißverständlich von „Übergängen“ zwischen den
verschiedenen Formen reden. Diese allgemeine Wendung von den
„Übergängen“ ist das Ruhekissen der Denk- und Analysierfaulheit. Wohl ist es
richtig, daß das individuelle momentane Erlebnis sich aus vielen Komponenten
zusammensetzt: daß z. B. ein halluzinatorisches Erlebnis von dem
eigentümlichen Evidenzerlebnis des Wahns durchsetzt ist, daß dann die sinn¬
lichen Elemente immer mehr abnehmen können und daß man im individuellen
Fall oft nicht feststellen kann, ob solche vorhanden waren und wie sie vor¬
handen waren. Die klaren Unterschiede der Phänomene, die phänomenolo¬
gischen Abgründe (z. B. zwischen Leibhaftigkeit und Bildhaftigkeit) im
Gegensatz zu den phänomenologischen Übergängen (z. B. von Bewußtheit
zur Halluzination) bleiben darum bestehen. Diese Unterschiede klar zu er¬
fassen, zu vermehren und zu ordnen ist hier eine wissenschaftliche Aufgabe, die
allein uns zur Analyse der Fälle verhelfen kann. Das Reden von den „Über¬
gängen“ führt zur Versumpfung in den allgemeinsten Kategorien.
In der gesamten Wahrnehmung unterscheiden wir: 1) Empfindungs¬
eieinente, 2) räumliche und zeitliche Ordnung und 3) den vergegenständlichen¬
den Akt. Sind bei gleichbleibendem, d. h. denselben realen Gegen¬
stand meinendem Akt Empfindung oder räumliche und zeitliche Ordnung oder
gewisse an der Wahrnehmung hängende allgemeine Charaktere abnorm, spre¬
chen wir von Wahrnehmungsanomalien, meint dagegen dieser
vergegenständlichende Akt einen neuen, gar nicht realen Gegenstand, so
sprechen wir von Trugwahrnehmungen.
(Anm. Max Löwy: Die Ablehnung von Übergängen in der Gegeben¬
heitsweise seitens Jaspers erscheint mir zu scharf und zu rein auf die d e -
skripti ve Betrachtung des Oberbewußten gestellt. Nehmen wir
aber an, daß den fertigen und differenten „bewußten 14 Phänomenen ein gemein¬
samer Unterbau, die von mir postulierte und noch zu erörternde intermediäre
psychische Schicht zugrunde liegt, dann werden wir Übergänge von Sympto-
men aus derselben Einstellung und psychischen Situation nicht ohne weiteres
ablehnen und vielleicht verstehen können, warum die Kranken Gegebenheits¬
weisen durcheinander werfen und einen Inhalt in schneller Zeitfolge in den
verschiedensten Gegebenheitsweisen erleben können.)
Hören wir noch Hermann E b b i n g h a u s ..Abriß der
Psychologie (VII. Aufl., durchgesehen von Prof. Karl BUhler,
Dresden. 1920, Berlin u. Leipzig).
S. 104: In jedem Augenblick ihres wachen Daseins wird der Seele eine
große Fülle äußerer Eindrücke zugetührt. Auge und Ohr, die Haut und die
übrigen Sinne sind unausgesetzt tätig, sie über die Vorgänge der Außenwelt
und die Veränderungen ihres eigenen Körpers auf dem Laufenden zu erhalten.
Aber was sie nun tatsächlich erlebt, als Resultat der empfangenen Einwirkun¬
gen, ist vermöge der ihr eigenen Gesetzmäßigkeiten sehr erheblich verschieden
von der Summe der Empfindungen, die durch jene äußeren Reize an und für
sich hervorgerufen werden können, d. h. von dem, was der Seele zum Bewußt¬
sein kommen würde, wenn sie bloß eine sinnliche Organisation besäße. Es ist,
freilich unter hervorragender Beteiligung solcher peripher bedingter Empfindun¬
gen. doch zugleich mitbestimmt durch die ganze übrige Gesetzmäßigkeit des
Seelenlebens und gewinnt dadurch in mehrfacher Hinsicht einen besonderen
Charakter. Im Unterschied von dem bloß absolut gedachten Empfinden (das
aller in Wirklichkeit kaum vorkommt) sei dieses tatsächliche Erlebnis als
W a lirne h m u n g bezeichnet.
Vergleichen wir hiermit Einschlägiges aus W i 11 i a m Ja m e s
„Psychologie“, deutsch von Dr. Al a r i e Dürr, 2. Aufl., 1920.
Leipzig, S. 169, 170.
Um von unten anzufangen, was sind unsere Sinne selbst anderes als
Selektionsorgane? Aus dem unendlichen Chaos von Bewegungen, die — wie
die Physik uns lehrt — die Außenwelt ausmachen, faßt jedes Sinnesorgan die¬
jenigen auf, welche innerhalb gewisser Geschwindigkeitsgrenzen liegen. Auf
diese spricht es an und ignoriert alle anderen so vollkommen, als ob sie nicht
existierten. Aus dem. was an sich ein ununterscheidbares, ineinander fließen¬
des. nirgends besondere Stützpunkte bietendes Kontinuum ist, machen
unsere Sinne dadurch, daß sic diese Bewegung beachten und jene ignorieren,
für uns eine Welt, voll von Kontrasten, scharfen Akzenten, jähem Wechsel,
pittoresken Licht- und Schattenwirkungen. Wenn die Empfindungen, die uns
ein gegebenes Organ vermittelt, auf diese Weise bereits eine Auswahl bedeu¬
ten, indem die Bildung der Sinnesnervenendigungen nur bestimmte Vorgänge
als Bedingungen derselben zuläßt, so wählt Aufmerksamkeit wiederum aus allen
ihr zugestellten Empfindungen gewisse als ihrer Beachtung würdig aus und
unterdrückt alle übrigen. Wir beachten nur jene Empfindungen, welche
Zeichen für uns sind von I) i n g o n . die uns praktisch oder ästhetisch
interessieren, denen wir deshalb substantivische Namen geben und denen wir
sonach (‘ine gewisse Ausnahmestellung in bezug auf Unabhängigkeit und Be¬
deutung gewähren. Aber an sich — abgesehen von meinem Interesse — ist eine
einzelne Staubwolke ein genau ebenso individuelles Ding und verdient
ebenso oder ebensowenig einen individuellen Namen, wie mein eigener Leib.
17
(Anm. Max Lö w y: Wir bemerken vor allem und primär was uns an¬
geht. unsere Bedürfnisse lehren uns Wahrnehmung und Unterscheidung. Und
das gilt wohl auch für die sprachlichen Entäußerungen. Das Mummeln des
gesättigten Säuglings wird sowohl zum Zeichen für die Triebstillung, wie für die
Triebregung und Triebhandlung des Saugens, wie für das Triebziel, die Trieb¬
repräsentanz — die Mutterbrust —, wie für die eigene Zuständigkeit der
Sättigung wie für die Eigenschaft des Triebzieles gut zu schmecken. Sonach
werden Triebregung (Strebung), Triebhandlung (Saugen), Triebstillung (Zu-
ständlichkeit des Behagens) Triebziel und Triebrepräsentanz (Mutterbrust und
Mutter und zugleich die Eigenschaft gut zu schmecken: Zuständlichkeit, Gegen¬
ständlichkeit. Eigenschaft und Handlung primär zusammen im befriedigten
Mummeln des Säuglings ausgedrückt. Und es scheint mir, daß nicht ohne
Grund in allen Sprachen, die ich kenne, die Mutterbenennung M-Laute enthält:
rnamina. Mama (alma mater), und im Arabischen umm, bedeuten Mutter.)
E h h i n g h a u s . S. 105: In jedem Wahrnehmungsakt kommt zunächst
v i e 1 w e n i g e r zum Bewußtsein, als nach den jeweilig auf die Seele einwir-
kcndin objektiven Reizen an sich möglich wäre. Je nach dem Gefühlswert der
Einwirkungen, »len bisherigen Erfahrungen der Seele, den sie augenblicklich
erfüllenden Gedanken machen sieh einzelne Inhalte vorwiegend geltend, auf
Kosten zahlreicher anderer, deren objektive Ursachen gleichfalls vorhanden
dud und die Sinnesorgane affizieren. Nur einen kleinen Teil der Dinge, die
>i* li in jedem Momente auf meiner Netzhaut abbilden, nehme ich mit vollem
Bewußtsein wahr und auch diese nur nach einigen ihrer Eigentümlichkeiten,
und wenn ich nun gerade sichtbare Dinge wahrnehme, dann bleiben die gleich¬
zeitig hörbaren oder tastbaren gänzlich unbeachtet. Namentlich das für die
Zwerke des täglichen Lebens in Betracht kommende, das praktisch Inter¬
essierende. wird so begünstigt, das praktisch Unwichtige dagegen vernachläs¬
sigt. Die verschiedenen Schattierungen eines faltenwerfenden Gewandes wer-
«len in der Regel wenig bemerkt. Das Bewußtsein, daß das Gewand durchweg
aus ..demselben 44 Stoffe besteht, ist praktisch wichtiger und überwiegt. Manche
überaus alltäglichen Dinge wie Nachbilder, Obertöne, Differenztöne bleiben so
wegen ihrer geringen praktischen Bedeutung den meisten Menschen ihr ganzes
Leben lang unbekannt.
Dafür aber enthält die Wahrnehmung andererseits viel mehr als nach
den einwirkenden, objektiven Reizen allein möglich wäre; die Seele bereichert
und durch webt die rein sinnlich für sie sich durchsetzenden Eindrücke so¬
gleich mit mannigfachen Vorstellungen auf Grund ihrer früheren Erfahrungen.
Was sie unter ähnlichen Umständen wie den gegenwärtigen früher regelmäßig
oder überwiegend häufig erlebt hat, denkt sie jetzt ausdeutend in das Sinnlich-
Gegebene hinein oder ergänzend zu ihm hinzu, um so lebhafter und zwangs-
müßiger. je häufiger jene Erfahrungen gewesen sind. So sehen wir den Din¬
gen ohne weiters an, wie sie sich anfassen oder wie sie schmecken, ob sie heiß
oder kalt, rauh oder glatt, schwer oder leicht sind; obwohl die sinnlichen Augen
»las natürlich gar nicht lehren können. Überhaupt alles Kennen der Dinge,
ihrer Eigenschaften und ihrer Namen, alles Verstehen ihrer Bedeutung und
ihres Gebrauches, besteht in nichts anderem als in dem Hinzudenken früher
durch die verschiedenen anderen Sinne von ihnen gewonnener Eindrücke. Wie
stark der Zwang dieses Hinzudenkens ist, lassen die Zeichnungen von Kin¬
dern und manchen primitiven Völkern deutlich erkennen.
L. o e w y , Dementia praecox. (Abhandlungen H. 20.) 2
18
S. 107. In der Wahrnehmung kommt uns auch (wie z. B. durch den
Anblick einer verkehrt gehaltenen Zeitung oder eines auf dem Kopfe stehenden
Bildes oder einer Landschaft zwischen den eigenen Beinen hindurch bewiesen
wird) eine ganz andere Gliederung der Dinge zum Bewußtsein als die bloßen
Empfindungsreize bewirken würden. Wir fassen die Reizgruppen zusammen¬
fassend und sondernd auf, nicht mehr nach den ihnen unmittelbar anhaftenden
und in mancher Hinsicht nebensächlichen Eigentümlichkeiten, sondern nach
ihrer Zusammengehörigkeit, d. h. nach Verbänden, in denen
sie regelmäßig zusammen vo.r zukommen pflegen.
S. 107, 108: Die anscheinend so einfache und rein passive Aufnahme der
äußeren Eindrücke in die sinnliche Wahrnehmung ist also in Wahrheit ein
recht verwickelter Vorgang. Die ganze Seele steckt dahinter und betätigt
in dem Akte der Aufnahme zugleich durch Auslese, Bereicherung und Gliede¬
rung des objektiv Gegebenen ihre Eigenart und deren Gesetzmäßigkeit. In
diesen Vorgängen besteht das, was man vielfach als A p p e r z e p t i o n
bezeichnet. Nur ist leider der Gebrauch dieses Wortes kein übereinstimmender.
Die einen verwenden es vorwiegend oder ausschließlich für die auslesende
und hervorhebende, die anderen für die bereichernde oder ergänzende Betäti¬
gung in dem Wahrnehmungsvorgang und auch dies wieder je mit verschiede¬
nen Nuancierungen der Bedeutung. Da nun überdies das Wort dem allgemeinen
Sprachgebrauch völlig fremd geblieben ist, empfiehlt es sich statt seiner den
verständlicheren Ausdruck Auffassung anzuwenden. (S. 108.)
Ohne die verschiedenen hier angeführten psychologischen Lehren
des weiteren zu diskutieren, wollen wir ihnen entnehmen, daß Er¬
scheinungswelt und Innenwelt nicht so einfach sind, wie sie sich in
der traditionellen Lehre seinerzeit dargestellt haben, und wie sie im
Oberbewußtsein erscheinen. Unsere Aufgabe besteht zum Teil nun
darin, zu untersuchen, was es bewirkt, daß unser Oberbewußtes uns
so w r enig entscheidende Auskunft über seine eigenen Grundlagen und
seine Herkunft gibt und die Psychologie zu so verschiedenartigen
Lehren und Richtungen kommen ließ (von denen jedoch nur das
hier beigebracht wurde, was uns für unsere Aufgabe direkt oder
vergleichsweise nützlich werden kann).
Ein Teil dessen, was uns von dem oben angeführten Normal¬
psychologischen nützlich werden kann, berührt sich mit A. v.
Tschermacks Lehre „Vom exakten Subjektivismus in der
neueren Sinnesphysiologie“ (vgl. seine gleichnamige Schrift, 1921.
Berlin, bei Springer) S. 19:
Bei kritischer durch sinnesphysiologische Beobachtungen geschulter
Analyse gelangen wir auf dem Gesamtgebiete der allgemeinen Reiz- und Erre
gungslehre zu der hier nur ganz kurz formulierten Erkenntnis, daß die Erre¬
gung (bzw. ihr psychisches Korrelat: Die Empfindung) sowohl von physika¬
lischen wie von physiologischen, evtl, auch von psychologischen Faktoren
bestimmt wird. Sie stellt eben nicht bloß eine Funktion der physikalischen
Qualität. Intensität, Dauer und Verlaufsform des Reizes dar, sondern auch
19
oine Funktion der spezifischen Energie (gegeben durch die systematische
Spezifizität wie durch die Differenzierungsspezifizität) des jeweiligen Zustandes
des gereizten Organs, evtl, auch der in demselben bestehenden Kontrast¬
wirkung. Unsere Sinnesorgane erweisen sich — analog jenen der Tiere —
nicht als Instrumente des Wahrnehmens und Erkennen», sondern zunächst
als Behelfe der praktischen Orientierung. Allerdings be¬
nutzen wir sie, veranlaßt von unserem immanenten, elementaren Wahrheits-
bedürfnis, zugleich als „indirekte“ Beobachtungs- und Untersuchungsinstru¬
mente. Nicht mit Zuleitungsröhren für Außenenergie, sondern mit Transfor¬
matoren. besser noch mit Detektoren oder Alarmsignalen dürfen wir die Sinnes¬
organe vergleichen. Weder sind die Reizvorgänge, speziell die Lichtschwin-
gungen, in unserem Gehirn oder Bewußtsein, noch sind die Empfindungen, so
die Farben und Töne in der Außenwelt. In beiden Fällen würde nicht das
erreicht, was durch die Scheidung beider Gebiete erzielt wird: die praktische
Orientierung entsprechend den Bedürfnissen des Alltags!
S. 20: Eine „formale Objektivität“ wird vom exakten Subjektivismus wohl
den an sich unerkennbaren Außendingen, nicht aber den Sinnesqualitäten zuer¬
kannt; diesen kommt nur „fundamentale oder ursächliche Objektivität“, d. h.
physiologische Verursachung, zu.
S. 20: Der exakte, physiologisch begründete Subjektivismus löst nicht
..das Objektive ins Subjekt“ auf, führt auch nicht zum vollständigen „Idealis¬
mus und Skeptizismus“. Für ihn ist nicht „die Sonne ein finsterer Ball“ und
..lügen nicht die Blumen und Schmetterlinge ihre Farben, die Geigen ihren
Ton** (F echner). Vielmehr reagieren wir nach dieser Auffassung auf die
objektiven Reize dieser objektiven Reizquellen mit physikalisch-physiologisch
gestimmten subjektiven Empfindungen. Der exakte physiologische Subjekti¬
vismus entspricht eben voll und ganz der Praxis des Lebens!
Hierzu vgl. am Schlüsse dieses Kapitels noch einiges über „G e s t al¬
te n p s y c h o 1 0 g i e“.
Und nun zur Entwicklung der eigenen Anschauungen. Wie alles
Geschehen, ist für uns auch das psychische Geschehen eine Ver¬
änderung, eben hier des Psychischen. Mit jedem Erleben werden wir
irgendwie anders. Wir? Wer wird anders, müssen wir fragen: Das
Ich, lautet die Antwort. Was ist aber das Ich, müssen wir weiter
fragen. Dies ist auch die große Frage der Psychologie.
Vorerst können wir an der Hand eben der erlebten Verände¬
rungen etwas darüber erfahren. Beim psychischen Ge¬
schehen wird nebst anderem vorerst eben ein Ge¬
schehen, ein Anderswerden, eine Gemeinempfin¬
dungsänderung erlebt. Und in einem Teil der
Erlebnisse wird sie von uns auf einen Zusam¬
menstoß mit „etwas anderem außer uns Ange¬
nommenem“ zurückgeführt, auf das. was darnach
20
als „Äußeres“. als Umwelt, Erscheinungswelt (I. v. Uexküll),
Gegenstandswelt. Objektwelt, Welt der Dinge unserer Innenwelt
gegenübergestellt erscheint und auch gegenübersteht.
Unpräjudizierlich gesagt, wir bezeichnen als Erscheinungswelt
das, was von uns als Veranlassung innerer Geschehnisse aus uns
hinaus projiziert wird.
Hier paßt das, was wir oben nach Paul Natorp (Marburg)
..Philosophie und ihre Probleme“, Einführung in den kritischen
Idealismus (Göttingen 1911, S. 253) angeführt haben: ,,Es sind über¬
haupt nicht zwei gesonderte Reihen von Erscheinungen: Erschei¬
nungen des Bewußtseins und Erscheinungen der äußeren Natur.
Etwas erscheint, d. h. schon, es ist einem bew-ußt. Also ist, alle
Erscheinung: Erscheinung für ein oder in einem Bewußtsein. Aber
.es erscheint* heißt zugleich, es stellt .sich mir als Gegenstand* dar.**
Die philosophische Frage, ob es eine Außemvelt (distinkte
Dinge, außer in unserer Erscheinungswelt, oder das Ding an sich)
überhaupt gibt oder alles nur Schein, innere Vorspiegelung sei, kann
hier unerörtert bleiben. Erlebt wird — wirklich oder fiktiv ver¬
anlaßt — eine Erscheinungswelt, eine Dingwelt in Form der eigenen
Veränderungen und der „Exoprojektion“ derselben. Und wir unter
scheiden diese Art von Veränderungen von anderen „inneren Ver¬
änderungen“, auch innerer Gemeinempfindungsänderung, die wir ja
ebenfalls erleben. Die Form von psychischen Verände¬
rungen, die wir als Erscheinungswelt meinen,
wird als Zusammenstoß mit einer Außenwelt, als Beeindruckung von
außen, als ..Impression“ erlebt und gewertet.
Die Auffassung der Impression als Gemeinempfindungsänderung
mit ihren Konsequenzen berührt sich mit der Konzeption von
L. K 1 a g e s , welcher als Kennzeichen der Empfindung hervor¬
gehoben hat: ein „vitales Jetzt“ und ein „vitales Hier“.
An diese Impressionen, Exoprojektionen, Gegenüberstellungen
wird nun ein „Inneres“ erneut herangebracht, indem
eine Inneres und Äußeres zusaramenschweißende, apperzipierende.
assimilierende „Auffassung“ tätig und wirksam wird. In der „B ha -
g a v a d G i t a“, deutsch von Dr. Franz Hartma n n (mit erläu¬
ternden Anmerkungen und ausgewählten korrespondierenden 2itaten
hervorragender deutscher Mystiker versehen (1892, Braunschweig,
Schwetschke). S. 152, w’ird Meister Eckhart angeführt: „Das Er¬
kennen setzt Gleichartigkeit voraus, im Erkennenden und Erkannten.
Schon das sinnliche Wahrnehmen bedeutet eine reale Vereinigung
zwischen dem Wahrnehmenden und dem Wahrgenommenen.“ Auch
21
in der älteren griechischen Philosophie gab es die Lehre: Erkennen
setze Wesensähnlichkeit zwischen Erkennendem und Erkanntem
voraus. Ähnliches bei Marc Aurel und Goethe: „Wär nicht
•las Auge sonnenhaft“ (nach Plotin).
S e m o n bezeichnet als Grundlage unseres Wissens um die
zeitlichen Abläufe: „unsere Gemeinempfindugg“. Man denke nur
an das Erwachen zur Vorgesetzten Stunde, wo uns wohl der Grad
des Ausgeschlafenseins, der nie vorher gerade für diese Stunde er¬
probt zu sein braucht, als Maßstab dient. Also unsere nur sum¬
marisch bemerkbare und sich ständig ändernde Gemeinempfindung
ist in einer bewußt beabsichtigten Handlung wirksam geworden.
Weiter habe ich gelegentlich (Meteoristische Unruhebilder 1912)
bezüglich des Verhältnisses zwischen Gemeinempfindung und Im¬
pressionen und bezüglich der unbemerkten Grundlegung unseres
Denkens folgendes Bild gebraucht. In die kontinuierlich
abrollende aber unsichtbare Organdinrolle unserer Gemeinempfindung
werden durch die Stickmaschine unseres Denkens diskontinu¬
ierlich unsere Impressionen (natürlich auch anderes Erleben)
eingestickt und liefern so das Stickmuster unserer Wahrnehmungen
und Gedanken, eben unser bewußtes Erleben.
Bloß auf dieses Stickmuster der oberbewußten Eindrücke usw.
achten wir. Störungen im Stickvorgange: Lücken in der Rolle oder
Hapern im Tempo des Abrollens (als Gedankenleere, Abreißen des
Gedankenfadens empfunden) können,* wie ich dort und gelegentlich
schon früher (1910, 1911) ausführte, zu Denkablaufstörungen und
Verzerrungen im Denkinhalte, im Stickmuster führen. Es sind Über¬
leit ungsstörungen im Denken, richtiger in dessen unbemerktem
Unterbau.
Auch kann manches Fremdartig-Erseheinen der Wahrnehmungs¬
welt (Entfremdung der Außenwelt), manchmal durch Veränderungen
im Zusammenstoß der Impressionen mit der Gemeinempfindung be¬
gründet gefunden werden. Und zwar ist dabei, während dem Er¬
lebenden selber die Außenwelt verändert erscheint, de facto seine
eigene Gemeinempfindung verändert; wie ja schon in der Norm bei
der Wahrnehmung gesetzmäßig die eigene Gemeinempfindungs-
ämierung den Objekten, die sich durch Impression, d. h. als und durch
Gemeinempfindungsänderung u. a. erst gestalten, zugeschrieben wird,
also die Gemeinempfindungsänderung exoprojiziert wird. Hier nun
wird eine pathologisch veränderte Gemeinempfindung exoprojiziert
und als Veränderung der Wahrnehmungsobjekte oder deren Be¬
ziehungen zur eigenen Person seitens der Kranken aufgefaßt.
22
Jaspers Psychopathologie, II. Aufl., S. 30/37, hebt bezüglich
des Bewußtseins, wie schnell die Zeit vergeht, hervor, daß
nach einem Tage, an dem die Zeit schnell verging, wir das Bewußt¬
sein haben können, einen langen Tag gehabt zu haben, während ein
leerer, langweiliger, langsam vergehender Tag im rückschauen-
d e n Bewußtsein als kurz gegenwärtig ist. Zum Verständnis dieser
von Jaspers hervorgehobenen Tatsachen über die Differenz im
Bewußthaben der zeitlichen Dauer zwischen dem Erleben von zeit¬
lichen Abläufen und rückschauendem Bewußtsein der Länge dieser
vergangenen Zeit: scheint mir mein Bild vom Einsticken der Im¬
pressionen in die sich abwickelnde Organdinrolle der summarischen
Gemeinempfindung nützlich und lehrreich. Reichliches Einsticken
von Impressionen bewirkt im Erleben das Bewußtsein der Kurz-
weiligkeit, in Rückschau aber Länge des Tages; ein erlebnisarmer
Tag, d. h. mit w r enig Impressionen, mit sonach impressionsleer ab¬
laufenden langen Gemeinempfindungsstrecken erscheint im Erleben
als ein langer Tag, in Rückschau kurz. Im Erleben messen wir also
nach der Länge impressionsleerer Gemeinempfindungsstrecken, in der
Rückschau nach der Zahl der Impressionen. Das zeitliche Erleben
wird bemessen durch die Gemeinempfindungsstrecken zwischen den
Impressionen, die Rückschau nach der Erlebniszahl: das Erleben
mißt also die Zeit an der Gemeinempfindung, an einem unbe¬
merkten Inneren, die Erinnerung an den Erlebnissen, a n
einem bemerkten Äußern.
Nun ist das Beispiel der unbemerkten Organdinrolle nur ein
Bild; dem entspricht aber etwas Wirkliches, was schon an dem Zeit¬
beispiele durchleuchtet und schon vorher angezogen wurde. In
unserem Erleben gibt es nämlich nicht nur Impressionen, unsere
Beeindruckungen, sondern auch „innerliche“ Erlebnisse, überhaupt
ein „Inneres“, d. h. ein solches Erleben, welches sich nicht in Objekte,
(Jegenstände und Erscheinungen einer Außenwelt projiziert, sondern
als dem Innern, sagen wir einmal dem „Ich“ zugehörig erlebt wird.
Ein Teil desselben geht überhaupt nicht auf äußere Impressionen
zurück, ein Teil wenigstens nicht unmittelbar. Zu diesem inneren
Erleben gehört auch die summarische Gemeinempfindung: ob wir uns
wohlfühlen oder nicht, unbehaglich oder behaglich gestimmt sind;
es gehören die Triebregungen dazu, und sonst manches Motorische
und Affektuöse.
Freud (3 Abhandlungen zur Sexualtheorie. 11)20. 2. Aull.)
wies darauf hin. daß dem Säugling wohl die erste Unterscheidung
zwischen innen und außen daraus erwachse: daß er in der Lage ist.
23
durch Fortstrampeln oder Flucht sich aus dem Bereiche äußerer Reize
zu bringen, daß er aber den inneren Triebregungen, z. B. der des
Hungers, sich auf diese Weise nicht entziehen könne, sondern nur
durch Stillung des Triebes. Es entstünde so die Grundlage des
Gegensatzes zwischen Innen-Subjekt und Außen-Objekt. Daß zur
späteren wirklichen Unterscheidung noch manches andere gehört,
werden wir noch sehen.
„Innen“ sind auch Erinnerung, Gedankenkombination und
deren Grundlagen. Es durchflechten sich „i n n e n“ i m „I c h“ eine
Reihe von Funktionen, welche unser bewußtes Denken, Fühlen,
Wollen und Handeln unbemerkt fundieren, aufs innigste
untereinander und mit den Impressionen und deren Folgen. Sie
stehen in den wechselndsten Abhängigkeitsbeziehungen zueinander
und zu den Impressionen und bilden so eine Vorstufe und
Vorbereitungsstufe für das Bewußte.
über diese fundierenden Funktionen haben uns Psychologie und
Pathologie manches gelehrt. So ein von mir (1909, 1911, 1912) be¬
schriebener Zustand eines Kranken, welchem mit jedem Eindrücke,
mit jedem Gedanken eine Unzahl nebenschwingender Gedanken, Er¬
innerungen, besonders Jugendeindrücke — irgendwie mit dem eben
erlebten Eindruck oder angestrebten Gedanken zusammenhängender
Art — aufs störendste bewußt wurden. Diese „Gedanken-
atmosphären“, wie er es bezeichnete, hinderten ihm den Denk¬
fortschritt schon zahlenmäßig, natürlich auch anderweitig. Die
Grundlage bildete eine Störung der Gemeinempfindung zusammen mit
oder auf Grund von Störung der Labyrinthfunktionen. Und ich
führte diese Gedankenatmosphären auf eine allgemeine Über¬
erregbarkeit des Bemerkens (sowohl des auf Äußeres,
wie auf Inneres gerichteten Bemerkens) zurück, auf ein Be¬
merken von in der Norm Unbemerktem, der transi¬
tiven Bestandteile im Strome des Denkens, wie es James nennt,
des F r i n g e von James, d. h. der Franse, des Fransensaumes um
die Lampe der bewußten Gedanken, welche bewußten Gedanken
James als die substantiven Bestandteile des Denkens bezeichnete.
Den Fr in ge möchte ich als apponierende Kondensdampf hülle um
die bewußten Gedanken und als deren Mutterlauge fassen. Das
Gegenstück lieferte mir ein Kranker, welcher ebenfalls zusammen mit
einer Labyrinthstörung zwar Konkreta, aber nicht Abstrakta (wie
etwa Sparsamkeit, Tugend usw.) verstand. Ich erklärte das damals
durch Untererregbarkeit des Bemerkens für die
Oedankenatmosphären, durch eine Schwererweckbarkeit
24
der zugehörigen Konkreta. Überhaupt möchte ich das Abstrak¬
tum primär als eine nebenstehende elegierende Be¬
wußtheit, welche auf die zugehörigen Konkreta im
F r i n g e gerichtet ist, zu fassen suchen. Interessante Beziehungen
zum Labyrinth scheint mir auch einer meiner Fälle zu haben, dessen
Krankengeschichte mir zurzeit nicht zur Hand ist. Meiner Erinnerung
nach klagte er über „Schwindelanfälle“, besonders beim Hinlegen.
Er definierte sie dahin, daß anfallsweise sein Denken und alles, was
er sich vorstelle, in raschem Strome von einer Seite unten zur
andern Seite oben bogenförmig an ihm vorbeiziehe. Von mir auf¬
gefordert, in diesen Anfällen die von der Decke hängende Lampe zu
beachten, berichtete er, daß sie ihm dabei kräftig schwingend zu
pendeln schien.
Sonach wären in beiden ersteren Fällen die Gedankenatmosphä¬
ren, respektive deren Erweckbarkeit im Sinne des Plus und Minus be¬
troffen gewesen, eben der Fringe. Dieser Fringe stellt zugleich den
Unterbau der betreffenden Gedanken und einen Ausschnitt aus dem
von James so bezeichneten Strome unseres Denkens (James'
transitive Bestandteile des Denkens) dar. Ich habe, um die Rolle des
Fringe als Unterbau der Gedanken zu begründen, das Bild ge¬
braucht: Uns scheint es, als ob wir von einem bewußten Gedanken
zum andern mit einem einzigen Schritt gelangt wären. Es ist aber
so, als ob wir von einer im Dunkeln liegenden Stadt nur noch die
roten Dächer beleuchtet sähen, und glaubten, mit einem Schritte
von einem roten Dach zum andern zu kommen, während wir doch
momentan fast simultan über ungezählte Treppen, Gänge, Gassen in
ein anderes Haus und von dort aufs Dach gelangten. Im Strome
unseres Denkens werden uns diese transitiven Bestandteile desselben
nicht bewußt, sondern nur James’ substantive Bestandteile, die
oberbewußten Gedanken, die roten Dächer. Anders, wenn wir durch
Lücken in der Organdinrolle oder durch Hapern ihres Ablaufes eine
Denkablaufsstörung erfahren. Da kommt es zur sogenannten Ge¬
dankenleere. da merken wir, daß es nicht ein Schritt ist, von einem
Gedanken zum andern zu kommen, etwa im Affekt, z. B. im Emotions¬
stupor. Prüfungsstupor oder in der Affektverwirrung, wo, wie ich
1910 zeigte, disjecta membra, Fringebruchstücke aus der Peripherie
der angestrebten Gedanken in raschem Jagen oder perseverierend.
stereotyp, iterativ sich dem Oberbewußtsein aufdrängen. Auch schon,
wenn wir uns auf etwas besinnen müssen, merken wir, daß es man¬
cher Vorbedingungen bedarf, um die rechte Richtung einzuhalten und
das Richtige zu finden. Dazu gehört auch neben der Erweckbarkeit
25
<les Fringe und der Überleitungsfähigkeit in ihm die Lösbarkeit von
dem Vorherigen, die Fähigkeit der Wahl (Elektion), wie auch zur
Festhaltung einer angeschlagenen (determinierten) Richtung, kurz
eine Modulationsfähigkeit und Plastizität des
Denkens, welche ich ebenfalls als eine Fringe-
funktion. eine Leistung des Unbemerkten be¬
trachte.
Es ist eben zur Gestaltung des bewußten Psychischen sowohl
eine zusammenschweißende Leistung zwischen innen und außen (die
Auffassung. Apperzeption, Assimilation), wie auch eine elegierende,
auswählende, determinierende (die Elektion) nötig. Nicht alles, was
an innerem Geschehen zur Zeit einer Impression vorhanden ist, kann
zur Gestaltung und Verwertung derselben und zum Denkfortschritt
beitragen. Ein Allzuviel müßte hindernd wirken. Nicht alles von
außen und innen sich Aufdrängende darf verwendet werden.
Äußeres wie Inneres muß abgewiesen werden: so z. B. störende Ge¬
räusche. wenn wir uns konzentrieren, Affekte und zugehöriges Den¬
ken. wenn wir antworten, zuhören, kurz eine „Aufgabe“ er¬
füllen sollen.
Wissen wir nun etwas über die „Aufgaben“ und über die
Grundsätze, nach welchen diese Auswahl erfolgt? Abgesehen von
anderen Denkgesetzen, geht die Elektion vor allem nach jenen, welche
unser bewußtes Denken überhaupt beherrschen, und der Lebens¬
erhaltung dienen, d. h. nach orientierenden Gesichtspunkten. Wollen
wir mit unserer Erscheinungswelt, mit unseren Impressionen und
Erscheinungen zurechtkommen, müssen wir uns in ihnen und nach
ihnen, aber auch sie nach uns orientieren, wenn wir nicht zugrunde
gehen wollen. Dieses orientierende Denken, wie ich es
(1918, Über Hypnose) nannte, wird primär beherrscht von Raub-
und Schutztendenzen, vom Selbsterhaltungsgesetz. Wie ich dort ge¬
folgert habe, müsse der Sehraum des verfolgenden und zum Sprung
ansetzenden Löwen ein anderer sein, als der einer vor ihm in die
Ebene flüchtenden Gazelle. Auch diese Tiere bemerken vor allem
was sie angeht, wessen sie bedürfen. Nach J. v. U e x k ü 11, „Die
Innen- und Umwelt der Tiere“ (1921, Berlin, Springer) gehen die
primären Reflexe, Freßreflexe und Feindreflexe, schon bei Einzellern
beide auf Vernichtung des eine Veränderung im Protoplasma herbei-
führenden Umwelteinflusses, „des Reizes“, sei es Vernichtung des Rei¬
zes durch Fressen oder durch sonstige Zerstörung oder Flucht. Das
mag uns als die biologische Parallele zu unserer psychologischen An¬
nahme dienen.
26
Wir elegieren also vor allem mit dem orientierenden Denken,
beachten, bemerken, machen bewußt das für Selbsterhaltung, Orien¬
tierung usw. geeignete. Woher bezieht aber das orientierende Denken
diese Fähigkeit zur Elektion, zur Auswahl in bestimmter Richtung,
zur Determination? Es kommen diese determinierenden Tendenzen
aus der sogenannten psychischen Situation: Einstellungen und Stel¬
lungnahmen, und Gestimmtheiten (wie Kronfeld 1922 die unbe¬
merkten Grundlagen unserer AfTektrichtung, Stimmungen usw. be¬
zeichnet hat), welche im Unbemerkten unseren Triebregungen
usw. entwachsen. Für unsere Zwecke genügt wohl die Umschreibung
der Einstellungen als unbemerkt richtende Konstellation des Psy¬
chischen, in welcher Faktoren des vorangegangenen Erlebens unbe¬
merkt das folgende psychische Erleben bestimmen, wie sonst bewußte
Faktoren — bemerkt — unser motiviertes Denken und Handeln. Stel¬
lungnahmen sind Hinwendungen, Abwendungen, Begehrung oder
Flucht, die aus unseren Lebensbedürfnissen und Triebregungen er¬
wachsen.
Es ist auch in dieser Richtung das Unbemerkte, der Fringe im
weiteren Sinne, aus welchem unser bewußtes Erleben und Denken
seine Nahrung, sein Beharrungsvermögen und seine Fortschreitens-
richtung (seine determinierenden Tendenzen) bezieht, (wie ich in
einem Marienbader Vorträge „Über Grundlagen und Behandlung der
Schlafstörungen“, 1919. auseinandergesetzt habe). Das orientierende
Denken und seine verschiedenen Grundlagen, sein Unterbau, sind aber
nicht das einzige, in uns vorhandene Psychische. Daneben, zwar im
wachen Leben fast unbemerkt aber ungeheuer mächtig, einen Haupt¬
teil des Fundamentes unseres Denkens, des Unterbaus des Be¬
wußten darstellend, gibt es ein „illustrierendes Denke n“,
wie ich es genannt habe. Über seine Gesetze scheint mir die
Freud sehe Traumlehre (und sonstiges aus den Freud sehen
Lehren) viel Wichtiges beizubringen: Vor allem F r e u d s dyna¬
misches Grundgesetz der Erregungsabfuhr, der
Abfuhr innerer und äußerer Erregungen. In einer grundlegenden
experimentellen Arbeit hat 1917 0. P ö t z 1 dargelegt, wie unbemerkt
Gebliebenes, und gerade dieses, bei Exposition weit unter
der normalen Bemerkenszeit, doch als Psychisches — wenigstens in
potentia — vorhanden ist und in Traum, Assoziationen, Hallu¬
zinationen, Symbolen usw. wiederkehrt, zur Abfuhr kommt, während
das bei der Exposition bemerkte erledigt ist, sozusagen ad acta ge¬
legt erscheint.
Daß Unbemerktes direkt als Erinnertes auftauchen kann, obzwar
es nie bewußt war. sondern nur unbemerkt aufgenommen wurde.
27
lehrte mich eine Selbstbeobachtung (1908, Aktionsgefühle). An einer
Straßenecke ertappe ich mich dabei, ein seltenes Studentenlied zu
summen und frage mich, wie ich dazu komme. Ich erinnere mich
nun. in der vorher passierten Gasse, auf deren linker Seite, ein
silbergrau gestrichenes Haus gesehen zu haben; dort sei am offenen
Parterrefenster dieses Lied auf dem Klavier gespielt worden. Um¬
kehrend konnte ich diese Erinnerung verifizieren. In der erinnerten
Situation wurden am offenen Parterrefenster eines silbergrau ge¬
strichenen Hauses Studentenlieder auf dem Klavier gespielt. Eine
unbemerkte Impression war also von mir unbemerkt verarbeitet
worden, hatte das Summen des Liedertextes veranlaßt und konnte
anschließend erinnert werden. Daß es sich dabei etwa um verspätetes
Auftauchen von Sinnesreizen gehandelt habe, läßt wohl das Auf¬
tauchen als „Erinnerung“ und nicht als „Wahrgenoinmenes“ aus¬
schließen.
Das unbemerkt Aufgenommene, indirekt Mitgegebene, oder un¬
bemerkt Mitschwingende, bildet neben den Einstellungen, Gestimmt-
lieitcn, Stellungnahmen, besonders der Gemeinemptindung und ihren
Änderungen, sowie manchem Motorischem und den Triebregungen
den Hauptteil des Fringe und an sich selbst die Hauptquelle des
illustrierenden Denkens. Auch dieses geht, wie ich meine, so wie es
Freud von den Triebregungen gezeigt hat, vor allem nach A b -
fuhr. Es paraphrasiert das gerichtete, das orientierende Denken,
indem es sozusagen auf dem Klavier des Unbewußten über das vom
gerichteten Denken angeschlagene Thema phantasiert. Es bedarf
an sich nicht einer logisch zusammenschweißenden Gestaltung und
erscheint „frei“, wie die bewußte Phantasie, weil es nicht direkt
zweckgerichtet ist.
Dagegen ist eine zweckgerichtete zusammenschweißende Gestal¬
tung für unser orientierendes Denken unentbehrlich. Denn was
würde es für unsere Orientierung nützen, wenn ein Erkennen, ein
Wiedererkennen, eine D i n g g e s t a 11 u n g aus den Impressionen,
d. i. den gegenübergestellten, exoprojizierten Gemeinempfindungs¬
änderungen. und ans der summarischen Gemeinempfindung zu¬
sammen wie aus der Iehgerichtetheit. also aus Außen und
Innen nicht möglich wäre. Es gäbe ja dann keine Objektwelt,
keine Erscheinungswelt, in der wir uns orientieren könnten. Die
Ausgestaltung der Impressionen zur Wahrnehmung geschieht, wie ich
in der erwähnten Arbeit über Hypnose (1918) von der Entstehung
des bewußten Wahrnehmens ausführte, durch Konkretisie¬
rung und Detaillierung der ursprünglich verschwommenen
28
Eindrücke, d. i. eben mit Hilfe des Innern des Menschen und des
früher Erlebten und durch vieles andere aus dem Fringe (Ein¬
stellung, fixierende Einstellbewegungen, Stellungnahme, Trieb¬
regungen usw.).
Durch die orientierungsgerichtete „Auffassung“, die zusammen¬
schweißende Gestaltung wird aus der Impression, besonders wenn
sie sich wiederholt, eine Wahrnehmung, d. h. die Erstellung eines
dem Innern, dem Ich Gegenüberstehenden, also des „Objekts“. Durch
das Gerichtetsein auf die Impressionen und nach ihrem Muster über¬
haupt auf Denkinhalte, durch den „intentionalen Akt“ entsteht also
sowohl „die Gegenstandswelt“, wie das, was sich ihr gegenüberstellt,
das „Ich“. Jede Objektgestaltung, jede Denkgegenstands¬
erstellung. jede Gegenüberstellung (intentionale Gerich¬
tetheit) bedeutet zugleich eine immer erneute „I c h ge s t a 11 ung“.
Aber zur Gestaltung einer Erscheinungs weit, einer Gegen¬
standswelt, genügt diese Zusammenschweißung von Impression aus
Gemeinempfindungsänderung, von Reiz und Ich und die Konkreti¬
sierung und Detaillierung der Impressionen zu Wahrnehmungen noch
nicht. Es bedarf nunmehr wieder einer Verein¬
fachung des durch uns vorher Bereicherten,
Konkretisierten. Es bedarf der Gewinnung von bezeich¬
nenden, d. h. „S i n n und Bedeutung habenden“ Merk¬
malen, um nicht durch bewußtes Mitschleppen der konkreten
Details und durch anderes unendlich belastet zu werden. Um sich
rasch „automatisch“ orientieren zu können, dient uns eben die
„Automatisierung der Impressionsverarbeitung“
und genügt uns ein Signal, wie etwa das Kurvezeichen der Auto¬
mobilisten, also das Merkmal. Diese Signale, die Merkmale, die
Schemata, welche uns die Bedeutung von Eindrücken liefern, er¬
geben solche Vorstellungen, welche einzeln für viele Wahrnehmungen
eintreten können und ihren Gegenstand bezeichnen, „bedeuten“. Für
viele Vorstellungen zusammen kann wieder verallgemeinernd der
„Begriff“ treten.
Auch diese Vorstellungs- und Begriffsbildung hinterläßt Wir¬
kungsspuren, sie bereichert den Fringe. Und der Bequemlichkeit
halber wollen wir grob schematisch den konkretisierenden detail¬
lierenden Fringe als „Brcitenfringe“, welcher Wahrnehmungen und
Sammelvorstellungen Ziehens (von Rose zu Garten) liefert, unter¬
scheiden: von dem Allgemeinvorstellungen Ziehens, Begriffe usw.
liefernden „Tiefenfringo“. Wir könnten auch „Höhenfringe“ sagen.
Es soll ja nur die Richtung bezeichnet sein, welche auf Signale, Be-
29
deutungen, Merkmale, Allgemein Vorstellungen Ziehens (von Rose
zu Pflanzen) auf Begriffe usw. geht.
Das muß sich natürlich nicht so sprachlich formuliert abspielen,
wie ich es hier darstellen muß, und tut es in der Regel auch gar nicht.
Dem orientierenden Denken dienen vor allem die Allgemeinvorstel¬
lungen; der konkreteren, der Bilder von Gegenständen, bedient sich
das illustrierende Denken, weswegen ich es so nannte, weil es mit
Bildern unseren Denkablauf unterstützen, ihn an der Grenze des Be¬
merkens begleiten kann, wie ein Illustrator den Fortgang einer Er¬
zählung. Es wird in den Psychosen von Bleuler als autistisches,
„de-re-ierendes“ Denken bezeichnet. Es äußert sich in Traumbildern,
Phantasien und vielem anderen psychischen Geschehen, welches nicht
unmittelbar zweckgerichtet ist und mit anderem zweckgerichteten
einhergeht, nebenhergeht, es bereichernd, das Thema von verschie¬
denen .Seiten anklingen läßt, darüber phantasiert, es in und durch
seine Nebenbedeutungen illustriert, wie es P ö t z 1 s Versuche experi¬
mentell gezeigt haben, dabei aber nichts weniger als ein müßiges
oder zufälliges Spiel darstellend. Wie erwähnt, hat gerade das
illustrierende Denken in seinem größten und unbewußten Anteil, in
der Lieferung der Gedankenatmosphären, also des unterbewußten
und unbemerkten Unterbaus unseres bewußten Denkens seine Haupt¬
aufgabe. Ihm ist zum Teil auch wohl die Modulationsfähigkeit und
Plastizität unseres Denkens zu danken, indem es die Wiederloslösbar¬
keit von Eindrücken und angeschlagenen Vorgängen und die Über¬
leitungsfähigkeit im Fringe fördert. Das illustrierende Denken und
den Breitenfringe möchte ich, weil sie Nebengleise gewähren, als
Rangierungsgleise betrachten, welche die Abwicklung des Gedanken-
Zugverkehrs, des oberbewußten Denkens ermöglichen.
Diesem Fringebereich gehören also an: Remanenzen früheren
Erlebens, die als potentielle Rangierungsmöglichkeiten gedacht
werden können, weiter die Gemeinempfindung, Organempfindung.
(Coenästhesie der Franzosen). Lage- und Bewegungsemplindungen
der Glieder, Muskeln, Sehnen und Gelenke, das sogenannte Tonus-
labyrinth (A 11 e r s) mit seiner Spannungsregulierung der Muskeln
und Stellungserhaltungsregulierung des Körpers, kurz der sogenannte
..innere Sinn“, d. h. die psychische Repräsentation für bestimmte
Muskel — Gelenks- und Labyrinthfunktionen im allgemeinen unbe¬
merkter Art, weiter die Denkbewegungen im Sinne Kleists, d. h.
Einstellbewegungen der Augen, auch Ohren, und des Körpers (Auf¬
schauen. Ohrenspitzen, Blickwenden, Kopfwenden. Hinneigen), die
Einfühlungsbewegungen, d. h. Mitbewegungen und Ausdrucks-
30
bewegungen, die Affektbewegungen, die Triebregungen und die
unbemerkten Grundlagen der Affekte, d. i. die unbewußten Gestimmt-
heiten Kronfelds usw. Das alles wieder in — der Regel nach
unbemerkten — psychischen Repräsentationen.
Diese sich durchflechtenden unbemerkten psychischen Funk¬
tionen sind es also, welche beim Zusammenstoß mit der Außenwelt,
d. h. an die Beeindruckungen beliebiger Art, an die Impressionen
herangebracht und apperzipierend. assimilierend, inneres und äußeres
Fliehen für das Bewußtsein zusammenschweißend und gestaltend,
also auffassend wirksam, liefern: Wahrnehmungen, Vorstellungen,
Begriffe usw.
Die so gebildete Vorstufe des bewußten Denkens dürfen wir
sonach aus guten Gründen als eine psychische Schicht
auffassen; vorerst rein als funktionelle und zeitliche Vorbedingungen
und nicht räumlich genommen; und zwar als eine gemeinsame
psychische Schicht sich durchflechtender unbewußter aber
psychischer, eben unbemerkter Funktionen.
Es ist eine gemeinsame psychische Schicht, vor allem auch des¬
wegen, weil die bewußten Funktionen, die in dieser Schicht ihre
Wurzeln haben, nicht nur jenseits von ihr gelegen sind, eben im
< )berbewußten. sondern auch, w r eil sie nun nach verschie¬
denen Richtungen auseinanderstreben: In die ver¬
schiedenen Gegebenheitsweisen unserer Erlebnisinhalte, die Wahr¬
nehmung, Vorstellung, Fühlen usw., aber auch in die verschiedenen
Richtungen des Bewußtseins der Erscheinungswelt, der Außenwelt —
entsprechend der Allopsyche Wernickes (unter Mithilfe der Im¬
pressionen); des Bewußtseins der eigenen Körperlichkeit, ent¬
sprechend der Somatopsyche Wernickes (unter Mithilfe von
'Fast- und Gesichtseindrücken und Vorstellungen über das Aussehen
des eigenen Körpers, auch des eigenen Nackens und Rückens usw.);
und endlich in das Bewußtsein der eigenen Persönlichkeit, des
höheren Ich und Selbst, entsprechend der Autopsyche Wer¬
nickes, aufgebaut unter Mithilfe aller höheren Funktionen, be¬
sonders des Willens, der Gefühle, auf der Kontinuität des Erlebens
und der Gemeinempfindung, und aus den Gefühlen (Bewußtheiten)
der eigenen psychischen Tätigkeit, psychisch zu agieren, bei den
verschiedenen psychischen Akten (Denkgefühl. Reproduktionsgefühl,
Fühlgefühl, wie ich es [1908] „Die Aktionsgefühle“ nannte). Jedes
Bewußt haben von etwas — führte ich dort aus — ist ein
Seiner-Selbst-Bewußt werden als psychisch tätig, cogito
ergo sum.
31
Weil also die unbemerkte Ausgangsschicht der auseinander¬
strebenden bewußten psychischen Funktionen und Bereiche ihnen
gemeinsam ist und sie zusammenhält, spreche ich von der „gemein¬
samen intermediären psychischen Schich t“. Diese
besondere gemeinsame intermediäre psychische Schicht stellt einen
zusammenhängenden Funktionsbereich verschiedener Funktionen
dar: psychischer, überwiegend unbemerkter und das bewußte Ge¬
schehen vorbereitender — darin liegt vor allem das Gemeinsame an
ihnen — Leistungen; und daneben physischer — ebenfalls Psy¬
chisches vorbereitender Leistungen. Es ist also eine besondere, den
Kern des unbemerkten und vorformulierten Psychischen (zusammen
mit zugehörigem Physischem, besonders Motorischem) gestaltende
und darstellende intermediäre psychische Schicht.
Dies berührt sich mit dem Hinweise von William Stern
auf die Stellungnahme als psychisch und physisch, auf die Persön¬
lichkeit als psychisch und physisch, und mit Vera Strassers
analoger Auffassung der Persönlichkeit; und wird auch gestützt durch
meinen Hinweis auf die „motorische“ Übertragung der Stellung¬
nahmen in der Hypnose vom Experimentator auf das Versuchsobjekt
mittelst Signalen. Es fällt nicht gegen Sterns Auffassung der
Stellungnahme als psychisch und physisch in Betracht, daß er die
vasomotorischen Affektreaktionen dafür ins Feld führt und diese
schon als zeitlich sekundär aufgezeigt wurden. Denn die unbemerkten
richtenden Einstellungen im Fringe, unbemerkten Gemeinempfin¬
dungen, Einstellbewegungen usw.. die wie zum Objekt, auch auf den
hewußtwerdenden Affekt und die Stellungnahme hinwenden, stim¬
mend und bestimmend wirken, sind damit nicht ausgeschaltet und
bleiben für Grundlegung, Art, Ziel und Auswirkung der Stellung¬
nahme und der Affekte maßgebend.
Diese Zusammenwirkung in der Gestaltung von Objekten,
Stellungnahmen und Affekten seitens psychischer und motorischer
Funktionen kann ebenfalls als Stütze für die Existenz und als Hin¬
weis über die Zusammensetzung der intermediären psychischen
Schicht dienen.
Damit soll nicht einer Vermischung von physisch und psychisch
im alten materialistischen-monistischen Sinne das Wort geredet sein.
Es darf aber auch nicht einer Begriffsscheidung zuliebe ein Tat¬
bestand verschleiert werden, zu dem Beobachtung und Erwägung
hindrängen: Der Tatbestand der sowohl physischen als psychischen
Zusammengehörigkeit dieser das Oberbewußtsein vorbereitenden
Funktionen.
Auf diese intermediäre psychische unterschwellige Schicht als
Entstehungs- und Arbeitsstätte — sit venia für die räumliche Be¬
zeichnung — der Einstellungen und Stellungnahmen, weist auch
Freuds Lehre vom Gegensinn der Urworte und Bleuler-
Freuds von der ursprünglichen Ambivalenz und Ambitendenz der
primären Regungen: Begehrung und Scheu, Lieben und Hassen,
Aggression und Flucht, Lust und Unlust, im Unbewußten hin, und
mein Hinweis auf das Hervortreten derselben, wenn unfertiges
Denken und Halbfabrikate des Denkens (z. B. in Schriftstücken) bei
Schizophrenen aus deren bilanzunfähigem unabschließbarem, weil
überleitungs- und elektionsgestörten Denken entäußert werden (1918).
Und es sind insbesondere primitive Stellungnahmen, nämlich
Triebregungen und Triebziele, welche von Ambivalenz und Ambi¬
tendenz betroffen werden. Schon die ,,Bhagavad G i t a“ (deutsch
von Dr. Franz Hartmann, Braunschweig, 1892, S. 72, VII. Kap.,
Vers 27) lehrt: „Alle Wesen lassen sich in dieser Welt durch die
Täuschung der Gegensätze betören, welche aus Begierde und Absehen
entspringen.“
Franz Brentan o und seine Schule lehrten schon lange die
Polarität der Phänomene des Interessenehmens als Zu- und Ab¬
wendung.
Meines Erachtens fließen Interessenehmen oder Abgleitenlassen:
Meinen oder Nicht-Meinen; Abgleitenlassen oder Apperzipieren,
Bemerken und Auffassen: Kurz die Ichgerichtetheit der Impressionen
und das Ichgerichtetsein auf Impressionen im Grunde alle aus den
Quellen der einen intermediären psychischen Schicht, angebohrt
durch das Erleben des Lebens, seine Erfordernisse und Ansprüche.
J. v. U e x k ii 11 kennt sowohl schon an den Einzellern mit ihren
ad hoc im Protoplasma entstehenden Strukturen wie an den Mehr¬
zellern mit fixierten Strukturdifferenzierungen und Funktionsdifferen¬
zierungen ihres Protoplasmas: primäre Reaktionen auf Reize (Umge¬
bungseinflüsse) im Sinne der Vernichtung (Freßreflex). wie im Sinne
der Flucht oder Abwehr (Feindreflexe): was ja oben schon gestreift
wurde. Es scheint mir, daß wie dieses auch alles Psychische letzten
Endes auf eines hinausgeht: auf die physische und psychische Be¬
wältigung der Umwelt und Gegenwelt, respektive der durch das
Hineingestelltsein und Hineingepaßtsein gerade in diese Umwelt ge¬
stellten Aufgaben der Selbsterhaltung usw. mit Mitteln der Innenwelt.
Ich habe im Obigen von Denken, Denkinhalten, Denkabläufen.
Denkgeschehen in einem viel weiteren als dem landläufigen Sinne des
intentionalen Aktes, des ..Ein-Ohjekt-Meinons“ gesprochen. Es
33
war damit das Psychische überhaupt, das psychisch Gegebene —
auch das unbemerkt Gegebene, wie das Psychisch-Tätigsein, wie
das Wahmehmen usw. einbezogen. Dabei möchte ich der Bequemlich¬
keit halber bleiben, um so mehr, als mir bei der Dementia praecox,
deren Psychologie diese Untersuchungen als Vorarbeit gelten, die
Störungen im Wesentlichen nicht primär auf der Stufe der höheren
Leistungen einzusetzen scheinen, sondern deren Unterbau berennen.
In diesem Unterbau, in der intermediären
psychischen Schicht sind Gemeinempfindung
und Psychomotilität, wie Überleitung und Elek-
t i o n wirksam, arbeiten auf die Gestaltung und
Gegenüberstellung von Innen und Außen, von
Erscheinungswelt und Ich, Ich und Objekten,
re i z a u s se n d e n d e n Merkmalsträgern und wir¬
kungszugänglichen Wirkungsträgern in „einem
Gegengefüge“ im Sinne Uexkülls, d. h. in einem
Objekte hin, arbeiten hin auf die Gegenüberstel¬
lung von impressionsbewirkenden Gegenständen
als Triebzielen einerseits, leidendem oder stre¬
bendem Ich, Innenwelt, Merkwelt Uexkülls an¬
dererseits, von Subjekt und Gegenwelt, von
Autopsyche und Allopsyche.
Der primitive Weg vom Umgebungseinfluß zum Reflex, d. h. vom
äußeren Reiz zur Bewegung, wie der vom inneren Reiz, der Trieb¬
spannung und Triebregung, zur Triebhandlung also auch Bewegung
(beide Male Aggressions- oder Fluchtbewegung) erfährt mittels der
intermediären psychischen Schicht einen wegverlängernden, inter-
feiierenden, reaktionsretardierenden, reaktionsregulierenden Über¬
bau. Sowohl der verlängerte Weg aus der Impression, wie der aus
der Gemeinempfindung und der Triebregung, über den Reflexbogen
z. B. den Freßreflex hinaus, treffen zusammen: auf dem Wege zum
Bewußtsein, d. h. zum mit dem Gefühle (der danebenstehenden Be¬
wußtheit) des psychischen Agierens verbundenen und dadurch cha¬
rakterisierten ichbewußten und selbstbewußten Erleben, Denken und
Handeln und zur gedanklichen und sprachlichen Formulierung. Die¬
ses Zusammentreffen geschieht in einer zentralen, gemeinsamen inter¬
mediären psychischen Schicht des Fringe, der Gestimmtheiten, also
der Einstellungen und Stellungnahmen und der nicht vollbewußten in
naher Beziehung zu den psychischen Abläufen stehenden Motilität.
Diese, welche W e r n i c k e und Kleist unter den „psychomotori¬
schen Bewegungen“ zusammenfassen, decken sich weitgehend, was
I< o e w y , Dementia praecox. (Abhandlungen II. 20.) 3
34
ja auch Kleist neuerlich festgestellt hat, mit der extrapyramidalen,
der basalganglionären Motilität.
Diese intermediäre psychische Schicht könnte es sein, wo die Im¬
pressionen, der Zusammenstoß von Gemeinempfindungsich mit der
Außenwelt, zu ihrer Lust- und Unlustbetonung, zu ihrer apperzeptiven
Umwandlung, Auslese und Bereicherung, zu ihrer psychischen Rich¬
tung, determinierenden Kraft, zu Sinn und Bedeutung für das Ich
kommen; die Triebregungen und Triebspannungen zu ihrem Inhalt,
d. i. zum bewußten Triebziel, zu ihrer Triebrepräsentanz, wobei wohl
schon beim Auftauchen, sei es von Impressionen, sei es von Trieb¬
spannungen und Triebregungen, also im Grunde immer von Gemein¬
empfindungsänderungen: Einstell-(Denk-)Bewegungen, Mit-(Ein-
fühlungs-) Bewegungen, Ausdrucksbewegungen, kurz „psycho¬
motorische“, automatische und Reaktivbewegungen im Sinne
Kleists ausgelöst werden, und objektgestaltend, elegierend, sowie
einfühlend, d. h. Verständnis gebend wirken.
Eine so beschaffene psychische Schicht wäre ein einzigartiges
Gebilde, wenn sie eben ein Gebilde wäre. Aber so dürfen wir uns sie
nicht vorstellen, sondern als eine Durchflechtung, eine wechselnde
Abhängigkeit und Beeinflussung intermediärer Funktio¬
nen zwischen äußerem Reiz, respektive innerem Reiz, Antrieb, Trieb¬
regung einerseits, Handlung und Bewußtsein andererseits. Aber auch
so ist diese intermediäre psychische Schicht gerade wegen
dieses Intermediärseins zwischen den verschiedenen Be¬
wußtseinsreichen wie zwischen Außen und Innen, und Innen und
Außen (Impression und Effekt, und Trieb und Effekt), endlich zwi¬
schen physiologischem Nervenvorgang und Bewußtsein, von bedeut¬
samer Breite, Tiefe und Höhe, (sit venia verbis). Sie hat auch
mannigfache Berührungsflächen mit Freuds dynamischem Be¬
reiche des Unbewußten und Vorbewußten, das durch die Zensur vom
Bewußtsein abgehalten wird, diesem vorenthalten wird (s. Abgleiten¬
lassen S. 32).
Wir haben im Vorhergehenden von den verschiedensten psycho¬
logischen Richtungen her das Wesen der von mir supponierten
intermediären psychischen Schicht betrachtet und dabei gerade von
der modernsten Psychologie her wieder Anschluß an die alte phy¬
sisch-psychische Gruppierung Wernickes in Allopsyche, Somato-
psyche und Autopsyche gefunden, an eine übersichtliche Schemati¬
sierung des Psychischen — mehr soll sie ja uns auch nicht bedeuten,
die sich für unsere Betrachtung als bequem erwiesen hat und auf die
ich hier wiederum zurückgreifen möchte. Mit gutem Grunde legt
Karl Kleist, wie ich im Wintersemester 1921/22 in seinen Vor-
35
lesungen über Psychopathologie von ihm hörte, zwischen das S o -
matopsychische, das Körperlichkeitsbewußtsein einerseits
und das Autopsychische, das Persönlichkeitsbewußtsein mit
seinen höchsten zusammenfassenden Leistungen einschließlich der
Willensmotivierungen andererseits: das Affektleben und stellt
es zugleich mit Erwin Stransky als Thymopsyche, dem
intellektuellen Leben, der Noopsyche Stranskys, gegenüber.
Auch meine intermediäre psychische Schicht müßte in einem
Schema, welches Somato- und Allopsyche einerseits, der Autopsyche
andererseits gegenüberstellt, mitten in und zugleich zwischen Soma-
topsvche und Allopsyche gelegt werden.
Dieses grobe und gewiß nach vielen Richtungen unvollkommene
Schema — wie könnte ich mich auch vermessen, mehr als einen
Schimmer der Wechselbeziehung des Psychischen in ein Schema ein¬
zufangen — erscheint mir gerade wegen seiner Primitivität geeignet,
die Funktionsstörungen der Dementia praecox, um derentwillen diese
Untersuchung unternommen wurde, erklärbar zu machen, unter der
Voraussetzung, daß es ein zusammenhängendes Funktionsgebiet im
Sinne meiner intermediären psychischen Schicht gibt.
Dieses Schema, welches an sich nicht lokalisatorisch gemeint
ist. sondern nur im Sinne einer psychischen Schicht, zeigt
i aber dennoch hirnlokalisatorische Verwandtschaft. Man könnte mei¬
nen. weil es von mir zu Wernickes Hirnlokalisation von Somato-,
Allo- und Autopsyche in Beziehung gesetzt wurde. Diese Theorien
Wernickes aber haben bei meiner Aufstellung der intermedi¬
ären psychischen Schicht ursprünglich keine Rolle gespielt, sondern
erst nach ihrer Aufstellung ergaben sich mir die Beziehungen zu
Wernickes Schema. Nun wissen wir, daß es Hirnrindenleistun¬
gen sind, aus welchen beim Menschen und ihm nahestehenden Tier
entspringen: Die Kenntnisnahme der Vorgänge an unserem Körper,
wenigstens die bewußte Haut- und Bewegungssensibilität, ebenso wie
die allopsychische Verwertung der Impressionen, also das Noo-
psychische, kurz die Gnosis, das Wissen um Objekte: unsere Er-
scheinungswelt, Außenwelt, Merkmalswelt, ebenso wie unsere be¬
wußte Motilität, die Willkürmotilität, die „willkürliche“ spontane Be¬
einflussung der Umwelt durch koordinatorisch erzeugtes Handeln und
Sprechen, also unsere Wirkungswelt; mit der Merkmalswelt zusam¬
men unsere Dingwelt, Objektwelt (die Welt der Gegengefüge
U e x k ti 11 s).
Auch dürfen wir annehmen, daß die autopsychischen Leistungen
der Persönlichkeit, wie sie z. B. in Willkürhandlungen und bewußtem
3 *
36
Sprechen enthalten sind, Himrindenleistungen sind, ebenso wie die
höhere Affektivität mit der Stirnhirnrinde zu tun hat, was besonders
Karl Kleist hervorhebt. Dagegen erscheinen mir die Affekt¬
erweckung, im vorbewußten Anteil, sowie die Fringeerweckung sei¬
tens der Impressionen beide in ihrem Gemeinempfindungsanteil und
den Einstellbewegungen (Denkbewegungen), Einfühlungsbewegungen
(Mit- und Ausdrucksbewegungen), den Ausdrucks- und Affektbewe¬
gungen, sowie in Kronfelds Gestimmtheiten, also das, was ich
die „intermediäre psychische Schicht“ nenne,
zentriert um die Basalganglien (die ja zum Teil gene¬
tisch und anatomisch der Hirnrinde nahestehen).
Gründe für die Lokalisation dieser Funktionen, die ich in der
intermediären psychischen Schicht zusammenfasse, in die Basal¬
ganglien ergeben sich aus der Symptomatologie der Basalganglien¬
erkrankungen. Diese wurde bruchstückweise im Laufe der Jahre zu¬
sammengetragen und durch die sogenannte Grippe-Enzephalitis, die
Encephalitis lethargica, der letzten Jahre rasch bereichert.
Ich halte es für wahrscheinlich, daß in dem von mir „Impres¬
sion“ genannten, noch ungestalteten „Eindrucksgesamt“ (das Wort
ist gebildet nach „Bewegungsgesamt“ bei A. Homburger,
Heidelberg), neben der Exoprojektion der zugehörigen Gemein¬
empfindungsänderung, zugleich in nuce mitgegeben sind: die Objekt-
gestaltung, Ding- und Sachverhaltsgestaltung, überhaupt Denkgegen¬
standsgestaltung, wie die Ichgestaltung (immer neu bei jedem Ein¬
druck), wie die Relationen der künftigen Objektgestaltung nach
außen und „innen“ (Zusammenhänge und Beziehungen), wie inner¬
halb des Objektes selbst. Letzteres deckt sich zum Teil mit den
Gestaltsqualitäten (v. Ehrenfels) des künftigen Objekts, insbe¬
sondere mit den in der Gestaltenpsychologie (M. Wert¬
heimer, W. Köhler, H. D e x 1 e r) betonten „primären
Gestalten, Gestaltungsgegebenheiten. harmonisch geschlossenen
psychischen oder phänomenalen Erlebniskomplexen, den phänome¬
nalen Strukturen, nicht summativer, sondern übergeometrischer Art,
dem Sach bezug, als Ausdruck einer elementaren Strukturfunktion
der Sinnessphären“. Und es berührf sich sowohl mit dem. was
Kurt Goldstein als „Ganzheitsleistungen“ beiderseits besonders
in den Stirn- und Scheitellappen lokalisiert: wie auch mit W. James
Auffassung der Sinne und Aufmerksamkeit als Organe der Selektion
von Dingen etc. im Kontinuum des Erlebens: endlich mit A.
v. Tschermaks ..exaktem Subjektivismus in der Sinnes¬
physiologie“.
Man darf sich nun diese in der intermediären psychischen Schicht
— 37 —
durchflochtenen Funktionen, welche in den verschiedensten Wechsel¬
wirkungen stehen, zum Aufbau des Oberbewußten Zusammenwirken,
aber auch in ihren bewußten Auswirkungen weit auseinander führen:
nicht scharf vom Bemerkten, vom Oberbewußtsein abgegrenzt den¬
ken. Denn es liegt ja, wie wir sahen, im Wesen dieser Funktionen,
daß sie Oberbewußtes verschiedener Richtung vorbereiten und
in verschiedenen Richtungen zum Oberbewußtsein drängen.
Schema der Bereiche dös psychischen. Geschehens
No o psyche E. Stransky's
/ --- - - ■ ■ ----X
Wer nicke' & *Summe aller Erinnerungsbilder "
Somaiopsydw hirmdes
Objekt weit, Erscheinung ^-— rAXtvorzsyetehbe -_ ~ „
jvelt '*£.* /
intermediäre psychische Schicht
iX
L
r
0
V und, /
Thymopsyche E. Stransky's <
x r
H
1
samt CharahtergruncUcLaeny
J
Autopsyche Werruche's,
Die Persönlichkeit,
Wermckei "Summe aller persön -
liehen Erinnerungen (der Erleb■
rtiss#) *
Intermediäre psychische Schichl
fringe u. unb emerkte psych. Situation
wbmrrH* Gedankenalmosphären Triebreganga
«o (unbemerkte Einstellungen u Gesamtheiten) ,
ÄSES-iv Gemeine mpfindung /
HfAuoptyd* » xirut <
liychomoliliidt
linstetl -tDenXjbetregungen t Ausdrucks- und
yffit{EüdählaTSK-)lewttunoen Mtttbeweaanaa
***: Thymopsyche.
CJuraXter,WilU, Pkn
»SnUihheit.
iur A ulopsyc/ie
Sornaio *
psyche
Aus dem gleichen Grunde wird man hier eine scharfe Trennung
nicht fordern dürfen: zwischen genetischem Erklären und deskrip¬
tivem Erfassen und Verstehen, wie es in der empirischen Psychologie,
38
besonders von Franz Brentanos Schule und neuerdings von
Jaspers gefordert wird. Das Unbemerkte, welches das Bemerken
vorbereitet, ist ja nur genetisch erschließbar und erklärbar, nur im
Oberbewußten ist der Psychologie reine Deskription möglich. Will
man aber dem unterbewußten psychologischen Geschehen nachgehen,
erscheint die scheinbar so exakte und berechtigte Forderung: scharf
die deskriptive Beschreibung von der genetischen Betrachtung zu
trennen, nicht anwendbar.
Es wäre so, als wolle man Einem nachts die Fassaden einer
Straße des fernen Ostens im Scheinwerferlicht aufleuchten lassen und
von ihm fordern, er solle das hinter den Fassaden liegende nach
Struktur. Einrichtung und Zweck der Gebäude angeben. Man muß
in die dunklen Gebäude, Tempel und Häuser hineingehen, oder sonst¬
wie erfahren, was darin ist, was sie bedeuten und welchem Zweck sie
dienen. Für den im Dunkel liegenden Aufbau des Psychischen dient
diesen Zwecken die Untersuchung des Unbemerkten und Unbewußten,
Material und Grundlagen hierfür gaben seit jeher die Psychiatrie und
Psychopathologie durch Festlegung psychischer Ausfallserscheinun¬
gen und Störungssymptome. Sie zogen ihrerseits aus der psycho¬
logischen Untersuchung ihrer Beobachtungen weitgehend Vorteil und
haben wohl noch manchen davon zu erwarten.
Es soll mit dem allem, also weder die ausschließliche
Verlegung der bewußten Phänomene in die Hirnrinde, noch auch
die ausschließliche Verlegring aller unbemerkten,
das Bewußte vorbereitenden Leistungen in die intermediäre Schicht,
noch gar in die Basalgangliensysteme mit ihrem Unterbau und Über¬
bau gemeint oder gar vertreten sein. Sondern es handelt sich hier
vorerst um einen Versuch, eine gemeinsame unbemerkte
Fundierung auseinandergehender bewußter Lei¬
stungen, sowie Schalt- und Betriebsstätte dieser
Fundierung vorläufig festzulegen. Dieser Versuch könnte meines
Erachtens, ohne Hirnrindenbeteiligung bei der Dementia praecox aus¬
zuschalten, doch dem Studium der Symptome, des Verlaufs und der
Pathogenese der Dementia praecox dadurch nützlich werden: daß
er an Stelle der immer wieder gesuchten Primärsymptome der De¬
mentia praecox eine breitere Basis für die Erklärung der
Verschiedenartigkeit der Symptome, Verläufe usw. der Dementia prae¬
cox zu schaffen vermöchte. Dies ist dann möglich, wenn die inter¬
mediäre psychische Schicht bei verschiedenen Fällen, Zustandsbildern,
Verlaufsformen, nicht in den gleichen Funktionen oder nicht in glei¬
chem Ausmaße und Grade betroffen wird.
39
II. Verschiedenartigkeit der pathogenetischen Erklärungen
der Dementia praecox.
Betreffs der Symptomatologie, Pathologie und Pathogenese der
Dementia praecox liegen eine Reihe scheinbar sehr weit aus¬
einandergehender Betrachtungsweisen, Auffassungen und Erklärun¬
gen vor.
Sie sind psychopathologischer, tiefenpsychologischer (Freud-
scher), von den Motilitätsstörungen ausgehender, also motorisch¬
psychologischer, und sonst zerebraler oder überhaupt somatischer,
konstitutioneller, besonders endokriner, weiter erbbiologischer Rich¬
tung: neuerdings auch charakterologisch-psychologischer, z. T. tiefen-
psyehologisch-charakterologischer und endlich auf der Erlebnis- und
Wert psyehologie basierter Richtung.
Fast alle Erklärungen erstreben die Pathogenese einheitlich zu
erfassen oder wenigstens möglichst viel von der Symptomatologie
und Pathologie der Dementia praecox zu umfassen.
Es sind psychopathologisch gerichtet: Die psychische Schwäche.
Aufmerksamkeits- und Konzentrationsschwäche als Endausgang und
juvenile Demenzform (nach der alten Psychiatrie) einer im jugend¬
lichen Alter ablaufenden Einheitspsychose (K a h 1 b a u m), der
Vesania typica completa, welche von einleitender Melancholie durch
Manie, über Paranoia und Verwirrtheit zur Demenz führt; ähnlich die
Amentia der alten Psychiater. Wernickes Dissoziation und Se-
junktion (anatomisch-psychologisch). (Tschisch (1880) Unfähig¬
keit zur Aufmerksamkeit. Aschaffenburg (1898) und Som¬
mer (1894) Störung der Aufmerksamkeit (optische Fesselung).
Masse 1 on (1902) Distraction perpetuelle und endlich Wey-
gandt (1904 und 1907) die apperzeptive Verblödung
(wiedergegeben nach H. W. G r u h 1 e ..Die Psychologie der
Dementia praecox“). Kraepelins Lehre von der Denk¬
zerfahrenheit und dem Verluste der Zielstrebigkeit, sowie von
der affektiven Verblödung. C r a m e r s Erklärung der Motili¬
tätsstörungen und gewisser Wahnbildungen aus Körpersinnshalluzi¬
nationen. Erwin Stranskys Sprachverwirrtheit, Affektver-
ödung und affektive Verblödung bei intrapsychischer Ataxie, beson¬
ders zwischen Thymopsyche und Noopsyche.
Max L ö w y: a) Intentionsleere mit konsekutivem Direktions¬
verlust (Verlust der Zielstrebigkeit) im Denken, Fühlen und Handeln
(Demenzprozesse 1910); b) als Voraussetzung für die autochthonen
Ideen und für das Halluzinieren: bei diesen Inhalten ein Fehlen oder
40
die Herabsetzung des „Denkgefühles“ für den Denkvorgang als sol¬
chen, des Gefühles (der Bewußtheit) selber psychisch zu agieren; und
das Fehlen der Aktionsgefühle als allgemeines Kennzeichen der in der
Norm unbemerkten Denkvorgänge, der psychischen Schicht des Un¬
bemerkten, (die Aktionsgefühle 1908); c) Übererregbarkeit des Be¬
merkens, Bewußtwerden der in der Norm unbemerkt bleibenden Ge¬
dankengänge und desgleichen Untererregbarkeit des Bemerkens, z. B.
Nichtverstehen von Abstraktem mangels Mitschwingens des zugehö¬
rigen Konkreten infolge Unerregbarkeit desselben, beides bei Gemein-
empfindungs- und Labyrinthstörung, (Lotos, 1909); Denkablaufs-,
überleitungs- und Elektionsstörungen in den Gedankenatmosphären,
im unbemerkten Fransensaum der bewußten Gedanken (Fringe
— Franse — von Jante s) und Entäußerung von Fringebruchstücken
— als „Füllsel“ — in Ablaufspausen des Denkens bei motorischem
oder psychischem Drange nach Entladung (1910 Stereotype, pseudo-
katatone Bewegungen, 1911 Über eine Unruheerscheinung: Die Hallu¬
zination des Anrufes mit dem eigenen Namen, 1912: Meteoristische
Unruhebilder); d) Entäußerung unfertiger Halbfabrikate des Den¬
kens im Sprechen, Handeln und besonders in Schriftstücken mit kon¬
sekutiver Ambivalenz, Bilanzunfähigkeit des Denkens. Abschlu߬
unfähigkeit des Denkens — vgl. F r i e d m a n n s Unabgeschlossen¬
heit und Unabschließbarkeit des Zwangsdenkens. 1920 — alles aus
Überleitungs- und Elektionsstörung im Fringe: Unfertiges Denken,
(1918: Über Hypnose: Kapitel Einfühlung und 1922: Über Wahn¬
bildung).
Berze 1914: Insuffizienz der psychischen Aktivität. Bleu-
1 e r: Assoziationsspaltung. Verlust der Assoziationsspannung,
der Schaltspannung, primär, sowie als Folge von Störungen der
Affektivität. Neuesten» rät H. W. Gruhle „Die Psychologie der
Dementia praecox“, Ztsch. f. d. g. N. und Ps. 78. Bd. 4 und 5, vor¬
getragen 22. und 23. 11. 1921 zu Heidelberg, gegenüber Berze und
Bleuler nicht nur nach einem Minus zu suchen, sondern dem
„Anderssein“ der Kranken nae.hzugehen. Neben der Aktivitäts¬
störung als quantitativem Faktor (sowohl im Sinne des Minus als
des Plus) betont er den qualitativen Mangel der Motiv¬
setzung, die Störung zwischen Grund und Folge, die Motivgrund¬
störung. Jenes Schisma, das der Krankheit den Namen (der
Schizophrenie) gibt, liege nicht in den „Akten“ selbst, sondern an
einem anderen „Ort“: in der Verbindung der Akte, gestört sei der
„Sinnzusammenhang“, der „Motivzusammenhang“ der Akte. (Anm.
41
Max Löwy: Mir scheint jeder gerichtete Akt von vornherein auf
..Sinngestaltung“ in der „Objektgestaltung“ zu gehen.)
Karl Jaspers Psychopathologie 1920 betont Seite 350 und
351 bezüglich des katatonen Symptomenkomplexes das Verschwin¬
den der aktuellen Persönlichkeit durch Störung des Willens, der
Aktivität beim Denken, beim planmäßigen Lenken der Vorstellungs¬
richtung, beim Sprechen, beim Bewegen, beim Schreiben usw. Über¬
all zeigen sich analoge Störungen: Verbigeration im Reden, Gekritzel
beim Schreiben, passives Stehenbleiben, plötzlich unterbrochene Be¬
wegungen. Steifheit, mitten im Satz unterbrochenes Sprechen, Spre¬
chen, während man gerade fortgeht usw. Dabei kann es sich keines¬
wegs um bloß motorische Störungen handeln, denen der Kranke, und
seien sie noch so kompliziert, doch als etwas Fremdem, bloß Körper¬
lichem gegenüberstehen kann. Die Störung muß viel höher,
im Psychischen, liegen. Sie ist mit den ganz anderen aprakti-
schcn und aphasischen Störungen ganz unvergleichbar. . . .
Stellen wir die Aktivität, fährt Ja s p e r s fort, gleichsam als die
aktuelle Persönlichkeit der dauernden Persönlichkeit (im Sinne
der konstanten Motive, Triebregungen usw.) gegenüber, so könnte
man sagen: Nicht die dauernde Persönlichkeit (der Charakter) wurde
vom katatonischen Symptomenkomplexe ergriffen, sondern nur die
aktuelle. Es macht manchmal den Eindruck, als verschwinde
einfach der Charakter, aber nicht ein veränderter tritt an die
Stelle, sondern jenes mechanische bloß augenblickliche Geschehen,
das eben den katatonischen Symptomenkomplex ausmacht. Aus die¬
sem Verhältnis könnten wir dann die fehlende Einsicht verstehen,
(die Persönlichkeit, die die Einsicht haben könnte, ist verschwunden).
Wohl aber wird der dauernde Charakter von der Krankheit er¬
griffen. die auch den katatonischen Symptomenkomplex schafft.
S. 354 führt Jaspers diesen Grundzustand auf Modifikationen resp.
Zerstörung weniger der Leistungen als des Zentrums des
seelischen Lebens, d. h. der Persönlichkeit, und auf Prozesse mit gro¬
ber Zerstörung der Persönlichkeit zurück (S. 280, 281). S. 374 führt
Jaspers über den Symptomenkomplex des „verrückten“ Seelen¬
lebens aus: Subjektive Erlebnisse des Kranken sind hier
die Quelle der paranoischen Wahnbildung, der echten Wahnideen,
gegenüber den wahnhaften Ideen, welche aus Stimmungszuständen,
Wünschen, Trieben mehr weniger verständlich entspringen. Durch
zahlreiche Vorgänge in der Umgebung, die die Aufmerksamkeit
der Kranken erregen, werden unangenehme, für uns kaum ver¬
ständliche Gefühle wachgerufen, der Vorgang belästigt sie.
berührt sie.
42
(Anmerk. Max Löwy: Vergleiche hierzu meine Erklärung des
diffusen Beziehungswahns und Bedeutungswahns als ein Sichgetrof-
fenfühlen, Sichberührtfühlen, Sichgemeintfinden, mit dem Eindruck
unbestimmter Importanz der Eindrücke: aus unbestimmter Unruhe,
Erwartung oder Angst oder dem Gefühle drohenden Unheils (Stim¬
mungsgrundlagen der Paranoia nach Alexander Margulies): ähnlich
dem Sicliangerufenfühlen im halluzinierten Namensanruf: d. i. dem
„Rufcharakter!“ sowohl des Bedeutungswahns, Beachtungswahns,
wie des halluzinierten Namensanrufs, nicht selten zusammen mit die¬
sem Namensanruf, mit Ahnungen und mit Störungen des Denkgefühles,
des Gefühles, psychisch zu agieren, (1911: Über eine Unruheerschei¬
nung: Die Halluzination des Anrufs mit dem eigenen Namen mit und
ohne Beachtungswahn). Vergleiche weiter in meinen Arbeiten Aus¬
führungen über Störungen des Gedankenablaufs und des Bemerkens
durch Gemeinempflndungsstörungen und Labyrinthstörungen 1909.
1911. Endlich 1922 (Über Wahnbildung) meine Auffassung der
Eigenbeziehung von Rufcharakterart als Erhöhung der Ichgerichtet-
heit der Impressionen infolge erhöhten Ichgerichtetseins auf die Ein¬
drücke: auf dem Boden der unbestimmten Unruhe und Erwartung).
Jaspers fährt fort: Manchmal ist „alles so stark“, klingen die Ge¬
spräche „zu scharf in den Ohren“, manchmal irritiert die Kranken
auch ohne das jedes Geräusch, jedes beliebige Geschehen. Immer ist
es so, als wenn es gerade auf sie abgesehen wäre. Schließlich
ist den Kranken dieses vollkommen deutlich. Sie „beobachten“, daß
man über sie spricht, daß gerade ihnen etwas zum Trotz gemacht
wird. In urteilsmäßiger Formulierung entsteht aus diesen Erlebnissen
der Beziehungswahn. Dabei beherrschen den Kranken zahl¬
reiche „Gefühle“, die man als unbestimmte Erwartung, Unruhe, Mi߬
trauen, Spannung, Gefühl drohender Gefahr. Ängstlichkeit, Ahnungen
usw. anzudeuten sucht, aber nie eigentlich trifft. Dazu kommen als
weitere Gruppe alle die Erlebnisse von gemachten oder ab¬
gezogenen Gedanken. Die Kranken sind ihres Vorstellungs¬
verlaufes nicht mehr Herr, schließlich ergänzen allerhand Sinnes¬
täuschungen (häufig Stimmen, optische Pseudohalluzinationen, Kör¬
persensationen) das Bild. Gleichzeitig finden sich fast immer zahl¬
reiche Züge des neurasthenischen Symptomenkomplexes. Bei alle¬
dem bildet sich kein Zustand eigentlicher akuter Psychose aus.
Weiter betont Jaspers das primäre nicht weiter analysierbare
Wahnerleben als charakteristisch für Prozeßpsychosen.
Kronfeld (1922) betont eine primäre Störung des
Bewußtseins der I c h a k t i v i t ä t bei besonderen einzelnen
43
Akten (den autochthonen Ideen), welche Störung zu Spalten und Ab¬
gründen im bewußten Erleben und der Erlebnisverknüpfung führt
und an den Bruchstellen das Hervorbrechen primitiver „archaisch¬
magischer“ Erlebnisweisen im Sinne von Reiß und Storch (s. u.)
gestatten kann.
Paul Schilder schuf die bedeutsame Konzeption: der
Widersprochenheit der Denkinhalte und dazu gehörigen Denkakte
(evtl, auf Grund einzelner Inhalte: Widersprochenheit aller Akte und
so des Denkens überhaupt).
Tiefenpsychologisch: Die Lehre Bleulers vom Mangel an Rap¬
port mit der Außenwelt, vom Autismus: Selbstabsperrung gegen
außen und Selbsteinspinnung in Komplexphantasien, in ein wirklich-
keitsabgewandtes Komplexleben; und vom autistischen, emotiv-un¬
disziplinierten, vom „deröierenden“ Denken. Jungs Introversion
und Inversion: Wunscherfüllung in Phantasien. Alfred Adlers
Flucht aus der Realität, vor den Anforderungen der Wirklichkeit und
besonders der Sexualität, mit Aufbau von Sicherungsmaßnahmen
gegen die Lebenserprobung. Freuds und Abrahams Regres¬
sion auf primitive Triebstufen durch Zurückziehung der Objektlibido,
des Interesses an der Außenwelt, anläßlich der Versagung in der
Realität, mit Übersteigerung des Ichideals (Narzißmus), Autoerotis¬
mus und Kampf gegen eine homosexuelle Komponente. (Freud:
erwartende, oft homosexuelle, diffuse Erotik bei ambi¬
valenter starker (narzisstischer) Feindseligkeit, beides
gegen Alle: als Wurzel paranoischer W r ahnbildung. Vgl. oben
meine erhöhte Ichgerichtetheit auf die Impressionen im diffusen
Beziehungswahn.) Weiter auch hier S c h i 1 d e r s Widersprochen-
heitslehre. Reiß und Storch (nach Freud und Schil¬
der) schizophrene Dynamismen aus dem Triebleben der
Primitiven, sowie aus deren prälogischem „magisch“-affek-
tivem Denken und Vorstellen als atavistisches Aufllackern
archaiischer Tiefenschichten des Trieblebens (wiedergegeben nach
Kronfeld). Max Löwy (1922 Über Wahnbildung) Lehre von
den symbolisierenden Wahnbildungen der Schizophrenen und Para-
phrenen aus „Symbolbedürfnis“ (Wahnbedürfnis und Wahnerleben in
bezug auf Verpöntes): nach Freud sehen Mechanismen wird Ver¬
pöntes in Wahnform und zwar in Symbolen, Ersatz- und Kompromi߬
produkten, Umkehrungen, z. B. des Erstrebten ins Erlittene usw. ver¬
kappt erlebt und entäußert; daneben auch alle anderen Formen affekt¬
geschalteter, überwertiger, einseitig zentrierter Wahnideen und be¬
sonders initial diffuse Eigenbeziehung aus erhöhter Ichgerichtetheit
44
auf alle Impressionen — reines Wahnwahmehmen — und anderes
Wahnerleben vorkommend. Auch diese Wahnformen können (müs¬
sen aber nicht), ebenso vielleicht Kleists aus Denkstörung beson¬
ders der Begriffsbildung und Begriffswahl kurzschlüssig (nach
„K a 1 a u e r - A r t“ möchte ich sagen) erfließende Form von Bezie¬
hungsherstellung, sekundär symbolisch verwertet werden.
Motorisch und motorisch-psychologisch Wernickes Motili¬
tätspsychosen und Kleists Lehre (seit 1906) von der Erkrankung
extrapyramidaler „psychomotorischer“ Funktionssysteme durch Schä¬
digung der Kleinhirn-Basalganglien-Stimhirnsysteme in einer oder
mehreren ihrer drei Staffeln (s. u.). Gestützt und präludiert wird
diese Lehre durch verschiedene, aber vor Kleist nicht zusam¬
mengefaßte, sondern nur Einzelpunkte betreffende Hinweise anderer:
Hartmanns psychische Störungen bei Pseudo-Bulbärparalyse
(1902); Max L ö w y (1903): Katalepsie- Erklärung durch den
normalen stellungserhaltenden Antagonisten-Dehnungsreflex bei Feh¬
len des Ermüdungsgefühls an einem Falle mit wechselnder, auch ein¬
seitiger, Muskelrigidität und Haltungsstarre im Anschluß an Apo¬
plexien mit dem Bilde der Paralysis agitans sine agitatione und
Mikrographie bei symmetrischen Herden im Nucleus caudatus und
Nucleus lentiformis beiderseits; dort zugleich Hinweis auf die Mikro¬
graphie, Körperhaltungsstarre und -bewegungsstarre, Augenhaltungs¬
und -bewegungsstarre, Sprechbewegungsstarre der Paralysis agitans
bei Erhaltung der Sehnenreflexe und auf etwaige analoge Lokalisation
bei derselben. Weiter 1905: Feststellung eines die Schreibkoordina¬
tion der rechten Hand (Mikrographie) und die Sprachkoordination
allein betreffenden, den Eintritt der Bewegung verzögernden, das Fort¬
schreiten derselben erschwerenden „koordinatorischen Rigors“, iso¬
liert für die betreffenden Koordinationen, während andere Funktio¬
nen derselben Muskeln ungestört blieben, im Anschluß an transito¬
rische Hemiplegie; (1910 Demenzprozesse) Dementia paranoides
mit lokalisiertem koordinatorischem Rigor der Schrift (Mikrographie)
und Sprache schon unter Berufung auf Kleist. Seither zahlreiche
verstreute Hinweise besonders von A. P i c k auf die Analogien neuro¬
logischer, besonders Herdaffektionen zu einzelnen katatonen motori¬
schen Störungen. Max L ö w y (1912: Meteoristische Unruhebilder)
Erklärung des Rapport mangels und der initialen Demenzdiagnose als
ein Symptom des Untersuchers und nicht des Unter¬
suchten: als Mangel an Einfühlung des Untersuchers, als Fehlen
der rapporterweckenden Mitbewegungen beim Untersucher, dies alles
infolge des Fehlens (oder der Abwegigkeit) der feinsten Ausdrucks-
45
bewegungen beim Patienten, welche Ausdrucksbewegungsstörung
direkt zu dieser Zeit noch nicht bemerkbar sein muß.
Organisch: Die prinzipielle Verlaufsbewertung Kraepe-
1 i n s; die allgemeine Bewertung der Demenz, die Dissoziations-, Se-
junktionsauffassung, wie Bleulers Auffassung der schizophrenen
Assoziationsstörung als organisch; die Lehre von den Himprozessen
W i 1 m a n n s , und Jaspers Prozeßpsychose; Max L ö w y (1910:
Demenzprozesse und ihre Begleitpsychosen) die Scheidung von
schleichender Verblödung und akuten und subakuten Hirnschädi¬
gungssyndromen, letztere als „Schübe“ betrachtet und auf Grund von
Akuität, Intensität und Dauer der Schübe gestaffelt als: Koma, Be¬
nommenheit, epileptiforme Anfälle, schwere motorische Unruhe und
Erregung, Delirien, Korsakoff-Bilder, Halluzinosen, halluzinatorische
und gelegentlich rein wahnhafte paranoide Psychosen; weiter „Be¬
gleitpsychosen“ der Demenzprozesse: durch den einschleichenden
initialen oder schleichend fortschreitenden Destruktionsprozeß ent¬
stehende erworbene psychotische Konstitutionen (heute würde
ich sagen Geistesverfassungen) psychopathischer oder manisch-
depressiver Form, welche sich analog den angeborenen Konstitutio¬
nen gleicher Form in den entsprechenden Psychosen auswirken kön¬
nen. Sowohl die Demenz, wie die akuten und subakuten Hirnschädi¬
gungssyndrome (Schübe), wie die erworbenen psychotischen Kon¬
stitutionen faßte ich als die Folge des chronischen Himdestruktions-
prozesses und seiner Verlaufsform auf, sowohl bei der progressiven
Paralyse, senilen Demenz, Epilepsie, zerebralen Arteriosklerose, wie
bei der Dementia praecox; aber auch bei infektiösen Prozessen und
auch bei akuter einmaliger Himschädigung, Hirnverletzung (trauma¬
tische Demenz) wie auch bei chronischen Intoxikationen: (Alkohol¬
neurasthenie, Alkoholhysterie, Pseudologia phantastica und Eifer¬
suchtswahn der Trinker, Alkoholepilepsie, Delirien, Halluzinosen,
Alkoholparanoia, Korsakoff und alkoholische Demenz). Daneben Be¬
tonung des — Besonnenheit und chronischen Verlauf vorausgesetzt —
für Dementia praecox charakteristischen körperlichen Beeinflussungs¬
wahns, verwandt damit die Paranoia hypochondriaca: mit Organ¬
halluzinationen. Kraepelins und seither vieler anderer Hin¬
weise auf endokrine Störungen (Genitaldrüsen, Schilddrüse) bei De¬
mentia praecox; die Abderhalden sehen Abbaureaktionen bei
derselben (Fauser, Kafka usw.) und Erwin Stranskys
darauf gestützte endokrine Auffassung. 0. P ö t z 1 s Feststellungen
über Hirnschwellung bei Katatonen: P ö t z 1 wies durch eine Reihe
von Arbeiten und Fällen seit 1909 nach, daß die Hirnschwellung.
46
welche sich in akuten Phasen der Katatonie findet, nicht spezifisch
für diese sei, sondern daß ihre Symptome — eben die der Him-
schwellung — auch beim Status epilepticus und bei anderen Toxi¬
kosen Vorkommen; weiter, daß in anderen Fällen in den akuten
Schüben der Katatonie meningitiforme Erscheinungen vorliegen,
analog aber nicht identisch zur Himschwellung. In anderen Fällen
gingen Quinckeödeme und Schwellung der Niere mit akuten Schüben
der Katatonie einher, also Schwellungen auch anderer Organe, nicht
nur des Gehirns, besonders wenn eine lokale Minderwertigkeit des
betreffenden Organs vorlag, z. B. eine kongenitale Ureterdrehung
eben der betroffenen Niere. P ö t z 1 stellt fest, daß die Hirnschwel¬
lung zweierlei Quellen haben kann, einerseits eine Erkrankung des
Gehirns etwa im Sinne von Reichardts Veränderung der Hirn¬
kolloide, andrerseits aber die Rückwirkung der in den Fällen von
Katatonie vorhandenen Übererregung der sympathischen und auto¬
nomen Systeme auf den Zustand der Kolloide im Gehirn. Da diese
Übererregung ebensogut durch zentrale Einflüsse nach Analogie des
Himdrucks als auch durch endokrine Störungen (Kraepelins
Annahme für die Dementia praecox) bedingt sein kann, findet der
Beobachter hier eine Kette von Wirkungen vor, die sich zu einem
Ringe schließt und innerhalb dessen ein Anfangspunkt erst ander¬
weitig ermittelt werden müßte.
(Nicht nur für die akute Katatonie, sondern auch für die Gesamt¬
lehre der Dementia praecox ist dieser Gesichtspunkt 0. P ö t z 1 s
bedeutsam und zugleich eine wichtige Warnung vor übereilten
Schlüssen s. u.)
Dazu Kretschmers Aufbaukomponenten der Psychose:
Konstitution, Charakter und Erlebnisreaktionen, Exogenes, Lebens¬
perioden; und Birnbaums Lehre von den pathogenetischen und
pathoplastischen Faktoren, welche uns schon zu den charakterologi-
schen und erbbiologischen Auffassungen hinüberführen.
Charakterologie besonders der präpsychotischen Zeit und Erb¬
biologie: Sanders Paranoia originaria: Von Kindheit an sonder¬
bar verschlossen, still, zurückgezogen, träumerisch oder bösartig¬
jähzornig, hypochondrisch und reichlich onanierend. Bleuler,
Kraepelin, G i e s e: Von Kindheit an teils scheu-zurückgezogen,
verschlossen, teils störrisch-widerspenstig.
In der F a m i 1 i e der D.-pr.-Kranken auffallend häufig son¬
derbare Charaktere (Boven, Voigt); Boven als Kindheits¬
züge der D.-pr.-Kranken selber: Misanthropie, Menschenscheu, Un-
gcselligkeit. unter Vaterzucht mehr passiv, z. B. schüchtern, später
öfter aggressiv; nach Voigt hierzu noch teils Lenksamkeit und
47
übertriebene Frömmigkeit, teils Sichabschließen, Eigensinn, anti¬
soziale Neigungen; Jeliffes „Predementia praecox“ der
Kindheitsgeschichte: Weichlichkeit, zusammenhangloses Denken,
Launen, ethische Defekte, Absonderung; (wiedergegeben nach dem
Referate Helmut Müllers (Dösen) s. u.). Freuds Narzißmus;
Bleulers autistisch emotionelles, „dereierendes“ Denken und
Autismus. Kretschmers Konstitutions- und Temperamentslehre
ipsychästhetische Konstitution der Schizophrenen: kalt und reizbar,
empfindlich s. u.). Bleulers Erbschizose und Sichtschizose und
schizophrene Reaktionsformen nicht manifest Kranker. R ti d i n s ,
Erwin Kahns und Hoffman ns, sowie Erwin Poppers
und anderer Studien über die Erbschizose und die schizophrenen
Situationsreaktionen im Verhältnis zur manifesten Dementia praecox.
Erwin Popper (Prag): „Der schizophrene Reaktionstypus 44 (Ztschr.
f. (i. ges. Xeur. u. Psych. Orig. 62. Bd. 1920) definiert S. 207 folgendermaßen:
Der schizophrene Reaktionstypus bedeutet einen Komplex von Individual-
faktoren, deren die Wesenheit, das Verhalten, die affektiven Entladungen usw.
verfärbende reaktive Äußerungen die schizophrene oder schizoide Reaktion
schaffen, die vom schizophrenen Krankheitsvorgang und überhaupt vom
Krankheitsbegriff der Schizophrenie strikte zu sondern wäre.
S. 197: Es erscheint mir die Annahme eben durchaus nicht zu phan¬
tastisch. daß hier vielfach nichts anderes vorliege, denn eine bloße Reaktion,
daß hier cum grano salis nur zwei Kraftkomponenten die Resultante der Stö¬
rung bedingen, exogene (organisch oder funktionell wirksam) Noxe und Reak-
tinnsträger allein einander gegenüberstehen. Die Reaktion holt dabei aus
dem betreffenden Individuum im Sinne endogener Reaktionstypen alles hervor,
was an individual-spezifischer Eigenheit und Wesenheit vorher mehr oder
weniger latent war. (H o c h e spricht von „präformierten, beim Gesunden
latenten, dann akut hervorbrechenden Symptomverkuppelungen 44 .) Vielfach ist
ja schon vorher, wenigstens andeutungsweise zu erkennen, was da potentiell
gesteigert sich birgt, was als Denk-, Charakter- oder Temperamentseigenheit
die Individualpsyche kennzeichnet oder in verschroben-verschnörkelter Art
schon immer manifest den Sonderling schafft, während oft wieder erst die
Reaktion, die speziellen psychotischen Tendenzen, die in so überaus erstaun¬
lich vielen Menschen vorbestehend scheinen, hervorbrechen läßt. Meyer
(Med. Klinik 41, 1919) äußert sich ganz ähnlich dahin, daß die Reaktionstypen
mi allgemeinen wohl nur die Steigerung und Vergröberung normaler Reaktio¬
nen bedeuten.
S. 203, 204: Schon K ü t n e r s Beobachtungen an degenerierten Gefan¬
genen erwiesen das Vorkommen schwerer, ganz den Katatonien gleichender
Bilder, doch wohl aus psychogener Verursachung. Und die Studien über das
Entartungsirreseiu, wozu wohl Bonhöffer den ersten Anstoß gab, er¬
brachten ebenso, besonders in den Untersuchungen psychotisch gewordener
Stralgefangener, viele Resultate, die den hier erörterten Momenten entsprechen.
S. 204: Immer wird zu sehr von hysterischen Reaktionen schlechthin
gesprochen, während der Eventualität einer dem Oberbegriff psychogen viel-
48
fach zwar unterzuordnenden, aber von Hysterie sensu strictiori doch wohl
mehr oder weniger scharf abzutrennenden schizophrenen Reak.tion
im Gegensätze zu wirklicher Erkrankung an Schizophrenie bisher wenigstens
ausdrücklich, nirgends Rechnung getragen wird. Sicher ist viel davon unter
den auf Erschöpfung bezogenen, unklaren Zuständen von Verwirrtheit oder
Zerfahrenheit, unter den Fällen Stieflers, unter den als Pseudodemenz
gefühlten oder Ziehens „asthenischer Stupidität“ entsprechenden Bildern
enthalten. Aber auch in der Friedenspraxis . . . wird man doch auch immer
wieder vor Zuständen stehen, die zum Schlüsse drängen, sie mehr als Reak¬
tionsform, als reaktiv-schizoiden Symptomenkomplex anzusprechen. Und ver¬
wandte Tendenzen drücken sich wohl auch in Bornsteins Aufstellung
soiner St hizothymia reactiva aus. Seine Fälle, sowie ein einschlägiger Beitrag
van der Torrens scheinen zum Teil oder durchaus ins Bereich der hier
verfochtenen Anschauungen zu fallen. Es ist eben meines Dafürhaltens,
fährt Popper fort, zweifellos nicht zu bestreiten, vielmehr wohl durchaus
nrciit selten, daß viele Individuen, ohne darum etwa latent-schizophren sein zu
müssen, ohne jemals eine weitere Entwicklung in schizophrener Richtung er¬
kennen zu lassen, ja ohne überhaupt im gewohnten Kreise auch nur andeu¬
tungsweise Spuren heboider Wesenheit darzubieten, unter entsprechenden Ver¬
hältnissen als Ausdruck endogener, ihnen eben spezifischer Reaktionsweise
Zustände auf weisen, deren Symptomatologie den Verlaufsbildern echter Schizo¬
phrenien weitgehend und vorläufig oft kaum oder gar nicht unterscheidbar
ähnelt. Man darf hier wohl die Annahme einer speziellen Form psychopathi¬
scher, bzw. degenerativer (aber darum eben nicht von vornherein hysterischer)
Reaktionsbereitschaft, eines besonderen Reaktionstypus akzeptieren. Viel¬
leicht bestehen auch verwandtschaftliche Zusammenhänge mit jener psychischen
Eigenart, wie sie manchen Fällen von Kretschmers sensitivem Bezie¬
hungswahn zugrunde liegt, vielleicht sind, wie sicher wohl in manchen ras¬
sischen Gruppen, auch unter den Debilen und Imbezillen diese Typen beson¬
ders oft auffindbar. S. 205.
Es folgt der Hinweis, daß katatone Syndrome unter den differen¬
testen Verhältnissen auch bei anderen echten und in sich zirkum¬
skripten Psychosen Vorkommen und ihnen eine vielfach fremde Fär¬
bung verleihen. So auch bei organischen Prozessen, Epilepsie, pro¬
gressiver Paralyse. „Natürlich sind hier jene Katatonieformen aus¬
zuschließen, die als sicher organisch bedingtes Syndrom mit mehr
oder weniger umschrieben bestimmbaren Herdaffektionen auftreten,
wie z. B. die katatonen Zustände bei Erkrankungen des Corpus
striatum, auf die, wie ich glaube, L ö w y als erster aufmerksam ge¬
macht hat. Es sei hier nur nebenbei erwähnt, daß ähnliche Bilder
bei Stirnhirnverletzungen, wie sie z. B. H e i 1 i g und Rosenfeld
beschrieben haben, Heilig zur Vermutung eines Zusammenhanges
der Stirnhirnfunktionen mit der katatonen Form def Schizophrenie
verleiten.“
ln seiner Arbeit ..Klinische Studien zur Genese der Schizophrenie“, II
(zur exogenen Genese), (Monatsschr. f. Psych. u. Neur. 1921, Bd. 50. H. 4) ver-
weist E. P o p p e r (S. 246) darauf, daß nach Traumen, vor allem des Schädels,
sich nach einleitendem Kopfschmerz, Schwächezuständen oder epileptiformen
Erscheinungen, vielleicht zunächst bei den Patienten, mit denen es „nichts
Rechtes mehr“ ist, ein oft Jahre andauerndes Siechtum und endlich ein immer
prägnanteres Bild schizophrener Symptome entwickelt. Auch somatische
fieberhafte Erkrankungen, Pneumonie, Typhus, Grippe können einen Schwäche*
zustand hinterlassen, auf den sich bald oder später die Psychose aufpfropft.
Auch psychische Traumen, wie rein psychische Momente der Situation, z. B.
die Entwurzelung durch Änderung des Milieus und Verlust der Familie oder
Einflüsse des Militärdienstes, der Haft, oder der Verheiratung, können den
Krankheitsausbruch einleiten. Es seien fast nirgends die affektiven
Komponenten der angeführten Schädlichkeiten entscheidend, sondern vielmehr
wohl stets eine die Gesamtmentalität: den Intellekt, ebenso wie die Gefühls¬
und Willenssphäre alterierende, irgendwie geänderte Funktionsbeanspruchung,
die schließlich Störungseffekte entfaltet. Besonders wichtig aber war es, daß
mehr als die Hälfte der Fälle von Schizophrenien mit Traumen in der Vor¬
geschichte sich schon von vornherein als disponierte, ausgesprochener auf¬
fällige Individuen darstellen. Sie erkrankten kaum unter den somatischen
Bedingungen, vielmehr wohl unter den allgemeinen psychischen, in den be¬
grenzten Kreis ihres Lebens eingreifenden Folgen des Traumas. Es dürfte
kaum von mehr denn von möglicher Auslösung die Rede sein. Auch hier
war es aber die Unmittelbarkeit sogleich manifester schizophrenischer Krank-
luitszeiehen, die den Schluß auf die nur explosionsbewirkende Flamme nahe-
hrachte, während Pulverfaß und Lunte wohl bereit stehen mochten (S. 244, 245).
S. 245: Die bisherigen nur für jeden Fall an sich besser darstellbaren,
in summarischer Erörterung jedoch recht verschwimmenden Umstände ließen
erkennen, daß in der Regel der endogene Komplex fast alles, die exogene
Komponente zwar ein vielleicht nicht eliminierbares, aber relativ doch nur
geringfügiges und variables Etwas bedeutet. Diese Verhältnisse liegen aber in
manchen Fällen anscheinend umgekehrt. Hierher fallen ziemlich viele unserer
bezüglich endogener genetischer oder dispositioneller Merkmale ganz negativer
Kranker. Vielfach handelt es sich um bis in ein späteres Alter ganz unauf¬
fällige, auch nicht im mindesten abwegig charakterisierte Persönlichkeiten.
Hier ergibt sich tatsächlich wiederholt der Anschein, als schüfe die exogene
Schädlichkeit den Boden, auf dem dann erst sekundär sogleich oder später
die eigentlichen Krankheitsagenzien oder Krankheitsbedingungen die manifeste
Erkrankung bewirken. In dieser Reihe der exogenen ‘ Fälle wäre also mit
scheinbar größerem Recht von einer vielleicht direkt primären Be¬
deutung exogener Noxen zu sprechen und ihnen ein Hauptanteil
am Krankheitswerden zuzuerkennen.
Ernst Kretschmer (Tübingen): „Körperbau und Cha¬
rakter, Untersuchungen zum Konstitutionsproblem und zur Lehre von den
Temperamenten“ (1921, Berlin, bei Springer) resümiert für uns sehr Wichtiges
am Schlüsse seines Buches im 14. Kapitel „Theorie der Temperamente“,
S. 184 ff. Doch sei vorher aus dem Vorwort von R. G a u p p, S. IV, das
angeführt, worüber mein Auszug hier an sich nicht expressis verbis Auskunft
toewy, Dementia praecox. (Abhandlungen H. 20.) 4
geben könnte. Indem Kretschmer seinen Blick über die Mauern der
Klinik hinausrichtend das vielgestaltige Leben mustert, indem er genealogische
Feststellungen und historische Übermittlung in sein Forschen hineinzieht, ver¬
schwimmen ihm die Grenzen zwischen Krankheit und Gesundheit immer mehr;
der zirkuläre Krankheitstypus geht ohne sichtbare Grenze in die zyklothyme
Persönlichkeit über; der schizophrene Kranke hat im „schizoiden“ seine
Abortivform und im „schizothvmen“ Gesunden sein charakterologisches Rudi¬
ment oder vielmehr seinen weiten biologischen Rahmen. Und diese beiden
großen Gebiete menschlicher Wesensart und Erkrankungsform zeigen eine
nicht immer augenfällige, aber in den typischen Ausprägungen überraschende
körperliche Eigenart, die der Messung zugänglich ist und für das
Verständnis der gesamten biologischen Vorgänge von tiefer Bedeutung wird.
Die biologisch-klinische Studie erweitert sich zum allgemeinen Problem des
Zusammenhanges zwischen leiblicher Form und seelischer Art, deren zwei
größte Gruppen (z y k 1 o t h v tu e r und s c h i z o t h y m e r Typus) in ihrer
auch kulturell wichtigen Sondertorm durch weite Gebiete des geschichtlichen
Lebens verfolgt werden.
E. Kretschmer führt aus (S. 184 ff.):
Die drei Begriffe: Konstitution, Charakter und
T e m perament haben für uns im Laufe unserer Untersuchungen
ungefähr folgenden Sinn bekommen:
Unter Konstitution 1 ) verstehen w i r die G e -
s a in t h e i t aller der individuellen Eigenschaften,
die auf Vererbung beruhen, d. h. g e n o t y p i s c h
verankert sin d.
Nur einen Teil der Konstitutionsfaktoren haben wir unseren
Untersuchungen zugrunde gelegt, nämlich die Wechselbeziehung
zwischen Körperbau, Persönlichkeitsanlage, psychiatrischer und inter¬
nistischer Morbidität. Der Konstitutionsbegrilf ist ausgesprochen
psychophysisch, gesamtbiologisch, auf das Ineinander von Körper¬
lichem und Psychischem gerichtet. Der Begriff Charakter dagegen
ist ein rein psychologischer:
U nter Charakter verstehen w t i r die Gesamt¬
heit aller affektiv- willens mäßigen Reaktions¬
möglichkeiten eines Menschen, wie sie im Lauf
seiner Lebensentwicklung entstanden sind, also
aus Erbanlage und sämtlichen exogenen Faktoren: Körpereinfltissen.
psychischer Erziehung, Milieu und Erlebnisspuren 2 ).
1 ) Wir schließen uns hierin den guten Auseinandersetzungen K ahn«
über „Konstitution, Erbbiologie und Psychiatrie“ im wesentlichen an (Ztsehr.
f. d. ges. Neur. u. Psych. 57, 1920).
*) Genaueres hierüber in meinem Buch über den sensitiven Beziehung»-
walin. Berlin, Springer, 1918.
51
Der Ausdruck Charakter nimmt die psychische Gesamtpersön-
lichkeit von der Affektseite aus, ohne daß sich natürlich die Intelli¬
genz an irgendeiner Stelle davon trennen ließe. Der Begriff Charakter
hat also ein großes Stück mit dem Begriff Konstitution gemeinsam,
nämlich den ererbten Teil der psychischen Qualitäten; er abstrahiert
dagegen von den körperlichen Korrelaten, die der Konstitutions¬
begriff mit umfaßt, während er andrerseits die exogenen Faktoren,
besonders die Erziehungs- und Milieuresultate als wichtigen Bestand¬
teil in sich schließt, die dem Konstitutionsbegriff fremd sind. —
Zudem pflegt man herkömmlich die schwer krankhaften Seelen¬
zustände nicht mehr als Charakter zu bezeichnen.
Außer dieser genau umschriebenen Bedeutung kann man den
Ausdruck Charakter auch allgemein für den Persönlichkeitsaufbau
gebrauchen, ohne auf die Unterscheidung von konstitutionellen und
exogen entwickelten Faktoren wesentliches Gewicht zu legen.
Der Ausdruck Temperament endlich ist für
uns zunächst noch kein geschlossener Begriff,
sondern ein heuristisches Kennwort, dessen Reich¬
weite wir jetzt noch nicht übersehen, das aber der Richtungspunkt
für eine wichtige Hauptdifferenzierung der biologischen Psychologie
werden soll. Wir stellen uns nämlich vorläufig einmal zwei inein¬
ander greifende Hauptwirkungskreise vor:
1. Die seeliechen Apparate, was man ungefähr auch
den psychischen Reflexbogen nennt, die Instanzen also, die, in wahr¬
scheinlich phylogenetisch gestaffeltem Instanzenzug, die bildliche
und vorstellungsmäßige Verarbeitung seelischer Reize vom Sinnes¬
eindruck bis zum motorischen Impuls vermitteln. Ihr körperliches
Korrelat sind die Gehirnzentren und -bahnen in unzertrennbarem Zu¬
sammenhang mit den Sinnesorganen und den Motilitätsinstanzen:
also der Sinnes-Gehirn-Motilitätsapparat.
2. Die Temperamente. Sie sind, wie wir empirisch
sicher wissen, blutchemisch, humoral mitbedingt. Ihr körperlicher
Repräsentant ist der Gehirn-Drüsenapparat. Die Tem¬
peramente sind derjenige Teil des Psychischen, der, wahrscheinlich
mit auf humoralem Weg, mit dem Körperbau in Korrelation steht.
Die Temperamente greifen, Gefühlstöne gebend, hemmend und an¬
treibend in das Triebwerk der „seelischen Apparate“ ein. Die Tem¬
peramente haben, soweit sich bisher empirisch übersehen läßt, offen¬
bar Einfluß auf folgende seelische Qualitäten 1) auf die Psych-
ästhesie, die Überempfindlichkeit oder Unempfindlichkeit gegen
seelische Reize: 2) auf die Stimmungsfarbe, die Lust- oder
4 *
52
Unlusttönung der seelischen Inhalte, vor allem auf der Skala heiter
und traurig; 3) auf das psychische Tempo, die Beschleuni¬
gung oder Hemmung der seelischen Abläufe im allgemeinen, wie auf
ihren speziellen Rhythmus (zäh festhaltend, plötzlich abspringend,
Sperrung, Komplexbildung); 4) auf die Psychomotilität,
und zwar sowohl auf das allgemeine Bewegungstempo (beweglich
oder behäbig), als auch auf den speziellen Bewegungscharakter (lahm,
steif, hastig, stramm, weich, rund usw.).
Dabei ist empirisch festzustellen, daß die Agenzien, die alle
diese Faktoren beeinflussen, offenbar auch bei der Bildung der An¬
se h a u u n g s - und Vorstellungstypen, bei dem, was-
man Intelligenz oder geistige Anlage nennt, ein wichtiges Wort mit¬
zureden haben, wie wir in den einzelnen Kapiteln, besonders an den
(felehrten und Künstlern des öftern gezeigt haben. In welcher Art
z. B. bei dem. was man abstraktes und anschauliches Denken,
optischen und akustischen Vorstellungstypus nennt, Temperaments¬
einflüsse und Struktureigentümlichkeiten spezieller Gehirnapparate
ineinander greifen, vermögen wir noch nicht zu übersehen. Zumal
die Möglichkeit offen bleiben muß, daß humorale Hormonwirkungen
auch am anatomischen Gehirnaufbau sowie am übrigen Körperbau
beteiligt sind, wodurch die ganze Frage eine geradezu schwindelnde
Kompliziertheit bekommt. Wir werden daher gut tun. den Tem-
peramentsbegriff zunächst um die psychischen Instanzen zu grup¬
pieren, die erfahrungsgemäß auf akute chemische Wirkungen
exogener (Alkohol, Morphium), wie endokriner Art besonders leicht
und häufig ansprechen, also vor allem Affektivität und allgemeines
psychisches Tempo.
Im einzelnen ist zur biologischen Grundlegung unserer Vor¬
stellungen von den Temperamenten folgendes zu sagen; das Ge¬
hirn bleibt zum mindesten Erfolgsorgan für sämtliche auf das
Temperament bezügliche Wirkungen, auch soweit sie vom Blut¬
chemismus ausgehen. Daß direkte Einwirkung auf das Gehirn
Temperamentsveränderungen einschneidendster Art hervorbringen
kann, zeigt die experimentelle Erfahrung an den Gehirntraumatikem*
Man muß diese Selbstverständlichkeit besonders unterstreichen,
damit wir nicht gleich von der hirnanatomischen in die humorale Ein¬
seitigkeit verfallen, wozu gerade bei der jetzigen Modeströmung Ge¬
fahr ist. Wie weit neben dieser Eigenschaft als Erfolgsorgan das
Gehirn auch primäre aktive Funktionen beim Zustandekommen solcher
psychischer Qualitäten, wie der Stimmungsfarbe und des allge¬
meinen psychischen Tempos, hat. werden wir heute nicht entscheiden
53
wollen. Bezüglich der verschiedenen sensorischen und psycho¬
motorischen Funktionstypen, der Typen der Vorstellungs- und An¬
schauungsbildung werden wir erst recht noch keine Antwort suchen
auf die Frage: was ist von diesen verschiedenen seelischen Funk¬
tionstypen in anatomisch geschiedenen Gehimapparaten repräsentiert
und was beruht nur auf Umschaltungen desselben Apparats durch
verschiedene chemisch humorale Einflüsse. Wir werden es aber
schon für einen Gewinn halten, uns diese Fragestellung überhaupt
einmal formuliert zu haben. Die einseitige Denkrichtung, die
letzthin alles Seelische in Gehirnzentren unterzubringen geneigt
wäre, wird dadurch wesentlich modifiziert. Jedenfalls ist es keine
Fragestellung, die müßig aus der Luft gegriffen wäre, sondern sie
wird durch den Gang unserer empirischen Untersuchungen im Ver¬
lauf dieses Buches geradezu aufgedrängt.
Nun zu den inneren Drüsen. Daß das endokrine System
auf die Psyche, speziell die Temperamentsqualitäten wesentlichen
Einfluß hat, ist eine empirische Tatsache, die z. B. bezüglich der
Schilddrüse durch die ärztlichen Erfahrungen bei Kretinismus,
Myxödem, Cachexia strumipriva und Basedow, bezüglich der Keim¬
drüse durch das Kastrationsexperiment sichergestellt ist.
Wir sehen nun bei den großen schizothymen und zyklothymen
Temperamentsgruppen wiederum die Korrelation zwischen
Körperbau und Temperament, also gerade diejenige
biologische Beziehung, die uns auch bei den groben glandulären Aus¬
fallswirkungen so sehr in die Augen springt, wenn wir etwa den
Parallelismus zwischen psychischer Mißbildung und hypoplastischem
Körperbau bei den K r e t i n e n oder den Parallelismus zwischen dem
Längenwachstum der Extremitätenknochen und der psychischen
Temperamentsverschiebung bei den Frühkastraten und
Eunuchoiden beachten, also Dinge, die sich biologisch-gesetz¬
mäßig bis in die höhere Tierreihe verfolgen lassen. Bei der H y p o -
ph y se ist der Einfluß auf das Körperwachstum in der Akromegalie
besonders auffallend, auch parallele Temperamentseinflüsse sind
zweifellos bei manchen Akromegalen festzustellen, nur klinisch noch
nicht genügend herausgearbeitet. Vollends bei polyglandu¬
lären Syndromen sind die massiven Eingriffe der Drüsen¬
mißfunktion in den Körperbau, die Trophik der Gewebe, wie in die
psychische Funktionsfähigkeit deutlich sichtbar.
Der Gedanke ist sehr naheliegend, daß die großen, normalen
Temperamentstypen der Zyklothymiker und Schizothymiker in ihrer
empirischen Korrelation mit dem Körperbau durch ähnliche humorale
Parallelwirkung zustande kommen möchten, wobei wir natürlich
54
nicht einseitig an die Blutdrüsen im engeren Sinn, sondern an den
gesamten Blutchemismus denken müssen, wie er z. B„
wesentlich durch, die großen Eingeweidedrüsen, letzten
Endes durch jedes Körpergewebe überhaupt mitbedingt
ist. Wir werden an Stelle des einseitigen Parallelismus: Gehirn und'
Seele bewußt und endgültig den anderen: Soma und Psyche setzen,,
eine Denkweise, die ja überhaupt klinisch mehr und mehr sich ein¬
bürgert.
Zur Stütze der humoralen Betrachtungsweise der Temperamente
kommt weiter noch folgendes empirische Material von seiten der
endogenen Psychosen als der extremen Zuspitzungen der normalen
Temperamentstypen hinzu. Einmal die Tatsache, daß bisher beim
manisch-depressiven Irresein wie bei der Schizophrenie die h i r n -
anatomischen Befunde trotz sorgfältigsten Suchens nicht
sehr erheblich, bei den Zirkulären geradezu negativ gewesen
sind; soweit da und dort Himbefunde vorhanden sind, können sie
sehr wohl sekundär durch humorale Giftwirkung bedingt sein. Des¬
halb neigt sich auch die klinische Auffassungsweise dieser Psychosen,
immer mehr dem Humoralen zu.
Sodann haben wir bei der Schizophrenie eine Reihe von*
speziellen Tatsachen an Körperbau, Sexual¬
trieb und klinischer Yerlaufsweise herausgestellt,,
die alle zusammengenommen zum mindesten einmal für die-
Keimdrüse sehr belastend sind, wobei wir allerdings
keinesfalls an massive monosymptomatische Keimdrüsenstörungen
denken dürfen, die bekanntlich keine Schizophrenie machen, sondern'
wahrscheinlich an komplizierte Disfunktionen der Keimdrüse in
Korrelation mit dem endokrinen Gesamtapparat und dem Gehirn.
Vorläufig ist hier noch alle Vorsicht geboten, da ganz sichere Schlüsse-
auf Grund des empirischen Materials überhaupt noch nicht möglich
sind, besonders nicht in der Richtung, daß die Keimdrüse in jedem
Fall beteiligt sein müßte; wie denn sehr denkbar ist, daß verschiedene
endokrin-chemische Kombinationen dieselben psychotischen Wir¬
kungen haben könnten. Außer diesen sehr gehäuften keimdrüsen¬
verdächtigen Tatsachen sind uns in einzelnen Fällen auch körperliche
Befunde begegnet, die auf massive polyglanduläre Stö¬
rungen hinzuweisen scheinen. Diese massiven Befunde sind aber
sehr in der Minderzahl, stehen zudem psychiatrisch zum Teil auf der
Grenze, wo die feinere schizophrene Symptomatologie in die ein¬
fachen disglandulären Schwachsinnsformen und groben Verblödun¬
gen übergeht. Dagegen sind uns bei den Zirkulären solche-
55
somatischen Tatsachen, die sich zu den Wirkungen der Blutdrüsen im
engeren Sinne in Analogie setzen ließen, bis jetzt nicht begegnet,
sondern nur deutliche Beziehungen mit dem allgemeinen
Körperhaushalt, vor allem dem Körpergewicht und
Fettstoffwechsel. Möglicherweise wird man also hier, eine
humorale Ätiologie überhaupt vorausgesetzt, eher an andere Faktoren
des Blutchemismus, wie z. B. die großen Eingeweidedrüsen u. dgl.,
und nicht in erster Linie an die engeren Blutdrüsen zu denken haben.
In dieser Hinsicht ist auch bezeichnend, daß die uns bis jetzt
bekannten seelischen Wirkungen der einzelnen
Blutdrüsen sich vorwiegend auf der psych-
iisthetischen Skala bewegen, während sie in diatheti-
seher Hinsicht viel weniger eindeutig sind. Kastration hat z. B.
schon im Massenexperiment bei den Haustieren nicht sowohl Einfluß
auf die Euphorie als vielmehr sehr deutliche Wirkung auf das
psychästhetische Befinden im Sinne einer gewissen phlegmatischen
Temperamentsabstumpfung. Das Seelenleben der Eunuchoiden hat
mit gewissen schizoiden Gruppen engste Analogien (vgl. Fischer,
Hießen). Ebenso steht bei den groben Schilddrüsenausfällen des
Menschen im Kretinismus und Myxödem die psychästhetische Ab¬
stumpfung durchaus im Vordergrund. Umgekehrt macht Hyper¬
sekretion der Schilddrüse im Basedow eine exquisit hyperästhetische
Nervosität; und die Pubertätsstimmungen, die mit dem starken Ein¬
setzen der Keimdrüsenfunktion einhergehen, vor allem die typischen
Pubertätsaffekte: Pathos und Sentimentalität mit ihrem alternativen
und überspannten Charakter entsprechen qualitativ ganz gewissen
Proportionen der Schizothymiker.
Es fehlt zwar auch keineswegs an Beziehungen des engeren
endokrinen Systems zu den diathetischen Affekten (Involutions-
melancholie. Basedowpsychosen), doch sind diese viel weniger durch¬
gehend und bezüglich eines direkten Zusammenhanges schon deshalb
schwieriger zu beurteilen, weil akutere psychästhetische Verschie¬
bungen häufig sekundär mit intensiven Unlust- oder Lustempfindun¬
gen begleitet werden. Doch sei dem, wie ihm wolle.
Jedenfalls können wir uns vorläufig einmal leicht vorstellen, daß
das Temperament eines Menschen, abgesehen voir seinem Gehim-
zustand. von zwei großen chemischen Hormongruppen abhängig ist.
von denen die eine der diathetischen, die andere der psychästhe-
tischen Affektskala, allgemeiner gesagt, die eine den zyklothymen,
die andere den schizothymen Temperamentstypen korrespondiert.
Beim Gros der Durchschnittsmenschen wären diese beiden Hormon-
gruppen gemischt in wechselnden Verhältnissen vorhanden, während
die ausgesprochenen Zyklothymiker und Schizothymiker mit ihrer
einseitigen Verstärkung einer Hormongruppe entweder durch verein¬
zelte Vererbungsvarianten oder durch konsequente familienweise
Herauszüchtung entstünden.
(Anmerkung Max L ö w y: Vielleicht legt man diese Differenz
doch besser mit in eine solche der intermediären psychischen Schicht
und deren zerebraler Grundlagen als in eine der Hormongruppen
allein.)
Auf alle diese theoretischen Erwägungen darf man beim heuti¬
gen lückenhaften Bestand unserer Erkenntnisse kein großes Gewicht
legen. Es ist nur notwendig und förderlich, daß man sich diese ver¬
wickelten Gesichtspunkte einmal genau durchdenkt und die beim
heutigen Kenntnisstand nächstliegenden Denkmöglichkeiten zu vor¬
läufigem, jederzeit widerruflichem praktischen Gebrauch übernimmt.
Denn irgendeine noch so vage Vorstellung vom Zusammenhang der
Dinge macht sicli zwangsläufig zuletzt jeder Forscher, und wer als
reiner Empiriker ganz um das Nachdenken herumkommen will, der
fällt gerade in die schwärzeste Gehirnmythologie, wie man in früheren
Jahrzehnten leider gesellen hat. Deshalb werden wir uns vor jeder
Einseitigkeit und jeder dogmatischen Festlegung sorgfältig hüten und
in unserem Denken jederzeit Platz auch für direkte zerebrale Kausal¬
momente hinsichtlich der Temperamente wie des Körperbaues offen
lassen, auch wenn die humoralen Gesichtspunkte beim heutigen For¬
schungsstand zunächst die deutlicher greifbaren sind.
Viel wichtiger als die Theorie ist die Festhaltung der direkten
empirischen Resultate unserer Untersuchungen, von denen w ir einige
der wichtigeren in folgender Tabelle zusammenfassen:
Die Temperamente.
Zyklothymiker
Schizothymiker
Psychästhesie und
Stimmung
Diathetische Proportion
zwischen gehoben (heiter)
und depressiv (traurig)
Psychästhetische Proportion
zwischen hyperästhetisch (emp¬
findlich) und anästhetisch (kühl)
Psychisches Tempo
Schwingende Tempera¬
mentskurve zwischen
beweglich und behäbig
Springende Temperamentskurve
zwischen sprunghaft und zäh,
alternative Denk- und Fühl weise
Psychomotilität
reizadäqnat, rund,
natürlich, weich
öfters reizinadäquat: verhalten,
lahm, gesperrt, steif usw.
Affiner Körperbau
pyknisch
asthenisch, athletisch, dysplastisch
und ihre Mischungen
57
(S. 22. Der pyknische Typus auf der Höhe seiner Ausbildung im
mittleren Lebensalter ist gekennzeichnet durch die starke Um¬
fangsentwicklung der Eingeweidehöhlen (Kopf,
Brust, Bauch) und die Neigung zum Fettansatz am
Stamm, bei mehr graziler Ausbildung des Bewe¬
gungsapparates (Schultergürtel und Extremi¬
täten). Das grobe Eindrucksbild ist bei ausgeprägten Fällen sehr be¬
zeichnend: mittelgroße gedrungene Figur, ein weiches,
breites Gesicht auf kurzem, massivem Hals zwi¬
schen den Schultern sitzend; ein stattlicher Fettbauch wächst
aus dem unten sich verbreiternden, tiefen, ge¬
wölbten Brustkorb heraus.)
Die Temperamente treten also zunächst in die beiden großen
Konstitutionsgruppen der Schizothymiker und Zyklo-
t h y m i k e r auseinander. Innerhalb der beiden Hauptgruppen zeigt
sich eine weitere Zweiteilung, je nachdem das zyklothyme Tempera¬
ment habituell mehr nach dem heiteren oder mehr nach dem
traurigen Pol, das schizothyme mehr nach dem empfind¬
lichen oder nach dem kühlen Pol zu gelegen ist. Eine zahllose
Menge von individuellen Temperamentsschattierungen ergibt sich
nun schon aus der diathetischen und psychästheti-
schen Proportion,! h. aus dem Verhältnis, in dem sich inner¬
halb desselben Temperamentstypus die polaren Gegensätze gegen¬
einander verschieben, überschichten oder schwankend ablösen. wie
wir das früher gesehen haben. Außer nach den Proportionen
eines individuellen Temperaments fragen wir immer sogleich nach
seinen Legierungen, d. h. nach der Tönung, die der vorherr¬
schende Temperamentstypus durch andersartige Beimischungen im
Erbgang mitbekommen hat.
Dieser Reichtum von Schattierungen wird vermehrt durch die
Unterschiede des psychischen Tempos. Hier haben wir
allerdings bei den Zyklothymikern den empirischen Tatbestand, daß
die heiteren zugleich meist auch die beweglichen und die von den
Mittellagen nach der depressiven Seite zu gelegenen Temperamente
zugleich auch mehr die behäbig-langsamen sind. Wie uns das aus der
klinischen Erfahrung bezüglich der engen Zusammengehörigkeit zwi¬
schen heiterer Erregung, Ideenflucht und psychomotorischer Erleich¬
terung im manischen, von Depression, Gedanken- und Willenshem¬
mung im melancholischen Symptombilde schon länger bekannt ist.
Auch bei den gesunden zyklothymen Temperamenten gehört eine be¬
stimmte Stimmungslage mit einem bestimmten psychischen Tempo
58
vorwiegend zusammen, indem sich Heiterkeit und Beweglichkeit
gerne zum hypomanischen, Depressionsneigung und Langsam¬
keit zum schwerblütigen Temperamentstypus verbinden.
Dagegen sind bei den Schizothymikern ähnliche feste Beziehun¬
gen zwischen Psychästhesie und speziellem psychischem Rhythmus
nicht zu erkennen, indem wir auch bei den zarten Hyperästheti¬
kern oft erstaunliche Zähigkeit im Fühlen und Wollen, und umge¬
kehrt launische Sprunghaftigkeit auch bei stark abgekühlten Indo¬
lenten noch vorfinden. So daß wir also empirisch alle 4 Kombinatio¬
nen: empfindliche wie kalte Zähigkeit, sprunghafte Empfindsamkeit
wie launische Indolenz im schizothymen Formkreis antreffen.
Die Einzeldifferenzierungen der schizothy¬
men Temperamente haben wir ausführlich besprochen. Die
hyperästhetischen Qualitäten zeigen sich empirisch haupt¬
sächlich als zarte Empfindsamkeit, als Feinsinn gegenüber von Natur
und Kunst, als Takt und Geschmack im persönlichen Stil, als schwär¬
merische Zärtlichkeit gegenüber bestimmten Personen, als überleichte
Empfindlichkeit und Verletzbarkeit durch die alltäglichen Reibungen
des Lebens, endlich bei den vergröberten Typen, besonders bei den
Postpsychotikem und ihren Äquivalenten als komplexmäßiger Jäh¬
zorn. Die anästhetischen Qualitäten der Schizothymiker zei¬
gen sich als schneidende, aktive Kälte oder als passive Stumpfheit,
als Interesseneinengung auf abgegrenzte autistische Zonen, als „Wur¬
stigkeit“ oder als unerschütterlicher Gleichmut. Ihre Sprunghaf-
t i g k e i t ist bald mehr indolente Haltlosigkeit, bald mehr aktive
Laune, ihre Zähigkeit manifestiert sich charakterologisch in den
verschiedensten Varianten: stählerne Energie, störrischer Eigensinn,
Pedanterie, Fanatismus, systematische Konsequenz im Denken und
Handeln.
Die Variationen der diathetischen Temperamente
sind viel geringer, wenn wir von den starken Legierungen (Queru¬
lanten, Krakeeler, Ängstliche, trockene Hypochonder) absehen. Der
hypomanische Typus zeigt neben der eigentlich heiteren noch die
zornmütig flotte Stimmungslage. Er variiert zwischen dem rasch
sich aufschwnngenden Feuertemperament, dem flotten, großzügig-
praktischen Elan, der Vielgeschäftigkeit und der gleichmäßig sonni¬
gen Heiterkeit.
Die Psychomotilität der Z y k 1 o t h y m e n ist durch die
bald rasche, bald langsame, aber (von den schweren krankhaften
Hemmungen abgesehen) stets runde, n atürliche, dem Impuls
adäquate Form der Mimik und der Körperbewegungen ausgezeichnet.
59
Während wir bei den Schizothymikern überaus häufig psycho¬
motorische Besonderheiten antreffen, vor allem im Sinne der fehlen¬
den adäquaten Unmittelbarkeit zwischen psychischem Reiz und moto¬
rischer Reaktion, in Form der aristokratisch verhalte¬
nen, stark abgedämpften, oder der affektlahmen oder endlich
der zeitweilig gesperrten, steifen oder schüchternen Mo¬
tilität.
In ihrer komplexen Lebenseinstellung und Mi¬
lieureaktion geben die Zyklothymiker, wie wir gesehen
haben, hauptsächlich Menschen mit der Neigung zum Aufgehen in
Umwelt und Gegenwart, von aufgeschlossenem, geselligem, gemütlich
gutherzigem, natürlich-unmittelbarem Wesen, ob sie nun mehr flott
unternehmend oder mehr beschaulich, behäbig und schwerblütig er¬
scheinen. Es ergeben sich daraus u. a. die Alltagstypen des tat¬
kräftigen Praktikers und des sinnenfrohen Ge¬
nießers. Es ergeben sich bei den Hochbegabten u. a. die Typen
des breit behaglich schildernden Realisten und des gutmütig-
herzlichen Humoristen hinsichtlich des künstlerischen Stils, die
Typen des anschaulich beschreibenden und be¬
tastenden Empirikers und des volkstümlich verständlichen
Popularisators hinsichtlich der wissenschaftlichen Denkweise, und im
praktischen Leben die Typen des wohlwollenden, ver¬
ständigen Vermittlers, des flotten großzügigen
Organisators und des derbkräftigen Draufgängers.
Die Lebenseinstellung der schizothymen Tempera -
m e n t e dagegen neigt zum Autismus, zum Insichhineinleben. zur
Ausbildung einer abgegrenzten Individualzone, einer inneren, wirk¬
lichkeitsfremden Traum- oder Prinzipienwelt, eines pointierten Ge¬
gensatzes zwischen Ich und Außenwelt, zu einem gleichgültigen oder
empfindsamen Sichzurückziehen von der Masse der Mitmenschen oder
einem kühlen Hinwandeln unter ihnen, ohne Rücksicht und inneren
Rapport. Wir finden unter ihnen zunächst zahllose Defekttypen
V( m mürrischen Sonderlingen, Egoisten, haltlosen Bummlern und
Verbrechern: unter den sozial hochwertigen Typen finden wir die
Bilder des feinsinnigen Schwärmers, des weltfrem-
■Omi Idealisten, des zugleich zarten und kühlen Form-
aristok raten. Wir finden sie in Kunst und Dichtung als stil¬
reine Formkünstler und Klassizisten, als weltflüchtige R o -
»'antiker und sentimentale Idylliker, als tragische P a t h e t i -
k er bis zum krassen Expressionismus und tendenziösen
y *
•'«turalismus, endlich als geistreiche Ironiker und Sarkastiker..
60
Wir finden in ihrer wissenschaftlichen Denkweise gern einen Hang
zum scholastischen Formalismus oder zur philosophi¬
schen Reflexion, zum mystisch Metaphysischen und zum
exakt Systematischen. Von den Typen endlich, die ins
handelnde Leben einzugreifen geeignet sind, stellen die Schizothy-
miker, wie es scheint, besonders die zäh Energischen, Unbeugsamen,
Prinzipiellen und Konsequenten, die Herrennaturen, die heroi¬
schen Moralisten, die reinen Idealisten, die Fanatiker und
Despoten und die diplomatisch biegsamen kalten Rechner.
Wir fassen diese Spezialanlagen, so wie sie nach den bisherigen
Untersuchungen biologisch zusammenzugehören scheinen, in einer
Tabelle zusammen, betonen aber, daß die Tabelle nur die hochwerti¬
gen sozialen Plusvarianten und von diesen nur die wichtigsten, also
insgesamt einen Teilausschnitt aus den Gesamttemperamenten
umfaßt:
Spezialbegabungen.
Zyklothymiker
Schizothymiker
Dichter
Realisten
Pathetiker
Humoristen
Romantiker
Formkünstler
Forscher
Anschaulich
Exakte Logiker
beschreibende Empiriker
Systematiker
Metaphysiker
Führer
Derbe Draufgänger
Reine Idealisten
Flotte Organisatoren
Despoten und Fanatiker
Verständige Vermittler
Kalte Rechner
ln ihrem Buch: Psychologie der Zusammenhänge und Beziehun¬
gen, 1921, Berlin. Springer, stellt sich VeraStrasser (Zürich)
auf den Boden der Erlebnis- und Wertpsychologie und der Bezie-
hungswclt. geht „auf den Menschen in der Welt“ und „auf das ge¬
samte in der Wechselwirkung bestehende Beziehungsleben“ und leitet
daraus nebst vielem anderen ihre Lehre von der Dementia praecox ab.
S. (i u. 7: Jeder Mensch wird zum Menschen unter den Menschen, wenn er
sich der gebotenen Beziehungen bedient ... Es handelt sich um das Kennen¬
lernen des Menschen durch Feststellung seiner relativen Beziehungsart und
seiner absoluten Wege, seines Hin- und Herschwankens zwischen sich und der
Außenwelt, der tausend Möglichkeiten, die er zu verwenden vermag, der von
61
ihm und den anderen um dieselben aufgeworfenen Forderungen, der Vervoll¬
kommnung des Menschen durch Eingehen von richtigen Beziehungen, der Be¬
ziehungen, die den einen zum Durchschnitt, den andern zum Haltlosen, zum
Unsozialen, den dritten zum unsozialen Verbrecherischen, dann weiter zum
sozialen oder unsozialen leidenden Nervösen, zum gänzlich asozialen Psycho-
tiker führen. Aus den Annäherungs- und Distanzierungsversuchen, aus der Fähig¬
keit, sich mit der Welt zu vermischen und sich andrerseits aus den Vielen heraus¬
zusondern, aus der Fähigkeit, sich zu behaupten, abhängig zu sein, bis zur
klebrigen Gebundenheit zu versklaven, bildet sich der starke, der große, der
kranke, der gesunde, der durchschnittliche, der schwache Mensch usw. Der
Geisteskranke engt den Kreis seiner Erfahrungen ein, reduziert ihn, kennt das
verwickelte soziale Gefüge nicht, oder entflieht ihm nach Möglichkeit, ist be-
ziehungsarm, respektive beziehungsverarmt. Vera Strasser stellt der
Demenz der organisch Kranken, welche sie (S. 459) durch den Verlust von
Erinnerungsbildern und Gedächtnisstörungen charakterisiert erachtet, die
Dementia praecox gegenüber, und meint, bei dieser seien alle Funktionen, die
geprüft sein können, intakt. (Anmerkung Max L ö w y: Vgl. demgegenüber
•las von Kleist herausgestellte und in seinen Vorlesungen vielfach demon¬
strierte Versagen solcher Kranker bei Sprichworterklärung, Bedeutungs¬
verständnis, Bildverständnis, Bilderklärung, Begriffsunterscheidung und Be¬
griffswahl. sowie mein unfertiges Denken.)
Vera Strasser meint, diese Demenz sei dasselbe wie die
ganze Dementia-praecox-Person, wie die Krankheit überhaupt, und
drücke eine besonders charakterisierte Stellungnahme zur Außenwelt
aus. Diese Demenz ist eine Art Erkrankung an der Welt. Die Kul¬
turwelt verlangt vom Menschen eine gewisse Anteilnahme an ihr, eine
entsprechende Betätigung und Wechsehvirkung. All dies mangelt
der Dementia praecox. Das Gesamte der Dementia praecox zeigt ein
anderes oder gar kein Verhältnis zur ganzen Welt. Dieses andere
Verhalten läßt sich schon in die frühere Kindheit zurückführen. Wenn
auch die eigenartige Kindheit von allen Dementia-praecox-Forschern
Itetont und sogar in die Symptomatologie aufgenommen wurde —
aber auch nur in die Symptomatologie —, so hat man doch den
p raecox-demente n Charakter in diesem Sinne als Zen¬
trum wenig berücksichtigt. Wohl zog man des fertig modellierten
Charakters Symptome in Betracht, nicht aber die kontinuierliche Ge¬
staltungsarbeit des Kindes an seinem eigenen Wesen unter den
Wechsel- und Einwirkungen der Außenwelt. Die Demenz der De¬
mentia praecox ist das nämliche wie ein anderes Weltempfinden und
demnach auch dasselbe wie ein anders gewirkter Charakter (S. 460).
Der Ausdruck des Kindes, das ins Licht schaut, enthält etwas von
einer undefinierbaren Verwunderung. An einer Analogie gemessen
möchte man von religiösem Staunen reden. Das Kind nimmt die
Welt in jeder Beziehung restlos an, geht in ihr auf. Das Verwundern
62
aber bedeutet an sich schon Besitz von Werten. Durch Stöße der
Kultur und Kulturentwicklung erwacht der Begriff der Realität in
ihm und es kommt Nehmen und Geben, Anziehen und Abstoßen, Wäh¬
len und in der Folge Sich-selbst-abmessen an der Umgebung und als
eine von den daraus sich ergebenden Möglichkeiten das Empfinden
eines gelegentlich feindseligen Charakters der Welt hinzu. Ein Teil
der Verwunderung, der gesammelten Werte, wurde in diese obigen
Begriffe umgewertet; ein anderer Teil, der vom Tage der Geburt an
sich aufgespeichert habenden, widerstandslos empfangenen und abso¬
lut angenommenen Werte bleibt auch nach der Umwertung still, ver¬
borgen, latent. Dieses im Kinde latente, sich in ein allgemeines
Weltempfinden auflösende, aufgehende Verwundern hat durch die
Entwicklung der materiellen Kulturbegriffe eine Wandlung erfahren,
die sich im Kinde als natürliches Suchen nach Persönlichkeitsentfal¬
tung in der Auseinandersetzungswelt äußert. In ihr liegt die Er¬
höhung des Persönlichkeitsgefühles mit dem von vornherein angedeu¬
teten Persönlichkeitsideale inbegriffen. Diese Individualentfaltung tritt
dann in verschiedenen Varianten als Ersatz für das primäre, undefi¬
nierbare Verwundern, für das gleichsam religiöse Staunen, dieser all¬
gemeinsten psychischen Basis auf (S. 460). Das Kind freilich, das
von uns psychologisch erfaßt werden soll, befindet sich in einer fort¬
währenden Wandlung der Einstellung zur Welt, — das praecox-
dement sich benehmende Kind tritt uns geradezu in einer in sich ab¬
geschlossenen oder in einer offensichtlich feindseligen Einstellung
gegenüber. Davon geben uns im Grunde auch alle Krankengeschich¬
ten von später manifest praecox-dement gewordenen beziehungskran¬
ken Psychotikern Zeugnis. Die auffallenden Charakterzüge der De-
mentia-praecox-Kinder sind Zurückgezogenheit, Reizbarkeit, wache
Träume, bizarre Handlungen, Plan- und Ziellosigkeiten, gespannte mit
der Wirklicheit nicht rechnende Fiktionen und Ziele, kurz Beziehungs¬
unfähigkeiten bis zur völligen Beziehungslosigkeit. Während Reiz¬
barkeit die Feindseligkeit schon in sich enthält, weisen Zurückgezo¬
genheit, wache Träume, Ziellosigkeit, mit der geltenden Welt nicht
rechnende Pläne auf ein Sichabschließen von der Außenwelt hin.
ohne selbstverständlich die Feindseligkeit zu eliminieren.
In der Dementia praecox führt der Mangel an objektiven
Wechselbeziehungen zur Demenz. Sie ist das nämliche wie ein ande¬
res Weltempfinden und demnach auch dasselbe, wie ein anders mo¬
dellierter Charakter, dessen schließlicher Weg dahin leitet, sich von
der Welt gänzlich abzuwenden. Die Abwendung von der Realität als
Folge der Beziehungsunfähigkeit, des Beziehungsmangels: ..Abwen¬
dung von der Welt“. S. 461.
63
S. 4(52: Alle Fälle der Dementia praecox wären uns unzugänglich, wenn
wir ihre Psyche aus „einfachen“ Symptomen aufbauen wollten, um sie der¬
gestalt zu verstehen. Gehen wir aber von „zusammengesetzten“ Symptomen,
von der Gesamtheit des Charakters, also von der für die Dementia praecox
spezifischen Einstellung zur Welt aus, so muß man daraus die
übrigen Symptome deduzieren können. Der Autismus fügt sich von
selbst in den Begriff der Einstellung zur Welt, in unsere Auffassung von der
Demenz der Dementia praecox. Diese Einstellung zur Welt, dieses bis jetzt
Undefinierbare an der Dementia praecox haben andere Autoren in verschie¬
denen Teilstücken zu schildern und zu verstehen versucht. Deswegen sprechen
sie von Bewußtseinszerfall, von Dissoziation und von Spaltung der Persönlich¬
keit. von Affektstörungen, Dissimilation usw. Mit dem veränderten Inter¬
esse an der Welt bis zum absoluten Nihilismus dieser Interessen brauchen die
Affektivität und mit ihr die Assoziationen keine Beziehungen mehr zur Welt
zu unterhalten und scheinen inkongruent. Affekte und Assoziationen stehen
nur im Dienste der in sich abgeschlossenen Person und nur in ihrem Dienste.
Anmerkung Max L ö w y: Vgl. auch Heverochs Auffassung der Eigen¬
beziehung und der Depersonalisation als primäre Veränderungen im „Ichthum“,
UU3. und Jaspers nicht weiter analysierbares Wahnerleben, Schilders
Widersprochenheit der Inhalte und Akte, sowie meine Lehre vom unfertigen,
al»chluß- und bilanzunfähigen Denken, den Überleitungs- und Elektionsstörun-
gen, der Über- und Untererregbarkeit des Bemerkens, alles im unbemerkten
Fringe, und besonders Kretschmers psychästhetische Konstitution und
Temperamentslehre, sowie Bleulers, Jungs. „Freuds, Abrahams,
Adlers Lehren.)
Aufmerksamkeit setzt gleichfalls Interesse an der Außenwelt
voraus. Ebenso ist die Aufmerksamkeitsstörung bei der Dementia praecox
ableitbar aus dem alterierten Interesse an der Realität. Dabei ist zu beachten,
daß dort, wo die Aufmerksamkeit dem Gedankensystem der in sich abge¬
schlossenen Dementia-praecox-Person dient, sie völlig erhalten sein kann.
rS. 462 u. 463: Läßt sich vielleicht die Ambivalenz als Folge der
einfachen Symptome der Assoziations- und Affektstörpng verstehen? Daß die
Dinge gegensätzlichen Wert besitzen, erklärt doch nichts für die Ambivalenz
der Dementia praecox. Hauptsächlich bei der Berührung mit der Welt be¬
dienen sich die Dementia-praecox-Kranken der Ambivalenz. W 7 äre der Mensch
als ein in sich vollständig abgeschlossenes alleiniges Wesen auf die W T elt
gekommen, so müßte er immer mit sich selbst einverstanden sein. Er hätte
die Ambivalenz nie kennen gelernt. Da er jedoch die Welt als gleichsam
anderes Wesen sich gegenübergestellt sieht, ergibt sich aus dieser Be¬
ziehung das absolute Ja und das absolute Nein. Für die Dementia
praecox ist die Welt eine Durchgangsstufe zurück
zum eigenen Ich. Dabei denke man nicht an die „Regression“ (der
Psychoanalytiker), sondern an ein Zurückgehen mit progressiven, psychischen
Verarmungserscheinungen. Sie hat das absolute unerschütterliche Ja, das ab¬
solute unerschütterliche Nein nicht nur erlernt, sondern es wird ihr durch die
rein subjektive Verwendung dieses Jas und Neins zum Konflikt. Der Praecox-
Demente verspürt wie niemand die Gegensätze, welche die Welt als anderes
Wesen mit sich bringt, in sich. Dadurch, daß er sich den Gegensätzen nicht
anpassen, keinen Ausgleich zu finden vermag, werden sie für ihn verstärkt.
I
64
Seine Ambivalenz ist so, als ob in ihm er selbst und dazu das Aufdringliche
der Welt wäre.
S. 28: Der Psychotiker, der nicht nur einseitig, sondern auf seine Idee
vereinheitlicht orientiert ist, bedient sich selbstverständlich des ambivalenten
Denkens in ausgesprochenem Maße. Wenn die Ambivalenz in sich das Ja,
das Nein enthält, so ist der Negativismus eine Teilerscheinung und
enthält das momentane Nein, den momentanen Gegensatz. Negativismus ist
ein für jeden einzelnen Augenblick betontes Ablehnen der Außenwelt, ein
betontes Sichabschließen. und birgt die krasseste Absperrung gegen die Wirk¬
lichkeit in sich (S. 463).
S. 456: Jedem, der die Dementia praecox verfolgt, trete entgegen: ein
psychischer Mechanismus, der sich nicht abgrenzen läßt, der im Grunde das
ganze Ich des Kranken bildet, den Gesamt kranken, den man eigentlich
prognostisch verwertet, von dem die Krankheit ihren Namen trägt: „die De¬
menz, die allmähliche Verblödung in und zu den Be¬
zieh u n g e n“; die Verarmung der Beziehungen schreitet von Tag zu Tag
fort und ist eine in ihren kleinen Fortschritten nicht konstatierbare, sozusagen
nicht greifbare allgemeine psychische Reduktion, eine Veränderung des ge¬
samten Ich zur gesamten Außenwelt. Dieser Begriff der Dementia praecox
schließt den Autismus als zentralen Inhalt ein, bizarre Assoziationen, Inkon¬
gruenz der Affekte, Ambivalenz als gleichsam an der Peri¬
pherie liegende Erscheinungen. S. 456 werden angeführt:
die unberechenbaren sprunghaften, bizarren, die Wechselbeziehungen mit der
Welt als Voraussetzung nicht tragenden Assoziationen und die so¬
genannte Inkongruenz der Affekte. Affekte, die ein scheinbar
(weil nicht im Zusammenspiel mit den Zwecken der Außenwelt), isoliertes
Dasein führen; auch die Ambivalenz, das Denken und Handeln in Gegensätzen,
kann dazu gerechnet werden. S. 457 wird die Unverständlichkeit „Das große
Geheimnis, das die Dementia praecox uns darbietet“, sowie die Annahme, daß
bei der Dementia praecox der ganze Charakter von Tag zu Tag verändert, das
Gesamtverhältnis zur äußeren Welt ummodelliert wird, als Argument dagegen
verwertet, daß die Assoziationen, welche lediglich ein Mittel für das Aus¬
tauschverhältnis (sc. von Beziehungen) der Person und der Außenwelt seien,
eine primäre Störung erleiden. Die von innen heraus aus dem gesamten Per¬
sönlichkeitsgebilde mit seiner Vergangenheit und seinen zukünftigen gebauten
oder vorgebauten Zielen zu verstehende Assoziationstätigkeit ist bei der De¬
mentia praecox nicht gestört. Die Assoziationstätigkeit, das objektiv logische*
Denken hat seine Voraussetzung darin, daß es Zeit und Raum und den Neben¬
menschen berücksichtigt, sie geht aber in der Dementia praecox nach einer
subjektiven Logik, welche dann die genannten objektiven Merk¬
male ausschließt. Sie braucht von diesem Gesichtspunkte aus materiell an sich
nicht gestört zu sein. Im übrigen gehen viele Assoziationen bei sogar vor¬
geschrittenen bedenklichen Krankheitsfällen ihren normalen Weg. Außerdem
wissen wir, daß bei ein und demselben Kranken einmal sehr komplizierte
Assoziationsvorgänge ausfallen können, dann »wieder ganz einfache Asso¬
ziationsvorgänge nicht vorhanden sind, während die komplizierteren oder
solche, die früher, ja die überhaupt nicht vorhanden waren, nun auf einmal
auftreten können. (S. 458.)
8. 458: Der Begriff der Affektivit ä t , von der angenommen wurde,
daß sie frei flottieren könne, entstand infolge davon, daß wir Wissenschaft-
65
lieh zu sehr gewohnt sind, die menschlichen Lebensäußerungen und Hand¬
lungen zu zergliedern. Die Affektivität darf niemals losgelöst, für sich allein
betrachtet werden, sondern muß immer als durch und durch mit der ganzen
Persönlichkeit, mit allen Qualitäten ihrer Beziehungserfahrungen und mit der
ganzen schöpferischen Lebensaktion, gleichgültig ob letztere persönliche oder
allgemeine Werte in sich schließt, verbunden betrachtet werden.
Wenn die Affektivität der Dementia praecox frei flottierend, als ob sie
ein abgesondertes Leben führte, erscheint, so geschieht es deswegen, weil dem
Beobachter gerade die Zusammenhänge, die logischen Wechselwirkungen
zwischen diesen abgesonderten Affekten und der Außenwelt fehlen. Uns
können sogar Triebregungen und Triebhandlungen nur dann normal erscheinen,
wenn wir ihren logischen und lebenslogischen Zusammenhang entsprechend der
Beziehungswelt, wenn wir ihre Kausalverbindungen kennen. Bei der De¬
mentia praecox ist nur die sogenannte „Austauschaffektivität“
anders. Das Affektivitätsverhältnis zum eigenen Ich, gleichviel ob es dem
Beobachter für den zu beobachtenden Fall zweckmäßig oder unzweckmäßig
erscheint, ist erhalten, sowie das normale Handeln häufig dem Zuschauer nutz¬
los und inkonsequent vorkommt, während es sich doch beinahe starr dem nächst-
liegonden Ziele des Beobachteten zu wenden kann. Außerdem endlich gilt es
für die Dementia praecox als feststehende Tatsache, daß eine Zeitlang
felilende Affektivität unter Umständen völlig wieder vorhanden sein kann,
auch dies, wie alle oben angeführten Erwägungen ein weiterer Grund, die
Affektivität nicht als etwas Primäres im Krankheitsbilde des beziehungs¬
kranken Psychotikers zu betrachten (S. 459).
S. 459: Nach einem erneuten Hinweise auf die Unverständlichkeit der
momentanen Ausbruchserscheinungen der Dementia praecox und der eigen¬
artig erscheinenden Zusammenhangslosigkeit von deren psychischen Äuße¬
rungen mit der Totalität der Welt wird betont, daß es ja gerade die peripher
liegenden Austauschsymptome sind, die uns unverständlich erscheinen. Bei
der Dementia praecox darf die historische Struktur der Psyche, die Ich-
kontinuität, deren Wege, Ziele und Spannungen erfaßt sein müssen, nicht aus
dem Auge gelassen werden. Diese Ichkontinuität findet ihren Ausdruck bei der
Dementia praecox in ihrer sich stets erneuernden mehr und mehr von der Welt
sich abwendenden Einstellung, der Demenz. Es klingt fast paradox, die
Demenz, die man beim Kranken mit ungeschulten Augen nicht sieht, sondern
beständig ahnt, und welche man als Folge der Erkrankung betrachtet, als Auf¬
takt und Introduktion erkennen zu wollen.
Cber die psychologischen Grundlagen, von denen V e r a
Strasser ausgeht, ist oben (Kap. I) das Nötigste beigebracht wor¬
den. Da ich auch auf das die Dementia praecox betreffende des Ge¬
naueren nicht mehr zurückkommen möchte, sei hier gleich einiges zu
Vera Strassers Grundlegung der Dementia praecox angemerkt.
Es liegt hier ein höchst radikaler Versuch vor, unter einem einzigen
Gesichtswinkel, sowohl die gesamte Psychologie als in den Lebens¬
beziehungen des ganzen Menschen gegeben, wie auch die Neurosen
und Psychosen als Beziehungsstörungen und insbesondere die Psy-
L o e w y . Dementia praecox. (Abhandlungen H. 2(0 5
66
chosen als Beziehungsverarmung und endlich die Dementia praecox
als Beziehungsarmut und Beziehungsverarmung von Haus aus zu er¬
fassen. Nun leuchten in dem großen Büche trotz Bekämpfung der be¬
treffenden Anschauungen (zum Teil ohne Nennung des Autors) fast
überall tiefenpsychologische Auffassungen durch. So Bleulers
Rapportmangel, Selbstabsperrung und Selbsteinspinnung, Jungs
Introversion und Inversion, Freuds und AlfredAdlers Flucht
aus der Realität und in die Krankheit, Adlers vorbauende Siche¬
rungstendenzen, Freuds Narzißmus usw., was wohl schon die hier
gegebene abrupte Darstellung zeigen kann.
Ebenso zeigt Vera Strassen Lehre Beziehungen zu der von
Erwin Stransky über die intrapsychische Ataxie, und wohl
auch recht nahe zu den älteren und jüngeren nordischen Lehren von
Bror Gadelius, Frey Svenson und Viktor W i g e r t
über Eigengeltungsgefühle und Abhängigkeitsgefühle, zu der Lehre
von A. Store h und nach ihm R. Stern über Selbstwert und
Selbstwertsucher, wie zur Lehre vom Ressentiment und der
Entwertungstendenz und vor allem teils Beziehungen, teils
Widerspruch zu F r e u d s dynamisch-psychologischer Entwicklungs¬
lehre von den drei Triebstufen in den drei Abhandlungen zur Sexual¬
theorie: Die erste Unterscheidung von Innen und Außen, von „Ich-
Subjekt und Außenwelt-Objekt“ durch den Säugling daran, daß sich
äußerer Reiz und äußere Unlust primär durch motorische Akte, Flucht
oder Wegstrampeln beheben lassen. Dann die Lust- und Unluststufe
des .,purifizierten Lust-Ichs“, indem das kleine Kind alle Unlust als
von außen kommend behandelt, bis es endlich die „Objektstufe“ er¬
reicht, auf welcher die Lust und Unlust als dem Ich zugehörig er¬
kannt und die Objekte der Außenwelt dem Ich gegenübergestellt wer¬
den. Vgl. auch oben mein „orientierendes Denken“ und die Gegen¬
standswelt, die Gegenwelt U e x k ü 11 s bei differenzierteren Organis¬
men gegenüber der bjoßen Umwelt (Merkwelt und Wirkungswelt ohne
intra-psychische Verbindung) bei primitiveren Organismen. Gegen
die Anschauung, daß die Aufmerksamkeit, die Auffassung, Sprache
und logisches Denken bei der Dementia praecox nicht gestört seien
„außer durch die Subjektivität“, scheinen mir zu entscheiden: Fest¬
stellungen Kleists über Störungen der Begriffsbildung, Begriffs¬
scheidung und Begriffswahl (paralogisches Denken) und dadurch,
sowie durch Verwandtes erzeugte Fehlbeziehungen in seiner Schizo¬
phrenie engeren Sinnes, die Unfähigkeit zur richtigen Wortwahl bei
der Schizophasie mit Wortneubildungen und seine experimentellen
Feststellungen über Störungen der Begriffsunterscheidung, des Bild-
67
Verständnisses, der Sprichworterklärung und Bildererklärung bei bei¬
den, wie auch bei anderen Formen von Dementia praecox, auch wenn
sie ganz geordnet erscheinen. Ebenso spricht gegen Vera Stras¬
se r: meine Lehre von den Störungen des Bemerkens (1908 und 1909)
von den Fringe-Bruchstücken, welche bei Störung des normalen
Denkablaufes auftauchen (1910), von den Überleitungsstörungen und
Elektionsstörungen im Fringe (1910, 1911) und vom unfertigen Den¬
ken (1918) auch als Erklärung für die Ambivalenz, weiter meine
Lehre von der Störung der Mitbewegungen als Ursache von Einfüh¬
lungsstörungen und Rapportmangel, welche Störung der Mitbewegun¬
gen unbemerkt im Beobachter als Folge der Störung der Ausdrucks¬
bewegungen der Kranken entsteht (1912); weiter auch meine Lehre
von den Überleitungsstörungen im Fringe auch als Ursache des Man¬
gels an Ablösbarkeit des Denkens mit konsekutiver Störung der Mo¬
dulationsfähigkeit des Denkens (Marienbader Vortrag 1919): was
alles für eine Auffassung der Beziehungsverar¬
mung als „sekundäre“ Erscheinung sehr in die Wag¬
schale fallen könnte. Es könnten sowohl eine Übererregbarkeit des
Bemerkens, als auch eine Schwererweckbarkeit des Denkens (Stö¬
rung des Fortschreitens im Gedankengange durch Überleitungsstö-
nmg im Fringe, und Untererregbarkeit des Bemerkens), (Marien¬
bader Vortrag 1919): primär die Modulationsfähigkeit des Den¬
kens und damit die Lebensbeziehungen sekundär stören, oder es könn¬
ten primäre Störungen der Einstell- und Mitbewegungen usw. viel¬
leicht kausal zur Beziehungsverarmung stehen. (Beziehungs¬
unfähigkeit der Dementia praecox ist „Übertragungsunfähigkeit“ und
Einfühlungsunfähigkeit aus Denkstörung oder Motilitätsstörung.)
Vor allem wird man in der „Demenz“ nach Vera Strasser, d. i.
in der ..Beziehungsverarmung“, sei diese Verarmung nun primär
oder sekundär, doch nicht glattweg einen „Ausdruck der Erhaltung
der I c h k o n t i n u i t ä t“ erblicken dürfen, — im allgemeinen gilt
ja ..schizophrene Demenz“ als Persönlichkeits z e r f a 11 —: außer
man übersetzt „Demenz“ mit „Ichlibido“ (Autoerotismus, Narzi߬
mus). was Freud gewiß nicht gemeint hat.
Es wird weiter, trotz Vera Strasser, noch vieler Arbeit be¬
dürfen, um festzulegen, welche Bedeutung die Konstitution, sowohl
die psychische als die körperliche insbesondere endokrine, die Tem¬
peramente und die Charakteranlagen der Kindheit, die Freud sehen
Triebabbiegungen und Triebfixierungen schon der frühen Kindheit,
öer Narzißmus und die Regression auf den Narzißmus usw. für die
Dementia praecox und ihre Beziehungswelt haben.
5*
68
Vergleiche hierzu auch Karl Abraham „Klinische Beiträge zur Psycho¬
analyse 1907—1920“ (Internat, psychoanalytischer Verlag. 1921. Beitrag Nr. III:
„Die psychosexueilen Differenzen der Hysterie und der Dementia praecox“ r
S. 24 und 25). Das soziale Verhalten des Menschen beruht auf der Fähig¬
keit der Anpassung; diese ist aber eine sublimierte Sexualübertragung.
Zwischen Menschen entsteht nach einer gewissen Dauer des Beisammenseins
ein positiver oder negativer psychischer Rapport, der sich im Gefühle der
Sympathie oder Antipathie äußert. Die Gefühle der Freundschaft, der see¬
lischen Harmonie erwachsen auf diesem Boden. Das Verhalten eines Menschen
im sozialen Verkehr entspricht durchaus seiner Art, auf die sexuellen Reize
zu reagieren. Hier wie dort zeigen die gleichen Menschen sich leichter oder
schwerer zugänglich, derb oder feinfühlig, wählerisch oder anspruchslos.
Was wir im Auftreten des einen als steif, linkisch, eckig, im Auftreten
des andern als graziös, gewandt usw. bezeichnen, ist Anzeichen seiner ge¬
ringeren oder größeren Anpassungsfähigkeit, d. h. Übertragungsfähigkeit (S. 25).
8. 25: Der Mensch überträgt seine Libido nun aber nicht allein auf
lebende, sondern auch auf leblose Objekte . . . „der Mensch sexualisiert das
All“ . . wie K 1 e i n p a u 1 (Stromgebiet der Sprache, S. 468) sagt. Aus
der gleichen Quelle entspringt die Sexualsymbolik der Sprache, der wir im
Traume und in den psychischen Störungen wieder begegnen ... die Ge¬
schmacksrichtung in der Wahl von Gegenständen . entspricht durchaus dev
sexuellen Objektwahl.
S. 27: Während die Vorstellungen des gesunden Menschen von
adaequaten Gefühlen begleitet sind, fehlt den Vorstellungen dieser Kranken die
adäquate Gefühlsübertragung. Wir haben aber alle Gefühlsübertragung auf
die Sexualität zurückgeführt. Wir kommen zu dem Schluß, daß d i e
Dementia praecox die Fähigkeit zur S e x u a1 Über¬
tragung, zur Objektlibido, vernichtet.
. . . Bei Kranken mit Dementia praecox vermissen wir in der Regel die
Zuneigung zu den Angehörigen. Wir finden Gleichgültigkeit oder ausge¬
sprochene, in Verfolgungswahn übergehende Feindschaft (S. 28). Wie die
psychoanalytische Untersuchung ergibt, ist eine heftige Feindschaft bei Geistes¬
kranken sehr oft an Stelle einer vorherigen überschwenglichen Liebe getreten.
Diese Abkehr der Libido von einem Objekt, auf welches einstmals mit be¬
sonderer Intensität übertragen wurde, ist bei der Dementia praecox unwider¬
ruflich.
In der Anamnese unserer Patienten heißt es überaus häufig: Er (oder sie)
war von jeher still, neigte zum Grübeln, mied Geselligkeit und Vergnügungen,
war nie recht fröhlich wie andere. Solche Personen hatten also von jeher
nicht die rechte Fähigkeit, ihre Libido auf die Außenwelt zu übertragen.
Diese Personen bilden später die unsozialen Elemente in den Anstalten. Ihren
Worten fehlt der Gefühlsinhalt. Sie sprechen vom Allerheiligsten und vom
Nichtigsten mit dem gleichen Tonfall, mit der gleichen Mimik, nur w r enn wir
im Gespräch den Komplex berühren, gibt es mitunter eine Reaktion des
Affektes, welche sehr heftig sein kann.
S. 29: lm Verkehr mit den Patienten bemerken wir die mangelnde Über¬
tragung auch sonst. Wir sehen sie nie wirklich heiter. Sie haben keinen
Sinn für Humor, ihr Lachen ist oberflächlich oder krampfhaft oder grob
erotisch, aber niemals herzlich. Oft bedeutet es auch nicht etwa Heiterkeit,
69
sondern zeigt nur an, daß der Komplex getroffen ist; dies gilt z. B. für das
stereotype Lachen der Halluzinierenden, denn die Halluzinationen betreffen
stets den Komplex. Das Auftreten der Kranken wird ungewandt und steif;
es zeigt das Fehlen der Applikation an die Umgebung besonders deutlich.
Kraepelin spricht sehr bezeichnend von einem „Verlust der Grazie“. Das
Bedürfnis, ihre Umgebung behaglich und freundlich zu gestalten, geht den
Kranken verloren, wie die Anhänglichkeit an Tätigkeit und Beruf: Die
Kranken versinken gerne in sich und — was mir besonders charakteristisch
scheint — sie kennen keine Langeweile.
S. 30: In sehr vielen Fällen betrifft die Störung nicht nur jene feineren
sozialen Sublimierungen, die sich im Laufe des Lebens allmählich heraus¬
gebildet haben, sondern auch diejenigen, welche in früher Kindheit entstanden
sind: Scham, Ekel, moralische Gefühle, Mitleid usw. Eine genaue Unter¬
suchung dürfte wohl in jedem Falle von Dementia praecox ein wenigstens
teilweises Erlöschen dieser Gefühle ergeben. In allen schweren Fällen ist
die Störung ohne weiteres wahrnehmbar ... In dasselbe Gebiet gehört auch
die Hemmungslosigkeit, mit welcher viele Kranke über Intimitäten ihres Vor¬
lebens sprechen. Sie stoßen auf diese Weise nur Reminiszenzen von sich ab.
die Wert und Interesse für sie verloren haben. Daß auch das Mitgefühl
schwindet, zeigt uns besonders das Verhalten der Kranken angesichts grau¬
samer Handlungen, die sie selbst begangen haben. Ich sah einmal einen
solchen Kranken, wenige Stunden nachdem er einen harmlosen Nachbarn
erschossen und seine Frau schwer verletzt hatte, mit aller Seelenruhe von den
Motiven der Tat und von dieser selbst erzählen und dabei das ihm gereichte
Essen behaglich verzehren. Wir lernen aus dem Bisherigen zwei Reihen von
Erscheinungen kennen: Die einen zeigen, daß die Libido von belebten und
unbelebten Objekten abgekehrt wird, die andern zeigen den Verlust der durch
Sublimierung entstandenen Gefühle. Die Dementia praecox führt
also zur Aufhebung der Objektliebe und der Subli¬
mierung. Einen solchen Zustand der Sexualität kennen wir sonst nur in
der frühen Kindheit. Wir benannten ihn mit Freud: „Autoerotismus“. Auch
in dieser Zeit fehlen Objektbesetzung und Sublimierung. Die psychosexuelle
Eigenart der Dementia praecox besteht somit in Rückkehr des kranken
Individuums zum Autoerotismus. Die Symptome der Krankheit sind eine
Form autoerotischer Sexualbetätigung. (S. 31.)
S. 31: Selbstverständlich soll nicht gesagt sein, daß jede sexuelle Er¬
regung der Kranken rein autoerotisch sein muß. Wohl aber ist jede Neigung
der Kranken zu einer andern Person, sozusagen von der Blässe des Auto¬
erotismus angekränkelt. Wenn wir bei einer weiblichen Kranken eine an¬
scheinend sehr starke, ja stürmisch sich äußernde Liebe bemerken, so wird
uns zugleich jedesmal der Mangel an Schamgefühl in der Äußerung auf fallen.
Der Verlust des Schamgefühls als eines Sublimierungsproduktes bedeutet für
uns aber einen Schritt in der Richtung zum Autoerotismus. Ferner sehen
wir diese Kranken sich rasch und wahllos in eine Person verliehen, diese aber
ebenso, rasch gegen eine andere vertauschen. In der Anstalt sind immer ge¬
wisse Frauen in den jeweiligen Arzt verliebt; bald hat jode von ihnen den
Wahn, mit dem Arzt verlobt oder verheiratet zu sein, glaubt sich von ihm ge¬
schwängert usw., sieht in jedem Wort von ihm ein Zeichen der Liebe. Geht
der Arzt fort, so tritt im Gefühlsleben jener Patientinnen sehr rasch der Nach-
70
folger an seine Stelle. Die Kranken sind also wohl noch imstande, ein sexuellem
Bedürfnis auf eine Person zu projizieren, aber nicht mehr zur wirklichen Appli¬
kation an die geliebte Person fähig. Andere Patientinnen pflegen jahrelange
eine imaginäre Liebe; diese existiert nur in ihrer Phantasie — das Sexual¬
objekt haben sie vielleicht nie gesehen; in Wirklichkeit sperren sie sich gegen
jede Berührung mit einem Menschen ab. Kurz irgendeine Äußerung des
Autoerotismus ist stets nachweisbar.
S. 32: Der Kranke, der seine Libido von den Objekten abkehrt, setzt
sich damit in einen Gegensatz zur Welt. Er allein steht nun einer Welt, die^
ihm feindselig ist, gegenüber. Es scheint, als ob die Verfolgungs¬
ideen (die Abkehr der Libido von der Außenwelt ist die Grundlage für die
Bildung des Verfolgungswahns im allgemeinen) sich besonders gegen diejenigen
Personen richten, auf welche der Patient einstmals seine Libido in besonderem
Grade übertragen hatte, ln vielen Fällen wäre also der Verfolger ursprünglich
Sexualobjekt gewesen und der Verfolgungswahn hätte einen erogenen Ursprung.
Im Autoerotismus der Dementia praecox liegt nun nicht bloß die Quelle
des Verfolgungswahns, sondern auch die des Größenwahns. Der Kranke ist
sein einziges Sexualobjekt, die Sexualüberschätzung (die sonst auf andere
übertragen wird) gilt nur ihm selbst. Sie nimmt gewaltige Dimensionen an,
bedeutet er sich doch selbst die Welt. „Die auf das Ich zurück-
gewandte reflexive oder autoerotische Sexualüber¬
schätzung ist die Quelle des Größenwahns bei der
Dementia praeco x.“ Verfolgungswahn und Größenwahn sind eng
miteinander verknüpft. Jeder Verfolgungswahn bei der Dementia praecox
enthält implizite den Größenwahn (S. 32).
S. 32: Der Kranke geht in der autoerotischen Selbstabsperrung (gegen
die Außenwelt auch in bezug auf das rezeptive Verhalten) so weit, daß er die
Außenwelt gewissermaßen boykottiert. Er produziert nicht mehr für sie und
bezieht nicht mehr von ihr. für die Lieferung der Sinneseindrücke erteilt er
sich selbst das Monopol.
S. 33: Die paralytische Demenz, desgleichen die senile, zerstört die
intellektuellen Fähigkeiten von Grund aus, sie führt zu groben Ausfalls¬
erscheinungen. Die epileptische Demenz führt zu einer außerordentlichen Ver¬
armung und Monotonie des Vorstellungslebens, zu einer Erschwerung der Auf¬
lassung. Die Veränderungen bei diesen Krankheiten sind höchstens eines zeit¬
weisen Stillstandes fähig, im allgemeinen aber progressiv. Die „Demenz“ bei
der Dementia praecox hingegen beruht auf Gefühlsabsperrung, die intel¬
lektuellen Fähigkeiten bleiben erhalten: das oft behauptete Gegenteil ist wenig¬
stens noch nie erwiesen worden. (Anmerkung Max L ö w y: Siehe dagegen
Kleists Versuche, auch bei Patienten, die sich mit Sprichwort- und Bilder¬
erklärung sichtlich Mühe geben und doch dabei versagen.) Infolge auto-
erotischer Absperrung nimmt der Kranke nur keine neuen Eindrücke auf und
reagiert auf die Außenwelt gar nicht oder in abnormer Weise. Der Zustand
kann sich jederzeit lösen, die Remission kann einen solchen Grad erreichen,
daß kaum mehr der Verdacht eines intellektuellen Defektes entsteht.
S. 34: Wie die psychosexueile Konstitution der Hysterie (mit über¬
mäßiger Objektbesetzung und gesteigerter Sublimierung) ist auch die der
Dementia praecox (Abkehr der Libido und Verlust der SublimierungsfühigkeitV.
angeboren.
71
Die psyehosexuelle Konstitution der Dementia
praecox beruht auf einer Entwicklungshemmung (bei
Kindheitserkrankung manifester Art pathologisches Verharren beim Auto¬
erotismus).
S. 34, 35: Die Hemmung der psychosexueilen Entwicklung äußert sich
nicht nur darin, daß das Individuum den Autoerotismus nicht vollkommen
überwindet, sondern auch in einem abnormen Persistieren der Partialtriebe:
Fütterung mit der Schlundsonde wird von einem autoerotisch-negativistischen
Kranken als ein päderastischer Akt des Arztes und dieser als ein homo¬
sexueller Verfolger angesehen. Hier finden wiy in einem Beispiel die
Äußerung des homosexuellen Partialtriebes, dessen Verschiebung von der
analen Zone auf eine andere erogene Zone („Verlegung nach oben“ Freuds),
und den erogenen Ursprung einer Verfolgungsidee (S. 35).
S. 35: Vielleicht verhilft uns die Methode der analytischen Forschung
aber auch zur Klarheit über die intellektuellen Störungen im Krankheitsbilde
der Dementia praecox, von deren Verständnis wir heute noch weit entfernt sind.
1911, 1912 (reproduziert ibidem) in der Arbeit „Ansätze zur psycho¬
analytischen Behandlung des manisch-depressiven Irreseins und verwandter
Zustände“ führt Abraham S. 97 aus: Beim Zwangsneurotiker (in den
schweren, ausgeprägten Fällen) kann die Libido sich nicht in normaler Weise
entfalten, weil zwei verschiedene Tendenzen — Haß und Liebe — einander
dauernd beeinträchtigen. Die Neigung zur feindseligen Einstellung auf die
Außenwelt ist so groß, daß die Liebesfähigkeit auf das äußerste herabgemindert
ist. Gleichzeitig aber wird der Zwangsneurotiker durch Verdrängung des
Hasses (oder allgemein gesagt: der ursprünglich überwiegenden sadistischen
Komponente seiner Libido) schwach und energielos. Eine ähnliche Unsicher¬
heit besteht bei der Objektwahl in bezug auf das Geschlecht des Objektes.
Die Unfähigkeit der Libido eine bestimmte Einstellung zu geben, führt zu einem
allgemeinen Gefühl der Unsicherheit, weiterhin zur Zweifelsucht; der Zwangs¬
neurotiker vermag keinen Entschluß zu fassen, keine klare Entscheidung zu
treffen — leidet in jeglicher Situation unter Gefühlen der Insuffizienz und
steht dem Leben hilflos gegenüber.
S. 101: Die Zwangsneurose schafft an Stelle der unerreichbaren Sexual¬
ziele E r s a t z z i e 1 e ; die Betätigung im Sinne dieser letzteren ist mit
den Erscheinungen des psychischen Zwanges verbunden. Anders ist der Vor¬
gang bei den depressiven Psychosen (die ebenfalls von einer das Liebes-
vermögen paralysierenden Haßeinstellung ihren Ursprung nehmen), zu dem
Verdrängungsprozeß gesellt sich hier der Vorgang, welcher uns besonders aus
der Psyehogenese gewisser Geistesstörungen unter dem Namen „Projektion“
bekannt ist.
$. 301: Zur narzistischen Bewertung der Exkretionsvorgänge (in „Traum
und Neurose, 1920“): Die ursprünglichste und tiefste Beziehung zwischen
Sadismus und Analerotik ist zweifellos darin zu erblicken, daß die mit der
Analzone verknüpften passiven Sexualgefühle zusammen mit den aktiv-
sadistischen Impulsen ein Triebpaar bilden, das die Vorstufe des späteren
Gegensatzes von männlich und weiblich darstellt. Die beim Zwangsneurotiker
besonders ausgeprägte Ambivalenz des Trieblebens wurzelt in dieser engen
Verbindung aktiver und passiver Antriebe. (Die doppelte — aktive und passive
— erogene Bedeutung der Analzone hat Federn bereits 1914 in seinen Bei-
tragen zur Analyse des Sadismus und Masochismus erörtert. Internat. Zeit-
sclirift für Psychoanalyse. II. Jg., S. 125.)
S. 97: In den Bemerkungen zu einem autobiographisch beschriebenen Fall
von Paranoia (Jahrb. f. psychoanalytische Forschung, Bd. III) gibt Freud
eine bestimmte Formulierung über die Psychogenese der Paranoia. In kurzen
Formeln präzisiert er die Stadien, welche bis zur Bildung des paranoischen
Wahnes durchlaufen werden (1. c. S. 55 f.). Auf Grund meiner Analysen de¬
pressiver Geistesstörung möchte ich hier eine ähnliche Formulierung für die
Genese der depressiven Prozesse zu geben versuchen. Freud sieht — min¬
destens in einem großen Teil der Fälle von paranoischer Wahnbildung — den
Kern des Konfliktes in der homosexuellen Wunschphantasie, ein Individuum
des gleichen Geschlechtes zu lieben (Formel: Ich [ein Mann] liebe ihn [den
Mann]). Der Verfolgungswahn erhebt Widerspruch gegen diese Einstellung,
indem er laut proklamiert: „ich liebe ihn nicht, ich hasse ihn ja u . Da die
innere Wahrnehmung bei der Paranoia durch eine Wahrnehmung von außen
ersetzt wird, so wird der eigene Haß als eine Folge der von außen her er¬
duldeten Gehässigkeiten hingestellt. Die dritte Formel lautet nun: „Ich liebe
ihn ja nicht — ich hasse ihn ja — weil er mich verfolgt.“
In den depressiven Psychosen verbirgt sich ein anderer Konflikt.
Er nimmt seinen Ausgang von einer überwiegenden Haß-Einstellung
der Libido, die sich zuerst den nächsten Angehörigen gegenüber gel¬
tend macht, sich dann aber verallgemeinert.
S. 111: Erinnert sei besonders daran, daß wir zwar zu erkennen ver¬
mochten. bis zu welchem Punkt in der Psychogenese Zwangsneurose und
zirkuläre Psychose miteinander übereinstimmen, daß wir aber nichts über die
Ursache ermittelt haben, warum von diesem Punkte an die eine Gruppe von
Individuen diesen, die andere jenen Weg beschreitet.
Wir sehen liier also die „Beziehungsverrückung“ der Psychosen
tiefenpsychologisch und charakterologisch aufgefaßt: z. B. Verfol-
gungs- und Größenwahn als Abkehr der Libido oder als Verkehrung
derselben in Haß usw. bei Autoerotismus (Narzißmus) resp. Sadis¬
mus oder Homosexualität. Daß fast alle charakterologischen Lehren,
von welchem Standpunkte immer sie ausgehen, Berührungspunkte
miteinander haben, zeigte wohl schon die bisherige Darstellung. Es
läßt sich kurz verdeutlichen:
Wenn man nämlich von der genetischen Betrachtungsweise ab-
selien könnte und dürfte, w*ie ähnlich erschienen dann vielleicht: ge¬
wisse schizoide abnorme Charaktere; Freud und Adlers Fälle
von Flucht aus der Realität und vor dem Leben; Jungs Introver¬
tierte und Invertierte; Bleulers Autistische; Abrahams Über¬
tragungsunfähige; und die Narzißtischen Freuds mit der von ihnen
larviert und symbolisiert erstrebten Allmacht des Ich und Allmacht
der Gedanken: Kr a epelins und Dromards infantilistisches
73
Denken der Paranoiker; Alfred Adlers Menschen der starren
Richtlinie aus Kompensation der selbstgefühlten Minderwertigkeit;
Vera Strassers Beziehungsarme und Beziehungsverarmte;
Kretschmers psychästhetische Proportion aus unaufschließ-
barer Kälte und Reizbarkeit der schizoiden Temperamente;
Kretschmers Sensitive mit Verhaltung, d. i. mit dem Leitungs¬
defekt; Max L ö w y s (1908, Hypochondrie) egozentrischen Queng¬
ler und Nörgler mit Scheuklappen für die Rechte der anderen und be¬
sonderer Besorgtheit um das eigene Wohl und Wehe, die eigene Ge¬
sundheit und die eigenen Interessen aus dem Gefühle der eigenen
Insuffizienz dem Leben gegenüber heraus. Max L ö w y (1908) der
Neurastheniker ist schlapp, die Hysterika ist resch (forsch); weiter
gewisse den Asthenischen ähnliche Depressive, besonders Konstitu¬
tionell-Depressive. Ebenso wieder ähnlich: Freuds ländert und
sublimiert Exhibitionistische, mit Schau- und Zeigelust, zu
Kretschmers Primitiv-Reaktiven mit dem Retentionsdefekt und
Expansiv-Reaktiven mit dem Dämpfungsdefekt; mit den Hypomani¬
schen; mit der Virago, der reschen Hysterika; mit den Hysterischen
voller Neigung zu Konfessionen, welche Neigung ich seit Langem als
..psychischen Exhibitionismus“ bezeichnete; mit der von mir (Max
Lö w y , 1910, Querulantenwahn) aufgestellten Affektkonstitution der
Querulanten, Hysterischen, Vasoneurotiker, Erethiker (starke Affekt-
ausprechbarkeit, starke Affektamplitude, starker Drang nach Ent¬
ladung des Affektes und Wiederkauen unerledigter Affekte); mit der
von mir aufgestellten erethischen Unlustintoleranz, speziell Affekt¬
intoleranz gewisser Psychopathen (gegenüber der Arbeitsintoleranz
als Unlustintoleranz anderer, der Schlappen und Torpiden). Dabei
ergeben sich, wenn auch durchaus nicht stringente Beziehungen der
Erethiker und Hypertoniker zur Sympathikotonie, der schlappen
Hypotonischen zur Vagotonie und beider Gruppen zur Hyperthyrie
resp. Hypothyrie, besser zur inkretorischen Konstitutionsformel über¬
haupt. (Andererseits scheint mir vielfach in der melancholischen
Depression die Pulsveränderung beim Vagusdruckversuche am Halse,
Auge und im Pulsus respiratorius herabgesetzt oder fehlend.)
Daß Pötzl, Eppinger und Heß bei Melancholie und
beim manisch-depressiven Irresein einen sympathikotonischen Zu¬
stand feststellten, gegenüber der Vagotonie bei Dementia praecox, sei
hier noch erwähnt; auch anschließend an das Augendruckphänomen
mit verstärkter Reaktion beim katatonen Stupor nach Wagner
v. Jauregg, Aschner und A. 1* i 1 o z erinnert.
74
Eine große Reihe pathogenetischer Erklärungen zur Dementia
praecox habe ich hier angeführt. Vieles mag mir noch entgangen
sein; einiges war mir nicht im Original zugänglich oder zur Hand, die
Fülle der Gesichts- und Standpunkte scheint mir aber hinreichend be¬
legt; darnach mag nun erst recht paradox erscheinen, was ich ein-
leitend angedeutet habe: diese Lehren gehen nur scheinbar so¬
weit auseinander. Und doch liegt es m. E. auf diesem unseren
Gebiete überwiegend nicht an der Verschiedenartigkeit des Stand¬
punktes der Beobachter und Erklärer, daß sie zu so verschiedenarti¬
gen Auffassungen kommen und doch fast immer etwas Richtiges auf¬
gedeckt wird; sondern an einem entscheidenden in der Dementia
praecox selbst gelegenen Momente. Dieses selbe Moment be¬
wirkt es auch, das Symptome, Zustandsbilder. Verlauf, ja auch der
Ausgang der Krankheit so vielgestaltig sind.
Wie ich glaube, lassen sich diese Vielgestaltigkeit der Dementia
praecox und die Verschiedenartigkeit der pathogenetischen Erklä¬
rungen der Autoren begreifen: durch das Betroffensein der „inter¬
mediären psychischen Schicht“ und deren zerebralganglionärer
Funktionssysteme: der (dreigestaffelten) Kleinhirn-Basalganglien-
Stirnhirnsysteme Kleists: was ich nun aufzuzeigen versuche.
III. Die Vielgestaltigkeit in Symptomatologie, Zustands¬
bildern, Verlauf, Ausgang und pathogenetischer Erklärung
der Dementia praecox, sowie ein Grund hierfür: inter¬
mediäre psychische Schicht, Dementia praecox, Basal¬
ganglienerkrankung.
Die im I. Kapitel dargestellte Durehflechtung in der Regel
unbemerkter psychischer Funktionen, (welche in wechselndem
Zusammenwirken verschiedenen Gebieten des Bemerkten, des
bewmßten psychischen Geschehens als vorbereitende Grund¬
lagen dienen, und durch die von mir supponierte* inter¬
mediäre psychische Schicht hindurch nach verschiedenen Rich¬
tungen auseinanderstrebend zum Bewußtsein drängen), hat uns
die unterirdischen Verbindungsgänge und die gemeinsame Unter¬
kellerung des bewußten psychischen Geschehens, eben durch die inter¬
mediäre psychische .Schicht, ergeben. Es ist schon im Vorhergehen¬
den mehrfach darauf hingewiesen worden, daß Störungen im Ablauf
75
und Inhalte des bewußten psychischen Geschehens auf Störungen in
dieser intermediären psychischen Schicht zurückfiihrbar sein können.
Es ist auch angedeutet worden, daß solche Störungen zum Teil mit
bestimmten motorischen Störungen in Zusammenhang gebracht wer¬
den können. Diese von Wernicke und K 1 e i s t als „psychomoto¬
risch“ bezeichneten Motilitätsstörungen sind nun von Kleist syste¬
matisch im Hinblick auf die Psychopathologie der Dementia praecox
bearbeitet worden (s. u.).
Fällt nun eine so beschaffene psychische Schicht von Funktio¬
nen. wie die intermediäre, Funktionsstörungen anheim, so kann es
zu Erscheinungen kommen, wie wir sie von der Dementia praecox
kennen: Akinese, Hyperkinese, Parakinesen und deren psychischen
Folge- und Begleiterscheinungen, Willensstörungen, Affekt- und
Stimmungsanomalien, Denkablaufs- und Denkinhaltsstörungen.
Cberleitungs- und Elektionsstörungen im Fringe, Wortneubildungen
und Denken in Nebenbeziehungen aus der Peripherie der angeschlage¬
nen Sphäre: auch kurzschlüssige Beziehungskonstruktionen (Kle i st)
mittels dieser Nebengelcise, welche Konstruktionen bizarr und
schief werden können, können zum Teil durch Motilitätsstörungen,
wie sie Kleist beschrieben, zum Teil durch Störungen der inter¬
mediären psychischen Schicht überhaupt verstanden werden.
Trifft dies zu, so könnten Denkzerfahrenheit, Sprachverwirrtheit,
Verworrenheit, Gemeingefühls- und Körpersinnstäuschungen, darauf
basiertes Wahnerleben (hypochondrischer Wahn mit Körpersinns¬
halluzinationen und körperlicher Beeinflussungswahn), Enthemmung
von Triebregungen verpönter Art und darauf basiertes symbolisches*
Wahnerleben oder Halluzinieren mit wahnhafter Verrückung des
Standpunktes zur Außenwelt: teils von Motilitätsstörungen der er¬
wähnten Art, teils von anderen Störungen in der intermediären psy¬
chischen Schicht abgeleitet werden.
Es sei im Hinblick auf Einwände, welche von Paul Schilder
(..Einige Bemerkungen zu der Problemsphäre: Cortex, Stamm¬
ganglien. — Psyche, Neurose“, Ztsch. f. d. g. N. u. Ps. 74, Bd. 4 und
5. Heft 16. 2. 1922) erhoben wurden: ..Das Problem der schizo¬
phrenen Psyche liegt jenseits der extrapyramidalen Bewegungs¬
störungen“ (S. 462). ..Diesen katatonieähnlichen motorischen Bildern
fehle das psychische Gepräge der Schizophrenie“; ..Läsionen des
striopallidären Systems bewirken weder ein hysterieähnliches noch
ein schizophrenieähnliches psychisches Bild“ (S. 481): verwiesen auf
unten folgende Beschreibungen ..striärer Bilder“ nach Kleist und
Fo erster, auf meine in den vorhergehenden Kapiteln reprodu-
76
zierten Feststellungen über Gemeinempfindungsablauf, Labyrinth-
Störungen und Denkstörungen, unfertiges Denken, sowie auf die
Durchflechtung mit der Motilität in der intermediären p s y c h i -
s eben Schicht.
Sonach könnten je nach der Mischung der einzelnen Funktions¬
ausfälle, Funktionsstörungen, Hemmungen und Enthemmungen in der
intermediären Schicht die verschiedensten Einzelsymptome, Zu¬
standsbilder und Verläufe entstehen. Die Symptome und Zustands¬
bilder werden vor allem bestimmt: von den betroffenen Einzelfunktio¬
nen der intermediären psychischen Schicht und von Art und Ausmaß
dieses Betroffenseins; Verlauf und Ausgang, aber auch die Zustands¬
bilder und Einzelsymptome: von dem zugrunde liegenden Himprozeß,
seiner Art, Lokalisation, Ausbreitung und Fortschreitensriehtung.
Ist es aber ein lokalisiertes System von Funktionen sowie
von Zentren und Bahnen, welches e 1 e k t i v von einem Pro¬
zeß befallen wird, und zwar natürlich nicht sofort ganz intensiv und
nicht auf einmal in allen Leistungen und nicht bei allen Fällen gleich¬
mäßig an allen Stellen des Systems, so kann es gar nicht ein einzelnes
Grundsymptom, Primär- und Kardinalsymptom, sowie konstante
gleichartige Zustandsbilder in gleichartigem Verlaufe geben. Daß
damit die Ableitbarkeit einzelner Symptome aus anderen nicht ge¬
leugnet ist, geht wohl aus dem Obigen ohne weiteres hervor.
Es scheint mir zugleich beachtenswert, daß bei der gleichen
Krankheit ein gleiches Symptom verschiedener Kranker
jeweils verschiedenartig erzeugt werden kann: eben durch
verschiedenartige Einzelstörungen oder verschiedenartig
kombinierte Funktionsstörung im Bereiche der intermediären psychi¬
schen Schicht.
Nicht einmal die gleichen Endzustände der elektiven Schädi¬
gung des Systems müssen sich ergeben, und selbst ein identischer
Ausgang in Demenz ist nicht unerläßlich. Sondern Intensität, Aus¬
breitung, Fortschreitensriehtung einer elektiven Hirnschädigung
sprächen auch hier das entscheidende Wort. Selbst vollständiger
Funktionsverfall eines abgegrenzten Systemanteils müßte nicht De¬
menz bewirken, wenn dieser Anteil nicht so nahe Beziehungen zur
Denkfunktion hat wie andere Anteile des Systems.
Es muß also die Funktionsbreite der intermediären psychischen
Schicht des genaueren erforscht und untersucht, die Lokalisation sol¬
cher Funktionsstörungen im Gehirne, wenn sie sich auffinden läßt,
studiert und daraus, wie nach klinischen Grundsätzen (pathogenetisch
77
und pathoplastisch Birnbaum), Symptom, Zustandsbild und Ver¬
lauf gewertet und erklärt werden.
Nehmen wir mit Kleist eine lokalisierbare Systemerkrankung
an und fallen die Funktionen dieses Systems mit denen der von mir
postulierten intermediären psychischen Schicht zusammen, oder auch
nur bekannte Funktions Schädigungen dieses Systems mit
Funktionsstörungen einer solchen intermediären Schicht und mit den
Symptomen der Dementia praecox: so wird uns die Dementia praecox
als Funktionsschädigung der intermediären psychischen Schicht und
als Systemerkrankung plausibel, und unter einem verständlich,
daß die verschiedenen, für die Dementia praecox erhobenen Grund-
und Primärsymptome, so paradox es klingt, mehr minder gleichwertig
nebeneinander gelten, und die verschiedenartigsten Symptome neben¬
einander bestehen können, weil sie verschiedenen Anteilen des be¬
troffenen gleichen Systems angehören.
Darnach ergeben sich die verschiedenartigen Auffassungen und
Erklärungen der Autoren als der Hauptsache nach nicht durch Irr-
tümer derselben, sondern durch ein besonderes in der Dementia prae¬
cox selbst gelegenes Moment bedingt. Dieses läge darin, daß in der
Pathologie der Dementia praecox eine Erkrankung eben der
intermediären psychischen Schicht und besonders eine
elektive und progrediente Erkrankung des Systems von Stamm¬
ganglien und Stirnhim im Sinne von Kleist eine wesentliche
Rolle spielt (s. u.).
Daß die psychomotorischen Störungen Einfluß auf Denken,
Affekt usw. haben können, hat Kleist anläßlich der Aufstellung
seiner Lehre und seither des Genaueren dargelegt. Auch 0. P ö t z 1
macht darauf aufmerksam, daß eine Umwandlung von Haltungs- und
Bewegungsempfindungen, von inneren Innervationsempfindungen in
B i 1 d e r im Traume statthaben kann, ebenso dieZerlegungmo-
torischeroderEmpfindungsreiheninBildreilien,
kurz daß innere Innervationsempfindungen mit den betreffenden Bil¬
dern, d. h. mit den Trauminhalten in Beziehung stehen. Jemand, der
zur Zeit an Bauchgrimmen leidet und seinerzeit am Gardasee heftiges
Bauchgrimmen erlebte, kann nach P ö t z 1 s Feststellungen im Traum¬
bilde des Gardasees ein Äquivalent des im Schlafe fortbestehenden
Bauchgrimmens erleben. Ebenso verweist P ö t z 1 darauf, daß ein
Epileptiker in der Aura vor seinem Anfalle einen Mann halluzinierte,
der den Kopf nach bestimmter Seite dreht und an dieser Seite zu
krampten beginnt, ganz analog dem Krämpfen in seinem nun folgen¬
den Bewußtlosigkeitsanfalle, den er nie gesehen hat. Ähnlich viel-
I
78
leicht in solchen Fällen, in welchen die Aura als ein Schlag auf den
Kopf erlebt wird, bevor der Patient bewußtlos zusammenstürzt. In
all diesen Fällen wird zur Motilität gehöriges in Bildern oder Sen¬
sationen, kurz in Wahrnehmungs- und Denkinhalten erlebt oder vor¬
weggenommen, was der Motilität oder den Bewegungsempfindungen
angehört. Geiheinempfindungsänderung und konkre¬
tisierende, detaillierende Einstellung auf die Im¬
pression: mittels E i n s te 11 - F i x i e r-M i t bewegungen etc. lie¬
fern ja erst zusammen de uorma die Wahrnehmung, die Anschau¬
ungsbilder etc.
Es ist schon oben angeführt, daß ich einen Teil des ,,Übertra¬
gungsverlustes“, des Autismus, den Rapportmangel durch Einfüh¬
lungsstörung und Mitbewegungsstörung des Untersuchers bei
Störung der Ausdrucksbewegungen des Kranken erklärte: indem
das Fehlen der feinsten Ausdrucksbewegungen des Kranken eine
Herabsetzung oder ein Fehlen der Mitbewegungen des Untersuchers
und dadurch seiner Einfühlung bewirkt und damit die Diagnose einer
beginnenden Demenz primär durch ein Symptom des Unter¬
suchers gestattet, zu einer Zeit, wo am Untersuchten
selbst.sonst kein Demenzsymptom nachweisbar ist. Im Gegensätze
zu Abraham usw. und Vera Strasser halte ich diesen Verlust
von Rapport (m. E. feinster Reaktiv- und Ausdrucksbewegungen) für
primär-organisch und nicht erst für die Folgeerscheinung
einer „Abkehr von der Außenwelt“ oder einer „Beziehungsarmut und
Beziehungsverarmung“.
Die Ambivalenz menschlicher Strebungen wird bei der Dem.
praec., wie schon erwähnt, durch die Bilanz- und Abschlußunfähig¬
keit. d. i. durch das unfertige Denken, manifest; gegeben ist sie wohl
schon mit jeder objektgestaltenden, ichgerichteten Gegenüberstellung
eines Interessezieles und jeder Triebhemmung (vgl. auch den Freß-
und Fluchtreflex), und kurz vor Erreichung der „Objektstufe“
Freuds in der psychischen Entwicklung, überwunden wird die
Ambivalenz beim Normalen in der Sublimierung des „purifizierten
Lust-Ichs“ Freuds und seines Oedipuskomplexes zur Objektstufe,
zur Sachlichkeit und zur Harmonie der polyphonen Strebungen.
Daß sowohl die Motilität, wie auch die Gemeinempfindung mit
der Affektivität, hin und her gehende Wechselbeziehungen haben,
ebenso das Denken, ist im Obigen schon dargelegt: (harmonischer
und ungestörter Gemeinempfindungs-Rhytmus und -Ablauf, sowie
freier flüssiger Bewegungs-Rhytmus und regulierte Reaktionen fun¬
dieren zutiefst Objekt- und Ichgestaltung, Denken. Fühlen
79
und Handeln, eben unser Leben.) Wir beobachten bei der
Dementia praecox allemöglichen Verstimmungsformen und
AfTektanomalien. Wenn wir z. B. auch noch das heiße Drängen auf
Besuch der Angehörigen und bei erfolgtem Besuche die völlig gleich¬
gültige Aufnahme der Besucher oder deren Abweisung, die Gleich¬
gültigkeit und das Lachen der Kranken gegenüber traurigen Anlässen,
Unglücks- und Todesfällen der Nächsten, wie die wechselnden Ein¬
sudlungen und Stellungnahme gegenüber Ärzten und Pflegepersonal,
kurz die Unberechenbarkeit der Kranken, sowie etwa ihre impulsiven
Handlungen und die hypochondrische Besorgtheit auch als wahnhaft
«der komplexbedingt oder durch die Ambivalenz oder durch Inver¬
dun. Autismus, Abkehr und Übertragungsunfähigkeit erzeugt, oder
durch die Unfertigkeit und Unabsehließbarkeit des Denkens, die
Überleitungs-undElektionsstörungen imFringe bedingt,also als sekun¬
där ansehen könnten, müssen wir doch schon anderer Meinung sein,
V-züglieh des Aspektes der gelegentlichen emotionellen Inkontinenz
und der häufigen Affektsteifigkeit, welche auch im Mangel an Takt und
Einfühlungsvermögen der Kranken, an Rapport der Kranken hervor-
treten. Diese Affektsteifigkeit und der Affekttorpor und manches im
Eigensinn der Kranken sich ausdrückende Haften an einem einzelnen
Affekte erwecken hier den Verdacht einer selbständigeren affektiven
Störung neben denen der Motilität, der Gemeinempfindu ng und des Den¬
kens. Dies gilt besonders bezüglich der stumpfen und trüben Dumpf¬
heit. des verbohrten Eigensinns, der störrischen Verstocktheit und
der träumerischen Verschlossenheit bei Katatonen, bei Dementia-
paranoides-Fällen, besonders aber von der läppischen Albernheit bei
Hebephrenen, und um so mehr als sich diese Züge schon in der prä¬
psychotischen Zeit nicht allzuselten aufzeigen lassen. Ich nehme
darnach an. daß gewisse und gerade besonders charakteristi¬
sche Erscheinungen der Dementia-praecox-Affektivität: albem-läppi-
sches Wesen, Affekttorpor und emotionelle Inkontinenz usw. eine
selbständige Störung in der unbemerkten Vorbereitung der Affekte
darstellen können und nicht immer mittelbar aus der Wahnbildung,
den Komplexen, dem Autismus und der Ambivalenz oder aus der
Denkstörung sekundär erfließen müssen.
Was Kretschmer als psychästhetische Proportion der Schizo¬
phrenen durch Kälte und Reizbarkeit charakterisiert, erscheint mir in
der Affektsteifigkeit der Schizophrenen nach Bleuler und Bleu¬
lers emotioneller Inkontinenz der Organiker zusammen ausgedrückt.
Kür die Reizbarkeit kommt meiner Auffassung nach noch ein eventuell
organisch bedingter Hemmungswegfall in Betracht.
80
Seinerzeit (1912, Meteoristische Unruhebilder) habe ich ausein¬
andergesetzt, daß die Hemmungen besondere Funktionen darstellen,
die sich in den primitiven Ablauf zwischen Reiz (Umwelteinfluß nach
U e x k ü 11) und Bewegungen interpolieren. Es sind interferierende,
retardierende, regulierende Funktionen, welche in letzter Linie das
garantieren und bewirken, was wir Überlegung und Besonnenheit
nennen. Wie ich später (1919, Grundlagen und Behandlung der
Schlafstörungen, Marienbader Vortrag) auseinandergesetzt habe, ist
in der wachen Orientierung als eine „Wachfunktion“, die Geweckt'
heit, die Vigilität, d. h. die Erweckbarkeit des Bemerkens, der passi¬
ven und aktiven Aufmerksamkeit wirksam, aber auch eine gewisse
Nachdauer des Erweckten nötig und ebenso das Loslösen von einem
Aufgetauchten, die Fähigkeit, sich anderem zuzuwenden. Die Ab¬
lösbarkeit des Bemerkens in ausreichendem, aber nicht übermäßigem
Grade schafft eine gewisse Modulationsfähigkeit, einen schwingenden
Zustand, die Plastizität der Denkvorgänge; und Ähnliches gilt auch
vom Affekt (vgl. Kretschmers schwingende Temperamentskurve
gegenüber der springenden Temperamentskurve der alternativen
Denk- und Fühlweise der Schizophrenen). Bei der emotionellen Inkon¬
tinenz wie bei der Affektsteifigkeit fehlt die normale Elastizität und
Plastizität, die Modulationsfähigkeit der Emotionen. Sind sie ein¬
mal — besonders leicht oder besonders schwer — erweckt, so schnur¬
ren sie ab, wie etwa ein Zwangslachen oder Zwangsweinen. Man
könnte nun daran denken, daß dies etwa eine Folge einer gleich¬
sinnigen oder verwandten Störung der Ausdrucksbewegungen ist.
Das widerlegt sich aber wenigstens als prinzipielle Annahme da¬
durch, daß die Affektanomalien nicht daran gebunden sind und
unendlich häufiger als gerade Zwangslachen oder Zwangsweinen oder
Paramimien, wie auch diese mimischen Störungen eventuell gar nicht
mit Affekten einhergehen müssen. (Dabei sei nicht bestritten, daß
gegebenenfalls eine Behinderung der Ausdrucksbewegungen sekundär
Affektstörung schaffen kann.) Auch Bleuler hebt als Erklärung
der Überempfindlichkeit neben Gefühlsstumpfheit (S. 84 d. Lehrb.,
3. Aufl.) die Störung der affektiven Modulations¬
fähigkeit, die affektive Steifigkeit, hervor und scheint mir so
einen der Gründe zu Kretschmers psychästhetischer Proportion
der Schizophrenen zu liefern, eben zur gestörten psychischen An-
sprechbarkeit überhaupt.
Mir scheinen sonach sowohl der Affekttorpor wie die Affekt¬
steifigkeit (mangelhafte Ansprechbarkeit des Affekts), wie die Affekt¬
fixierung (mangelhafte Loslösbarkeit des Affekts), wie die emotionelle
Inkontinenz Funktionsstörungen der intermediären psychischen
81
Schicht und überwiegend selbständige Störungen innerhalb dieses
Funktionsbereiches. Sie stehen gegenüber: der Freiheit und Beweg¬
lichkeit des normalen und auch eines überströmenden und über-
sehäumenden Affekts, denn diese Affekte haben eine gewisse Fähig¬
keit zur Affektverschiebung, zur Übertragung, zur Loslösung des
Denkens, Handelns und Fühlens, des Ich, von gerade diesem herr¬
schenden Affekte und seinem Gegenstände zur Voraussetzung. Diese
Fähigkeit zur Abfuhr der Affekte und zum Zurückschnellen in die
Ruhelage oder zum Übergang in eine andere Schwingungsrichtung,
diese Plastizität und Bestimmbarkeit durch zwischeneintretende Ein¬
stellungen und Stellungnahmen, diese Loslösbarkeit der Affekte und
des Gefühlslebens durch Strebungen, diese Modulationsfähigkeit ist
eine höhere Leistung als die motorisch gerichtete oder triebgerichtete
Affektivität. Sie geht über die Gebundenheit der Triebregungen an
Triebrichtung, Triebziel und Triebrepräsentanz hinaus, ebenso wie
über die Affektivität der Ausdrucksbewegungen und der primitiven
Affekte und über deren Mitbewegungen. Ob diese Loslösbarkeit und
Plastizität eine reine Leistung der intermediären psychischen Schicht
ist oder die Mitwirkung höherer Funktionen, von Hirnrindenleistun¬
gen z. B., erfordert, lasse ich noch offen.
Jedenfalls finden sich bei der Dementia praecox Störungen der
Ansprechbarkeit, d. i. Erweckbarkeit, wie Störungen der Ablösbar¬
keit. d. i. Modulationsfähigkeit, Plastizität der Affekte, wie der Hem¬
mungsfähigkeit und Retentionsfähigkeit, wie in der Abfuhrfähigkeit
vor. Von dieser Beweglichkeit, Abfuhrfähigkeit der Affekte hängt
aber, wie ich glaube, die Fähigkeit sowohl zum abschließen¬
den Denken, wie zur Einfühlung so auch zur „Übertragung“
zur „Objektlibido“ zur „Sexualübertragung“ im Sinne Freuds,
zum Interessenehmen an der Außenwelt, zur Begeisterung,
zum Enthusiasmus, wie zur sachlichen Wertung ab. Bei Nichtablös¬
barkeit der Affekte kann die Ichlibido Freuds, die egozentrische
Einstellung, die Stellung auf die eigenen Triebregungen herrschend
werden (also der Narzißmus Freuds): weil die Lösung der Gefühle
aus der Triebgebundenheit, die Wahlfreiheit und die Bestimmbarkeit
der Gefühlsrichtung, die von dem Fringe ausgeht, von der intermediä¬
ren psychischen Schicht herrührt, verhindert werden kann. Und es wäre
möglich, die Übertragungsunfähigkeit, die narzißtische Psychose,
:ils welche F r e u d die Dementia praecox betrachtet, nicht nur tiefen¬
psychologisch, sondern auch aus der Schädigung der intermediären
psychischen Schicht und der ihre Funktionen leistenden Hirnanteile,
also organisch zu begreifen, etwa wie wir den Autismus, den Rapport-
1- o i* w y , Dementia praecox. (Abhandlungen H. 20.) 6
mangel, das ambivalente Denken und die Denkzerfahrenheit aus den
Funktionsschädigungen der intermediären psychischen Schicht be¬
greiflich machen können.
Auch das Hervorbrechen symbolischer, wahnhafter Einkleidun¬
gen oder kurzschlüssiger Wortentladung (von Trieb zu Wortvorstel¬
lung ohne sicheres Bedeutungsbewußtsein etwa im Sinne Freuds)
eines sonst Verpönten, z. Brauch primitiver Triebregungen und ihrer
Repräsentanzen: könnte aus den Störungen der Oberleitung und der
Elektionen im Fringe und aus den Störungen in der Modulationsfähig¬
keit und Plastizität des Afifektlebcns und aus dem unfertigen Denken
begriffen werden; ebenso das, was als Folge der Widersprochenheit
des Denkens im Sinne S c h i 1 d e r s erklärbar wird: wenn nämlich
verpönte Regungen nicht abgelöst werden können, sondern an ihren
Inhalt im Sinne des Verdrängten Freuds fixiert bleiben, so kann
es nicht nur zu Widersprochenheit der betreffenden Inhalte, sondern
auch der Denkakte, ja des Denkgeschehens überhaupt kommen.
Auch die autochthonen Ideen und Halluzinationen entspringen
dem Boden der intermediären psychischen Schicht, des Fringe, dem
Unbemerkten. Ihnen beiden fehlt, wie dem Gebiete des Unbemerkten
überhaupt, das Gefühl des Psychisch-Tätigseins, der eigenen Denk¬
produktion, das Denkgefühl usw. Daß dieses Fehlen des Denkgefühls
ein sowohl den Halluzinationen und den autochthonen Ideen ge¬
meinsames Kennzeichen, eben das Kennzeichen ihrer Herkunft aus
dem Unbemerkten ist, habe ich in einer Arbeit über „Aktionsgefühle“
1908 des näheren ausgeführt. R e i n h o 1 d hat an Beispielen der
polyglotten Halluzinationen 1921 die Herkunft der Halluzinationen
aus der Schichte des vorformulierten Denkens, der Einstellungen und
Stellungnahmen (nach Kronfeld würden wir hier für Stellung¬
nahme besser unbemerkte Gestimmtheiten sagen), kurz aus der soge¬
nannten „psychischen Situation“ bewiesen.
Auch die seinerzeit von mir aufgestellte Intentionsleere der
Dementia-praecox-Kranken, der Verlust der Zielstrebigkeit im Den¬
ken, Fühlen und Handeln, die Insuffizienz der psychischen Aktivität
(B e r z e) könnte durch Elektionsstörungen im Fringe, welcher ja
den determinierenden Tendenzen ihre Nahrung, Richtung und Nach¬
dauer gibt und garantiert, geliefert werden, soweit der Verlust der
psychischen Aktivität nicht als ein direktes Motilitätssymptom oder
gelegentlich als Verlust meines Denkgefühls (Kronfelds Störung
der Ic-haktivität) aufzufassen ist.
Es erübrigt noch die Erörterung der Wahnbildung bei der De¬
mentia praecox. Kleist hat gezeigt, daß die Paralogien als Stö¬
rungen der Begriffsbildung. Begriffsscheidung und Begriffswahl zu
83
Fehlbeziehungen führen können. Ein Vorlesungsfall von ihm be¬
zeichnte den Professor Jahnel als den Turngott und begründete es:
Jahn — el. das ist Turnvater Jahn und Gott, und fährt fort, alle
Herren hier sind Götter. Prof. Raecke ist von meinem Schwager ge¬
kauft. denn er hat seine Poliklinik in der Schmidtstraße, wo meine
Verwandten ihre Geschäfte haben. Prof. Kleist ist ein Rohrstock,
denn er kommt aus Rostock, fortfahrend: Ich bin auch Professor,
ein Brotfresser, weil ich Vegetarier bin (real). Das war nicht etwa
wie bei einem Manischen als eine Reihe witziger Einfälle produziert,
sondern ernstlich vorgebracht. Wie ich meine, gingen diese para¬
logischen Wahnbildungen nach dem Typus des Kalauers: Der
oberflächlichen, seichten, nach Wort- und Klangassoziationen gehen¬
den, dem Sinne nach abwegigen und gerade darum scherzhaft wir¬
kenden Witzkonstruktion. Nun weist 0. P ö t z 1 gelegentlich der
Erklärung der Symbolbildung in Traum und Neurose hin: auf den
Freud sehen Mechanismus der Begriffsverdichtung und der Be
griffsverschiebung, evtl, mittelst Zerlegung des symbolisch Auszti-
driiekenden in Teilbilder nach Art eines Rebus (ein polnischer
Herr (Pan) am Kahn und ein Aal nebeneinander sind die Rebuszeich¬
nungen für ..Panamakanal“). Diese Begriffszerlegung und -Verschie¬
bung nach Rebus art scheint mir auch das Kalauern zu zeigen
und es scheint mir, daß diese Art der kalauernden Wahnbildung,
welche dem Kranken doch kein Witzeln bedeutet, eine Verbindung
der zugrundeliegenden Denkstörung mit dem ,,Symbolbedürf-
n i s“ nach larvierter Entäußerung von Verpöntem in Wahnform
darstellt, oder herstellen kann.
Daß eine Beziehung solcher Elektionsstörungen bei der Begriffs¬
und Wortwahl zu Komplexen sich ergeben kann, scheint mir ein Fall
zu zeigen, welcher komplexbedingte Wortneubildungen während einer
bestimmten Phase einer rein mit dem Assoziationsexperiment (fort¬
laufenden Assoziationen auf ein Reizwort hin) durchgeführten
Psychoanalyse bot. So produzierte er das Wort „Buldra“, das
weitere Assoziieren weckte „Baldur“ und „Rudolf“ auf. Die spontan
anschließende Erinnerung berichtete von einem Vetter, schön wie
Baldur, der Rudolf hieß und zugleich Gegenstand des Neides um die
Liebe der Angehörigen und Objekt der ersten homosexuellen Regun¬
gen war. Die Wortneubildung „Ilummernschnitt“ löste sich in
Schnitterangst, Schneiderangst, Schneideangst. Vater, also den
Kastrationskomplex. Es handelte sich hier nicht um einen Schizo¬
phrenen, sondern um einen geistig und sozial außerordentlich hoch¬
stehenden Zwangsneurotiker, welcher nur im Assoziationsexperiment
fi*
I
84
Wortneubildungen ohne Beschleunigung produzierte, in einer ge¬
wissen Phase der Analyse massenhaft zu seiner eigenen höchlichen
Verwunderung.
Das Vorkommen „symbolisierender Wahnbildungen und Hallu¬
zinationen“ als Charakteristikum paraphrener und schizophrener
Wahnbildung habe ich jüngst (über Wahnbildung 1922) betont. Es
sei noch erwähnt, daß daneben affektgeschaltete Wahnbildungen
nach Art der überwertigen Idee und in oberbewußten Mechanismen
entstehen können, ebenso wie Wahnbildung von „Rufcharakterart“,
Avie ich seinerzeit (1911: Über den halluzinierten Namensanruf mit
und ohne BeachtungSAvahn) die diffuse Eigenbeziehung und den
Bedeutungswahn bezeichnet habe. Diese Wahnbildung entsteht im
Zustande unbestimmter Unruhe und Erwartung mit dem Gefühle
unbestimmter Importanz der Eindrücke, ähnlich wie beim Angerufen¬
werden: durch Veränderung und zwar Steigerung des Ichgerichtet-
seins auf die Impressionen, welche exoprojiziert den Eindrücken eine
gesteigerte Ichgerichtetheit (Ichbezogenheit) anhängt. Diese Ver¬
änderung könnte sich bei der Dementia praecox durch Störungen
auf jenem Wege, welcher von dem Zusammenstöße der Im¬
pression mit der kontinuierlichen Gemeinempfindung, also
von einer Gemeinempfindungsändening durch die inter¬
mediäre psychische Schicht hindurch zur Wahr¬
nehmung usw. führt, erklären lassen, ebenso Avie die Herabsetzung
der Ichgerichtetheit der Impressionen in der Entfremdung der Wahr¬
nehmungswelt auf diesem Wege entstehen mag.
Es ist sonach nicht unwahrscheinlich, daß der diffuse
BezielumgsAvahn, Bedeutungswahn und Beachtungswahn, d. i.
die Veränderung (Erhöhung) des Ichgerichtetseins auf die
Impressionen, also die Wahnbiklung von „Rufcharakterart“:
als Übererregbarkeit des Bemerkens im Fringe.
ebenso wie die Depersonalisation und Entfremdung der Wahrneh-
inungswelt: als Untererregbarkeit des Bemerkens
und Mitschwingens im Fringe, zum Teil ihre Erklärung
finden können. Dieser Teil der Fälle würde sich als eine Funktions¬
störung im Bereiche der intermediären psychischen Schicht quali¬
fizieren. und wo diese Funktionsstörung dauernde organische
G r ii n d e hat, als der Dcmentia-praecox-Gruppe zugehörig. In der
Tat ist ein hoher Prozentsatz dieser Formen \ T on „Wahnerleben“
(J a s p e r s) in diffusem Beziehungswahn oder Depersonalisation
resp. Entfremdung der Wahmehmungswelt Initialstadium
oder Verlaufsphase der Dementia p r a e c o x: wie wirüber-
85
h a u p t Grund haben, einen Großteil der cliro
uischen „paranoischen“ Erkrankungen als Para¬
phrenien, Dementia paranoides usw. der De¬
in entia-praecox-Gruppe zuzurechnen. In der er¬
wähnten Arbeit „Über Wahnbildung“ habe ich ein „Symbol-
bedürfnis“ als Grundlage mancher, eben der „symbolisierenden“
Wahnbildungen und Halluzinationen angesprochen. Dieses „Symbol¬
bedürfnis“ entspringt im Sinne Freuds den „Komplexen“, dem
Drange nach Entäußerung, nacli Abfuhr der verpönten Regungen,
und zugleich dem Drucke der „Zensur“, welcher Druck zur Larvie¬
rung in Kompromißprodukten, Umkehrungen des Erstrebten ins Er¬
littene führt, (s. Über Wahnbildung), den körperlichen Beeinflussungs¬
wahn zuni Teil, und manchenVerfolgungswahn schafft (vgl. oben auch
Ahrahara über Autismus und Verfolgungswahn), soweit der
körperliche Beeinflussungswahn nicht somatisch-halluzinatorisch be¬
gründet ist. Dieses Symbolbedürfnis der schizophrenen und para-
phrenen Wahnbildung ist wohl maßgebend und kausal für die
Wahnform evtl, auch dafür, daß Wahnbildung
entsteht, aber keineswegs für das Erkranken an De¬
mentia praecox, (symbolisierende Tendenzen gehören ja zur Norm);
sondern das Symbolbedürfnis geht selber auf die Denkstörung usw.
zurück. Vielleicht gehen auch die kurzen Assoziationen, das kurze
Denken, das „Sofort-zu-Ende-Sein“ mit einem Gedankengange bei
Dementia praecox (Bleuler) auf Untererregbarkeit des Bemerkens,
mangelhaftes Mitschwingen im Fringe, also auf eine Überleitungs¬
störung zurück.
Vor allem aber spielt die Über erregbarkeit des Bemerkens, (las
Beinerkbarwerden von „Gedankenatmopshären“, von sonst unbe¬
merkten Fringeteilen (also ein inneres Analogon der Erhöhung
des Ichgerichtetseins auf äußere Impressionen, also des „Ruf¬
charakters“ der Eigenbeziehung), noch eine Rolle für den Inhalt
der Wahnbildung der Dementia praecox. Denn diese Übererregbar¬
keit begünstigt ja das Hervorbrechen unfertigen, sonst unbemerkten,
ambivalenten, ambitendenten, kurz ungerichteten und
..illustrierenden“ Denkens, statt des gerichteten orien¬
tierenden. Dadurch wird auch die Befriedigung des „Symbol-
Bedürfnisses“ in wahnhaften, traumhaften, spielerischen, kurz
-illustrierende n“ Produkten des Denkens begünstigt.
< Vgl. hierzu die interessante Studie von W. Mayer -Groß „Bei¬
träge zur Psychopathologie schizophrener Endzustände: 1. „über
>s :piel, Scherz, Ironie und Humor in der Schizophrenie“. Zeitschrift f.
d. gesamte Neurol. u. Psychiatrie, Bd. 69, 1921.)
86
Wir sahen so die Verschiedenfältigkeit im Wahn¬
erleben, wie in den Symptomen der Dementia praecox überhaupt, auf
verschiedenartige Störungen im Funktionsbereiche der inter¬
mediären psychischen Schicht und auf eine evtl, zugrunde liegende-
Erkrankung mehrerer zugehöriger Zerebralsysteme zurück-
führbar.
Dagegen könnten die Charakteranlagen — sobald man nicht
etwa Charakteranomalien „Freudisch“ als Triebabbiegungen, Trieb-
lixierungen und Triebregressionsfolgen und somit als sekundär er¬
klären will, und die Erbanlagen: nicht mit einer Sichtschizose, nicht
mit dem schizophrenen Prozeß Zusammenhängen, wenn wir diesen als
Folge einer elektiven Systemerkrankung auffassen. Außer es
bestünde sowohl bei Erb- als bei Sichtschizose und dem schizophrenen
Prozeß von Haus aus eine Schwäche und Anfälligkeit dieser
Systeme nach Art etwa der Heredodegeneratlon und es ließen sich
die Charakteranomalien und die ohne dauernde Sichtschizose auf¬
tretenden schizophrenen Situationsreaktionen: ebenfalls auf eine.
Funktionsschwäche gerade der von mir als Stätte der Funktions¬
störungen bei der Dementia praecox postulierten intermediären
Schicht und der basalganglionären Systeme (mit ihrem Unterbau und
Überbau) zurückführen. Gelänge es, so hätten wir einen zusam¬
menhängenden Bereich. Dieser erstreckt sich von den schi¬
zoiden Charakteranomalien und schizophrenen Situationsreaktionen
Poppers über die die Kerngruppe darstellenden Katatonien aki¬
netischer. hyperkinetischer, parakinetischer Form usw., über die
stumpfe apperzeptive Verblödung nach W e y g a n d t, über
die läppisch-albernen Hebephrenien, wie die hebephrenenVerstimmun¬
gen und ihre Verwandten, wie über die Affektverödung (Wurstigkeit)
und affektive Verblödung, wie über die paralogischen (im engeren
Sinne Kleists schizophrenen: Inkohärenz des Gedankenablaufs
und Paralogien — Störungen der Begriffsbildung und Begriffswahl)
und Kraepelins wie Kleists schizophasische Störungen
(vorwiegend sprachliche Störungen, Wortfehler, Satzfehler, Wort¬
neubildungen) zur schweren Denkzerfahrenheit und Sprachverwirrt¬
heit und Verworrenheit, wie zu Kleists progressiver Beziehungs¬
psychose. zur K r a e p e 1 i n sehen Dementia paranoides, zur Phan-
tasiophrenie Kleists (Einbildungen und Konfabulationen, konfa¬
bulatorischen Paraphrenie Kraepelins), respektive zu den schizo¬
phrenen und paraphrenen Wahnbildungen (meiner Auffassung nach
größtenteils symbolischer Natur) äußerlich geordneter Patienten, zu
Kleists progressiver Halluzinose, und zum hypochondrischen Wahn
87
mit Organhalluzinationen, der Paranoia hypochondriaca der Alten,
wie zum körperlichen Beeinflussungswahn usw.
Das berührt sich mit dem, was Bleuler (Lehrb. 3. Auf!., 1920)
S. 279 ausführt: Die Richtungsprognose der ganzen Gruppe
ist eine einheitliche, während der Grad der zu erwartenden Ver¬
blödung, die Streckenprognose durch die bloße Erkennung
der Krankheit nicht bestimmt wird (nach Ablauf eines Schubes evtl,
nur geringe Veränderungen zurück bleibend). Diese Krankheit kann
in jedem Stadium Stillstehen und manche ihrer Symptome können
sich sehr weit oder ganz zurückbilden; aber wenn sie weiter schreitet,
führt sie zu einer Verblödung bestimmten Charakters. Die Krank¬
heit verläuft bald chronisch, bald in Schüben, kann in jedem Stadium
Halt machen oder eine Strecke weit sich zurückbilden, erlaubt aber
wohl keine volle restitutio ad integrum. Sie wird charakterisiert durch
«■ine spezifisch geartete, sonst nirgends vorkommende Alteration des
Denkens und Fühlens und der Beziehungen zur Außenwelt, außerdem
sind akzessorische Symptome zum Teil mit spezifischer Färbung
etwas ganz Gewöhnliches.
Hierzu möchte ich bemerken: Die schwersten Störungen ent¬
stünden meiner Anschauung nach, sei es durch besonders ausgiebigen
Ausfall einer einzelnen Funktion der intermediären psychischen
Schicht bei Rückwirkung dieses Funktionsausfalls auf die mit der
ausgefallenen Funktion zusammenarbeitenden und von ihr abhängigen
Funktionen, sei es durch kombinierte Schädigung mehrerer, neben¬
einander arbeitender oder zusammenhängender Funktionssysteme und
dadurch etwa der Kernanteile der intermediären psychischen Schicht.
Diese Schädigungen müssen natürlich deswegen, weil sie die zentralen
Funktionen der intermediären psychischen Schicht betreffen, nicht
daraufhin schon etwa im Kerne des Hirnzentren- und -bahnensystems
lokalisiert werden: denn die zentralen Kernfunktionen der inter¬
mediären psychischen Schicht könnten z. B. auch durch Zusammen¬
arbeit im Gehirn weit auseinander liegender End- und Ausgangs¬
stätten des Systems geliefert werden. Freilich meine ich — wenn
auch zurzeit noch unverbindlich —, daß die schwersten und um¬
fassendsten Ausfälle am wahrscheinlichsten dann zustande kämen,
wenn Bahnen und umschaltende Zentren verschiedener Funktionen
desselben Systems in loco morbi zusammentreffend zugleich getroffen
werden, respektive dort — an der Stelle der Umschaltungen und des
Zusammentreffens — der Prozeß am intensivsten einsetzt. Dabei
könnte es geschehen, daß die Folgen dieser lokalen Schädigung in
Dmschalt- und Verknüpfungszentren trotzdem wieder zuerst in den
88
zugehörigen verschieden gelagerten Endstätten als Funktionsstörung
und Zerfall hervortreten mögen.
Natürlich wäre die Annahme einer intermediären psychischen
Schicht und ihrer Schädigung bei der Dementia praecox an sich nicht
etwa auch schon Veranlassung, eine intermediäre Lokalisation der
elektiven Systemschädigung des Gehirns etwa in den Zentralganglien
anzunehmen. Dafür aber ergeben sich einige Anhaltspunkte aus
anderen Momenten.
Auf diese Momente gehe ich hier nur kurz ein, denn sie sind
durch Karl Kleist grundlegend bearbeitet und auch neuerdings
in einem Frankfurter Vortrage zusammengefaßt worden.
Akinesen (Stupor, Bewegungsarmut, Bewegungserschwerung.
Rigor), Hyperkinesen und Parakinesen, sonst Störungen oder Ausfall
der Reaktivbewegungen und der automatischen Bewegungen,
der Mitbewegungen, z. B. des Pendelns der Arme beim
Gehen. Bewegungsverharrungen und Bewegungswiederholun¬
gen, Störungen der Ausdrucksbewegungen (maskenartiges Ge¬
sicht, Grimassieren und Tics. Zwangslachen und Zwangsweinen
ohne entsprechenden Affekt), emotionelle Inkontinenz und
Schwererweckbarkeit des Affekts. Schwererweckbarkeit des Denk¬
ablaufs. zusammen mit Schwererweckbarkeit der Einstell-, Aus¬
drucks-, automatischen und Mitbewegungen, aber auch f bererregbar-
keit der Einstellbewegungen entsprechend W e r n i c k e s hyper-
metamorphotisehen Bewegungen und weiter, wie ich es nannte, hyper-
metamorphotisches, scheinbar ideenflüchtig-inkohärentes Denken mit
A. Picks pathologischer Lenkung und Ablenkung des Denkens
durch Bewegungen und durch das Sprechen; Palilalie und Palikinese
d. i. Wiederholung desselben Wortes, derselben Zahl, desselben Buch¬
stabens — entsprechend und ähnlich dem „senilen Stottern“ nach
Kleist — und Wiederholung derselben Bewegung (wie ich glaube,
zum Teil durch Schwererweckbarkeit der erstrebten Leistung, zum
Teil durch Enthemmung der fertigen Leistungskoordination), sonstige
Iterativerscheinungen und manche Stereotypien — andere entsprin¬
gen. wie J. Kläsi 1922 zeigt, Psychischem, dem Autismus, der
Abwehr von Körperhalluzinationen usw. —, choreiforme und athe-
totische Bewegungen, einseitige Veränderung der Organgefühle einer
Hand und zugehörige Gefühlsvorgänge, wie es A. Pick an einem
Falle H e a d s vom Thalamusherd hervorhob, so daß diese Hand ver¬
bellter und sehnsüchtiger wurde: All das findet sich in einer der
Dementia praecox ähnlichen Weise bei Herden und Erkrankungen
der Basalganglien, respektive bei Erkrankungen in deren verbin-
89
•lenden, untergeordneten und übergeordneten Bahnen (Kleinhirn-
Busalganglien-Stirnhirnsysteme Kleists).
So weist z. B. B1 e u 1 e r S. 286 (Lehrb., 3. Aufl.) auf Dementia-
praecox-Kranke hin, die mit den Augen in Verzweiflung weinen, mit
dem Munde lachen können (was er auf Ambivalenz eines Komplexes
bezieht) und darauf, daß er einmal ein solche Spaltung des Gesichts¬
ausdrucks zwischen rechts und links beobachtet habe (also einen
Patienten mit einem lachenden und einem weinenden Auge, wenn ich
recht verstehe).
Kleist weist weiter auf die Parallele gewisser Affektstörungen
der Dementia praecox mit den Affektstörungen bei Stimhirnverletzun-
gen mul -erkrankungen hin, und auf Beziehungen des Thalamus und
des Stirnhirns zueinander und zu den Affekten (bei Schädigungen
und Verletzungen des Stirnhirns, sowohl Apathie als Reizbarkeit,
auch sexuelle Erregbarkeit); ebenso wie auf die Bewegungsarmut bei
St i rnhi rn verletzten.
Verwandt scheinen mir die VVitzelsucht Jastrowitz' bei
Stirnhirntumoren, die läppische Albernheit gewisser, teils schizophre¬
ner. teils anderer Kranker und vielleicht aucli die emotionelle Inkonti¬
nenz der Organiker Bleulers, ohne daß diese immer ein Lokal-
syniptom oder gar ein Basalsymptom sein müßten.
Kleist selbst bezieht nicht nur diese Affektstörungen, sondern
auch die Perseveration, d. h. eine Reaktion, die in unmittel¬
barer Folge einer normal oder krankhaft vollzogenen oder auch nur
angeregten Handlung auftritt. sowie manche Stereotypien
starre Einschränkung auf eine einzige Reaktion), und die verwandten
Manieren auf Schädigungen der Hirnrinde, z. B. analog den Persevera¬
tionen der Aphasiker und auch im Hinblicke auf die Stereotypien in
•Sprache und Schrift bei einem von Förster beobachteten Falle von
8tirnhirnverletzung, und besonders unter Hinweis auf das Fehlen der
Hliulimisierung bei diesen höher zu lokalisierenden Störungen gegen¬
über den striären Iterativerscheinungen und ähnlichen, in mehrfacher
Wiederholung auftretenden Bewegungen und Worten: Echopraxien.
K'holalie. Nichtloskommenkönnen von Einzelhandlungen, etwa vor-
gemaohtem Händeklatschen oder Produktion einer Zahlenreihe statt
e >tier Zahl bei Striären und beim senilen Stottern, was alles als
fbythmisierte Erscheinungen den tieferen Zentren angehört.
Trotz der prinzipiellen Richtigkeit dieser Anschauungen und
trotzdem ich überzeugt bin, daß ganz ähnliche Störungen einmal Hirn-
rindeiischädigungen. ein andermal Basalganglienschädigungen zuzu-
s«‘hreihen sein dürften, möchte ich zu bedenken geben: daß sowohl
90
Perseveration und Iterativerscheinungen wie Stereotypien und Ma¬
nieren Ausdruck von Schwerablösbarkeit sein können und diese
letztere teils selbständig, teils Produkt der Schwererweckbarkeit sein
und in beiden Fällen dann die Symptome durch Schädigung der höch¬
sten, wie einer der tieferen Etagen zustande kommen könnten. Jedoch
kann ich zurzeit darüber nichts Näheres sagen. Auch impulsive
Handlungen, ganz ähnlich den impulsiven Handlungen der Dementia
praecox nachher sofort wieder Regungslosigkeit, resp. starres Ver¬
harren, starres Stehenbleiben, ja negativistisches Verharren, sowie
negativistische und unschlüssige Reaktivbewegungen, Abwehr des
Löffels und der Nahrung und dann Schnappen darnach mit dem
Munde, Handreichen und Zurückziehen, Hin- und Herschwanken zwi¬
schen Bleiben und Gehen oder Stehenbleiben auf halbem Wege, sah
Kleist bei Großhimtumoren und berichtet nach N o e h t e neben
Reaktivbewegungen einseitig kurzschlüssige Bewegungen, Nesteln und
Greifen der linken Hand auf der Bettdecke, daneben einseitig negati¬
vistische und unschlüssige Bewegungen: Diese Hand schob den ge¬
reichten Bleistift, Schlüssel weg und griff wieder darnach, winkt den
Pfleger heran und schob ihn wieder weg.
Kleist unterscheidet einen mehrfach gestaffelten Apparat die¬
ser Kleinhirn-Basalganglien-Stirnhirnsysteme mit wenigstens 3 Eta¬
gen. 1. Etage: der rubrospinale Reflexbogen, Muskelsinn (Muskeln, Ge¬
lenke und Sehnen) und Labyrinth, zu- und abführende Bahnen zum
roten Kern; 2. Etage: roter Kern, Thalamus, Striatum (Nucleus cauda-
tus und Putamen), Globus pallidus, 3. Etage: Thalamus und Stimhirn
in ihren wechselseitigen Verbindungen. Es handelt sich um tonisch-
koordinatorische Leistungen und um Leistungen im Bereiche der auto¬
matischen und unwillkürlichen Bewegungen, der Eihstellbewegungen.
Affektbewegungen usw. (Kleist).
Wir sehen, es finden sich sowohl in diesem Kleinhirn-Basalgang-
lien-Stirnhirnsysteme Kleists, wie in der intermediären psychi¬
schen Schicht Funktionen zusammen und zwar auch in ihren Kombi¬
nationen, welche einzeln gestört, gelegentlich einseitig gestört, wie
auch in Kombinationen gestört gefunden werden: sowohl bei den lo¬
kalisierten Basalganglien-Affektionen usw. wie bei der Dementia
praecox.
Vergleichen wir noch mehreres aus der großen Arbeit von
0. F o e r s t e r , Zur Analyse und Pathophysiologie der striären Bewe¬
gungsstörungen 4 (Zeitschr. f. d. ges. Neurol. u. Psych., 73. Bd., 1.—3.
Heft, 1921), aus dem Kapitel über „das hypokinetisch¬
rigide Pallid u ms yndro m“ (bei verschiedenen Schädigungen
91 —
des Pallidums — über die Symptomatologie entscheidet der Sitz der
Läsion, ihre Art über Verlauf und Prognose, betont Foerster mit
Recht im weiteren). Es ergibt sich die ausschlaggebende Bedeutung
der dort eingehend klargelegten „Adaptionsspannung“ und „Fixa¬
tionsspannung“ (nach passiver Stellungserteilung und aktiven Bewe¬
gungen an Gliedern, Kopf, Kinn, Rumpf, als die erreichten Stellungen
fixierende (überschießende) Muskelspannung, ausgelöst durch An¬
näherung der Insertionspunkte der Muskeln), sowie der Haltungs¬
anomalien (als Folge abnormer Nachwirkung „des Stellung-
geb.enden Faktors“) und des Dehnungswiderstandes und des
Rigors, wie des Mangels an Spontanbewegungen, Mitbewegungen und
weiter der Erschwerung, ja des gänzlichen Fehlens der Reaktivbewe¬
gungen: für die Katalepsie und Steifigkeit dieser Kranken.
(Anmerkung Max Löwy: Vgl. meinen Antagonisten-
dehnungs-Reflex (1903), d. i. reflektorische tonische Span¬
nung der Agonisten bei Dehnung der Antagonisten in
passiven Bewegungen (Katalepsie) und aktiven Bewegungen (bei
meinem „koordinatorischen Rigor“ 1905). Unter Mitbewegungen
sind hier nicht wie in meinem psychologischen Kap. I usw. „die M i t -
ausdrucksbewegungen, die nachahmenden Mitbewegungen“
hei der Einfühlung in Ausdrucksbewegungen und Gemütsbewe¬
gungen anderer gemeint, sondern die synergischen Mitbe-
w eg u n g e n —Pendeln der Arme beim Gehen z.B. — und im gleichen
Sinne zusammen wirkende „Massenbewegungen“ des Körpers auf
einen einzelnen Impuls oder Reiz hin, welche Bewegungen beim Palli-
dumkranken fehlen — der Impuls bewirkt hier nur die intendierte
oder reflektorische Einzelbewegung, während die Massen- und Mit¬
bewegungen fehlen, beim Pyramidenbahnsyndrom dagegen erleichtert
auftreten; vgl. 0. Foerster, ibidem S. 53. 54.)
S. 35, 36 wird die Erschwerung resp. das Fehlen der Reaktions-
twywegungen als ungemein typisch für das Pallidumsyndrom
hervorgehoben. „Man kann in ganz schweren Fällen die Kranken
lieftig stechen, wiederholt stechen, das Glied wird nicht eine Spur
bewegt oder weggezogen. Der Kranke rührt sich nicht, keine Wim¬
per zuckt, nicht die leiseste Schmerzäußerung erfolgt, nicht einmal die
Pupillenerweiterung tritt ein.“ (Anmerkung MaxLöwy: Vgl. hierzu
das Fehlen der psychischen und Schmerzreaktion der Pupillen bei
einem Prozentsatz der Katatonen.) „Und doch ist die Schmerzempfin¬
dung in vollem Umfange erhalten. Ich habe einen Parkinson beob¬
achtet,“ fährt Foerster fort, „den eine Wespe in die Backe stach,
ohne daß sich an ihm auch nur ein Glied rührte, nur ein leises Zittern
92
lief durch den Körper; ebenso charakteristisch ist es, wie solche
Kranke durch Fliegen belästigt werden, ohne auch nur eine Spur von
Reaktion zu zeigen. Denselben völligen Mangel von Reaktion ge¬
wahrt man, wenn man die Kranken unversehens mit einem Haar im
äußeren Gehörgang kitzelt, ein Reiz, der bekanntlich in der Norm die
lebhaftesten Reaktivbewegungen auslöst. Trifft den Kranken ein
heftiger plötzlicher Gehörreiz, so erfolgt nicht das mindeste Zusam¬
menfahren, nicht die leiseste Äußerung des Schrecks spiegelt sich in
den Mienen wieder. Aber es erfolgt auch keine Einstellbewegung des
Kopfes und der Ohren, die der Normale auf einen Gehörreiz hin vor¬
nimmt. Dieselbe eisige Ruhe wie Gehörreizen gegenüber bewahrt der
Kranke, wenn ihn ein plötzlicher Lichtreiz trifft: kaum erfolgt ein
leichter Lidschlag der Augen, Kopf und Körper werden nicht zurück¬
gezogen. Auch die Blinzelbewegungen des Normalen, die beim plötz¬
lichen Heranbringen des Fingers an die Augen eintreten, fehlen beim
Pallidumkranken sehr oft ganz. Andererseits erfolgen auch keine
Einstellbewegungen des Kopfes und der Augen auf Lichtreize
hin.“ S. 36.
Liest sich diese der Paralysis agitans, arteriosklerotischen Palli-
dumerkrankung mit Gliederstarre usw. geltende Schilderung F o er¬
st e r s nicht fast wie die Beschreibung eines katatonen Stupors?
Vergleichen wir nun noch illustrierend (aus dem für. die 11. Jahres¬
versammlung deutscher Nervenärzte zu Braunschweig. September
1921 [Leipzig, Vogel, 1922] erstatteten Berichte) „der amyostatische
Symptomenkomplex und verwandte Zustände“ (anatomischer Teil)
von E. P o 11 a k (Wien) eine Anführung S. 42: über Nothnagels
tierexperimentelle Linsenkernuntersuchungen: „Man beobachtete bei
bilateral symmetrischer Läsion einen Zustand von Erstarrung mit
kataleptischen Erscheinungen in den Extremitäten“.
O. Foerster entnehmen wir weiter S. 38, 39: „Unter den oben
angeführten Beispielen mangelnder Reaktivbewegungen auf schmerz¬
hafte, taktile, akustische und optische Reize hin. war schon die
Rede davon, daß der Mangel an mimischen Ausdrucks¬
bewegungen einen wesentlichen Bestandteildie-
ser Reaktionslosigkeit bildet. Dieser letztere ist nun beim
Pallidumsyndrom überhaupt eine ganz allgemeine Erscheinung. D i e
Leere des Gesichts, die eisige Ruhe im Ausdruck,
die maskenartige Starre, der Mangel des normalen Augen¬
spiels, die für gewöhnlich vorhanden sind, ändern sich auch nicht
oder wenig, ob lebhafte Freude, tiefe Trauer, heftiger Schmerz, Er¬
staunen, Schreck die Seele durchbebt. Kranke, die früher ein leb-
93
haftes Mienenspiel besaßen, sind darum nicht wieder zu erkennen.
Aber es fehlen nicht bloß die mimischen Ausdrucksbewe¬
gungen, sondern auch die Ausdrucksbewegungen
desübrigenKörpers;die Kranken verlieren ihre je nach ihrem
Temperamente verschieden geartete Gestikulation, ihre Allüren; die
für viele Menschen individuell so charakteristischen Modalitäten des
Ganges, des Essens, des Grußes usw. verschwinden und machen einer
öden Monotonie Platz. (Anmerkung Max Löwy: Ygl. die „Nivel¬
lierung“* ganzer Irren-Abteilungen von Endzuständen, den dort
herrschenden Mangel an psychischer und motorischer Modulations¬
fähigkeit, den Verlust der Grazie, d. i. im Sinne von A. Hombur-
g e r an Bewegungsflüssigkeit und Bewegungsluxus der Jugend,
wie des „individuellen Bewegungscharakters“ (A. H o m -
bürg er) der Erwachsenen). Es ist nun zu betonen, daß
dieser Mangel an Reaktions- und Ausdrucksbewegungen ein
selbständiges Symptom ist. Er kann nicht etwa durch die
Fixationsspannung und den Rigor der Muskulatur erklärt werden:
denn er besteht auch da, w'o letztere noch gar nicht nennenswert vor¬
handen sind, oder — was in einzelnen seltenen Fällen vorkommt —
gänzlich fehlen.“ (S. 39.)
S. 71. Pallidumzerstörung führt einerseits zur Erschwerung der
Willkürbewegungen, zum Mangel an Mitbewegungen, an Bewegungs¬
sukzessionen, an Reaktiv- und Ausdrucksbewegungen, (h y p o k i n e -
tische Komponente — Störung der innervatori-
schen Leistungen); andererseits zum erhöhten Dehnungs¬
widerstand, zur Erhöhung der Fixationsspannung, zu Haltungsano¬
malien. zum Tremor, zum erhöhten plastischen Muskeltonus (rigide
Komponente — Störung der inhibitorischen Lei¬
stungen des Pallidums, besonders bezüglich des
Kleinhirns).
S. 72 hält 0. Foerster auch weiterhin daran fest, daß eine
Schädigung der fronto-ponto-zerebellaren Leitung ein
dem Pallidumsyndrom analoges oder recht ähnliches Bild erzeugt. Bei
Stimhimprozessen, speziell der präzentral gelegenen Partien, nament¬
lich der ersten und zum kleinen Teil auch der zweiten Frontalwin¬
dung, finden sich: ausgesprochene Haltungsanomalien, starker Deh¬
nungswiderstand der Muskeln, der über den gewöhnlichen
wächsernen des Pallidumsyndroms noch hinausgeht
und oft schwer überwindbar ist, deutliche Fixationsspan¬
nung. manchmal typisches kataleptisches Ver¬
halten d e r G 1 i e d e r, das.aber oft infolge des starken Dehnungs-
94
Widerstandes. der Muskeln nickt ohne weiteres demonstriert werden
kann; tonische Nachdauer der Kontraktion bei elektrischer Reizung
und bei Reflexbewegungen, ausgesprochene Bewegungsarmut,
Mangel an Initiativbewegungen, sehr große Ver¬
langsamung des Bewegungsbeginns, verlang¬
samte Durchführung, rasche Ermüdbarkeit,
manchmal eine ausgesprochene Parese . . . Wir finden vor allem die
tonische Nachdauer der willkürlichen Innervation in starkem Grade;
hat z. B. der Kranke die Hand eines anderen erfaßt, so kann er sie
nunmehr nicht wieder loslassen, hat er ein Glas erfaßt und zum Munde
geführt, so bleibt er dort stehen u. a. m. . . . Dagegen findet F o er¬
st e r . daß der Ausfall an Reaktiv- und Ausdrucks¬
bewegungen bei weitem nicht so stark hervortritt wie beim
Pallidumausfall. Manchmal fehlt dieses Symptom ganz.
S. 72. Auch bei Zerstörung der mittleren Brückenarme tritt das
(sc. pallidumsyndrom-ähnliche) Syndrom manchmal deutlich hervor.
S. 73. Die fronto-ponto-zerebellare Leitung hat (wie das Palli¬
dum) gleichfalls einmal die Aufgabe, das zerebellare System zu hem¬
men: bei ihrer Unterbrechung kommt es zu derselben enthemmten
eigenen Tätigkeit dieses letzteren wie beim Pallidumausfall; die
fronto-ponto-zerebellare Bahn ist aber ebenso wie die fronto-thalamo-
pallidäre einer der Wege, auf welchen Willensimpulse von der Gro߬
hirnrinde zu den Muskeln gesendet werden: bei ihrem Ausfall finden
wir also initiale Lähmung, später Erschwerung und Abschwächung
der Willkürinnervation der Muskeln (S. 73).
Bezüglich des Striatumsyndroms im engeren Sinne (Schädi¬
gung und Funktionsausfall des Nucleus caudatus samt Putamen des
Linsenkerns) sei am Beispiele der Athetose nach Foerster
noch einiges angeführt. 0. Foerster macht auf die gelegentliche
Ähnlichkeit der athetotischen Rumpf- und Kopfbewegungen mit dem
hysterischen Are de cercle aufmerksam (S. 84). (Schon vor Jahren
fiel mir an einer Athetose double die Ähnlichkeit mit dem Grimas-
sieren der Dementia-praecox-Kranken, speziell mit dem Schnauz¬
krampf auf, wie ja vielfach, besonders in letzter Zeit, bei striären
Erkrankungen auf die Dementia praecox Bezug genommen wird.)
O. Foerster beschreibt die außerordentliche Steige¬
rung der Ausdrucksbewegungen bis zum Schneiden
der lebhaftesten Grimassen und Fratzen evtl, ohne den adäquaten
Affekt (paramimisch) oder mit Überdauerung nach Abklingen des
Affektes, Zwangslachen, Zwangsweinen (S. 103), Zungenrollen, Leck¬
end Schnalzbewegungen, Rollbewegungen der Augen, langdauemdo
95
Seitwärtswendung derselben, Hervorstoßen grunzender, schnaufender,
krächzender Laute (S. 84). Überhaupt als typisch für das Stria¬
tumsyndrom (S. 99) die schwerste Steigerung und Er¬
leichterung der Reaktivbewegungen auf sensible und
sensorische Reize, in Form von Zusammenfahren, Flucht-, Abwehr¬
und AngrifFsreflexen bis zu Mundaufreißen und Kaubewegungen auf
Lichtreize z. B. (Anmerkung Max Löwy: Vgl. die hypermetamor-
photischen Bewegungen W e r n i c k e s bei Katatonen.) Diese Reak-
tivitewegungen werden eventuell (trotz sonst überwiegender Hypo¬
tonie) von tonischer Nachdauer der erlangten Stellungen gefolgt
iS. 101), oder es findet sich eine allgemeine reaktive Unruhe (S. 99):
eine Bewegung löst sozusagen reaktiv die andere aus (S. 100), und
anschließende Massenreaktionen und Massenbewegungen des ganzen
Körpers (S. 102); die unwillkürlichen athetotischen und die Reaktiv-
uml Ausdrucks-Bewegungen steigern sich außerordentlich im Affekt
und sonst bei Inanspruchnahme, bei passiven Bewegungen oder bei
willkürlicher Innervation; sie schwinden im Schlafe (sc. in der Regel)
evtl, auch in der Hypnose. (Anmerkung Max Löwy: Mir gelang
gelegentlich (s. Stereotype pseudokatatone Bewegungen 1910) auch
hei einer — durch den Endzustand nach Jahren bestätigten — ganz
initialen Katatonie die unmittelbare Inhibition einer sexuelle Par-
ästhesien — „Auf- und Absteigen eines Schmetterlings in der Vagina“
— begleitenden stereotypen Auf- und Abbewegung der einen Hand
im Handgelenk durch hypnotische Suggestion für ungefähr einen
Tag.)
Auch Bewegungen, die wir mit Kleist etwa als „unschlüssige
Bewegungen“ bezeichnen könnten, beschreibt O. F o e r s t e r bei den
Athetotischen: Ein Hin und Her zwischen agonistischer inten¬
dierter und antagonistischer nicht intendierter Innervation (S. 90):
und solche Bewegungen, die man bei der Dementia praecox negativi¬
st isch nennen würde: festerer Faustschluß der geschlossenen oder
hall (geöffneten Hand, wenn sie ganz geöffnet werden soll (S. 90); wie
eine den „Sperrungen“ ähnliche Nachdauer von Willkürbewegungen
(S. 1Ü8), endlich eine reaktive Starre — abgesehen vom Zusammen¬
fuhren auf Reize —, Starrwerden des ganzen Körpers, z. B. beim Ver¬
such einer passiven Bewegung (S. 95). Auch einen Kieferkrampf bei
Torticollis spasticus von Striatumherkunft (S. 100). Man ver¬
gleiche hier Kleists Schilderung der Motilitäts¬
störungen an Geisteskranken und sehe die über¬
raschenden Ähnlichkeiten. Es soll nun nicht etwa auf
Analogien hin hier» schon von mir der Versuch gewagt werden: auf
dem Boden der grundlegenden Arbeiten Karl Kleists „Unter¬
suchungen zur Kenntnis der psychomotorischen Bewegungsstörungen
bei Geisteskranken“ (akinetische Störungen), (Leipzig 1908, Verlag
von Dr. Werner Klinkhardt) und „Weitere Untersuchungen an Geistes¬
kranken mit psychomotorischen Störungen“ (Die hyperkinetischen Er¬
scheinungen), (Leipzig 1909, ibidem) mit Hilfe der neueren Feststel¬
lungen über die fronto-ponto-zerebellare Bahn und fronto-thalamo-
pallidären sowie anderen basalganglionären Systeme: die Bewegungs¬
störungen samt Folgeerscheinungen bei der Dementia praecox jetzt zu
diskutieren, oder gar darauf gestützt eine „Neurologie und
Psychopathologie der Dementia praecox“ zu schrei¬
ben. Das ist noch ferne Zukunftsmusik.
Es sind diese Feststellungen 0. F o e r s t e r s an „Striären“, wie
vieles andere im Obigen, hier nur herangezogen, um die Bedeutung
der Konzeptionen Kleists für die Gesamt pathologie der
Dementia praecox vorerst „per analogiam“ zu beleuchten.
Wurden wir also oben durch, die Athetosen an die Hyperkinesen
und Parakinesen, durch das Pallidumsyndrom und durch die Unter¬
brechung der fronto-ponto-zerebellaren Bahn lebhaft an den katatonen
Stupor, an die Regungslosigkeit und Reaktionslosigkeit der katatonen
Steifigkeit gemahnt, so erinnert uns der Mangel der mimischen und
anderen Ausdrucksbewegungen und Reaktivbewegungen der Palli-
dumkranken an meinen ..Pistolenversuch“ bei Kriegspsychosen
(1917) zur Differentialdiagnose pseudodementen (Schreck-) Stupors
vom katatonen, und wieder an etwas, was ich seinerzeit als Grundlage
der frühen Demenzdiagnose beim Kranken aus einem Symptome des
Untersuchers angeführt habe. Im Mangel an Rapport, an Ein¬
fühlung in diese Kranken, in der Uneinf Uhlbarkei t der Kranken steckt
der Mangel der einfühlenden Mitbewegungen, der nachahmenden Aus*
drucksbewegungen des Untersuchers, infolge von Defekten der
feinsten Ausdrucksbewegungen des Kranken, schon bevor dieser
Mangel am Kranken selber direkt kenntlich wird, oder ein objektives
Demenzsymptom eintritt. (Meteoristische Unruhebilder, 1912). Wei¬
ter werden wir erinnert an Bleulers Feststellung des Verlustes
der affektiven Modulationsfähigkeit der Dementia-praecox-Kranken
und an ihre steife, unzugängliche (autistische) Kälte (Bleuler,
Kretschmer) und steife Mimik. Haltung usw.
Foerster zeigt auch S. 40 im Bilde sehr schön die Nach-
d a u e r des verspätet eingetretenen Ausdrucks des Staunens (durch
T a g e) bei einem Kranken mit arteriosklerotischer Muskelstarre und
gibt uns so vielleicht einen Wink für manches ratlose, erstaunte Drein-
97
schauen der kleinen Kinder und mancher sogenannter „Amenten“ der
alten Nomenklatur.
Natürlich will ich nicht etwa bei dieser Gelegenheit das Krank-
heitsbild der Amentia aus unserer Krankheitstafel löschen. Auch ver¬
hehle ich mir manche Unterschiede des katatonen Stupors von dem
eben Geschilderten nicht, z. B. den gar nicht seltenen mißtrauisch-
scharfen und hellen Beobachter-Blick regungsloser Dementia-
praecox-Kranker und vor allem die Lösbarkeit, gelegentlich sehr
rasche Lösung solcher Stuporzustände, auch sehr schwerer. Doch
muß diese rasche Lösbarkeit durchaus nicht gegen ihre organische
Genese sprechen. Enthemmungszustände oder Reizerscheinungen
oder Hemmungszustände können sich im Verlaufe einer Krankheit be¬
heben, ablösen usw., auch beeinflussen lassen.
0. Foerster sah bewegungsunfähige Pallidumkranke sich
morgens rasch ankleiden, auf den Gang hinausgehen, wo sie plötzlich
erstarrten und bewegungsunfähig stehen blieben, auch beobachtete er
nächtliches Wandern Bewegungsunfähiger mit nachträglicher Am¬
nesie dafür.
Vgl. J. Reinholds Besserungen striärer Mikrographie in der
Hypnose (Vortrag im Verein deutscher Ärzte zu Prag, Februar 1921).
Auch hat neuerdings (Mediz. Klinik vom 6. 4. 1922, 18. Jahrg., Nr. 14,
S. 440) in der Gesellschaft der Ärzte in Wien (Sitzung vom 31. 3.
1922) J. Mattauschek eirten 19jährigen Patienten demonstriert,
..mit auffallend raschem Verschwinden des Par-
kinsonismu s“: Im Januar 1920 Encephalitis lethargica (Fieber,
Augenmuskelstörungen, myoklonisches Bild), nach 5 Monaten nach
Staphylokokkenvakzine-Behandlung symptomfrei entlassen, Novem¬
ber 1920 Rezidiv von Schlafsucht, nach 2 Monaten abgeklungen, Mai
1921 wieder Schlafsucht und zugleich schwerer Parkinson mit Sali-
vation usw. ... Im Januar 1922 im Laufe einiger Tage ein plötz¬
liches hochgradiges Nachlassen aller zum Bilde des Parkinson ge¬
höriger Symptome: Pat. wurde lebhaft, zeigte Interesse an den Vor¬
gängen seiner Umgebung, schläft normal (vorher nachts unruhig ge¬
wesen), die Salivation verschwunden, noch Spur maskenhafter Starre,
der Rigor vielleicht gerade noch bemerkbar, die Haltung etwas vorn-
ulx?r geneigt.
Daß Salivation nicht nur zum Enzephalitisbilde gehört, sondern
auch beim Pallidumsyndrom an sich, wie bei der Dementia praecox,
vorkommt, ist bekannt. Vielleicht interessiert es an dieser Stelle,
was Dr. Omega (wohl ein Pseudonym) nach Dr. Johannes
A ugustusUnzer einem Hamburger Arzte aus der zweiten Hälfte
L o e w v , Dementia praecox. (Abhandlungen H. 20.) 7
98
des 18. Jahrhunderts, der zum Lobe des Tabaks schrieb, anführt:
„Schon Hippokrates wußte es, daß Leute, die stark auswerfen (es ist
Speichel gemeint), melancholisch werden.
Foerster führt weiter vom Pallidumsyndrom S. 40 an: Den
Mangel an Spontanbewegungen, an Initiativbewegungen, den verlang¬
samten Bewegungsbeginn, die verlangsamte Durchführung und ver¬
langsamte Bewegungssukzession (gelegentlich mit plötzlichem Ab¬
schneiden oder vielem Steckenbleiben) der Willkürbewegungen. Er
betont dabei, daß die Pat. ihren Angaben nach die Bewegungen aus¬
führen wollen, aber nicht können, sich anstrengen, das „Willens¬
gefühl“ und das Anstrengungsgefühl bei den intendierten Bewegun¬
gen erhalten zeigen.
In letzterem Umstande, so sehr manches an den katatonen Im¬
pulsmangel und an die Sperrungen der Katatonen erinnert, scheint ein
Unterschied gegeben, gegenüber der „Intentionsleere“ der Dementia-
praecox-Krauken (siehe diese meine Lehre 1910). Die Störung der
Dementia praecox müßte also dann, w r enn das Willensgefühl oder
überhaupt die Intention fehlt, vielleicht auf einer anderen Ebene ge¬
sucht werden. Daß auch diese Ebene der intermediären psychischen
Schicht und den Reaktionsbewegungen nahesteht, trotzdem es sich
um Willkür bewegungen handelt, scheint mir daraus hervorzu¬
gehen, daß auch die Spontaneität im Fringe ihre Wurzeln hat.
Auch ist der Unterschied durchaus nicht absolut, über Stimu¬
lation werden auch bei Katatonen manchmal Bewegungen unter An¬
strengung angesetzt, wieder gesperrt usw.
Auch pathologische Bewegungen können mit Anstrengung
hervorgebracht werden. Den Abhandlungen aus der Neurologie, Psy¬
chiatrie usw., Beihefte zur Monatsschrift für Psychiatrie und Neuro¬
logie, Heft 15, ,;Über die Bedeutung und Entstehung der Stereotypien“
von Dozent Dr. Jakob Kläsi (Zürich) entnehme ich S. 11: Die
Beobachtung N e i ß e r s , daß Kranke, welche verbigerieren, ihre
Worte oft mit sichtlich großer Anstrengung hervorbringen, so als ob
sie einem organischen Zwange folgen würden und einen großen inne¬
ren Widerstand zu überwinden hätten; daß der freien Entfaltung des
Redetriebes (resp. Bewegungstriebes bei motorischen Stereotypien)
organisch-funktionelle Widerstände in Gestalt einer Gebundenheit
oder Hemmung sich entgegenstellten und daß dadurch ein Loskommen
von denselben Worten (oder Bewegungen) erschwert oder ganz ver¬
unmöglicht werde; und daß sich an ein Krankheitsstadium mit Verbi-
geration in der Regel ein Attonitätszustand anschloß. (NeißerClem.
„Über das Symptom der Verbigeration“. Allg. Zeitschr. f. Psychiatrie,
99
Bd. 46. 1890.) Ähnliches sahen wir jetzt bei der Encephalitis epide¬
mica.
(Anmerkung Max L ö w y: Ygl. oben meinen Hinweis auf die
v neben direkter Schwerablösbarkeit bestehende) Verursachung
sowohl von Schwerablösbarkeit vom einmal Angeschlagenen, wie
auch von Wiederholungszwang: durch Schwererweckbarkeit und Ab¬
fuhrzwang für das Schwererweckte. Daß ferner auch Enthemmungen
beim Iterieren eine Rolle spielen können, zeigte A. P i c k am Beispiel
der ..Palilalie“ bei Striären. Daß endlich die verschiedensten psycho¬
logischen Entstehungsmechanismen für Verbigeration und Stereo¬
typien in Betracht kommen: affektive Bedeutung der Wiederholung
«z. B. als Bekräftigung „ja, ja, ja“), „Symbolbedürfnis“ und Abfuhr¬
zwang zum immer erneuten gleichen oder variierten Wiederholen des
symbolischen Aktes, Satzes oder Wortes, sei hier betont, lind be¬
züglich der „Stereotypien“: 1) als Abwehrbewegungen gegen Körper-
siiuishalluzinationen, 2) als autistische Zweckhandlungen, 3) als Zere¬
monien. 4) als Relikte oder Restleistungen (Abkürzung, Vereinfachung
und Zählebigkeit derselben) muß auf J. K 1 ä s i s grundlegende Arbeit
..Über die Bedeutung und Entstehung der Stereotypien“ im Originale
zurückgegriffen werden. Ich bin hier auf die Stereotypien nochmals
und gerade hier ausführlicher zurückgekommen, weil gerade durch
das Daneben halten ihrer vielfachen Determinierung und Ver¬
wurzelung neben die Parakinesen, das Pallidumsyndrom und das
Syndrom der fronto-ponto-zerebellaren Bahn: die Notwendigkeit der
Beachtung der intermediären psychischen Schicht als gemeinsames
Gebiet der Denken, Fühlen und Handeln vorbereitenden Funktionen
uml der Entstehungsstätten dieser Funktionen: im ganzen als ein
zusaiumenwirkendes Gesamtgebiet und bei der Dementia praecox prin¬
zipiell betroffenes Systemgebiet schön illustriert wird.)
Vielfache Analogien zwischen Dementia praecox und strio-palli-
daren Störungen brachte uns auch die Encephalitis lethargica. Eine
Fundgrube von Analogien zu den psychischen Symptomen der De¬
mentia praecox eröffnet sich in der Arbeit aus der Heidelberger psy¬
chiatrischen Klinik: „Encephalitis lethargica in der Selbstbeobach¬
tung“ von W. Mayer-Groß und G. Steiner. (Zeitschr. f. d.
gesamte Neurol. und Psych., Bd. 73, Heft 1/3, 1921). Doch bleibe die
Ausbeutung und Ausdeutung des Gefundenen und Beobachteten den
Autoren selbst Vorbehalten.
Nun sind auch sonst mannigfach verwandte motorische Störungen
und sehr interessante Störungen des psychischen Geschehens und zwar
letztere zusammen mit basalganglionären Symptomen und beide in
7 *
100
Ähnlichkeit mit den Symptomen der Dementia praecox nach Ence¬
phalitis lethargica beobachtet worden. Auch ich sah nach Encepha¬
litis: zusammen mit Rigor Denkhemmung und Affekthemmung, resp.
gehemmte Depression; andererseits Enthemmung als Rededrang,
zwangsmäßiges Stenographieren: wenn ohne Papier und Bleistift, in
die eigene Hohlhand, beides von inhaltlich Richtigem, besonders bei
Nacht, gelegentlich zusammen mit von der Pat. unbemerktem objek¬
tivem leisem Pillen drehen mit Daumen und Zeigefinger, und
dies zusammen mit geringem Extremitätenrigor, mäßiger mimi¬
scher Verarmung, Salbengesicht (nach Toby Cohn), tachy-
pnoischen Anfällen besonders in Erregung, halboffenem Mund und
Salivation; auch einen Fall mit zwangsmäßigen saalam-ähnlichen Ver¬
beugungen und anfallsweisem zwangsmäßigem Blasen durch die Fin¬
ger, öfters mit Erwachen in der Nacht unmittelbare Ausführung dieser
Bewegungen und Wiedereinschlafen, alles bei klarem Bewußtsein und
nachträglicher Erklärung, er hätte es machen müssen, bei einem 10-
oder 11jährigen Jungen zusammen mit Rigor; endlich Auftauchen von
der Zwangsangst und den Phobien ähnlichen Symptomen mit Rigor;
einseitigen Kaumuskelkrampf bis zum Durchbeißen des Kautschukober¬
gebisses dort; wohl verstanden alles lange, gelegentlich mehr als ein
Jahr lang nach Ablauf der akuten Erscheinungen der Encephalitis
lethargica noch bestehend. Hier, wo kein Sektionsbefund vorliegt, kön¬
nen natürlich Hirnrindenaffektionen nicht ausgeschlossen werden und
wenn ich mich recht erinnere, hat in der Mehrzahl der Fälle oder bei
allen Fällen (die Krankengeschichten sind mir zurzeit nicht zugäng¬
lich), im Beginne Doppelsehen bestanden. Es handelt sich hier also um
eine diffusere Schädigung und wir tun daher gut — wiederum mit
Kleist — der Verwendung von Enzephalitisfolgen zur Analogisie-
rung mit der Dementia praecox bis auf weiteres noch mit Vorsicht
gegenüberzustehen. *
Gerade Kleist selbst, dem die größte Kennerschaft der psycho¬
motorischen Störungen bei der Dementia praecox und im allgemeinen
zuzusprechen ist, steht einer glatten Analogisierung auch der lokali¬
sierten Basalganglienstörung mit den psychomotorischen Störungen
der Dementia praecox in bedächtiger Reserve gegenüber.
Ich glaube aber, wiederum mit Kleist, doch an die Verwer¬
tungsmöglichkeit und Verwertungsberechtigung der Pathologie der
Zerebralganglien für die Erklärung der Symptome und Pathologie der
Dementia praecox, auch der psychischen Symptome. Ich glaube wei¬
ter, daß die obige Aufstellung und Analyse einer intermediären psy¬
chischen Schicht als Zentralstätte der Funktionsstörungen sowohl der
101
Basalganglienerkrankungen als der Dementia praecox geeignet ist,
diese Auffassung des weiteren zu entwickeln und zu stützen.
Nun ist die Dementia praecox zum-Unterschied von der Mehrzahl
der Basalganglienerkrankungen eine chronisch oder remittierend pro¬
grediente Erkrankung^ überwiegend psychischer und wohl syste¬
matisch elektiver Art, und zugleich oder*'richtiger primär
eine Anlage anomalie: und es wird noch mancher Detailstudien be¬
dürfen. um Verwandtschaft und Verschiedenheit der Symptome, be¬
sonders der psychischen, bei den Basalganglienerkrankungen*Und bei
der Dementia praecox (der Gruppe der Schizophrenien nach B l e-p—
ler) im einzelnen zu studieren. Doch muß das späterer Bearbeitung
Vorbehalten bleiben.
Auch wenn die Analogisierung: sowohl der Motilitätssymptome
i darunter auch einseitiger) wie von Gemein-, resp. Organempfindungs-
störungen (darunter auch einseitiger), sowie entsprechender Affekt-
imd Denkstörung und mancher sonstigen psychischen Symptome der
Basalganglienerkrankungen und jener bei der Dementia praecox und
mit den Funktionsstörungen dieser von mir supponierten intermedi¬
ären psychischen Schicht geeignet wäre, die Auffassung der Dementia
praecox als Funktionsstörung der intermediären psychischen Schicht
und als einer Erkrankung der basalganglionären Systeme des Gehirns
stimmig und plausibel zu machen, bedarf es noch eines Weiteren.
Es bedarf nämlich dann noch immer der Aufklärung für die viel
weitergehende Durchflechtung und Vielgestaltigkeit der ähnlichen
Symptome bei der Dementia praecox und für die Progredienz der De¬
mentia praecox gegenüber den meisten Basalganglienerkrankungen
und verwandten Störungen und für die Vielgestaltigkeit des Verlaufes
bei der Dementia praecox. Und damit sind wir zu unserer ursprüng¬
lichen Fragestellung nach den Gründen der Vielgestaltigkeit in Sym¬
ptomen. Zustandsbildern und Verlauf bei der Dementia praecox wie¬
der zurückgekehrt.
Betrachten wir aber die verschiedenen Symptome. Zustandsbilder
und Verlaufsbilder in der Dementia praecox als Hinweise auf ver¬
schiedene Lokalisation, Ausbreitung. Ausbreitungs- und Fort-
schreitensrichtung und endlich Intensität der Funktionsstörungen in
der intermediären psychischen Schicht und der Hirnschädigung an
verschiedenen Stellen der basalganglionären Systeme, respektive ihres
Unterbaues und Überbaues, so können wir auch verstehen, daß ge¬
legentlich interkurrent bei anderen Hirnschädigungen (nach
Traumen und Infektionen, bei Arteriosklerose und Epilepsie, im Se¬
nium und in der Paralyse) Ausschnitte aus dem Symptomenbilde der
Dementia praecox Vorkommen können, daß es also katatone Formen,
102
z. B. der progressiven Paralyse, der.’ senilen Demenz und bei heil¬
baren Puerperalpsychosen gibt, daß verwandte Zustandsbilder bei
den „striären Erkrankungen‘-und" bei Herdaffektionen striären Sitzes
Vorkommen. Und wir können weiter verstehen, wieso Dementia Sim¬
plex (primaria), HelWphrenien, Katatonien, Dementia paranoides,
Paraphrenien, Wahn eler körperlichen Beeinflussung, hypochondrische
Wahnbildungeit mit Organhalluzinationen und Gemeingefühlsänderun¬
gen (Paranohr hypochondriaca der alten Psychiater) ein und dem¬
selben Krankheitsrahmen angehören können.
“Es" handelt sich dann um verschiedene Lokalisation, Intensität,
•Ex-tensität. Ausbreitungs- und Fortschreitensrichtung sowie Akuität
oder Chronizität einer eventuell elektiven Systemschädigung als
Grundlage der Vielgestaltigkeit und verschiedenartigen Durchflech-
tung von Symptomen, der Verschiedenartigkeit von Zustandsbildern
und Verläufen bei der Dementia praecox.
Auch das Eintreten oder das gelegentlich Adelleicht mögliche völ¬
lige Ausbleiben der Verblödung bei den chronisch progredienten Hirn¬
prozessen der Dementia praecox wäre dann von der Art der Aus¬
breitung und dem Fortschreiten des Hirnprozesses im Basalganglien¬
systeme und seinem Unterbau und Überbau und von Art und Grad der
Funktionsschädigung der intermediären psychischen Schicht (ob mit
oder ohne Einbeziehung der Hirnrinde bleibe noch offen) abhängig
und bestimmt.
Nehmen wir auch nocli die Annahme zu Hilfe, es handle sich bei
der elektiven Systemerkrankung um eine angeborene Schwäche oder
Anfälligkeit dieser Systeme — nach Art etwa der Heredodegeneratioiv
(vgl. z. ß. Reckte nwalds Kombination familiärer Schizophrenien
und Muskeldystrophien) —, dann gehört auch die Erbschizose und der
schizophrene Reaktionstyp auf Situationen usw. in diesen Rahmen,
(letzterer etAva im gleichen Sinne, wie eben auch katatone „aber-
funktionelle“ Bilder bei manisch-depressivem Irresein. Hysterie, gele¬
gentlich vorübergehend als Funktionsstörungen in der intermediären
psychischen Schicht ohne organische Erkrankung zustande kommen
können, aber bei den schizophrenen Reaktionen auf dem Boden der
Schwäche und Anfälligkeit der zugehörigen Systeme grundsätzlich
und auf geringeren Anlaß hin).
Es würde sich dann bei Erbschizosen und' schizophrenen Reak¬
tionstypen, sowie bei der Dementia praecox um eine heredodegenera-
tive Schwäche und Anfälligkeit der basalganglionären Systeme, etw r a
im Sinne der Abiotrophie G o w e r s und der Aufbrauchkrankheit
(E d i n g e r s) bei anderen Heredodegenerationen unter den gewöhn¬
lichen Lebensreizen und Lebensfunktionen handeln. Und so könnten
103
Erbschizose und Dementia praecox zusammen erklärbar werden als
Lebens- und Leistungsschwäche, respektive als darauf basierte wirk¬
liche Erkrankung der Kleinhirn-Basalganglien-Stimhimsysteme.
Wie ich eben dem äußerst wertvollen Berichte „Über die Literatur
des manisch-depressiven Irreseins und der Dementia praecox“ von
Helmut Müller (Leipzig-Dösen) entnehme (Zentralblatt für Neu¬
rologie, Ergebnisse, 15. 3. 22) und nachträglich noch einfügen kann:
..hat schon M o 11 w e i d e die Dementia praecox zu den heredo-fami-
liiiren Aufbrauchkrankheiten auf Grund einer minderwertigen Anlage
gewisser Partien des Zentralnervensystems gerechnet“.
M o 11 w e i d e spricht in der Originalarbeit „Symptomenkom-
plexe und Krankheitsbilder in der Psychiatrie in ihrer Beziehung zu
psychomotorischen und psychosensorischen Grundmechanismen“
(Zeitschrift f. d. ges. Neurol. u. Psych., Bd. 59, Heft 19, 1920) von den
psychomotorischen und psychosensorischen Systemen der Hirnrinde.
Erstere seien bei der Manie, letztere bei der Melancholie betroffen,
während beide Systeme in der Dementia praecox gestört sind. Er
verweist mit Recht auf die Vernachlässigung der Griesinger¬
scheu Ideen von der Störung psychosensorischer Systeme und be¬
rührt sich darin wohl mit meiner immer wieder betonten Lehre von
der Gemeinempflndungsstörung in den Denkstörungen bei der De¬
mentia praecox, und in der Störung psychomotorischer Systeme auch
in etwas mit Kleists Lehren.
Die Abiotrophie G o w e r s, Aufbrauchkrankheit E d i n g e r s ,
<*. Rosenbachs „angeborene embryonale Defekte“, bei deren Be¬
stehen die normale Funktion schon eine Schädigung bedeutet, Mar-
tius ..normale Bildungen mit einem Minus von Lebensenergie“, faßt
Julius Bauer (Vorlesungen über allgemeine Konstitutions- und
Vererbungslehre, 1921, Berlin bei Springer) dahin zusammen: Es kann
die Organminderwertigkeit, die Lebensschwäche eine derartige sein,
daß Schädigungen und Einflüsse aller Art, welche an sich, d. h. für das
Mittelmaß an Widerstandsfähigkeit durchaus belanglos sind, in diesen
Fällen eine progrediente anatomische Degeneration des betreffenden
Parenchyms auslösen (nervöse Systemerkrankungen, Amyotrophien
'■sw.). S. 187.
S. 167/168 wird auch darauf hingewiesen, daß diese „Krankheits¬
bereitschaften“ minderwertiger Organe, welche zum locus minoris
resistentiae, zum optimalen Boden der Wirksamkeit einer Schädigung
werden, unter sonst gleichen Bedingungen die Lo¬
kalisation einer allgemein w i r k e n d e n N o x e de¬
terminieren. sei sie physikalischer, chemisch-toxischer oder in-
104
fektiöser Natur; ja, es bestimmt diese Minderwertigkeit eines Organs
oder Organsystems auch den Ort, an welchem sich allgemein funktio¬
neile Anomalien des Nervensystems manifestieren, sie determiniert
also die Lokalisation von Organneurosen. Diese Lehre Bauers
läßt sich in entsprechender Anpassung auch auf unsere Frage an wen¬
den und muß beachtet werden: besonders bezüglich der Rolle endo¬
kriner Störungen für die Auslösung der manifesten Dementia praecox.
Von welchen Umständen dann das Auswachsen einer solchen
Lebensschwäche der Kleinhirn-Basalganglien-Stimhimsysteme zur
Dementia praecox abhängt: Lebensverbrauch besonders schwacher
und anfälliger Systeme, bei etwas Widerstandsfähigeren konstellierte
Lebensschicksale (nach Bleuler besonders Schwierigkeiten im
Liebesieben und in der Geltendmachung der Persönlichkeit, vgl.
E. Popper und Alfred Adlers Regression vor der Lebens¬
erprobung und Liebeserprobung), vielleicht mal auch psychische
Traumen, Schädeltraumen. Infektionen, Intoxikationen, exogener
und endogener, besonders endokriner Art, scheint mir von der hier
eingenommenen Ausgangsstellung aus leichter prüfbar.
Bezüglich der etwaigen kausalen Rolle endokriner Störungen
(K r a e p e 1 i n , F a u s e r , Kafka und viele neuere, besonders
Kretschmers Konstitutions- und Temperamentslehre und
E. S t ran sk y) wäre hier noch anzumerken: Wir wissen besonders
durch Bernhard Aschner (Wien), daß im Zwischenhirn vaso-
regulatorische, vegetative Zentren liegen und wie Aschner betont,
aucli inkretorisch regulative. Weiter sehen wir in der Tat bei Stri-
ären und nicht nur bei Enzephalitiskranken, sondern bei „Systema-
tisch-Striären“, z. B. Paralysis agitans, Schweißausbrüche, Salivation,
Potenzstörungen. Emanuel Spiegel (Wien) verwies bezüglich
der Salivation auf den Übergang vom Thalamus opticus zum vorderen
Abschnitt des Mittelhirns resp. auf die Corp. quadrig. anter. L. L e -
n a z (Über die Rolle des vegetativen Nervensystems in der Physiolo¬
gie und in der Pathologie der animalischen Funktionen) bezeichnet die
Affekte als die Folge von Veränderungen des Erregungszustandes im
Zentralapparate des vegetativen Nervensystems, die sich bei sämt¬
lichen mit dem Systeme zusammenhängenden Organen äußern, d. h.
also nicht nur bei Muskeln und Drüsen, sondern auch bei den Organen
des bewußten Denkens. Das Zentrum dieses Systems muß im Zwi¬
schenhirn gesucht werden (Berl. klin. W., 1921, Referat Neuhau s ,
Med. Klinik, 1922). Bei meiner Annahme der Durchflechtung der das
bewußte Erleben vorbereitenden Funktionen möchte ich mich nicht
einseitig auf die Ableitung der Affekte vom vegetativen Nervensystem
105
oder den Hormondrüsen festlegen, doch paßt auch diese Auffassung in
den Rahmen der intermediären psychischen Schicht. Kleist ver¬
weist auf das Vorkommen von vermehrter Talgdrüsensekretion, also
das Salbengesicht, sowohl bei Katatonikem, wie bei Striären.
Es wäre nicht undenkbar, daß also die lokalisierte Himerkran-
kung nicht, wie man von der Dementia praecox annimmt, Folge
sondern Ursache endokriner Störungen sein könnte; also die bei
der Dementia praecox gefundenen endokrinen Störungen und evtl,
auch Himschwellungen Folgen des gleichen Hirnprozesses wie die
anderen Symptome, die endokrinen Störungen also Symptome unter
anderen Symptomen: als Ausdruck der Lokalisation des Him-
prozesses.
Natürlich übersehe ich dabei nicht, daß endokrine Störungen in
bedeutsamer und der Dementia praecox ähnlicher Weise auf die
Psyche wirken können, auch wo sie primär sind. Wir sehen ja z. B.
Pubertätsintoxikationen, wenn man so sagen darf, auch außerhalb der
Dementia praecox ihr ähnliche Symptome der intermediären psychi¬
schen Schicht machen: so die Pubertätsalbernheit mit läppischem Be-
U'dunen und albernem Lachen oder Lachen und Weinen aus einem
•Nick, wie es in einem Schubertliede heißt: Lachen und Weinen, mir-
*lb nicht bewußt. Weiter emotionelle Inkontinenz, Empfindlichkeit,
ambivalentes Wesen, unklares, auch in gewissem Sinne unfertiges, da¬
bei meist hochfliegendes Denken und Planen, Weltverbesserungspläne
und Durchbrechen primitiver Triebregungen. Es scheint mir dies ein
Hinweis darauf: die von mir hier aufgestellte Möglichkeit einer
mkundären Auslösung endokriner Störungen durch eine System-
Kränkung bei der Dementia praecox /war zu beachten, aber nicht zu
Imiß zu nehmen und auch in Zukunft für die Dementia praecox eine
etwaige kausale Rolle endokriner Störungen nicht aus dem Auge zu
'erlieren. Vorläufig scheint mir hier O. P ö t z 1 s an der Hirnschwel-
l |lI| g abgeleitete Auffassung (s. Kap. II) von einer Störung der Wir-
kitngskette: Zerebrum, sympathische und autonome Systeme, endokrine
Drüsen — im Ringe geschlossen — als unpräjudizierlich einzig am
Platze; vgl. auch Kretschmers Definition des Tempera-
,n e n t s als 1) Sinnes-Gehim-Motilitätsapparat und 2) Gehim-Drüsen-
a Pparat, was ja auch Beziehungen zur intermediären psychischen
Schicht bedeutet.
Schon vor mir hat K. Wilma uns fast die gleichen Bedenken
u,1( l Auffassungen wie ich hier: Gegenüber einer einseitigen Basie-
der Dementia praecox auf endokrine Störungen entwickelt,
w,e ich einer gelegentlichen mündlichen Besprechung und nun seiner
während der Korrektur gerade noch rechtzeitig eingelangten Ver¬
öffentlichung aus den „Vorträgen zur Schizophreniefrage“, ge¬
halten in der Südwestdeutschen Psychiaterversammlung zu Heidel¬
berg am 22. und 23. XI. 1921, „Die Schizophrenie“ (Ztschr. f. d.
ges. Neur. und Psych., 78. Bd., 4. und 5. H., 23. 9. 1922), ent¬
nehmen kann.
S. 364: Als feststehend kann nur gelten, daß gewisse Be¬
ziehungen zwischen der Dementia praecox und endokrinen Störun¬
gen bestehen, und zwar, daß einmal in einzelnen Fällen schon vor
dem Ausbruch der stürmischen Psychose eine mit endokrinen Regel¬
widrigkeiten einhergehende Konstitution vorliegt, daß weiterhin der
Ausbruch der sinnfälligen Erkrankung Zeiten starker endokriner
Umwälzung bevorzugt, und endlich, daß gewisse Formen der
Schizophrenie, besonders die Katatonie, mit ausgesprochenen endo¬
krinen Symptomen einherzugehen pflegen. Daß aber endokrine Stö¬
rungen die Ursache der Schizophrenie seien, ist unbewiesen.
Man wird daher die Frage aufweifen dürfen, ob nicht umgekehrt
die Hirnerkrankung das Primäre sei. die ihrerseits erst die endo¬
krinen Erscheinungen zur Auslösung bringt.
S. 366: Die Schädigung endokriner Drüsen führt zu Gehirn¬
störungen, und diese wiederum zu endokrinen Erscheinungen.
Gehirn und Drüsen stehen somit in Wechselwirkung. Vielleicht ist
das Gehirn, wie von der Leber, der Milz, den Lymphdrüsen, dem
Knochenmark, den Darmdrüsen usw. angenommen wird, gleichfalls
ein Glied der endokrinen Kette, deren harmonische Zusammenarbeit
unterbrochen wird, wenn nur eines ihrer Glieder versagt. Immerhin
dürfte die scheinbare Regellosigkeit in den endokrinen Störungen,
wie bei der Encephalitis lethargica auch bei der Schizophrenie dafür
sprechen, daß wir ihren primären Sitz in tieferen Hirnteilen zu
suchen haben.
S. 366: Somit führt uns die hirnphysiologische Betrachtung
sowohl gewisser körperlicher Störungen — (vasomotorische Störun¬
gen, S. 359, kataleptische, allgemeine oder umschriebene Starre-
Zustände, Grimassieren, Schnauzkrampf, Stereotypien, Verbigera-
tion, Hypermetamorphose Wernickes und Kleists oder Ab¬
tasten von Leupolds etc., sowohl bei Dementia praecox als bei
Encephalitis lethargica und anderen Basalganglienerkrankungen.
S. 360) — wie der endokrinen Störungen der Dementia praecox,
dazu: Für beide (sc. die körperlichen wie die endokrinen Störungen)
einen gemeinsamen Sitz an der Basis des Zwischen- und Mittelhirns
107
auzunehmen. Ist diese Anschauung richtig, so ist sie vielleicht ge¬
eignet, uns ein Verständnis für das von uns und Albert Schmidt
beobachtete häufige Vorkommen von Schizophrenien (oder schizo¬
phrenieähnlicher Erkrankungen?) bei Kriegs-Kopfverletzten zu geben.
Es ist denkmöglich, daß das schwere Kopftrauma die Veränderungen
im Zwischenhim bewirkte, deren psychische Äußerungen als Schizo¬
phrenie imponieren.
S. 808: Zugegeben, die Dementia praecox K r a e p e 1 i n s sei
eine Gruppe der endogenen Erkrankungen, die nur durch gewisse
äußere Ähnlichkeiten in ihren Erscheinungen zusammengehalten
werden, ihr Kern ist eine Krankheitseinheit. Zu dieser
Auffassung drängen uns die Ergebnisse der psychiatrischen Familien-
forsclmng. Prüft man die Erkrankungsfälle innerhalb einer Demen-
tia-praecox-Familie auf Erscheinungs- und Verlaufsformen, so stellt
man zwar bisweilen eine überraschende Gleichartigkeit, häufiger aber
eine ungemeine Verschiedenartigkeit fest (so z. B. Vorster,
Berze). Hebephrene, katatonische, paranoide Formen, solche mit
schleichendem und mit stürmischem Verlaufe, mit schnellem Aus¬
zug in einen Schwächezustand, und mit günstigem Verlaufe:
mischen sich in oft mannigfaltigster Weise und bringen ihre klinische
Zusammengehörigkeit überzeugend zum Ausdruck. Genealogische
lutersuchungen haben uns gehindert, Kraepelin in seinem Ver¬
gehe zu folgen, die Paraphrenien von der übrigen Dementia praecox
a * s selbständige Gruppe abzutrennen.
Hierzu noch S. 849: Bezüglich gewisser Depressionen des
hofieren Alters (ältere Kranke mit depressiv gefärbten Psychosen.
d ' ( * nach einem längeren melancholischen Vorstadium allmählich
'"erschlossener, unzugänglicher, mißtrauischer und ablehnender wer-
dei *. und schließlich sich ganz in sich verschließen, bisweilen eigen-
art ige Manieren annehmen, uneinfühlbare Wahnideen Vorbringen,
^zum in ihrer Einförmigkeit, Unansprechbarkeit und Stumpfheit
du rehaus an schizophrene Endzustände erinnern, ohne irgendwelche
Ziehen gröberer zerebraler Erkrankung zu bieten): wird man
^ e tze beistimmen dürfen, wenn er diese Depressionen des höheren
Alters als einen eigenartigen Typus der Schizophrenie auffaßt, dem
Mter und Lebensschicksale Form und Inhalt geben. Nun zeigen
kementia-praecox-K ranke häufig Belastung mit Melancholie der
Ekern auf, und eine genauere Prüfung dieser Melancholien zeigt, daß
sich dabei um derartige chronische, melancholieähnliche Krank-
heitsbilder gehandelt hat.
108
S. 353 erwähnt W i 1 m a n n s noch die interessante Tatsache,
daß man in der Verwandtschaft der Huntingtonschen Chorea auf¬
fallend häufig auf Persönlichkeiten stößt, die man als klassische
..Schizoide“ bezeichnen darf.
Wilmanns ist also in diesem seinem umfassenden
Überblick über die Schizophrenie und bei aller seiner klaren Sach¬
lichkeit und stets besonnenen Kritik: sowohl zur Reserve gegenüber
einer rein endokrinen Fundierung der Pathogenese der Dementia
praecox gelangt (was uns auch in Fragen der Therapie eine Mahnung
zur Vorsicht sein mag), wie auch zu einer vorsichtigen Lokalisation
der schizophrenen Störungen an der Basis des Zwischen- und Mittel-
hirns, also zu einer Annäherung an die Kleist sehen Lehren gelangt:
und endlich auch auf erbbiologischem Wege zu einer Zu¬
sammenfassung jener Krankheitsbilder und Verlaufsformen,
welche ich mittels der Aufstellung von Funktionsstörungen im Be¬
reiche der intermediären psychischen Schicht (Gemeinempfindungs¬
störungen, Labyrinthstörungen, Störungen der Psychomotilität, der
Affektbildung, der Affektabfuhr, Entäußerung unfertigen Denkens aus
Bilanz- und Abschlußunfähigkeit des Denkens, sowie aus Übererreg¬
barkeit und Untererregbarkeit des Bemerkens, Störungen der Bewußt¬
heit des psychischen Agierens, Überleitungs- und Elektionsstörungen
im Fringe: Kurz in den Betriebsstätten der Vorbereitung des oberbe¬
wußten Denkens) zu charakterisieren und zusammenzu¬
halten versucht habe. Es scheint mir dies eine wertvolle Stütze
meiner auf überwiegend psychologischem und psychopathologischem
Wege gewonnenen Anschauungen über die Denkstörungen der De¬
mentia praecox und ihre Pathogenese auf dem Boden von Funktions¬
störungen der intermediären psychischen Schicht und der Basal¬
gangliensysteme.
Auf wieder anderem Wege, nämlich dem hirnphysiologischer
und hirnpathologischer Überlegungen kam auch E. Küppers (in
der gleichen Vortragsreihe und am gleichen Erscheinungsorte wie
Wilmanns) „Über den Sitz der Grundstörung bei der Schizophre¬
nie“ dahin, das Substrat der Persönlichkeit in der Zerebrospinal-
achse, besonders im Thalamus, zu suchen, während die Hirnrinde ein
bloßes Werkzeug der Person sei; und das Wesen der Schizophrenie
darin zu erblicken, daß die aktuelle Persönlichkeit verschwinde oder
unwirksam werde“. (Vgl. auch Jaspers: Über den katatonen
Symptomenkomplex mit Verschwinden der aktuellen Persönlichkeit,
s. o.).
109
Bezüglich der Bewertung der endokrinen Störungen und der
hier vertretenen Auffassung der Dementia praecox als einer heredo-
degenerativen Zerebralerkrankung oder wenigstens in der Anlage
konstellierten Zerebralerkrankung liegt nun eine pathologisch-ana¬
tomische einschlägige Feststellung vor. In Tandlers Zeitschrift für
angewandte Anatomie und Konstitutionslehre, Bd. 5, H. 1, 2, 1919.
(bei Springer, Berlin) erhob Dr. M. Frank aus dem path.-anatomi-
schen Institute der deutschen Universität in Prag (Prof. A. 6hon)
..Veränderungen an den endokrinen Drüsen bei Dementia praecox“:
für uns sehr Bedeutsames, gewonnen aus 6 Sektionsfällen von De¬
mentia praecox, darunter 2 Frauen, der Prager deutschen psychia¬
trischen Universitäts-Klinik.
Der Autor faßt S. 44, 45 seine Ergebnisse dahin zusammen:
..Die Schädigungen des Großhirns dürften wahrscheinlich auf Grund
einer abnormen Konstitution desselben entstanden sein, die als be¬
sondere sogenannte Partialkonstitution dieses Organes dem Rahmen
des allgemein herrschenden hypoplastischen Zustandes einzufügen
"äre. Dieser von vornherein abnorme Zustand würde es dann endo¬
genen oder exogenen Noxen erleichtern, Schädigungen zu setzen.“
Es sind 3 Annahmen möglich, die das Verhältnis der Verände¬
rungen im zentralen Nervensystem, zu denen im System der endo¬
krinen Drüsen, und dadurch zugleich die kausalen Beziehungen
dieser beiden Organsysteme zu der Genese der Dementia praecox
Ausdrücken:
1. Die primäre Ursache dieser Krankheit könnte in einer Ano¬
malie der Funktion der innersekretorischen Organe liegen und riefe
sekundär die beschriebenen Veränderungen im Gehirne hervor.
2. Die Gehimveränderungen wären als primär anzusehen und
^wirkten auf irgendeine uns allerdings vorläufig unbekannte Weise
Veränderungen in den endokrinen Drüsen.
3. Die Veränderungen im Gehirne und in den endokrinen Or¬
ganen hätten eine gemeinsame Ursache, die wir in dem Bestehen
e iner (an diesen 6 Fällen beschriebenen) pathologischen Konstitution
zu sehen hätten.
Die Prozesse in den einzelnen endokrinen Drüsen bieten uns
keine genügende Grundlage, um sie als die primären Veränderungen
u nd somit zugleich als Ursache der Dementia praecox ansehen zu
können. Ebensowenig erlauben uns die öfters nur in geringem
Drade vorhandenen Veränderungen im Gehirn, besonders die Art
derselben, sie als das ursächliche .Moment dieses Krankheitsprozesses
110
annehmen zu lassen. Dagegen glauben wir, daß die Beziehungen
der Veränderungen im zentralen Nervensysteme zu denen im Systeme
der endokrinen Drüsen in dem Sinne zu deuten sind, wie wir es in
der an dritter Stelle genannten Möglichkeit angenommen haben.
Die einheitliche Veränderung im Systeme der endokrinen Drü-
»sen: die Bindegewebsvermehrung in der Schilddrüse, in den Epithel¬
körperchen, wie die allerdings nicht durchwegs auftretende Wuche¬
rung des Bindegewebes im Hypophysen-Vorderlappen, als auch die
kolloide Degeneration des Schilddrüsenparenchyms und die Atrophie
der Nebennierenrinde, vielleicht sogar die Verschiebung im Mengen¬
verhältnisse der einzelnen Zellarten im drüsigen Anteile der Hypo¬
physe zu Gunsten der chromophoben und basophilen Elemente: wei¬
sen auf eine allgemeine Zustandsänderung des Organismus hin, die
wir als atrophisches Stadium des Lymphatismus
kennen, und die wir der größeren Gruppe der hypoplasti¬
schen Konstitutionsanomalie zurechnen.
Bestärkt wird diese Meinung, abgesehen von den in den betreuen¬
den Obduktionsbefunden gemachten Angaben, wie „Offenes Foramen
ovale“ und „Reste embryonaler Lappung der Nieren“, durch die
Feststellung einer Lymphozytose seitens früherer Autoren. Zu den
abnormen Partialkonstitutionen der eben aufgezählten Organe glau¬
ben wir auch eine solche des Nervensystems hinzufügen zu können,
auf deren Grund endogen oder exogen einwirkende Schädigungen
leicht abnorme Verhältnisse im Sinne der beschriebenen (Sioli:
schwere Schädigung der Ganglienzellen, mit Neigung derselben, zu
zerfallen, bei erheblicher Beteiligung der Glia an diesem Prozeß,
Borda: Neben Hirnatrophie, Veränderungen der Glia, bald diffus,
bald auf die innere Pyramidenschicht beschränkt) hervorrufen
könnten, die in ihrem Verlaufe das Zustandsbild der Dementia prae¬
cox bedingen würden.
Von meinem hier gewonnenen Standpunkte aus: dem
der Funktionsschädigung einer intermediären psychischen Schicht
und der Erkrankung zugehöriger Hirnsysteme kann jede
auf Beobachtung von Symptomen, Zustandsbildem und Ver¬
laufsformen der Dementia praecox beruhende Gliederung der
Dementia praecox nützlich werden, ohne verwirrend zu wir¬
ken. So mein alter Hinweis (1010, Demenzprozesse und ihre
Begleitpsychosen) auf neben dem dementierenden Prozesse einher-
111
gehende akute und subakute Hirnschädigungssyndrome: Koma, Be
uommenheit, epileptiforme Anfälle, schwere motorische Unruhe, De¬
lirien, Halluzinoseri und halluzinatorisch-paranoische Bilder und
Korsakoffbilder; sowie auf die Erwerbung einer psychotischen Kon-
-titution (heute würde ich sagen Geistesverfassung) analog der ange¬
borenen psychopathischen und manisch-depressiven und darauf aufge-
bauten Zustandsbildem konstitutionell-funktioneller Form, darunter
auch wieder paranoisch aninutender (zusammen von mir als „Begleit-
psychosen“ bezeichnet) als erworbene Folgen einschleichender Destruk-
tiuibprozesse im Verlaufe, besonders im Beginne derselben, ähnlich den
'•hronisehen Hirndestruktionen und ihren sogenannten „funktionellen“
Folgen bei der progressiven Paralyse, zerebralen Arteriosklerose,
senilen Demenz und Epilepsie, und bei den chronischen Intoxi¬
kationen. auch sonst bei und nach traumatischen und infektiösen
Hirnschädigungen.
ln dieser meiner Lehre von den „Begleitpsychose n“
auf Grund der Erwerbung einer psychotischen
t manisch-depressiven oder psychopathischen: neurasthenischen,
hysterischen usw.) Geistesverfassung durch den ein-
schleichenden Hirn prozeß scheinen mir gewisse Be¬
rührungspunkte zu stecken: mit den sich schneidenden
Formen kreisen der Psychosen und ihrer Anlagen
h (J i Gade 1 iu s (manisch-depressiver — egozentrischer(paranoischer)
~ schizophrener Formenkreis) oder bei Rehm (manisch-depressiver
~ paranoischer — hysterisclier). Dies: indem zur einen Seite von der
Dementia praecox der Formenkreis des manisch-depressiven Irreseins,
andrerseits von ihr der hysterische usw. Formenkreis läge, welche
Formenkreise sich dann an der Berührungsfläche des manisch-depres-
S|V en Irreseins und des psychopathisch-hysterischen Formenkreises
w * e d e r zum Ringe schlössen.
Meiner Auffassung nach (Über Wahnbildung, 1922), welche wohl
m, t der herrschenden Meinung übereinstimmt, stünde dann noch der
Hauptteil der chronischen paranoischen Bilder innerhalb des Formen¬
kreises der Dementia praecox (Paraphrenie usw.), zum Teil der
Psychopathien, seltenere im Manisch-Depressiven, und noch seltenere
deiner Beziehungswahn usw.) abseits. Ob weiter der hysterische
(psychopathische) Formenkreis der Erbanlage nach der Dementia
Praecox (schizoide Psychopathen, springende und alternative Tem-
Peramentskurve ' K r e t s c h m e r s und seine Schizothymen) oder
Manisch-Depressiven (Zyklothyme und ihre Verwandten) näher
steht, dagegen etwa das manisch-depressive Irre sein der Dementia
112
praecox auf Grund seiner endokrinen oder sonstigen z. B. zerebralen
Auslösung nahe zu stellen ist, oder bei der Dem. praecox alle
Funktionssysteme der intermediären psychischen Schicht und der
BasalganglienstalTeln, beim manisch-depressiven Irresein die affek¬
tiven, die „diathetischen“ (Lust-Unlust) etwa thalamischen Funk¬
tionen und Systeme allein, bei Hysterischen wieder andere basal-
ganglionäre Systeme schwach angelegt oder betroffen sind,
bleibe dahingestellt.
Ebenso stören uns nicht die Verschiedenheiten der Einteilungen
bei K r a e p e 1 i n und Kleist. Vergleichen wir z. B. Kraepe-
1 i n s Einteilung der endogenen Verblödungen.
A. Die Dementia praecox: Dementia simplex, Läppische Ver¬
blödung, Depressive (stuporöse) Verblödung, Depressive Verblödung
mit Wahnbildungen, Zirkuläre Formen der Dementia praecox, Agi¬
tierte Form, Periodische Form, Katatonie, (katatonische Erregung,
katatonischer Stupor), Paranoide Formen (Dementia paranoides
gravis und mitis), Sprachverwirrtheit (Schizophasie).
B. Die paranoiden Verblödungen: Paraphrenia systematica,
expansiva, confabulans. phantastica.
Daneben Kleists Gliederung der endogenen Defekt-
psychosen:
Psychomotorische Verblödung: Katatonie,
Affektiv-unproduktive Verblödung: Hebephrenie,
Inkohärente Verblödung (Schizophrenie im engeren Sinne):
Inkohärenz des Gedankenablaufs und Paralogien,
Dementia paranoides: Paralogien, Fehlbeziehungen, verworrene
Wahnbildung,
Progressive Beziehungspsychose,
Phantasiophrenie (Einbildungen und Konfabulationen),
Progressive Halluzinose.
Wie wir sehen, können diese Betrachtungsweisen ungestört
nebeneinander bestehen und jede für sich genommen und neben den
anderen nützlich sein, wenn wir sie von dem Standpunkte der De¬
mentia praecox: als Funktionsstörungen im Rahmen der intermediären
psychischen Schicht und im Bereiche der basalganglionären Systeme
mit ihrem Unter- und Überbau betrachten. Bis auf weiteres möchte
ich also meine Aufstellung der intermediären psychischen Schicht
und deren Störung als eine Hilfshypothese betrachten: Um, zusammen
mit Kleists Lehre von der Erkrankung der Kleinhirn-Basal-
ganglien-Stirnhirnsysteine in der Dementia praecox, die Frage der
118
Dementia praecox besonders ihrer Symptome und ihrer Pathogenese
und Lokalisation zu studieren.
Nun sind aber die Funktionsstörungen der intermediären psychi¬
schen Schicht nicht an der Dementia praecox selber mit einer basal¬
ganglionären Lokalisation in nachweisbare Beziehung gebracht, son¬
dern nur mittelbar auf dem Wege der Herderkrankungen und anderer
Systemerkrankungen dieses Gebiets (Paralysis agitans) sonach die
Lokalisation dieser Funktionsstörungen sozusagen bruchstückweise
aus diesen Urbildern zusammengesetzt.
Das ist ein Weg, den ja die funktionelle Lokalisationslehre im
Sinne A. Picks und besonders durch A. Pick selber anderweitig
erfolgreich gegangen ist. Das letzte Wort aber wird die Histopatho¬
logie der Dementia praecox selber zu sprechen haben, dahingehend:
oli wir es bei den Funktionsstörungen der intermediären psychischen
Schicht und insbesondere bei der Dementia praecox mit einer Erkran¬
kung der basalganglionären Systeme samt ihrem Unterbau und
( licrbau zu tun haben und insbesondere bei der Dementia praecox
mit einer elektiven Systemerkrankung derselben
und vielleicht mit einer Heredodegeneration,
oder nicht.
Daß diese Unterscheidung, ja auch nur einschlägige Feststellun¬
gen darüber, etwa so einfach seien, bilde ich mir nicht ein. Es bedarf
zur Illustrierung der Schwierigkeiten ja nur eines schon oben ange¬
zogenen Hinweises: Auch in frischen und reinen Fällen, welche etwa
ein sofort tödliches Suizid zur Sektion gebracht hat, braucht die Hirn¬
schädigung selbst wenn sie in den basalganglionären Zentren inten¬
siver eingesetzt, nicht dort, sondern an den verzweigten Endstätten
der Ausbreitungsgebiete dieser Zentren manifest zu werden und zu
suchen sein. Fenier können an älteren Fällen die nun auch in den
Zentren selber zu vermutenden Veränderungen von anderen über¬
lagert sein, oder vielleicht diffuser erscheinen oder vielleicht Von noch
unbekannter Art sein.
Immerhin haben wir meines Erachtens nach dem Obigen Grund
genug, die Kleist sehe Annahme der Erkrankung im Kleinhirn-
Basalganglien-Stirnhirnsystem nicht aus den Augen zu verlieren und
ihre pathohistologische Nachprüfung abzuwarten. (Vielleicht wären
in diesem Sinne auch die Abderhalden-Untersuchungen auf Hirn¬
abbau zu modifizieren.)
Inzwischen hat nun in den Verhandlungen der Gesellschaft
deutscher Nervenärzte. 11. Jahresversammlung zu Braunschweig.
September 1921 (Leipzig. Vogel, 1922). H. Josephy (Hamburg)
], ii c w y , Dementia praecox. (AItliandlimtfen H. 20.) g
114
über einen Fall von Dementia praecox resp. Katatonie mit schweren
Veränderungen im Pallidum berichtet, und findet S. 102 „bei
einer großen Reihe histologisch untersuchter Fälle aus der Praecox-
gruppe Veränderungen, und zwar relativ schwerer Art im tieferen
Grau, die sich zum Teil mit absoluter Sicherheit auf die Praecox
beziehen lassen, so daß die Symptome der Praecox nicht restlos und
ausschließlich in der Rinde lokalisiert sind. Das gilt vor allem für
die katatonen Bewegungsstörungen, wohl auch Sensationen u. dgl.“
Schon früher hat Alzheimer nach persönlichen Mitteilungen an
Kleist in mehreren Fällen von Katatonie Veränderungen in den
•Stammganglien gefunden. Desgleichen berichtete K. Wil¬
ma n n s in der Heidelberger Psychiaterversammlung 22. und 23. 11.
1921, Vorträge zur Schizophreniefrage „Die Schizophrenie“ (Ztschr.
f. d. g. N. und Ps., 78. Bd.. 4. und 5. H., 23. 9. 1922, S. 377), daß
N i ß 1 zur Erforschung der anatomischen Grundlage der Dem. praec.
zunächst die Anatomie der Basalganglien in Angriff genommen
hatte.
IV. Schlußsfltze und Zusammenfassung.
1. Die Symptome der Dementia praecox lassen sich ableiten teils
aus „psychomotorischen Störungen“ im Sinne von Wern icke und
Kleist, d. h. aus Störungen der automatischen, mimischen und
Reaktivbewegungen usw., der Einstellbewegungen, d. i. Denk¬
bewegungen, der Mitbewegungen, d. i. Einfühlungsbewegungen, der
Ausdrucksbewegungen und Affektbewegungen; teils aus Störungen
der Gemeinempfindung und ihres Ablaufs, evtl, auch Störungen
labyrinthärer Herkunft darunter; teils ausStörungen der Affektbildung
und Affektabfuhr in Form von Affektverarmung, Affektsteifigkeit,
mangelnder Modulationsfähigkeit des Affekts; teils aus Störungen
der Gedankenbildung, in Form von Pberleitungs- und Elektions-
störungen: in dem das bewußte Denken und Erleben vorbereitenden
psychischen Geschehen.
2. Die Störungen, welche diesen Symptomen zugrunde liegen,
stehen in den verschiedensten Wechselbeziehungen, sie sind Störun¬
gen in einem gemeinsamen Funktionsbereiche, welcher als
gemeinsame intermediäre Schicht das in verschie¬
denen Richtungen auseinanderstrebende bewußte Denken vorbereitet
und fundiert, den unbemerkte n gemeinsamen Unterbau, die
115
gemeinsame Unterkellerung des verschieden gerichteten und ausein-
aiiderstrebenden bewußten Erlebens darstellt. Diese intermediäre
psychische Schicht kann man schematisch zwischen Wernickes
Allopsyche (die Außenwelt) und Somatopsyche (das Bewußtsein vom
eigenen Körper) einerseits und andrerseits Wernickes Auto-
psyelie (die bewußte Persönlichkeit) legen. In dieser Situation be¬
rühren sich die intermediären Funktionen mit Stranskys Thymo-
psyche und dem, was wir Charakter nennen, decken sich aber nicht
ganz damit, denn sie enthalten die Psychomotilität, die Gemein-
emptindung. die Vorstufe der Affekte und Gefühle und Gemütslagen
(K r o n f e 1 d s Gestimmtheiten) und die mitschwingenden G e dan¬
ke u a t m o s p h ä r e n , den Fringe, Fransensaum von J a m e s , die
apponierende Kondensationsdampfhülle unbemerkter Natur um das
bewußte Denken, die Mutterlaugenlösung, aus der das oberbewußte
Denken auskristallisiert.
3. Störungen im Funktionsbereich der intermediären psychischen
Schicht linden wir gelegentlich auch bei anderen Erkrankungen als
U‘i der Dementia praecox, besonders lehrreich aber für die Sympto¬
matologie der Dementia praecox, bei den Basalganglienerkrankungen.
4. Eine Schädigung der Kleinhim-Basalganglien-Stimhirnsysteme
wird von Kleist den psychomotorischen Störungen überhaupt und
bei der Dementia praecox zugrunde gelegt. Diese Lehre findet meines
Erachtens durch die Zusammenfassung der Symptome der Dementia
praecox als Störungen im Funktions- und Auswirkungsbereich einer
intermediären psychischen Schicht ein psychologisches Korrelat. Die
Annahme von Störungen im Funktionsbereich der intermediären
psychischen Schicht und der Basalgangliensysteme (— natürlich
auch in deren Hirnrinden-Auswirkungsbereiche —) bei der Dementia
praecox erscheint geeignet, die Vielgestaltigkeit der Symptome, Zu¬
standsbilder, Verlaufsformen, der Ausgänge und der pathogenetischen
Erklärungen (durch verschiedene „Primärsymptome“) unter
einem begreiflich zu machen: nämlich durch Verschiedenheit in
Ausbreitung, in Ausbreitungsrichtung, Fortschreitensrichtung, in
Intensität. Akuität oder Chronizität der Schädigungen des Funktions¬
bereiches der intermediären psychischen Schicht und des Kleinhirn-
Basalganglien-Stirnhirnsystems. Aus der Durchtlechtung der
intermediären Funktionen versteht sich auch, daß dasselbe
•'\vmptom bei verschiedenen Kranken verschiedenen Funktions¬
störungen der intermediären Schicht entspringen kann.
5. Zugleich ergibt sich die Beziehung der schizoiden Tempcra-
roente. der Schizothymen Kretschmers, der schizoiden
11(5
Reaktionstypen (Eugen Kahn), der schizophrenen Reaktion*
typen Poppers, der Erhschizose und Sichtschizose (B1 e u -
lers) zur manifesten »Schizophrenie, kurz der prä-psychoti¬
schen Persönlichkeit und ihrer Verwandten, welche nicht manifest
erkranken, mit der manifesten Dementia praecox auf dem
Boden einer etwa anzunehmenden angeborenen »Schwäche und An¬
fälligkeit gewisser Hirnsysteme, vornehmlich der Kleinhirn-Basal-
ganglien-Stirnhirnsysteme Kleist.
Teils durch die normalen Lebensreize, den normalen Lebensgang,
käme es bei ausgesprochener Abiotrophie (im Sinne von G o w e r s) als
Aufbrauchkrankheit (E d i n g e r s). teils durch Erkrankung und
»Schädigung eines anfälligen und wenig widerstandsfähigen Systems
im Sinne eines locus minoris resistentiae nach Art anderer nervöser
Systemerkrankungen durch Traumen, Infektionen oder die physio¬
logischen Revolutionen der Pubertät, der Gravidität, des Puerperiums.
Klimakteriums und vielleicht auch Seniums oder sonst endokrin oder
autotoxisch, kurz exogen und endogen durch Schädigungen und
Funktionsstörungen elektiver Art zu einer elektiven Systemerkran¬
kung.
<>. Es ist nicht ausgeschlossen, daß die bei der Dementia praecox
sichergestellten endokrinen Störungen durch Zwischenhirnbeteiligung
sekundär erzeugt werden können. Vielleicht aber spricht wieder
mehr (darunter vielleicht auch die Periodizität mancher Ver¬
läufe) für die kausale Bedeutung der endokrinen Störungen, welchen
dann eine elektive Affinität gerade für den Funktionsbereich der
intermediären psychischen Schicht und der Kleinhirn-Basalganglien-
Stirnhirnsysteme zuzusprechen wäre. Welcher Art diese den er¬
wähnten betroffenen Systemen affinierten pluriglandulären endo¬
krinen Störungen etwa wären, muß ebenso wie die kausale Bedeu¬
tung der inneren Sekretion für die Dementia praecox noch offen
bleiben.
Auch Moll weide hü 1t die endokrinen Störungen für sekundär
und die Dementia praecox für eine heredoiamiliäre Aulbrauchkrank¬
heit auf Grund einer minderwertigen Anlage gewisser Partien des
Zentralnervensystems, (er meint in der Hirnrinde). Die pathol.-
anatomischen Untersuchungen M. Franks aus A. (Mions Institut
lieferten das bedeutsame Resultat: Die Veränderungen im Gehirn und
in den endokrinen Drüsen hatten eine gemeinsame Ursache in einer
pathologischen Konstitution, einer Unterform der hypoplastischen
Konstitutionsanomalie. Dieses Ergebnis M. Franks erscheint ge¬
eignet, unsere auf klinischem und psychologischem Wege gewonnene
117
Annahme einer A n 1 a g e s o h w ä o li e z e r e 1) r a 1 e r S v s t e m e
hei der Dein, praee. zu stützen.
7. Die Schädigung der Kleinhirn-Basalganglien-Stirnhirn-
>ysteme hei der Dementia praecox ist noch nicht nachgewiesen, son¬
dern nur aus den Motilitätssymptomen nach Kleist, aus den
Analogien der Symptome mit den Basalganglienerkrankungen und
aus meiner Aufstellung der intermediären psychischen Schicht — mit
der Ähnlichkeit von Funktionsstörungen in ihrem Bereiche zu den
Dcmcntia-praeeox-Symptomen — erschlossen. Der pathohistologische
Nachweis dieser Schädigung dürfte seihst, wenn ihre Annahme zu
Recht besteht, nicht leicht sein. Bis auf weiteres erscheint mir aber
die Auffassung der Dementia praecox auf dem Boden der Kleist-
sehen Lehre fruchtbar und geeignet, die anderen pathogenetischen
Krklärungen zu umfassen und für die Erklärung der Symptome, mag
nun die Entscheidung für oder wider die Lokalisation ausfallen. be¬
deutsam zu werden.
8. Eine rein psychologische Auffassung etwa im F r e u d sehen
Same lohzwar auch Freud gelegentlich darauf hinweist, daß unter
seinen Dementia-praecox-Fällen ein außerordentlicher Prozentsatz
von Paralytikerkindern sich findet) oder im verwandten Sinne oder
ein einziges psychologisches Primärsymptom, heiße es wie es wolle,
auch die von mir seihst aufgestellten inbegriffen, scheint mir nicht
geeignet, die Fülle der Erscheinungen bei der Dementia praecox zu
umfassen und zu erklären. Die Rolle des Autismus und der Kom¬
plexe für die Symptomatologie und vielleicht auch den Verlauf sei
damit nicht geleugnet.
Nachdem K ra e p e 1 i n in zwei großen Griffen die Gruppen der
Dementia praecox und des manisch-depressiven Irreseins umfaßt und
voneinander geschieden hat. so daß an der klinischen Scheidung dieser
stoßen Reiche des Irreseins wohl auch in Zukunft kein.Zweifel mehr
sein wird und nurGrenzstreitigkeiten von höchstens lokaler Bedeutung
iihrighlcihen: und nachdem Bleuler besonders auch durch die
Autisnmslehre unser Verständnis außerordentlich vertieft und berei¬
chert hat. komme ich hier probeweise mit Fragestellungen und Ge¬
sichtspunkten, die wir W e r n i c k e und insbesondere Kleist ver¬
danken. auf alte Lehren zurück. Wir berühren uns wieder mit dem
alten Spannungsirresein der Katatonie K a h 1 b a u m s und erinnern
ans auch der alten Lehre von der E i n h e i t s p s y c li o s e. Diese,
die Vesania tvpica completu seu generalis. verlief durch Melan¬
cholie über Manie (zugleich im Sinne der Tobsucht und l'unibe
gemeint', über Paranoia und Verwirrtheit (die als Erschöpfung*-
folgern durch die Manie aufgefaßt wurden) in Demenz. Dieser
Verlauf wurde sowohl au unserer Dementia praecox wie z. B.
an der progressiven Paralyse gefunden und ihm andere Yer
laufsformen und Ausgänge als Yesania incompleta oder atypici
und, besonders wenn die Demenz ausblieb, als Yesania abortiva gegen-
iibergestellt. Die Form der Demenz war nach der Auffassung jener
Zeit bestimmt durch das Lebensalter: die Dementia praecox, die de>
jugendlichen Alters, daher der Name; die Dementia paralytiea als die
des mittleren Lebensalters (als Nebenerscheinung ergab sich die allge¬
meine motorische Lähmung, die Paralyse und das Siechtum der Irren)
und die Dementia senilis als die charakteristische Demenz des Greisen
alters. Die Demenz äußerte sich also verschieden, je nachdem die
Yesania das reifende, das erwachsene und das senile Gehirn träfe,
der Verlauf der Yesania bleibe der gleiche. Auch neueren Beobach¬
tern sind ja Verlaufsähnlichkeiten zwischen der Dementia praecox
und der progressiven Paralyse in ähnlichem Sinne aufgefalleu. Viel¬
leicht dürfen wir vermuten, weil es sich in beiden Fällen um chronisch
oder remittierend progrediente destillierende Hirnschädigung und
evtl, schubweisen Verlauf handelt, wobei aber die Störungen der Para¬
lyse gröber und anders lokalisiert sind. Ähnlichkeiten zwischen den
Symptomen der Dementia praecox und denen seniler Psychosen sind
im Obigen schon gestreift und nach Kleist in einzelnen Punkten auf
Ähnlichkeiten der betreffenden Symptome in der Lokalisation zurück-
geführt worden. Wir haben so in den alten Lehren einen richtigen
Kern gefunden. Vielleicht auch durch die Aufstellung des Ringes
der Formenkreise und der Anlagekreise: Manisch-depressiv — hyste¬
risch (resp. psychopathisch). — Dementia praecox (schizophren) —
manisch-depressiv. Ja Hi nric hsen („Demenz und Psychose“.
Ztschr. f. d. g. N. und Ps., 3t). Bd„ 377. 1018. zitiert nach Helmut
M ü 11 e r) vermutet im manisch-depressiven Irresein die leichtere, in
der Dementia praecox die schwerere Form eines gleichartigen Pro¬
zesses, abhängig von der Toleranz des psychozerebralen Systems
und der Schwere der Vergiftung resp, Intensität des Grundprozesses.
Das wäre ja die Vesania completa und incompleta.
Näher sind wir noch an die Motilitätspsychosen W ernickes
und seine Sejunktionslehre herangekommen. Eine Sejunktion weite¬
sten Sinnes scheint mir ihre Wiedergeburt zu erleben: in „Schizo¬
phrenie“ und Assoziationsspaltung, im Nachlaß der Assoziations¬
spannung, der Schaltspannung mul im Autismus (a 11 e s b e i Bleu¬
ler); in der Intentionsleere, welche ich 11)10 der Dementia praecox
zugrunde legte: in Berzes 1014 aufgestelltem Primärsymptom der
119
Dementia praecox in Form dev Insuffizienz der psychischen Aktivität
und neuerdings in Kronfelds Primärsymptom der Insuffizienz des
intentionalen Icherlebens, des auf die Inhalte gerichteten
intentionalen Aktes der Ichaktivität, zugleich als Ursache von
Rissen und Spalten des Oberbewußten mit Hervorbrechen „ma¬
gisch-archaischen“ Denkens; vielleicht auch in Schilde rs
U'idersproehenheit von Denkinhalten und Denkakten, und
in Freuds, Abrahams und Adlers Lehren vom Narziß-
nms und der Flucht vor der Realität und Lebenserprobung; wie
besonders in meiner Lehre vom unfertigen Denken, von den Ober-
leitungs- und Elektionsstörungen im Fringe und endlich in der hier
aufgestellten Lehre von den Funktionsstörungen der intermediären
psychischen Schicht und der zerebralganglionären Funktionssysteme.
Vereint aber werden Motilitätspsychose und Sejunktion in der
Auffassung der Dementia praecox als einer Störung im weiten Funk¬
lionsbereiche der intermediären psychischen Schicht des Unbemerk¬
ten. des Vorbewußten, des Fringe, kurz des Unterbaues unseres .Ober-
bewußten: zugleich der Gemeinempfindung, der Automatismen, der
Denk- und Aufmerksamkeits-(Einstell-)bewegungen, der Mit-, d. i.
Einfühlungs-Bewegungen, der Ausdrucks- und Affektbewegungen, dei;
primitiven Affektivität, und durch die Anwendung der Kleis t sehen
Konzeption der Dementia praecox als einer Gruppe von Systemer¬
krankungen, in deren Mittelpunkt die Katatonie mit elektivcr Er¬
krankung der Stammganglien-Stirnhirnsysteme steht.
Diese Konzeption Kleists gab mir erst jenes Werkstück in die
Hand, welches mir als Schluß- und Tragstein für dieses hier auf vielen
verschiedenen Strebepfeilern sich zusammenschließende Gewölbe einer
Dementia-praecox-Lehre diente. Kleists Werkstück ist es, welches
nicht nur dieses Gewölbe krönt und abschließt, sondern welches dem
ganzen Aufbau erst Halt, Zusammenschluß und damit Tragkraft zu
gelten vermag.
An der Kleist sehen Lokalisationslehre hängt aber auch die
Nachprüfbarkeit dieser ganzen Dementia-praeeox-Theorie durch die
l’atlioliistologie, und damit, wie ich meine, die erste direkte Nach¬
prüfbarkeit einer Dementia-praecox-Lehre überhaupt: weil die Tests
des Krankseins aus dem Pathopsvchologisehen ins Hirnpathologische
verschoben, dort lokalisiert und somit sichtbar gemacht werden
können.
Dann ist die Dementia praecox mehr als eine besondere Reak-
'ionsform und doch damit erklärbar in Beziehung, mehr als die beson-
dere Entwicklung besonderer abwegiger (schizoider) erbbiologischer
Gharakteranlagen ins Krankhafte mul Wahnhafte, mehr auch als die
Folge von frühinfantiler Triebabbiegung oder späterer (durch Ver¬
sagung und Regression bedingter) Triebentgleisung ins Frühinfantil-
Narzißtische oder ins sonst Primitive, und mehr als eine durch die
Versagung ausgelöste und triebbedingte ..Regression zu alten, in
der Norm längst verschütteten Arbeitsweisen des psychischen
Appa rates“ (Nunberg. Wien), und mehr auch als die Folge von Kom¬
plexen und Zensur, von Widersprochenheit der Inhalte und Akte
des Denkens; dann ist sie w irklich eine organische, speziell eine Hirn¬
erkrankung. ja in etwas einer hereditären, heredodegenerativen
Systemerkrankung ähnlich, sei es durch angeborene Schwäche und
Anfälligkeit gewisser Systeme dem Lebensgebrauche gegenüber, sei
es durch elektive Schädigung dieser Systeme, evtl, endokriner Art.
Wissen wir. wo die der Symptombildung angeschuldigte psychische
Schicht im (Jehirne zu suchen ist, so kann irgendwann und -wie die
Nachprüfung gelingen. Der positive Ausfall dieser Nachprüfung hätte
dann auch mit einem Schlage zwischen den verschiedenen pathogene¬
tischen Erklärungen die Entscheidung gebracht resp. die Brücke her¬
gestellt.
Die Möglichkeit, diese über ein Jahrzehnt lang geplante Unter¬
suchung dadurch irgendwie zum Abschluß zu bringen, daß ich wenig¬
stens für mich selbst zwischen den verschiedenen Richtungen patho¬
genetischer Erklärung der Dementia praecox zur Entscheidung ztt
kommen vermochte, ergab sich mir erst im Wintersemester 1921 22:
und dies durch die langersehnte Muße und Gelegenheit, mit den hier
he rangezogen en motorischen und lokalisatorischen Auffassungen
Kleists, durch Kleists mündlichen Vortrag und besonders
durch seine Arbeit am Krankenbett rascher und überzeugender als
durch jede Lektüre vertraut zu werden. Bei der Fülle und Bedeutung
des hier nach Kleist angeführten für meine Arbeit ist es gewiß
mehr als die übliche Form, wenn ich Prof. Kleist für die mir an
der Frankfurte r Klinik gewordene Gastfreundschaft und Infor¬
mationsmöglichkeit herzlich danke.
ABHANDLUNGEN AUS DER NEUROLOGIE,
PSYCHIATRIE, PSYCHOLOGIE UND IHREN
GRENZGEBIETEN
BEIHEFTE ZUR MONATSSCHRIFT FÜR PSYCHIATRIE UND NEUROLOGIE
HERAUSGEGEBEN VON K. BONHOEFFER
HEFT 21
Melaptrysik
und Schizophrenie
Eine vergleichend-psychologische Studie
von
Dr, Gustav Bychowski
BERLIN 1923
VERLAG VON S. KARGER
KARLSTRASSE 15.
Medizinischer Verlag von S. Karger in Berlin NW. 6
In den
Abhandlungen aus der Neurologie, Psychiatrie,
Psychologie und ihren Grenzgebieten
Beihefte z. Monatsschrift für Psychiatrie u. Neurologie, sind bisher erschienen:
Heft 1: Typhus und Nervensystem. Von Prof. Dr. Georg Stertz in
Breslau. (Vergriffen.)
Heft 2: Ueber die Bedeutung von Erblichkeit und Vorgeschichte
für das klinische Bild der progressiven Paralyse. Von Dr.
J. Pernet in Zürich. (Vergriffen.)
Heft 3: Kindersprache und Aphasie. Gedanken zur Aphasielehre auf
Grund von Beobachtungen der kindlichen Sprachentwickelung und
ihrer Anomalie. Von Priv.-Doz. Dr. Emil Frösch eis in Wien. Mk. 5.50
Heft 4: Epilepsie und Dementia praecox. Von Professor Dr W.
Vorkastner in Greifswald. Mk. 5.—
Heft 5: Forensisch-psychiatrische Erfahrungen im Kriege. Von Priv.-
Doz. Dr. W. Schmidt in Heidelberg. Mk. 8.—
Heft 6: Verbindung endogener und exogener Faktoren in dem
Symptomenbilde und der Pathogenese von Psychosen. Von
Priv.-Doz. Dr. Hans Seelert in Berlin. Mk. 3.50
Heft 7: Zur Klinik und Anatomie der reinen Worttaubheit, der
Heilungsapha8ie und der Tontaubheit. Von Priv.-Doz. Dr. Otto
Pötzl in Wien. Mit zwei Tafeln. Mk. 4.—
Heft 8: Die Spielbreite der Symptome beim manisch-depressiven
Irresein. Von Prof. Dr. P. Schröder in Greifswald. Mk. 3.—
Heft 9: Die symptomatischen Psychosen und ihre Differential¬
diagnose. Von Priv.-Doz. Dr. Hans Krisch in Greifswald. Mk 2.25
Heft 10: Die Abderhaldensche Reaktion mitbes.BerÜcksichtigung ihrer Er¬
gebnisse i.d. Psychiatrie. Von Priv.-Doz.Dr.G.Ewa Id in Erlangen. Mk.9.—
Heft 11: Der extrapyramidale Symptomenkomplex (das dystonische
Syndrom) und seine Bedeutung in der Neurologie. Von Prof.
Dr. G. Stertz in München. (Vergriffen.) Mk. 6.—
Heft 12: Der anethische Symptomenkomplex. Eine Studie zur Psycho¬
pathologie d. Handlung. Von Priv.-Doz. Dr. O. Albrechtin Wien. Mk. 4.—
Heft 13: Die neurologische Forschungsrichtung in der Psychopatho¬
logie und andere Aufsätze. Von Prof. Dr. A.Pick in Prag. Mk. 8.—
Heft 14: Ueber die Entstehung der Negrischen Körperchen. Von
Prof. Dr. L. Benedek ünd Dr. F. O. Porsche in Kolozsvar. Mit
10 Tafeln. Mk. 8.—
Heft 15: Ueber die Bedeutung und Entstehung der Stereotypien.
Von Priv.-Doz. Dr. Jakob Klfisi in Zürich, Mk. 1.50
Heft 16: Ueber Psychoanalyse. Von Dozent Dr. R. A Ilers in Wien. Mk. 2.—-
Heft 17: Die Zergliederung des psychischen Krankheitsbildes bei
Arteriosklerosis-cerebri. Von Nervenarzt Dr. S. J. R. de Monchy
in Rotterdam. Mk. 2.—
Heft 18: Epilepsie und manisch-depressives Irresein. Von Dr. Hans
Krisch in Greifswald. Mk. 2 —
Heft 19: Ueber die paranoiden Reaktionen in der Haft. Von Dr.
W. Försterling in Landsberga d. W. Mk. —.-
Heft 20: Dementia praecox, intermediäre psychische Schicht und
Kleinhirn - Basalgangllen - Stirnhirnsysteme. Von Priv.-Doz.
Dr. Max Loewy in Prag-Marienbad. Mk. —.—
Heft 21: Metaphysik und Schizophrenie. Eine vergleichende psycho¬
logische Studie. Von Dr. G. Bychowski in Warschau. Mk. —.—
Heft 22: Der Selbstmord. Von Priv.-Doz. Dr. med. R. Weichbrodt in
Frankfurt a. M. Mk. —.—
Die Abonnenten der „Monatsschrift für Psychiatrie und Neurologie“
erhalten diese Abhandlungen zu einem um 20°/ o ermäßigten Preise.
Die obigen Preise sind Grundpreise, die nach dem jeweiligen UmrechnungsscblOssel verviel¬
facht, die jeweiligen Verkaufspreise ergeben. Fiir das Ausland gelten obige Preise fn
Schweizer Franken als Verkaufspreise, ohne jeden Aufschlag; mit Ausnahme des Portos.
ABHANDLUNGEN AUS DER NEUROLOGIE,
PSYCHIATRIE, PSYCHOLOGIE UND IHREN
GRENZGEBIETEN
BEIHEFTE ZUR MONATSSCHRIFT FÜR PSYCHIATRIE UND NEUROLOGIE
HERAUSGEGEBEN VON K. BONHOEFFER
HEFT 21
Metaphysik
und Schizophrenie
Eine vergleichend-psychologische Studie
von
Dr. Gustav Bychowski
•r
BERLIN 1923
VERLAG VON S. KARGER
KARLSTRASSE 15.
Alle Rechte Vorbehalten
Meiner Frau
Inhaltsverzeichnis
Seite
Einleitung. 5
I. Kapitel. Klinischer Teil.
1. Störung der Beziehung zur Welt. 7
3. Der schizophrene Gott . 17
2. Die schizophrenen Welterlöser.13
4. Der amtliche Prophet ..20
5. Die schizophrenen Verfolgten.23
6. Die schizophrene Wahrsagung.28
7. Die schizophrenen Philosophen .30
II. Kapitel. Theoretisch-Psychopathologisches 32
III. Kapitel. Völkerpsychologisches .71
TV. Kapitel. Religionspsychologisches .... tll
V. Kapitel. Prälogische und logische Mentalität
bei Normalen . 126
VI. Kapitel. Metaphysik und Schizophrenie . . 138
Einleitung.
Im Vorliegenden wird der Versuch gemacht, die Beziehungen
zwischen bestimmten psychopathologischen Erscheinungen, wie sie
besonders im Rahmen der Schizophrenien auftreten, und bedeutsamen
geistigen Bildungen der Menschheit von einem einheitlichen Gesichts¬
punkt aus zu beleuchten. Der hierbei befolgte Gedankengang darf
wohl ganz allgemein als ein biologischer bezeichnet werden, da er
von der biologischen Grundtatsache der Beziehung der
Psyche zur Umwelt ausgeht und im Wesentlichen den
phylogenetischen Aufbau dieser Grundbezie¬
hung sowie den schichtenartigen, historisch bedingten
Aufbau der Psyche in Betracht zieht.
Das Prinzip vom krankhaften Abbau der Funktion, wie
es auf dem rein neurologischen Gebiete schon lange anerkannt wird,
6oll in systematischer Weise auch auf das psychopathologische Ge¬
schehen angewandt werden, wo es nicht minder Fruchtbarkeit ver¬
spricht. So ergibt sich von selbst die Notwendigkeit, frühere Stufen
der psychischen Abläufe zu erforschen, namentlich das Denken der
Primitiven und die mythisch-religiösen Strukturen heranzuziehen.
Des weiteren zeigt sich aber, daß die Berücksichtigung der meta¬
physischen Systeme von dieser allgemein biologischen Betrachtungs¬
weise nicht ausgeschlossen werden darf, da wir es in ihnen mit be¬
deutsamen Gebilden zu tun haben, welche bestimmte uralte Tenden¬
zen des menschlichen Denkens zur klaren Ausprägung gelangen
lassen.
So erscheint es uns nicht als Digression und Abweg, wenn wir
uns der Völkerpsychologie, der Religion und Mystik, den metaphysi¬
schen Systemen mit besonderer Aufmerksamkeit zuwenden. Die
phylogenetischen, entwicklungsgeschichtlichen Faktoren scheinen
uns in der Psychopathologie nicht scharf genug beleuchtet worden zu
«ein, und doch ist eine Psychopathologie ohne Völkerpsychologie
ebensowenig möglich, wie die Biologie und Pathologie der Reflexe
ohne Phylogenese der Bewegung.
Versuchen wir kurz unsere Grundbegriffe zu umgrenzen, deren
*ahre Bedeutung und voller Inhalt erst im Laufe unserer weiteren
Ausführungen zur Entfaltung gelangen kann. Wir betrachten die
6
normale und morbide Psychologie in ihren individuellen wie kollek¬
tiven, aktuellen wie völkerpsychologischen Erscheinungen als Ge¬
staltung der Grundbeziehung Psyche-Welt.
Einerseits der Mensch, das Subjekt an und für sich, mit allen
seinen Trieben, Interessen und Bedürfnissen, andrerseits die Welt
der Objekte, der leblosen wie .lebendigen, Tiere und Menschen,
Individuen und Gesellschaften. Diese zwei Faktoren bleiben in
steter Wechselwirkung, beeinflussen, durchdringen und bilden sich
gegenseitig. In diesem Sinne charakterisiert die Grundbeziehung
Simmel 1 ): „Wenn man eine Grundtatsache sucht, die als die
allgemeinste Voraussetzung aller Erfahrung und aller Praxis, aller
Spekulation des Denkens und aller Lust und Qual des Erlebens
gelten könnte, so wäre sie vielleicht so zu formulieren: Ich und die
.Welt. Das Dasein, von dem wir überhaupt sprechen können, kann
sich gar nicht anders vollziehen, als daß einem Subjekte ein Reich¬
tum von Objekten gegenübersteht, die es lieben oder hassen, er¬
kennen und bearbeiten kann, von denen es gefördert oder gehemmt
wird.“
Das psychische Erleben vollzieht sich in der Subjekt-Objekt¬
spaltung. Von großer Wichtigkeit sind für uns diejenigen objektiven
(wir werden gleich die Bedeutung dieses Wortes in dem besonderen
Falle präzisieren) Elemente der Psyche, die nicht dem Individuum
als solchem angehören, sondern kollektiv, und zwar im Laufe von
Generationen gebildet werden und allen Menschen gemeinsam sind.
In diesem Sinne ist uns „objektiv“ das Gegenteil des Individuellen
und diese überindividuellen psychischen Elemente gehören zur
„Welt“, in der Sprache unserer Grundbeziehung ausgedrückt. Die
Berechtigung zu dieser Zuteilung wird sich im Laufe der Arbeit von
selbst ergeben. Im Übrigen wird in diesem Sinne „objektiv“ im
Gegensätze zu „subjektiv“ allgemein gebraucht. Wir beschränken
uns hier auf diese andeutende Umzeichnung unserer Begriffe. Die
Grundbeziehung Psyche-Welt ist theoretisch in allen ihren Be¬
deutungen und Konsequenzen von Jaspers entwickelt worden,
wo die betreffende Stelle nachzulesen ist*).
’) Georg Simmel: Hauptprobleme der Philosophie, Göschen 1913,
3. Auflage.
*) Karl Jaspers: Psychologie der Weltanschauungen, Berlin 1919.
Julius Springer, Seite 18 bis 25.
Anmerkung bei der Korrektur. Die Arbeit ist Anfang 1921 abgeschlossen
worden, so daß die seither erschienene Literatur nicht berücksichtigt werden
konnte.
I. Kapitel.
Klinischer Teil 1 ).
L Störung der Beziehung zur Welt.
Es gibt eine Anzahl Fälle im Rahmen der Schizophrenie, deren
psychologischer Inhalt im Wesentlichen als Störung der Beziehung
der Psyche zur Welt charakterisiert werden kann.
Das Phänomen der Bekehrung, welches bei den religiös gefärbten
Schizophrenien so häufig vorkommt, wird von Erscheinungen be¬
gleitet, welche deutlich auf die veränderte Beziehung des Kranken
zur Welt hinweisen.
So ging der Bekehrung unserer Patientin Julia D. eine Gleichgültig¬
keitsperiode voraus, über die sie selbst erstaunt war und unter welcher sie ^
litt. Diesen Mangel an Gefühlen bezeichnet sie mit dem charakteristischen
Ausdruck „le coeur dur“. Sie glaubt, der Satan habe sie gehalten und ihr den
Rücken gebeugt. Sie zitterte vor Angst, glaubte sterben zu müssen, betete den
ganzen Tag. Ist man durch den Satan versucht, wie Jesus Christus und wie
sie, so ist dies der Anfang der Wiedergeburt, der Regeneration. Nur Aus¬
erwählte werden vom Satan „heimgesucht“. Dann fühlte sie sich von Gott
aoserwählt, erlebte ihre „Bekehrung“. Sie bat Gott, sie vom Satan zu erlösen
und Gott erhörte sie. Sie fand die innige Beziehung zu Gott, die ihr in den
Tagen der Not gefehlt hatte, wo sie die Bibel las, ohne sie zu verstehen, wo sie
..eine Abscheu vor Gott“ empfand, als ob sie keine Seele hätte. Von Zeit zu
Zeit glaubt sie an den bevorstehenden Weltuntergang und fühlt sich verpflich¬
tet, die Menschen zu warnen. Das letztemal hat sie, aus der Anstalt entlassen,
3 Jahre lang ruhig auf dem Lande gearbeitet, bis sie plötzlich ihre alte Bewußt¬
heit des Weltunterganges erlebte. Sie fühlte, daß sie in die Stadt mußte, und
zitternd vor Angst kam sie nach Lausanne, getrieben durch „das Gefühl einer
unerbittlichen Pflicht“. Sie mußte in die Sitzung des Großen Rates gehen, um
daselbst den Weltuntergang zu verkünden. Sie wußte, ihre Seele wäre ver¬
loren, wenn sie nicht sprechen würde. „Ich bin ja keine mutige Frau und muß
trotzdem sprechen. Man wählt sich nicht sein Schicksal, Gott wählt es und
man muß folgen.“
In diesem Falle vollzieht sich die Revolution in dem Verhältnis
der Kranken zur Welt in zwei typischen Phasen. Zunächst die Ent¬
fremdung, die Entziehung jedes Interesses der Welt, dann aber der
*) Die in der Arbeit verwerteten klinischen Fälle stammen, wo nicht an¬
ders bemerkt, aus der kantonalen Irrenanstalt und psychiatrischen Klinik in
Lausanne, wo ich sie während meiner Assistentenzeit beobachten konnte.
8
Versuch der Rückkehr, der Wiedergewinnung der verlorenen Be¬
ziehung. Dieser Prozeß will aber nicht mehr recht gelingen. Die
Welt der für sie in Betracht kommenden Objekte hat ihre Bedeut¬
samkeit verloren und so stürzt sich die Psyche, in ihrem Versuch
der Rettung, auf das Ganze, auf das Totale der Realität. So erlebt
die Patientin ihre enge Beziehung zu Gott, ihre religiöse Bekehrung,
ihr Auserwähltheitsbewußtsein. Im weiteren Verlauf ihrer Krank¬
heit symbolisiert sie, projiziert sie diesen Prozeß immer wieder,
was doch auf seine unvollständige Erledigung hindeutet: Sie erlebt
von Zeit zu Zeit die Bewußtheit des baldigen Weltuntergangs und
verkündigt dies öffentlich, um die Menschheit zu warnen, wozu sie
zwangsmäßig getrieben wird. Die Psyche, die ihre Welt verloren
hat, schwingt gleichsam im Leeren und erschrickt über den Abgrund
— sie erkennt ihren Weltuntergang. So oszilliert das Interesse der
Kranken zwischen der Welt der Objekte und ihrem Ich, und die
Welt geht für sie immer wieder unter.
Wir wissen nicht, aus welchem psychischem Anlaß die Patientin
ihren Ablösungsprozeß begonnen hatte, es scheint, als ob hier die
tausend Fäden, die eine Persönlichkeit mit der Welt verbinden, sich
auf einmal zu lockern beginnen.
In anderen Fällen gelingt es mit Leichtigkeit, den Faden nach¬
zuweisen, an dem der Prozeß beginnt, und es ist nicht zu verwundern,
daß er eine besonders affekt- oder interessenbetonte Sphäre des
Lebens betrifft; von der Lebenswunde aus beginnt die Ablösung.
So erkrankte unsere Patientin E 1 v i n e C. an ihren Beziehungen zum
Manne. Vom Anfang an war die Ehe keine glückliche, sowohl wegen des
schlechten und groben Charakters des Mannes, wie auch späterhin wegen mate¬
rieller Schwierigkeiten, da der Mann das Vermögen verlor. Die Untreue des
Mannes machte die Situation immer komplizierter, seine vielen Liebesaffären
peinigten Elvine sehr. Sie erzählt uns, daß sie ihren Mann nie lieben konnte,
in seinen Armen nie Freude fühlte, was sie vor allem durch seinen Wunsch,
keine Kinder zu haben, erklärt.
Während eines Wochenbettes, das sie in einer Klinik verbringt, erfährt
sie, der Mann habe in ihrer Abwesenheit ein Mädchen ins Haus genommen, das
ihre Stelle einnimmt. Da bricht nun die Krankheit aus. Plötzlich hat sie das
Gefühl, daß Gott ihre Bitten um Erlösung erhörte und sie endgültig von ihrer
Ehe befreite. Sie habe früher immer das Gute tun wollen, habe jedoch das
Schlechte tun müssen; daran sei „die Kette der Ehe“ schuldig, sie sei aus
Geist gemacht, während ihr Mann sie an das Körperlicher band, das sie ver¬
abscheut.
Ihre Affekte lösen sich allmählich von allen auch den nächsten Objekten
ab, sie verläßt ihre Kinder, indem sie sich in dem Bewußtsein tröstet, Gott
wolle schon für sie sorgen.
9
Das Delir bekommt eine immer stärkere mystische Färbung. Elvine ist
nicht mehr von dieser Erde, ihr Körper ist tot, ihre Seele allein lebendig. Sie
ist frei, als auserwählte Tochter Gottes erwartet sie ihre vollkommene Erlö¬
sung. Die Geliebte des Mannes bat sich ihre schöne Wäsche angeeignet. „Cela
ne fait rien,“ erklärt sie, „car je n’naime pas mettre ce qui est beau, j’aurai des
ehoses plus belles que cela“. Sie ist sich ihres Unterschiedes gegenüber andern
Menschen bewußt, sie weiß, daß sie „alle Dinge anders sieht als die andern“.
Die mystische Verschiebung ihres psychischen Lebens äußert sich naturgemäß
auch auf dem Gebiete der Wahrnehmung. Sie hört die Stimme Gottes, sieht
Engel und Sterne. Die gewaltsam und durch die Lebenswunde verdrängten
respektive sublimierten Komplexe rächen sich auch hier und produzieren unan¬
genehme Halluzinationen von durchsichtiger Deutung: so wird sie nachts von
einer schwarzen Schlange in die Hüfte gebissen.
Was diesem Wunschdelir ein ganz besonderes Gepräge gibt, ist
sein altruistischer Charakter. Ihre eigene Erlösung überträgt Elvine
auf die Welt. Alle Menschen werden erlöst, Güte und Liebe werden
herrschen, die heutige schlechte, lieblose Welt wird sich, wie mit
einem Zauberstab berührt, ändern. Die Unterschiede zwischen den
Geschlechtern werden verschwinden, die Liebe wird ganz „edel“
sein, es wird keine sexuelle Liebe mehr geben, keine Ehe und keine
Geburt, kein Alter und kein Sterben.
In echt schizophrener Weise macht sich Elvine nicht einmal Ge¬
danken darüber, wie diese wunderbare Umwälzung zustande kommen
kann. Mit einem Male wird sie da sein, so wie sie, Elvine, mit
einem Male ihre mystisch-religiösen Bewußtheiten erfahren hat.
So wird hier zwar wieder das den Objekten entzogene Interesse
auf das Ganze gerichtet, es wird aber nur das eine Element der
Grundbeziehung Psyche-Welt berücksichtigt, die kritische Regu¬
lation durch die Rücksichtnahme auf das andere objektive Element
fehlt, und so wird alles möglich, was man wünscht, hofft und er¬
sehnt. Es ist nicht zu verwundern, daß auf diese Art ungetrübte
Seligkeit erzielt wird, die sich auch in der selig-extatischen abge¬
klärten Mimik der Patientin äußert. So wird durch die Negation
der Realität dem Lustprinzip in vollkommener Weise Genüge getan,
wie das eben bei den Erlebnissen des Normalen fast nie möglich ist,
indem die fortwährend gespannten Fäden zwischen dem Ich und
der Welt diese in sich ruhende Selbstgefälligkeit nicht erlauben
können.
Es ist wahrscheinlich, daß die besondere altruistische Eigenart
dieses Wunschdelirs zum Teil durch die charakterologische Konsti¬
tution der Kranken bedingt wird, worauf auch ihre Äußerung hin¬
weist, schon als ganz junges Mädchen habe sie zu Hause Eßwaren
gestohlen, um sie den Hungrigen zu bringen. Daß gerade auf diesem
10
Gebiete die Psychose häufig im engsten Zusammenhang dem Cha¬
rakter zu entwachsen scheint, ist ja insofern selbstverständlich, als
der Charakter im wesentlichen nichts anderes ist, wie die be¬
sondere Eigenart der Grundbeziehung Psyche-Welt. Dieser Zu¬
sammenhang wird auch im folgenden Falle sichtbar sein.
Bei der Patientin Julia D. haben wir auf den unvollständig
erledigten Prozeß hingewiesen, der neue Krankheitsschübe oder
richtiger gesprochen Wahnschübe schafft und das Interesse der
Kranken zwischen der Welt der Objekte und ihrem Ich oszillieren
läßt. Die gleiche Dynamik des Prozesses sehen wir bei Elvine.
Ihre Ablösung von der Welt begann, wie wir sahen, in der Abkehr
vom Manne. Diese verallgemeinerte sich und die Patientin ver-
leugnete ihre Liebes-Objekte: Kinder, verdrängte ihre sexuellen
Komplexe, sagte sich los von jeder normalen Befriedigung ihrer
Grundtriebe. Weil ihre Liebe mißlungen war, wurde ihr jede
sexuelle Beziehung zum Greuel und Abscheu, ein Mechanismus, wie
er übrigens auch bei normalen unbefriedigten Frauen häufig vor¬
kommt.
Nun gelang Elvine die Verdrängung und Sublimierung nur
zeitweise. Schon während sie bewußt von der asexuellen Liebe
schwärmte und im mystischen Erleben das All, den Gott und die
Erlösung genoß, drängten sich halluzinatorische Erscheinungen auf,
die die sexuellen Komplexe symbolisch verwirklichten. Besonders
reich entfaltete sich das verdrängte Erleben im Traume, wie über¬
haupt Elvine einmal erklärte, das Traumleben sei das wichtigere,
nur im Traume sehe sie alles klar.
Zunächst einmal hat sie zahlreiche Versuchungsträume: Sie befindet sich
in einer gefährlichen Situation, läuft Gefahr, zu fallen und zugrunde zu
gehen, aber sie fällt nicht. So sieht sie sich z. B. in einem Wagen auf
einem hohen Felsen mit steilen Abhängen und sie kommt herunter ohne zu
fallen. (Sie deutet selbst das Fallen im moralischen Sinne.)
Ein anderer Traum läßt sie ein Pferd führen unter einer Stierherde,
einige von den Stieren kämpfen untereinander: es gelingt ihr durchzukommen,
ohne Übel davonzutragen. Sie deutet selbst die Stiere als Männer und erzählt
uns von den vielen Verehrern, die in ihrer Mädchenzeit um ihre Gunst gewor¬
ben haben.
Ein typischer Traum verbindet ihre sublimierten mit ihren ursprüng¬
lichen Tendenzen. Ihr Mann erscheint geschlechtskrank, was er seiner Ge¬
liebten, die er an Stelle der Frau zu sich genommen hatte, zu verdanken hat.
Er wird aber von Elvine getröstet, die sich so im Traume ein kleines Rache¬
delir geleistet hat, um desto besser ihre altruistischen Tendenzen auszuspielen.
Wir wissen, daß Elvine sich frei von jedem sinnlichen Begehren erklärt
und in diesem Sinne auch von ihrem „toten Körper“ spricht. Drei Wochen,
nachdem sie uns gegenüber diese Versicherungen wiederholte, bietet die Patien-
11
tin einige subjektive Symptome der Gravidität, von allem Brechreiz, ihr Kopf
brennt, was zu bedeuten hat, daß sie noch ein Kind haben solle. In der Nacht
halluziniert sie lebhaft unverhüllt sexuelle Dinge. Schließlich erklärt sie, sie
sei krank „davon“, sie sei noch nicht schwanger, aber solle es werden. Daher
ihr gegenwärtiges Leiden. Sie fühlt mit Wucht ihr sinnliches Begehren wie¬
der, das ihr auf immer verschwunden schien. Sie braucht einen Mann und sie
wird einen Sohn gebären, der Jude weil Heiland sein wird.
Die Träume dieser Epoche sind lauter durchsichtige Darstellungen der
sexuellen Befriedigung.
So wird im Laufe des krankhaften Prozesses die mystische Attitüde
rückgängig gemacht, die rein persönlichen naturhaften Motive machen sich
geltend und wiederum verwirklichen sie sich ungestüm, wahnhaft, weil die
Psyche mit der Welt der Objekte nicht mehr rechnet. Es ist selbstverständ¬
lich, daß eine weitere Entwicklung der Psychose wieder eine mystische Phase
zeitigen kann.
Eugen C. kam zum erstenmal 27jährig in die Anstalt. Von der
Heredität ist bekannt, daß der Großvater väterlicherseits Trinker war, ein
Vetter geisteskrank, eine Schwester ist gelähmt. Eugen war eine Zeitlang
der beste Schüler, seine ganze Entwicklung verlief durchaus normal. Mit
22 Jahren wurde er deprimiert, glaubte, er sei verloren, hörte in seinem Innern
die Stimme Gottes, welche ihm verzieh. Die Selbstvorwürfe bezogen sich zum
großen Teil auf die Masturbation. Es war eines Abends, wo er plötzlich den
Zwang fühlte, sich auf die Knie zu werfen und dem Allmächtigen seine Sünden
zu bekennen. Es schien ihm, als schreite er auf ein schwarzes Loch zu. Wie
ihm nun die innere Stimme die Verzeihung verkündigte, glaubte er auf einmal
selbst Gott zu sein, fragte sich, ob Gott ihn zum Antichrist erwählt hätte. Er
glaubte eine Sphäre zu sein. Um ihn herum sei alles schwarz, das Schwarz der
Unendlichkeit. Dieses „Gefühl“ ist ihm seit jenem Abend, wenn auch
schwächer, geblieben. Seit jenem Abend suchte er sich Gott zu nähern:
..Ich gehe durch Liebe und Haß.“
Drei Jahre später hörte er nachts Kanonenschüsse in seinem Gehirn. Er
sah Gott und wußte auf einmal, Gott, Teufel und das Universum
sei eins. Es war wie eine Trennung von Gott, aber
die Einheit ist dann hergestellt worden. Er sah Gott
wie eine Flamme in der Nacht, es war eine Flamme, welche die Form eines
Menschengesichts hatte. Zwischen ihm und der Erscheinung war ein großer,
schwarzer, finsterer Raum.
Ein Jahr später bei einem Vortrage (er bemühte sich sehr um seine
Weiterbildung) fühlte er die dynamische Kraft seiner Sphäre (des Gehirns),
welche ihn gezwungen hätte, eine Grimasse zu machen, er wandte den Kopf
ab. um nicht lächerlich zu erscheinen. Die Angst vor dem Lächerlichen ließ
eine schwarze Sphäre inmitten der ersten Sphäre entstehen. Vom Beginn
»einer Krankheit an pries ihm sein Bewußtsein das Uni¬
versum, er aber fühlte, daß er diese Lobpreisungen ab-
lehnenmußte. Er stürzte sich nach allen Seiten mit seiner Sphäre gegen
die schwarze Zentralsphäre, um sie zu zerschmettern, was ihm nicht ge r
lungen ist
Diese Hauptgedanken seines Wahngebildes wiederholte uns der Kranke
hi gleicher Form 10 Jahre später. Wir fragten ihn, ob er weiterhin sich
selbst und die Welt nur ungenau unterscheiden könne. Er gab uns zur Ant¬
wort: „Gott, Teufel, die Welt, er selbst, dies alles
ist eine einzige unendliche Sphäre, welche man
weder verstehen noch zerstören kann. Nichts vergeht,
nichts wird erschaffen.“
Er mußte in die Sonne blicken, wo sein Gedanke (son id6e) Gott sah.
Es gelang zuweilen die Sonne zu fixieren, wollte er nicht seine Blicke auf sie
richten, dann hatte er Kopfschmerzen und fühlte sich erst wieder besser, bis
er die Sonne anblickte. Das half ihm sein Leben zu führen, das Leben seiner
Sphäre. Um das Gesicht hatte er wie einen weißen Ring. „ . . . Umsonst
führt ein guter Instinkt zum Guten, umsonst strebt eine starke Leidenschaft
hinauf, sie hat doch ihre Quelle in demselben Instinkt . . .“ Er will mit
-diesen Worten andeuten, daß er sich bis zu seinem Gotterlebnis masturbierte.
Dann besiegte er die niedrige Leidenschaft, indem er ihr die Leidenschaft
für Gott entgegensetzte.
Drei Wochen vor der Internierung verschlimmerte sich sein Zustand. Er
wurde unruhig, verbrachte schlaflose Nächte. Er verlangte von seiner Mutter,
sie solle ihm eine Kugel von der Größe seines Kopfes anfertigen. Die Hälfte
müßte rot sein (der Tag), die andere schwarz (die Nacht). Dann mußte er
auch Tag und Nacht ein Lampe vor sich brennen sehen. Es verlangte ihn
danach, fortwährend den Schatten seines Kopfes an der Wand zu sehen. Die
Lampe mit ihrer Flamme war Gott, der Schatten die Finsternis, der Gegensatz.
Er mußte den Gott in der Zirkumferenz des Schattens, aber auch in seiner
rotschwarzen Kugel suchen.
Der Kranke verblieb drei Jahre in der Anstalt. Sechs Jahre nach seiner
Entlassung kam er wieder, da er anläßlich einer organischen Erkrankung
(Myokarditis) aufgeregt wurde und Suizidversuche machte.
Wie erwähnt, bestätigte er uns seine früheren Wahnideen. Bei einer
Untersuchung richtete er das Wort an das Tintenfaß: „Monsieur Tencrier,
voulez-vous vou$ renverser sens dessus dessous?“... Das Tintenfaß ant¬
wortete ihm „non“. Wir präsentierten ihm den Reflexhammer, an den er
folgende Ansprache richtete: „Monsieur le rasoir, est ce vous qui m’avez
donn6 un coup d’assomoir en division?“ . . . Der Hammer antwortete: „Non,
c’est vous, qui vous etes frappäs vous möme.“
Den Inhalt der Psychose bildet in diesem Falle offenbar die
Beziehung zur Welt. Der Kranke fühlt sich verloren, verliert auch
das volle Erleben der Welt, welche ihm als eine finstere, gleich¬
förmige Unendlichkeit erscheint. Er ist sich des Konflikts bewußt:
Sein Bewußtsein preist ihm die Welt, er aber fühlt, daß er sie ab¬
lehnen muß. Er sucht die verlorene Beziehung zur Welt wieder zu
gewinnen, er will in Gott, der ihm das Ebenbild der gesamten
Realität ist, die Welt wiederfinden. Zwischen sich und Gott,
zwischen seiner Psyche und der Welt sieht er aber den großen
finsteren Raum. Er sehnt sich nach der ursprünglichen Einheit von
seinem Ich, Gott und der Welt, der Einheit, unter deren Spaltung
<er zu leiden hatte.
13
. . cs war wie eine Trennung von Gott“ . . . und er erlebt diese Ein¬
heit wieder, in uneingeschränktem Maße. Nun ist alles eins, die
Schranke zwischen Psyche und Welt verliert sich, er braucht nicht mehr um
die verlorene Realität gegen die ihn umgebende einförmige Unendlichkeit ver¬
zweifelt anzukämpfen, sich mit seiner Sphäre gegen die schwarze Zentral¬
sphäre zu stürzen, um sie zu zerschmettern. Es kann uns nicht verwundern,
daß er vorübergehend die ganze Realität in sich selbst erlebt und so zum Gott
wird, wenn er auch zunächst nur Gottes Stimme in sich vernimmt Dann aber
fühlt er den Zwang, Gott zugleich in der Welt, in der wunderlichen schwarz¬
roten Kugel, wie in sich selbst, in dem Schatten seines eigenen Kopfes zu
suchen. Übrigens symbolisierte schon die schwarzrote Kugel nicht nur die
Erde (die Welt), aber auch seine eigene Psyche seine „Sphäre“, seinen Kopf..
Wir merken uns auch die Gespräche, welche der Kranke mit
leblosen Gegenständen führte, diese Personifizierung oder wenn man
will Beseelung wird uns noch beschäftigen.
II» Die schizophrenen Welterlöser.
Unser Patient Ernst T. war immer geneigt, die Welt überwiegend von
dem Gesichtspunkte seiner auf das Ideal eingestellten Psyche zu betrachten.
Einer Bauemfamilie entstammend, wurde er, da er sich durch seine hohe intel¬
lektuelle Begabung auszeichnete, für einen liberalen Beruf bestimmt und trat
lßjährig in eine Bank ein. Vom ersten Tage*ab sah er, wie er uns erzählt,
daß er für diese Laufbahn nicht taugte. „Die Bank ist eine höllische
Maschinerie, die die Seele, das Gefühl und die Liebe niederdrückt. Der
Mammon, das Geld, ist der Teufel in Person. Der Gott in mir hat es mir
offenbart.“ Trotz dieser feindlichen Einstellung verbrachte er 2)4 Jahre in
der Bank als ein ausgezeichneter Beamter, um, wie er erklärt, dieser feind¬
lichen Realität seine Unabhängigkeit zu erweisen. Aber wie stellt er sich die
Weh ohne Banken vor? Die Menschen werden leben in gegenseitiger Liebe,
ohne Geld und sonstige materielle Mittel zu brauchen. Die Lebensweise der
Menschen so wie sie heute ist, in der Geldwirtschaft, das ist ja kein richtiges
Leben, das ist wiederum die Hölle. Im Militärdienst hatte Ernst die gleichen
Eindrücke und Empfindungen wie in der Bank. Auch hier fühlte er den
Mangel an innerem Leben, an Gefühl, an Seele. Aber auch hier machte er
seinen Dienst in musterhafter Weise, „um zu zeigen, daß man auch dies be¬
siegen kann“.
Einmal muß er eine Reise ins Tessin machen, wo sich ihm eine Stelle
bietet Er geht zu Fuß, wozu er 4 Tage braucht Er erklärt uns, daß er
keinen Zug benutzen wollte, weil ihm auch dies als Hölle erschien. Es sei
kein Gotteswerk, es zerstöre den unsterblichen Anblick der Natur.
Nachdem Ernst die verhaßte Bank verlassen hatte, wendet er sich der
Landwirtschaft zu. Nur in der körperlichen Arbeit sieht er Heil, nur sie
macht die Seele erhaben, gesund und edel. Es ist sehr wahrscheinlich, dafi
Ernst in der so von ihm gepriesenen körperlichen Arbeit auch ein Heilmittel
gegen die ihn moralisch quälende Masturbation gesucht hat, da er gehört
hatte, dies sei das beste Mittel gegen das schreckliche Laster. Die Psychoso
14
überrascht ihn bei der Landarbeit, in einem Orte, wo er sich sehr gut fühlte
und wo er auch schon bekannt war.
Er entschließt sich, an die junge Rosa zu schreiben, die er seit sechs
Jahren liebt und der er seine Liebe noch nie zu gestehen gewagt hat Ich
lasse den für seine psychische Konstellation charakteristischen Brief nach-
folgen:
„Chöre soeur, lorsqtfau printemps 1914, en entrant chez votre fröre,
je vous voyais pour la premiöre fois, j’ötais ötonnö comme vous ressembliez
a une jeune fille qui dans la premiöre classe de l’öcole secondaire ötait mon
Premier amour, qui restait hölas, de sa part trop vite ce que restent les
amours d’öcoliers, en laissant sa flöche dans ce coeur qui a toujours eu
tant de peine a se döbarrasser de profondes impressions. Vous repartiez
bientot pour St. Loup en me laissant songeur et k votre retour pour quelques
jours, avant votre entröe a rinfermerie de Morges, une immense joie me
remplissait. H ne m’a pas ötö donne de vous adresser plus que 2 ou 3 fois la
parole hier. Ce dimanche aprös-midi ou vous ötiez assise sur une chaise
entre le plantage et le clos, entouröe de l’immortelle fraicheur d’un
jour de mai ou de juin, tandis qu’assis sur le vieux banc sous le mur
du jardin je m’adonnais a la lecture des fiancös de Manzoni, m’est inoubliable
. . . A ce point que je ne peux plus m’empecher de crier: Rose, aie pitie,
je taime . . .
In Erwartung einer Antwort auf sein Schreiben lebte er in einer exstati¬
schen Stimmung, die alsbald religiöse und mystische Ideen zeitigte. Eines
Morgens erblickte er, was er seine Vision nennt. Es sind dies interessante
Personenverkennungen. Er sah den Papst, er erkannte ihn an der Bewegung
des Staunens, die er bei seinem Anblick machte, auch schwankte er, was ein
Ausdruck der Angst, die er vor Ernst empfand, war. Die Angst war durchaus
begründet, denn er sah in Ernst den Welterlöser und erfuhr so, daß nicht er,
der Papst, die Welt erlösen sollte. Es erschien auch dem Patienten von Be¬
deutung, daß er auf dem Wege eine religiöse Broschüre gefunden hat, die dort
ohne Zweifel von dem Papste absichtlich gelassen wurde. Bald nachher be¬
gegnete Ernst einem Manne mit Rucksack, in dem er den italienischen König
erkannte. Dieser suchte Arbeit beim Torfstechen, „um sich vor Gott zu
demütigen“. Er war begleitet von einem alten savoyardischen Dienstknecht,
Savoyen aber ist die Wiege der Italiener, also . . .
Nach all diesem konnte Ernst nicht mehr in dem Dorfe bleiben, wo er
als Landarbeiter angestellt war. Es trieb ihn fort, er ging die Welt zu er¬
lösen, er hatte das Gefühl, in der Stadt werde er erwartet, auch hoffte er dort
eine Antwort von Rose zu bekommen.
Er änderte seinen Weg, ohne sich darüber Rechenschaft zu geben und
kam in Lausanne an. Um 9 Uhr abends präsentierte er sich in der Kaserne
und verlangte Einlaß, indem er zunächst sein Dienstbüchlein und die Bibel
vorzeigte mit den Worten: „zuerst Christ, dann Schweizer Soldat.“ Nachdem
man ihm hier Einlaß verweigert hat, ging er weiter, legte sich in der Straße,
„wie der Christus“, mit auf der Brust gekreuzten Armen, „wie Zwingli nach
der Schlacht bei Cappel“. So fand ihn die Polizei und führte ihn in die
Anstalt.
Ernst glaubte, der Heiland und Welterlöser zu sein. Nur ist der erste
Heiland gestorben, er aber wird ewig leben. Er ist auch seinerzeit bei der
15
Grippeepidemie verschont geblieben, worüber er uns mit einem extatischen
Lächeln berichtet Vielleicht ist er verschont geblieben, weil er selbst Gott
ist Er findet, dies ist keine Lästerung: oh, non, l’homme peut etre Dieu s’il
veut Man entgegnete ihm „also könnte es viele Götter geben“, worauf er
erwidert: „Das ganze Universum ist eine einzige Harmonie, ein einziges Ding.“
Von seiner Heilandsmission weiß Ernst seit er sich entschlossen hat
seiner fernen Geliebten, der Rose, zu schreiben und seine Liebe zu bekennen.
Wir wissen, daß er die Antwort in größter Affektspannung erwartete. „Das
Männliche und Weibliche sind 2 Pole,“ erklärt er, „deren Verschmelzung zur
Weltharmonie zur Welterlösung führt“
So wird hier wieder, in echt schizophrener Weise, eigene Er¬
lösung aus der Spannung der Sehnsucht zur Erlösung der ganzen
Welt der Objekte.
Von der Realität der letzteren hat der Kranke sein Interesse
zurückgezogen, welches er nun wiederum auf das Ganze projiziert.
Das Ganze ersetzt hier die Teile und über der Brücke, die ihn noch
mit der Welt verbindet, über der bestimmt und eigenartig fixierten
Libido, stürzt er sich auf das verloren gegangene Universum. Und
wiederum alles ist möglich, alles Vergängliche wird nur ein Gleichnis,
an dem sich sein Wollen und Wünschen erfüllen soll.
An einer affektiven Lebenswunde zerbricht die Relation zur Welt des
Konstantin T. Autistisch prädisponiert, zurückgezogen, scheu und
furchtsam, findet er eine Frau oder vielmehr wird von ihr gefunden. Glück¬
lich lebt er mit ihr, bis sie ihm mit einem Geliebten davongeht. In seinem
Leiden sucht er Trost in der Religion, besucht religiöse Versammlungen, ver¬
weigert den Militärdienst. Die Psychose bricht aus, indem er sich als .Welt-
erlöser ankündigt. Er will alle glücklich machen, alle müssen gütig werden,
denn „wenn die Schlechtigkeit fortdauert, kommt der Weltuntergang“. Es
werden dann nur Männer übrig bleiben, die W T elt wird eingeschlechtlich sein.
Vielleicht ist der Mond die Mutter der Frauen, die Sonne der Vater der
Männer. Vielleicht vermehren sich die Gestirne durch die Liebe.
Einige Tage später, in der Abklangsperiode der Psychose kommt Kon¬
stantin zur Einsicht. Er schreibt: „Croyant apporter un peu de lumifcre au
pauvre genre humain, croyant faire plaisir ä un camarade, je dßsirais le voir,
aaehant qu’il avait 6t6 m6pris6 et mal compris; je croyais meme pouvoir
apporter le pardon a tous les etres de la terre, et meme aux criminels, mais
cette lumiöre que je croyais donner a tous, se change et je vois que je ne
suis qu’un commun mortel.“
So projizierte hier der Kranke seine Wünsche und Hoffnungen
ins Unendliche; der ganze Kosmos wurde betraut mit der Darstel¬
lung seiner Komplexe; der Mond und die Sonne wurden zu zwei
Polen seiner Affektivität.
16
Unsere zuletzt besprochenen Patienten wollen die Welt be¬
glücken, indem sie davon ausgehen, sich selbst glücklich zu machen.
Sie negieren die schlechte Welt, wobei sie keine positiven Ideen zu
ihrer Besserung bringen, denn sie rechnen mit dieser äußeren Welt
nicht mehr oder nicht mehr genügend, als daß sie noch ihre
psychische Tätigkeit regulieren könnte. Es besteht hier keine eigent¬
liche Wechselwirkung mehr zwischen den zwei Elementen unserer
Grundrelation Psyche-Welt, wie sie noch etwa bei einem sozial wir¬
kenden normalen Idealisten bestehen würde; die Grundrelation hat
sich zugunsten des Ich verschoben, das sich von der objektiven Welt
losgelöst hat; es fühlt sich als Quelle der Macht, indem es durch das
Bewußtsein äußerer und innerer Unzulänglichkeiten nicht mehr ge¬
hemmt wird und so einen gleichsam magischen Einfluß auf die
äußere Welt auszuüben glaubt. Es ist einleuchtend, daß bei dieser
Einstellung des Schizophrenen auch seine kognitive Sphäre gefälscht
werden muß, denn zweifelsohne entspringt die Wahrnehmung und
auf ihr aufgebaut die Erkenntnis, den Interessen und den Bedürf¬
nissen, die den Menschen an die Wirklichkeit verweisen. Fehlt diese
Direktive, dann hört die Erkenntnis auf, wirklichkeitsgemäß zu sein,
so entstehen die philosophischen Systeme der Schizophrenen. Sie
sind verschiedene Stadien der Bewegung, die das von den Objekten
losgelöste Ich zu der Welt als Ganzes zurückführt.
Der Theologe Emanuel B. war seit jeher zu abstrakten Spekulationen
geneigt, vertiefte sich in die Lektüre metaphysischer und theologischer Schrif¬
ten. . Unter dem Einflüsse schwieriger äußerer Bedingungen, so vor allem der
materiellen Lage, ist die Psychose ausgebrochen.
Er hat eine wichtige Vervollkommnung der drahtlosen Telegraphie erfun¬
den und verkehrte nachts mit Marconi, der sich auf dem Eifelturme befand.
Die Welt muß umgeändert werden, da wir ein gefährliches Leben führen. Man
soll unbekleidet gehen; aber auch die Nahrung und Heizung soll überflüssig
gemacht werden. Unser Körper hat parabolische Flächen, wo man die Energie
der Sonnenstrahlen sammeln könnte . . . und Emanuel ließ seine Frau den
Rücken krümmen und ihn der Sonne zuwenden. Der Arme hatte in dem
strengen Winter viel an der Kälte gelitten. Auch sann er über den wunder¬
baren Apparat nach, der die Nahrung ersetzen sollte. Die Verwirklichung die¬
ser Idee erschien ihm um so dringlicher, als er den imminenten Weltuntergang
voraussah. Die Autos, die er vorbeifahren hörte, kamen, um seine große rie¬
sige Kraft zu überwachen, mit der er der Welt viel Gutes aber auch viel Böses
antun konnte, ja vielleicht auch zu ihrem Untergange beitragen? . . .
Er spazierte in seinem Garten und studierte „die Polarisation“ des Lichtes
durch die Blätter, da sah er Sonnenflecke und fragte sich, ob dies nicht Folgen
der durch die Kanonen im Weltkriege hervorgerufenen Erschütterungen wären.
Er dachte, es könnten Vorzeichen des Weltunterganges sein.
17
Was Emanuel Polarisation nennt, ist bloße Dispersion. Aber diese Kon¬
fusion stört ihn wenig und wie wir ihm von der Polarisationsfläche sprechen,
antwortet er uns, es gäbe vielleicht einen Raum mit vielen Flächen, denn er
kennt die Frage des dimensionalen Raumes und vermutet, man könne daraus
deduzieren, daß es im Unendlichen keinen Raum mehr gibt . . .
So sind die Hauptelemente dieses Delirs eine Art der „Philo¬
sophie der Misere“, sie lösen mit einem Schlage die Hauptschwierig¬
keiten, die das Leben unseres Kranken trüben. Das Material der auf¬
gestapelten philosophischen Begriffe und Anschauungen wird dabei
reichlich verwertet, wobei mit Begriffen, metaphysischen wie wissen¬
schaftlichen, rücksichtsloser Unfug getrieben wird. Auch hier wird
der vorübergehende Untergang eigener Welt der Objekte mit dem
Weltuntergänge überhaupt gleichgesetzt.
111. Der schizophrene Gott.
Die Störung der Grundbeziehung erlaubt dem Schizophrenen,
sich mit der Welt zu identifizieren. Überträgt er die Lösung eigener
affektiver Bedrängnisse und Konflikte auf die von ihm unabhängige
äußere Realität, so wird er zum Welterlöser, wie die zuletzt beschrie¬
benen Kranken; verliert er jede Bindung an die Welt und läßt sein
Ich schrankenlos hypertrophieren, so kann es dahin kommen, daß er
sich als den Inbegriff aller Realität, als Gott, auffaßt.
William G., 44jährig, Fabrikant für Uhrenedelsteine, Vater Trinker,
sonderbarer Charakter, eifersüchtig und moros. Mutter an Lungentuberkulose
gestorben, hatte ebenfalls einen absonderlichen Charakter. Ein Bruder Potator
starb an Delirium tremens und Lungenentzündung. Der Patient war während
2 Jahre seiner Verlobungszeit gütig, affektiv gut eingestellt, liebte seine Braut
innig. In der Ehe erwies er sich als außerordentlich eifersüchtig; schon nach
einem Jahre wagte es die Frau nicht mehr, eine Aufforderung zum Tanze an-
2unehmen und mußte die Einladungen ihrer Angehörigen refüsieren. Bald
merkte sie, daß der Mann heimlich trank, was sich trotz aller ihrer Gegen-
bemühungen immer verschlimmerte. Zugleich veränderte sich allmählich sein
Charakter, er wurde boshaft, unangenehm gegen Frau und Kinder. Im Jahre
1916 hatte er einige epilepsieartige Anfälle. Ein Jahr später fing er an, Stim¬
men zu hören, Menschenmengen ernannten ihn zum Staatsrat. Nach einem
Aufenthalt in einer Privatklinik wurde der Patient in unsere Anstalt überführt.
Er versichert uns zu allernächst, seine wirkliche Frau sei die Tochter des
Arztes, in dessen Sanatorium er vorher weilte. Von seiner früheren Frau will
er nichts mehr wissen; die 2 richtigen Herzen mußten einander begegnen,
^eine wahre Frau folgt ihm überall hin, sie ist auch hier in der Anstalt, er hört
sie, wie er überhaupt mit gewissen Personen auf Distanz sprechen kann. Auch
kann er Menschen und Objekte durch die „Figuration“ sehen,
er stellt sich diese eben vor, sieht sie aber, als ob sie
Bychowski, Metaphysik und Schizophrenie. (Abhandl. H. 21.) 2
18
wirklich wären. Er fühlt Vibrationen in den Nerven, das sind Musik -
wellen.
Am 14. Oktober 1920 nach dem Datum gefragt, gibt er an, es sei der
22. Oktober 2921. Er erklärt: „II j a mille ans retournäs en arrtore par 1&
tranquillitä du travail, mille ans en arriöre qu’on a reportä en avant. Nous
sommes retournäs en arri&re d’abord par la position du militarisme, pour la
vie sociale, la vie äconomique laborieuse, du point de vne de la moralitA“.
. . . Das alles hat er geleistet, unterstützt durch die Natur, welche mit ihm
arbeitete, dies ist die Diktatur der Natur. Marconi ist es gelungen, die Sprach-
wellen (ondes paroliennes) zu vereinigen. Marconi: Maroc ... Marc... arco ...
con ... ni...; ni... nie... jamais, Entdeckung, welche noch nie exi¬
stierte. Er zerlegt diesen Namen, um zu der Familiarisation, Familiarität,
Genealogie, Generalogie, Familiarologie zu gelangen. Marconi ist sein Adoptiv¬
sohn, er, M ..., vermittelte seine Ideen dem Volke, den leitenden ärztlichen
und astronomischen Kapazitäten.
Seinen an der Privatklinik unternommenen Suizidversuch erklärt er fol¬
gendermaßen: „In einem Anfalle des Wahnsinns ... aber es war kein Wahn¬
sinn ... trieb ihn etwas dazu, sich den Hals abzuschneiden, er mußte es tun, es
war wie eine Klarheit, eine Leichtigkeit des Geistes und des Körpers. Er
wollte verschwinden, wollte nicht nach Hause zurückkehren. Seine Frau ver¬
leumdete ihn, sie erzählte, er sei ein Trinker, aber wenn er ins Kaffeehaus ging,
so geschah es nur, um sein Heim zu verlassen.
Sein Suizid war ein Glück, damit sich zwei Körper und zwei Seelen tref¬
fen können, ... die Tochter des Arztes und er. Sie begegneten sich durch die
innere Sprache, durch die Ventriloquie, Estomachie. Alles spricht, die Nieren
registrieren seine Gedanken, ebenso die Leber, von ihrer Seite kommt die Ge¬
rechtigkeit, die Strafen und Gesetze. Er hat zwei Herzen, er hört sie beide
schlagen, jedes an einer Seite, das Herz der Liebe und das Herz der Gerechtig¬
keit. Seine Gedanken gehen von rechts nach links, wie alles bei ihm. Das
sind Töne, welche von der Natur kommen, die Sprache der Blätter, der Winde.
Die Hauptrolle spielen dabei Sonne und Mond, sie haben auch ihre Stimmen.
Seine Ideen werden vom Gehirn ausgearbeitet, im Kleinhirn aber aufgespei¬
chert. Er hat zwei Kleinhirne, weil er zwei Herzen und zwei Schläfen hat.
G. ist es, der durch die Vermittlung Marconis dem Kriege ein Ende
machte, er führte die vollständige Entwaffnung in einem Tage durch. Er
überwacht alles, auch alle Arbeiten in der Anstalt. Es ist ein gro߬
artig angelegter Verkehr der Weltelemente unter¬
einander. Mond, Sonne, Sterne, das ganze Firma¬
ment, alles dies gehört ihm. Nach dem Monde haben sich auch
die Kometen hingegeben, sie sind auf die Erde heruntergekommen. Jeder
hatte eine Urkunde, um seine Identität zu bezeugen, jeder hatte seine Ver¬
treter, welcher dem G. sagte: „Dieser gehört dir“.
Es gibt keinen Gott, das ist die Natur, G. ist der
direkte Vertreter der Natur. Dies war bisher durch die Religion
verborgen.
G. kann nicht getötet werden, er kann einem jeden Macht
geben oder entziehen, nach seinem Belieben. Er ist unsterblich, seine Organe
erneuern sich in dem Maße, als es notwendig wird. Wenn der Arzt versuchen
würde, ihn zu erschießen, würde der Schuß nicht abgehen. Ebenso könnte er
vom Gifte nicht angegriffen werdeft.
19
Er hat das Oberkommando über die Natur von ihr selbst erhalten. E r
ist der Vertreter, der Schöpfer, der General der ganzen
Welt, auch ist er der Präsident des Völkerbundes, denn es gibt keine Könige
mehr, sie sind alle geschlagen worden in der Schach¬
partie, welche er in dem Privatsanatorium gespielt hat. Ebensowenig gibt
es noch Priester und Religion. Der Gott der Bibel ist nichts, denn niemand
bat ihn je gesehen. Ihn, den Patienten, aber sieht ein jeder. Auch hofft er,
daß sich alsbald alle von seiner Macht überzeugen und ihm Gehorsam leisten
werden. In diesem Sinne deutete er die Blutentziehung, die man ihm eines
Tages zwecks der Wassermannreaktion machte: man täte es, wähnte er, damit
alle Menschen von seinem Blute trinken, wodurch sie verstehen werden, daß sie
ihm gehorchen müssen. Die geringe Quantität des entnommenen Blutes machte
ihn an dieser Deutung nicht irre. Drei Tropfen genügten, meinte er, damit
sie verstehen. Im übrigen genügt es, einen Moment lang den Dunst seines
Hemdes einzuatmen, um die Erkenntnis zu erwerben.
Er ist das einzige Kind der Natur, daher seine immense Macht. Wenn
der Arzt, welcher, er gibt es zu, auch ein Kind der Natur ist, diese Macht nicht
besitzt, so kommt es davon, daß sein Schädel aus Fleisch und Knochen, wäh¬
rend derjenige des G. aus Edelsteinen besteht. „Sehen Sie denn nicht,“ fragt
t% „wie er in der Sonne aufleuchtet?“
Die göttlichen Attribute des Patienten haben einen
deutlich magischen Charakter. Er droht uns, falls wir
ihn nicht sofort entlassen, mit der Sistierung des
Tag-und Nachtwechsels. Es könnte uns passieren, daß wir während
rin bis zwei Tagen keinen Tag, nur Nacht haben. Schon in der Privatanstalt
habe er, um die Herren zu bestrafen, die Tage um die Hälfte gekürzt.
Sein Blick kann heilen und während ich das kranke Auge eines Patien¬
ten untersuche, kommt G., um es zu betrachten; er behauptet, dem Patienten
durch seinen Blick viel Gutes zu erweisen.
Alles geschieht auf Befehl der Natur. Habe ich irgendeinen Gedanken,
so kommt derselbe von der Natur; alles spricht, die Befehle kommen von der
Luft, dem Winde, den Bäumen.
G. ist in Verbindung mit der ganzen Welt, er bekommt Mitteilungen aus
Afrika und von den Philippinen. Er hält Vorlesungen überall, an allen Uni¬
versitäten, vor allen Autoritäten, es genügt, daß er denkt, seine Hörer hören
ihn innerlich, „durch das Sprechen“.
Die Geschichte des Falles zeigt deutlich die Ablösung der Psyche
von ihrer Welt, welche als feindlich und unzugänglich erscheint. Zu¬
gleich wird das Ich hypertrophiert und Größenideen bestimmen die
Einstellung des Kranken. Nachdem der Versuch gemacht wird, mit
der unzugänglich gewordenen Welt endgültig abzubrechen (Suizid),
bricht die Tendenz durch, welche wir hier mit Freud wohl als Hei-
lungstendenz bezeichnen können. Die Psyche strebt nach der ver¬
lorenen Welt zurück, kann sich aber nicht auf den ihr zugewiesenen
Ausschnitt der Realität einschränken und versucht, die gesamte
Wirklichkeit, „die Natur“, zu umspinnen. Das hypertrophierte Ich
mißt sich bei dieser Herstellung des Kontaktes die überwiegende
2 *
20
Rolle bei, es betrachtet sich als den alleinigen Vertreter der gesam¬
ten Wirklichkeit. Wenn nun der Kranke von sich als von dem
Schöpfer der Welt spricht, so hat er nicht Unrecht insofern, als er die
endopsychische Tatsache zum Ausdruck bringt; denn er hat sich tat¬
sächlich seine verloren gegangene Welt wieder erschaffen, er eignete
sich gleichsam die ganze Welt an, welche für ihn früher nicht exi¬
stierte. Darum nennt er sich auch Besitzer und Vertreter der Natur.
Die Wertbetonung wird von der Welt auf die Psyche verschoben,
welche über die Realität göttliche Macht zu haben glaubt und sie
nach ihrem Belieben zu ändern fähig ist. Dieser Gott rechnet nicht
einmal mit der natürlichen gesetzmäßigen Weltordnung, er wähnt,
die Tage kürzer machen zu können, ja sie gänzlich einzustellen.
Seine göttlichen Attribute bekommen so magischen Charakter und er
erinnert uns an die Zauberer der Primitiven.
Wie in dem Kranken die ganze Kraft der Natur zum Ausdruck
kommen soll, so wird seine Macht durch den kleinsten Tropfen seines
Blutes, durch die Ausdünstung seines Körpers übermittelt und den
Ungläubigen offenbart, welche nunmehr in einer Art Gemeinschaft
seine Herrschaft anerkennen müssen. Wir wollen schon hier auf die
Analogie dieser Denkweise mit der der Primitiven hinweisen. So
wird berichtet von dem großen Dalai Lama in Lassa: Er wurde an¬
gebetet wie ein wirklicher und lebendiger Gott und man glaubte ihn
siebenmal auferstanden. Er lebte zurückgezogen in seinem Palaste;
seine Verehrer stritten sich um den kleinsten Teil seiner Ausscheidun¬
gen, welche sie verschluckten oder als Amulette am Halse trugen,
da sie vor Krankheiten schützen sollten*).
IV. Der amtliche Prophet 2 ).
A u g u 8 t T., geboren 1862, kam im Mai 1919 nach Burghölzli. Heredität:
Vater Trinker, jähzornig, an Tuberkulose gestorben. Ein Bruder und zwei
Schwestern sollen geistig etwas abnorm sein. Zwei Schwestern an Lungen¬
tuberkulose gestorben. Schon 1895 soll er „übergeschnappt“ gewesen sein,
fiel durch seine sonderbaren Ideen, sein verschrobenes Wesen, seine große
Launenhaftigkeit auf. Seit einiger Zeit nannte er sich General oder Oberst,
verlangte bisweilen Farben, um das Wetter zu ändern; er schöpfte Jauche in
') Thevenot, Relation des divers voyages, IV. partie (Paris 1672).
Zit. bei Frazer, The golden bough.
’) Ich verdanke Herrn Professor Bleuler die Überlassung der Kranken¬
geschichte und Herrn Dr. Hans Steck, auf diesen Fall aufmerksam gemacht
worden zu sein.
21
ein Gefäß und trank sie, auch geschah es, daß er eigene Fäzes knetete und aß.
In der Anstalt erzählte er, er habe etwas gelernt und sei ein Genie in der
Landwirtschaft. Drum sei er zwischen 1902 bis 1904 zum General — „über¬
haupt General“ — ernannt worden. Ein General muß aber alles können,
bauern, Bchmieden, metzgen, backen, das könne der Patient alles.
Die Jünglinge in Horgen, die alle hohe Leute, „Kulturen“, seien, die etwas
tu verwalten hätten, hätten ihn zum General gemacht.
Auf dem „Bocken“ bei Horgen sei es vorerst zu einem Krieg gekommen:
das Wirtshaus dort sei von seinem Besitzer verteidigt worden; aber der General
fiel mit seinen Jünglingen ein und eroberte das Haus; dann sei ihm das Diplom
gegeben worden. In der Fastnacht habe man den Burenkrieg gespielt. Der
General hat auch oft Versammlungen abgehalten, man sage ja „Generalversamm¬
lungen“. Er hielt Reden über die Begleitung der Landwirtschaft in das Jahr
und KulturbearbeitungsVerschiedenheit.
Als General kann er auch das Wetter machen, man muß
nur je nachdem eine Farbe in die Hände nehmen: er muß mit jener Farbe vom
Kopf bis zu den Füßen „parieren“! Wenn er eine blaue Farbe nimmt und
..blau“ sagt, dann wird es schönes Wetter. Wenn es regnen soll, so nimmt er
Lampenruß. Wenn er Winter will, so malt er sein stählernes Werkzeug weiß
an, dann hat der Stahl eine Macht, gehört zu ihm wie das Wetter, welches
erzeugt wird.
Diese Künste liegen in seiner Natur. Auch Kranke, die gesund werden
wollen, kann er gesund machen: er stellt dann zwei mit derselben Krankheit
gegenüber, dann stoßen sie sich die Krankheit ab.
Er ist ein Baumstock und mit dem Erdboden verbunden: deshalb trinkt er
auch zeitweise Jauche, damit es umschlage auf der WieBe. Auch seinen Kot
muß er manchmal essen zur „Durchbearbeitungsverwandlung“: das Wachstum
wird dann befördert in Qualität und Quantität.
Wenn T. sich vorstellt, daß eine Person, die er kennt, unter seinem Leib
im Bette liegt, so kann er tatsächlich mit ihr reden, sie hören, die Person kann
deutlich über Dinge reden, die schon längst vergangen.
Geheiratet hat T. nicht, weil er seine Kraft auf die Arbeit verwenden
wollte, statt damit eine „Portion Kind“ aufzustellen. In Amerika freilich hat
er sich durch Geschlechtsverkehr verjüngt, durch einen persönlichen Entwurf
durchs menschliche Geschlecht. Im Samen liegt nämlich das künftige Modell,
der Entwurf einer gewünschten verjüngten Persönlichkeit.
T. ist unerschütterlich überzeugt, daß er die Witterung kommandiere. Er
verlangt von den Mitpatienten, daß sie abstimmen, was es für ein Wetter geben
>olle. Er ist ein Magnet, der das Wetter anziehen kann. Er hat gefunden, es
wäre besser, man ließe einmal alle Seen überfrieren, damit alles Ungeziefer zu¬
grunde gehe, dazu hätte er zuerst 20 cm Schnee schnell fallen lassen, — aber
hier kann er das nicht machen. Man soll ihm einmal Kühe und Gummi geben,
dann trägt er das auf dem Karton auf seinem Kopfe herum, dann gibt es Regen.
Wenn er weiß und blau sieht, dann gibt es Schnee, wenn er schwarz sieht, dann
regnet es, wenn er rot und gelb sieht, wird es schön; er hat das Wetter ge¬
macht, seit er aus Amerika zurtickkam.
Es gibt offensive und defensive Leute, die schwarzhaarigen und braun¬
äugigen, die bringen Regen, wenn sie sich begatten, seine Natur bringt Feuer.
22
Wenn er grau und schwarz zusammenlegt, so wird der gegenwärtige
Nebel nur noch schwerer; dreht er sich nach Nordwesten, dann gibt eB Schnee r
der Schnee wird in Schweden und Norwegen fabriziert, dort sind die Blonden.
In Rußland wird er abgekühlt, dann wird er je nach dem Druck zu una
getrieben.
Er hat die Naturen der anderen gegessen. (Natur?) Wenn sie ausge¬
mauert wären, eine Begattung trinken. (Samenflüssigkeit?) In ein Täschchen
und das trinkt man. In Island hat er schon von manchem die Natur versucht,
es ist etwas unappetitlich, keiner hat es so gut verleiden können, wie er. Man
muß aufschneiden mit feinen Messern, in ein Täschchen ausstreichen, wenn er
sterben will, nimmt er rasch die letzte Natur, das bekommt man in der Apo¬
theke. Die Generäle müssen seine Natur trinken, da¬
mit sie seine Ideen bekommen, sie wollen nur das Licht
darin sehen.
Manche Leute sind erfahren, sind durchsichtig. Sie sehen durch das
Schicksal: es sind nicht alle Leute auf dieser Höhe.
(Kot essen?) Das ist nichts Widerwärtiges, der Mensch hat 2 After, einen
vorderen und einen hinteren, für Dickes und Dünnes. Er nimmt nur ganz,
wenig Kot, nimmt bei einem Baume etwas Erde, vermischt das und schluckt;
der Baum sieht das und dann trägt er sehr fruchtbar; er hat das schon oft
erprobt. Andere Landwirte müssen dies auch machen 1 ).
Einem Ledigen macht es gar nichts, er hat noch einen vollständigen
Magen, die anderen haben einen schon abgeschwächten Magen. (Abnützung
des Magens?) Ja, es muß doch bei jedem Kinde der Vater einen Teil von
sich von jedem Organ abtreten.
Es berührt den Patienten gar nicht, wenn bei seinem Wetterkommando
das Gegenteil davon eintritt, was er prophezeit.
Er ist selbst der Kalender, d. h. der beste Kalender der
Schweiz.
Eines Tages beobachtete man, wie T. sich wiederholt verbeugte und mit
der rechten Hand den Fußboden berührte. Nach der Bedeutung dieses Zere¬
moniells befragt, antwortete er, das bedeute: der Vogel fliege in den Käse¬
kessel und in den Buttertrog. Der Vogel sei er. Zur Erklärung seiner An¬
gaben zeichnete er die bei der Butter und Käsebereitung gebrauchten Werk¬
zeuge und sagte, man müsse die Bewegungen dieser Beschäftigung lange genug
wiederholen, dann verspüre man im Munde den Butter- und
Käsegeschmack. Er empfahl diese Methode dem Arzt zur Nachahmung^
Auch sonst erklärte T., daß es für ihn genügte, sich die Sachen sehr
intensiv vorzustellen, um das Gefühl zu haben, die
Dinge tatsächlich zu besitzen.
Eines Tages verlangte er ein Paar lange schwarze Strümpfe, damit er
Regenwetter machen könne. Sobald es lange genug geregnet haben werde,
will er alles frieren lassen, damit es eine gute Schlittenfahrt gebe.
Dieser Mentalität entspricht ausgezeichnet, wenn der Patient
einen seiner „Befehle“ unterzeichnet: amtlicher Prophet und General.
*) hu Folclore spielt bekanntlich der Zusammenhang zwischen dem Ge¬
deihen eines Menschen und eines Baumes eine große Rolle. Siehe Bsp. bei
Frazer, Le rameau d’or. vol. II, livre III, chap. III.
23
Der hohe theoretische Wert dieses Falles, welcher geradezu ein Paro-
digma der primitiven Mentalität bietet, wird sich im Laufe der völ¬
kerpsychologischen Erörterungen des dritten Kapitels von selbst er¬
geben.
V. Die schizophrenen Verfolgten.
Wir beabsichtige^ hier in aller Kürze drei typische Fälle des
schizophrenen Verfolgungswahns anzuführen, welche uns ein wert¬
volles Material zum Studium der schizophrenen Mentalität bieten
werden.
J e a n n e S., 33jährige Hausfrau, hatte schon immer einen schwierigen
Charakter, vertrug sich mit ihren Bekannten nicht, war sehr eigensinnig, dis¬
kussionsunfähig.
Nach der ersten Geburt äußerte sie zum ersten Male Verfolgungsideen
gegen ihren Mann, beschuldigte ihn, mit einem Hunde zu verkehren, behauptete,
sie wäre hypnotisiert und durch das elektrische Licht beeinflußt. Alsbald
wurde sie von Eifersuchtsideen beherrscht, behauptete, der Mann betrüge sie
mit seiner früheren Freundin, diese mache ihr Mitteilung davon durch
Hypnotismus.
Hypnotismus, erklärt die Patientin, ist Seelentherapie. Eines Nachts
wurde sie plötzlich hypnotisiert und man sprach zu ihr „von innen“; sie war
entsetzt, aber das Sprechen „von innen“ wiederholte sich und sie selbst lernte
es bald, auf diese Art mit entfernten Personen zu verkehren. Sie hörte die
Nachbarinnen sagen, ihr Mann sei verrückt, und sie wagte es nicht, in sein
Bett zu gehen. Seit man mit ihr „von innen“ spricht, entzieht man ihr auch
die Gedanken, man verändert sie nach Belieben und bewirkt so die feindliche
Einstellung des Mannes ihr gegenüber.
Es gibt Menschen, welche sich verdoppeln kön¬
nen; so konnte ihr die Freundin des Mannes in R. er¬
scheinen, während dieselbe Freundin zugleich in C.
blieb. Die Patientin behauptet, das Geheimnis der Verdoppelung zu kennen,
dieselbe hängt irgendwie mit unerlaubtem sexuellem Verkehr zusammen. Im
übrigen könne man auch auf Entfernung geschlechtlich verkehren. Sie kann
vor jemandem in natürlicher Weise (au naturel) stehen, wie sie jetzt vor dem
Ante steht; sie kann aber auch durch den Gedanken vor andere gehen, sie
wird dann hier bei dem Arzte bleiben, während sie zugleich bei den anderen
lau suggectif) sein wird. . („Suggectif“ offenbar Verdichtung von suggestif und
subjectif.) Ebenso ist die Freundin des Mannes zu ihr „au suggectif“ gekom¬
men. während sie „au naturel“ in C. blieb. Wenn man die Wahrheit sagt,
»o kann man vor einer entfernten Person sein. Auch
Gottes Geist ist überall, wir beten ihn in Wahrheit an. Wir
alle haben das Blut Jesu in uns.
Wir wollen besonders die letzteren Aufstellungen unserer Patien¬
tin festhalten, indem wir wiederum auf deren primitiven Charakter
Hinweisen. In der Tat ist die Verdoppelung ein typisch m agi¬
les Attribut der Zauberer und Hexen aller Völker und Zeiten.
24
Anno 1221 sang, so wird berichtet, Johannes Teutonikus von Halber¬
stadt, Prediger und Zauberer, in einer Nacht gleichzeitig 3 Messen, in
Halberstadt, Mainz und Köln 1 ).
Eine reiche Ausbeute an magisch primitiven Gedankengängen
bietet der folgende Fall.
Julien T., ein 27jähriger Landarbeiter, Vater nervös, Mutter tuber¬
kulös, ein Vetter beging Selbstmord. Der Patient war in seinem Dorfe bekannt
als ein intelligenter, gebildeter und braver Bursche. Er war, was seine intimen
Angelegenheiten betraf, der Familie gegenüber verschlossen. Soll immer etwas
eigenartig gewesen sein, hatte manchmal einen vagen Blick, hielt sonderbare
Reden.
Im Sommer 1918 starb sein Dienstherr und bald darauf merkte er, daß er
in dessen Witwe verliebt sei. Bei Lebzeiten des Mannes hatte er es nicht
gewagt, sich sein Gefühl einzugestehen, seine Anständigkeit verbot ihm irgend¬
welche diesbezügliche Projekte zu machen. Auch jetzt hatte er keinen Mut,
der Geliebten, von seinen Gefühlen zu sprechen. Er dachte an den Vermögens¬
unterschied, der zwischen ihnen einen Distanz bildete und verließ seine Stelle,
um sich- nicht noch mehr zu binden. Im übrigen glaubte er, sie habe seine
Liebe bemerkt. Er war Frauen gegenüber schon immer schüchtern gewesen.
Eines Tages traf er sie und sie bedeutete ihm, er solle sie aufsuchen, indem
sie ihm beim Fortgehen „au revoir“ sagte. Kurz darauf ging er zu ihr und
merkte, daß man ihn vor ihr verleumdet hatte, sie empfing ihn schlecht, be¬
schimpfte ihn und hieß ihn fortgehen.
Drei Monate später (September) erfuhr er, daß ein Bekannter von ihm,
ein gewisser M., um die Hand der Geliebten angehalten habe, diese Nachricht
,.ging ihm im Kopfe herum“, er mußte fort daran denken.
Anfangs November hörte er eines Abends die Stimme des Schwagers der
Geliebten: „man wird ihn dir mit Gewalt geben“. Dies bedeutete, man werde
die Frau Z. mit Gewalt mit M. verheiraten, trotz ihres Widerstandes. Dieser
Stimme antwortete die Stimme von Frau C., welche sagte: ... „Ich will den
anderen nicht, er brauchte Julien nicht zu verleumden, um seinen Platz ein¬
zunehmen“.
Am nächsten Abend hörte Julien schreien. Es war Frau C., welche sich
gegen das ihr aufgezwungene Heiratsprojekt wehrte: ... „Nein, ich will
nicht.“ Daraufhin verläßt er das Bett und geht nach dem Dorfe der Frau C.
Im Walde hört er fortwährend schreien, sein Rivale M. und 2 Unbekannte er¬
klären: ... „er wird schon Prügel kriegen dafür, daß er uns verfolgt.“ Er
kehrt heim und holt sein Gewehr, um sich gegen den eventuellen Angriff zu
schützen. Zum Zweitenmal geht er in der Nacht aus, hört wieder die Stim¬
men, unter anderem sagen die drei Männer: ... „will sie nicht, dann werfen
wir sie nieder.“ Dies bedeutet für ihn, daß man Frau C. vergewaltigen will.
Er findet Niemanden, kehrt wieder heim, hört wieder schreien und geht zum
dritten Male aus. So brachte er die ganze Nacht zu.
In der Früh, während er über das Geschehene nachdachte, glaubte er, dies
alles käme von seinen Gedanken, seiner erregten Imagination: „Es ist diese fixe
*) Hubert u. Mauss, Theorie g6n£rale de la magie. Ann6e sociolo-
gique VII, 1904, p. 29.
25
Idee, die ich hatte ..ich werde sie doch bekommen ..., welche mich so weit
brachte,“ meinte er. Während er halluzinierte, zweifelte er nicht im Geringsten
an der Objektivität und Realität des Erlebten.
Der Patient beruhigte sich rasch, versprach, sich um Frau C. nicht mehr
iu kümmern und konnte nach einem Monat aus der Anstalt entlassen werden.
Nach einigen Wochen kam er wieder, draußen war es nur 15 Tage gut
gegangen, dann halluzinierte er nachts ähnliche Szenen wie das erstemal.
Auch am Tage hörte er Stimmen an der Stirn und im Herzen, er antwortete in
Gedanken. Man zwängt ihm den Kopf mit Zangen ein, man wärmt seinen Kör¬
per und kühlt ihn wieder ab, auch macht man ihm Bauchweh, welches anders
ist, als die gewöhnlichen Bauchschmerzen. Auch andere scheinbar natürliche
Erscheinungen sind ihrer Herkunft nach durchaus unnatürlich. So läßt man
ihn bei der Arbeit, dem Kartoffelschälen, das Messer aus der Hand fallen.
Man zeigt ihm allerlei Lichtbilder, bekannte Orte, Menschen, auch sein Ver¬
folger selbst zeigt sich im Bilde.
Frau C. spielt in diesem zweiten scheinbar endgültigen Teile des Delirs
eine ganz sekundäre Rolle. Der Hauptverfolger ist männlich, es ist dies der
Oberamtsmann, welcher die Internierung des gefährlich gewordenen Kranken
veranlaßte. Im Zusammenhänge mit dieser Personenänderung ändert sich auch
das Leitmotiv des Wahns. Es ist nicht mehr die heterosexuelle Erotik, son¬
dern die homosexuelle Triebkomponente, welche die wesentliche Rolle spielt.
Die Halluzinationen nehmen allmählich einen spezifisch homosexuellen
Charakter an. Zunächst sind es bloße Parästhesien, welche sich um den Anus
herum konzentrieren, dieser wird elektrisiert, eingezwängt usw. Bald objekti¬
viert sich die Verfolgung in konkreten plastischen Erlebnissen. Der Verfolger
erscheint im Koitus mit einem von ihm ebenfalls verfolgten Opfer begriffen.
Ein anderes Mal versucht er den Kranken selbst zu päderastieren; Julien, ge¬
quält, schildert, wie der Penis des Verfolgers in seinen Anus hineindringt,
er fühlt dies mit großer Deutlichkeit. „Dieser Hund“ läßt ihm keine Ruhe und
der Unglückliche protestiert empört, er sei doch kein Rezeptionsapparat.
Diese Verfolgungen spielen sich alle auf Distanz ab. Der Verfol¬
gerbleibt in seinem Amtsorte, während er zugleich
von der Person des Kranken Besitz ergreift. Er dringt
in Julien hinein, breitet sich in seinem Innern aus. Auf welchem Wege kommt
dies zustande? Schon im dreizehnten Lebensjahre hatte ihn der Verfolger mit
Magnesium vergiftet, dieses verblieb in seinem Blute und gibt ihn nun dem
Unbarmherzigen preis. Ein anderes Mal spricht Julien von Quecksilber, Elek¬
trizität, Gedankenevolution, Gedankenübertragung; offenbar spielt für ihn das
Substrat der Kraft, welcher er sich ausgesetzt wähnt, keine wichtige Rolle, er
macht sich von ihm keine bestimmte Vorstellung. Die Kraft selbst
wird geistig-materiell gedacht und dem Lebensprin¬
zipgleichgestellt. ... „Das ist der Geist, der Gedanke, das Lebens¬
prinzip, das Blut, welche übertragen werden, es ist das Wesen (Tetre) selbst...“
Kann der Verfolger über ihn eine solche Macht erlangen, so liegt es daran, daß
er mehr „Magnesismus“ als Julien hat. Würde er, der Kranke, mehr „Magne¬
sismus“ haben, dann könnte nun er den Stärkeren spielen und seinen Verfolger
..nehmen“, wie er jetzt von ihm genommen wird.
Der homosexuellen Komponente gelang es nicht, die heterosexuelle end¬
gültig zu verdrängen. In dem Delir unseres Kranken spielen sie oft durch-
26
einander und geben seinem halluzinatorischen Erleben ein besonderes Gepräge.
Der Verfolger greift ihn an, begleitet von seiner Frau und von des Kranken
früherer Liebe, Frau C. Auch diese Personen bemächtigen sich seines Kör¬
pers zu sexuellen Zwecken. Nachts kommen die Frauen zu ihm und verlangen,
er solle mit Ihnen verkehren, und leider muß er nachgeben; er fühlt ganz deut¬
lich die Vagina der Frau ... in Gedanken ... und dennoch ist sie da; eB
kommt zur Ejakulation und Julien will nichts von Masturbation wissen, ob-
schon er sein Membrum gegen das Leintuch frottierte; er will dabei keine
Wollust gefühlt haben.
Auch die Frauen dringen in ihn durch Gedankenübertragung ein.
Die beiden sexuellen Komponenten kombinieren sich zu obszönen und
quälenden Szenen; so päderastiert den Kranken der Verfolger, während zu
gleicher Zeit die Frau an ihm, dem Kranken, die fellatio ausübt.
Der Kranke schreibt seinem Verfolger die Tatsache zu, daß er
bei seinem letzten Geschlechtsverkehr im Intervall zwischen seinen
zwei Internierungen nur wenig potent war und ungenügende Befrie¬
digung hatte. Diese Angabe scheint einen wichtigen psychischen
Tatbestand zu versinnbildlichen. In der Tat wurde der heterosexuelle
Trieb durch den homosexuellen, welcher sich mit großer Gewalt vor¬
drängte, übertönt. Danach ist es sehr verständlich, wenn für Julien
die normale sexuelle Befriedigung den Reiz verlor. Der Kampf und
das Durcheinanderspielen der beiden Triebkomponenten machen den
Inhalt dieses Delirs aus. Folgende Angabe des Patienten objektiviert
diesen Tatbestand: Der Verfolger täuscht ihn durch Frauen, d. h.
der Patient glaubt eine Frau vor sich zu haben, welche von ihm den
Koitus verlangt, bald aber überzeugt er sich, daß es in Wirklielikeit
der Verfolger ist. welcher wie gewöhnlich ebenfalls mit sexuellen Ab¬
sichten kommt. Das Delir zerfällt naturgemäß in zwei verschiedene
Phasen. Zunächst wird das homosexuelle durch das heterosexuelle
verdeckt, der Patient erscheint alsein persecuteur amoureux persecute.
Raid aber bricht das Homosexuelle gewaltsam durch und wird an
die dem Kranken historisch gegebene Persönlichkeit des Beamten
geknüpft, welcher seine Internierung veranlaßte.
Somit scheint dieser Fall Freuds Auffassung des paranoiden
Verfolgungswahnes zu bestätigen und ist in seiner historischen
Struktur dem von ihm veröffentlichten analog’ ».
Die Formen, in welchen sich hier die Verfolgung bestätigt, ent¬
stammen der primitiven Mentalität und werden uns als solche im
dritten Kapitel beschäftigen.
1 F r e u J . Ein der psxvh a'-Alyii-ehen Theorie s-.E-irbu widerspre¬
chen der Fi’.' v n l'irir. ia. Kleine Schriften. IV. F-.dce. Rellex. WUti. if*ls.
27
Jean L 38jähriger Landwirt. Von der Heredität bekannt, daß der
Vater sowie dessen Brüder getrunken haben. Der Patient wird in die Anstalt
gebracht, weil er drohte, seine Mutter zu töten und das Haus anzuzünden.
Seit einem Monat arbeitet er nichts und trinkt viel. Die Mutter berichtet, der
Patient sei seit einigen Jahren, angeblich nach einer unglücklichen Liebes¬
geschichte, düster und mißtrauisch geworden, auch begann er seither zu trin¬
ken. Seit einigen Monaten hört er Stimmen, liest religiöse Bücher. Blieb drei
Tage zu Bett, wollte nichts essen, um, wie er sagte, Buße zu tun. Er erklärte,
er wolle die ganze Menschheit durch Feuer vernichten, sie sei nichts mehr
wert. Glaubte, man reiße ihm das Gehirn aus, spürte elektrische Ströme und
legte die Bibel auf den Kopf, um sich vor ihnen zu schützen. Erzählte, ein
gewisser K., Pensionär bei der Mutter des Patienten, könne magische
Kunststücke machen. K. könne den Kasten ohne Schlüssel mit einem
bloßen Wink öffnen, er zeigte dem Patienten seine Geliebte nackt.
Jean erzählt uns, man habe ihn mit elektrischen Strömen bearbeitet, man
habe es durch optische Linsen gemacht, welche den Strom gegen ihn konzen¬
trierten. Auf seinem Wege riefen die Dorfkinder: „Er leuchtet“. Alle seine
Worte und Gedanken wurden im ganzen Dorfe wiederholt. Er bat seine
Mutter um Aufklärung, aber auch sie arbeitete gegen ihn. Sie glaubt, er habe
sieben Dämonen in seinem Geiste, er sei besessen. Er
konnte mit verschiedenen Personen auf Entfernung sprechen. Seine Verfolger
müssen ein Seraphinenbuch haben, daraus entnehmen sie ihre magischen
Kunststücke. Sein Schwager, mit dem Jean von einem' Mädchen sprach, ging
in eine Zimmerecke, faltete eine Zeitung zusammen nach den sieben Büchern
Moses, machte so Verbindungen, Ströme, welche auf Sonne und Mond über¬
gingen. Auf diese Weise konnte sich der Schwager an Stelle eines Mannes
setzen, welcher mit einem Mädchen nicht verkehren kann .... er profitiert von
dem Sperma eines anderen, er verkehrt mit dem Mädchen, aber ein Geist ist
noch zwischen den beiden.
Der Bruder, die Mutter des Patienten, arbeiten gegen ihn, dies gab einen
riesigen Strom, welcher die Lampe zum Auslöschen brachte. Seine Mutter gab
ihm Hüte, welche eine enorme Macht über ihn hatten, er verlor den Kopf, än¬
derte seine Gedanken.
Der Patient erzählt, er könne alles, was er sich vorstellt, auf
der Photographie sehen. Es genügt, daß er daran
denkt
Jean überträgt seine mißtrauische Einstellung auf die Anstaltsumgebung
und sieht in allen Personen gefährliche Verfolger und Träger der magischen
zauberischen Einflüsse, welchen er sich ausgesetzt wähnt.
Man reißt ihm seine Organe aus, um sie dann wieder an Ort und Stelle
zu setzen, besonders „arbeitet“ man an seinem Gehirn, Herzen und Genitale.
Man macht ihm Transformationen, man entzieht Fäden aus seinem Kopf und
Penis, um daran zu „arbeiten“. Ebenso entnimmt man ihm Gedanken; der
Arzt hat zu diesem Zwecke besondere Maschinen, welche hauptsächlich das
Blut bearbeiten. Es sind dies Röntgenstrahlen, eine Maschine, welche elek
trische Kräfte einzieht, eine andere, welche sie ausschickt. Man saugt ihm
das Blut aus, alle Wärter sind Blutsauger, er fühlt das Blut hinauf- und herun¬
tergehen, sein Puls steht still, sein Herz hört auf zu klopfen. Er ist umgeben
von Murmonen, die ihm Kraft, Blut und Geist entziehen.
Er hört viele Stimmen, die immer neue „Schuftereien“ ankündigen, man
will seine Person beschmutzen. Die Stimmen bringen die Mutter des Patienten
in Zusammenhang mit dem elektrischen Fluid, auch sagt man: ...„die Mut¬
ter wird zum Manne, Jean zur Frau“. Die Unterwäsche, die
er abends ablegt, reist in der Nacht herum und wechselt den Besitzer; in der
Früh sieht er dann verdächtige Flecke darauf, was ebenfalls auf Zauberei hin¬
deutet. Jede Personenänderung, welche in seinem Schlafsaal vorgenommen
wird, jeder neue Nachbar, welchen man zuführt, alle beeinflussen ungünstig
seinen Körper und entziehen ihm seine Kräfte. Man bindet ihn an einen
Leibstuhl, um 6eine Gedärme umzutauschen und er erklärt uns, er habe genug
von diesen sodomistischen Maßnahmen.
Sein Gedanke flotiert in der Luft herum, ,4a pen-
s 6 e voyage, somnambule“. Man will ihn durch den Geist töten.
Man dringt in seinen Geist ein und fordert seinen Geist, seinen Kopf, seine
Glieder, „durch den Geist Judiths fordere ich den Geist von Jean Baptist“...,
so hört er reden. Sein Körper ist voll Geister. Der Geist kann vom
Leib getrennt denselben überleben, Geist ist auch
Blut.
Die Wege, aul welchen unser Patient geplagt wird, sind für die logische
Denkweise unerwartet, um so geläufiger aber der primitiven Mentalität. Er
verweigert es, den Urin in ein Glas zu lassen, denn ... „er weiß nicht, was
daran versucht werden könnte“... (Je ne sais pas ce qu’on pourrait tentef
lä dessus“.) Ebenso will er keinen Brief schreiben, weil man an jeder
Silbe Magie treiben könnte. Auch seine Worte werden zu magi¬
schen Zwecken aufgefangen. Ein Mitpatient spielt mit einer optischen Linse;
die Strahlen gehen nach unserem Kranken hin und „ziehen an seinem Körper“.
Ein Wärter hält einen Becher mit Limonade in Händen; diese geheimnisvolle
Flüssigkeit wirkt auf Jean in magischer Weise.
Isoliert, hört Jean, daß die Ärzte mit seinem Geist lukrative Geschäfte
machen, man arbeitet am heiligen Geiste, man entzieht ihn dem Patienten.
VI. Die schizophrene Wahrsagung.
Alphonse C. Ein 45jähriger Landwirt. Vater schwerblütig, über¬
empfindlich, er lernte erst mit 6 Jahren sprechen, heiratete mit 52 Jahren eine
23jährige. Seine Mutter hat einen absonderlichen Charakter, ist auffallend
geizig, kümmert sich nur um den Viehstall, läßt aber die Wohnung in größtem
Schmutz; den Sohn läßt sie im Stalle weilen, um Heizmaterial zu ersparen.
Eine Schwester des Patienten ist Idiotin, eine andere Schwester führt einen
unsteten, Vaganten Lebenswandel.
Der Patient lernte, wie sein Vater, erst mit sechs Jahren sprechen, war
kein sehr guter Schüler. Als Charakter ruhig, schüchtern, gütig. Mit 21 Jahren
mußte er eine Nacht im Hause seiner Tante zubringen. Als man ihn daraufhin
neckte und meinte, er habe wohl mit seiner Tante geschlafen, fiel er ob des
großen Eindruckes, welchen dieser scherzhafte Verdacht auf ihn machte, in
Ohnmacht. Frauen gegenüber war er immer sehr schüchtern. Er wünschte
sich sehr, zu heiraten, wagte aber nicht selbst, die dazu notwendigen Schritte
einzuleiten, Frauen den Hof zu machen, und mußte von der Schwester dazu
— 29
geführt werden. Im Sommer vor der Internierung verlobte er sich, doch zer¬
schlug sich die Sache vor allem wegen des feindlichen Charakters seiner
Mutter.
Die Psychose brach plötzlich aus. Der Patient glaubte, der Pfarrer
zwinge ihn, zu heiraten, sah schlimme Vorboten, welche ihm vieL
Kopfzerbrechen machten. Eines Tages brach ein Schaf in das
Gehöft unseres Kranken ein und tötete eines seiner
Schafe. Darin sah der Patient ein Vorzeichen des
Todes, und in der Tat, kurz darauf starb ein Sohn seiner Kusine.
Der Hahn des Nachbars kämpfte mit einem Hahn
des Patienten und besiegte ihn. Das bedeutet, daß in
dem Kampf zwischen Alphonse und einem früheren
Freunde seiner Braut der letztere Sieger bleiben
wird.
Dieser große Hahn stellt auch Kaiser Wilhelm dar. Ein kleiner Knabe
im* Dorfe sollte auch den Kaiser Wilhelm darstellen. Letzterer sollte im Äro-
plan kommen, den Knaben zu holen. Der Knabe hat schon Ähnlichkeit mit
dem Kaiser, er ist rothaarig und untersetzt.
Die Revolution sollte ausbrechen. Wäre es ihm nicht gelun¬
gen, die Düngergrube auszuleeren, dann wäre sie
sicher ausgebrochen; da es ihm aber gelungen ist,
kommt die Revolution nicht.
Diese Vorboten sieht er erst seit einigen Tagen. Früher ist ihm etwas
ähnliches nie eingefallen, er glaubte nicht an schlechte oder gute Vorzeichen,
machte sich nichts daraus, wenn eine schwarze Katze seinen Weg kreuzte.
Nachts war er in der Gewalt der Amerikaner. Diese Amerikaner waren zwei
Herren, welche er am Tage in einem Automobil, mit amerikanischen Über¬
ziehern bekleidet, gesehen hatte. Die Amerikaner warfen ihn ins Meer, wollten,
nachdem sie nach Amerika zurückgekehrt und in Europa gekämpft hatten,
nicht mehr in die Schweiz zurtickkommen.
In einem Kaffeehaus bekam er roten Wein. Beim Herausgehen sah er,
daß das Lokal „Zur Krone“ hieß; dies alles erschien ihm höchst auffällig, auch
dies bedeutete die Revolution.
Seine Kuh sollte den Deutschen ausgeliefert werden. Aus diesem Grund
führte er sie eines Tages vor eine Ferme, welche von Deutschen bewohnt wurde.
Dann führte er sie wieder heim. Späterhin versprach er sie einem gewissen
Pfeifer in Vevey, auch einem Deutschen.
In seinem Schlafsaal sieht der Kranke allerlei sonderbare Dinge. Man
führt ganze Szenen auf. Es sind Vertreter verschiedener Länder da: ein klei¬
ner Deutscher, ein Vertreter Amerikas, ein Vertreter der Schweiz. In einem
Bilde, d.as einen alten Weber darstellt, erkennt er den Kaiser Wilhelm, in
einem andern sieht er Alphonse XIII.
Die Bedeutungsbewußtheiten unseres Patienten waren mit einem Schlage
da, sie schienen ihm selbstverständlich und erregten nicht im geringsten sein
Erstaunen. Seine durch die Psychose gesetzte immense Eigenbezie¬
hung schuf die Bewußtheiten, welche zwischen äuße¬
ren Ereignissen und seiner Persönlichkeit unerwar¬
tete und unbegründete Zusammenhänge aufbaute n.
30
Diese Eigenbeziehung des Patienten ließ ihn die Geschichte vom mit
Salz beladenen Esel 1 ), welche wir ihm zum Lesen anboten, gänzlich auf Bich
beziehen. Mit ihm sei nichts Derartiges passiert. Er sei nie ohne Hosen
durch den Fluß gegangen, er habe sich nie ins Wasser gelegt. Er sei immer
den rechten Weg gegangen.
VII. Die schizophrenen Philosophen.
Gustav M. entwickelt abenteuerliche „naturwissenschaftliche und
metaphysische“ Anschauungen. „. . . Wie wird das Ding genannt, wo das
Luftatom mit den Keimen der Menschheit eine Konsistenz gefunden hat, um
das menschliche Geschlecht zu formen? . . . Wüßte man die Antwort auf
diese Frage, dann würde man auch mit einem Schlage die Entstehung der
verschiedenen Menschentypen erklären können. So z. B. die Atome, die im
Wasser Konsistenz genommen haben, den Ursprung der Kropfträger bilden,
die Atome, die ihre Konsistenz auf den Felsen genommen haben, formen den
grob geschliffenen Gebirgsmann“ usw. usw.
Auch hat er seine Anschauungen über die Geisteskrankheiten. Er selbst
leidet an „systematischer Atrophie“. „Die Substantion, Konstantion d’aero-
gene, welche auf das Protoplasma wirkt, das ist die Sonne“. „Die Plethore“
besteht in allem, was existiert; sie kann sich in unbestimmten Perioden ändern.
Er ist die Plethore des Gebirges von Auvergne, er ist gebaut aus vergaster
Sonne. Man sieht auch die Plethore Protoplasma: das ist das Substanzinum
der Schöpfung; durch dieses Gefühl kann man die Determination (Bestim¬
mung?) des Tier- und Pflanzenreiches vornehmen . . .; er ist vulkanisch, er
ist aus Zellulose im Prinzip und wenn er nicht die nötige Quantität Wasser
bekommen hätte, würde er explodiert sein wie eine Bombe.
Ein anderes Mal besteht unser Philosoph aus Stein und Methan (Gas).
In der Mitte seines Leibes befindet sich aber eine besondere Substanz, das
„Zellulosepigment“. Dies explodiert beim Kontakt mit Wasser und da Gustavs
Leib bei den allwöchentlichen Duschen vom Wasser durchdrungen wird,
welches immer tiefer hineindringt, wird es eines Tages eine große Explosion
geben, Gustav wird zerstört werden, was ihn im übrigen nicht im geringsten
beunruhigt. . . . „Stein“ ist Wolke, das ist ein Kubikdezimeter ... er besteht
aus Stein, da die Individuen wie jede Stelle in der Natur sind.
Gegenwärtig befaßt sich unser Philosoph mit dem Problem des Welt¬
zentrums; denn dieses existiert, versichert er uns in liebenswürdigster Weise,
und das ganze Chaos, an dem heute die Welt leidet, ist nichts anderes, als
das Suchen nach diesem Mittelpunkt, nach dem alle Dinge streben.
Als Übergang zu unseren nachfolgenden theoretischen Über¬
legungen will ich noch in aller Kürze an S c h i 1 d e r s‘) Fall G. R. er¬
innern, der wegen der hohen Differenziertheit des Kranken und seines
Wahnsystems ein besonderes Interesse bietet.
') Angeführt in Bleulers Lehrbuch, I. Auflage, Seite 180.
*) Schilder: Wahn und Erkenntnis. Springer, Berlin 1918.
31
6. R., lange Zeit von philosophischen Zweifeln geplagt und nach einer
Weltanschauung ringend, erfährt plötzlich das Erlebnis der Einsicht in den
Weltsusammenhang.
Er formt weltumfassende Theorien, so stellt er Gleichungen auf: Ver¬
einigung von Energie und Liebe = Zusammenarbeiten der Materie und des
ithers = naturwissenschaftliche monistische Theorie nach Maxwell. Wie er
sich dabei von aller Disziplin des auf die Wirklichkeit gerichteten Denkens be¬
freit und sich selbst überlassen, der Willkür anheimfällt, dies typische Ver¬
halten illustrieren am besten seine eigenen Worte: . . Das eigentliche
Wesen der reinen Psychologie besteht darin, daß jeder Mensch seine eigenen
Gedanken hat. Infolgedessen kann an und für sich jeder Mensch alle anderen
Menschen für wahnsinnig erklären, das soll heißen anders denkend
als er . . .“
Die Psychose dieses Kranken, insbesondere seine plötzliche Ein¬
sicht in den Weltzusammenhang, sieht mit eigentümlichen Hellig¬
keitserscheinungen im Zusammenhang. Später erlebt er die Hallu¬
zination der Welteinigkeit, wie er das Phänomen selbst benennt.
Diese Halluzination, ich zitiere fast wörtlich nach Schilder, bil¬
det die Krönung der Psychose, so wie der ihr entsprechende Vor¬
stellungsprozeß des kosmischen Erfassens das Endziel der Strebun¬
gen des Kranken ist, der zu ihm auf dem Wege der Überwindung
des philosophischen und religiösen Zweifels gelangte.
So ist dieser Fall ein klassisches Beispiel des pathologischen
Kampfes um die Weltanschauung und stellt die Erkrankung an der
Zuwendung zur Welt dar. Das vom Kranken gebildete Weltsystem
gestaltet sich absonderlich und in begrifflicher Hinsicht vollständig
unzulänglich, was daran liegt, daß er in seiner Arbeit nicht mehr
genügend von den objektiven Zusammenhängen gerichtet und be¬
stimmt wird. So kann er auch mit Leichtigkeit den Gesetzen des
logischen Denkens entschlüpfen, die ja Normen sind, welche sich im
Laufe der Wechselwirkung und des Zusammenarbeitens der Psyche
mit der Welt ausgebildet haben und so notwendigerweise überindivi¬
duell, jeder richtigen, das heißt zur Wirklichkeit führenden Erkennt¬
nis, irgendwie immanent sein müssen.
II. Kapitel.
Theoretisch-Psychopathologisches.
Die kurzen Bemerkungen über den zuletzt erwähnten Fall
Schilders, G. R., sind geeignet, zu unseren theoretischen Aus¬
führungen überzuleiten.
Wir haben bei ihm in typischer Weise gesehen, wie stark die
Wahrnehmung von der Art der Einstellung zu Objekten beeinflußt
wird. Seine Halluzination der Welteinigkeit ist ein direkter Ausdruck
seiner Zuwendung zur Welt, die Helligkeitserscheinung, die mit der
Einsicht in den Weltzusammenhang einhergeht, ist, wie es Schil¬
der in Husserls Terminologie ausdrückt, das noematische Kor¬
relat des subjektiven Phänomens des vollen Erfassens der Zu¬
sammenhänge.
„Es ist der sinnbildliche Ausdruck für die Klarheit des Ein¬
sehens, daß die Welt in einem helleren Lichte erstrahlt.“
Die pathologische Erfahrung schafft sich hier gleichsam ihren
Gegenstand, der für sie ebenso vollwertig ist, wie der allgemein und
objektiv gegebene Gegenstand für die Erfahrung des Normalen.
Wir kommen hier zum Problem der normalen und pathologischen
Wahrnehmung. Diese ist uns der Akt, in dem das Subjekt einen
Gegenstand in anschaulicher Weise erfaßt, sei dieser Gegenstand von
vornherein gegeben oder vom Subjekt selbst erschaffen. So wird uns
die Wahrnehmung zu einem Kardinalproblem, indem sie die beiden
Elemente unserer Grundrelation Psyche-Welt in engste Beziehung
zueinander bringt.
Wenn jeder Normale die gewöhnlichen Umgangsobjekte in glei¬
cher Weise wahrnimmt, so geschieht es, weil seine Psyche mit ihnen
gleiche Verbindungen eingeht, sich an ihnen in gleicher Weise be¬
tätigt oder betätigen kann.
In den bisherigen Theorien der Wahrnehmung hat man es* still¬
schweigend angenommen, daß ihre Grundlage und ihr Endzweck
theoretisch seien, eine Voraussetzung, deren Unhaltbarkeit mit aller
wünschenswerten Klarheit erst von B e r g s o n erwiesen wurde. Der
Sinn und Zweck der Wahrnehmung ist praktisch, sie dient zur Orien¬
tierung des Organismus in der Außenwelt, sie zeigt ihm die Möglich-
33
keit, seine Bedürfnisse zu befriedigen resp. diese Befriedigung vor-
«bereiten. So können wir die Wahrnehmung am besten verstehen,
wenn wir zunächst dien rein psychologischen Standpunkt verlassen
and uns auf den biologischen stellen.
Bei dem einfachsten Organismus, etwa einer Amöbe, folgt auf
jeden äußeren Reiz unmittelbar die Bewegung, „Wahrnehmung und
Bewegung fallen zusammen in einer Eigenschaft, der Kontraktili¬
tät“ 1 ). In diesem Sinne können wir auch sagen, die Amöbe unter¬
scheidet sich selbst nicht von der äußeren Welt, sie nimmt nicht
wahr, weil sie immer reagiert. Die Subjekt-Objektspaltung existiert
noch nicht, der Organismus und seine Umgebung, seine In- und Um¬
welt fallen zusammen. Diese primitive Einheit beginnt sich zu spal¬
ten, sobald der Organismus die Möglichkeit bekommt, auf Reize nicht
sofort zu reagieren, sondern die Reaktion aufzuschieben und schlie߬
lich, als Endziel der langen Entwicklung, in Anlehnung an frühere
Erfahrungen, die Art der Reaktion zu wählen.
So scheidet sich immer mehr das Subjekt von seiner Umgebung,
seiner Welt, es formt sich zugleich mit dem Objekt, so daß es nicht
angeht, zu sagen, „die Vorstellung der materiellen Welt sei subjek¬
tiv, relativ und sozusagen von uns ausgegangen, statt daß wir viel¬
mehr uns zuerst von ihr geschieden haben“ 1 ).
In der ursprünglichen Kontinuität der Welt schneidet unsere
Aktivität Objekte aus, welchen sie einen abstrakten, leeren Raum
unterlegt.
... „Die Wahrnehmung der Objekte ist das Maß unserer mög¬
lichen Wirkung auf dieselben und dadurch umgekehrt ihrer Wirkung
auf uns“ 1 ). So sind wir in der Wahrnehmung in unmittelbarem Kon¬
takt mit den Objekten und konstruieren nicht erst unsere Wahrneh¬
mung aus subjektiven, nicht ausgedehnten, rein qualitativen und rela¬
tiven Empfindungen.
Der Unterschied zwischen der reinen Wahrnehmung (perception
pure) und Stoff ist kein wesentlicher, er ist bloß ein gradueller, indem
die Wahrnehmung uns einen Teil, eine Seite des Objektes, präsentiert
und zwar den Teil, die Seite, die uns interessiert, die für unsere
Aktivität in Betracht kommt. „Die Aktualität unserer Wahrnehmung
*) Henri Bergson: Mattere et Memoire. 14. 6. Alcan, Paris 1919,
p. 46.
*) B e r g-s o n 1. c. p. 44—45.
*) B e r g 8 o n 1. c. p. 48.
Bychowski, Metaphysik nnd Schizophrenie. (Abhandl. H. 21.) 3
34
besteht also in ihrer Aktivität, in den Bewegungen, die sie fortsetzen,
nicht aber in ihrer größeren Intensität“ 1 ).
t
Wenn so die „reine Wahrnehmung“ gleichsam ein Teil der
Objekte selbst ist, so sind wir mit einem Schlage der alten Frage¬
stellung enthoben, die in der Möglichkeit des Subjektes, die Welt
wahrzunehmen und sie vorzustellen, das Hauptproblem sah. Wir
staunen nicht mehr über den seit jeher geheimnisvollen Übergang,
den unser Erkennen zwischen den subjektiven inneren Zuständen
und der objektiven Realität postulierte, wir laufen nicht mehr Ge¬
fahr, mit gewissen Philosophen die Welt als unsere bloße Vorstellung
anzusehen. So verschwindet auch für uns der Abgrund zwischen der
objektiven Welt der qualitätslosen Atome, wie sie von dem Materia¬
lismus gelehrt wird und der Wahrnehmung, die erst diese graue Welt
mit ihren Qualitäten ausstatten soll. Wir erkennen in diesen Auf¬
fassungen, die jedes moderne Denken vor unlösbare Antinomien ge¬
führt haben, die konsequente und unabwendbare Folge unseres dis¬
kursiven, abstrahierenden Verstandes, der, ein Instrument des prak¬
tischen Lebens und auf Praxis bedacht, in jeder Kontinuität Tren¬
nungen und Unterscheidungen vornimmt, Dinge von ihren Wirkungen
und Qualitäten trennt, ebenso wie er die Distanz zwischen dem Ich
und der Welt ausbaut. Man denke nur an die von Jedem empfundene
große Schwierigkeit, sich die Gravitationskraft vorzustellen, träge
Massen in ihrer riesigen Kraftentfaltung und Wirkung*). Man denke
auch an das für die meisten unabwendbare Bestreben, sich einen
jeden psychischen Prozeß in einer materiellen Form vorzustellen, als
ob er nur dann verständlich wäre. Es sind dies sozusagen biologische
und unumgängliche Vorurteile unseres Verstandes.
Wenn so die „reine Wahrnehmung“ ein System der Aktionen in ,
statu nascendi darstellt, der in der Realität tief verwurzelt ist, so
werden wir in natürlicher Weise auf die Frage geführt, was denn
eigentlich den subjektiven Charakter der Wahrnehmung bedinge;
denn hier in dem doppelten subjektiv objektiven Charakter der
Wahrnehmung liegt die ganze Problematik der Frage.
') B e r g 8 o n 1. c. p. 62.
*) Bergßonl. c. 222. La Conservation de la vie exige sans doute que
nous distinguions, dans notre expörience joumaliöre, des c h o s e s inertes et
des a c t i o n 8 exercöes par ces choses dans l'espace. Comme ü nous est
utile de fixer le sifege de la chose au point pr4cis ou nous pourrions la
toucher, ses contours palpables deviennent pour nous sa limite reelle, et nous
voyons alors dans eon a c t i o n un ,je ne saie quoi“ qui s’en dötache et
en difföre.
35
Die „reine Wahrnehmung“, also der Akt eines Subjektes, das
gleichsam eine tabula rasa ohne Vergangenheit darstellt und zum
erstenmal auf einen Moment mit dem Objekt in Kontakt tritt, ist
natürlich nur eine vorläufige Abstraktion. In der Tat haben wir es
mit einem Subjekt eu tun, welches dank seines Gedächtnisses über
seine gesamte Vergangenheit verfügt, das eminent historisch ist, und
bei jeder Wahrnehmung seine früheren Erfahrungen verwertet.
Außerdem ist schon eine einmalige Wahrnehmung keine momen¬
tane, sondern vielmehr aus unzähligen Momenten bestehend, die
durch das Gedächtnis zu einer Einheit zusammengezogen werden.
So antworten wir auf unsere Frage: „Der subjektive Aspekt
der Wahrnehmung beruht auf der Kontraktion, die vom Gedächtnis
vollzogen wird“. Indem so die Dauer der Objekte mit ihren vielen
Bewegungen • in unserer „reinen Dauer“ konzentriert wird, bekommt
unsere Wahrnehmung ihren heterogenen qualitativen Charakter, der
sie von der objektiven, an und für sich bestehenden Realität so
schroff für unser Verständnis unterscheidet.
In dem Maße, als wir uns über die Rolle des Gedächtnisses,
also des Subjektes, an dem Zustandekommen der Wahrnehmung klar
werden, schränken wir die Bedeutung der rein sinnlichen aktuellen
Komponente ein. „Die Rolle der perzeptiven Erschütterung ist es,
dem Körper eine gewisse Attitüde zu geben, worauf sich die Erinne¬
rungen ansetzen“*). In der fertigen Wahrnehmung ist es nicht mehr
möglich, die beiden Komponenten auseinander zu halten, indem die
bloße Perzeption nur eine Aufforderung ist, der alle gleichen oder
') B e r g s o n 1. c. p. 64. hfetferogfenfeite qualitative de nos perceptions
suecessives de l’univers tient k ce que cbacune de ces perceptions artend
eile meme sur une certaine epaisseur de durfee, k ce que la memoire y condense
une multiplicite enorme d’febranlements qui nous apparaissent tous ensemble
quoique successifs. 11 suffirait de diviser idfealement cette epaisseur indiviäfee
de temps, d’y distinguer la multiplicite voulue de moments, d’eliminer toute
memoire, en un mot, pour passer de la perception a la matiere, du sujet
a l’objet. Alors la mattere, devenue de plus en plus homogene k mesure que
nos sensations extensives se repartiraient sur un plus grand nombre de
moments, tendrait indfefiniment vers ce Systeme d’febranlements homogönes dont
parle le rfealisme sans pourtant, il est vrai, coincider jamais entierement avec
eux Point ne serait besoin de poser d’un cote l’espace avec des mouvements
inapercus, de l’autre la conscience avec des sensations inextensives. C'est
au contraire dans une perception extensive que sujet et objet s’uniraient
d’abord, l’aspect subjectif de la perception consistant dans la contraction que
la ntemoire opfere, la rfealite objective de la mattere se confondant avec les
ebranlements multiples et successifs en lesquels cette percfeption se dfecompose
intferieurement
3 *
verwandten Erinnerungsbilder folgen und so mit ihr gemeinsam das
Wabmehmungsbild schaffen.
So ist die Perzeption eine Gelegenheit füf die Realisierung der
Erinnerungsbilder, die als „virtuelle Objekte“, eines wirklichen Ob¬
jektes zu ihrer Materialisierung bedürfen. Als besonders schlagende
experimentelle Begründung dieser Auffassung, innerhalb der norma¬
len Psychologie, sei hier an die bekannten Arbeiten über den Mecha¬
nismus des Lesens erinnert*); diese haben gezeigt, daß die Lektüre
auf ständigem Raten beruhe, so daß nur einige charakteristische
Wortmerkmale aufgefaßt werden, die gleichsam den Rahmen formen
für die Erinnerungsbilder, die uns die eigentlichen objektiven ge¬
druckten Worte ersetzen 1 ).
Wenn so mit Leichtigkeit die Druckfehler übersehen werden, so
wird es uns klar, wie das Erinnerungsbild eine gegenwärtige Wahr¬
nehmung umbilden kann, es erweist sich gelegentlich stärker, als die
rein „objektive“ Wahrnehmung.
Hören wir ein Gespräch in einer uns unbekannten Sprache, so
vernehmen wir keine Worte und Sätze, sondern bloß konfuse Laute
und Töne, während die sprechenden Personen in dieser für uns chao¬
tischen Lautmasse präzise Gebilde unterscheiden. Auch hier modi¬
fiziert das Gedächtnis die Wahrnehmung und zwar in einem sehr
starken Maße. Die im Laufe der Erfahrung gesammelten Gehörs¬
eindrücke organisierten bei dem Sprachkundigen beginnende Bewe¬
gungen, die die jeweiligen Wahrnehmungen automatisch begleiten
und ein motorisches Schema der Sprache bilden*).
Wie wir sehen, kommt hier kein „reines Gedächtnis“ im Sinne
Bergsons in Betracht, vielmehr handelt es sich um eine moto¬
rische Einprägung von Akten, die eine leichte Wiederholung ermög- *
licht, zugleich aber für die Wahrnehmung von besonderer Bedeu¬
tung sein kann.
') Goldscheider und Müller, Zur Physiologie und Pathologie
des Lesens. Ztschr. f. kfin. Medizin. 1893.
*) B e r g 8 o n 1. c. 106, 107. . . . on se reprösente volontiere la per-
ception attentive comme une s6rie de processus qui cheminerait le long d’un
fil unique, l’objet excitant des sensations, les sensations faisant surgir devant
eiles des idees, chaque idee 6branlant de proche en proche des points plus
reculös de la masse intelectuelle. . . . Nous pr£tendons au contraire que la
percöption refl£chie est un Circuit ou tous les 616ments, y compris l’objet
perQu lui meine, se tiennent en 6tat de tension mutuelle, comme dans un
Circuit ölectrique, de sorte qu’aucun äbranlement parti de l’objet ne peut
s’arreter en route dans les profondeurs de l’esprit: il doit toujous faire
retour a l’objet lui meme.
*) B e r g s o n 1. c. 113, 114.
37
Die beiden Formen des Gedächtnisses: die „reinen“ unabhängi¬
gen Erinnerungsbilder, die alles Wahrgenommene und Erlebte mit
seinen besonderen individuellen Merkmalen treu behalten und wieder-
geben uhd die „motorischen Mechanismen“ oder Schemen stehen in
engster Wechselwirkung untereinander. Sie bilden integrierende Be¬
standteile der Wahrnehmung und der Wiedererkennung, die ja bei
der Wahrnehmung eine wesentliche Rolle spielt. „Die zerebralen
Mechanismen beendigen in jedem Moment die Reihe meiner vergan¬
genen Vorstellungen, indem sie die letzte Fortsetzung sind, welche
diese Vorstellungen in die Gegenwart ausschicken, ihr Anknüpfungs¬
punkt mit der Realität, das heißt mit der Aktion“’). Bei der Wahr¬
nehmung, bei der Wiedererkennung vollzieht sich fortwährend eine
Selektion unter den möglichen Erinnerungsbildern, von denen nur
solche aus ihrer virtuellen Existenz, aus ihrer Vergessenheit ans
Licht herangezogen werden, welche mit der wahlgenommenen Gegen¬
wart zu einem nützlichen, d. h. für unsere Aktivität bedeutsamen
Ganzen verschmelzen können. Bei dieser Wahl spielt ebenso unsere
bewußte Intention, wie die vorgebildeten Mechanismen unseres auf
die Realität und die Aktion eingestellten Zentralnervensystems mit.
Und hier kommen wir zu unseren psychopathologischen Erörte¬
rungen zurück.
Wir sagten: Die für jeden Normalen allgemeine und im Laufe
der onto- und phylogenetischen Entwicklung entstandene Betätigung
schafft eine allgemein gültige Welt der Objekte, die einem jeden
zugänglich, für jeden die gleichen Formen hat.
Nun wissen wir, daß auch bei dem Normalen die Wahrnehmung
durch affektive Komponenten und Einstellungen umgebildet werden
kann, denken wir z. B. daran, wie verschieden eine Landschaft von
verschiedentlich gestimmten Zuschauern aufgefaßt und gesehen wird.
Und dennoch wird hier die Distanz zwischen dem Subjekt und dem
Objekt innegehalten und der betreffende Zuschauer vermag unter
Umständen das objektive Bild von seinem persönlichen Beitrag mit
der erwünschten Klarheit zu unterscheiden.
Dieselben Eigenschaften unseres Erkennens, die uns auf dem
theoretischen Gebiete so viel Schwierigkeiten bereiten, indem sie den
lebendigen Prozeß, die strömende Kontinuität des Geschehens zu fest
umgrenzten, starren Dingen umbilden, dieselben Eigenschaften er¬
weisen sich von eminentem Werte, wenn es gilt, unsere Beziehungen
zur Welt zu regeln. Denn hier ist es nötig, die Anwendungspunkte
*) B e r g 8 o n 1. c. p. 76.
38
unserer Tätigkeit genau zu umschreiben, die Distanzen der Dinge von
uns, die Maß und Ausdruck unserer aktiven Möglichkeiten ihnen
gegenüber daretellen, zu erfassen. Denn es ist‘uns weniger wichtig,
die Wirkungen der Dinge aufeinander, als vielmehr ihre mögliche
Wirkung auf uns und wie dieselbe von uns reflektiert, erwidert oder
benützt wird, zu begreifen.
So geht mit der engen Wechselwirkung zwischen Psyche und
Welt eine Distanzierung einher, die sich für die normale Psyche von
größter Bedeutung erweist. Denken wir uns Jemanden, der glücklich
wäre, eine geliebte Person, nach der er sich stark sehnt, im leibhaften
Bilde vor sich zu sehen; warum gelingt es ihm nicht, seine Sehnsucht
zu projizieren? Ich meine, wohl deshalb nicht, weil trotz des stärk¬
sten Wunsches seine Psyche mit allen Fäden mit der gegebenen
Wirklichkeit verbunden ist, sein Zentralnervensystem auf diese Wirk¬
lichkeit eingestellt, durch sie bestimmt, reguliert und gerichtet wird.
So ist die Schranke nicht aufzuheben, die zwischen dem Wunsch und
der unzulänglichen Wirklichkeit notwendigerweise besteht, die
Schranke, die in unserem Falle die Vorstellung von der Wahrnehmung
unüberwindbar trennt. Trotz der bewußten Intention können sich
die Erinnerungsbilder nicht verwirklichen, da sie keine adäquate
Attitüde in dem auf reale Objekte gerichteten Zentralnervensystem
vorfiuden.
Dieses Beispiel muß uns veranlassen, auf einen naheliegenden
Einwand einzugehen. Wir sprachen von der Schranke zwischen der
Vorstellung und Wahrnehmung, aber, wird uns mancher Psychiater
entgegnen, es gibt gar keine solche. Beides ist Vorstellung, und es
führen alle Übergänge von einer zur anderen.
In der Tat zeigt schon unser Beispiel, daß der Unterschied zwi¬
schen der Vorstellung und Wahrnehmung kein bloß gradueller ist.
Die stärkste Intensität der Vorstellung verleiht ihr nicht den Ob¬
jektivitätscharakter der Wahrnehmung, ebenso wie andererseits die
schwächste Wahrnehmung keineswegs zur subjektiven Vorstellung
werden kann. Dann aber gehört meine Wahrnehmung der Gegen¬
wart, dieser unmittelbaren Gegenwart, die jederzeit die nächste Ver¬
gangenheit perzipiert und die nächste Zukunft bestimmt und vorbe¬
reitet, die im Wesentlichen wirkt und als solche aktiv, motorisch
ist. Sie stellt nicht vor, weil sie empfindet, wahrnimmt und agiert.
Die Vorstellung aber oder besser das reine Erinnerungsbild ge¬
hört wesentlich der Vergangenheit an, es hat als solches keine un¬
mittelbaren Anknüpfungspunkte an der materiellen objektiven Welt,
es ist in diesem Sinne eine bloße Idee, eine Intention, die ihre Ver-
39
wirklichung, Materialisierung normalerweise erst durch Aufforderung
und Verknüpfung mit dem in der Wahrnehmung gegebenen Objekt
verlangt 1 ).
Ebensowenig wie wir es begreifen können, wieso die subjektiven
Empfindungen, in die Außenwelt projiziert, ein Objekt ergeben soll¬
ten, müssen wir es auch unverständlich finden, wieso aus der Wahr¬
nehmung durch bloße Abschwächung oder wie man uns auch sagt,
durch Abstraktion der sinnlichen Komponenten die Vorstellung
entstehen soll 1 ). Wir verstehen dies nur für den Begriff, der durch die
Heraushebung gewisser Merkmale zustande kommt und auch er ist
uns Abstraktion nur insofern, als wir mit ihm zu bestimmten Zwecken
und in bestimmten Zusammenhängen operieren. Sobald wir aber den
Begriff als solchen an und für sich denken wollen, beleben wir ihn
durch bestimmte Erinnerungsbilder, die sich je nach unserer Inten¬
tion einstellen und schließlich den Begriff ersetzen. Es ist ja dies
Verhalten schon von Berkeley bemerkt worden. Keineswegs
aber verstehen wir den graduellen Übergang der Wahrnehmung zum
reinen Erinnerungsbilde auf dem Wege der Abstraktion der sinn¬
lichen Komponente. Sehen wir eine Vase und prägen uns alle Details
lebhaft ein, schließen dann die Augen, so können wir sie trotzdem
„sehen“, aber es ist doch ein ganz anderes Sehen und wir wissen um
den Unterschied ganz klar und sicher, sobald wir die Sache ohne
jede theoretische Voraussetzung prüfen. Die Frage der Leibhaftig¬
keit ist im übrigen von Jaspers’) eingehend genug erörtert wor¬
den, so daß ich mich auf diese kurze Andeutung einschränken kann.
So entspricht für uns die Distanz zwischen der Wahrnehmung
und der Vorstellung der Schranke, welche die beiden Elemente der
Grundbeziehung Psyche—Welt trennt. Natürlich gibt es hier wie in
allem Biologischen allerlei Übergänge. Der von der Wirklichkeit
sich leichter Loslösende wird wohl in besonderer Affektanspannung
etwa ein nicht leibhaftes Bild der ersehnten Person sehen können.
') Ich bedaure es, diese Dinge hier so summarisch und unvollständig
darstellen zu müssen. Ich kann aber an dieser Stelle auf die ausführlichen
Beweise dieser wichtigen Unterscheidung nicht eingehen, ebenso wie es mir
unmöglich ist, die Quellen der in dieser Frage begangenen Fehler zu be¬
handeln. Ich muß auch hier auf Bergsons ausführliche Darstellungen in
„Matiöre et Memoire“ verweisen.
*) Bleuler: Unveröffentlichter Vortrag, gehalten in der Versammlung
schweizerischer Psychiater in Monthey am 5. Juni 1920.
*) Jaspers: Allgemeine Psychopathologie, 1918, Springer. Derselbe,
Zur Analyse der Trugwahrnehmung. Ztschr. f. d. ges. Neur. u. Psych., 6.
40
Jedes vollwertige Individuum „hört“ zuweilen die Stimme des Ge¬
wissens, aber es hört sie nicht im wörtlichen, leibhaften Sinne des
Wortes; auch hier bestehen zwischen der Metapher und dem leib¬
haften Erlebnis allerlei Übergänge.
Der Traum soll uns als das Paradigma der pathologischen Ver¬
hältnisse dienen. Im Traume, wo wir uns von der Realität abwenden
und von ihrem Regulativ ungetrübt unser Innenleben ausspinnen,
hindert uns nichts, Bilder zu sehen, Dialoge zu führen und zu ver¬
nehmen. Die Schranke zwischen dem Ich und der Realität ist ge¬
fallen, unsere Vorstellungen, Erinnerungen und Triebe können unge¬
hindert und unbekümmert um alle Widersprüche ihr Wesen treiben
und indem ihnen keine Konkurrenz der äußeren Eindrücke und der
objektiven Gesetzmäßigkeiten gegenübersteht, sich in ihrer Eigenart
verwirklichen.
Besonders ist uns hier das Gebiet der hypnagogischen und
hypnopompischen Erscheinungen wichtig, auf das bekanntlich Sil¬
be r e r 1 ) die Aufmerksamkeit gelenkt hat. Durch Selbstbeobachtung
können wir hier dunkle psychopathologische Fragen in hellstem
Lichte erblicken und so werden wir Beispiele aus diesem Gebiet be¬
sonders gern herausgreifen.
Beim Einschlafen, das man ja bei gewisser Übung beliebig lange aus¬
dehnen kann, höre ich zunächst willkürlich, dann halb oder ganz unwillkürlich
„Stimmen“. Es genügt, daß ich mir Dialoge vorstellc, Sie spinnen sich dann
weiter von selbst fort, mehr oder weniger logisch und sie werden laut, sobald
ich mich jeder aktiven Einmischung enthalte, sie sich selbst überlasse und,
von der Realität abgewendet, in eine Art Introspektion versinke, wo ich
passiv die in mir auftauchenden Bilder betrachte. Es ist mir schon vorge¬
kommen, und ich höre diese Erfahrung von andern bestätigt, daß sich
dieses „Gedankenlautwerden“ zu ganzen dramatischen Szenen und Romanen
entfalten kann; freilich sind mehr oder weniger unzusammenhängende Bruch¬
stücke das Typische.
Was geht hier eigentlich vor? Die Psyche, nicht mehr auf die
Welt eingestellt, genügt sich selbst und ersetzt die Welt; Erinne¬
rungsbilder, getreue Schatten der erlebten Wahrnehmungen, tauchen
aus ihrer nichtwirkenden und darum unwirklichen Existenz hervor
und benützen die Gelegenheit, um sich vorübergehend zu verwirk¬
lichen, materialisieren. Es ist, als ob sie im Wachzustände von der
aktuellen Realität zurückgedrängt wären und nur auf den Augen-
*) Silberer: Zur Symbolbildung. Jahrb. f. Psychanal. III./IV. Bericht
über eine Methode, gewisse symbolische Halluzinationserscheinungen hervor¬
zurufen und zu beobachten. Ebenda Bd. I. Symbolik des Erwachens und
Schwellensymbolik überhaupt. Bd. HL
41
blick warteten, wo diese Wirklichkeit für die Psyche verschwindet
und sie sich selbst überläßt.
Die Bereitschaft der latenten Erinnerungsbilder, beim ersten
Anlaß ins Bewußtsein vorzudringen, zeigt sich deutlich, auch bei
Ermüdung und Zerstreutheit. Wenn ich mit einer schwierigen
Lektüre beschäftigt, meine Aufmerksamkeit für einen Augenblick
nachlassen fühle, so geschieht es nicht selten, daß ich plötzlich an
Stelle und zugleich mit dem Passus, den ich wohl lese, aber nicht
mehr aktiv zu verstehen versuche, in meinem Bewußtsein Bilder
aufnehme, die sich gleichsam blitzartig eingestellt haben. Es sind
dies Bilder einer bestimmten einmal gesehenen Straße, kurze Visionen
einer ganzen Szene u. a. m. Es ist mir bis jetzt nicht gelungen,
die Erscheinung näher zu analysieren, nur ist* es mir aufgefallen,
wie selten ein Zusammenhang mit der gegebenen Situation resp. mit
der mein aktives Bewußtsein beschäftigenden Lektüre nachzuweisen
ist. Es ist wirklich, als ob eine inhaltlich wie zeitlich entfernte
Schicht auf einmal in das aktuelle Bewußtsein hineinspielte.
Menschen, die konstitutionell zum Wachträumen neigen, können
bekanntlich von einer ganzen komplexen wirklichen Situation vor¬
übergehend absehen und an deren Stelle ihre eigene psychische
Konstellation setzen, die für sie in dem bestimmten Moment ihre
besondere Welt schafft.
Am leichtesten gelingt dies aber in den Zuständen des Schlum¬
mers, des Sichausruhens, wobei auch die vollständige Ruhe des
Körpers eine wichtige Rolle spielt. Denn so wird jeder Versuch von
Aktivität unterdrückt und die Beziehung zur Welt am sichersten
aufgehoben; nichts steht der Realisierung psychischer Komplexe
im Wege.
Auf diesem Gebiete wie auf dem engeren der hypnagogischen
und hypnopompischen Erscheinungen läßt sich mit besonderer Deut¬
lichkeit zeigen, wie die Verschiebung der Grundbeziehung Psyche-
Welt zugunsten eines ihrer Elemente beide zugleich beeinflußt. Nicht
nur ist für die von der Welt abgelöste Psyche das Weltbild wesent¬
lich verändert, sondern auch sie selbst erscheint und erlebt sich
anders als zuvor.
Eines Morgens empfand ich eine besonders starke Unlust beim Erwachen,
wodurch es sich, wie ich glaube, auf eine ganze Stunde hinauszog. Eine gante
Stunde laug befand ich mich nun in dem eigentümlichen Zustand des Er¬
wachens und des Nicht-erwachen-wollens, des Ostillierens zwischen der ge¬
bieterischen ReaKtiLtseinstellung und dem seligen autistischen Versinken. Nun
war ich mir der konkreten Form der Pflicht, die mich zum Aufstehen auf-
42
forderte, halb bewußt: Ich mußte meine Visite machen. Um mich diesem
Rufe zu entziehen, bildete ich die Situation, die ganze Umwelt, um: Ich be¬
fand mich in Tessin am Luganer See, was einem lang gehegten und unbe¬
friedigten Wunsche entsprach; ich spürte die Luft leicht und duftiger, der
mir durch die halboffenen und immer wieder gewaltsam geschlossenen Augen
sichtbare Park der Anstalt gewann einen italienischen Charakter, ich selbst
fühlte mich verändert, frei von jedem äußeren Zwang und Bestimmung, kein
Assistenzarzt mehr, der zur bestimmten Stunde seine Visite machen muß.
Nun noch ein typisches Beispiel, das wohl vielen aus der
Schulzeit bekannt sein dürfte.
Man soll in die Schule gehen, man muß aufstehen und möchte doch noch
so gerne schlafen, aber man möchte ja seine Pflicht hübsch artig erfüllen. Man
träumt nun, — eigentlich ist das kein richtiger Traum, vielmehr eine Träu¬
merei, da man sich zumeist im halbwachen Zustande befindet, ähnlich wie der
oben von mir geschilderte — man sei aufgestanden, habe seine Toilette in
musterhafter Weise gemacht, habe gefrühstückt und jetzt gehe man schon
frohgemut zur Schule. Oder aber man ist erwacht, schaut auf die Uhr und
der frühen Stunde gewahr, schlummert man ruhig weiter, indem man sich selbst
zur Beruhigung immer wieder wiederholt: es ist ja erst 6 Uhr, . . . man läßt
so die Zeit Stillstehen, unbekümmert um die Absurdität dieser Umbildung der
Wirklichkeit. Es ist mir im Halbschlafe auch schon vorgekommen, daß ich
mir nicht einmal die Mühe gab, auf die Uhr zu sehen, sondern mich ohne
weiteres in die wahnhafte Überzeugung hineinredete, es s e i 6 Uhr, ich habe
es ja schon auf der Uhr g e 6 e h e n 1 ).
Wir wollen nun unsere Ausführungen über die Schranke
zwischen Psyche und Welt auf die Pathologie anwenden.
Dasselbe was wir bei gewissen Zuständen des Normalen fest¬
gestellt haben, gilt auch für den autistisch tendierenden Schizo¬
phrenen. Ist im großen und ganzen seine Psyche nicht mehr auf
die objektive Wirklichkeit eingestellt, so kann sie ihr Weltbild
*) Die tiefgehende Verschiebung, welche der Schlafzustand in der Grund¬
beziehung Psyche — Welt hervorruft, daß nämlich die Psyche auf sich selbst
angewiesen, ihren eng umgrenzten Realitätskreis durchbricht und aus der
Welt mehr zu entnehmen glaubt, als sie sonst vermochte, diese Umänderung
kommt zum Ausdrucke in den indischen Upanishaden und in einem Ausspruch
Hebbels. Hebbel sagt: „Der Traum ist die Nabelschnur, durch welche
das Individuum mit dem Weltall zusammenhängt.“ (Zitiert bei Sadger,
Friedrich Hebbel.)
Die Upanishaden befassen sich eingehend mit dem Traumschlaf und dem
Tiefschlaf. Von Ersterem wird gesagt (Brih. 4, 3, 9—14):
„Wenn er nun einschläft, dann entnimmt er aus dieser allenthaltenden
Welt das Bauholz, fällt es selbst und baut es selber auf, vermöge seines
eigenen Glanzes, seines eigenen Lichtes; wenn er so schläft, dann gilt dieser
Geist sich selbst als Licht. Daselbst sind nicht Wagen, Gespanne, nicht
Straßen, sondern Wagen, Gespanne und Straßen schafft er sich; . . . denn er
ist der Schöpfer . . .“ usw.
43
umändem, ihre verborgensten und entlegensten Tendenzen und
Komplexe realisieren.
Die Entstehung der Halluzinationen wird hier wesent¬
lich begünstigt durch ihre teilweise Verwurzelung in unbewußten
Komplexen. Vom bewußten Zentrum der Persönlichkeit abgespalten,
sind dieselben seiner Kritik nicht mehr zugänglich, wenn auch das
bewußte Ich durch die Objekteinstellung noch teilweise zentriert
und im Banne gehalten wird. Die Halluzination stellt sich ein als
eine Art von Selbstwahmehmung, d. h. Wahrnehmung eigener
psychischer Realität.
Wenn ein Paranoider halluziniert, der Wärter beschuldigt ihn,
mit der eigenen Mutter sexuellen Unfug zu treiben, so wird hier die
Abwehr gegen den äußerst peinlichen Oedipuskomplex durch seine
Projektion nach außen erstrebt. Daß dies aber in dieser besonderen
Form gelingt, ist durch die Aufhebung der Schranke Psyche-Welt
möglich, welche bei dem Kranken in vielen anderen Erscheinungen
zutage tritt.
Derselbe Komplex, der sich hier dank der besonderen Struktur
des kranken Nervensystems schon im Wachen realisiert, bedarf zu
seiner plastischen Verwirklichung beim Normalen besonderer Um¬
stände, welche die Schranke Psyche-Welt aufheben und im Traume
gegeben sind.
Interessant sind die Fälle, wo sich der Kranke seines subjektiven
Anteils an der Entstehung der Halluzination zum Teil bewußt ist,
was ihn aber nicht hindert, der Erscheinung in einem gewissen
Sinne den Objektivitätscharakter zuzusprechen. So erlebt eine
mystisch-erotische Schizophrene die Vision eines Engels. Sie hat
ihn gesehen, nicht wie man gewöhnlich Dinge sieht, es war wie ein
Nebel. „Ich vermute, es hatte die Form eines Engels,
weil meine Idee wie ein Engel war.“ Sie hatte die Vor¬
ahnung des Schönen und fühlte sich dann auch von der Erscheinung
Im Tiefschlafe, wo man sich eins mit dem Weltall, d. h. mit dem
Brahman erkennt und sich bewußt wird, „ich allein bin dieses Weltall“, ist
man ohne Objekte, zweitlos (Grundeigenschaft des Absoluten) und ohne indivi¬
duelles Bewußtsein. „Das ist die Wesensform desselben, in der er über das
Verlangen erhaben, vom Übel frei und ohne Furcht ist. Denn so wie einer von
einem geliebten Weibe umschlungen, kein Bewußtsein hat, von dem was außen
oder innen ist, so auch hat der Geist, von dem Brahman umschlungen, kein
Bewußtsein von dem, was außen oder innen ist (Brih. up.
4, 3, 21). Vgl. die unterstrichenen letzten Worte mit unseren weiteren Ausfüh¬
rungen über die Schizophrenie.
44
des Engels beherrscht. Es war wie ein Duft um sie, nicht aber in
dem gewöhnlichen Sinne des Wortes. Während der Vision war sie
allein in der Zelle, wäre aber jemand Anderer dabei gewesen, hätte
auch er die Erscheinung sehen können. Zugleich sagte ihr die
Stimme Gottes, sie wäre als Blume dem Christus zur Frau gegeben.
So setzt sich hier wieder ein bestimmter Komplex in verschie¬
denen Sinnesgebieten durch, wodurch eine große Fülle der Er¬
scheinung und hohe Befriedigung erzielt wird.
Bei unserem Patienten Ernst T. haben wir charakteristische Beispiele
von Personenverkennung erwähnt.
In einem Passanten erkannte er den Papst, in einem anderen den König
von Italien. Er beschreibt genau die durchaus bescheidene Tracht dieser Män¬
ner, woraus folgt, daß seine Wahrnehmungsinhalte den Objekten adäquat
waren, er hat sie so wahrgenommen, wie es auch ein Normaler getan hätte.
Die Bedeutung aber, die er den Inhalten gab, war eine abnorme, sie entsprach
seiner damaligen psychischen Konstellation, die stark genug war, eine an sich
richtige Wahrnehmung umzubilden. Die Psyche deutete sich hier die Welt in
ihrem eigenen Sinne, unbekümmert um alle Widersprüche. Ja, diese Wider¬
sprüche wurden sofort in dem Sinne der gegebenen Konstellation umgedeu¬
tet: Wenn der italienische König Arbeitertracht trug, und beim Torfstechen
mitarbeiten wollte, so geschah es, um sich dadurch vor Gott zu demütigen.
Die Psyche wählte hier die geringfügigsten Merkmale, um ihre Konstellation
den Wahrnehmungsinhalten aufzudrängen: Der Papst schwankte, es ge¬
schah aus Angst vor dem „neuen Heiland“; dabei ist es uns sofort klar, daß
niemand und der Kranke am wenigsten zu sagen vermag, ob diese Wahr¬
nehmung nicht auch rein subjektiv war und nichts ihr Adäquates aus dem Ob¬
jekt bezog; der König von Italien wurde als solcher erkannt, weil neben ihm
ein Savoyarde ging und Savoyen ist „Italiens Wiege“. Die Wahrnehmungs¬
inhalte und die subjektive Bereitschaft gingen sich entgegen in dem Sinne, daß
eine Selektion unter den Inhalten im Sinne der Bereitschaft vorgenommen
wurde.
Wenn jetzt ein anderer Patient, in den Wachsaal gebracht, unter seinen
Kameraden die Herren Pierre Janet (der Psychologe), Andrö Suares (der
Kritiker), und Jean Cocteau (der Dichter) erkennt und an dieser Behauptung
trotz aller Versuche, ihn des Besseren zu belehren, festhält, so wundern wir
uns, daß er uns keinen Anhaltspunkt zur Begründung seiner Überzeugung
geben kann. Um die eigentliche Wahrnehmung scheint er sich dabei nicht zu
kümmern, denn es interessiert ihn nicht im geringsten, zu hören, wir wüßten
aus augenscheinlicher Erfahrung, daß Herr Janet ganz anders aussieht. Er
weiß trotzdem, es wäre Herr Janet
Die Täuschung dauert 2 Monate; später besprechen wir sie mit dem sehr
intelligenten und besonnenen Kranken. Er erklärt, daß er seine damalige
Überzeugung mit einem Schlage bekommen batte, auch hatte er sie als Ergeb¬
nis seines Geistes angesehen und gewußt, daß er sich bei seiner Behauptung
auf keine äußeren Tatsachen stützen kann.
Die Personenverkennung ist uns der Typus der Wirklichkeitsfälschung,
welche den an sich objektiven Wahmehmungsinhalten falsche Bedeutungen
45
nsprieht, im Sinne rein subjektiver Tendenzen und Bereitschaften. Die rein»
Halluzination schafft aber auch die Inhalte, wozu sie das Material offenbar nur
aus der Psyche beziehen kann. Sie verwirklicht, objektiviert Erinnerungs¬
bilder, bewußte Affekte, unbewußte, affektbetonte Komplexe, Tendenzen der
unbewußten wie bewußten Psyche. Wenn wir so einen großen Teil der Hallu¬
zinationen aus den Vorstellungen, in des Wortes weitestem Sinne, entstehen
sehen, verstehen wir es, warum sie phänomenologisch so oft Charaktere der
Vorstellungen mit bekommen und warum die Kranken nicht selten zwischen
ihren Vorstellungen und Halluzinationen keinen scharfen Unterschied machen.
Die Halluzinationen sind sozusagen wahrgenommene Vorstellungen 1 ). In man¬
chen Fällen wird dies Verhalten bestätigt durch die unzweideutigen Angaben
der Kranken. So beklagte sich ein Patient darüber, daß er die Objekte sehen
kann, an die er denkt. Wie in der Photographie kann er jede seiner Vorstel¬
lungen sehen. Derselbe Kranke hörte seine Gedanken im Dorfe wiederholen
und verkehrte auf Distanz mit seinen Bekannten, deren Antworten er direkt
hören konnte — „par retour des voix.“
Extrakampine Halluzinationen erscheinen als das Paradigma
der in halluzinatorische Sprache übersetzten Vorstellungen. Ent¬
gegen der Behauptung Kraepelins’), „es sind das nur Ein¬
bildungen mit lebhaften Gesichtsvorstellungen, die jedoch durchaus
nicht das Gepräge von sinnlichen Wahrnehmungen tragen“, müssen
wir mit Bleuler 1 ) an dem sinnlichen Charakter der Erscheinung
festhalten. Der Kranke sieht tatsächlich ein Mädchen hinter dem
Hügel, wenn er auch bei genügender Kritik und Intelligenz darüber
staunen kann. Dieses imaginäre Objekt kann eben überall projiziert
werden, unbekümmert um die Grenzen des aktuellen wie auch des
physiologisch oder psychologisch denkbaren Sinnesfeldes. Die
Psyche kann sich solche, bei der Einstellung auf die Welt unerlaubte
Exkurse leisten, indem sie sich von der für das Objekt geltenden
Begrenzung befreit.
Viele andere absurde schizophrene Halluzinationen werden durch
diese Überlegung unserem Verständnis zugänglich. So wundert es
uns nicht besonders, wenn die Kranken ihre Stimmen in allen
möglichen Körperteilen lokalisieren, wenn sie nicht nur im Kopfe,
sondern auch in den Beinen, im Bauche und im Herzen reden hören.
Desgleichen werden die hypochondrischen und Beeinflussungsvorstel¬
lungen in absonderlichste Form gekleidet. Wenn es der Kranke
') In diesem Sinne kann man denn auch die paradoxe Behauptung
Stöckers gelten lassen, der das Bestehen der Halluzinationen überhaupt
leugnet und sie als Vorstellungen ausspricht. (Zur Genese der Halluzinationen.)
Ztschr. f. d. ges. Neur. u. Psych. Bd. 50.
*) Lehrbuch, VIII. Auflage, I., S. 225.
*) Psychiatr. neur. Wochenschrift 1903, S. 261.
46
nachts erlebt, daß sein Schädel geöffnet, das Gehirn herausgenommen
und bearbeitet wird, so ist dieses Erlebnis, dessen Leibhaftigkeit wir
unmöglich nachprüfen können, nur ein objektivierter Ausdruck der
Veränderung, die er in seiner Persönlichkeit verspürt und' die er, um
die objektive Möglichkeit unbekümmert, in eine willkürlich absurde
Form kleidet.
Oft ist es, als ob die halluzinatorische Versinnbildlichung psy¬
chischer Tendenzen dem wohlverständlichen Zweck diente, dem
Kranken die Objektivität seiner Wünsche vorzutäuschen. Die gleich¬
gültigsten Vorgänge werden zum Ausdruck und zum Träger der Ver¬
wirklichungen gemacht, welche die Welt der Objekte nach dem Be¬
lieben der Komplexe umbilden.
Ein Kranker hört Vögel und das Eichhörnchen, die ihm die fro¬
hesten Botschaften übermitteln. Besonders das Eichhörnchen ist
für ihn der Schicksalsbote (glas du destin). Das Tierchen gibt ihm
Zeichen mit kleinen Schlägen, wie ein Telegraphenhammer, er hört sie,
und „sie übertragen sich in seinem Gehirne in Ideen, Gedanken“.
Der Schicksalsbote bestätigt alle geheimen Wünsche des Kranken:
es sagt ihm, daß er eine Stelle bekäme, die er vor kurzem in einer
Zeitung annonciert gefunden hatte, es verspricht ihm, daß er eine be¬
stimmte junge Dame zur Geliebten haben und daß er bald die
Anstalt verlassen wird usw. Hier ist wieder die Grenze zwischen dem
Wunsche seiner subjektiven und objektivierten Form kaum zu be¬
zeichnen, aber der Kranke braucht die Objektivierung und schafft sie
sich von Zeit zu Zeit. Wenn er dann die Nichtigkeit der schönen
Verheißungen konstatiert, schließt er, das Eichhörnchen hätte ihn be¬
trogen, aber er weist jede Vermutung, daß er sich selbst betrogen
hätte, entschieden zurück.
Unter dem subjektiven Material, welches für die Bildung der
Halluzinationen verwendet wird, haben wir noch eine wichtige Gruppe
zu nennen; es sind dies die mannigfaltigsten körperlichen Empfin¬
dungen, Parästhesien, organische Beschwerden, sei es auf dem Gebiete
des Nervensystems oder der inneren Organe.
Besonders die Parästhesien sind ein häufiges Vorkommnis für den
Schizophrenen. Sie geben das Material zu zahlreichen und verschie¬
denartigsten Halluzinationen, die Kranken werden elektrisiert, ge¬
brannt, erkühlt, ausgetrocknet, an den Geschlechtsorganen auf aller¬
lei Art und Weise bearbeitet; ja es ist, als ob bestimmte Komplexe
sich ihre besonderen körperlichen Reize erwählten, um sich zu mani¬
festieren: so hören wir von dem Paranoiden Julien T., der von einem
47
Polizeipräfekten verfolgt, denselben seinen Anus bearbeiten fühlt,
wobei ihm der Verfolger in peinlichster Weise auf dieses Organ drückt.
Nach der Geschichte dieses Falles scheint es, daß hier die Par¬
ästhesien erst sekundär als Ausdruck der in der Wahnidee projizierten
Komplexe erschienen sind. Ein umgekehrtes Verhalten ist aber für
viele andere Fälle ebenso wahrscheinlich. Sicher aber sind die Par-
iisthesien das Primäre in den toxischen Zuständen, wo die Eintönig¬
keit der Halluzinationen (Delirium tremens) trotz der Verschieden¬
heit der Individuen, für ihren nicht psychischen Ursprung spricht.
Bleuler hat ja besonders darauf hingewiesen, daß die Halluzina¬
tionen des reinen Delirium tremens keine Komplexhalluzinationen
sind. Bei den Schizophrenen können aber die gleichen Parästhesien
zu wahnhaften Umbildungen Anlaß geben, ebenso wie hier auch orga¬
nische Beschwerden wahnhaft gedeutet werden können. Ein Para¬
noider, der an Asthmaanfällen leidet, erzählt jedesmal von dem Dis¬
kus, der in seine Kehle von Missetätern hineingesteckt wurde und
den er zu extrahieren bittet. Eine Schizophrene beklagt sich monate¬
lang über die Ungeheuer, die an ihren inneren Genitalien zehren, bei
der Sektion findet man einen massiven Gebärmutterkrebs, dessen
Metastasen das kleine Becken ausfüllen.
Wie ist dieses Verhalten zu erklären? Die Erklärung Re¬
po n d s *), der Delirant werde zu sehr an die starken und lästigen
Parästhesien gefesselt, wodurch der freie Spielraum der Affekte und
Wünsche wesentlich eingeschränkt werde; hingegen wirke in ande¬
ren Fällen das anfallsweise Auftreten der Parästhesien auf die Psyche
der Kranken weniger bestimmend, sie seien nur das Auslösemoment
der Phantasie und Wahngebilde, ist wohl in dieser Formulierung un¬
genügend. Wir müssen uns fragen, warum denn der Schizophrene im
völlig besonnenen Zustande seine Körperempfindungen in oft so aben¬
teuerlicher Art ausdeuten kann. Offenbar deshalb, weil sie ihm, dank
der Aufhebung der Schranke Psyche-Welt zum Ausdruck, zum Sym¬
bol subjektiver, mit keiner Wirklichkeit rechnender Tendenzen wer¬
den können und weil seine Psyche dieses körperliche und darum so
unmittelbar gegebene Empfindungsmaterial besonders gerne ver¬
wertet. Sucht er nach Erklärungen, z. B. seiner organischen Be¬
schwerden, so müssen diese, jeder Kontrolle der objektiven Einstel¬
lung bar, phantastische und absurde Formen einnehmen.
Auf die besondere theoretische Bedeutung mancher Beeinflus-
*) Ober die Beziehungen zwischen Parästhesien und Halluzinationen, be¬
sonders bei deliriösen Zuständen. MonatBschr. f. Psych. u. Neur., Bd. XXX VTTT,
Heft 4.
48
aungsparästhesien werden wir später bei der Besprechung des Be¬
ziehungswahnes eingehen.
Bei der Besprechung der Personenverkennung sind wir unmerk¬
bar bei der Erscheinung angelangt, die man als Bewußtheit be¬
zeichnet, deren wesentlicher Charakter aber durch den französischen
Terminus „conviction spontanöe“ am besten ausgedrflckt
wird.
Eine Idee, eine bloße psychische Attitüde, eine Tendenz, ein
affektiv betontes Erinnerungsbild gewinnt plötzlich einen starken
Realitätscharakter und imponiert als objektiv gegebene Wirklichkeit,
oder in kurzer Formulierung: das subjektive Wissen wird
zum Wissen schlechthin.
Die Erscheinung tritt bekanntlich in mannigfachsten Formen auf.
Der Kranke weiß, seine Eltern sind da und rufen ihn; er
weiß, seine Frau ist gestorben; er weiß, der alte Mann neben
ihm ist sein Vater und der junge sein Bruder, trotz der veränderten
Haarfarbe. Die letzteren Bewußtheiten sind anschaulich; der Kranke
weiß aber auch, hinter der Tür befindet sich seine Frau und er ver¬
langt stürmisch, man solle öffnen. Diesem Wissen um anschauliche
und doch nicht in der Wahrnehmung gegebene Erscheinungen, leib¬
hafte Bewußtheiten 1 ), reihen sich die rein gedanklichen Bewußtheiten
an. Der Kranke begegnet einem Mädchen und verliebt sich auf den
ersten Blick; sofort weiß er um die Gegenliebe, er weiß es so sicher,
daß er dem Mädchen nie mehr von seiner Liebe spricht; „ich würde
es überflüssig und lächerlich finden, da sie ja alles weiß und da ich
überzeugt bin, sie liebt mich auch“. Ein anderer weiß von seiner
bevorstehenden Verlobung; zwar hat er das Fräulein nur zweimal
gesehen und nie mit ihr gesprochen, auch weiß er sonst nichts von
ihr, aber sie ist ihm ähnlich und sie müssen „zusammen gehen“. Er
weiß alles im voraus, durch das „Gedächtnis“, es ist ein „Gefühl“,
er weiß nicht, woher es kommt, es ist die „Natur“. Alle die unge¬
wöhnlichen Dinge, die er erfährt, tauchen auf einmal in seinem Kopfe
auf wie drahtlose Telegraphie. So w e i ß er es auch, daß seine Brü¬
der bald sterben müssen, daß der Kronprinz gestorben ist und sein
(des Kranken) Bruder seine Stelle einnehmen wird. An den letzten
Beispielen ist der Übergang von subjektiven Motiven zum Wissen be¬
sonders deutlich. Der Kranke haßt die Brüder und meint: wenn sie
nicht sterben sollen, sollen sie wenigstens ins Gefängnis gehen, damit
ich sie nicht mehr sehen muß. Der Wunsch wird hier unmittelbar
*) Jaspers, Allgemeine Psychopathologie.
J a 8 p e r s, Über leibhafte Bewußtheiten. Zeitschr. f. Pathopsycb.
1913 , 2 .
49
zur Wirklichkeit. Dies äußert sich vor allem auf dem Gebiete der¬
jenigen Wünsche, welche die Person des Kranken unmittelbar be¬
rühren. So erwacht er eines Tages mit dem Bewußtsein, er wird der
Kaiser von Rußland sein oder er ist es schon; ein anderes Mal glaubt
er fest daran, daß er einmal General oder auch Professor sein wird;
der wenig intelligente und ungebildete Kranke kompensiert so seine
Unzulänglichkeiten. Alle diese spontanen Überzeugungen werden zu¬
nächst von der objektiven Wirklichkeit nicht erschüttert, die ja zu
ihnen im grellsten Widerspruche steht. Die Psyche, von der Kontrolle
der Objekteinstellung losgelöst, leistet sich die Realisierung ihrer
Tendenzen, welche Wirklichkeitswert gewinnen, weil die Welt der
Objekte den ihr zukommenden verloren hat.
Diese Bewußtheiten dauern gewöhnlich nur kurze Zeit an, aber
sie sind Keime, aus denen sich bei günstigen Umständen dauerhafte
Gebilde entwickeln können. Sie sind ohne Zweifel Wahnkeime.
Wir sehen, wie viele Übergänge und enge Beziehungen den Wahn
mit der Halluzination verbinden und vermuten, daß die letzten Wur¬
zeln der Entstehung beider die gleichen sind. Die Halluzination er¬
schien uns als Realisierung psychischer Gebilde und Tendenzen, die
sich entweder unmittelbar materialisieren, oder zum Symbol greifen
und sich erst in symbolischer Form objektivieren. Der Wahn ist der
gleiche Prozeß, nur in nichtanschaulicher Form, er ist gleichsam das
theoretische Korrelat zu den pathologischen Objekten, so wie das
normale Wissen das Korrelat zu den wirklichen Objekten darstellt.
Das normale Wissen stützt sich auf Erfahrung, die in Wechsel¬
wirkung mit der Welt der Objekte gesammelt wurde. Darum kann es
auch durch weitere Erfahrungen beeinflußt und in seinen Irrtümern
korrigiert werden. So ist seine Anpassung an die Wirklichkeit zwar
nie vollkommen erreicht, aber doch immer erstrebt und im Werden.
Das pathologische Wissen, der Wahn, entsteht der objektiven
Wirklichkeit zum Trotze und als Krystallisierung der psychischen
Realitäten. Es hat seinem Wesen nach mit der Welt keinen Kontakt
und kümmert sich nicht um ihre Korrektur.
Wieso kann der Kranke der König der Schweiz, zugleich auch Präsident
Wilson, General Wille, Kardinal Mercier und Direktor der Anstalt sein? Wun¬
dert man sich darüber und versucht" mit ihm zu diskutieren, so antwortet er
schließlich: „Je suis tout le mond e“. Erscheint ein neuer Arzt auf der
Abteüung, so erkundigt sich der Patient nach seinem Namen und bald darauf
ist er auch der Arzt und trägt dessen Namen.
In solchen extremen Fällen ist die Struktur des Wahnes beson¬
ders durchsichtig. Denn hier sieht man doch auffallend deutlich, wie
die Schranke zwischen dem Ich und der Welt, in dem besonderen
Bycbowski , Metaphysik und Schizophrenie. (Abhandl. H. 21.) 4
50
Falle die Grenze zwischen dem Wunsche und seiner Verwirklichung
nicht mehr existiert. Ist die Psyche nicht mehr auf die gegebene
Realität eingestellt und unterliegt sie nicht ihrer fortwährenden Dis¬
ziplin und Kontrolle, so ist der Weg gegeben zur rücksichts- und rück¬
haltlosen Verwirklichung der psychischen Potenzen; so ersetzen diese
Verwirklichungen die Wirklichkeit.
Der Satz des Widerspruches, der für die Beziehungen des Wahn¬
inhaltes zu den objektiven Inhalten keine Geltung beanspruchen kann,
verliert auch innerhalb des Wahnes seine Gültigkeit. Denn auch
dieser fundamentale und selbstverständliche Grundsatz alles norma¬
len Denkens ist durch unsere Beziehungen zur Welt herausgearbeitet
worden und hat nur für die Wirklichkeit Geltung, außerhalb derer es
keinen Widerspruch gibt. In diesem Sinne sprach der mittelalter¬
liche Philosoph 1 ) vom Gott als von der Coincidentia oppositorum.
Der Wahn steht gleichsam wie ein Ding an sich selbsterhaben da,
außerhalb unserer Kategorien, Grundsätze und Axiome des gesunden
Verstandes.
Wir werden später auf das theoretisch bedeutungsvolle Thema
des pathologischen Wissens und seiner Kategorien eingehen, die wir
den Grundformen unseres Wissens gegenüberstellen werden. Wir
kehren zu unserem Patienten zurück.
Eingesperrt in seiner engen Zelle, bleibt der Kranke nicht auf seine
düstere Einsamkeit eingeschränkt. Wir haben gesehen, wie er sich mit nam¬
haften Persönlichkeiten identifiziert und sich sogar absurde Titel beilegt.
(König der Schweiz, General Dynamit.) Er schreibt Briefe an die Behörden,
in denen er versichert, er sei selbst das Departement und die Polizeidirektion
und welchen er in höflichster Form seine Entlassung anordnet.
Aber diese natürliche Form der Verbindung mit der Außenwelt genügt
dem Kranken nicht. Die Mauern der Zelle vermögen es nicht, ihn von der
Welt abzuschneiden. Stimmen von oben und unten gelangen zu ihm, die ihm
über alles für ihn Wichtige unterrichten, Gase und elektrische Ströme werden
ihm von imaginären Persönlichkeiten zugeschickt, Magnetismus, Hypnose,
Telepathie und Gedankenübertragung treiben an ihm ihr Unwesen.
Es ist, als ob die Psyche, nachdem ihr die normalen Objekt¬
beziehungen verwehrt bleiben, sich auf allen diesen pathologischen
Wegen entschädigt. Diese aber kennen keine Begrenzung von Zeit
und Raum, der Kranke kann mit der ganzen Welt in Verbindung
bleiben, da er doch im Grunde „die ganze Welt“ ist. Die Wirkung
auf Distanz ist für diese Mentalität selbstverständlich, die Durch¬
dringlichkeit aller materiellen Hindernisse für die geheimnisvollen
Kräfte ein Axiom. Die Existenz dieser Kräfte selbst erlebt er täglich
*) Nikolaus von Cusa.
51
und stündlich. Die strenge Geschiedenheit und Verschiedenheit der
Objekte, die wir für die Bedürfnisse unserer Aktivität ausgearbeitet
haben und unserer Erfahrung zugrunde legen, ist aufgehoben. Wir
haben Mühe, uns die Gravitationskraft vorzustellen und sprechen von
Wirkung auf Distanz, mit der wir keine bestimmte Vorstellung ver¬
binden (denn möchten wir sie vorstellen, dann müßten wir sie auch
materialisieren). Ich hörte einen sechsjährigen Jungen, dem die
Bibel vorgelesen wurde, sich über die Allgegenwart Gottes wundem
und mit aller Skepsis fragen, ob denn Gott wirklich auch durch die
Mauern hindurch dringen könne, auch wenn diese sehr dick seien,
sehr, sehr dick. Dies wollte dem normalen Menschenkinde nicht ein¬
leuchten, weil es seiner Erfahrung widersprach. Für den Schizo¬
phrenen ist die ganze Fragestellung nichtig, denn keine Schranke
trennt ihn mehr von der Welt.
Wir haben uns oft gefragt, warum das Elektrisiertwerden eine
.'0 häufige und typische Erscheinung bei den Schizophrenen sei. Alle
diese Ströme, welche unsere Kranken quälen, oder auch nach län¬
gerer Dauer gleichgültig lassen, welche ihren Körper durchziehen,
sich auf bestimmte Organe, wie Kopf, Genitalien besonders konzen¬
trieren und auch leblose Gegenstände (Bett, Stuhl, Hut), mit welchen
der Kranke in Berührung kommt, elektrisieren können, sie alle er¬
scheinen uns nun als leibhafter Ausdruck der pathologischen Verbin¬
dung Psyche-Welt. Sie sind das Symbol der Kräfte, die den Objek¬
ten innewohnen und von ihnen nach allen Richtungen hin ausstrahlen.
Die kranke Psyche hat ihre Umgrenzung und Sicherheit den Objekten
gegenüber eingebtißt und fühlt sich den Wirkungen derselben wehrlos
ausgesetzt. Sie verdichtet diese Wirkungen zu halluzinatorischen
Empfindungen. Denn wir wissen wirklich nicht, was hier noch
Empfindung (Parästhesie) und was schon halluzinatorische Umbil¬
dung ist und alle Übergänge führen von dem einfachen Elektrisieren
zum Magnetismus, Hypnotismus, drahtloser Telegraphie, Telepa¬
thie, Gedankenübertragung usw.
Ein Patient beklagt sieb geradezu, daß seine Bettnachbarn auf ihn eine
schädliche Wirkung ausüben. Das nimmt ihm die Lebenskraft, er hat das Ge¬
fühl, als ob man ihn an einer Schnur ziehen würde. Er klagt Uber die durch
diese Aktion k distance bedingte „Rarefizierung“ seiner Kräfte, er spricht
auch von der „kontinuierlichen Kastration“.
Ein anderer Patient schaut sich in dem Anstaltshofe mißtrauisch um.
Fragen und Erklärungen des Arztes hört er mit dem eigentümlichen, spöttisch-
überlegenem Lächeln zu, als ob er sagen wollte: „Ich weiß doch besser als ihr
Alle zusammen, was an der Sache ist“. Zugleich aber verweigert er die Aus¬
kunft über sein krankhaftes Erleben mit der typisch schizophrenen Begrün¬
dung: der Arzt wisse ja alles besser als er, er brauche dem Arzte nichts mehr
4 *
52
zu sagen. Dies nun etwa nicht deswegen, weil er den Arzt für seinen Mitver¬
folger hält, sondern weil er glaubt, daß sein Erleben, seine krankhafte tägliche
Erfahrung einem jedem zugänglich sei. Sowie er von der Welt nicht mehr
geschieden ist, so sind auch seine psychischen Realitäten nicht mehr sein aus¬
schließliches Eigentum. Sie können von dem Arzte ohne weiteres, ohne die
Vermittlung der Sprache wahrgenommen werden; aber auch umgekehrt können
sie durch fremden Einfluß in seinen Kopf hineinkommen. Auch kommt es vor,
daß der Kranke Gehörtes selbst zu denken glaubt*); solche „gemachte“ Gedan¬
ken sind ja etwas sehr Häufiges. Umgekehrt können Gedanken auch entzogen
werden, sie können eine plötzliche Unterbrechung erfahren, solange es dem
Verfolger beliebt. So wird der Kranke auf mannigfachste Art „bearbeitet“,
denn auch sein Herz klopft nicht mehr oder nicht mehr so stark wie früher,
seine Handvenen sind weniger sichtbar, „eingezogen“, seine Füße werden ab¬
gekühlt, man macht ihm auch Bauchschmerzen... Frägt man ihn, ob er
denn früher nie Bauchweh gehabt hätte, so antwortet er: „Jetzt ist es doch
anders“. Ja, die Beeinflussung geht so weit, daß, während er beim Kartoffel¬
schälen beschäftigt ist, man ihm sein Messer plötzlich aus der Hand fallen läßt,
er kann nicht glauben, daß dies auf natürlichem Wege geschehen könne. Die
ganze Person des Kranken — physisch wie psychisch — unterliegt so den
mannigfaltigsten Einflüssen, deren Wirkung er nur zum Teil begreift oder zu
begreifen glaubt. Sicher ist aber für ihn die Grundtatsache, daß man an ihm
arbeitet, er weiß nicht bestimmt zu welchem Zwecke, man entzieht ihm Kräfte,
man zieht Fäden, man bearbeitet mit Strömen seinen Kopf und seine Genitalien.
Es ist wohl verständlich, wenn dieser Beeinflussungswahn aufs
engste mit dem Beziehungswahn zusammenhängt, denn die schizo¬
phrene Psyche kann alles auf sich beziehen, sie hat keinen Grund, die
äußeren Vorgänge und Objekte streng von sich zu trennen. Alles
kann ihr bedeutsam erscheinen, weil alles zu ihr in Beziehung gesetzt
werden kann. Der harmloseste Vorgang, das kleinste Wort, kann
Bedeutsames ankündigen und einleiten. Mißtrauen und Vorsicht sind
darum dringend geboten. Unser Kranker verweigert es, seinen Urin
zu Analysezwecken abzugeben, weil er „nicht weiß, was
man daran versuchen könn e u . Ebenso mißfällt es ihm,
Charpie zu zupfen, denn das könnte Zauberei sein. Zu Beginn der
Psychose ist es dem Kranken aufgefallen, daß seine Worte und Ge¬
danken im ganzen Dorfe wiederholt wurden, daß Kinder auf der
Straße sich über ihn unterhielten und ihm allerlei nachriefen. Auch
in der Anstalt ist er geneigt, Gespräche und Handlungen der Mit¬
patienten und Wärter auf sich zu beziehen und hört aus den gleich¬
gültigsten Gesprächen Beziehungen heraus.
Die Beziehungen der schizophrenen Psyche zur Welt sind von
einer großen Unbeständigkeit, sie können jedes beliebige Objekt
ergreifen und sich zu eigen machen. Besonders typisch äußert sich
*) Blondel, La conscience merbide. Paris, Alcan 1914, p. 32.
53
dies Verhalten in den beziehungswahnhaften Bewußtheiten. So ent¬
deckt ein Hebephrene in seinem Bettnachbar den Vertreter seiner
angeblichen Braut; es genügt, daß er in Gedanken eine Frage an das
Mädchen richtet und sofort antwortet ihm der Nachbar mit einem
Zeichen, z. B. frägt er: „Liebst du mich?“, so neigt der andere den
Kopf. In einer Nacht war die „Braut“ krank, denn der Nachbar
fühlte sich nicht wohl und konnte nicht schlafen.
Ein anderer Patient bezieht die bizarren und pathetischen Reden
eines Katatonikers auf sich und regt sich darüber so auf, daß er ver¬
setzt werden muß.
Wir sehen, wie alle die mannigfaltigsten Erscheinungen, die man
als Beeinflussungswahn, Beziehungswahn, Transitivismus bezeichnet,
ebenso wie die den Kranken selbst bewußten Störungen des Gedan¬
kenganges, wie Gedankenentziehung, Gedankenmachen und Gedan¬
kenübertragung, aus der Störung der Grundbeziehung abzuleiten sind.
Wir sehen auch, wie die jeweiligen pathologischen Gestaltungen
der Subjekt-Objektbeziehung ihr Analogon und ihre Begründung in
den normalen Relationen finden können: so, wenn sich der Kranke
von dem Mädchen hypnotisiert wähnt, in welches er verliebt ist. Ist
einmal die normale Beziehung in die Sprache der kranken Psyche
transponiert, so kann sie sich mühelos auf jeden objektiven Vorgang
ausbreiten, seine objektive Bedeutung in eine subjektive und wahn¬
hafte umbilden. So, wenn unser hypnotisierter Patient von
seinem Mädchen Schokolade bekommt, die ihn zwingt, an die Geliebte
zu denken, welche so Macht über ihn erhält.
Die objektive Kausalität, die für den Normalen den Grundpfeiler
seiner Erfahrung ausmacht, wird unmerklich durch eine andere Form
der Verursachung ersetzt. In mystischer Art bleibt alles mit allem
irgendwie verbunden und um die Psyche des Kranken, bzw. um
deren hervortretende Komplexe konzentriert. Die quantitative und
qualitative Angemessenheit zwischen Ursache und Wirkung wird
nicht mehr zur Aufstellung des Kausalitätsverhältnisses verlangt.
Geschehnisse aus den verschiedensten Gebieten werden mit einander
verknüpft und objektiv unbedeutende Vorgänge erwachsen zu Trä¬
gem gewichtiger Bestimmungen und Zusammenhängen. Die Formen
der objektiven, abstrakten Zeit und des Raumes, die für das Walten
der Kausalität von grundlegender, einschränkend-bestimmender Be¬
deutung sind, verlieren diese Rolle und die mystische, prälogische
Verursachung bleibt nicht mehr an die Schranken des Momentes und
der Distanz gebunden. Die geheimnisvollen Wirkungen kümmern
sich nicht um die Entfernung, sie erstrecken sich auf lange Zeit-
Perioden und bloße Nachwirkung ist oft von der primitiven Wirkung^
nicht zu unterscheiden 1 ). Wir können die Bedeutung dieser eigen¬
artigen „Kausalität“ nicht scharf genug betonen, müssen aber die ihr
gebührende Würdigung und Beleuchtung auf den völkerpsychologi¬
schen Teil verlegen, wo uns das nötige Material zu Gebote
stehen wird.
Wir verfolgen die weiteren Konsequenzen der Störung der
Grundbeziehung bei unserem Kranken. Die S p r a c h e ist uns mehr
als ein bloßes Verständigungsmittel, sie greift in unser ganzes psy¬
chisches Leben ein, indem sie wesentlich zur scharfen Umgrenzung
der Objekte und Begriffe beiträgt. Als Funktion dieser Rolle der
Sprache erscheint uns die feste Verknüpfung des Wortes mit dem
Objekt, das Wort als Ausdruck der Vorstellung ist uns nur das sub¬
jektive Pendant des Gegenstandes und hat als solches an sich, vom
Objekte losgelöst, keine besondere Bedeutung.
Anders bei vielen unserer Kranken. Sie spielen mit Worten, als
ob das besondere Realitäten wären, sie schreiben ihnen wichtige Be¬
deutungen zu und sehen in ihnen gerne, indem sie sie allerlei kabbali¬
stischen Zerlegungen und Auslegungen unterziehen, Beweise und Be¬
stätigungen ihrer Wahnideen. Auch verlieren die Worte mit ihrer
festen Bedeutung ihre feste bestimmte Form und können mit Leich¬
tigkeit umgebildet, mit anderen verschmolzen werden und ähnliches;
der Weg zu Neologismen ist gegeben. Selbstverständlich wird ihre
Entstehung durch krankhafte Ideen begünstigt, für welche die Kran¬
ken keine adäquaten Ausdrücke unter dem überlieferten Wortschätze
mehr finden.
Ein Kranker überrascht uns mit einer Auslegung der Worte, welche man
der Kabbala entlehnt glauben könnte. Er schreibt das Alphabet in folgender
Weise: alpha = 1, beta = 2, gamma = 3 usw. bis omega = 24, dann schreibt
er „Bourbaki“ und ersetzt jeden Buchstaben durch seinen numerischen Wert,
so B = 2, o = 16, u = 19 usw., dann addiert er diese Zahlen und erhält 76,
also Bourbaki ist gleich 76. Er ist außerordentlich zufrieden mit diesem Er¬
gebnis, aber es gelingt uns nicht, eine weitere Erklärung des mysteriösen
Wortes zu bekommen.
Derselbe Kranke verweigert es, seine Biographie zu schreiben, mit der
Begründung, dieselbe existiere überhaupt nicht Dafür aber liefert er uns eine
höchst wunderliche Geschichte von Julius Cäsar (der Kranke scheint ein guter
Latinist gewesen zu sein), wo folgender Passus vorkommt: „Ave Cajus Julius
') Ich führe das typische Beispiel von Julien T. an: Der 28jährige Kranke¬
fing an, sich vor 2 Jahren verfolgt zu fühlen, transponiert aber den Beginn der
Verfolgungen in sein dreizehntes Lebensjahr, wo ihm von dem Verfolger an¬
geblich Magnesium eingegeben wurde, unter dessen Wirkung er noch heute
zu leiden hat.
55
Caesar, Imperator, morire, t&rire, te saluent tant que ce, näst plus que des
saluts“. Der Vergleich dieses Satzes mit dem historischen „morituri te salu-
tant“ ist recht instruktiv.
In ihren Reden und Schriften bleiben die Kranken oft in der Falle des
Wortes gefangen und verlieren, wenn auch oft nur zeitweise, die Idee, den
Sinn, weil sie von der objektiven Bedeutung ihrer Gedanken nach ihrem
subjektiven Korrelat hin abschweifen.
Für dieses bekannte Verhalten nur einige kleine Beispiele. „Hier je vous
ai offert du fromage, je vous ai livre du fromage, livr6, vrai — lit, celui qui
lit vrai dans le coeurs“, „j’ai entendu le docteur, qui disait du mal de moi au
salon, salon, salonique, mondain“.
Das Assoziationsexperiment zeigt anschaulich, wie das Inter¬
esse der Kranken an dem Worte unter Nichtbeachtung des Sinnes
hangen bleibt. Einige Beispiele — Assoziationen eines Spätkata-
tonikers.
Reizwort:
chanson
large
folie
porter
voler
modeste
but
brillant
mouvais
lit
sang
Reaktion:
il y avait chez nous un nomme Chasson.
comme on dit läche aussi.
fo lie, comedie d’une femme folle, lit.
portier, fermer une porte.
volebb (???)
une mode d’un chapeau ou d’une blouse.
butter . . . Bulle . . . une ville.
brqle lent quelque chose qui est lent.
ou bovais, mouvais . . . mauvais, Bova c’etait une mai-
son, un mot vert.
lit . . . litre . . . un qui dort . . . une mesure.
sent (ich buchstabiere non, sang) changer.
Gewinnen die Worte als bloße Form eine solche Selbständigkeit,
so kann es leicht Vorkommen, daß ihnen auch eine besondere Bedeu¬
tung zugeschrieben wird. So werden nicht nur einzelne Worte als
Macht- und Zaubersprüche gebraucht, sondern auch ganze neue Spra¬
chen gebildet. Ein Kranker, der in seinen Aufregungszuständen
ganze Reden in einer solchen selbstverfaßten „Sprache“ hielt, er-
kiärte mir folgendes: spricht er in seiner Muttersprache, so scheint es
ihm. als ob er blöde sei, als ob er keine Bildung habe; der Satan kennt
mehr Sprachen als der Allmächtige; der Kranke unterhält sich mit
Gott in einer Fremdsprache, damit ihn niemand erkennen noch ver¬
stehen könne, niemand ihm überlegen sei. Ein anderer Kranker
spricht alle Fremdsprachen. Ja, er hat sie alle geschaffen, so hat er
die türkische und persische erfunden, bevor es Türken und Perser
56
gegeben hat. Er kennt auch die Sprachen der Tiere, der Winde, der
Amen (?) usw. Ein Muster seiner eigenen Sprache: „Bolimini miriki
cori moriki morikilini novilidi diviliki norikimi naviliki“.
Die vom objektiven Werte befreiten Worte bilden ein gutes
Material, welches die Kranken nach Belieben modifizieren können und
welches die Eigentümlichkeiten ihres Gedankenganges gut ausdrüc-
ken kann. Ein Kranker, der sich auf alle mögliche Art verfolgt fühlt,
wird auch an allen Körperöffnungen in peinlichster Weise belästigt.
In einer Periode, wo er besonders unter analen Verfolgungen zu lei¬
den hat, spricht er von der „inoculation, acculation, culpabilite usw.“,
alles Worte, die durch ihre Silbe cul (Gesäß) ihr besonderes Ge¬
präge bekommen.
Neologismen stellen sich auch mit Leichtigkeit ein, wenn es gilt,
etwas zu erklären, sie erlauben dem Kranken, jede Frage zu erledi¬
gen und scheinbar zu beantworten. Warum hat er sich denn zu Hause
wieder aufgeregt und mußte in die Anstalt zurückgebracht werden?
Er sagt uns, er habe viel körperlich gearbeitet und macht uns The¬
orien über die „Physification“ und „Physificance“, Worte, auf welche
er gekommen ist, weil er von „travail physique“ gesprochen hat.
Später versteht er unter diesen Neologismen den sexuellen Akt.
Rekapitulieren wir kurz, was wir hier über die Sprache gesagt
haben, so finden wir folgendes. Die Störung der Grundbeziehung
äußert sich in der Spaltung zwischen dem Objekt und dem Worte.
Das Wort kann unabhängig vom Objekt behandelt und mißhandelt
werden, ein Sinn kann sich mit Leichtigkeit verschieben, wie sich
seine Form verändern kann'). Zu einer ähnlichen Formulierung
kommt Freud’), der im übrigen von ganz anderen Voraussetzun¬
gen ausgeht. „Fragen wir uns, was der schizophrenen Ersatzbildung
und dem Symptom den befremdlichen Charakter verleiht, so erfassen
wir endlich, daß es das Überwiegen der Wortbeziehung über die
Sachbeziehung ist. Setzen wir diese Einsicht mit der Annahme zu¬
sammen, daß bei der Schizophrenie die Objektbesetzungen aufgegeben
werden, dann müssen wir modifizieren: die Besetzung der Wortvor¬
stellungen der Objekte wird festgehalten.“
Die Sprache ist uns das Äquivalent der Begriffe, denn, abgesehen
von Eigennamen, werden Worte nur als Zeichen für ganze Klassen
von Objekten gebraucht. Nun ist der Begriff eine Gruppierung und
*) Über die Sprache der Schizophrenen siehe u. a.: P r e i 8 i g , Note sur
le langage chez les aliönes. Archives de Psychologie t X. Nr. 41, 1921.
’) Freud, Kleine Schriften zur Neurosenlehre. Heller, Wien, 1918,
IV. Folge, S. 333, 334.
57
Auswahl unter den unzähligen Merkmalen der von ihm umfaßten
Objekte. Es ist klar, daß diese Auswahl durch die Bedürfnisse der
objektiven Einstellung ausgearbeitet wird und daß wir die Begriffe
in dem Sinne benützen, wie wir sie brauchen.
Ist so der Begriff ein Niederschlag der Erfahrung und unserer
Aktivität, so vollzieht sich die jeweilige Auswahl, die wir unter
seinen Inhalten bei seiner Benützung vornehmen, im Rahmen der
durch die Erfahrung gegebenen Schranken. Es ist der gleiche Pro¬
zeß, wie wenn ich mich bei einem Kranken für bestimmte Symptomen¬
gruppen interessiere und sie aus dem ganzen Bilde heraushebe.
Sobald ich von dieser zweckmäßigen Einreihung des Begriffes
in bestimmte Zusammenhänge absehe, verschwindet er als solcher und
wird ersetzt durch die Vorstellung eines einzelnen Vertreters, durch
ein Bild, kurz durch etwas Singuläres und Konkretes, oder aber er
löst sich in eine Reihe von Bildern auf, welche die Gedächtnisschicht
darstellen, in die wir uns versetzen, sobald wir vom Gebrauch des Be¬
griffes absehen und zu seinen Quellen hinabsteigen, die in der kon¬
kret erlebten Vergangenheit liegen. (Vgl. die früher erwähnte Selbst¬
beobachtung bei intellektueller Arbeit.)
Die Schizophrenen zeigen uns diese Verhältnisse in reicher Aus¬
bildung. Wir werden sie zunächst an Hand zweier Protokolle von
Versuchen illustrieren, die wir mit Heilbronnersehen Bildchen
vorgenommen haben. Es ist ohne weiteres einleuchtend, daß diese
Bilder in ihrem Schematismus ein gutes Begriffssymbol repräsen¬
tieren, wobei durch Hinzufügung immer neuer Details das ursprüng¬
lich abstrakt gehaltene Bild immer konkreter ausgestaltet wird. Ich
führe die Antworten der Kranken im Original an, weil jede Über¬
setzung das Charakteristische verwischen würde.
1. F a 11. 1) S c h i f f: a) Construction d’un bäteau ... tröne d’un arbre
... oui, pour faire un bäteau on commence comme ?a. b) clavette ... cla-
vette d’une machine a coudre. c) divette ... une piöce de machine qui
s'adapte dans une machine. (Arzt: Und was ist denn das?... [zeigt auf die
Maste].) C’est un accessoir, la ligne droite, ligne courbe ... (spricht von
scharfen und rechten Winkeln). (Arzt: Aber das Ganze, was ist es denn?)
C’est une piece mathematique ... d’une seule piece je vous la rends matlie-
matique dans l’uniformite de son droit piöces mathematiques . . . c’est
des accessoires. (Arzt: Aber welcher Gegenstand?) Si c’est un objet, c’est
un objet. (Aber was denn?) Une piöce mathematique ..., eh bien oui, cela
represente un vaisseau, un navire. (Arzt: Warum haben Sie es denn nicht
früher gesehen?) ... parceque je n’avais pas l’idee, la reflexion ne me venait
pas... C’est quand meine une pifece mathematique. (Warum?) Pour con-
struire un bäteau, U faut un problöme ... n’est ce pas de la mathematique?
2) K i r c h e. Petite conBtruction magique (magique?) parceque miniature.
Folgende Bilder bieten nichts Bemerkenswertes, aber auf die Frage nach dem
58
Unterschied zwischen Nr. 7 und 8 erhalten wir folgende Antwort: La couleur
changerait, si on faisait cela en couleur. Die Versuche sind mit einem chro¬
nischen Kranken angestellt worden und spiegeln getreu das gewöhnliche Bild
seines Gedankenganges wieder. Im folgenden führen wir die Antwort an, die
uns ein im katatonischen Aufregungszustand befindlicher, sehr produktiver
Kranker gegeben hat (es konnte leider nicht alles nachgeschrieben werden).
Fisch. 1. poisson. 2. poisson qui voit clair. 3. Madeleine k 1& croix
... la coupe qu’on aura le rösultat de chercher etc.... la coupe du poisson
que j’ai re$u comme coupe d’expiation dans le purgatoire, a l’hotel de la cloche,
sur le grand Pont... expiation de l’adultöre. 4. poisson ... vaisseau qui est
allö precher... Mademoiselle Marguerite Roux Greyloz d’alliance de son
fröre ... (zeigt den Schwanz des Fisches). C’est lä, que les gorilles doivent se
toumer quand ils voient les bouches ä feu du bateau. 5. (Merkt als Erstes die
zwei Flossen.) C’est la double machine, la double bible, celle d’Osterwald et la
luthörienne ... la sainte alliance des peuples qui s’allient.
K.i r c h e. 1. Un monument k pointe d’un diamant aigu. Ceci c’est les
routes d’une vigne asphaltöe (route?) on ne peut pas mettre ga sans construire
une route. (Benimmt sich, als ob er den Weg auf dem Bildchen wirklich sehen
würde, aber widerspricht dieser Vermutung.) Non, je ne vois pas la route,
c’est une idöe, qui m’avait passe dans l’öponge.“ (Soll heißen Kopf.) 2. Chateau
d’Aigle, j’ai entendu tousser un malheureux qui ötait enfermö 14... ils tirent
depuis le clos de St. Georges (zeigt einen Punkt der Zeichnung). 3. Außer¬
ordentlich schwer ablenkbar, unterbricht seine Reden nur nach meinen wieder¬
holten Anstrengungen oder spontan, nachdem sein Gedankenstrom erschöpft
ist.) La grange a M. Aloys Bertholet k Aigle. II la reconnait parce qu’il a dit
que ce n’est pas en dormant qu’on a du plaisir /.. (Schaut auf die Striche, die
ich soeben geschrieben habe.) Ce sont les pompiers qui voient ... il a brüle
sa grange avec le grand peuplier pour couper le courant dans le grand Service
des lignes telegraphiques, faisant des splendides jardins d'alimentation des
poiriers qui faisait des mirabelles. La mirabelle du banc de pierre c’est la
Separation du bord ou on cloue le Christ quand on lui fait des signes du corps
qui bouge devant une croix ou ils ont. röprösentö le Fils de Dieu ... 5. Le
clocher de St. Triphon avec la grosse cloche qui s’entend ä Leysin par la siröne
de Monthey la cloche d’alarme, qui appelle les enfents a Teglise et au feu.
8. Croix de M. Monastier ... cadeati de fiangailles que je donnerai a
Madame Monastier (da ich mich wundere, wieso er dieses kleine Bildchen als
Geschenk geben will, antwortet er mit einer großen Rede) quelle valeur a ceci,
si vous le saviez, depuis que les couches de l’air se sont atmospheröes .. *
(spricht nach einigen Minuten von Sarah, der schönen Frau des Abraham.)
In diesen Versuchen ist Einiges bemerkenswert. Das Ganze der
Bilder wird erkannt und identifiziert, aber es zerfällt sofort (natürlich
nicht immer) in einzelne Teile, indem einem Teil besondere Aufmerk¬
samkeit geschenkt wird auf Kosten des Ganzen. So springt der Ge¬
danke auf die entferntesten Gebiete über und die ursprüngliche Zu¬
wendung zum ganzen Objekt wird verlassen, nicht aber einfach ver¬
gessen. Beispiel: Beim Anblick der zwei Flossen spricht der Kranke
von doppelter Bibel; die oberflächlichste Gemeinsamkeit bildet den
Übergang vom Fisch zur Bibel.
59
Es wird vermengt, was zu dem gegebenen Objekte und was zu
seiner Entstehung gehört; Beispiel: Schiff . . . Konstruktion eines
Schiffes, Baumstamm.
Der Begriff zersplittert sich und an den Splittern kann mit einer
starken Zähigkeit festgehalten werden, die zur Bildung neuer Begriffe
führt, welche mit dem Ursprünglichen nichts mehr zu tun haben und
ihn vollständig unterdrücken. Beispiel: Nachdem das Schiff erkannt
wurde, wird das folgende Bildchen als „Navette“ (Maschinenschiff¬
chen) bezeichnet und sogleich als das Schiff einer Nähmaschine ange¬
sprochen. Es fehlt auch jedes Bedürfnis, die verschiedenen Teile in
ein Ganzes einzureihen, ein jeder Teil führt eine Existenz für sich.
Zeige ich auf den Mast des Schiffes, so antwortet mir der Kranke: das
ist eine Gerade und ergeht sich in Aufzählungen und Anführungen aus
dem geometrischen Gebiete.
Besonders schön sieht man die Auflösung des Begriffes in zahl¬
reiche Erinnerungsbilder, welche die Neigung haben, die ganze, ihnen
entsprechende Bewußtseinsschicht zum Vorschein zu bringen. Bei
Betrachtung der Kirche hat der Kranke eine lebhafte Vorstellung
von einer Straße und benimmt sich so, als wenn er sie auf dem Bild¬
chen tatsächlich sehen würde. Das nächste Bild der Kirche bringt
ihm das Gefängnis von Aigle in Erinnerung und der Kranke versetzt
sich scheinbar in eine Situation, wo er einen Gefangenen husten hört.
Jedes folgende Bildchen wird durch ein anderes Erinnerungsbild er¬
setzt. Es gehört offenbar auch dazu, wenn die Abstraktion rück¬
gängig gemacht wird, dadurch, daß zu dem schematischen Bilde
Empfindungselemente hinzugedacht werden; so wenn der Kranke auf
die Frage nach dem Unterschiede zwischen zwei aufeinander folgen¬
den Bildern der Kirche antwortet: die Farbe würde sich ändern, wenn
man das farbig machen würde.
Die früher angeführten experimentellen Assoziationen bieten
ebenfalls reichliche Beispiele für die Entstehung der schizophrenen
Gedankenstörungen.
Vor allem aber ist jedes schizophrene Weltsystem, jede schizo¬
phrene pseudowissenschaftliche Erklärung ein Paradigma der schizo¬
phrenen Unfestigkeit und Unsicherheit der Begriffe, die nach Be¬
lieben gedreht und umgebildet werden und die nie eine Garantie
bieten, daß sie nicht im nächsten Augenblick ihren Sinn ändern und
in ein wildfremdes Gebiet einziehen. So die Theorien unseres Kran¬
ken Gustav N.
Er vermengt Zelle und Zellulose und spricht von Zellulose als
dem wichtigsten Bestandteil des menschlichen Körpers. Die „Sub-
60
stantion, constantion d’aerogöne“, welche auf das Protoplasma wirkt,
. . . das ist die Sonne. „Si la Cellulose ne prend pas toute sa Con-
sistance au für et ä mösure de l’Existence de son jeune Individu, celui-
gi n’arrive pas a son Etre normal, a son Ordre moral. C’est de la Sub-
stantion, Constantion Mineralisation que depend la force de la vita-
lite des Individus.“
Wir erinnern auch an seine Theorie der Entstehung der Men¬
schen aus Atomen.
S c h i 1 d e r s Kranker G. R. stellt Gleichungen auf: Vereinigung
von Energie und Liebe = Zusammenarbeiten der Materie und des
Äthers = naturwissenschaftliche monistische Theorie nach Maxwell.
Wir streifen jetzt die wichtige Frage nach der Assozia¬
tionsstörungin der Schizophrenie und werden so zu einer prin¬
zipiellen Erörterung dieser Grundfrage veranlaßt, die uns mitten
hinein in die theoretischen Diskussionen über die Krankheit führt.
Bekanntlich faßt B1 e u 1 e r die Lockerung der Assoziationen als
Grundsymptom, als Primärsymptom der Schizophrenien auf und
spricht neuerdings von einer Assoziationsspannung, die unter Um¬
ständen nachläßt, was die schizophrenen Entgleisungen möglich
macht 1 ). Ohne auf die Kontroverse zwischen der Assoziations¬
psychologie (Bleuler) und der Aktionspsychologie*) (B e r z e) ein¬
zugehen, müssen wir uns doch klar machen, daß die Vorstellung von
festen Assoziationsgefügen, die gelegentlich gelockert werden, nicnt
unerheblichen Schwierigkeiten begegnet.
Die Schwierigkeiten der Assoziationspsychologie kommen von
der intellektualistisch-atomistichen Auffassung, die man sich von den
Ideen macht. Sie werden vorgestellt als unabhängige fest determi¬
nierte Wesenheiten, die ein für allemal durch die Erfahrung in unser
Gehirn hineingebracht wurden.
Wie soll man sich da ihre Verbindung denken? Nach welcher
geheimnisvollen Affinität ziehen sie sich untereinander an, was ist
und woher kommt die Assoziation? Es geschieht hier dem psycho¬
logischen Leben das gleiche Unrecht, das unsere Auffassung von der
materiellen Welt vor unlösbare Antinomien geführt hatte. Nachdem
die Materie in unabhängige und fest umschriebene Atome zerschnitten
wurde, konnte man ihr Werden und Vergehen, ihre Mannigfaltigkeit
') Bleuler, Über die Störung der Assoziationsspannung etc. Ailg.
Ztschr. f. Psych. Bd. 74. S. 1.
*) Siehe B e r z e : Die Schizophrenie im Lichte der Assoziations- und in
dem der Aktionspsychologie. Allg. Ztschr. f. Psych. 1919. p. 3 und Bleu¬
ler, Schizophrenie und psychol. Auffassungen 1920, p. 136.
61
und ihre energetischen Vorgänge nicht mehr verstehen, ohne das
Leere des abstrakten Raumes durch neue Prinzipien künstlich aus¬
zufüllen.
Wie aber, wenn man sich einmal mit voller Klarheit vor Augen
hält, daß die psychischen Gebilde, von deren Assoziation wir spre¬
chen, aus der Kontinuität der psychischen Prozesse von uns künst¬
lich ausgeschnitten wurden. Denn nie sind uns psychische Tatsachen
als solche vereinzelt gegeben, wir haben es immer mit komplexen Zu¬
ständen zu tun, welche wir erst nachträglich fragmentieren. Jedes
Erinnerungsbild, jede Vorstellung, jeder Gedanke sind nur Teile eines
Ganzen und entstehen erst sekundär, da wir zunächst die Ähnlich¬
keiten wahrnehmen und von einem zusammenhängenden Ganzen zu
seinen Elementen schreiten — nicht umgekehrt.
Die Assoziation wird uns so zu etwas durchaus Dynamischem,
Beweglichem und Allgemeinem. Im Grunde ist ja Alles mit Allem
irgendwie assoziiert und der Zustand der Dissoziation, der uns in
seinen höchsten Graden als „Wortsalat“ imponiert, stellt eigentlich
die maximalste Ideenassoziation dar. Diesen Zustand können wir uns
aber leicht konstruieren, wenn wir uns ein Bild vollkommener psy¬
chischer Wahllosigkeit vorstellen, wo die Psyche durch keine rich¬
tungsgebenden äußeren oder inneren Motive aufgefordert Stellung zu
nehmen, durch nichts bestimmt, ins Unbestimmte verfällt, sich ins
Uferlose aller ihrer Impressionen und momentaner Tendenzen
verliert.
Denn die Ideenassoziationen sind doch nur Wege, die wir für die
Bedürfnisse unserer Aktivität fortwährend bilden und wenn gewisse
von ihnen häufiger und gewohnter sind, so kommt es daher, daß die
eben öfter von unserer Aktivität gefordert und so mitunter zu einer
Art psychischer Gewohnheit werden.
In der Tat versuchen wir uns die Entstehung der beiden Asso¬
ziationsformen nach Ähnlichkeit und nach Kontiguität klar zu
machen. Die einfachste Form, wo die beiden Möglichkeiten zugleich
verwirklicht erscheinen, ist die konstante zur Gewohnheit gewordene
Reaktion des Organismus auf eine bestimmte Wahrnehmung. Denn
hier wirkt jede neue Wahrnehmung der gleichen Art durch ihre
Ähnlichkeit mit der vorhergehenden und sie provoziert die gleichen
Reaktionen, welche früheren Wahrnehmungen gefolgt sind. Aus
einem Ganzen der Wahrnehmung und unter allen möglichen Reak¬
tionen wird so vom Organismus das für ihn in Betracht kommende
ausgesucht'). Je höher der Organismus, um so reicher die Möglich-
') Bergson, Matiisre et Memoire, p. 182.
62
keit der Reaktionen, um so größer die Auswahl, die uns zu Gebote
steht. Wendet man sich aber von dem Tun und dem Wirken ab und
versetzt sich immer mehr und mehr in die bloße Erinnerung, so ver¬
schwindet auch die Notwendigkeit der Wahl und man wandelt frei
unter den Gebilden der Vergangenheit, auf unmerklichen Brücken von
einem zum anderen übergehend, da sie immer irgendwelche „Ähn¬
lichkeiten“ aufweisen. Diese Dinge sind jedem durch Introspektion
unmittelbar bekannt. Bei den von mir früher erwähnten Ersatz-
bildem, die sich beim momentanen, oft kaum merklichen Nach¬
lassen der Aufmerksamkeit während einer schwierigen Lektüre ein¬
stellen, hat man das unmittelbare Gefühl, in eine tiefere entlegene
Schicht des Bewußtseins hinabzusteigen; oder vielmehr erscheinen
die Bilder als Gäste aus jener entfernten Schicht. Nun hängt das
Weitere von meiner Attitüde ab. Ich kann mich entweder energisch
der Arbeit wieder zuwenden und mich ganz auf das Aktuelle ein¬
stellen, oder aber ich überlasse mich den aufgetauchten Bildern;
dieses zieht aber andere mit sich. Bleibt dabei eine gewisse Span¬
nung des Geistes vorhanden, so ist die Reihe der auftauchenden
Bilder nicht allzu groß und sie hängen ziemlich eng zusammen, stellen
eine ziemlich streng umschriebene Situation dar; entspanne ich aber
meinen Geist vollständig, so tauchen immer neue und neue Bilder
auf, ihre Zusammenhänge werden immer lockerer und sie versetzen
mich in immer weitere und verschiedene Situationen und Szenerien.
Dieser letztere Zustand ist offenbar eine Träumerei. So kann ich
zwischen dem Tun und seinen streng bestimmten Reaktionen und dem
Träumen mit seinen fest umgrenzten Erinnerungsbildern wandeln.
Ich durchlaufe bei diese Bewegung meines Geistes verschiedene Be¬
wußtseinsschichten, deren jede ihre eigentümliche Färbung, ihre be¬
sondere Beziehung zur gegenwärtigen Realität hat. Einer jeden von
diesen Schichten entsprechen auch bestimmte Assoziationsmöglich¬
keiten. Der Mangel an bestimmter Tendenz, speziell das Fehlen der
Gerichtetheit auf ein inneres oder äußeres Objekt, lockert die Asso¬
ziationen, die ja durch die Beziehung zum Objekt geschaffen und in
der Anpassung daran ausgebildet wurden.
Ich konnte eine quasi experimentelle Ideendissoziation bei einem
Freunde beobachten.
Erschöpft und müde am Abend, fühlte er zeitlich das Schlafbedürfnis,
wogegen er vergebens ankämpfte, ohne es sich zugestehen zu wollen. In dem
Übergangszustand, wo er, von der Wirklichkeit vollständig abgekehrt, dem
herannahenden Schlafe geweiht, sich trotzdem noch wach erhalten wollte und
zu sprechen versuchte, wurden seine Worte typisch dissoziert.
63
Ich habe es vorhin angedeutet, daß wir alle unseren Ideengang
dissozieren können, wenn wir uns ohne jedes Ziel und Richtung einer
vagen Träumerei hingeben. Als Gegensatz dazu vergegenwärtigen
wir uns die Situation bei einer stark in Anspruch nehmenden geistigen
Arbeit, wo sich alle nötigen Assoziationen, alle entlegensten Er¬
innerungen, eigene und fremde Beobachtungen sofort, wie bei einer
allgemeinen Mobilmachung, einstellen.
Die Assoziationsstörung der Schizophrenie erscheint uns so als
der innerste Ausdruck der Störung der Grundbeziehung Psyche-Welt.
So wie diese Grundbeziehung nur selten ganz gespalten ist, so ist
auch selten die Dissoziation etwas Konstantes und wir verstehen es
gut, nachdem uns der dynamische Charakter sowohl der Grund¬
beziehung wie auch der Ideenverbindung klar wurde.
Gewöhnen wir uns an die Auffassung, daß unser Denken und
Erkennen eine Auswahl ist, so wie auch unser Handeln eine Wahl
darstellt, zwischen den zahllosen in der Wirklichkeit gegebenen Mög¬
lichkeiten, so gewinnen wir zugleich einen Anhaltspunkt dafür, die
Grundlagen und die Grundformen unserer Erkenntnis und unseres
Denkens psychologisch zu verstehen. Nicht als ob wir die Gültigkeit
der logischen Normen von ihrer Genese ableiten wollten, denn der
psychologische Gehalt der Kategorien und Formen des Denkens hat
mit ihrem Wert nichts zu tun, derselbe bekundet sich vielmehr durch
ihre Bedeutung für jede wahre, d. h. zur Wirklichkeit führende Er¬
kenntnis. Aber andrerseits ist es klar, daß uns die logischen Normen
nicht als Ausdruck einer höheren Wirklichkeit erscheinen können,
eines dritten Reiches (Simmel) einer Welt der Gültigkeiten. Wir
müssen uns sagen, sie haben sich im Laufe unserer Wechselwirkung
mit der Wirklichkeit herausgearbeitet, sie entsprechen den Forde¬
rungen, die wir an die objektive Welt stellen und die die vielen
menschlichen Generationen gestellt haben, aber auch den Ansprüchen,
welche die Wirklichkeit an uns stellt.
Trotzdem können wir nicht sagen, daß wir die logischen Normen
und die Gesetze des Denkens einfach aus der Erfahrung abstrahiert
haben. Denn sie sind vielmehr die Grundlage und die Voraussetzung
jeder möglichen Erfahrung, wie dies Kant ein für allemal klar ge¬
macht hat. Jede mögliche Erfahrung heißt aber nichts anderes, als
Erfahrung, die jederzeit allgemein gültig werden kann, deren Wert
und Wahrhaftigkeitsgehalt überindividuell ist. So sind die Kate¬
gorien des Verstandes wie die Bedingungen der Gegenständlichkeit
a priori gegeben und für die Psyche selbstverständlich, so selbst¬
verständlich, daß sie ihr ohne besondere Untersuchung nicht bewußt
64
werden. Sie sind nach dem Ausdruck Jaspers 1 ) das Gitterwerk,,
wodurch die Wege vom Objekt zum Subjekt führen.
Es ist klar, daß bei tiefgehender Störung der Grundbeziehung,
wie wir sie für die Schizophrenie annehmen, die Kategorien ihren
ursprünglichen Wert und Charakter verlieren müssen. Die ganze
Aktivität und das Interesse der Persönlichkeit wird verschoben und
wendet sich der Welt auf anderen Wegen zu, nachdem die alten
ungangbar geworden sind. Und wieder müssen wir hier betonen,
daß die Verschiebung der Grundbeziehung etwas Dynamisches und
nicht Konstantes ist, so daß man sich den totalen Verlust der
normalen Relation und der objektiven, allgemein gültigen Kategorien
nur als Grenzfall vorstellen darf. So kann es uns nicht verwundern,
daß wir bei der schizophrenen Persönlichkeit die normalen Kategorien
neben pathologischen vorfinden und daß die beiden Bestandteile in
allen möglichen Verhältnissen variieren.
Die Beziehungen der Kausalität und der Wechselwirkung, die
Sätze des Widerspruchs, des ausgeschlossenen Dritten, des zu¬
reichenden Grundes, die Kategorien der Einheit und Vielheit, der
Realität und Negation, der Möglichkeit und Notwendigkeit, schlie߬
lich aber die Forderung der Einheitlichkeit der Erfahrungen, dies
alles erleidet in der pathologischen Erfahrung die weitgehendsten
Modifikationen.
Wir vermuten, daß das Verständnis des Pathologischen und des
Normalen sich auch hier gegenseitig von großem Nutzen sein können.
Es wäre vielleicht zu gewagt, schon heute an diese prinzipielle
Untersuchung heranzutreten; wir werden einiges darüber in den fol¬
genden Kapiteln sagen können, wo uns die völkerpsychologischen
Tatsachen zu Gebote stehen werden. Hier muß nur betont werden,
daß mit der Zerstörung der Kategorien der objektiven Erkenntnis
und Erfahrung die Wege zur pathologischen Erfahrung offen liegen,
welche die früheren Formen der Grundbeziehung Psyche-Welt er¬
setzen.
Das enge Zusammenspiel der beiden Elemente der Grund¬
beziehung bekundet sich auf dem pathologischen wie auf dem
normalen Gebiete. Ist die Welt um die Persönlichkeit verändert,
so bedeutet das zugleich die Veränderung der Persönlichkeit selbst,
und jede Verschiebung der Grundbeziehung bedroht gleichzeitig
Welt und Psyche.
*) Jaspers, Psychologie der Weltanschauungen.
65
Es ist, als ob die Hierarchie der um das zentrale bewußte Ich
gruppierten psychischen Elemente durch die Gerichtetheit der psycho¬
physischen Person auf die Welt bedingt und erhalten wäre. Die
normale einheitliche Persönlichkeit bewahrt bei allem ihrem Wechsel
und Werden den einheitlichen. Grundcharakter, den Kern, der allen
ihren Erscheinungsformen zugrunde liegt und der schließlich unser
unveränderliches Selbstbewußtsein ausmacht.
Wir alle haben affektbetonte Komplexe, sie beeinflussen unser
Tun und Handeln, spielen in unsere Träume und Fehlleistungen
hinein. Sie sind aber unserer bewußten Persönlichkeit unterordnet
und vermögen sie nicht umzuändern. Denn auch die unbewußten
verdrängten Komponenten unserer Triebe, alle unverwirklichten
psychischen Tendenzen, trüben normalerweise nicht das harmonische
Spiel unserer erlebenden wirkenden Persönlichkeit.
Es muß eine tiefliegende Ursache haben, wenn die Komplexe
eine so ganz andere Rolle bei der schizophrenen Persönlichkeit
spielen, welche sich in der durch sie vorgezeichneten Richtung um¬
bilden und spalten kann.
Ein junger Katatoniker hält sich oft für den „lieben Gott“,
Jesus Christus oder Napoleon. Er schreibt sich diese verschiedenen
Rollen sukzessiv oder aber gleichzeitig zu, wobei es ihn nicht im ge¬
ringsten verwundert, daß er zum Beispiel er selbst und der Heiland
gleichzeitig ist. Der Kranke vereinigt aber mühelos noch größere
Widersprüche. So erklärt er mir eines Abends: „Ich bin der liebe
Gott, aber ich fürchte mich vor dir, rühre mich nicht an. Ich möchte,
du sollst mit mir tun, was du wagen kannst . . . (Ich frage: wieso?)
Ich bin ein Mädchen . . .“ Einen Moment später ist er wieder er
selbst und dennoch ist er ein Mädchen. Während er nur ein Mädchen
war, hielt er den daneben stehenden Wärter für sich selbst, dies
alles allerdings ganz vorübergehend.
Die Persönlichkeit wird hier von Augenblick zu Augenblick
umgeändert, das Persönlichkeitsbewußtsein oszilliert zwischen zwei
unversöhnlichen Gegensätzen (Mann — Frau), empfindet auch keine
Schwierigkeit, sie vorübergehend gleichzeitig zu realisieren.
Offenbar wird die Persönlichkeit momentan von der homo¬
sexuellen Komponente des Geschlechtstriebes beherrscht, deren
Invasion so stark ist, oder aber der Widerstand der übrigen Persön¬
lichkeit so schwach, daß sie sich mit Gewalt durchsetzt und die
gegenteiligen Tendenzen ausschaltet.
Die Selbständigkeit, welche hier eine auch normal vorhandene
Triebtendenz erlangt, weist auf starke Schwächung der Einheitlichkeit
Bycbowski, Metaphysik und Schizophrenie. (Abhandl. H. 21.) 5
66
der Psyche hin. Die sonst wie in dem Brennpunkte einer starken
Linse vereinigten Strahlen werden nicht mehr zusammengehalten
und divergieren. Dieses Nachlassen der vereinheitlichenden Macht
der Psyche können wir als Mangel an psychischer Synthese, als eine
Insuffizienz der psychischen Aktivität (B e r z e) und so weiter auf¬
fassen, ohne daß durch diese Ausdrücke mehr als eine bloße Um¬
schreibung des Tatbestandes gegeben wäre.
Es scheint uns aber, daß die Spaltung oder besser die Spaltungs¬
bereitschaft der schizophrenen Persönlichkeit durch die veränderte
Grundbeziehung Psyche-Welt dem Verständnis näher gebracht werden
kann.
Die Einstellung der Psyche auf die Welt bringt es mit sich, daß
die psychischen Tendenzen in fein abgestufter Wertigkeitsskala
nebeneinander wirken. Es vollzieht sich im Laufe der phylo¬
genetischen Entwicklung, wie während des individuellen Lebens, die
Unterordnung der psychischen Mächte, der Triebe mit allen ihren
Komponenten und Ausbildungen unter die zweckdienlichen höheren
psychischen Instanzen, welche das wachsame Anpassen des Menschen
aru die Realität besorgen. Jeder Trieb, jedes Streben hat eine
reiche Entwicklung durchgemacht, bis es zu der gegenwärtigen An¬
passungsform gelangte, die gleichsam den Überbau bildet, unter
welchem die früheren Stadien in potentia erhalten, die früheren
Mechanismen in ihrer Wirksamkeit vielleicht reduziert, aber doch
nicht verschüttet sind.
Wir wissen von der großen Bedeutung der Gegensatzpaare im
Bereich psychischer, respektive psychophysischer Tendenzen und
Antriebe. Bleuler“) hat uns die ganze ausgedehnte Wichtigkeit
dieser Einrichtung schätzen gelehrt und Freud*) an Abel an¬
knüpfend im Gegensinn der Urworte ehrwürdig alte Spuren von
intellektueller Ambivalenz aufgedeckt. Seit wir gewohnt sind darauf
zu achten, können wir in täglicher Selbstbeobachtung die enorme
Verbreitung der Ambitendenz und Ambivalenz sehen. Zugleich
müssen wir über die sinnreiche Einrichtung staunen, die es er¬
möglicht, daß sich Trieb und Gegentrieb Gleichgewicht halten,
wodurch ein Abwägen und Abstufen unserer Wirklichkeitsreaktionen
in des Wortes weitestem Sinn zustande kommt. Es wird so ein
Verabsolutieren der psychischen Tendenzen verhindert, wozu eine
*) Bleuler: Zur Theorie des schizophrenen Negativismus. Psych.-
Neur. Wchsch. 1910.
*) Freud: Über den Gegensinn der Urworte. Jahrbuch für Peycho-
Analyse. Bd. II. 1910.
67
jede von ihnen als solche Neigung hat und wie die Pathologie lehrt,
befähigt ist.
Auch die Gegensatzpaare werden durch die Grundbeziehung
Psyche-Welt zusammengehalten und in das harmonische Spiel des
psychophysischen Organismus eingereiht.
Wird die Grundbeziehung gelockert und zugunsten der Psyche
verschoben, so befindet sich das seelische Orchester äuf einmal ohne
Dirigenten. Der Macht der Gewohnheit folgend, werden die Orchester¬
mitglieder zunächst vielleicht noch harmonisch spielen. Bald aber
kümmern sie sich nicht mehr um die gegenseitige Anpassung, welche
die unumgängliche Vorbedingung zur Aufführung der großen Sinfonie
darstellt. Sie vergessen um ihre Hierarchie und der Trommelschläger
begnügt sich nicht mehr mit einigen Tönen an gewissen Stellen, die
ihm vom Komponisten bestimmt wurden; er findet sich wichtig und
übertönt die zarten Geigen mit seinem unbändigen Lärm.
Die innere Struktur, der wunderbare architektonische Aufbau der
Sinfonie, die planvolle und diskrete Entwicklung der Leitmotive geht
verloren, ebenso wie die sinngemäße Entfaltung der Melodien und die
fein abgestufte Steigerung der Hauptidee.
So kann sich auch jedes psychische Motiv, jede Intention ge¬
legentlich mit unbändiger Kraft durchsetzen und die psychische Tätig¬
keit, zu deren größten Schaden, vollauf beherrschen.
Wir sehen dies in dem Oszillieren des schizophrenen Persönlich¬
keitsbewußtseins, wir sehen dies in der Geschichte der Delirien, welche
unmerklich oder mit jähem Absturz von der Gestaltung und plasti¬
schen Umbildung einer Triebtendenz zu der Verwirklichung einer an¬
deren, vielleicht sogar entgegengesetzten, übergehen.
In beginnenden Zuständen kann sich die schizophrene Persönlich¬
keit ihrer Veränderung gelegentlich bewußt werden, sie fühlt die Welt
schwanken, entfremdet, sich selbst nicht mehr genügend zentriert,
zweckmäßig und einheitlich in Sinnen und Beschließen, Beginnen und
Handeln. Es kann diese Veränderung auch als durchaus positive
empfunden werden, wie dies trefflich der Patient von B e r z e aus¬
drückt:
„Ich bin jetzt ganz anders als früher, ich weiß jetzt alles auf
einmal, was ich früher nacheinander in meinem ganzen Leben gewußt
habe; das ist ein großartiger Zustand! Man ist nicht gebunden, man
ist ganz frei, man muß nicht so oder so, man kann wie man will. Man
kann so oder auch das andere, das Gegenteil. Man hat einen viel wei¬
teren Horizont.“ Als Quintessenz dieser Introspektion der schizo¬
phrenen Wahl und Steuerlosigkeit sagt dann derselbe Kranke: „Ich
6 *
68
bin kein Mittelpunkt weder in afirmativer noch in negativer Be¬
ziehung“ 1 ). Unter diesen Bedingungen müssen die gegensätzlichen Re¬
gungen nicht mehr in ihrem Gleichgewicht verbleiben, der unter¬
drückte Gegenantrieb kann sich mit Leichtigkeit emanzipieren und die
Betätigung des Kranken widersinnig und zweckwidrig, das heißt ent¬
gegengesetzt dem bewußten Zwecke seiner Persönlichkeit, gestalten.
Hatte der Antrieb die Tendenz, der Situation, der Wirklichkeit adä¬
quat zu sein, war er ein Vorstoß der Psyche in die Welt, so wendet
sich der Gegenantrieb von der Realität weg, widersetzt sich den reel¬
len Zusammenhängen. Er kann so die Persönlichkeit in arge Kon¬
flikte mit der Umgebung bringen; wir haben hier das, was Edgar
Allan Poe beim Normalen mit dem trefflichen Ausdruck „Demon
de perversitö“ benannt hat. Jeder von uns kennt die widersinnigen
unzweckmäßigen Gegenantriebe, die uns plötzlich einfallen können;
man verspürt die Lust, während einer ernsten Rede ein dummes Lied
anzustimmen, während eines Begräbnisses laut zu lachen, wir unter¬
drücken diese „perversen“ Antriebe gewöhnlich mit Leichtigkeit, weil
wir auf die Situation eingestellt sind und mit ihr in Einklang bleiben
wollen.
Bei dem Schizophrenen wird aber das Vorherrschen der Gegen¬
tendenzen durch die ganze autistische Einstellung besonders begün¬
stigt. Die Kranken empfinden die äußere Welt und die Eindrücke,
die von ihr kommen als eine peinliche Störung, sie suchen den Ab¬
schluß als Abwehr gegen die Forderungen der Wirklichkeit, denen sie
nicht mehr gerecht werden können.
Darin liegt die tiefe Wurzel des Negativismus. Während so zu¬
nächst nur die Antriebe und Komplexe von der zweckmäßigen, weil
wirklichkeitsgerechten Ichinstanz unabhängig werden, kann bei den
katatonen Syndromen diese Loslösung viel tiefer gehen. Der Körper,
das rein Motorische, entgleitet dem bewußten Willen, die störendsten
und unzweckmäßigsten Bewegungen werden gleichsam zwangsmäßig
vollzogen und vollenden so das Paradoxe der krankhaften Störung,
welche sogar das zur Beziehung mit der Welt bestimmte Instrument,
den Leib der Herrschaft des Ich entreißt.
Ich verweise in diesem Zusammenhang auf die Ausführungen von
Kretschmer über die Hypobulik, der auf das Fastkörperliche der
katatonen Syndrome mit Nachdruck hinweist. „Nicht die leiseste
Spur von einem Zweck oder Grund oder Motiv; es ist, als ob man eine
Schnecke fragte, weshalb sie ihre Hörner ausstreckt und wieder ein-
') B e r z e , 1. c.
69
zieht; nur das eine: das Befremden, das aufmerksame Zusehen des
Menschen, wie seine Atavismen in ihm spielen.“
Als speziellen Fall des Negativismus können wir die Sperrung
betrachten, welche uns die momentane Unterbrechung der Grund¬
beziehung augenscheinlich demonstriert. Besonders instruktiv ist das
Eintreten der Sperrung bei dem Anschneiden der Komplexe. Es wie¬
derholt sich hier das Gleiche, was wir bei der Entwicklung der Krank¬
heit selbst so häufig beobachten, die Ablösung der Psyche von der
Welt beginnt an den Stellen, wo die Psyche mit der Welt zutiefst ver¬
bunden ist, an den Komplexen und affektiven Beziehungen, welche
für das Leben der Persönlichkeit von besonderer Bedeutung sind.
So wird uns auch die Häufigkeit der reaktiven Schizophrenie ver¬
ständlich, der Fälle also, wo die Psychose als Reaktion auf psychische
Traumen in verständlicher Weise ausbricht. Wir können uns hier
leicht vorstellen, daß ein bestimmtes Verhältnis zwischen der Stärke
der auslösenden psychischen Ursachen und der krankhaften Anlage
die Situation beherrscht und zum Ausbruch der Psychose notwendig
ist. Ist nämlich das dynamische Gleichgewicht der Grundbeziehung
stark genug, so widersteht es leicht unbedeutenden Traumen, wird
aber unter Umständen von langdauernden chronischen Traumen, wie
z. B. unbefriedigende Ehe, gleichsam zermürbt. Bei einem schwachen
Gleichgewicht und Zusammenhalten der Grundbeziehung genügt ein
weniger bedeutendes, vielleicht schon einmaliges Trauma, um die
Beziehung Psyche-Welt zu lockern und den psychotischen Prozeß in
Gang zu bringen.
Es eröffnen sich hier interessante Ausblicke auf die so aktuelle
Frage der Beziehung zwischen dem Charakter und der Psychose 1 ).
Ist doch gerade auf dem Gebiete der Schizophrenie die charakterologi-
sche Anamnese von besonderem Belang und gibt es andererseits zahl¬
reiche Übergänge zwischen den abnormen, schizoiden, autistischen,
paranoiden Charakteren und den ausgesprochenen psychotischen Pro¬
zessen.
Zum Schlüsse ein Beispiel der endopsychischen Wahrnehmung
des schizophrenen Prozesses, welches uns in synthetischer Weise das
Wesen der Krankheit demonstriert. Es ist dies der Fall von Dar-
del*) (französisch: Eigene Angaben des Kranken).
Erste Periode: Ablösung von der Welt: „Döcouragement et Senti¬
ment de sa propre inutilite“.
') Siehe B o v e n : Caractere individuel et altenation montale. Archives
Suisses d. Neur. et de Psych. VI/2.
*) D a r d e 1: Impression d’un catatonique.
Zweite Periode: Übermacht der Psyche, Vorherrschen der Vergan¬
genheit über die Aktualität: „ensuite trös grande activitö c4r6brale avec le
retour vers le pass6. Impression d’avoir v6cu plusieurs vies antörieures, meme
durant la Periode animale. On assiste au d6v61oppement du film qui aurait 6te
pris dans le pass6 auquel se superposerait une pellicule d’actualitä“^
DrittePeriode: Versuch, die Welt wieder zu gewinnen. Untergang
eigener Persönlichkeit. Erlelien des Ganzen: „Un 6tat de grace durant lequel
on abdique de sa personalitä pour s’en remettre a la volonte des tiers. La per¬
sonne disparait et Ton a Timpression de faire partie d’un tout, d’Univers“.
UI. Kapitel.
Völkerpsychologisches.
Unsere Ausführungen über die pathologische Gestaltung der
Grundbeziehung Psyche-Welt gipfeln in der Feststellung, daß der
schizophrene Prozeß die Grundbeziehung verschiebt, indem er die
Schranke zwischen Psyche und Welt zeit- und teilweise aufhebt. Den
psychischen Realitäten wird so objektive Wertigkeit zugeschrieben
und umgekehrt werden gegenständliche Zusammenhänge subjektiv
umgedeutet oder gar ihrer äußeren objektiven Gegebenheit entkleidet.
Die objektive Einstellung, welche sich in bestimmten, allgemein
gültigen Formen und Kategorien ausdrückt und welche die Beziehun¬
gen der Persönlichkeit zur Welt regelt, wird durch eine anormale Ein¬
stellung ersetzt.
Diese imponiert uns zunächst als eine durchaus alogische.
Denn sie ist mehr als unlogisch. Wir wissen es aus täglicher Erfah¬
rung, daß die Affekte unsere Logik zeitweise trüben und unsere
Schlüsse sowolil wie Handlungen unlogisch gestalten. „Le coeur a
ses raison que la raison ne connait pas“. Dieses Verhalten entspricht
wohl zumeist einer momentanen Einschränkung des geistigen Hori¬
zontes, welche, durch den Affekt verursacht, eine genügende Über¬
sicht der gesamten Situation unmöglich macht. So wird aus der Wirk¬
lichkeit nur das erwählt und berücksichtigt, was mit der momentanen
affektiven Einstellung in Einklang steht, währen^ alles andere im
Schatten bleibt. Diese unlogischen Schlüsse und Handlungen werden
durch die unmittelbare oder spätere Erfahrung korrigiert, auch sind
sie nicht an und für sich absurd und widerspruchsvoll, sie wider¬
sprechen nur oft unserem bewußten Interesse und der Gesamtheit der
gegebenen Situation. Diese Affektschlüsse und Handlungen können
auch von jedem der Einfühlung fähigen ohne weiteres verstanden
werden, sie gehören durchaus in das Gebiet der gewohnten Prozesse
und Reaktionen.
Alogisch aber müssen wir die von unseren Kranken aufgestellten
Zusammenhänge nennen, welche ihr objektives Weltbild wesentlich
umändern und ihre Einstellung zur Welt umbilden, ja verrückt
machen.
72
Wir können es nicht mehr verstehen und nicht mehr nachfühlen,
wenn man sich von allerlei äußeren Vorgängen beeinflußt glaubt,
welche mit einem sicherlich in keinem Zusammenhänge stehen, wenn
man Verfolgungen ausgesetzt ist, welche ihre Wirkung auf große
Distanzen ausüben.
In dem gleichen Maße, wie uns diese alogischen Aufstellungen
absurd erscheinen, sind sie für die Kranken selbstverständlich und von
Grund aus evident und sie wundem sich über unser Staunen und über
das Unverständnis, mit dem wir dem für sie so natürlichen Erleben
gegenüberstehen.
Es wird uns klar, daß wir es hier mit einer wesentlich verschie¬
denen Mentalität zu tun haben, welche nach eigenartigen, von den
Nonnen unserer Logik unberührten Gesetzen arbeitet.
Lydia liegt mit Fieber zu Bett; die Temperaturkurve hängt Uber der
Kurve einer Nachbarin. Lydia bittet uns, wir sollen die Kurve der anderen
fortnehmen, denn diese Kurve ist es, welche ihr, der Lydia, Fieber gibt und sie
krank macht. Dies wird bewirkt von dem kranken, vergiftenden Körper, wel¬
cher sich in dem Blatte befindet oder vielmehr das Blatt selbst ist. („C ’ e s t
le corps malade et empoisonnant qui est d an s la feuille
ou plutöt qui est la feuill e.“)
Die ganze Klage ist für uns absurd, für Lydia selbstverständlich.
Offenbar überträgt sie den vermeintlichen Einfluß der Mitpatientin
und ihre Krankheit auf das Temperaturblatt. Den Einfluß der Mit¬
kranken könnten wir mit unseren logischen Ansprüchen leicht ver¬
einigen, es müßte sich einfach um die Infektion handeln; daß aber die
Krankheitsursache in dem Temperaturblatt sitzt und von da aus
Lydia schädigt, liegt jenseits unseres Verstandes. Lydia geht aber
sofort einen Schritt weiter und setzt den „kranken, vergiftenden Kör¬
per“ dem Temperaturblatte gleich: er i s t die Temperaturkurve. Die
Kurve, welche naturgemäß zu der betreffenden Kranken in Beziehung
steht, übernimmt ihre wesentlichen Eigenschaften, wird zu deren Trä¬
ger. Indem sie so an der Kranken und der Krankheit teilnimmt, wird
sie mit dieser Krankheit, vielmehr mit deren aktivem Prinzip, gleich¬
gesetzt, der Teil wird zum Ganzen.
Ein neuer Sprung kommt zustande, indem der Einfluß der Kurve
unmittelbar auf unsere Patientin übergeht; aber wir können uns leicht
vorstellen, daß die Kurve einfach, indem sie die Eigenschaften der
kranken Nachbarin übernommen hat, auch mit dieser Macht ausge¬
stattet wurde.
Selbstverständlich ist diese ganze Analyse das Werk unseres
erklärenden Verstandes; für die Patientin vollziehen sich diese
73
Schlüsse blitzartig, und, was wir zerlegt haben, ist ihr mit einem Male
synthetisch gegeben.
Das Temperaturblatt partizipiert an der Kranken und an der
Krankheit, es i s t die Krankheit; Lydia partizipiert an der Krankheit
und an dem Blatte, die fremde Krankheit wird zu i h r e r Krankheit.
Dieses alogische Verhalten wird am besten bezeichnet mit dem
den völkerpsychologischen Betrachtungen von Ldvy-Bruhl ent¬
lehnten Terminus „mystische Anteilnahme“ (Participation mystique).
Wir führen die klare Formulierung des Autors wörtlich an:
„In den kollektiven Vorstellungen der primitiven Mentalität können
Gegenstände, Organismen, Erscheinungen in einer für uns unverständlichen
Weise gleichzeitig sie selbst und etwas anderes sein. In einer für uns nicht
weniger unbegreiflichen Weise entwenden und empfangen sie Kräfte, Fähig¬
keiten (vertus) und Eigenschaften, mystische Tätigkeiten, welche sich fühlbar
machen nach außen von ihnen, ohne daß sie deswegen aufhören, da zu sein,
wo sie sind.“
Es ist ersichtlich, daß bei dieser Einstellung, wo die Grenze zwi¬
schen dem Menschen und der Welt, zwischen den verschiedenen Ob¬
jekten nicht existiert, die Bereiche der Gegenstände vermengt wer¬
den, so daß sie beliebig ineinander spielen können. Als das Primäre
erscheint uns hier die primitive ungespaltene Einheit Psyche-Welt.
Wenn tausend mystische Fäden die Psyche mit der Welt verbinden,
so daß sich der Mensch jedem äußeren Einfluß ausgesetzt wähnt
und zugleich die äußeren Begebenheiten nach Belieben zu beeinflussen
vermag, so ist keine Grundlage gegeben zu der strengen begrifflichen
Scheidung der Gegenstände untereinander; sie werden nicht In dem
scharfen Maße aus der Kontinuität der ursprünglich gegebenen Reali¬
tät ausgeschnitten, wie dies die logische Mentalität fordert. Wo aber
die objektive Scheidung der Gegenstände vom Menschen und unter¬
einander fehlt, da fehlt auch das Gitterwerk, worin sich die objektive
Einstellung vollzieht, die objektiven Normen und Kategorien.
Diese alogische Mentalität sehen wir bei unseren Kranken; offen¬
bar ist hier die schon vollzogene Spaltung der primitiven Einheit
durch den pathologischen Prozeß rückgängig gemacht und durch die
frühere undifferenzierte Einheit ersetzt worden. Ist unsere Deutung
richtig und haben wir es hier mit einer tief und weitgehenden Re¬
gression zu tun, so müssen wir ein Entwicklungsstadium der
menschlichen Psyche postulieren, wo sie sich in dieser besonderen
Form auslebte und betätigte.
Die völkerpsychologischen Untersuchungen der letzten Jahre
bringen uns nun die Bestätigung unserer Annahmen und fundieren
sie in einer kaum erhofften aber um so willkommeneren Weise.
74
L6vy-Bruhl und Dürkheim sind die Forscher, die den Begriff
der „prälogischen Mentalität“ geprägt haben, welche sie bei dem Stu¬
dium primitiver Völkerschaften aufdeckten. Im folgenden wird ins¬
besondere auf das Hauptwerk Levy- Brühls „Les fonctions men¬
tales dans les Soci6t6s primitives“ hingewiesen.
Das von L6vy-Bruhl aufgestellte Gesetz der mystischen An¬
teilnahme (la loi de la participation mystique) drückt das Wesentliche
der primitiven Psyche in ihren Beziehungen zur Welt aus.
Das Individuum ist hier aufs Engste verbunden mit der Kollekti¬
vität, deren Mitglied es ist; aber diese Gemeinschaft erstreckt sich
schließlich nicht nur auf die Nebenmenschen, sondern auch auf alle
Gegenstände und Gegebenheiten.
Der Primitive kann durch alle äußeren Erscheinungen und Ereig¬
nisse beeinflußt werden, nichts ist ihm unbedeutend, an allem kann er
irgendwie teilnehmen. Aber auch umgekehrt, es gibt kein äußeres
Geschehen, wo er nicht einmal eingreifen, das er nicht zu seinen
Gunsten beeinflussen und umbilden könnte. Dieses Weltbild ist wesent¬
lich mystisch, indem die Eigenbeziehung ihren höchsten Grad erreicht
und die gesamte Wirklichkeit ausschließlich von dem Gesichts¬
punkte der Wünsche, Bedürfnisse und Befürchtungen der primitiven
Gesellschaft betrachtet und beurteilt wird. Im steten Kampf mit der
Natur hat es der Primitive noch nicht gelernt, die Demarkationslinie
zwischen dem Ich und den äußeren Mächten zu ziehen.
Die Gegenstände werden reichlich ausgestattet mit mystischen
Attributen, welche dem Primitiven unvergleichlich bedeutsamer er¬
scheinen, als die „objektiven“ Eigenschaften. Desgleichen sind ihm
seine eigenen mystischen Potenzen wichtiger als die wirklichen Mög¬
lichkeiten, die ihm bei dem Anpacken der Natur zu Gebote stehen.
Geht er auf die Jagd, so scheint ihm seine Übung und Geschicklichkeit
durchaus ungenügend, um ihm den Erfolg zu sichern, vielmehr erhofft
er sich die beste Hilfe, die mächtigste Unterstützung durch die Be¬
einflussung der widerspenstigen Naturmächte mittels besonderer ma¬
gischer Praktiken und Zeremonien.
Er beschwört die Geister der Tiere, die er jagen will, damit sie
ihm ihre Huld erweisen, sich vor seinen Waffen nicht allzusehr fürch¬
ten und recht zahlreich erscheinen. Er versucht seine mystische Kraft
zu steigern durch Fasten, schlaflose Nächte und magische Praktiken.
Aber damit sind die Bedingungen zum Gelingen der Jagd noch
lange nicht erfüllt; der Erfolg hängt auch ab von dem Verhalten der
Daheimgebliebenen, insonderlich der Frau. Diese muß sich bestimm¬
ter Speisen enthalten, ihr Haar ungeschnitten lassen, darf tagelang-
75
das Heim nicht verlassen usw. Der draußen Jagende nimmt so in
mysteriöser Weise an dem Gebaren der Gemahlin teil und schweres
Unheil würde ihn treffen, wenn sie die Vorschriften nicht skrupelhaft
befolgte.
Die prälogische Mentalität kennt keine objektive Eigengesetzlich¬
keit des Naturgeschehens. Die verschiedensten Naturerscheinungen
entstehen durch Wirkungen mystischer Kräfte, die von einem Objekte
auf das andere übertragen werden. Die Anteilnahme wird dargestellt
unter den mannigfachsten Formen, als da sind: Berührung, Übertra¬
gung, Sympathie, Wirkung auf Distanz.
Das Naturgeschehen wird in seiner Bedeutsamkeit für die Kollek¬
tivität erfaßt und nimmt als solches teil an deren Wünschen und Be¬
fürchtungen. So wird das Vorkommen von Wildbret, ja die regel¬
mäßige Folge von Regenfällen abhängig gemacht von gewissen, durch
bestimmte Personen oder durch den ganzen Stamm auszuübenden
Zeremonien, ja mitunter von bloßer Anwesenheit gewisser Personen.
An Bedeutsamkeit allen Praktiken voran, steht hier das Zeremo¬
niell des I n t i c h i u m a. Es ist dies eine vom ganzen Stamm voll¬
zogene magische Feier, deren Zweck es ist, die Zahl der Totemtiere
und -pflanzen zu vermehren, so wird die„mystischeSymbiose
(L6vy-Bruhl) zum Ausdruck gebracht, welche den Stamm mit
dem heiligen Totemwesen verbindet. Um jedem Mißverständnisse
vorzubeugen, muß hier ausdrücklich betont werden, daß die Primi¬
tiven bei dem Intichiuma nicht die Hilfe eines übernatürlichen Wesens,
etwa einer Gottheit, erbitten.
Die Indianer Tarahumara behaupten, der Intichiuma werde auch
von Tieren gefeiert, denn diese verstehen sich auf Magie. Das Singen
der Vögel im Frühling, das Quaken der Frösche ist nichts als ein Ruf
nach Regen und dessen Beschwörung. In einer Legende der H o p i
tanzen die vor Durst sterbenden Blattläuse, um Wasser zu erhalten.
Das ganze Leben des Primitiven steht unter dem Einflüsse mysti¬
scher Kräfte und nimmt teil an allen möglichen Dingen und Erschei¬
nungen. Schon das Neugeborene, ja sogar das erst zu erwartende
Kind wird aufs tiefste beeinflußt von jedem auch kleinsten Tun seines
Vaters, z. B. von dessen Ernährung, und das Verhalten des Vaters wird
darum in den Praktiken der Couvade besonderen Vorschriften unter¬
zogen, welche freilich nicht nur für das Kind, sondern auch für die
Mutter von Bedeutung sind 1 ).
*) Vgl. über die Couvade Theodor Reik, Probleme der Religions¬
psychologie.
76
Die scheinbar geringste Handlung des Primitiven kann so un¬
absehbare Folgen für alle Wesen haben, mit welchen er in mystischer
Weise verbunden ist. So muß z. B. im Stamme K a i t i s c h der Chef
des Totems des Wassers sich aller magischen Praktiken enthalten,
welche darin bestehen, daß man einen Knochen oder einen Stab gegen
den Feind richtet. Denn täte er das, so würde das Wasser schmutzig
und übelriechend werden.
Ähnliche für uns geheime, für den Primitiven aber durchaus
selbstverständliche Beziehungen, bestehen zwischen der Totemgruppe
und der Raumrichtung der Himmelsgegenden. Diese wiederum ver¬
bleiben in mystischem Bunde mit Farben, Winden, mystischen Tieren;
durch die Tiere mit Flüssen und heiligen Hainen.
Der Raum hat somit besondere, mystische Eigenschaften, er ist
nicht das homogene abstrakte und gleichgültige Kontinuum, als wel¬
ches er in den Operationen der logischen Mentalität erscheint.
Für die natürliche logische Kausalität wird in diesem mystischen
Ganzen kein Platz gelassen. Kein Wunder, daß auch die Begeben¬
heiten, welche im Leben jedes Einzelnen mit Regelmäßigkeit notwen¬
diger Weise eintreten, wie Geburt, Tot, Krankheit, auf mystische Ein¬
flüsse und Wirkungen zurückgeführt werden müssen, ebenso wie dies
für die gesetzmäßigen Erscheinungen der äußeren Welt der Fall ist
(Regenfälle — Intichiuma).
Die Geburt ist eigentlich eine Wiedergeburt, Reänkamation; wie
der Tod, ist sie nur ein Übergang von einer Existenzform in die
andere 1 ). „Das Kind ist nicht das direkte Ergebnis
der Befruchtung. Es kann auch ohne sie zur Welt kommen.
Sie bereitet nur sozusagen die Mutter zum Empfangen und Gebären
eines schon vorher geformten Kindes-Geistes vor, welches eins von den
lokalen totemistischen Zentren bewohnt“’). Die Geister wählen sich
die Frauen, in welche sie hineinkommen, nach totemitischen Affini¬
täten. • Die natürliche Ursache der Geburt wird so zur bloßen Gelegen¬
heitsursache herabgesetzt, während die mystisch-totemistische Anteil¬
nahme zur Hauptursache wird.
Die Krankheit wird zurückgeführt einzig und allein auf mysti¬
sche, unsichtbare Einflüsse.
„Die Krankheit hatte für Fidji-Bewohner keine natürliche Ur¬
sache; sie suchen ihr Geheimnis praeter naturam, d. h. in einer
') In stark sublimierter Form finden wir diese Auffassung bei Plato
wieder. (Phaidon.)
*) Spencer u. Gillen: The natives tribes of central Australia,
p. 265, zitiert nach Lävy-Bruhl.
77
unsichtbaren Welt, welche neben der Natur lebt“'). Die mystischen
Einflüsse können mannigfaltigster Natur sein, Dämonen, Geister der
Toten, welche sich in den Kranken hineinschleichen und seine Lebens¬
kraft aufzehren, böser Zauber, welcher von einem böswilligen Feinde
auf magische Art und oft auf große Entfernung ausgeübt wird. Der
Zauber kann nur durch Gegenzauber vernichtet werden und' so sind
die Medizinmänner Zauberer. Ihre Diagnose, wie ihre Therapie sind
bekanntlich rein magischer kultischer Art, weswegen sie auch für die
Beobachtung der Symptome nur ein ganz sekundäres Interesse auf-
brmgen. Die Namen, welche z. B. die Schamanen bei den Cherokees
den Krankheiten geben, sollen ihr mystisches Wesen in unbestimmter
Art ausdrücken. „Wenn sie von den Schlangen träumen“,
„wenn sie von den Fischen träumen“, „wenn sie von Gespen¬
stern geplagt werden“, „wenn etwas macht, daß etwas sie
aufzehrt“, „wenn die Nahrung verändert ist“, d. h. wenn eine
Hexe macht, daß die Nahrung im Leibe keimt und wächst, oder
daß sie sich in eine Eidechse, einen Frosch oder einen zugespitzten
Stock verwandelt.
Von der Krankheit wird nicht so sehr der Leib, als das Lebens¬
prinzip berührt und die Behandlung muß dieser Grundauffassung
Rechnung tragen, indem sie in mystischer Weise auf die kranke Le¬
benskraft einwirkt, ohne sie jedoch durch Hineinmischung ungeeig¬
neter Geister zu beeinträchtigen. Die Medikamente wirken durch die
in ihnen enthaltenen Geister auf die Geister der Krankheit. Gift
tötet dank seiner starken mystischen Kraft, Gegengift enthält einen
noch mächtigeren Geist. So hält sich die Behandlungsweise eng an
die Auffassung vom mystischen Wesen der Krankheit. Der Rheu¬
matismus wird von den Cherokees den Geistern der auf der Jagd er¬
schlagenen Tiere zugeschrieben. Die Krankheit wird bezeichnet als
„jener, der hineinkommt“ und betrachtet als ein schlangen- oder
fischähnliches Lebewesen. Der Häuptling der Hirsche führt den Feind
in den kranken Körper hinein. Um den Eindringling zu vertreiben,
muß man sich an höhere Geistertiere wenden; durch diese Auffassung
wird das Zeremoniell der Behandlung festgelegt. Es findet so ein
Kampf allerlei Geister statt und wenn die Praktiken des Medizin¬
mannes mißlingen, so beweist dies offenbar nur das Eingreifen mäch¬
tiger feindlicher Geister, gegen welche ein neuer mächtiger Zauber
angewendet werden muß.
') En. Ro ugi'er: Maladies et mCd4cins k Fidji autrefois et aujourd'hui.
Anthropos II (1907), p. 69, p. 999. Zitiert nach LCvy-Bruhl.
78
Ebensowenig wie die Krankheit, ist der Tod eine natürliche Er¬
scheinung. „Der Eingeborene ist absolut unfähig, den Tod als Folge
irgendwelcher natürlichen Ursachen aufzufassen').“ Der Verstorbene
ist ein Opfer bösen Zaubers, welcher von einem feindlichen Geist
oder durch dessen Vermittlung von böswilligen Feinden ausgeübt
wurde. Selbst ein Tod, dessen natürliche Ursache in die Augen
springt, wie z. B. Tod durch den Schlangenbiß, wird der Magie eines
Zauberers zugeschrieben, welcher die Schlange beeinflußt hatte.
Stirbt ein Greis, so suchen seine Angehörigen, von wem der böse
Zauber ausging und rächen den Tod an dem vermeintlichen Schul¬
digen. Man sieht, wie ein Freund, von den Feinden erschlagen, fällt,
und man stellt dennoch Untersuchungen an, um die wahre, magische
Ursache des Todes zu ergründen.
Bekanntlich ist dieses Suchen nach der Quelle des bösen Zaubers
ebenfalls magischer Art und hat zur Voraussetzung den Glauben an
mystische Anteilnahme aller möglichen Erscheinungen an dem Toten,
seinem magischen Mörder und dem Tode. In Australien zum Beispiel
macht man an der Stelle, wo der Leichnam hingelegt wurde, eine
Grube, und man beobachtet, nach welcher Richtung sich ein aus¬
gegrabener Wurm oder Insekt wendet. In dieser Richtung werden
dann die Schuldigen gesucht. In Zentralaustralien untersucht man
den Boden an der Stelle, wo der Tod stattgefunden hat und findet
man z. B. eine Schlangenspur, so ist man sicher, daß der Mörder
dem Schlangentotem gehört. Auf diese für die Primitiven uner¬
schütterlich sicheren Anzeichen gründet sich die grausame „Ge¬
rechtigkeit“, welche man dem so entdeckten Schuldigen widerfahren
läßt. Diese Gerichtspraktiken erinnern lebhaft an die Hexen¬
untersuchungen des Mittelalters, welchen ja eine sehr ähnliche Men¬
talität zugrunde liegt.
Daß aus so zufälligen Anzeichen, wie die Richtung, welche ein
Insekt einnimmt oder einer Schlangenspur, auf wichtige Zusammen¬
hänge geschlossen wird, zeigt zum Überfluß, daß es für die prälogische
Mentalität keinen Zufall in unserem Sinne gibt. Denn alles hängt
mit allem zusammen, alles kann aneinander teilnehmen. Unsere
logische Mentalität sondert die Welt des objektiven Geschehens in
bestimmte Kausalketten, welche voneinander ganz unabhängig sein
können. Das Glied einer Kausalreihe ist dann für die andere zu¬
fällig, es hat für sie eben keine Bedeutung, weil es für uns ohne Be-
') Spencer u. Gillen, The natives tribes of central Australia,
p. 356, zit. nach Lävy-Bruhl.
79
deutung ist, während wir uns auf den Standpunkt jener anderen
Kausalkette stellen, welche uns momentan interessiert.
Der Primitive lebt in einem Kontinuum von Dingen und Kräften,
welche von ihm und untereinander nur sehr unvollkommen geschieden
sind. Es gibt hier keine getrennten Kausalreihen , und jeder für uns
noch so äußerliche Zusammenhang genügt, um die Beziehung der
mystischen Anteilnahme aufzustellen.
Es ist uns geläufig, daß Kausalzusammenhänge nach dem Schema
post hoc ergo propter hoc aufgestellt werden. Aber dem
Primitiven genügt schon bloße Kontiguität im Raume, und wie wir
gesehen haben, fundiert sich die Anteilnahme auf dem Zusammen¬
hänge juxta hoc ergo propter hoc (Levy-Bruhl).
Während der kausale Zusammenhang der logischen Mentalität
in der Zeit wie im Raume streng determiniert ist, bleibt die mystische
Anteilnahme von diesen Schranken unberührt. Die Ursache, in
unserem logischen Sinne des Wortes, muß zu der Wirkung eine be¬
stimmte räumliche Beziehung haben; sie muß ihr z e i 11 i.c h
vorausgehen. Bei der Anteilnahme hingegen ist es oft schwer zu
sagen, ob die Ursache der Wirkung vorausgeht oder vielmehr nach¬
folgt, wo der Grund und wo die Folge ist. Der Häuptling der
M a b u i a g rühmte sich, er kenne in seinen Fischereiexpeditionen
keine Mißerfolge. Einige Tage später war sein Fischen vergebens
und er zerbrach die Spitze seines Harpuns. In 3—4 Tagen darauf
starben im Dorfe ein Kind, dann zwei Frauen. Sofort sah der
Häuptling die Erklärung für seine Mißerfolge in diesen Todesfällen
und freute sich, in der Überzeugung, daß er selbst daran keine
Schuld trug').
Auch unbelebte Gegenstände nehmen teil an unheilvollen Er¬
lebnissen und kündigen deren Eintreten an. In China werden
Kalamitäten beschrieben, welche als Folge des Fallens der Gegen¬
stände übereinander ohne sichtbare Ursache eintreffen.
Die mystische Anteilnahme verbindet so untereinander die
disparatesten Objekte und Begebenheiten, ein eigenartiger allumfas¬
sender Determinismus wird geschaffen, welcher unsere objektive Natur
ersetzt, oder ihr vielmehr, historisch gesprochen, vorausgeht. Auch
diese mystische Naturordnung hat ihre Gesetzmäßigkeit, ja es wird
hier den unbedeutendsten Regelmäßigkeiten ein hoher Wert beigelegt,
weil die Hierarchie unter den Erscheinungen, welche die logische Men-
') The Cambridge-Expedition to Torres-Straits. V. p. 361, zit. nach
Levy-Bruhl.
80
talität aufbaut, noch nicht existiert und alles gleich bedeutsam werden
kann. Die von Livingstone beobachteten afrikanischen Neger
kämpfen gegen jede ungewöhnliche Erscheinung und trachten danach,
sie zu vernichten. Sie nennen sie „Tloto“ oder nach der Übersetzung
von Livingstone Überschreitung (Transgression). Sie töten die
Albinos, die Kinder, welche die oberen Zähne vor den unteren be¬
kommen, Geflügel, welches vor Mitternacht schreit usw. Denn von
jeder solchen „Überschreitung“ könnten offenbar die tiefgreifendsten
unheilvollsten Folgen für den Primitiven und den ihm günstigen
Naturverlauf ausgehen; oder die Überschreitung ist ein Zeichen einer
schon eingetretenen Verwirrung und eines schon vorbereiteten Unheils.
Wir sehen: es lassen sich bei dem Studium der prälogischen Men¬
talität keine Grenzen in der Zeit aufstellen, die Zukunft spielt in die
Gegenwart hinein und beeinflußt die Vergangenheit, wie ungereimt
auch diese Auffassung für unsere logische Mentalität erscheint. Die
ausnehmende Wichtigkeit der mystischen Einflüsse veranlaßt den
Primitiven, stets auf der Hut zu sein und den möglichen Einwirkun¬
gen nachzuspüren. Geheime Zusammenhänge erfordern geheime Be¬
obachtungsmittel, welche sich nicht nur auf die Vergangenheit (z. B.
Gerichtspraktiken) und auf die Gegenwart, sondern auch auf die Zu¬
kunft erstrecken. Die große Wichtigkeit, die bei den Primitiven der
Weissagung beigemessen wird, ist ja allgemein bekannt. Es wird da
nach allen möglichen Zeichen über die Zukunft geurteilt und die
wichtigsten Angelegenheiten des Stammes sind aufs engste mit den
Praktiken der Seher verbunden. „Ja,“ sagte ein Häuptling Dayak
zum Rajah Broocke, „meine Leute sind heuer mit der Reisernte zufrie¬
den, weil wir keine Warnung unserer Vorzeichen vernachlässigt
haben; wir haben die Hantus (Geister) beruhigt, indem wir die Alliga¬
toren gefangen, die Schweine getötet haben, um ihr Herz zu unter¬
suchen und wir haben unsere Träume richtig gedeutet. Das Resultat
davon ist eine schöne Ernte; jene, die es unterlassen haben, so wie
wir zu tun, bleiben arm, künftig werden sie mehr achtgeben müssen“ 1 ).
Die Praktiken der Weissager sind wesentlich magisch, denn
wenn sie auch oft natürlichen Zusammenhängen nachspüren sollen,
so wissen wir ja, daß diese Zusammenhänge für den Primitiven nichts
weniger als. natürlich sind, indem sie alle mystisch bedingt werden.
Können aber die mystischen Anteilnahmen auf magische Art auf¬
gedeckt werden, so kann man sie auch auf magische Art beeinflussen.
Man braucht sich nur in die mystische Anteilnahme gleichsam einzu-
') Brooke, Ten yeare in Sarawak. II. p. 203. Zit. nach L6vy-Bruhl.
81
schleichen und gegen ihre geheime Macht eine höhere Macht auszu¬
spielen. Wir sahen, daß man durch den Intichiuma das zahlreiche
Vorkommen der Totemtiere, das rechtzeitige und reichhaltige Ein¬
treffen der Regenfälle zu erwirken sucht und wir bemerken, daß in
China die Klöster vom Volke erhalten werden, nur damit die Mönche
durch ihre Gebete die Regelmäßigkeit der Niederschläge erhalten.
Die magischen Wirkungen sind auf tausendfachen Wegen zu er¬
zielen. Alle Gegenstände können zu ihren Trägem erwählt werden,
wobei die Wahl oft durch die äußerlichsten — nach unseren Begriffen
— Zusammenhänge bestimmt wird. In China kann man unzählige
Praktiken beobachten, welche, nach dem treffenden Ausdruck von
Ldvy-Bruhl, sich oft wie Wortspiele in Aktion (Calembours en
action) ausnehmen.
Bei dem Begräbnisse beeilt sich der Sohn des Verstorbenen, in
einem bestimmten Augenblicke etwas Vermicelle (lange Nudeln) zu
verschlucken, damit diese langen Fäden den das Leben verkürzenden
Einfluß der Trauergewänder, welchen seine Person erleiden könnte,
neutralisieren 1 ). Von allen Gegenständen können solche magische
Einflüsse ausgehen. Die Nahrung, die Kleidung spielt dabei eine ge¬
wichtige Rolle. Ich finde besonders prägnant das Beispiel jenes ma¬
laiischen Häuptlings, welcher es verweigerte, ein Hirschfell in sein
Boot mitzunehmen, aus Furcht, daß die Furchtsamkeit des Hirsches
auf seinen minderjährigen Sohn übergehe. Es ist bekannt, daß die
Primitiven durch die Nahrung die Eigenschaften der verzehrten Tiere
resp. der erschlagenen Feinde oder verstorbenen Häuptlinge zu er¬
werben glauben.
Jede Handlung des Primitiven kann magische Bedeutung er¬
halten, indem sie zu einer mystischen Anteilnahme in Beziehung ge¬
bracht wird. Die Gegenstände partizipieren an dem Tun und Sein
des Menschen. In Japan müssen die Bäume durch junge Männer ge¬
pfropft werden, weil der Pfropf das Maximum an Vitalkraft enthalten
soll. Bei den Baganda bringt eine unfruchtbare Frau Unglück über
ihres Mannes Garten, der keine Früchte trägt, wohingegen eine frucht¬
bare Frau den Garten zum Gedeihen bringt.
Besonders schön ist das Beispiel des Inders, der im Frühling mit
seiner Frau eine Liebesnacht auf dem Acker verbringt, um so den
Boden zur Fruchtbarkeit anzuregen. Viele andere magische Prak¬
tiken bauen sich auf der Ähnlichkeit auf; so z. B. verspritzt man
Wasser, um Regen hervorzurufen.
') De Groot: The religions System of China, I. p. 68, p. 208, zit. bei
L6vy-Bruhl.
Bycbowski, Metaphysik und Schizophrenie. (Abhandl. H. 21.) 6
82
Um einen Menschen magisch zu beeinflussen, genügt es oft, sich
Dinge zu bemächtigen, die mit ihm irgendwie in Zusammenhang
stehen. Man kann ihn bezaubern, ja töten, wenn man seine Kleider,
seine Nahrung anrührt; man kann ihm auch jedes Unheil antun, wenn
man sich seinen Speichel, seinen Urin, seine Nägel und Haare an-
eignet. Besondere Wirkungen kann man auch mittels seines Bildes
erzielen, welches in mystischer Weise mit dem Original verbunden
bleibt. (Es erinnert dieser Zusammenhang an das Verbrennen in
Eifigie als Bestrafung des Abwesenden.) Auch mit dem Namen
hängen mystische Eigenschaften zusammen.
Wie es Spezialisten gibt, welche in der Magie Besonderes leisten,
so existieren auch Objekte, welche mit besonderer magischer Kraft
ausgestattet, von den Primitiven hoch geschätzt werden. Solche Ob¬
jekte sind: Fetische, Amulette, Talismane. Sie dienen zum Zauber
und zum Gegenzauber und in dieser letzteren Rolle bieten sie dem
Primitiven, der von allen Seiten von magischen Einflüssen bedroht
wird, mächtigen Schutz. Wenn schon unbelebte Gegenstände hohe
magische Bedeutung erlangen, so ist es selbstverständlich, daß auch
Tiere zu Trägem mystischer Kräfte werden. Für den Primitiven gibt
es eben keine streng gezogene Grenze zwischen den menschlichen,
tierischen und unbelebten Welten, denn eine geheime mystische Kraft
wohnt allem inne und alles ist in gewissem Sinne belebt.
Im Grunde des totemistischen Systems liegt die Anteilnahme der
Kollektivität an den geheiligten Tieren und diese Beziehung ist so
eng, so intim, daß wir sie in unserer begrifflichen Sprache kaum aus-
drticken können. Wenn die Trumii, ein nordbrasilianischer
Stamm, Wassertiere zu sein wähnen, wenn die Bororo (ein Nach¬
barstamm) sich rühmen, daß sie Araras (rote Papageien) sind, so be¬
deutet das nicht nur, daß sie nach ihrem Tode Araras werden, oder
daß die Araras veränderte Bororo sind; sie meinen mit dieser Be¬
hauptung eine wesentliche Identität, sie sind schon gegenwärtig
Araras (L 6 v y - B r u h 1).
Diese für die logische Mentalität unbegreifliche Aufstellung führt
uns das Wesentliche der prälogischen Mentalität mit großer Klarheit
vor. Man ist etwas und man ist zugleich etwas anderes, ohne aufzu¬
hören, das erste zu sein. Das Gesetz des Widerspruches, A kann nicht
zugleich nicht A sein, ist die selbstverständlichste Grundlage unserer
logischen Operationen; nun erblicken wir auf einmal eine Mentalität,
welche sich darum nicht im Geringsten kümmert.
Und hier kommen wir nun zum springenden Punkt dieser ver¬
gleichenden Skizzierung. Sobald das Gesetz des Widerspruches keine
83
Gültigkeit mehr hat, eröffnen sich für die Psyche Möglichkeiten,
welche ihr die logischen Schranken nie gestattet hätten. Die Be¬
griffe bekommen elastische, verfließende Umgrenzungen und können
jederzeit je nach der Einstellung und nach dem Bedürfnis der
mystischen Anteilnahme ihren Sinn und ihren Inhalt verändern. Es
gibt eigentlich keine kontradiktorischen Begriffe mehr, es gibt keine
unverträglichen Gegensätze.
Die auf dieser Entwicklungsstufe gebildeten Kollektivvorstellun¬
gen unterscheiden sich also wesentlich von unseren Begriffen. Sie
enthalten als wesentliche Hauptbestandteile emotionale und mysti¬
sche Elemente, sie sind ein Ausdruck der nicht klar gedachten, wohl
aber erlebten Anteilnahme.
So und nur so ist es zu erklären, daß für den Primitiven zwei
Gegenstände, welche auf irgendeiner, wenn auch noch so schwachen
Brücke Zusammenhängen, in ihren wesentlichsten Eigenschaften und
in ihrer Bedeutung zusammenfallen können. Wir erinnern an die Be¬
deutung, welche dem Bilde und dem Namen beigemessen wird, so daß
dieselbe zu Objekten, allerlei magischen Praktiken werden und den
Menschen in ausgiebigster Weise vertreten.
Auf dem Wege solcher Zusammenhänge und mystischer Partizi¬
pationen kommen die eigentümlichsten mystischen Abstraktionen und
Verallgemeinerungen zustande.
Die prälogische Mentalität abstrahiert nach dem Gesetze der
mystischen Anteilnahme. Frägt man die Eingeborenen nach der
Bedeutung gewisser Zeichnungen, so bekommt man zur Antwort, die¬
selben seien gemacht zum Spiel und haben keine Bedeutung. Aber
dieselben Zeichnungen, ganz identisch in ihrer Form mit den ersten,
haben eine ganz bestimmte Bedeutung, sobald sie sich auf einem ritu¬
ellen Gegenstand oder an einer besonderen Stelle befinden.
Diese Stelle findet sich immer an einem heiligen Platze, dem sich die
Frauen nicht nähern dürfen 1 ). Eine heilige Stange (Nurtunja) sym¬
bolisiert einen streng bestimmten Gegenstand, obwohl sie äußerlich
einer andern Stange vollkommen gleich ist, welche ein ganz anderes
Objekt darstellt.
Diese eigenartigen Abstraktionen gründen sich offenbar auf An¬
teilnahme, welche zum Beispiel die Stange mit dem ihm zugewie¬
senen Objekte fest und unzertrennbar verbindet.
Schließlich sind gewisse Objekte, zum Beispiel bestimmte Zeich¬
nungen nicht mehr das, was sie dem Scheine nach darstellen, „son-
') Spencer u. Gillen, The native tribes of central Australia, p. 617.
Zit. bei L6vy-BruhL
6 *
84
dern ausschließlich, was sie darstellen sollen“. „Die B a i n i n g sehen
in ihren traditionellen Zeichnungen eine Muschel, ein gewisses Blatt,
ein menschliches Gesicht usw. Diese Vorstellung ist bei ihnen -so
verankert, daß man Bestürzung auf ihrem Antlitz sehen kann, wenn
man nach der Bedeutung dieser Zeichnungen fragt; sie können es
nicht begreifen, daß nicht ein jeder sofort den Sinn erfaßt“ 1 ).
Die mystischen Verallgemeinerungen haben keinen Berührungs¬
punkt mit unseren Allgemeinbegriffen. Für die H u i c h o 1 s (Mexiko}
ist Korn, Hirsch und Hikuli (heilige Pflanze) in einem gewissen Sinne
dasselbe; sie nehmen alle teil an mystischen Eigenschaften von höch¬
ster Bedeutung für den Stamm; sein Leben und Gedeihen ist in mysti¬
scher Weise an sie gebunden. Die gleichen Objekte gehen auf Grund
anderer Participationen andere Identifizierungen ein. Wolken, Baum¬
wolle, weißer Schwanz eines Hirsches, sein Horn und auch er selbst
werden gleichgesetzt den Federn. Man glaubt auch, daß die Schlan¬
gen Federn haben. Der Hirsch, der schon Korn und Hikuli gewesen,
ist nun auch Federn. Die hier zugrunde liegende Anteilnahme be¬
steht in den mystischen Eigenschaften, welche den Vögeln und darum
auch ihren Federn zugeschrieben werden. Die Vögel, besonders Adler '
und Falke, hören alles, desgleichen ihre Federn. Diese letzteren über¬
nehmen die mystischen Potenzen der Vögel, sie bringen Gesundheit,
Glück und Leben. Mit ihrer Hilfe können die Schamanen alles hören,
was man ihnen unter der Erde und von allen Stellen der Welt aus
sagt, mit ihnen können sie ihre magischen Praktiken betreiben. Je
mehr Federn darum der Eingeborene besitzt, um so glücklicher schätzt
er sich. Die Feder von höchster Macht aber ist der Hirsch. Jeder
Teil des Hirsches wird Feder genannt und als solche hoch geschätzt.
So kann der H u i c h o 1 sagen: Hirsch ist Feder, da ihm diese Identi¬
tät nur einen Ausdruck der mystischen Anteilnahme bedeutet.
Durch die gleiche alogische Einstellung ist es zu erklären, daß es
oft, wie L6vy-Bruhl bemerkt, unmöglich ist, zu entscheiden, ob¬
eine Tätigkeit immanenten oder transitiven Charakter hat. Für den
Primitiven ist Intichiuma beides zugleich, da die zeremoniell-magische
Tätigkeit des Stammes einen unmittelbaren Einfluß auf das Totemtier
ausübt; die Ernährungsweise der daheim gebliebenen Frau des Jägers
ist transitiv, indem sie den entfernten Gatten beeinflussen kann. Wir
bemerken zugleich, daß dieser primitive Transitivismus keine Grenzen
in der Zeit und im Baume kennt. Ist einmal die Schranke Psyche-Welt
aufgehoben, kann jede menschliche Tätigkeit Wirkungen außerhalb
') Parkinson, Dreißig Jahre in der Südsee. p..621 bis 627. Zit. bei
L6vy-Bruhl.
85
des ihr zugewiesenen natürlichen Bereiches ausüben, so ist kein Grund
vorhanden, diesen Wirkungskreis einzuschränken. Man setzt sich mit
einem Schlage außerhalb der engen Schranken des raumzeitlichen
Kontinuums, so wie man sich außerhalb der Schranken eines begrenz¬
ten Könnens gesetzt hat.
Auch lungekehrt wird man von Tätigkeiten und Ereignissen be¬
einflußt, welche für die objektive Einstellung rein immanent und nicht
transitiv erscheinen und welche sich in einem fremdartigen Bereiche
abspielen. Ob sie von anderen Menschen ausgehen oder mit der rein
menschlichen Welt nichts zu tun haben, ist gleich. Es gibt für den
Primitiven keine Erscheinung, kein Objekt und kein Wesen, welche
nicht sein Leben und Treiben beeinflussen könnten.
Bei dieser Einstellung ist es klar, daß der Primitive keine Grenze
zwischen der sichtbaren und unsichtbaren Welt, zwischen den sicht¬
baren und unsichtbaren Eigenschaften der Dinge kennt. Das, was
wir etwa sinnliche und übersinnliche Welt nennen würden, fließt
ihm zu einem einzigen von mystischen Kräften beseelten Kontinuum
zusammen.
Bei der Wichtigkeit dieser Kräfte und Eigenschaften ist die
primitive Wahrnehmung auf sie eingestellt und sie bedeuten ihr nicht
weniger, ja sogar viel mehr als die jederzeit zugänglichen objektiven
Eigenschaften. Die subjektiven und mystischen Elemente bilden
darum den wesentlichen Bestandteil der Wahrnehmung und der
Traum ist für den Primitiven eine bevorzugte Wahrnehmungsart,
weil hier die materiellen und sichtbaren Elemente auf das Minimum
reduziert sind.
Wir haben gesehen, daß auch die Weissagung und die magischen
Gerichtspraktiken eine Art privilegierter Wahrnehmung darstellen.
Es ist klar, daß die prälogische Wahrnehmung von der logischen
wesentlich verschieden ist. Diese sucht die objektiven Eigenschaften
der Dinge festzustellen, von subjektiven Elementen möglichst zu
abstrahieren, jene kennt solche Differenzen nicht, kümmert sich
nicht um unsere Schranken, welche das Objektive vom Subjektiven
scheiden.
Die Kriterien, welche wir für die Richtigkeit unserer Wahr¬
nehmung aufstellen, haben naturgemäß für den Primitiven keine Be¬
deutung. Er fordert nicht, daß seine Wahrnehmungen bei den gleichen
Bedingungen allgemein zugänglich und für alle gleich seien und ihre
Einzigkeit oder Seltenheit veranlaßt ihn nicht zum Zweifel an ihrer
Richtigkeit. Es geschieht oft, daß Erscheinungen nur für bestimmte
Personen sichtbar sind, ohne daß sich jemand darüber wundert.
86
Die Neger Zentralaustraliens glauben, die Sonne suche nachts die
Orte auf, wo sie am Morgen aufgeht. Geschickte Medizinmänner
können sie daselbst nachts erblicken; die Tatsache, daß gewöhnliche
Menschen sie nicht mehr sehen können, beweist nur, daß sie nicht die
nötige Macht haben, nicht aber, daß die Sonne nicht dort sei. In der
magischen Zeremonie „mit einem Knochen töten“ (pointing the death
bone) wird eine ganze Reihe von Praktiken ausgeführt, welche
niemand von den Anwesenden sehen kann, an deren Realität aber
keiner zweifelt: „Das Blut des Opfers geht in unsichtbarer Weise von
ihm zum Zauberer und von da in ein Gefäß ein, wo es aufgenommen
wird; gleichzeitig durch eine entgegengesetzte Bewegung geht ein
Knochen, ein magischer Stein vom Zauberer zum Körper des Opfers,
dringt in dasselbe ein — alles unsichtbar — und ruft eine tödliche
Krankheit hervor 1 ).“
Ein junger Medizinmann erzählt, wie er während seiner Einweihung die
Jir (Phantome) zu sehen begann, welche seine Mutter nicht sehen konnte.
Miß Kingsley berichtet, daß sie einen Neger ganz allein sprechen hörte,
als ob er sich mit einer für sie unsichtbaren Persönlichkeit unterhielte; er er¬
klärte ihr, er spreche mit seiner verstorbenen Mutter, welche für ihn anwesend
war. Die Kraft der mystischen Anteilnahme, welche den Primitiven mit seinen
verstorbenen Eltern verbindet, erlaubte dem Manne, sich über die Schranke
zwischen der Vorstellung und Wahrnehmung hinwegzusetzen und seinen Glau¬
ben gleichsam zu objektivieren. Denn die Primitiven verkehren mit ihren
Toten nicht nur im Traume, welcher als eine bevorzugte Wahrnehmungsart
besonders geschätzt wird, sondern auch im Wachen. Man kann sie sehen und
hören. Es ist etwas Unsichtbares, wie der Wind; in der Tat, sie sagen, daß
das leichte Rauschen der Palmblätter von den Gespenstern kommt und wenn
ein Wirbel den Staub, die Blätter und Strohhalme erfaßt, sind es die Gespenster,
welche spielen’).
Die Toten sind also nicht in die andere Welt vertrieben, weil
jene andere unsichtbare Welt aufs engste mit der sichtbaren verwebt
ist. Dementsprechend erstreckt sich die Wahrnehmung liier wie in
allen andern Fällen auf das Sichtbare und Unsichtbare, Objektive
und Mystische, welches alles für den Primitiven eine einzige sichtbar¬
unsichtbare Realität bildet.
Dieser Charakter der primitiven Wahrnehmung bedingt eine
Grundeigenschaft der prälogischen Mentalität, welche L 6 v y -
B r u h 1 treffend als die Undurchdringlichkeit für die Erfahrung
(impermeabilitö a l’exp6rience) bezeichnet.
') W. E. Roth, Ethnological Studies Among the N. W. central Queens¬
land aborigins, p. 269, zit. bei L 6 v y - B r u h 1.
') R o s c o e , Manners and Custons of the Baganda. J. A. I., XII, II,
p. 73. Zit. bei L 6 v y - B r u h 1.
87
In der Tat wird einem Objekt auf Grund der mystischen Anteil¬
nahme eine Eigenschaft zugeschrieben, so wird an dieser Überzeugung
festgehalten, auch wenn sie von der objektiven Erfahrung nicht be¬
stätigt wird. Beziehungen und Zusammenhänge werden aufgestellt,
Erklärungen aufgebaut, welche mit der Erfahrung nichts zu tun haben
und welche dennoch den höchsten Wirklichkeitswert besitzen. Ver¬
sagt ein Fetisch, der die Unverletzbarkeit sichern soll, so ist ein
stärkerer Gegenzauber im Spiele oder der betreffende Fetischträger
hat sich irgend etwas zuschulden kommen lassen. Stirbt ein Ver¬
wundeter, so ist die eventuelle Wunde nicht die Ursache seines Todes,
sondern es ist die böswillige Kunst des Zauberers. „Die Eingeborenen
sind überzeugt, daß dieser sterben wird, wenn sie Herz und Zunge
seines Opfers gleich nach dem Tode herausnehmen, auf dem Feuer
rösten und den Hunden zu fressen geben. Obwohl schon viele Herzen
und Zungen auf diese Art verzehrt wurden und noch nie ein Zauberer
unmittelbar danach starb, bleiben die A b i p o n e n nichtsdesto¬
weniger dem Brauch der Ahnen treu und unterlassen es nicht, Herz
und Zunge der Kinder und Erwachsenen beiderlei Geschlechts aus¬
zureißen, sobald diese nur den letzten Atemzug gemacht haben.“
Bericht« der Forscher enthalten viele Erzählungen darüber, wie sie
die Eingeborenen ohne jeden Erfolg von der Unhaltbarkeit ihrer Auf¬
stellungen zu überzeugen versuchten.
An dieser Stelle nun wollen wir die Parallele der primitiven und
schizophrenen Mentalität beginnen, weil die Undurchdringlichkeit für
die Erfahrung den wesentlichsten Zug unserer Kranken ausmacht.
Wir beobachten täglich, daß sich die Kranken durch die grellsten
evidenten Erfahrungstatsachen von ihren Behauptungen nicht ab¬
bringen lassen. Nur ein typisches Beispiel:
Ein Kranker beklagt sich fortwährend über die ungenügende Ernährung,
welche eine unerhörte Gewichtsabnahme zur Folge haben soll, der Arme soll
nur 25 Pfund wiegen: sein Thorax hat nur 55 cm Umfang. Ich messe nun
seinen Thorax und zeige ihm, daß dieser 96 cm Umfang hat. Der Kranke hat
die Erklärung bereit, man habe mit dem Hemd gemessen. Während das
Maß ohne Hemd immerhin noch 90 cm beträgt, gibt sich der Mann nicht zufrie¬
den; das käme, so erklärt er, von dem vielen Wasser, welches er in der letzten
Zeit trinke. Ich führe ihn zur Wage. Er wiegt 66 kg. kann es mit eigenen
Augen kontrollieren, aber nein, es sind dies keine Kilogramme, sondern Pfunde
und zornerfüllt spricht er das letzte Wort: er weiß es bestimmt, daß es Pfunde
sind ... er hat ja die ganze Wage gemacht. Derselbe Kranke gebraucht ein¬
mal wissentlich die falsche Form „j’aie u“ statt der richtigen „j’ai eu“; auf
meine Bemerkung, diese Rechtschreibung sei nicht die richtige, antwortet er:
-C'est moi Porthographe, je suis la grammaire, le Larousse, le monde.“
Die subjektiven Aufstellungen haben für die Kranken eine unver¬
gleichlich stärkere Wirkung als die objektiven Zusammenhänge und
88
sie kümmern sich nicht um die Übereinstimmung mit der Wirklichkeit
und die Korrektur der Erfahrung. Es kann an einer Behauptung^
jahrelang festgehalten werden, trotzdem sie durch den Augenschein
sofort widerlegt werden sollte. Ein Kranker erzählt, daß ihm in der
Nacht ganze Blätter seiner Haut und ganze Stücke Fleisch ausge¬
schnitten werden, und er hält an dieser Behauptung konsequent fest,
offenbar, weil für ihn diese pathologische Erfahrung einen ganz ande¬
ren Evidenzwert hat als die normale Erfahrung, seiner unversehrten
Sinnesorgane.
Derselbe Kranke zieht es vor, Charpie zu zupfen, als sich mit der
Anfertigung von Papiersäcken zu beschäftigen. Er erklärt uns, daß,
indem er die Stoffetzen zerreißt, reißt er gleichzeitig Blätter aus sei¬
nem Körper und so wird es mit ihm schneller zu Ende sein. Durch
bloße Analogie wird hier eine Tätigkeit als auf ein anderes Gebiet be¬
zogen-vorgestellt. In unbegreiflicher Weise nimmt der Kranke an den
zerrissenen Fetzen teil. Dieses Verhalten erinnert uns lebhaft an die
Zauberpraktiken der Primitiven. Ein Zusammenhang wird aufgestellt,
wo wir keinen sehen können, eine Art Kausalität, welche keine ist und
welche dem Kranken als eine evidente Anteilnahme einleuchtet.
. Kann unser Kranker sich selbst auf diesem Wege zerstören, so
wird es uns nicht verwundern, daß ein anderer schädliche Einflüsse
befürchtet, welche in gleicher Weise von seiner Umgebung ausgehen
können. Es erscheint ihm „als Zauberei“, daß seine Nachbarn Char¬
pie zupfen und daß man ihn selbst zu dieser Arbeit auffordert; auch
verweigert er es, den Urin in ein Glas zu lassen, weil er nicht weiß,
was man daran versuchen könnte.
Wir haben es hier mit wörtlicher Neuauflage der primitiven Auf¬
fassungen zu tun.
Auch teilen manche Kranke die primitiven Theorien von dem
Ursprung der Krankheit. Es gibt keine wirklichen Krankheiten, be¬
hauptet einer (A. L.), sie sind alle gemacht von Magiern oder Ärzten
(wir erinnern hier, welche innige Verwandschaft den Zauberer mit dem
Medizinmann verbindet, welcher ja der Vorfahre des Arztes ist). Der¬
selbe Kranke schreibt seine Gesichtsakne den Verfolgern zu. Sie
machen ihm dies durch Gedankenübertragung, durch das Wort, wel¬
ches im Stillen wiederholt wird. Desgleichen seine Blepharitis: „II
suffit qu’ils röpötent plusieurs fois, croütes aux yeux, croütes aux yeux
pourque j’aie cela“. So leicht hatten es kaum die Zauberer und Magier
aller Zeiten. Ein anderer weiß, daß man ihn in magischer Weise be¬
arbeitet und krank macht; es waren ursprünglich nur einige Verfolger
daheim, jetzt beteiligt sich das gesamte Personal der Anstalt an der
89
magischen Verschwörung, welcher er zum Opfer fällt. Seine stark
gespannte, nach aller Richtung hin offene Zauberkausalität (W u n d t)
ist immer bereit, neue Objekte in ihr Bereich einzubeziehen. Man
zieht dem Kranken Bestandteile seines Körpers, Blutes, Gehirnes und
Samens ab, um mit diesen Elementen zu arbeiten und weitere bös¬
willige magische Wirkungen zu erzielen. Er hat kein Blut mehr oder
vielmehr, da ich ihn, um diese Behauptung zu widerlegen, stechen
will, sein Blut steht still; sein Herz klopft nicht mehr und es spielt
keine Rolle, da«* ich den Puls fühle, denn sobald ich mich entferne,
wird er wieder sistieren (Undurchdringlichkeit für die Erfahrung).
Ein Wärter hält einen Becher mit Limonade in der Hand: von dieser
mysteriösen Flüssigkeit gehen Ströme und magische Wirkungen aus,
welche unseren Patienten „ziehen“. Ein Mitpatient spielt mit einer
optischen Linse: Strahlen werden gesammelt und in seinen Körper
hineingeleitet.
Lydia, welche wir am Eingang dieser Erörterungen erwähnt
haben, macht ihre körperliche Krankheit (Appendizitis mit Abszedie¬
rung) von den heimlichen Wirkungen der Ärzte abhängig, zu denen
sie eine stark erotische Einstellung hat. Der Arzt hat ihr „viel
Leben“ abgezogen, indem er immer so rasch an ihr vorbeiging; er
nähert sich den Menschen zu sehr und zieht ihnen das Leben ab, in¬
dem er mit ihnen spricht. Seine Haut, sein Körper (sa chair) zieht
das Leben der Menschen an, es gibt anziehende und abstoßende Kör¬
per, jener des Arztes verzehrt die Menschen, der Arzt ist ein Weiber¬
verzehrer. Wenn Lydia sich übergeben muß, so ist daran der Kon¬
takt mit Vorübergehenden schuld, hat sie an einem Tage keine
Bauchschmerzen, so kommt es von den Ausstrahlungen der Wärterin
und des Arztes; die Wärterin darf die Anstalt nicht verlassen, Lydia
ist mit ihr durch das „Wort“ aufs Leben verbunden.
Lydia hat auch andere Vorstellungen, welche an die primitive
Mentalität erinnern. So mißt sie der Nahrung eine mystische Be¬
deutung bei und spricht von der Gemeinschaft durch das gemein¬
same Speisen und Trinken, wie sie von der Gemeinschaft durch das
Wort spricht. Wird die Nahrung von einer lieben Person gereicht, so
tut es ihr wohl im ganzen Körper, in den Gedärmen, „weil sie die
Person lieb hat“.
Bei dem Kranken A. T. finden wir in ausgearbeiteter und moder¬
nisierter Form die zauberhaften Krankheitstheorien wieder. Er leidet
an aufs stärkste ausgeprägten Halluzinationen des Gemeinsinnes und
anfallsweise an Asthma bronchiale. Seine zahlreichen Verfolger be¬
arbeiten ihn mit elektrischen Strömen, mit Sauerstofflampen (oxy-
90
gene-occire = unmerklich zerstören). Durch diese elektrischen
Ströme oder Elemente führt man in seinen Körper Würmer ein (vgl.
die Ätiologie des Rheumatismus bei den Cherokees: „jener der
hineinkommt, ein schlangen- oder fischähnliches Wesen); ein an¬
derer Patient spricht von einer Schlange, welche jede Nacht in seinen
Körper hineindringt und ihn krank macht. Auch haben seine Ver¬
folger große Gefäße, welche je 100 Liter Urin enthalten, welchen man
ihm durch den Penis bis zum Mund hinführt. Bei Asthmaanfällen
spricht der Kranke außerdem von einer Scheibe, welche man in
seinen Larynx einführte oder von einer Kette, welche daselbst in
transversaler Lage befestigt wurde. Wenn er nach dem Spezialisten
verlangt, welcher diese „Fremdkörper“ entfernen soll, so müssen wir
an jene Medizinmänner denken, die aus dem Körper ihrer Patienten
in Form eines Holzstückes oder eines Steines die Krankheit zu ent¬
fernen vorgaben.
Wir erinnern endlich an die Auffassung, welche sich Julien T.
von seiner Krankheit zurechtlegt. Im Alter von 13 Jahren hat ihm
der Verfolger Magnesium in das Essen hineingetan, dieser „Magnesis¬
mus“ wirkt fortwährend, manchmal ist auch die Rede vom Queck¬
silber, beides wird von Gedankenübertragung und Gedankenentwick¬
lung (transmission, evolution) kaum unterschieden. Magnesium, das
sich in seinem Körper verbreitet, ist nun das Vehikel der magischen
Beeinflussung durch den Verfolger. Auf diesem Wege -werden dem
Kranken Bilder zugeschickt, Gedanken entzogen und eingegeben, der
Verfolger selbst zeigt sich mit plastischer Deutlichkeit. Aber auch
die rein körperlichen Vorgänge werden auf diesem Wege beeinflußt
und es ist von hohem Interesse, zu sehen, wie die natürlichsten kör¬
perlichen Erscheinungen in den Bereich der magischen Deutungen
eingezogen werden.
Bei dieser mystischen Auffassung vom Wesen der Krankheit ist
es nur konsequent, wenn sich unsere Patienten von der Behandlung
wenig Wirkung versprechen. Geht die Krankheit von bestimmten
wenigen Verfolgern aus, so können die Kranken an die Vernichtung
des Verfolgers denken, so Julien T. Andere suchen dem Zauber
durch Gegenzauber zu begegnen. Man kennt in den Anstalten jene
Patienten, welche sich durch ein eigens angefertigtes Tekturschild
vor den elektrischen Strömen zu schützen suchen; eine Patientin von
mir hält das Bettuch in der Form eines Schildes vor sich, um sich vor
den Blicken anderer zu schützen, welche ihr in den Augen wehe tun
und an ihrem ganzen Gesicht „ziehen“.
Soviel von der Krankheit. Die Idee des Todes scheint unsere
Kranken weniger zu beschäftigen, es ist dies wohl jener Glaube des
91
Unbewußten an die Unsterblichkeit, von welchem Freud gespro¬
chen hat. Der vielfach erwähnte A. L. erzählte mir gelegentlich Fol¬
gendes: Jemand in der benachbarten Zelle schickt ihm durch die Ge¬
dankenübertragung eine Ratte. Er sieht das Tier bei dem Mittag¬
essen in seinem Suppenlöffel, später sieht er es im eigenen Kopfe.
Trotz Lebhaftigkeit, Intensität und Deutlichkeit hält A. L. die Er¬
scheinung für bloße Vorstellung, welche man ihn durch ein Mirakel
sehen ließ und er erklärt: „Was ich mir vorstelle, das lasse ich Sie
sehen“. Die Bedeutung der Pseudohalluzination erklärt er folgen¬
dermaßen: es ist eine Kellerratte. Man sagte ihm: „Tod den Ratten“,
so heißt auch das Gift, welches man zur Ausrottung der Ratten ge¬
braucht. Aber das Gegenteil davon ist wahr, nicht Tod den Ratten,
sondern die Ratte wird ihn auffressen. Kellerratten sind böse Per¬
sonen, welche, im Keller versteckt, andere massakrieren. Keller¬
ratten sind auch Geheimpolizisten, welche Kontrolle über die Knei¬
pen haben und bei dieser Gelegenheit die Weine im Keller probieren.
Die Ratten werden durch das Gift getötet, sie vernichten den Kran¬
ken durch Gedankenübertragung, durch Gift. Denn am bloßen Gift
kann man nicht zugrunde gehen, dazu gehört noch eine Einspritzung
und Gedankenübertragung.
Diese letztere Äußerung ist besonders wertvoll, da sie ein ge¬
treues Abbild der primitiven Auffassungen darstellt 1 ).
Interessant ist auch die reiche Überdeterminierung der Pseudo¬
halluzination. Zwischen der Einspritzung und der Gedankenüber¬
tragung macht A. L. keinen deutlich greifbaren Unterschied, welche
Vermengung psychischer und physischer Einflüsse für die primitive
Mentalität typisch ist.
Die Geburtstheorien unserer Kranken weisen deutliche primitive
Einschläge auf. In den mystisch-erotischen Delirien werden die schi¬
zophrenen Frauen vom Geiste des entfernten Geliebten, von seinem
Wort, durch die Gedankenübertragung befruchtet. Aus dem mystisch¬
sexuellen Verkehr mit Gott oder zu seiner Dignität erhobenem Ge¬
liebten, entspringt dann ein neuer Heiland, Julius Cäsar, Welterlöser.
Wie bei den Primitiven wird die große Bedeutsamkeit der Sexuali¬
tät und die besondere Wirkung des Geschlechtsaktes in einer zau¬
berischen Substanz hypostasiert, welche an ihren natürlichen Träger
nicht mehr unbedingt gebunden ist und ihn unter Umständen verlas-
') Die angeblich vergifteten Pfeile der Melanesier sind, wie die Analyse
geieigt hat, nur verzaubert, mit Mana begabt. Diese mystische Kraft ist es,
welche sie so gefährlich macht. Hubert&Mauss, Theorie g6n6rale de la
magie, p. 11.
92
sen kann, um selbständig ihre machtvollen Wirkungen zu entfalten.
Der mehrfach erwähnte Patient A. L. hat auch seine eigene Geburts¬
theorie, welche eng mit seiner kosmogonischen Konzeption zusam¬
menhängt.
Der erste Mensch erschuf sich selbst durch den Luftstrom. Er
hatte zwei Köpfe, es war der Gott. Die 2 Köpfe waren Kain und
Abel. Dieser Demiurg erschuf einen Stein und umgab ihn mit dem
Hauche seines Mundes. So legte sich die Erde um den Stein herum.
Aus demselben Hauche kam der Regen, welcher Tiere und Kinder
schuf. Zwei Köpfe waren für die Schöpfung nötig, weil man durch
das Wort (Parabole ist gleich Parole) schafft und man muß zu zweien
sein, um zu sprechen. Kain war der Mann und Abel das Weib, im
übrigen ist es nicht nötig, daß die beiden Personen verschiedenen Ge¬
schlechts seien, man kann es auch sehr gut unter 2 Männern machen.
A. L. schafft die Kinder durch Gedankenübertragung, in der
Luft, er schafft sie in ungeheuren Mengen; mit Tausenden hat er
schon die Erde bevölkert. Bei dieser übernatürlichen Produktions¬
weise ist es nicht zu verwundern, daß die Kinder oft älter sein kön¬
nen als er, er kann auch Kinder machen, die im Alter von 50 Jahren
zur Welt kommen. Genauere Beschreibung seiner Schöpfungs¬
methode: „Eine Person muß hypnotisiert und gelähmt sein, die
andere aktive erreicht dies, indem sie dem Partner „das Oxyd“ mit¬
tels einer Spritze in die Schläfe einführt. Der aktive Partner läßt
den Passiven reden, dieser macht dann die Kinder in der Luft, durch
die Parabole und durch das Oxyd.
A. L. behauptet, die Ärzte und Wärter sind zum größten Teile
seine Kinder, wenn er sich nicht gerade mit ihnen einfach identifi¬
ziert. Er eignet sich so unsere Namen an und wenn wir einen frem¬
den Arzt durch die Abteilung führen, erkundigt er sich auch nach
dessen Namen und zieht ihn sofort in den Bereich seiner Schöpfungs¬
ideen. Aber A. L. hat auch andere großartige Werke vollbracht, so
ist es er, der die Sonne aus Amerika nach Europa gebracht hat;
bei dieser Gelegenheit erfahren wir, daß die Sonne nur 10 Meter Dia-
meter hat. Auch A. L. hat ja, wie er uns mitteilt, wie wir alle, in der
Schule gelernt, die Sonne sei größer als unsere Erde, aber das sind
lauter Lügen, er weiß es besser. Also auch hier kehrt L. auf die
Stufe der primitiven Mentalität zurück, indem er selbst die von
ihm individuell erworbenen, erlernten logi¬
schen Erkenntnisse verleugnet. Wie unser amtlicher
Prophet, wie unser schizophrener Gott, kann A. L. auch die astro¬
nomischen Erscheinungen beeinflussen. Er könnte den Sonnen-Auf-
93
and -Untergang verschieben, aber dazu müßte er den Kalender ver¬
ändern (er sagt Almanach), denn die Sonne, meint er, richtet sich
nach dem Kalender und den Astronomen — wunderbarer Anklang an
die primitiven Wettermacher und an den Primitiven, welcher durch
den Intichiuma die Naturordnung erhält.
Wird die Geburt zur Yerkörperlichung eines schon existierenden
Geistes, so liegt die Idee der Wanderung dieses Geistes durch ver¬
schiedene Inkarnationen, die Idee der Wiedergeburt auf der Hand.
Die Patientin A. T. entwickelt folgende Wiedergeburtstheorien:
Sie war Napoleon gewesen, der Anstaltsdirektor Maria Louise, der
Rechtsanwalt, welchen sie beschuldigt, ihre Internierung veranlaßt
zu haben, Josephine. Als Napoleon war sie zu Josephine (Rechts¬
anwalt) grausam gewesen und diese rächt sich jetzt, indem sie sie in
die Irrenanstalt einsperrt. Jetzt versteht sie wenigstens den Grund
ihrer vielen Leiden, den mußte sie ja auch finden ... Sie erklärt
uns, die Geister haben kein Geschlecht und darum habe sie sehr gut
Napoleon sein können. Im übrigen habe sie eher männlichen Cha¬
rakter. Sie hätte auch sonst alle ihre Leiden nicht ertragen kön¬
nen, während der Rechtsanwalt ein Schwächling, ein Feigling
ist; wäre er ein Mann, so würde er sie nicht internieren lassen. Das
alles wurde ihr vom Medium offenbart und so wurde sie in ihrer
Verzweiflung getröstet. Jetzt will sie mit Niemandem ihr Schicksal
eintauschen, sie muß es bis zum Ende erdulden; wenn sie ihre Ver¬
fehlungen gebüßt hat, wird ihre Seele Ruhe finden, in der Unendlich¬
keit, in dem Nichts, ansonsten müßte sie eine neue Wiedergeburt
erleiden 1 ).
7 t
Wie die Primitiven setzen sich unsere Kranken über jeden
Widerspruch hinweg, wenn es die psychische Konstellation gebietet.
Die „Visitkarte“ des A. L. zeigt, wie der Kranke jede Identifizierung
eingehen kann, ohne sich nicht nur um Schranken seiner eigenen Per¬
sönlichkeit, sondern auch um den Widerspruch innerhalb seiner
hohen Titel zu bekümmern. Er unterschreibt: Monsieur le Cardinal
L. J. F. Mercier, grand Directeur de l’asile de Cery et votre Majeste
GönSral Wille, Roi des Suisses et Eduard I., Wilson, de Rotschild,
Imperator et Roi des Aciers, votre pöre Celeste Pape Pie X., Marius
Marconi. Auf Grund einer imbekannten Anteilnahme oder eines vor-
‘) Dies erinnert lebhaft an die indische Inkarnationslehre. Auch hier wird
das „Rad der Wiedergeburten“ durch die Ausübung der vedischen Tugenden
und durch die Befreiung von Wünschen, welche zum Nirvana führt, unter¬
brochen; andernfalls muß die Seele weitere Reinkarnationen durchmachen.
94
übergehenden unwesentlichen Zusammenhanges stellt die Patientin
die Gleichung auf: „Mein Bruder ist der Kanton Genf“. So sind
die brasilianischen Bororo rote Papageien, so ist für die Huitschols
Hirsch gleich Feder. Der Wahrnehmung nach wird ja der Hirsch
von der Feder unterschieden, ebenso wie unsere Patientin ihren Bru¬
der mit dem Kanton Genf nicht in Wirklichkeit verwechselt; aber
die Bedeutung, welche den beiden Vorstellungen gegeben wird, ist
momentan die gleiche, und darum können sie einander gleichgesetzt
werden.
Bei den Primitiven geschieht dies auf Grund der kollektiven
mystischen Anteilnahme, bei den Schizophrenen auf Grund der Kom¬
plexe oder bloßer Einfälle, aber die Mentalität, welche das alogische
Resultat ermöglicht, muß in beiden Fällen tief verwandt sein.
Solche Identifizierungen auf Grund von rein subjektiven Be¬
deutungsbereitschaften sind ja für die schizophrene Psyche etwas ge¬
wöhnliches und stellen sie der primitiven Mentalität zur Seite.
Wir erinnern uns, wie die Baiming in ihren traditionellen Zeich¬
nungen Gegenstände erblicken, wo der unbefangene Zuschauer nur
sinnloses Liniengemenge sieht. Auch unsere Kranken deuten allen
Ernstes eigene und fremde Zeichnungen in abenteuerlichster Weise
und sehen Dinge, welche darin nicht einmal angedeutet sind.
Oder aber die Identifizierung stützt sich auf wohl vorhandene
aber äußerst blasse und unbedeutende objektive Zusammenhänge; so
z. B. wenn der Arzt zum Pfarrer wird, „weil er auch so eine sanfte
Stimme hat“.
Zwischen dem Menschen und seinem Bildnis vermögen wir nur
Ähnlichkeit zu sehen, nichts mehr; die beiden Gegenstände gehören
eben für unsere logische Mentalität in total verschiedene Objekt¬
klassen und auch wenn wir mit dem Bildnis einer geliebten Person
einen besonderen Kult treiben, so sind wir uns über die affektive
Grundlage dieser Einstellung klar und wissen, daß wir nur die Er¬
innerung an den Menschen lieben. Für den Primitiven hat das Bild
•die gleiche Bedeutung wie der Mensch resp. der abgebildete Gegen¬
stand und wir führen das Beispiel einer Kranken an, welche sich
beklagte, die Katzen steigen von den Wandbildern herunter und zer¬
reißen ihr die Eingeweide. (Die Autopsie ergab Gebärmutterkrebs,
dessen Metastasen das ganze kleine Becken ausfüllten.)
Einer unserer Patienten glaubt sich von Freidenkern verfolgt;
eines Abends geht er mit dem Hammer an das Denkmal von Michael
Servet heran und will es zerstören. Erklärung: Servet hat ihn an
95
der Verwirklichung eines Heiratsprojektes gehindert, Servet ist der
Götze der Freidenker, welche erbitterte Feinde unseres Kranken sind.
Wird das Bild als gleichberechtigter Repräsentant des Objektes
behandelt, so ist es weiterhin möglich, daß an Stätte des Objektes
Gegenstände gesetzt werden, die in irgendwelchem Punkte mit ihm
Zusammenhängen. Ebenso verhält es sich mit.Handlungen, bei wel¬
chen ja die objektive Zielbedeutung nicht mehr das Wesentliche aus¬
macht und bei welchen infolgedessen bloßer schematischer Form Be¬
achtung geschenkt wird. So kommt es, daß die Kranken nicht nur
zu allerlei symbolischen Darstellungen neigen, sondern auch mit
ihnen vorlieb nehmen und sie als gleichwertige Objekte und Hand¬
lungen auffassen.
Für dieses wohlbekannte Verhalten nur zwei kleine Beispiele.
Der Kranke hält sich stundenlang unter seiner Decke versteckt. Er¬
klärung: Das ist natürlich, er zeigt so weniger seine Gefühle für die Geliebte
und leidet auch weniger darunter, man soll nicht allzuviel Gefühl zeigen.
Derselbe Kranke benützt jede Gelegenheit, um etwas zu zerstören, namentlich
aber gebraucht er das kleinste in seinem Varech gefundene Holzstückchen, um
die Tür der Zelle zu zerkratzen. Macht man ihm Vorwürfe, so erklärt er, er
müsse arbeiten und schaffen, mit dieser Arbeit verdiene er Geld.
Diese Ersatzhandlungen erinnern lebhaft an die primitive Sym¬
bolik, welche durchaus nicht zufällig ebensowenig aber bloß alle¬
gorisch ist, sondern ernsten Sinn hat und der wirklichen Tätigkeit
gleichgesetzt wird. Namentlich aber erinnern so manche schizo¬
phrene Deutungen und Symbolhandlüngen an die oben erwähnten
..Calembours en action“.
Daß der schizophrene Autismus in kümmerlichen Ersatzobjekten
Befriedigung finden kann, erklärt sich dadurch, daß er von der
objektiven Bedeutung dieser Gegenstände abstrahiert, diese Bedeu¬
tung absperrt, tun sie in dem Sinne seiner subjektiven Bedeutungs-
bereitschaften aufzufassen. So kommt es, daß die sich nach Mutter¬
schaft sehnende Kranke, vom Arzt Christus mit einem neuen Hei¬
land schwanger, eine selbstangefertigte kümmerliche Stoffpuppe mit
aller Zärtlichkeit in den Armen wiegt. Und hier wollen wir zu den
schon gebrachten Beispielen auf dem Gebiete der primitiven Men¬
talität ein besonders prägnantes beifügen. In Südindien „werden
kleine nackte Holzfiguren beiderlei Geschlechts in Tirapathi fabri¬
ziert und den Eingeborenen verkauft. Wer nun keine Kinder hat,
der erfüllt an dem Figürchen die Zeremonie der Ohrendurchstechung
(welche man gewöhnlich an dem Neugeborenen erfüllt), in dem
Glauben, daß ihm infolgedessen ein Kind geboren wird. Oder wenn
96
in einer Familie Jungen oder Mädchen ledig bleiben, feiern die Eltern
die Zeremonie der Ehe zwischen einem Paar von Holzfiguren, in der
Hoffnung, daß die Ehe ihrer Kinder bald folgen wird. Sie kleiden
diese Puppen, schmücken sie mit Juwelen und befolgen alle Bräuche
einer wirklichen Hochzeit. Es gibt Leute, welche für die Hochzeit
einer Puppe ebensoviel ausgegeben haben, wie für eine wirkliche
Hochzeitsfeier 1 ).“
Können Objekte durch die noch so entfernten Symbole ersetzt
werden, so ist nicht einzusehen, warum nicht gelegentlich leblose
Gegenstände mit lebendiger Kraft oder mystischen Potenzen aus¬
gestattet werden sollen. Schließlich verwischen sich die Grenzen
zwischen dem Lebendigen und Leblosen, zwischen Mensch und Her,
wie sich die Schranke zwischen Psyche und Welt verwischt hat.
Wir erinnern hier an unseren Patienten Eugen C., welcher Dialoge
mit dem Tintenfaß und dem Reflexhammer führt. Ohne Zweifel
steht dieser Fall dem Primitiven nahe, der seinen Gebrauchs¬
gegenständen mystische Kräfte zuschreibt und in seinen Fetischen
höhere Zauberwesen sieht. (Bekanntlich können besonders begabte
Fetische ihre Kraft neuangefertigten oder schon „abgenutzten“ mit-
teilen, zu welchem Zwecke sie mit dem neuen längere Zeit zusammen
aufbewahrt werden; die neuen Fetische nennt man dann Kinder der
alten.)
Auch Tiere können in nahe Beziehung zu den Kranken treten,
wie dies bei den Primitiven der Fall ist. Einer meiner Patienten
pflegt intime Beziehungen zu der Katze und gibt mir oft ernst¬
gemeinte Aufträge für das Tier, welches er mit besonderer Macht aus¬
stattet. Ein anderer sah in der Tatsache, daß die weiße Katze an
einem bestimmten Abend imauffindbar und nur die schwarze zu
sehen war, ein wichtiges Zeichen von tiefer Bedeutung. Die Rolle,
welche andere Tiere, insbesondere Schlangen, in den Delirien spielen,
ist ja bekannt; man muß dabei an die Seelentiere und die Totemtiere
denken, welche zu Trägem wichtigster Eigenschaften und Partici-
pationen bestimmt sind. Im Übrigen besitze ich kein genügendes
Material, um mich über diese interessante Frage eingehend auszu¬
lassen.
Wir berühren hier die Frage nach den Vehikeln von
mystischen Eigenschaften. Wir verstehen, daß zwi¬
schen der Bedeutsamkeit der Anteilnahme und der objektiven
Unwichtigkeit des Trägers totales Mißverhältnis bestehen kann.
*) Thurston: Ethnographie notes in Southern India, p. 347, zit. bei
L6vy-Bruhl.
97
Mittels Schokoladebonbons wird der Kranke von einem Mädchen
„hypnotisiert“, d. h. gezwungen, sie zu lieben, immer an sie zu
denken. Ein solches Mittel, würde aber auch dem Primitiven ohne
weiteres einleuchten und ihm zur Erreichung allerlei bedeutsamer
Zwecke dienen. Gerade der Liebestrank ist ja ein weit verbreitetes
Motiv des Folklore. Wir sehen hier, wie die hypnotisierte Liebes-
sabstanz an ein beliebiges Vehikel gleichsam angeheftet wird.
Die Frage, wieso ein unwichtiges materielles Objekt bedeutsame
seelische Einwirkungen übertragen kann, ist für die prälogische
Mentalität einfach unzugänglich. Denn sie kennt, um es noch einmal
zu betonen, die Schranken nicht, an die sich die logische Men¬
talität halten muß. Sie scheidet nicht die materiellen Wirkungen
von den seelischen, sie vermengt das Immanente mit dem Transitiven
und umgekehrt. Jede sichtbare materielle Wirkung kann zugleich
eine unvergleichlich wichtigere psychisch-dynamische, mystische an¬
deuten, ausdrücken und — dies alles wird gleichgesetzt — hervor-
rufen.
Wo die rein materielle Tätigkeit ihre Grenzen in Raum und Zeit
hat, da kann ihr mystisches Korrelat jede raumzeitliche Schranke
überschreiten. Das gilt für alle magischen Praktiken, aber auch für
alle Wirkungen durch Anteilnahme der Primitiven; dies gilt auch
für den schizophrenen Beeinflussungswahn und für die schizophrenen
Halluzinationen.
Die Stimmen sind allgegenwärtig wie die Götter und wie die
Dämonen, sie kennen keine Distanz. Man bleibt in Verbindung mit
bestimmten Personen, auch wenn man sich noch so weit von ihnen
entfernt, man hört ihre Gedanken, man bekommt von ihnen Ant¬
worten, muß man auch zu diesem Zwecke, wie eine Patientin, sich
das telephonische Büro in dem Waschtisch voretellen. Man findet es
selbstverständlich, daß der Gedanke von dem Denkenden abgetrennt
werden kann und im Raume herumwandert.
Auch wird man auf beliebige Distanzen hin beeinflußt und ver¬
folgt, wobei wiederum das Psychische mit dem Körperlichen aufs
engste vermengt wird. Man wird durch Quecksilber vergiftet,
durch Telepathie zugrunde gerichtet, durch Gedankenübertragung
päderastischen Verfolgungen ausgesetzt. Auf diese Weise kann das
Herz Stillstehen, die Hände zittern, Gedanken entzogen werden.
Kräfte und mystische Potenzen gehen weit über ihr materielles
Substrat, sie sind an ihre Vehikel nicht gebunden. Ihr Wirkungs¬
kreis ist darum prinzipiell nicht beschränkt, der Qualität wie der
Bychowski, Metaphysik und Schizophrenie. (Abbandl. H. 21.) 7
98
Quantität nach können ihre Wirkungen alles objektiv Mögliche
überschreiten.
Dies gilt für den Verfolger wie unter Umständen auch für die
Kranken selbst. Die Macht ihrer Wünsche wird zur Allmacht der
Verwirklichungen, die Schranken der objektiven Einstellung werden
ausgeschaltet, mit den logischen Kategorien wird nicht mehr ge¬
rechnet.
Wir bemerken die Analogie der psychischen Situation unserer
Verfolgten mit der Einstellung des Primitiven, welcher den mystisch¬
magischen Mächten unsicher gegenübersteht. Beide können sie die
Schranken der feindlichen Beeinflussung nicht abschätzen, beiden
wird jeder Gegenstand, jedes äußere Geschehen zum Träger und zum
Ausdruck der böswilligen Tätigkeit. Aber diese Situation kann um¬
gekehrt werden und zwar auf der gleichen psychischen Grundlage.
Auch eigene Tätigkeit wird an die objektiven Schranken nicht ge¬
bunden, auch eigenes Tun verliert seinen immanenten Charakter und
wirkt transitiv, indem es die naheliegenden Objektreihen und Kausal¬
ketten überspringt. Die Allmacht der Wünsche und Gedanken spot
tet jeder Begrenztheit in Raum und Zeit.
Es erscheint geboten, an dieser Stelle Einiges über die beson¬
dere Gestaltung des schizophrenen Verfol¬
gungswahnes zu sagen. Sein Inhalt, in welchem die Kom¬
plexe und die übermäßig betonten Triebkomponenten zur Geltung
kommen, wird uns hier nicht beschäftigen. Die Analyse eines jeden
Delirs vermag diese Elemente aufzufinden und sie sind deutlich genug
in den drei von uns angeführten Fällen. Was uns aber hier inter¬
essiert, ist die Form, in welcher sich die Komplexe äußern und in
welcher der primitive Einschlag des schizophrenen Denkens eine
überwiegende Rolle spielt.
Schon bei der Besprechung unserer Fälle wiesen wir auf den
magischen Charakter ihrer Aufstellungen hin. Jeanne S.
spricht von Personenverdoppelung, was einer Person ermöglicht, zu¬
gleich an zwei Orten zu sein. Dies ist nun ein typisch magisches
Attribut und für die primitive Mentalität eigentlich selbstverständ¬
lich. Der Gedanke, der Geist, ist für diese Denkweise keineswegs an
die betreffende Person gebunden, er kann sich von ihr loslösen und
seine Wirkung auf große Distanzen ausüben; dies aber ist dem primi¬
tiven Denken gleichbedeutend mit Omnipräsenz oder wenig¬
stens simultaner Anwesenheit an räumlich verschiedenen Orten.
Schon diese Formulierung zeigt, daß die Aufstellung nicht auf das
Gebiet der Magie eingeschränkt bleibt; denn auch Gott wird in
99
einem Zuge als Person und überall gegenwärtig
gedacht, zwischen seiner Person und seiner
Wirkung wird nur höchst unvollkommen unter¬
schieden.
Ist der Glaube an die Loslösung des Geistes und an die Wir¬
kung auf Distanz eines der Grundprinzipien des prälogischen Den¬
kens, so bildet er auch das Hauptelement des schizophrenen Wahnes.
Das Typische an dem Delir von Julien T. ist nicht, daß er von einem
Oberamtmann verfolgt wird, der ihn zum Objekt seiner päderasti-
schen Gelüste macht, sondern einzig und allein die Form, in wel¬
cher dies geschieht. Der'Verfolger wirkt auf Distanz, er bleibt in
seinem Amtsorte und nichtsdestoweniger erscheint er bei dem Kran¬
ken in der Anstalt bei Tag und Nacht, um ihn zu päderastieren. Man
könne dies nämlich durch bloße Gedankenübertragung zustande
bringen, auf diesem Wege können Menschen in die Person des Kran¬
ken eindringen und ihn beherrschen. So wird Julien besessen von
dem Geiste seines Verfolgers, er schafft sich einen Dämon, wie sich
die Magier aller Zeiten Dämonen schufen, welche auf Befehl in die
Menschen hineindrangen, ihre Lebenskraft aufzehrten, sie krank
machten.
Wie der Verfolger unseres Kranken selbst dessen durchaus
natürliche Körperfunktionen beeinflußt (Bauchweh, Transpiration,
das Aus-der-Hand-fallen des Messers) erinnert lebhaft an die Vor¬
stellungen der Primitiven. Aus dem Mittelalter besitzen wir ein
interessantes Werk von Pater R i c h a 1 m im Kloster Schönthal
(erste Hälfte des 13. Jahrhunderts). In seinen „Offenbarungen“ er¬
zählt der Mönch, wie er Tag für Tag, Stunde für Stunde von Dämo¬
nen geplagt wurde. Er macht sie verantwortlich für sämtliche Un¬
zugänglichkeiten seines Geistes und alle Krankheiten seines Kör¬
pers. Ausschlag, beschwerte Atmung, herabhängende Unterlippe,
Trunkenheit, Blutdrang nach dem Kopfe, dies alles wurde bewirkt
von bösen Geistern und wenn der Pater eine schlaflose Nacht ver¬
brachte, so waren es nicht die Flöhe, welche ihn nicht schlafen ließen,
o nein, „diese Tiere,“ sagt er, „beißen in Wirklichkeit nicht: sie
stellen sich nur so; sondern es ist alles Werk der Dämonen“ 1 ).
Sieht man näher zu, so überzeugt man sich, daß selbst die Aus¬
drücke, in welche der Kranke sein Delir kleidet, den Termini tech-
nici der Magie aller Zeiten aufs Genaueste entsprechen. „Magnesium“
ist ihm nur ein Name, um den unbestimmten Vehikel der magischen
*) Zit. bei Frater, 1. c. II, p. 296—296.
7 *
100
Beeinflussung zu bezeichnen. Ansonsten ist es aber der Gedanke,
der Geist, das Lebensprinzip (principe vital) das
Blut, welche übertragen werden, kurz es ist das Wesen (l’etre)
selbst. Auf diesem Wege kann der Verfolger in ihn mit seinem
Penis hineindringen, in sein Gehirn hineinkommen und von da aus
sich in seinem Innern ausbreiten.
Begriffe, wie der Geist, das Lebensprinzip, welches sich von
seinem Träger unterscheidet und losgelöst werden kann und welches
mit dem Blute übertragen wird, bilden vollkommene Analogien mit
dem Wakan, Orenda und Mana der Primitiven, die, wie
Hubert und Mauss 1 ) gezeigt haben, das Grundprinzip der
Magie ausmachen. Wer mehr Mana hat, der kann einen anderen
verfolgen, besiegen, verzaubern, töten; Mana verleiht seinen Besitzern
Kraft über Menschen, Tiere und Elemente'). Es stimmt damit voll¬
kommen überein, wenn unser Kranke bittet, man möge ihm Magne¬
sium geben, damit seine Kraft derjenigen seiner Verfolger gleich
wird, denn wenn sie ihn so schrankenlos „gebrauchen“ können, so
liegt es daran, daß sie mehr Magnesismus haben als er. Würde e r
mehr haben, dann könnte auch e r sie „nehmen“, wie sie ihn bisher
genommen haben. Der Patient A. L., dem seine Verfolger Ge¬
sichtsakne und Blepharitis machen, erklärt mir, warum er mit mir
nicht dasselbe machen könne: „Vous avez le sang plus fort que moi“.
Der Patient Jean L. sagt es deutlich: Man entzieht ihm seine
Lebenskraft, seinen Geist, die Verfolger eignen sich diesen „heiligen
Geist“ an, um vermehrt an Kraft und Macht ihre unsauberen Ab¬
sichten auszuführen. Sie dringen in seinen Geist ein und fordern
seinen Kopf, seine Glieder. Der Geist kann, vom Leib ge¬
trennt, denselben überleben, der Geist ist auch
Blut'). Und wieder sehen wir es mit großer Deutlichkeit, wie
diese Gedankengänge eigentlich in die Denkweise des Glaubens
hineinspielen, mit dem sie ihre prälogische Grundlage teilen.
Zusammenfassend können wir nun sagen: Die schizophrene Re¬
gression bedingt die Objektivierung von Komplexen und überbeton¬
ten Triebkomponenten. Sind dieselben mit dem bewußten Ich un¬
verträglich und als solche von dem Bewußtsein abgespalten, so wer-
’) Hubert & Mauss, Theorie g6n6rale de la magie.
*) Vgl. die Ausführungen des IV. Kapitels.
*) Dementsprechend sind die Verfolger Jeans Blutsauger. Sie erinnern
lebhaft an jene Dämonen der Babylonier, welche das Fleisch ihrer Opfer ver¬
zehrten und ihr Blut aussogen. Berichtet bei Frater, Le rameau d’or, n,
p. 293.
101
den sie in Verfolgern hypostasiert, ebenso wie die Natur- und Men¬
schenkräfte im Glauben des Primitiven in Dämonen und Geistern
verdichtet und gebunden werden. Dieselbe schizophrene Regression
bringt es mit sich, daß die Verfolgungen, welchen die Kranken aus¬
gesetzt werden, sich in den der primitiven Mentalität geläufigen For¬
men abspielen. Diese bestehen wesentlich in Wirkungen auf Distanz,
welche geistig-materiell gedacht werden, indem sie mit dem Materi¬
ellen die Greifbarkeit der Folgen, mit dem Geistigen die Uneinge¬
schränktheit in Raum und Zeit gemeinsam haben, ln diesem
doppelten, für die prälogische Mentalität bezeichnenden Charakter
der Wirkungen liegt es, daß die Kräfte nur höchst unvollkommen
an ihre materiellen Substrate gebunden werden, daß sie ihrer In¬
tensität wie ihrer Qualität nach diesen Substraten durchaus unan¬
gemessen sein können. Werden einerseits materielle Wirkungen als
psychische vorgestellt, so können andererseits psychische Tendenzen
in materieller Form objektiviert und vorgestellt werden. Nicht nur
werden einzelne Wirkungen und Kräfte von ihrem materiellen Sub¬
strat losgelöst, auch die Lebenskraft, das materiell-geistig gedachte
Lebensprinzip selbst, welches dem magischen Grundelement, dem
Mana, Wakan, Orenda usw. entspricht, kann vom Individuum abge¬
trennt werden und allerlei Übertragungen (Transmission) und Trans¬
formationen unterliegen.
In diesem Zusammenhänge ist es von Interesse, zu bemerken,
wie die hier aufgezeigten Affinitäten zwischen der primitiven Men¬
talität und der Denkweise der Paranoiden von rein ethnologischer
Seite vorausgeahnt wurden. Ich zitiere wörtlich (nach Frazer)
den Passus aus Williams Studie über „Religious Life and Thought
in India“: „D est incontestable que la grande majorite des habitants
de l’Inde est victime, depuis le berceau jusqu’au bücher, d’une sorte
de maladie mentale qu’on ne peut mieux designer qu’en l’appelant la
demonophilie. Ils sont comme hantes et oppresses par une crainte
perpetuelle de demons“.
An dem mißtrauischen, spöttisch lächelndem Blicke unserer Ver¬
folgten sehen wir es: ihre Einsicht geht weit über die in der Wahr¬
nehmung gegebenen Tatsachen und Zusammenhänge hinaus, sie
sehen und spüren die unsichtbaren Wirkungen der feindlichen
Mächte, sie bauen auf dem dürftigen Wahmehmungsmaterial wahn¬
hafte Bewußtheiten auf und bevölkern die objektive Welt mit mysti¬
schen Mächten, welche ihrer Psyche entsteigen und durch deren be¬
sondere Zuwendung zur Welt bedingt werden.
Diese neue Welt hat aber für die Kranken mehr Bedeutung, als
die objektiv zugängliche Welt der normalen Wahrnehmung und bald
102
sind die beiden so innig miteinander verwebt, daß keine Grenze mehr
aufgestellt werden kann. Menschen und Dinge sind wichtig nicht als
von einander unabhängige Objekte, sondern gleichsam als Knoten¬
punkte eines ausgedehnten Netzes von Wirkungen und Einflüssen,
welche sich unbegrenzt ausbreiten und alle Schranken der persön¬
lichen Unantastbarkeit des Kranken durchbrechen.
Wir erinnern hier an den Fall Alfons C. Seine immense
Eigenbeziehung nahm der Wahrnehmung ihren objektiven Charakter,
die äußeren an sich durchaus unbedeutenden Begebenheiten schienen
ihm Wichtiges und ihn persönlich Betreffendes anzukündigen. In
diesem Sinne dürfen wir hier mit voller Berechtigung von schizo¬
phrener Wahrsagung sprechen. In der Tat liegt den Be¬
ziehungsbewußtheiten unseres Kranken dieselbe unausgesprochene
Voraussetzung zugrunde, wie der für die primitive Mentalität so
bezeichnenden Wahrsagung aller Zeiten und Völker. Zwischen dem
Hahnenkampf und dem Schicksal des Alfons C. besteht nicht mehr
und nicht weniger Zusammenhang, als zwischen dem Flug der Vögel
und dem Ausgang einer römischen Schlacht, dem Stemenlauf und
dem menschlichen Geschick.
Hier wie dort ist der Psyche die objektive Welt nur ein Gleich¬
nis für die menschlichen Geschicke, Wünsche und Befürchtungen,
hier wie dort wird das naturhafte außermenschliche Geschehen un¬
eingeschränkt in Zusammenhang mit dem Menschlichen gebracht
und im menschlichen Sinne gedeutet. Wir können von primiti¬
ver Eigenbeziehung sprechen, wie wir von schizophre¬
ner Wahrsagung gesprochen haben.
Hand in Hand mit dem Unwichtigwerden der objektiven Zu¬
sammenhänge gewinnen die subjektiven magisch-mystischen an Be¬
deutung. Schließlich wird die Hierarchie, welche die logische Men¬
talität unter den Vorstellungen aufstellt, aufgehoben, indem der
Gegensatz subjektiv und objektiv seine Bedeutung verliert.
Das Wort, welches uns ein bloßes subjektives Korrelat des Objek¬
tes, in praktischer Hinsicht aber ein bloßes Verständigungszeichen ist,
wird sowohl für den Primitiven wie für den Schizophrenen zu einer
besonderen Wesenheit, welcher besondere Eigenschaften zugeschrie¬
ben werden. Diese sind für den Primitiven mystisch, wir wissen,
welche Rolle die Zauberworte in allen Praktiken spielen, welche
Macht mit ihnen verbunden ist. Ähnliche Vorstellungen können wir
bei unseren Kranken beobachten.
Jean L. will keine Briefe schreiben, man habe ihm gesagt, daß
durch jede Silbe gegen ihn „gearbeitet“ werden könne und er will
103
seinen Verfolgern keine neuen Mittel in die Hand geben. Beson¬
ders scharf ausgeprägt ist dieses Motiv bei dem von Schilder an¬
geführten Fall des Patienten Felix K.
„Mit den Worten ,^eppel, heppel“ kann man einen Menschen kaput
machen. ... Auch er war Zerschnitten, aber er hat es sich mit den Worten
„hac, hae“ abgestrichen.... Er selbst kann sich durch das Wort „sesura“
göttlich-hypnotisch machen. Durch das Wort kommt der Himmelskörper in
ihn hinein. (Was ist das eigentlich Wirksame?) Das sind die Worte. Die
Himmelskörper geben das Wort „semsterie“ oder „supsterie“, manche Himmels¬
körper geben nur zwei oder drei Worte, mancher auch Tausende. Die Him¬
melskörper sind um so wertvoller, je mehr Worte sie geben. In manchen sind
bis zu 10 000 Worte enthalten ... in dem guten Worte da befinden sich 90 000
Worte.“
Die Worte sind also als eine zauberische
Substanz gedacht und werden auch als solche
behandelt. So erklärt es sich, daß man die Worte seiner Frau
in den Einkaufkorb werfen kann, so erklärt sich, daß ihm mit diesen
Worten Kleider und Möbel beschmutzt werden“ 1 ).
Die Selbständigkeit des Wortes kann so weit gehen, daß, wie
Preuß sagt: „das Wort ist kein vom Menschen allein ausgehender
Zauber, sondern ist eine selbständig wirkende Substanz, eine Nach¬
bildung des Objektes, das es bezeichnet“ 1 ).
Ob dieser Wortsubstanz willen muß das Objekt durchaus nicht
vergessen werden und die Beachtung der mystischen Eigenschaften
ist nicht identisch mit Vernachlässigung des. objektiven Wahr¬
nehmungsmaterials. Wir sehen es bei den Primitiven, bei welchen
ja die Feinheit und Genauigkeit der Wahrnehmung oft ans Wunder¬
bare grenzt; und auch von unseren Kranken wissen wir, daß sie, mit
ihrer wahnhaften Welt innig verbunden, dessen ungeachtet die ge¬
ringsten Details der Umgebung registrieren können.
Wir verstehen mühelos die Exaktheit der Wahrnehmung beim
Primitiven sowie die vielbewunderte Treue und Präzision seines Ge¬
dächtnisses. Diese Charaktere entspringen notwendigerweise aus
der Art seiner Einstellung Psyche-Welt. Er lebt noch im Stadium
der vollen und gleichmäßigen Zuwendung zur Welt, mit der er sich
innig verbunden fühlt. Diese primitive Einheit und die Undifferenz¬
iertheit seiner Interessen bewirken es, daß er die Objekte seiner
Wahrnehmung nicht nach ihrer objektiven Wertigkeit ordnet, es
fehlt ihm durchaus die logische Hierarchie der Gegenstände selbst,
ebenso wie ihrer Eigenschaften. Diese ordnenden Tendenzen sind es
') Schilder, Wahn und Erkenntnis.
! ) Preuß, Der Ursprung der Religion und Kunst.
104
aber, die uns eine Wahl unter dem Wahmehmungs- und Erinnerungs¬
material treffen lassen. Für unsere Orientierung in der Welt, welche
wir für unsere Aktivität benötigen, ist es nicht weniger wichtig, daß
wir gewisse Dinge außer Acht lassen, als daß wir andere beachten.
Für den Primitiven ist aber alles gleich wichtig und der Mangel an
objektiver Hierarchie der Gegenstände zeigt sich am besten darin,
daß jeder von ihnen und jede Eigenschaft hohe Wertigkeit erlangen
kann, indem sie zum Träger mystischer Kräfte, zum Ausdruck be¬
deutsamer Anteilnahme wird.
Wir ahnen, daß ähnliche Faktoren die auffallende Genauigkeit
der Registrierung mancher Schizophrenen bedingen müssen und wir
erinnern uns, mit welchen Details manche Kranken ihre Berichte
über die persönlichen Ausführungen versehen, als handle es sich um
eine Chronik, bei der alles gleich wichtig oder unwichtig sei. Wie¬
derum bemerken wir hier die von uns mehrfach hervorgehobene
Schwäche der ordnenden Tendenzen, die mangelhafte Betonung von
objektiv begründeten Hierarchien unter den Gegenständen und Vor¬
stellungen. Dieses Verhalten der prälogischen Mentalität erweist
sich besonders bedeutsam für die Zusammenhänge, welche sie zwi¬
schen Objekten und Vorgängen aufstellt. Der Primitive sieht kau¬
sale Zusammenhänge, wo wir nur ein post hoc ergo propter
hoc und ein juxta hoc ergo propter hoc erblicken.
Dinge, die zufällig seine Aufmerksamkeit fesseln, seine Affekte an¬
regen oder einfach aus dem Rahmen seiner gewohnten traditionellen
Erfahrungen herausfallen, werden als Ursachen bedeutsamer Ge¬
schehnisse aufgefaßt. Eine Zeit der Trockenheit in Landana wurde
den Mützen der Missionäre zugeschrieben, welche sie während des
Gottesdienstes trugen. Nach der Ankunft der katholischen Missio¬
näre hörten die Regenfälle auf und die Anpflanzungen litten unter
der Trockenheit. Die Bevölkerung setzte sich in den Kopf, daß dies
die Schuld dieser Männer wäre, insbesondere ihrer langen Röcke,
denn nie hatte man noch solche Tracht gesehen. Anderswo ist es
ein weißes Pferd, das soeben ans Land gebracht wurde, welches
die Verhandlungen unterbrach und zu langen Diskussionen An¬
laß gab').
Wir führen diese wohlbekannten charakteristischen Tatsachen
an, welche wir in Zusammenhang mit dem früher Gesagten über die
Transgression (Tloto) bringen, nur um die Analogie mit patho-
') Dr. Pechüel-Lösche, Die Loangoexpedition, III, 2, p. 83, zitiert
bei Lev y - Brüh 1.
105
logischer Denkweise scharf ins Licht zu stellen. Solche Zusammen¬
hänge, wie der zwischen den Mützen der Missionäre und der Zeit der
Trockenheit muten schizophren an und wir hören von unseren Kranken
des öfteren ähnliche Erklärungen, die wir oft mit Unrecht als bloße
willkürliche Redensarten auffassen, welchen der Kranke selbst keine
Bedeutung beilegt. Im Gegenteil muß hervorgehoben werden, daß
die Kranken an derartigen Behauptungen mitunter längere Zeit mit
Hartnäckigkeit festhalten und sie jedenfalls im Momente ihrer Ent¬
stehung für durchaus evident ausgeben.
So schaffen die Kranken Zusammenhänge, welche sie entweder
bald fallen lassen oder welche dauernd ihre Geltung behaupten. Die
letzteren wurzeln offenbar in tieferen subjektiven Motiven und Ten¬
denzen, die fixiert und unversiegbar, gewisse Aufstellungen dau¬
ernd erhalten. Solche dauerhaften Konzeptionen werden bei den
Primitiven überliefert, sie wurzeln in mystischen Anteilnahmen,
welche von dem Stamme anerkannt und unerschütterlich geglaubt
werden. Als kollektive Vorstellungen erhalten sie besondere Macht
und Dauer. Die vorübergehenden zufälligen Zusammenhänge werden
je nach der momentanen Situation gebildet und ohne Mühe fallen ge¬
lassen, wenn sie sich auch augenblicklich mit großer Wucht auf¬
zwingen.
Schon die Beispiele, welche wir von diesen gleichsam blitzartig
auftauchenden Zusammenhängen gebracht haben, lassen es erkennen,
daß sie nicht zur Befriedigung des Erklärungsbedürfnisses gebildet
werden, sondern eine Erscheinung, die für die Existenz und
darum auch für das Affektleben des Stammes bedeutsam erscheint,
wird zu einer anderen in Beziehung gebracht, welche man unmittel¬
bar zu beeinflussen hofft. So die Kappen der Missionäre, welche die
Trockenheit hervorgerufen haben sollten. Daß kein Regen kommt,
wo man ihn so notwendig braucht, erscheint den Primitiven wie ein
Verstoß gegen die Naturordnung, an der sie ja im engsten Maße
teilnehmen, d. h. welche sie sich in intimer Gemeinschaft mit dem
Stamme vorstellen. In der Bestürzung über diese feindliche Störung
des Weltganges suchen sie nach dem Angriffspunkt, von wo aus sie
den Lauf der Dinge ihrem Wunsche gemäß wieder hersteilen könnten.
Das erste ebenfalls ungewohnte Vorkommnis, das man aber ändern
kann und worauf eben der Blick fällt, wird zur Ursache gestempelt.
Wir müssen uns fragen, ob man hier noch von Ursache sprechen
kann, und wir sehen sofort, die Antwort muß negativ ausfallen,
wenn wir den Begriff Ursache in unserem modernen logischen Sinne
auffassen. Denn die primitive Zauberkausalität ist in
106
allen Fällen, wo wir, ähnlich dem analysierten Beispiele, ihrer Ent¬
stehung beiwohnen können, sprunghaft, launisch und höchst unvoll¬
ständig. Was ihr treibendes Motiv ausmacht, ist, und wir wollen es
festhalten, nicht das Erklärungsbedürfnis, wie ältere ethnologische
Schulen, vor allem die englische, immer wieder angenommen haben,
sondern der Affekt und die Nötigung zur Tätigkeit bei mangelhafter
Beherrschung der Situation 1 ). Diese Kausalität ist praktisch und
zufällig.
Nicht wesentlich anders verhält es sich aber mit den durch den
Brauch festgelegten Zusammenhängen, den mystischen Participatio-
nen im wahren Sinne des Wortes. Auch diese verbinden beliebige
Erscheinungen untereinander und holen sie aus den verschiedensten
Gebieten heraus. Vor allem aber „erklären“ die Participationen nur
für den Stamm wie für den Einzelnen höchst wichtige Dinge und ihr
offenbarer Zweck ist es, die Beeinflussung dieser bedeutsamen Zu¬
sammenhänge in magischer Weise zu ermöglichen.
Es ist unmöglich zu sagen, der Intichiuma sei die Ursache der
Regenfälle, obwohl ohne den Intichiuma sicher kein Regen käme,
denn sowohl die magische Zeremonie des Stammes wie das regel¬
mäßige Eintreffen der Niederschläge bilden eine unzertrennliche
Einheit. Wenn aber, nach dem Analogiezauber, durch Bespritzung
der Umgebung der Zauberer den Regen erzielt, so hat er nur diese
Einheit zwischen dem Wünschen der primitiven Gesellschaft und den
Naturmächten wieder hergestellt. Darum wäre es vergebens, den
Primitiven nach der Begründung dieser eigenartigen Kausalität zu
fragen, sie ist ihm selbstverständlich und wurzelt in der undiffe¬
renzierten Einheit seiner Grundbeziehung Psyche-Welt.
Versuchen wir einen Einblick zu tun in die sich bei einer
magisch-religiösen Zeremonie, wie der Intichiuma, abspielenden
kollektiven psychischen Vorgänge, so müssen wir sagen, der Stamm
erlebt dabei mit stets erneuerter Wucht seine Gemeinschaft mit dem
Naturgeschehen, er identifiziert sich mit den Naturmächten, mit dem
Totemtier oder Pflanze; wir wissen, daß zu dem letzteren Zwecke die
Bewegungen des Tieres, die Szenen bei der Verwendung der Pflanze,
mit ungeheurer Plastik gemimt werden. Auf diese Weise gewinnt
der Stamm die innere Sicherheit, erlebt es in mächtiger Steigerung
seiner psychischen Kräfte, daß seine kultische Tätigkeit wirksam
ist, daß dank ihr der ersehnte Regen kommt oder die heiligen Tiere
sich in nötiger Zahl vermehren. So wird die Periodizität der Regen-
') Vgl. Wu nd t, Elemente der Völkerpsychologie. Leipzig 1918, p. 63.
107
fälle und der Tiervermehrung von den Intichiumas abhängig ge¬
macht und es ist nicht zu verwundern, daß die Erfahrung zumeist
dem Glauben recht gibt, indem der Regen zu der erwarteten Zeit
eintrifft, die Tiere sich in der erwarteten Zeit vermehren. Der Sicher¬
heitsgrad ist groß genug, um jede widersprechende Tatsache in dem
Sinne der Tradition zu deuten: ein Mißerfolg des Intichiuma wird
einem bösen Zauber zugeschrieben, das vorzeitige und üppige Ge¬
deihen der Totemgattung einem mystischen, unsichtbaren Intichiuma,
der irgendwo im unbestimmten Jenseits von befreundeten Geistern
gefeiert wurde.
Die Existenz des Totemtieres ist in einem gewissen Sinne die
Ursache des Bestehens des Stammes; aber umgekehrt in dem
gleichen Sinne ist die kultische Tätigkeit des Stammes Ursache der
Vermehrung des Totemtieres. So wird schließlich die besondere Art
der Verursachung deutlich, mit der wir es hier zu tun haben und
welche, obschon der modernen Ursache so unähnlich, sie dennoch in
undifferenzierter Weise enthält').
In der Tat muß zunächst gesagt werden, daß hier der Begriff
der schöpferischen Kraft, wenn auch selbstverständlich begrifflich
noch nicht ausgearbeitet, zum erstenmal geprägt wird, biese Kraft
ist produktiv und schafft Neues, welches unmittelbar aus ihr ent¬
springt. In diesem Sinne kann man sagen: aus dieser primitiven
Ursache entsteht die Wirkung durch eine Art Emanation.
Es ist nicht einzusehen, wie sich die erste Fassung der Ursache
anders gestalten könnte. Denn die bloße Beobachtung lehrt ja
nichts mehr als reine Sukzession der Erscheinungen ohne bindende
Notwendigkeit der Verursachung. Dies hatte schon der größte
Kritiker des Kausalitätsprinzips H u m e gesehen, der die Um¬
deutung des „post hoc ergo propter hoc“, die die Kausalität aus¬
macht, auf die Eigenschaften der Assoziationsfolge zurückführte.
Durch die Wiederholung von Vorstellungen und die Gewohnheit, sie
aufeinander folgen zu finden, entstehe eine innere Nötigung und eine
bindende Erwartungsbereitschaft, welche in regelmäßiger Weise
nach einer Idee eine andere bestimmte hervorruft. Daß auf diese
rein psychologische Weise ein logisch so bindendes Prinzip wie die
Kausalität zustande kommt, dies läßt H u m e auf dem Glauben
(belief) beruhen, welcher somit die Grundlage der Erfahrung aus¬
macht.
*) Vgl. zu den nachfolgenden Ausführungen W u n d t, 1. c. und Dürk¬
heim, Les fonnes £16mentaires de la vie religieuse. Paris, Alcan 1912,
p. 518—528.
108
Wir finden den Glauben jedenfalls an der Wurzel der primitiven
Kausalität, denn jede Anteilnahme ist ein durch die Macht der
Überlieferung starker kollektiver Glaube. Er entspringt offenbar
nicht aus der Beobachtung, sondern aus mächtiger kollektiver Affekt¬
spannung, welche in den religiösen Zeremonien ihre Speise und ihren
Ausdruck findet und welche zum erstenmal dem Bewußtsein den
Begriff der schöpferischen Macht übermittelt.
Zugleich aber liegt in dieser religiösen Urkausalität ein anderer
wesentlicher Faktor des Kausalitätsverhältnisses, die Regelmäßig¬
keit. Denn diese Zeremonien beziehen sich ja auf periodische
Naturerscheinungen, welchen sie ihre eigene Periodizität nachbilden.
Der religiös-kollektive Ursprung der Kausalität erklärt zur
Genüge ihren bindenden allgemein gültigen Charakter. Erst jetzt
findet sich die eigentliche Grundlage des H u m e sehen „belief“,
der wohl eine bequeme Erfahrungsbedingung war, aber der
notwendigen Begründung entbehrte. Nähere Prüfung ergibt, daß
dieses Ergebnis eigentlich schon aus der Kant sehen Philosophie zu
holen war. Denn Kant lehrte uns die Kategorien in dem weiten
Sinne, in dem wir hier das Wort meinen, als Grundformen der Er¬
kenntnis kennen, welche nicht erst aus der Erfahrung abstrahiert
werden können, da sie jeder Erfahrung zugrunde liegen und somit
vor jeder Erfahrung gegeben werden müssen. Diese Aufstellung be¬
kommt aber ihren ganzen Sinn ohne Zweifel erst bei genauer Be¬
stimmung der Erfahrung, welche dabei gemeint wird. Die Kate¬
gorien sind Normen der Erfahrung, die allgemeingültig werden
kann; wir müssen an die pathologische Erfahrung denken, welche
diese Bedingung nicht erfüllt und welche auch keine Kategorien
anerkennt.
Die normale Erfahrung, jedem vernünftigen Wesen zugänglich,
trägt in sich den Begriff der allgemein gültigen Norm und diese
Bestimmung weist deutlich auf ihren kollektiven, sozialen Ursprung
hin. Wir verstehen nun den bindenden Charakter der logischen
Normen; wie alle Gesetze, sind sie von der Kollektivität geschaffen
und als solche überindividuell.
Versuchen wir jetzt, uns den Weg von der prälogischen Anteil¬
nahme zu der logischen Kausalität vorzustellen, so sehen wir sofort,
wie er aufs engste mit der Differenzierung der Grundbeziehung
zusammenhängt. Die mystische Anteilnahme entspricht der wenig
differenzierten Einheit Psyche-Welt. Wie Psyche mit Welt eng ver¬
bunden ist, so sind auch die Objekte voneinander nicht streng ge¬
schieden. Sie können aneinander teilnehmen und sich auf mannig-
109
Wachste Art beeinflussen. Diese Einflüsse und Wirkungen werden
vornehmlich in Form der psychischen Kräfte gedacht (es muß immer
wieder betont werden, daß schon diese Ausdrucksweise viel zu
modern ist, da die prälogische Mentalität keine Scheidung der
physischen und psychischen Kräfte kennt), ihre Wirkungsweise ist
wesentlich mystisch zauberhaft. Mit der durch die überlieferten Par-
ticipationen gegebenen Einschränkung gilt für diese Mentalität die
Formel Humes, „irgend etwas kann die Ursache sein von irgend
etwas“. Es gibt nichts Unmögliches, nichts Unglaubliches und da im
Grunde jede Verursachung als eine Art Wunder aufgefaßt wird, kann
keine wunderbar genannt werden.
Damit ist gesagt, daß es keine natürliche und übernatürliche Er¬
scheinungen gibt, denn während einerseits die wunderbarsten mysti¬
schen Zusammenhänge als natürlich betrachtet werden, sind anderer¬
seits die natürlichsten Geschehnisse Folge von mystischen Kräften
(Intichiuma). Diese Einheit der Auffassung ist nur ein Ausdruck
der innigen Vermengung psychischer und objektiver Welten und hat
ihr praktisches Korrelat in der Überzeugung, ein jedes Geschehen
gemäß eigenen Bedürfnissen beeinflussen zu können.
Im Laufe langer Erfahrungen lernt der Mensch seine psychischen
Möglichkeiten von dem Naturgeschehen zu trennen. Diese Schei¬
dung zwischen Psyche und Welt bedingt schärfere Trennung unter
den einzelnen Objekten, welche als Glieder voneinander unabhängiger
Zusammenhänge erkannt werden. Die logische Mentalität duldet
kein Überspringen aus einer Kausalreihe in die andere, von welcher
sie als zufällige abstrahiert. Hingegen kennt der Primitive in diesem
Sinne keinen Zufall.
Belehrt durch die Unzulänglichkeit seiner Wünsche, anerkennt
der Mensch die objektive Realität und lernt physische Zusammen¬
hänge von den psychischen zu trennen. Die einheitliche Anteilnahme
spaltet sich in zwei unterschiedliche Elemente, Ursache und Wirkung
und während der Glaube mystische Participationen fundierte, wird
nun nach objektiven Kriterien gesucht, um Kausalzusammenhänge
anzunehmen.
0
Diese Entwicklung schafft auch das Prinzip des Widerspruches.
Die enge Beziehung der mystischen Anteilnahme erlaubte einem
Dinge zugleich ein anderes zu sein und ließ das Bewußtsein der logi¬
schen und physischen Unmöglichkeit nicht aufkommen. Die Spal¬
tung der Participationen grenzt die Objekte und Objektgroppen von-
') L 6 ▼ y - B r u h 1, 1. c. p. 445.
110
einander ab und schärft den Blick für den Widerspruch innerhalb
eigener Behauptungen und den Widerspruch mit der Erfahrung.
Diese erhebt sich als mächtiges Kriterium aller Aufstellungen und als
oberste Instanz der objektiven Wahrheit.
Die Naturordnung und der Begriff des Natuigesetzes tritt an
Stelle der mystischen von psychisch-physischen Mächten durchdrun¬
genen Welt des Primitiven. Das Auftreten der Regenfälle wird von
den Wünschen des Menschen unabhängig und die Weltordnung muß
nicht erst durch mystische Zeremonien erhalten werden; freilich kann
man sie auch nicht mehr in magischer Weise beeinflussen.
IV. Kapitel.
Religionspsychologisches.
Das primitive Weltbild kann nur dann in seiner Eigenart ver¬
standen und gewürdigt werden, wenn wir uns von manchen gang¬
baren Auffassungen frei machen. Es ist wohl anthromorph, da es
von menschlichen Elementen durchdrungen und menschlichen psy¬
chischen Kräften, vor allem den kollektiven, nachgebildet ist; aber
zugleich und in gleichem Maße überträgt der Mensch in sein Selbst¬
bild Elemente, welche der äußeren Welt entnommen sind 1 ). Der
typische Ausdruck dieses Verhaltens sind die Systeme des To¬
temismus.
Die erste Differenzierung dieser ursprünglichen Einheit führt zu
dem dumpfen Bewußtsein einer besonderen außermenschlichen Reali¬
tät. Diese Einsicht geht aber nicht weit genug, um eine objektive
Welt aufzurichten und sie in ihrer Eigengesetzlichkeit anzuerkennen.
Die Macht der Wünsche besteht, die Möglichkeit, sie der gegebenen
Realität bewußt anzupassen, ist noch nicht ausgebildet, das Bewußt¬
sein der Beschränktheit eigenen Könnens dämmert auf. Die Welt
der Objekte wird so mit besonders starker Macht ausgestattet, wäh¬
rend sie zugleich, den autistischen Regungen gemäß, in mystischer
Beziehung zu den Wünschen und Befürchtungen des Subjektes
verbleibt.
Ein weiterer mächtiger Entwicklungsfaktor ist die Eingliede¬
rung des Einzelnen in die Kollektivität. Die Gesellschaft mit ihren
frühzeitig ausgebildeten Normen bildet das Paradigma einer über¬
individuellen, höheren, weil mächtigeren, Realität’), von welcher das
Individuum in ständiger Abhängigkeit verbleibt, während es sie
seinerseits kaum zu beeinflussen vermag. Wir wissen ja, wie eng sich
die Verschmelzung des Primitiven mit dem Stamme gestaltet, wie
sein ganzes Tun und Denken mächtigen unumgänglichen religiös ge¬
weihten Vorschriften unterliegt. Die psychische Welt des Primi¬
tiven wird beherrscht durch kollektive Vorstellungen, was am besten
*) D u r k h e i m , 1. c. p. 337.
') Die Rolle der Vergesellschaftung für die Entwicklung der Psyche ist
besonders eingehend von Dürkheim studiert und gewürdigt worden.
die Undifferenziertheit seiner Psyche von der sozialen Welt zum Aus¬
druck bringt.
Nur in dem vorsozialen Zustand konnte sich jede psychische
Realität als solche durchsetzen und zur Geltung gebracht werden.
Somit war auch aus diesen Motiven kein Grund gegeben zur Auf¬
stellung einer Hierarchie der psychischen Instanzen, es war innerhalb
der Psyche keine Spaltung nötig, ebenso wie die Einheit Psyche-Welt
gewahrt bleiben konnte.
Das soziale Leben brachte aber tiefgehende Umänderungen. Die
soziale Realität und soziale Erfahrung wirkte regulierend und ein¬
schränkend, ebenso wie die naturhafte. Psychische Tendenzen mu߬
ten unterdrückt und verdrängt werden, Stellung wurde genommen
gegenüber eigenem Tun und Wollen, welches an den strengen kollek¬
tiven Normen gemessen wurde.
Aber auch hier, ebenso wie innerhalb der Beziehung zur Natur¬
welt, wird das Endziel nicht auf einmal, ja nie vollständig, erreicht.
Die zu unterdrückenden psychischen Tendenzen werden nur zum Teil
verdrängt und drängen sich dem Bewußtsein mit um so stärkerer
Macht auf, je mächtigeren Vorboten sie unterliegen. Das Gewissen,
Symbol der kollektiven Normen, wird als eine besondere Instanz auf¬
gerichtet, mächtig genug, gegen die unzulässigen Rivalen seine
Stimme zu erheben, aber nicht ausreichend, um sie vollständig zu
unterdrücken und sich dienstbar zu machen.
Wie es Freud 1 ) besonders nachdrücklich betonte, ist das psy¬
chische Leben des Primitiven von der Macht der Triebe und deren
starker Ambivalenz beherrscht, was in der Macht der Tabuverbote
zum Ausdruck kommt.
Bei dieser Konstellation ist es verständlich, wenn die gewissens¬
fremden Tendenzen mit besonderer Kraft ausgestattet werden. Dem
Subjekt nur halbbewußt, werden sie von ihm als starke aber fremde
Mächte erfaßt, deren es sich zu entledigen sucht. Auch sein Gewis¬
sen, das ihn zum Träger der kollektiven-Normen stempelt, muß ihm
als eine besondere Macht erscheinen, die auf höhere Realität hin¬
deutet.
Diese Konstellation: innerhalb der Beziehung zur außermensch¬
lichen Welt, die Anerkennung der objektiven Realität als einer beson¬
deren Macht, welche man autistisch beeinflussen will, aber nicht
immer beeinflussen kann, innerhalb der Beziehung zur sozialen Welt,
das dumpfe Bewußtsein der Kollektivität mit ihren imperativen For-
') Freud, Totem und Tabu, Leipzig und Wien 1918 bei Heller.
113
derungen und überindividuellen Normen, welche das Gewissen be¬
dingen und gegen welche die persönlichen Triebe umsonst an¬
kämpfen, diese Konstellation ist es, welche die psychische Grund¬
lage für die Götterbildung ergibt. Die ersten Götter sind
natürlich nichts weniger denn begrifflich klar gedacht, sie werden
erlebt, empfunden, aber nur höchst unvollkommen vorgestellt. Ihre
Distapz vom Menschen, der sie geschaffen hat, ist recht gering, sie
tragen an sich die Erbschaft der mystischen Anteilnahme, die den
Primitiven mit der Welt verbindet und sie sind der erste Ausdruck
ihrer Differenzierung und des Einsetzens der Korrektur der Realität.
Der psychische Ursprung der Gottheit zeigt sich deutlich darin,
daß sie zunächst als alles durchdringende Kraft aufgefaßt wird,
durchaus immanent und unpersönlich. Sie hat keine Persönlichkeits¬
attribute, ähnlich dem Primitiven, der auf dieser Stufe in dem sozia¬
len Milieu vollkommen aufgeht und an seiner ganzen Umgebung teil¬
nimmt.
Von den Bafiotain Westafrika heißt es: „Die Stämme kennen
weder Gott noch Teufel, denn sie haben dafür keinen Namen; sondern
sie beschränken sich auf das Wort m o k i s i e, das sie auf alles an¬
wenden, worin sie eine verborgene Kraft sehen, kurz sie kennen
keine Geister; nach ihnen gibt es nur Elemente der Kraft und des
Lebens, überall verbreitet, dann sie selbst und zwischen beiden die
Seelen der Toten; nichts mehr.“
In Australien ist dieses Kraftprinzip eng an den Stamm und
seinen Totem gebunden, es ist in einem gewissen Sinne der Totem
selbst, weshalb es auch von Dürkheim 1 ) das totemistische
Prinzip genannt wird. Diese Kraft ist zwar in dem Totemtier
wie in den Totemmitgliedem diffus verbreitet, trotzdem wird sie nicht
abstrakt sondern in der konkreten Totemform vorgestellt. Es ist aber
eine Kraft in des Wortes wirklichstem Sinne und erzeugt materielle
Wirkungen. Man muß sie mit besonderer Vorsicht behandeln und
durch Überschreitung des Tabu kann man sich Krankheit und Tod
zuziehen.
In Melanesien glaubt man an M a n a, „d. i. eine Kraft, ein Ein¬
fluß immaterieller Ordnung und in einem gewissen Sinne übernatür¬
lich; aber sie offenbart sich durch physische Kräfte und durch jede
Art von Macht und Überlegenheit, welche der Mensch besitzt.
Die ganze Religion des Melanesiers geht darauf hin, sich den
') D u r k h e i m 1. c.
Bycbowski, Metaphysik und Schizophrenie. (Abhandl. H. 21.) 8
114
Mana zu verschaffen, sei es, um ihn selbst zu benützen, sei es, um ihn
einen anderen benützen zu lassen“ 1 ).
Die höchste Entfaltung erreicht jedoch diese dynamische un¬
persönliche Gottheit bei den Indianern Nordamerikas, insbesondere
bei den Mitgliedern der großen Gruppe Sioux. W a k a n ist das
Prinzip jedes Lebens, jeder Kraft,, jeder Macht. Alles, was man
verehrt, die Erde, die vier Winde, Sonne, Mond und Sterne sind Er¬
scheinungen dieses geheimnisvollen Lebens und dieser Macht, wel¬
che in allen Dingen kreist. „Es ist dies keine bestimmte und be¬
stimmbare Macht, die Macht, dies oder jenes zu tun; es ist die Macht
schlechthin, ohne irgendwelche nähere Bestimmung“. So ist Wakan
die Macht der Winde und Wolken, aktive Kraft, wie der passive
Widerstand des Felsstückes auf dem Wege.
Bei den Irokesem heißt dieselbe Macht Orenda. Der Schah-
mane hat viel Oranda, aber auch ein Mensch, welcher in seinen Un¬
ternehmungen Erfolg hat. Wenn es einem Tiere gelingt, vor dem
Jäger zu flüchten, so heißt es, daß das Tier mehr Orenda hat als
der Jäger.
Dieses einheitliche Prinzip, welches die Macht der Wirklichkeit
ausdrückt, differenziert sich alsbald in speziellere Kräfte. Diese
werden konzentriert in wichtigeren Objekten, welche für den Primi¬
tiven vom praktischen oder kultischen Standpunkte aus, von beson¬
derer Bedeutung sind. In einem ursprünglichen Kontinuum von
Kräften wird so eine Menge von dynamischen Faktoren immer schär¬
fer umzeichnet. Individuelle Geister bewohnen und beleben alle
möglichen Gegenstände, welche als aktive, selbständige,
verwandlungsfähige Substanzen gedacht werden.
(Der Ausdruck ist von P r e u ß.) Diese Stufe entspricht der Speziali¬
sierung der Grundbeziehung Psyche-Welt, sowie der fortschreitenden
Betonung der Persönlichkeit in dem einheitlichen Milieu der Kol¬
lektivität. ' v
Noch sind aber diese „Geister“ nicht als antropomorphe Perso¬
nifizierungen gedacht, sie symbolisieren nur die Eigenmacht und die
besondere Bedeutung der Objekte und Handlungen. Es sei daran
erinnert, daß z. B. in den ältesten bekannten Schichten der römi¬
schen Religion unzählige Götter verehrt wurden, welche alle mög¬
lichen Gegenstände und Verrichtungen vertraten resp. beschützten.
Auch die späteren persönlichen Götter verleugnen keineswegs diese
Abstammung, es genügt, an die vielfachen Bezeichnungen des Jupi-
*) Zitiert bei Dürkheim, 1. c. p. 277.
115
ter zu erinnern, die fast wie selbständige Potenzen und Personen an¬
muten und alle an bestimmte Tätigkeiten und Naturerscheinungen
geknüpft sind 1 ).
Hand in Hand mit dieser Entwicklung geht die Distanzierung
des Menschen von seiner Gottheit, die Lockerung der primitiven An¬
teilnahme. Die ursprünglich unmittelbar erlebte Gemeinschaft wird
in immer stärkerem Maße vorgestellt, begrifflich ausgedrückt und
vermittelt. Sie löst sich so in ein System von Vorstellungen und kul¬
tischen Handlungen auf; die Gottheit aber kann immer schwerer von
dem Einzelnen erreicht und beeinflußt werden. Diese wichtige Macht
konzentriert sich bei den Spezialisten und der Priesterstand ent¬
wickelt sich als -der Mittler zwischen dem Menschen und seinem
Gotte. Wird erfahren, daß die eigenen Wünsche die nötige Reali-
sierangskraft nicht haben, um unmittelbar die Götter, die äußere Re¬
alität zu beugen, so wird an den Mittler appelliert, der gleichsam den
Erben früherer ausgedehnteren Möglichkeiten darstellt.'
Die mystische Symbiose, in welcher der Stamm mit der
Gottheit gelebt hatte, weicht einer zeitweise erstrebten Vereinigung
mit dem Kultobjekt und einer zur begrifflichen Ausbildung tendie¬
renden Religion.
Es kann nicht unsere Aufgabe sein, die weitere Entwicklung der
unpersönlichen göttlichen Kräfte zu persönlichen Göttern darzustel¬
len, ebensowenig wie wir die monotheistischen Tendenzen eingehend
würdigen können.
Wir wollten nur den tiefsten psychischen Boden aufzeigen, wel¬
cher den Menschen zur Bildung göttlicher Wesenheiten führen mußte.
So ist unsere Auffassung nicht exklusiv gegenüber anderen Erklä¬
rungsversuchen, da sie sich gleichsam in der tiefsten grundlegenden
Schicht bewegt. Der Wahrheitsgehalt der W u n d t sehen Theorie
von der Entstehung Gottes aus der Verschmelzung der Vorstellungen
von Helden und Dämon wird keineswegs in Frage gestellt. Es kann
auch, um von neuesten Hypothesen zu sprechen, zu Freud Stellung
genommen werden, welcher bekanntlich die Herrschaft des allmäch¬
tigen Ödipuskomplexes auch auf dieses Gebiet ausdehnte, indem er
in Gott den Ersatz für den ermordeten Vater der Urhorde zu er¬
kennen glaubte. Aber auch ohne dieses „Unterbrechen“, welches
ja eine geniale Hypothese darstellt, können wir die hohe
') Nachträglich erfahre ich, daß schon Hermann Usener in seinen
-Oöttemamen“ nachgewiesen hat, daß die griechischen und römischen Götter
U! sprilnglich unpersönliche Kräfte waren, welche nur in der Funktion ihrer
Atribute vorgestellt wurden.
8 *
116
Bedeutung der Vaterimago zugeben und ihre Rolle bei der Ge¬
staltung der Götter würdigen. Wir verstehen es, wenn die von uns
aufgezeigten götterbildenden Tendenzen dieses Bild ergreifen und
benützen; wird doch dem Vater besondere Macht zugeschrieben und
er repräsentiert seit jeher den Träger der machtvollen, objektiv gel¬
tenden Normen, welche die autistischen Regungen des Individuums
unterdrücken.
Sollten wir mit unserer psychologischen Ableitung Recht haben,
so müssen sich in der Analyse der Religiosität Belege zu ihren Gun¬
sten auffinden.
Vergegenwärtigen wir uns, daß die Differenzierung der primi¬
tiven Religiosität Hand in Hand mit fortschreitender Objektivierung
der zugänglichen Erfahrungswelt einher^eht, so verstehen wir die
allmähliche Ablösung der mystischen Anteilnahme von Objekten,
welche gesetzmäßig bestimmte, von jedem Wunder ausgeschlossene
Kausalreihen bilden; schließlich steht der Mensch mitten in einer
Welt, welche er nach dem Maße seines Verständnisses beeinflussen
und umbilden kann, was aber nur dann möglich ist, wenn er sie in
ihrer Eigengesetzlichkeit anerkennt; auch ist er sich bewußt, daß er
sich den Gesetzen des objektiven Geschehens zu fügen hat und daß'
es Kausalreihen gibt, welche von seinen Wünschen und Wollen un¬
berührt bleiben müssen.
Während sich so die objektive Einstellung ausbildet und das
Walten der mystischen Kräfte und des Wunders der Herrschaft der
Naturgesetze weicht, bleibt das Göttliche noch immer die letzte Zu¬
flucht des Wunderbaren, die einzige Möglichkeit, den eisernen Ring
der objektiven Kausalität zu durchbrechen und die ursprüngliche
Zauberkausalität walten zu lassen. So ist Gott gleichsam die
Wirklichkeit, welche sich selbst entschlüpft,
indem sie sich den autistischen Strebungen des
Menschen anpaßt. Der einfachere Gläubige stellt sich noch
heute vor, der Gott sei nur dazu da, um die Wünsche und Bedürf¬
nisse der Gläubigen zu befriedigen, man muß nur stark genug beten
und glauben; so wird hier in urprimitiver Weise die endopsychische
Macht der Wünsche der Macht zur Verwirklichung gleichgesetzt.
Die ganze Naturkausalität wird da auf einmal über den Haufen ge¬
worfen, man sperrt sie einfach ab, durch die Vermittlung des all¬
mächtigen Gottes lenkt man die Begebenheiten der Welt nach,
eigenem Gutdünken.
In der primitiven religiösen Betätigung spielt die Götter¬
bezwingung eine nicht unwesentliche Rolle. F r a z e r bringt dar-
117
über einige hübsche Beispiele'), von denen ich nur eins anführen
will. Im Jahre 1710 herrschte auf der Insel Tsong Ming (Provinz
Nan King) große Trockenheit. Der Vizekönig versuchte den Gott
des Regens umzustimmen, indem er Weihrauchstäbchen verbrannte,
jedoch vergebens. Daraufhin warnte er den Gott, sollte der Regen
in bestimmter Frist nicht eintreffen, so würde er ihn aus der Stadt
verweisen und seinen Tempel zerstören. Diese Drohung blieb ohne
Erfolg, und der Vizekönig, empört, verbot dem Volke, dem wider¬
spenstigen Gotte Opfer zu bringen und versiegelte die Tore des Tem¬
pels. Endlich gab der Gott nach, ließ den Regen fallen und gewann
so die Herzen seiner Getreuen wieder.
Schon diese Tendenz der Religiosität weist deutlich auf ihre tiefe
Verwandtschaft mit der Magie hin. In der Tat bedarf es nicht erst
der völkerpsychologischen Untersuchungen, um zu sehen, daß Magie
in der Religion implizite enthalten ist; diese aber lehren die innigste
Vermengung der beiden Gebiete und zeigen, wie die Magie sich erst
allmählich von der Religion abgespalten hat*).
Die magischen Elemente der Religion illustriert vortrefflich fol¬
gender Passus aus dem Roman ColasBreugnon von Romain
Rolland.
Die Bauern belagern den Pfarrhof und verlangen, der Pfarrer solle mit
dem Allerheiligsten gegen die Plage der Maikäfer ausziehen. Die Menge:
-Verflucht! bist du unser Pfarrer? antworte uns ja oder nein? bist du es (und
du bist es), dann mußt du uns dienen“ . . . Der Pfarrer gibt folgende Schil¬
derung von der Mentalität seiner Gemeinde. „Diese Heiden, welche sich <ms
dem ewigen Leben nichts machen und ihre Seele nicht mehr reinigen als ihre
Füße, verlangen von ihrem Pfarrer Regen und schönes Wetter. Ich muß der
Sonne, dem Monde befehlen: „Ein bißchen Wärme, Wasser, genug, nicht zuviel,
kleine, sanfte Sonne, leichter Wind, vor allem kein Frost, auch keinen Guß,
... o Herr, dies für meine Weinberge. Nun brauche ich etwas Sonnenglut.“
Wenn man diese Lumpen hört, könnte man glauben, Gott habe nichts
besseres zu tun unter der Peitsche des Gebetes, als der Esel des
Gärtners, welcher angebunden an seinen Sodbrunnen, das Wasser hinaufbringt;
und dazu — und das ist das Schönste — sind sie untereinander nicht einig;
der Eine will Regen haben, während der andere Sonne möchte. Und dann
rufen sie zur Hüfe ihre Heiligen herbei. Es sind deren 37 da oben, welche
Wasser machen ... Sie tun, als ob ich und das Kreuz ihr Talisman
wären, gegen alles Untier, welches ihre Äcker beschädigt. Eines Tages ist
es gegen Ratten, welche das Korn in den Speichern fressen ... Prozession,
Exorzismus, Gebete an den heiligen Nicaise. Dann gegen Raupen. Gebete an
die heilige Gertrud, Prozession ... Heute Maikäfer. Noch eine Prozession!...“
') F r a z e r , Le rameau d’or, I, p. 114*—115.
*) Siehe besonders Hubert u. Mause, Theorie generale de la magie.
118
Das Schönste an der Geschichte ist, daß der gute Pfarrer die Mentalität
seiner Pfarrkinder teilt. Man bringt ihm die Nachricht, daß die Bauern, wütend
über seine Absage, gegen die Maikäfer auszuziehen, Exorzismen machen, um
das Ungeziefer in seine eigenen Weinberge und seinen Weinkeller zu senden.
Darüber gerät er in größte Verzweiflung und um der sicheren Kalamität zu
entgehen, entschließt er sich, dem Wunsche der Bauern zu willfahren und zieht
mit dem Kreuze aus. Er nennt dies „der Kreuzzug der Maikäfer“ (croisade
des hannetons).
Der Glaubende greift zu Gott besonders gerne in schwierigen
Situationen, wo sich sein bewußtes Können als unzureichend erweist;
die umgebende Realität ist machtvoller, unüberwindbar und man
wendet sich an jene umgebildete Allmächtige, aber dem Menschen
zugängliche Realität, welche Gott heißt.
Diese Tendenz zum Umgehen der natürlichen Kausalität, unter
Benützung des eigenen zur Verabsolutierung neigenden Wollens,
kann sich übrigens auch sonst zeigen unter gewöhnlichen, nicht
affektbetonten Umständen. Es bleibt mir deutlich in Erinnerung,
wie ich als kleiner Knabe das Brennen eines angezündeten Zündhölz¬
chens durch starke Willensanspannung verlängern wollte und fast zu
spüren glaubte, wie sich der Willensimpuls dem Holzstäbchen mit¬
teilte. Ich wußte damals ganz genau, nach welchen Gesetzen das
Brennen vor sich ginge und war ein entschiedener Gegner jeder
theologischen Weltanschauung.
Auch die besonderen Attribute der göttlichen Macht weisen deut¬
lich auf den psychologischen Ursprung Gottes hin. Gott ist zugleich
persönlich und allwesend, er ist über und in jeder Realität.
Seine Persönlichkeit läßt sich aber mit seiner Allwesenheit nur so
vereinigen, daß zwischen seiner Substanz und Wirkung nur sehr un¬
vollkommen unterschieden wird. Er ist überall, weil sich seine Wir¬
kung überall hin erstreckt. Er kann überall durchdringeri, kennt
keine Undurchdringlichkeit der Materie, weil er eben überall ist. Mit
dieser Charakterisierung ist die Auffassung seiner Kraft nach geisti¬
gem Modus gegeben. Zugleich aber bringt diese Kraft materielle
Wirkungen hervor und in dieser geistig materiellen, also nach diesen
Kategorien noch nicht differenzierten Eigenheit liegt, wie wir sahen,
das Typische der Kraftwirkungen nach der prälogischen Mentalität.
Die göttliche Substanz erfüllt im höchsten Grade das Gesetz der
mystischen Anteilnahme, sie ist etwas, und ist zugleich etwas ande¬
res, ohne aufzuhören, das erste zu sein. Sie ist eine verwandlungs¬
fähige Substanz (Preuß). Kommt noch das Attribut der Persön¬
lichkeit, Verdichtung der Kraft zu einem persönlichen Geiste hinzu,
so erscheint uns der Gott im wesentlichen als ein mit höchsten Po¬
tenzen begabter Magier.
119
Sehen wir von der Persönlichkeit Gottes ab, so bleibt nur übrig
das Machtvolle, Wirksame, Beseelende an der Realität, um mit Philo¬
sophen zu reden, etwa die Substanz Spinozas, vereinigt mit dem
w5c des Anaxagoras. Als voüc, als Kraft, kann Gott jedem Teile der
Realität innewohnen, womit sich die prinzipielle Forderung der prä¬
logischen Mentalität erfüllt: der Teil gilt für das Ganze.
Entspricht so die Immanenz Gottes dem wenig differenzierten Kon¬
takte zwischen Psyche und Welt, welcher die Beseelung der Welt
möglich macht, so entspricht seine Transzendenz der ersten Spaltung
dieser ursprünglichen Einheit und dem werdenden Wissen um die
Unzulänglichkeit der äußeren Realität. Die historische Entwicklung
der religiösen Grundbegriffe bestätigt dies vollauf; zwischen dem
Göttlichen und der Realität wird zunächst gar nicht unterschieden
und die Scheidung des Weltgeschehens in das Natürliche und Über¬
natürliche ist unbekannt, da alles ebensowohl natürlich als über¬
natürlich aufgefaßt wird. Es gibt keine Wunder, weil alles ein Wun¬
der ist. Die ursprünglichen göttlichen Kräfte der Primitiven, das
Mana, Orenda, Wakan usw. sind ihrem Wesen nach immanent. Erst
die spätere Entwicklung schafft die Distanz zwischen der göttlichen
und „natürlichen“ Realität und volle Transzendenz existiert wohl
nur in theologischen und metaphysischen Doktrinen, nicht aber im
Glauben des einfachen Volkes.
Ein weiterer psychologischer Beweis der Richtigkeit unserer
Anschauungen ist unmittelbar aus den religiösen Bekenntnissen zu
schöpfen. Die Vereinigung mit Gott wird von den Mystikern als das
Erfassen aller Realität erlebt und gepriesen; die Extase beglückt sie
als Aufhebung der Subjekt-Objektspaltung.
So berichtet die Mystique moderne von Flournoy')
über die triumphierende und nicht erschlossene (irraisonnee) Über¬
zeugung, welche sie in der Extase erlebte, des Kontaktes mit dem
was ist, des „Herannahens der wesentlichen Realität“. Sie „fühlt:
dasjenige, womit sie im Kontakt war, ist die Norm, das was sein soll,
was an sich ist (ce qui est en soi)“.
Diese letztere Charakterisierung des Göttlichen macht es zum
Träger der überindividuellen Normen, des moralischen Sollens; Gott
ist so die Realität, welche über die gegebene Re¬
alität hinausgeht, er ist das Höhere, Normative, unbedingt
Seiende gegenüber dem Vergänglichen, Bedingten, Individuellen.
Auch diese letztere Betonung, das Erleben Gottes als des Allgemei-
') Archives de Psychologie, Tome XV. 1915.
120
nen gegenüber eigener Beschränktheit durch die Rahmen der Indivi¬
dualität, wird gerade in den Berichten der Mystique moderne
scharf beleuchtet.
Es zeigt sich deutlich, warum Gott zugleich als Träger der Natur-
wie der moralischen Weltordnung aufgefaßt wird. Es sind dies die
beiden Elemente der Wirklichkeit, mit welchen sich der Mensch seit
jeher abzufinden hatte und welche sich aus seinem engen Ver¬
wachsensein mit der Kollektivität und der umgebenden Natur, all¬
mählich herauskristallisierten.
Sehen wir uns andere religiöse Attitüden an, so können wir
nebst der vorhin besprochenen, die man als magische bezeich¬
nen kann, hauptsächlich zwei andere unterscheiden, welche, obwohl
eher der höheren Religiosität eigen, ihren tiefliegenden psychologi¬
schen Ursprung klar offenbaren. Die teleologische Attitüde
leugnet zwar nicht die kausale Determinierung des Naturgeschehens,
vermag sich aber mit dieser objektiven, von jedem subjektiven Ein¬
greifen unabhängigen Realität nicht einfach abzufinden, sondern sieht
in ihr das Walten höherer Vernunft und statt der „blinden“ Natur¬
kausalität vernünftige Zweckursachen. Diese entsprechen nämlich
viel besser den psychischen Bedürfnissen des Gläubigen und verhel¬
fen ihm zur verhüllten Eigenbeziehung, mit welcher er sein gesamtes
Weltbild durchtränkt.
Denn, so vertröstet er sich, bleiben ihm auch die Absichten
Gottes unbekannt, so besteht immerhin die Hoffnung, sie einmal zu
erkennen, jedenfalls gestaltet sich das Weltgebäude wohnlicher,
sympathischer, indem es seiner Psyche besser angepaßt ist.
Diese Motive führen zu der dritten Attitüde über, welche sich
noch persönlicher gestaltet, und welche wir die fatalistische
nennen wollen. Man empfindet es als unerträglich, einer Menge von
objektiv gegebenen und nicht beeinflußbaren Faktoren unterworfen
zu sein, man will sein Geschick ändern und doch anerkennt man die
objektive (oder auch subjektive) Unmöglichkeit dieses mächtigen
Wunsches. Die Vorstellung der göttlichen Fügung des Schicksals
vermittelt zwischen diesen beiden entgegengesetzten Tendenzen. Man
erlebt sein Schicksal als von einer höheren Realität durchgängig be¬
stimmt, einer Realität, welche man sich vernünftig vorstellt. So
kann das scheinbar Sinnlose, Unzweckmäßige, Unberechenbare des
eigenen Daseins in einen vernünftigen, sinngemäßen Zusammenhang
eingereiht werden, welchen man nur vorläufig nicht übersieht, wel¬
cher aber um so sicherer postuliert wird.
Ist man so einerseits resigniert gegenüber den Ereignissen, wel-
121
che mit eigenen Wünschen nicht übereinstimmen, so gewinnt man
andererseits die wunderbare Zuversicht des Gläubigen, welcher mutig
in die Welt zieht, sicher, daß ihm ohne Gottes Willen kein Haar ge¬
krümmt wird.
Diesem letzteren Motiv begegnet man auch sonst bei nichtreligi-
öä€n Menschen, welche an ihren besonderen „Stern“ glauben, als ob
sie für etwas Besonderes „bestimmt“ wären, so daß ihnen kein Un¬
heil zustoßen kann.
Wie mannigfaltig sich die hier angedeuteten Tendenzen in der
Geschichte der religiösen Entwicklung der Menschheit verwirklichen,
sei nur an dem Beispiele der griechischen Götter erläutert. Diese
waren machtvoll, jeder in seinem bestimmten Gebiete, ihre Macht
war aber eingeschränkt nicht nur durch diese Spezialisierung, son¬
dern vor allem durch duapnq > das unabwendbare Schicksal, die
eiserne Notwendigkeit, welcher sich selbst die Olympier beugen
mußten. So war hier die objektive Notwendigkeit eigenartig hypo-
stasiert, ja sogar personifiziert'), jedenfalls in ihrer* vollkommenen
Unabhängigkeit von allen subjektiven Motiven anerkannt; trotzdem
blieb ein weiter Rahmen für das Spiel menschlicher Wünsche, welche
sich durch die Vermittlung der Götter die Wirklichkeit in autistischer
Weise zu eigen machten.
Berücksichtigen wir die Art der Zuwendung zur Welt, so sehen
wir in der Religiosität zwei Grundtendenzen miteinander kämpfen,
ater auch ruhig nebeneinander bestehen; die weltliebende und die
weltflüchtige. Die höhere göttliche Realität wird in der gegebenen
Wirklichkeit erlebt und jegliches Ding als Erscheinung Gottes aner¬
kannt und geliebt; man bejaht, man liebt die Welt, weil man in ihr
das Göttliche erblickt. Oder aber verneint man die Welt und sieht
in ihr eine niedrigere Stufe der wahren göttlichen Realität; um dieses
Ideal zu erreichen, glaubt man auf die gegebene Wirklichkeit ver¬
zichten zu müssen. In dieser selbsterwählten Abwendung liegt die
tiefe Wurzel der Askese.
Wir werden so gezwungen, das Problem nach dem Ursprung und
der Bedeutung der Askese anzuschneiden, welches zutiefst mit unse¬
rer Fragestellung zusammenhängt. Es ist nämlich sofort klar, daß
hier eine besondere Einstellung der Psyche zur Welt verwirklicht
wird, welche bei ihrer ungemein großen Verbreitung, tiefe Wurzeln
in der Grundstruktur der menschlichen Psyche haben muß.
') Den höchsten Grad erreicht diese Personifizierung des Schicksals bei
Spitteier, Der olympische Frühling, wo Ananke als ein persönlicher Gott
dargestellt wird.
122
In der Tat sind die asketischen Motive in den primitivsten Reli¬
gionen nachzuweisen und sie bilden bekanntlich einen wichtigen Be¬
standteil aller späteren hochentwickelten Religionsformen.
Bei den Primitiven spielen die sogenannten negativen Riten,
vor allem die Tabuverbote, eine ganz hervorragende Rolle und auch
sonst wird das gesamte Leben durch schwere Einschränkungen und
Verzichtleistungen geregelt. Bevor man etwas wichtiges unter¬
nimmt, zum Beispiel auf die Jagd geht, muß man fasten und sich vom
Umgänge mit der Frau fernhalten; dasselbe gilt auch für die wichti¬
gen kollektiven Zeremonien wie der Intichiuma. Besonders hervor¬
ragend ist die Rolle der asketischen Tendenzen in den Pubertäts-
w'eihen der Primitiven. Die Jünglinge, welche in die Gesellschaft
der Männer aufgenommen werden sollen, müssen nicht nur jeden Ver¬
kehr meiden, müssen jeder Frau, auch der eigenen Mutter, fern-
bleiben, ihre Nahrung auf das Mindeste reduzieren; außer diesen
obligatorischen Verzichtleistungen werden sie wahren Qualen aus¬
gesetzt, geschlagen, von Ameisen gebissen, durch allerlei Übungen,
Durst und Hunger erschöpft und betäubt.
Schon diese kurze Übersicht zeigt, daß die asketischen Ver¬
zichtleistungen und Übungen besonders wichtigen Lebensmomenten
vorauszugehen pflegen, welche dem Individuum Positives bieten.
Man fastet vor der Jagd, als ob man sich dadurch eine mystische
Kraft zu sichern glaubte, man übt sexuelle Abstinenz, bevor man in
den Krieg zieht, man verzichtet auf die gewohnte Umgebung und
lebt in der Waldeinsamkeit, um dadurch auf die Männerweihe vor¬
bereitet zu werden.
Prinzipiell nicht verschieden ist die Enthaltsamkeit vor den
großen religiösen Zeremonien. Der Gläubige hält sich weit von allem
Profanen, um an dem Heiligtum teilnehmen zu können. Er ver¬
zichtet auf das Gewohnte, um das Großartige, Mystisch-Religiöse zu
besitzen.
Preuß') zeigt an demonstrativen Beispielen, wie die asketi¬
schen Praktiken das Ziel anstreben, die Zauberkraft des Menschen zu
erhöhen und so der autistischen Beeinflussung der Realität dienen.
„Ja, sogar irgendwelche Ereignisse, mit denen man nichts zu
tun hat, kann man durch Fasten nach seinem Willen lenken. Die
Azteken und Tepehuana von Pueblo viejo in Tepic z. B. fasteten zwei
Monate, damit Porfirio Diaz Präsident von Mexiko würde, und
wandten auch sonst das Mittel an, um beliebte Beamte in ihrer Stel¬
lung zu erhalten.“
») Globus 87, p. 417.
123
Wir sehen, daß schon in den primitiven Formen die Askese ein
Mittel zum Zweck ist, niemals bloßer Verzicht um des Verzichtes
willen. Würde sie als Selbstzweck ein biologisches Paradoxon sein,
so ist sie hingegen in ihrer wirklichen Bedeutung biologisch ver¬
ständlich und notwendig.
Die ganze Entwicklung der menschlichen Psyche zählt den Ver¬
zicht zu ihren Hauptmotiven. Die Differenzierung und die Ausbil¬
dung der Grundbeziehung Psyche-Welt baut sich auf die zunehmende
Realitätskorrektur auf, welche dem Lustprinzip Einbuße tut und zum
fortwährenden Aufschub der Befriedigung, zum Verzicht, zwingt.
Natürlich spielt dabei die Vergesellschaftung eine besonders hervpr-
ragende Rolle, indem die Gesellschaft den Einzelnen notwendiger¬
weise einschränkt, um ihr Bestehen überhaupt zu ermöglichen.
Wir sehen auch dementsprechend, daß die primitive Askese von
der Kollektivität gefordert wird, welche sich hier als ein mächtiger
Entwicklungsfaktor erweist.
Dieselben Faktoren, welche den Verzicht als ein Leitmotiv der
psychischen Entwicklung bedingen, setzen zugleich die differenzie¬
rende Wertung der Objekte, welche dem Menschen erstrebenswert
erscheinen; indem er lernt, seine Triebe in den Dienst seiner Absich¬
ten und Ziele zu stellen, bildet er auch die Werttafeln aus, nach
welchen er die Dinge beurteilt. Er sieht sich gezwungen, manches
zu opfern, um anderes zu erreichen.
Die kollektiven asketischen Praktiken sind nur ein gesteigerter
Ausdruck dieses tief verwurzelten psychischen Verhaltens. Von be¬
sonderer Bedeutung ist aber die religiöse Weihe, welche diese Zere¬
monien erhalten und welche durch die obigen Ausführungen ungenü¬
gend erklärt ist.
Ihre nächste Quelle liegt sicherlich in ihrem kollektiven Ur¬
sprung*). Dieser verleiht ihr den normativen, unbedingt gültigen
Charakter und läßt jedes Übertreten der entsprechenden Vorschrif¬
ten als ein schweres Verbrechen erscheinen.
Andererseits wird die religiöse Weihe des negativen Zeremo¬
niells durch die psychologische Grundstruktur der religiösen Realität,
wie wir sie vorhin besprochen haben, verständlich. Denn die reli-
. giöse Wirklichkeit ist die Welt, gesehen im Lichte der autistischen
Tendenzen der Psyche, die Welt, ausgestattet mit besonderer Macht,
i durch die psychischen Potenzen beseelt und an der Psyche teilneh-
■ mend. Um diese höhere, mächtigere Realität zu erlangen, mit deren
I
') Vgl. D u r k h e i m , 1. c.
124
Hilfe man auch die gegebene Welt des Alltags zu beeinflussen hofft,
verzichtet der Gläubige auf die letztere, trennt sich zeitweise von
der gewohnten Umgebung, um in sich die religiösen Kräfte zu voller
Entfaltung, zu voller Spannung zu bringen.
Daß dabei von bloßem Verzicht zum Schmerz leicht Uber¬
gegangen wird, zeigt, daß der Primitive seine willenserhärtende
Wirkung rechtzeitig erfaßt hatte und das Bedürfnis fühlte, die Be¬
deutsamkeit des Verzichts und die Wichtigkeit des zu Erlangenden
mit starken Mitteln zu dokumentieren.
Die asketischen Praktiken sind eine starke Übungsschule der
Triebe, ein Regulator des mächtigen Lebenstriebes, welcher alles für
sich fordert und welcher doch in seiner unbändigen Betätigung alles
höhere geistige und soziale Leben unmöglich machen würde.
Durch den obligatorischen Verzicht wird der Mensch daran er¬
innert, was er der Gemeinschaft und jener weiteren Gemeinschaft,
welche die gesamte Realität heißt, schuldet; in dem Verzicht lebt
diese Gemeinschaft des Menschen mit seiner Welt auf, er opfert
den Mächten, mit denen er sich aufs engste verbunden und ab¬
hängig fühlt.
In diesem Sinne ist eigentlich jede Opferbringung eine
asketische Betätigung. Der Opfernde bringt tatsächlich ein
Opfer, wodurch er symbolisch zeigt, daß er der Gottheit alles
zu verdanken hat. Er fühlt das Bedürfnis, dieses Verhältnis zu
bezeugen, offenbar, um von der höheren Macht in dem Besitz seines
Teiles der Welt aufrechterhalten zu werden. So ist in jedem
Opfernden etwas von Polykrates, welcher die Götter, ob seines
übermäßigen Glückes willen, versöhnen zu müssen glaubte.
Von den negativen Riten des Primitiven zur konsequenten
Askese des christlichen oder buddhistischen Einsiedlers führen alle
Übergänge. Die zum freiwilligen Verzicht führenden psychischen
Tendenzen neigen zur Verabsolutierung, die Wertbetonung wird
der tatsächlich gegebenen Realität gänzlich entzogen, dieweil die
autistische Realität als ausschließlich erstrebenswerte erscheint. So
ergibt die Verallgemeinerung und Verabsolutierung der asketischen
Motive den Wunsch nach dem Transzendentalen, welcher von so
großer Bedeutung in der Entwicklung des menschlichen Ge¬
dankens ist. •
Wir sehen sogleich, wie leicht sich hier der Übergang aus dem \
praktischen in das theoretische Gebiet vollzieht. Während man zu- \
nächst auf die Realität praktisch verzichtet, weil sie schlecht und/
V
125
unwürdig erscheint, kommt man sekundär dazu, sie auch theoretisch
tu verleugnen und als imwirklich hinzustellen.
Diese theoretische Form der asketischen Einstellung, welche
für die Gestaltung der metaphysischen Systeme offenbar von größter
Bedeutung ist, wollen wir im letzten Kapitel besprechen.
V. KapiteL
Prälogische und logische Mentalität bei Normalen.
Die prälogische Mentalität, welche den Auffassungen der Pri¬
mitiven und unserer Schizophrenen zugrunde liegt, ist nicht etwa
eine gänzlich verschüttete, prähistorische Denkweise. Schon die
Möglichkeit einer Regression bei unseren Kranken beweist, daß die
prälogischen Mechanismen neben oder besser unter den logischen
latent vorhanden waren. In der Tat ergibt nähere Prüfung, daß
dieselben eine nicht unerhebliche Rolle spielen und sogar wichtige
Lebensgebiete gänzlich beherrschen.
Zunächst ist auf die Psychologie des Kindes hinzuweisen. Schon
der Urheber des Begriffs vom autistischen Denken, Bleuler, be¬
tont den besonderen Charakter des kindlichen Denkens, welches so
leicht die umgebende Wirklichkeit absperrt und auf deren Stelle
die imaginativ geschaffene setzt. Wachträumen und Spielen sind
typische Manifestationen des kindlichen Autismus, und von be¬
sonderer Bedeutung ist hier der Emst, mit dem das Spielen betrieben
wird; die gespielte Wirklichkeit wird zur tatsächlichen, bedeut¬
samen, und die Kinder scheuen sich sehr vor dem kritischen Auge
der Erwachsenen, welche das zerbrechliche Gebäude ihrer Einbil¬
dung zu zerstören drohen.
Im Spiele identifizieren sich Kinder mit anderen Personen oder
Objekten. Objekte werden leicht zu Trägern bedeutsamer Wünsche
und affektiver Tendenzen, sie verlieren ihre gewöhnliche, wirkliche
Bedeutung; ein Stock wird zum Pferde, zusammengeknüllte Fetzen
zur Puppe, ein Stuhl zum Eisenbahnwagen. Der kleine Junge ist der
Vater, der Herr Doktor, der Zugführer, das kleine Mädchen die Mut¬
ter, die Prinzessin, die Marktfrau.
Besonders gerne identifizieren sich Kinder mit geliebten Objek¬
ten, sie verwandeln sich in den Hund, in das Kätzchen und suchen
sich deren Verhalten anzueignen. In besonderen Situationen werden
komplizierte Zusammenhänge autistisch umgebildet und den subjek¬
tiven Tendenzen angepaßt. Der achtjährige Gymnasiast von M a r -
kuszewicz 1 ), bedrängt durch die Not der Eintrittsprüfung, bildet
') Markuszewicz, Beitrag zum autistischen Denken bei Kindern,
Intern. Zeitschr. f. Psychoanalyse VI, 1920.
die Situation stufenweise um, indem er zunächst den von ihm ge¬
machten Fehler in den aufgegebenen gedruckten Text hineinschreibt,
sodann das ganze Buch, wo dieser Text enthalten war, beschädigt
und so die Schuld auf den Vater wälzt, indem er sich einbildet, daß
ihm dieser ein altes Lesebuch verschafft hatte.
Momentane Einfälle beherrschen die kindliche Psyche, die Ur¬
teile sind überwiegend affektiv gefärbt und zwischen Wunsch und
Wirklichkeit wird nur unvollkommen unterschieden.
Es wäre falsch, zu meinen, diese Besonderheiten der kindlichen
Psyche beruhen nur auf ihrem ungenügenden Erfahrungsschätze.
Denn auch der Imbezille verfügt über ungenügende Erfahrung und
vermengt trotzdem die subjektive mit der objektiven Wirklichkeit in
unvergleichlich geringerem Maße. Die Bedeutung der ungenügenden
Erfahrung kann man aber dahin präzisieren, daß sie bei dem Kinde
Gebiete aussondert, welche für das prälogische Denken besonders
prädestiniert sind. Die Tatsache des prälogischen Denkens selbst
muß aber tiefere Gründe haben, welche in der mangelhaften Differen¬
zierung der kindlichen Grundbeziehung Psyche-Welt liegen.
Mit eigenem Leben beschenkt das Kind umgebende Gegenstände.
Ich sah ein 6jähriges Mädchen vor dem ersten Schulgang verweint
von den Bäumen des elterlichen Gartens Abschied nehmen, sie um¬
armte jeden einzelnen Baum und sprach mit jeder Blume. Auch be¬
schuldigt das kleine Kind den bösen Tisch, woran es sich angeschla¬
gen hat. Ein zweijähriges Mädchen schimpfte auf den bösen Wind,
der die Mutter zerrauft hatte (Q u e y r a t).
So legt das Kind in die umgebenden Gegenstände eine lebendige
Kausalität hinein, es überträgt auf sie seine eigenen bewußten Ab¬
sichten und verleiht ihnen seinen eigenen zweckmäßigen Willen.
Sully erzählt von einem 5jährigen Mädchen, welches eines Tages
ihren Reifen aufhielt und zu ihrer Mutter äußerte: „Mutter, ich
glaube, mein Reifen ist lebendig, er ist so intelligent, er geht, wo
ich will.“
Durch die Analogie mit eigenem Tun geleitet, frägt das Kind
nach dem Wozu zumindest ebenso eifrig, wie es nach dem Warum
frägt. Diese teleologische Betrachtungsweise wird leicht anthropo¬
zentrisch gefärbt, indem das Kind glaubt, die Dinge existieren nur
ihm zu Liebe, sie richten sich nach seinen Befürchtungen und Wün¬
schen. Drastisch illustriert diese typisch primitive Auffassung das
von Queyra t zitierte Beispiel: ein kleines Mädchen glaubt, daß der
Wind, der Regen und der Mond kommen, während sie spazieren geht,
nur um sie zu betrachten, und daß die Blumen mit der gleichen
lobenswerten Absicht erwachen.
128
Bei der mangelnden Selbstkritik und dem unausgebildeten Be¬
dürfnis nach der Objektivität und nach objektiver Kontrolle subjek¬
tiver Gegebenheiten, ist es natürlich, daß Kinder ihre Einfälle so oft
für Wirklichkeit halten. Kindliche Suggestibilität und Autosuggesti-
bilität sind wohl bekannt. Mit erwünschter Klarheit äußert sich dazu
S u 11 y: „alle Ideen, welche bei Kindern unter dem Stachel eines
starken Interesses klar und scharf werden, sind sehr dauerhaft und
abnorm lebhaft. Das kindliche Gehirn hat in einem gewissen Maße
die Fähigkeit der täuschenden Suggestion gleich dem Gehirne eines
Hypnotisierten“ 1 ).
Einbildung wird von Realität oft nicht unterschieden und bei der
lebhaften Phantasie des Kindes ist so die Grundlage für pseudologi¬
sche Produktionen gegeben, welche in dem viel zitierten Passus aus
Gottfried Kellers „Grünem Heinrich“ eine lebendige Illustra¬
tion gefunden haben.
In der Mentalität des Erwachsenen finden sich vielfach Gebilde,
welche mit logischen Normen nichts zu tun haben, zu ihnen im direk¬
ten Widerspruch stehen und von jedem logischen Einwand unberührt
bleiben. Ebensowenig werden sie durch die Erfahrung verändert, ja
sie widerstehen jeder Korrektur der Realität, was darauf hinweist,
daß ihre tiefsten Wurzeln nicht in der objektiven Wirklichkeit lie¬
gen können.
Von denjenigen, welche beim Anblick einer Sternschnuppe einen
Wunsch aussprechen, glauben gar viele an die Möglichkeit der Er¬
füllung und bereuen es sehr, wenn ihnen in dem entscheidenden
Augenblick kein Wunsch einfällt. Keiner weiß den Glauben zu be-
*) Folgender Passus von Compayre, „L’Evolution intellectuelle et
morale de l’enfant“ gibt eine gute Charakteristik gewisser Züge des kindlichen
Denkens:
„L’ötourderie, qui charactörise presque toujours le jeune äge, n’a pas de
principe plus certain. Chez l’adulte, chez l’homme röflöchi, la pensöe se
possöde, prend son temps, intercale entre la (onception de l’idöe et le juge-
ment un plus ou moins grand nombre d'intermödiaires, Chez l’enfant la
pensee eclate, jaillit comme mue par un ressort, avec les caracteres presque
d’une action reflöxe. Son Intelligence repond par une röaction immödiate
k l’excitation des idöes, comme sa volontö cöde sans rösistance k la sollicitation
des desirs. En d’autres termes il n’y a pas, chez l’enfant de facultö
d’inhibition intellectuelle qui puisse modörer, suspendre, mürir ses jugements,
pas plus quil’ n’y a de faculte d’inhibition volontaire qui tempere ses im-
pulsions actives. D bondit, pour ainsi dire, sur la premiöre idee qui se prä¬
sente, comme U se jette sur ses jouets, etourdiement, tete baissöe. La plupart
de ses erreurs proviennent de la meme cause que ses faux pas et ses chutes:
de ce qu’il va trop vite et se pröcipite impatiemment vers le but.“
129
gründen und viele sind sich klar über seine logische Unzulänglich¬
keit, was sie aber nicht im geringsten hindert, an dem Brauche mit
voller Überzeugung festzuhalten. Sie wissen, daß die Erschei¬
nungen des Sternenhimmels in eine Kausalkette gehören, welche sich
mit ihrem Menschengeschick keineswegs berührt, sie wissen, daß die
beiden Erscheinungsgruppen zueinander in rein zufälligem Verhältnis
bleiben und sie kümmern sich nicht mehr um astrologische Horo¬
skope. Dieses Wissen entwurzelt aber nicht ihren Aberglauben,
welcher subjektiven Wunsch mit objektivem Geschehen unmittelbar
vermengt und jede objektive Kausalität umgeht.
Bekanntlich sind ähnliche Aufstellungen den meisten Kultur¬
menschen gemeinsam. Bei den modernen Wahrsagerinnen der Gro߬
städte setzt sich das meistens außerordentlich zahlreiche Publikum
durchaus nicht nur, und nicht einmal vorwiegend, aus ungebildeten
Ständen zusammen und ich habe intellektuelle und gebildete Men¬
schen gesehen, welche sich mit großem Interesse Karten legen ließen
und dem Ergebnis einen erheblichen objektiven Wert beimaßen.
Warum ist es ein schlechtes Vorzeichen, einer schwarzen Katze
oder einer Nonne zu begegnen? Jeder Denkende weiß ganz genau,
daß zwischen den ihn erwartenden Ereignissen und dem Treiben
einer Katze resp. der Begegnung einer Nonne kein objektiver Zu¬
sammenhang besteht. Dieses Wissen um die vollkommene Zufällig¬
keit dieser ominösen Erscheinungen bleibt aber theoretisch und hin¬
dert nicht den praktischen Aberglauben.
Man findet wenige Menschen, die sich nicht ab und zu Orakel
stellen. Man macht die Zukunft, das Gelingen eines Unternehmens,
das Erhalten einer Stelle, die entscheidende Antwort der Geliebten,
abhängig von der Teilbarkeit einer Zahl, der Zahl der Stufen an der
Treppe und anderem mehr. Diese prälogischen Aufstellungen sind eine
unmittelbare Anlehnung an die Mentalität des Primitiven. Dieser
aber wußte noch nichts von der Scheidung zwischen verschiedenen
Kausalketten und so war bei ihm das Orakelstellen eine geradezu
logische Konsequenz seiner Denkweise. Der moderne Kulturmensch
verzichtet nicht auf den prälogischen Einschlag, welcher von seinem
von logischen Normen beherrschtem Denken sonderbar absticht.
Das letztere Beispiel, welches uns an die wichtigen kollektiven
Erscheinungen der M a n t i k und der 0 r d a 1 i e n erinnert, führt
uns zu kollektiven Niederschlägen der prälogischen Mentalität,
welche seit jeher eine bedeutsame Rolle spielen. Wir hatten schon
Gelegenheit, über die logische Struktur der religiösen Phänomene zu
Bychowski, Metaphysik und Schizophrenie. (Abhandt. H. 21.) 9
180
sprechen und wollen darum nur kurz den prälogischen Charakter
mancher Glaubensdogmen und Praktiken beleuchten.
Ich erinnere mich an meinen Lehrer der Logik, welcher sich bei
der Besprechung der Induktion folgendermaßen über die unbefleckte
Empfängnis äußerte: „Meine Beobachtung lehrt mich,“ sagte er uns,
„daß Jungfrauen nicht gebären, dies beweist aber keineswegs, daß
sich dies nicht doch einmal hat ereignen können. Hingegen gibt mir
die Heilige Schrift die Sicherheit, daß dieses wunderbare Vorkomm¬
nis in der Tat stattgefunden hat.“ In typischer Weise ist hier jene
doppelte Buchführung ausgedrückt, welche für das religiöse Denken
so charakteristisch ist. Neben der objektiv beobachteten Realität,
für welche gesetzmäßige, logisch geprüfte Zusammenhänge gelten,
wird ein weites Reich für das Wunderbare gelassen, welches von
allen Normen des objektiven Denkens unberührt bleibt.
Noch deutlicher wird dies durch die Betätigung religiöser Men¬
talität in der Praxis beleuchtet.
In katholischen Ländern wird kein Haus gebaut, ohne daß der
Grundstein nicht vorher mit Weihwasser besprengt und vom Prie¬
ster der Segen Gottes auf den Neubau herabgefleht wird. Desglei¬
chen gilt für die Eröffnung einer Fabrik, eines Spitals, einer Eisen¬
bahn usw. Diese Praktiken sind gleichbedeutend mit den Vorschrif¬
ten, welche der Primitive beobachten muß, bevor er auf die Jagd
oder in den Krieg zieht. In beiden Fällen genügt es den Beteiligten
nicht, daß sie alles nach bestem Wissen und Gewissen vorbereitet
haben, dem Primitiven, daß sein Geschütz bereit, sein Mut, Kraft
und Geschicklichkeit erprobt sind, dem Katholiken, daß sein
Haus nach allen Regeln der Architektur gebaut wird, man
muß sich die unsichere, teilweise unzugängliche und unberechen¬
bare Realität durch Zauberpraktiken sichern, denen im Grunde eine
größere ausschlaggebende Bedeutung beigemessen wird, als sämt¬
lichen technischen Fertigkeiten.
Wichtige Lebensgegebenheiten stehen im Banne magisch religi¬
öser Zeremonien. So bekommt die Ehe ihre eigentliche Weihe in der
Kirche, und selbst in protestantischen Ländern, wo die Zivilehe ein¬
geführt wurde, betrachtet man auch von ungläubiger Seite die Ehe
als vollgültig, erst nachdem sie auch vom Priester gesegnet wurde.
Erst der Vermittler zwischen dem Menschen und der Gottheit voll¬
zieht jenen starken Bund (man denke an die ganz durchsichtige Sym¬
bolik der Zeremonie), sichert ihm Bestand und Gedeihen und schützt
ihn vor feindlichen Mächten.
131
Es wäre ein Leichtes, die logische Struktur anderer Riten und
Dogmen aufzuzeigen, welche, sämtlich in der prälogischen Mentalität
verwurzelt, deren hohe Bedeutsamkeit beweisen.
Ich will nur noch auf die typisch primitiven Einschläge in man¬
chen noch heute bestehenden Glaubensformen hinweisen. Wir sahen:
dem Primitiven ist das Bild gleichbedeutend mit dem Original, es hat
alle Eigenschaften des letzteren, es entfaltet die gleichen Wirkungen.
Dem gläubigen Katholiken ist das Marienbild gleichbedeutend mit
der Jungfrau Maria selbst, es kann Wunder bewirken, ja es gibt be¬
rühmte Marienbilder, welche mit besonderer Wunderkraft begabt sind
und welche das Ziel weiter Pilgerfahrten bilden.
Der ganze weit verbreitete Reliquienglaube hat die Übertragung
wunderbarer Eigenschaften der heiligen Persönlichkeit auf Gegen¬
stände, welche mit derselben in Berührung kommen, zur Vorausset¬
zung. In Rußland verkaufte man noch vor kurzem Heiligenasche,
Heiligenhaare usw., welche gleichsam als Amulette gegen allerlei
Übel getragen wurden, ein Aberglaube, welcher von dem Primitiven
geradezu entlehnt zu sein scheint.
Aber auch gebildete Europäer tragen nicht selten Amulette, be¬
sonders wenn sie ihnen von einer teueren Person geschenkt wurden;
sie sollen beschützen, sie sollen einen heil und gesund bewahren, man
trennt sich von ihnen nicht beim Schwimmen, nicht in der Schlacht
usw. Bei den nüchternen Holländern bekommen die Kinder von den
Eltern Amulette, welche sie immer tragen müssen.
Ganz einfache Akte bekommen auch eine immense magische Be¬
deutung. Man klopft dreimal auf den Tisch, um ein Unglück zu ver¬
hüten und der gläubige Russe bekreuzigt sich, wenn er eine Tram¬
fahrt oder gar Eisenbahnfahrt unternimmt. Kein Wunder, daß die
Bedeutsamkeit des Aktes jedes Detail wichtig erscheinen läßt, wo¬
durch unter Umständen eine ungeheure Formalistik entwickelt und
mit starkem Affekt besetzt wird. Im Rußland des 17. Jahrhunderts
gab es blutige Kämpfe darüber, ob man sich mit zwei oder drei Fin¬
gern bekreuzigen solle und jede Partei verteidigte ihre unerschütter¬
liche Überzeugung mit größter Hartnäckigkeit.
Mit gleicher Hartnäckigkeit klammert man sich an Worte, For¬
meln, welche an und für sich einen mystisch magischen Sinn bekom¬
men, dadurch, daß sie au bedeutsamen religiösen metaphysischen
oder gar politischen Zusammenhängen teilnehmen. Das Wort wird,
ähnlich wie bei Primitiven und Schizophrenen, zu einer Zauber¬
substanz.
9*
132
Auch die Massenpsychologie bildet ein überaus günstiges Gebiet
für die Betätigung der prälogischen Mentalität. Es ist ja bekannt,
wie oft die Masse absurd urteilt, da wo der Einzelne einer vernünfti¬
gen Einsicht fähig wäre. Widerspruchsvolle Aufstellungen werden
kritiklos geglaubt, blitzartige Eingebungen und unbegründete Ein¬
fälle für objektive Begebenheiten gehalten. Ein kleines Beispiel aus
der Literatur. Anatole France erzählt einmal (Les dieux ont
soif), wie während der französischen Revolution das Volk vor dem
Bäckerladen auf die Brotverteilung wartet. Die Menge, welche sich
stundenlang anstellen muß, diskutiert und erörtert die Tagesereig¬
nisse, als plötzlich eines der wartenden Mädchen mit Entsetzen das
Verschwinden ihres Geldbeutels bemerkt. Alles ist über den Dieb¬
stahl entrüstet und man schickt sich an, den Dieb streng zu be¬
strafen. Man muß ihn aber doch erst ausfindig machen und da
richten sich die Augen aller auf einen ruhig wartenden Mann,
welcher durch seine offensichtlich priesterliche Herkunft der radi¬
kalen und antiklerikalen Menge verdächtig erscheint. Der kollektive
Verdacht wird sofort zur Gewißheit und die kleine Tatsache, daß
sich der Mann, welcher seinen Platz in der Reihe nicht verlassen hat,
dem bestohlenen Mädchen nie genähert, wird gar nicht beachtet.
Auch nicht, als ein Vernünftiger darauf aufmerksam macht; den
hält man dann für den Komplizen des Diebes.
Subjektive Überzeugung, verwurzelt in allgemeiner affektiver
Konstellation, unterdrückt hier die Korrektur der objektiven Er¬
fahrung, so daß der Widerspruch nicht beachtet und nach seinem
tatsächlichen Wert eingeschätzt, sondern falsch ausgedeutet wird.
Die Kulturgeschichte der Menschheit ist erfüllt von Beispielen
dieser Mentalität, welche ihr so oft sonderbares und tragisches Ge¬
präge verleihen. Die Tatsachen sind so naheliegend, daß ich nur
an den Hexenglauben verweisen will, der wohl das prägnanteste
Beispiel des kollektiven Wahns darstellt 1 ). Dank den überaus
mächtigen psychischen Wurzeln der prälogischen Mentalität ge¬
staltete sich das Vordringen der Herrschaft der logischen, das
Werden der europäischen Aufklärung zu einem dramatischen blu¬
tigen Ringen').
Diese letzteren Beispiele aus der kollektiven Psychologie legen
') Andere Beispiele siehe bei Friedmann, Über Wahnideen ira
Völkerleben. Bergmann, Wiesbaden 1900 bis 1901. St oll, Suggestion und
Hypnotismus in der Völkerpsychologie, Leipzig 1894.
*) W. H. L e c k y , Geschichte des Ursprungs und der Aufklärung in
Europa, deutsch übersetzt, II. Aufl., Leipzig u. Heidelberg 1873.
133
uns die Frage nahe, welche wir schon mehrfach berührt haben, ohne
auf sie einzugehen. Ich meine die Frage nach dem Verhältnis
der primitiven Mentalität zur Affektivität.
Zu Beginn des völkerpsychologischen Kapitels haben wir vor¬
läufig eine bloß negative Formulierung gewagt: das affektive
Denken ist, so sagten wir, zuweilen und durchaus nicht unbedingt
unlogisch, das primitive hingegen alogisch.
In der Tat liegt es nicht im Wesen des emotionalen Denkens,
unlogisch zu sein. Wenn es nichtsdestoweniger oft unlogisch ist, so
liegt das offenbar an der Einschränkung des Überblicks, an der
Reduktion der Denkmöglichkeiten durch den einseitig affektiv ge¬
richteten Gedankengang. Die dem bestimmenden Affekt günstigen
Vorstellungen werden stärker betont, die ungünstigen wenig beachtet
oder ausgeschaltet.
Schon dadurch, daß es in.allgemein verständlichen Worten aus¬
gedrückt wird, bekommt das emotionale Denken eine gewisse kon¬
zeptuelle, logische Prägung und erweist sich mitteilungsbedürftig —
und fähig. Nicht darin aber liegt seine wahre Mitteilungskraft. So
wie sich der Affekt innerhalb der Psyche ausbreitet und danach
tendiert, sämtliche Vorstellungen und Tendenzen in seine besondere
Atmosphäre herüberzuziehen,, so strebt er auch danach, sich nach
außen zu betätigen und die Mitmenschen zu ergreifen. Jeder von
uns erlebt es fast täglich, daß er durch Affekte anderer angesteckt
wird, wobei die logisch begründete begriffliche Mitteilung zumeist
keine wesentliche Rolle spielt. Bekanntlich ist es ein großes Ver¬
dienst Bleuler s‘), auf diese innerste Verwandtschaft der Sug-
gestibilität und Affektivität hingewiesen zu haben.
Diese Kontagiosität des Affektes, welcher bekanntlich so leicht
kollektiv wird und große Menschenmengen erfaßt, ist aber an
sich durchaus nicht etwas absurdes, alogisches. Denn der Affekt
ist im Grunde eben verständlich. Es genügt, sich in die
gleiche Gemütslage zu versetzen, um den emotionalen Urteilen und
Schlüssen, seien sie noch so unlogisch, folgen zu können. Mag man
die Unrichtigkeit der Einschätzung, welche der Liebende seinem
Liebesobjekt zuteil werden läßt, noch so scharf einsehen, man ist
sich doch sofort darüber klar, daß man in der gleichen Lage ähnliche
Fehler begehen könnte.
Auch kann der vom Affekt Beherrschte die Realität trotzdem
richtig einschätzen. So muß, um das obige Beispiel aufzunehmen,
*) Affektivität, Suggestibilität und Paranoia. Marhold, Halle.
134
der Liebende nicht den wirklichen Charakter der Geliebten ver¬
kennen, er kann sich sehr wohl des Unterschiedes zwischen dessen
subjektivem und objektivem Bilde bewußt sein und trotz der Heftig¬
keit der Erotik ist gerade auf diesem Gebiete, vorausgesetzt natürlich
bewußte reflexionsfähige Charaktere, das Bewußtsein des „deteriora
sequor“ nicht so selten').
Der Betreffende hat dann das Bewußtsein einer Fatalität, wel¬
cher er trotz der besseren Einsicht nicht entkommen kann.
Indem so das emotionale Denken den Unterschied zwischen sub¬
jektiver und objektiver Realität wesentlich nicht aufhebt und das
Beachten der objektiven Widersprüche gestattet, bedingt es noch
keine Undurchdringlichkeit für die Erfahrung. Gewiß, die Erfah¬
rung wird subjektiv gefärbt, umgestaltet, ja teilweise abgesperrt,
aber die Korrektur der Realität kann immer einsetzen, wenn sich
diese nur stark genug erweist. Auch treibt das letzten Endes ob¬
jektgerichtete Interesse des Affektes dazu, der Realität Rechnung
zu tragen, da er doch normalerweise nur in ihr wirkliche Befriedigung
finden kann.
Aber auch innerhalb des emotionalen Denkens selber ist der Satz
des Widerspruches durchaus nicht ausgeschaltet. Wenn auch diese
Behauptung die Autorität eines R i b o t gegen sich hat, welcher fol¬
genden Satz aufstellt: „Das Prinzip des Widerspruches, welches die
rationelle Logik beherrscht, ist der Logik der Affekte fremd“'), so
glaube ich dennoch, sie begründen zu können.
Nachdem R i b o t selbst jene, wie er sich ausdrückt, halbintel¬
lektuellen, halb affektiven Fälle ausschließt, wo der Widerspruch
zwischen einer logischen und einer emotionalen Aufstellung besteht,
bleibt die scharf umgrenzte Frage nach dem Widerspruch innerhalb
rein emotionaler Sphäre und da müssen wir sagen: Die bekannte Ambi¬
valenz der Affekte bringt es tatsächlich mit sich, daß entgegen¬
gesetzte Tendenzen nebeneinander bestehen, daß der Liebe der Haß
am nächsten steht usw. Die wohlbekannte Tatsache muß aber in
dieser Formulierung eine eigentlich selbstverständliche Korrektur er¬
leiden. In dem normalen, affektiven Leben gewinnt von den beiden
Affektkomponenten doch nur eine die Oberherrschaft, während die
andere gewissermaßen nur im Unterton mitschwingt, vielleicht zeit¬
weise die Farbe und Intensität der dominierenden trübt, aber sich
*) Zahlreiche Beispiele in der Literatur z. B. Alc£ste in MoliöreB Mi-
santhrope.
') La logique des Sentiments. Paris, Alcan 1906.
135 —
doch nicht neben ihr gleichberechtigt durchsetzt, geschweige denn sie
vollkommen aufhebt. Auch kann der Normale jene widersprechende
Tendenz unter Umständen bemerken und nach der Ausschaltung
dieses Widerspruches bewußt hinstreben.
Aber auch die eigentlichen Inkonsequenzen des emotionalen
Denkens beruhen keineswegs auf der Unterdrückung des Satzes vom
Widerspruche. Wer Menschenliebe predigt und sich auch sozial be¬
tätigt, in eigenem Heim aber ein liebloser Tyrann ist, der hat dafür
seine guten affektiven Gründe und ist bekanntlich gerade seine sozial
gerichtete Tätigkeit oft nur ein Ersatz für die Unmöglichkeit, seine
Familie zu lieben.
Die Stärke des Affektes bedingt an sich noch keineswegs das
Geltungsbewußtsein, d. h. das Wissen um die objektive Gültigkeit der
subjektiv gegebenen Zusammenhänge. Auch der Theoretiker des
emotionalen Denkens Heinrich Maier muß zugeben, „daß es
doch nicht eigentlich die Stärke des Affektes, sondern zuletzt die Art,
wie der starke Affekt von dem Bewußtsein Besitz ergreift, ist, was die
Vorstellung mit dem Bewußtsein der objektiven Gültigkeit aus-
stattet“ 1 ).
Hingegen ist es dem primitiven Denken ein Leichtes, subjektive
Zusammenhänge zu objektivieren und als reelle zu werten. Es küm¬
mert sich um keine logischen Normen des wirklichkeitsgerichteten
Denkens, es befindet sich, gleichsam ein Ding an sich, außerhalb der
Grundsätze des Widerspruches und des zureichenden Grundes.
Darum können bei ambivalent gefärbten Vorstellungen und Affekten
beide Komponente nebeneinander bestehen und ihre Geltung mit
gleicher Intensität behaupten.
Das primitive Denken ist, wo es nicht schon von vornherein
kollektiv entstanden ist, an sich nicht kontagiös. Unverständlich,
weil dem Verhältnis zur Realität in dessen aktueller Form entrückt,
bleibt es prinzipiell eingeschränkt auf das Individuum und schließt
es leicht vom Kontakte mit der Kollektivität aus. Da nämlich die
Normen des objektiv gerichteten Denkens eminent sozial sind, be¬
droht ihre Nichtbeachtung zugleich die soziale Einstellung und den
sozialen Zusammenhang des Individuums.
Die begriffliche Scheidung zwischen dem emotionalen und pri¬
mitiven Denken, so begründet sie auch ist, kann uns nicht über die
Tatsache der überaus häufigen Vermengung beider Denkarten hin¬
wegsetzen.
’) Die Psychologie des emotionalen Denkens, p. 389.
136
Diese Vermengung ist aber verständlich und notwendig.
Der Affekt vermindert die Geltungskraft logischer Normen und
begünstigt so die Invasion prälogischer Mechanismen. Gr hemmt
manche Vorstellungen und begünstigt andere, indem er ihnen eine
starke suggestive Kraft verleiht'). So bekommen die affektiv beton¬
ten Vorstellungen eine gewisse Tendenz zur Objektivie¬
rung, eine mehr oder weniger bedeutende Geltungskraft, was sie
ohne Zweifel zur Überschreitung der Schranke Psyche-Welt dis¬
poniert.
So kommt es zunächst zu der Illusions-Objektivie¬
rung (H. Maier), welche das affektive Surrogat für die Objekti¬
vierungstätigkeit darstellt. Die so geschaffene eingebildete
Wirklichkeit wird aber als solche nicht verkannt. „Ist auch die
Gefühlstendenz mächtig genug, um uns eine gewisse Heraussetzung
der Inhalte aus der subjektiven Vorstellungssphäre zu ermöglichen,
so nimmt sie doch im Bewußtsein keine derart dominierende Stellung
ein, daß sie die Vorstellung der Erfahrungswirklichkeit, die als Norm
und Maßstab sich an die affektiven Phantasieprozesse herandrängt,
ganz aus dem Bewußtsein bannen könnte. An diesem Ma߬
stab messen sozusagen die affektiven Phanta¬
sievorstellungen implizite ihre Objekte. So ver¬
mögen sie für dieselben nur die eingebildete, die Illusionswirklich¬
keit, in Anspruch zu nehmen“’).
Daß sich das Illusionsbewußtsein in das Geltungsbewußt¬
sein wandelt und an Stelle der Illusionsurteile, Pseudourteile
(Maie r) treten, dazu bedarf es, wie schon hervorgehoben, mehr als
bloßer gradueller Steigerung der Affektstärke, denn mit Maier
müssen wir feststellen: „Nicht auf die Intensität der Affektgefühle
kommt es an, auch die heftigste Freude und der stärkste Schmerz
können sich ganz im Rahmen des rein präsentativen Vorstellens hal¬
ten, sondern auf das Maß, in welchem sich die Aufmerksamkeit
auf eine affektive Vorstellung fixiert“'). Und hier greift nun das
primitive Denken ein, welchem nach allem oben Erwähnten die emo¬
tionalen Mechanismen einen überaus günstigen Boden vorbereitet
haben.
Schon im Wesen des Affektes liegt es, daß er das Eindringen
') „Der Affektzwang bewirkt ganz wie die Suggestion eine partielle
Lähmung und Hemmung der Vorstellungsbewegung. Heinrich Maier, 1. c. p. 436,
in Anlehnung an L i p p s.
*) H. M a i e r , 1. c. p. 435.
’) Von mir unterstrichen.
137
der prälogischen Mechanismen einleiten kann. Er treibt die Psyche
nach der Welt hin, er läßt subjektive Tendenzen in das Objekt hinein¬
strömen, welches, in seiner besonderen von dem Ich unabhängig
gegebenen Existenz nicht mehr gewertet, leicht als ein bloßes Mittel
zur Verwirklichung des subjektiven Strebens erfaßt wird.
So tendiert der Affekt nach der Verwischung der Schranke
Psyche-Welt hin.
Nach alledem ist es verständlich, daß das primitive Denken von
dem emotionalen bisher nicht unterschieden wurde. Und in der Tat
spielen in prälogischen Betätigungen, sei es kollektiver, sei es indi¬
vidueller Herkunft, die affektiven Mechanismen eine eminente Rolle.
Denn nicht nur begünstigt die Affektivität die Entfaltung der prä¬
logischen Denkweise, sondern auch umgekehrt, leistet die primitive
Mentalität Vorschub der ungehemmten Betätigung affektiver Ten¬
denzen. Dieses Verhalten entspringt notwendig aus dem Wesen des
prälogischen Denkens, welches die Grundbeziehung Psyche-Welt
zugunsten des Subjektes verschiebt und das Gitterwerk der objek¬
tiven Normen, welche unser Verhältnis zur Realität beherrschen, auf¬
hebt. Die subjektiven Tendenzen können sich leichter verwirklichen
und aus potentiellen dynamisch werden, ohne daß es die Anpassung
an die Realität verlangt.
VL Kapitel.
Metaphysik und Schizophrenie.
Wir haben die Wege angedeutet, welche die schizophrene Per¬
sönlichkeit zum Verluste der normalen Weltbeziehung und der
Schranke Psyche-Welt führen. Da dieser Prozeß naturgemäß nur
selten abgeschlossen und vor allem nur selten in die Bewußtseins¬
schicht erhoben wird, so erreicht er nicht allzuhäufig seinen End¬
ausdruck, die vollständige Verleugnung der Welt der Objekte in
ihrer unabhängigen Existenz und die Identifizierung des Ich und der
Realität.
Um so beachtenswerter ist der Fall von Mur alt'). Der Pa¬
tient ist ein alter Insasse der Anstalt Waldau, wo er nach der Ermor¬
dung seines Vaters hingebracht wurde. Er halluzinierte, äußerte
Verfolgungs- und recht bald auch hypochondrische Wahnideen. Er
erklärte: „Le corps ne tire pas. Le monde est maitre de
moi,jesuisläparlabonnevolontedumond e“. Dem
Arzt gegenüber äußerte er: „Vous avez tort quoi que vous ayez raison.
Vous etes injuste quoique vous soyez juste etc“.
Alles ist ein Stück von ihm, und er bezeichnet die
Existenz (marque l’existence) von allem, allen Menschen, allen Häu¬
sern der ganzen Umgebung.
Bei einer klinischen Vorstellung erklärt er, er sei der Vater der
Zuhörer. Trotzdem er 1870 auf die Welt gekommen und am 30. Juli
sterben werde, existiere er von jeher. Seinen Vater habe er getötet,
weil er ihn quälte, doch lebe sein Vater, denn er sei ja Vater und
Sohn zugleich.
„Vous c ’ e s t m o i,“ begrüßt er den Arzt bei jeder Visite und
erklärt: „Wir sind dieselbe Person; Sie sind eine Frau, eine Tochter,
ein Mann, ein Pferd und ein Bär und ich auch, ich bin all das. Ich
bin dieser Tisch. Ich bin alles, was existiert. Ich habe alles
gemacht, ich bin die allein existierende Verkör¬
perung der Menschheit. Ich bin Gott und dieses Bild
an der Wand ist auch Gott, alles ist eins.“
‘) Ein geisteskranker Philosoph. Schweiz. Arch. f. Neur. u. Psych. VI, II.
Es war mir möglich, in die Krankengeschichte des Falles Einsicht zu be¬
kommen, was ich Herrn Prof, von Speyr Direktor der Waldau verdanke.
139
Von diesen Voraussetzungen ausgehend, weigert sich der
Patient, Holz zu sägen, da er selbst Holz sei und
sich doch nicht selbst zersägen könne.
„Als er einmal renommierte, wie er aus einer Bettdecke Men¬
schen und Tiere schaffen könnte, wollte ich ihn beim Wort nehmen
und verlangte von ihm, daß er einen Menschen schaffe. Nun er¬
eignete sich etwas bemerkenswertes. Er drehte sich von mir weg,
blickte zum Fenster hinaus und sagte: „Jetzt existieren Sie
nicht“. Auf meine Protestation hin war seine Antwort: „Ich höre
Sie zwar reden, aber es ist nur die Luft, die ich reden mache“. Hier¬
auf drehte er sich mit einem Ruck herum, schaute mich durchdrin¬
gend an: „Voilä, je vous ai fait“. Die anderen Menschen, die nicht
im Zimmer anwesend sind, sind zerlegt (defaits). Als ich ihn ein¬
mal zufälligerweise auf das Bein schlug, meinte er: „Sie sind es, der
schlägt, aber ich bin’s, der mir weh tut“.
Dieses Wahnsystem ist uns besonders wertvoll, als nahezu voll¬
kommenes Analogon der indischen Vedänta-Philo-
sop h i e.
Also wird belehrt der Brahmanenschüler Cvetaketu von seinem
Vater, dem Brahmanen Uddälaka (Chändogya Upanishad 6, 8, 16):
„Diese Ströme, o Teurer, fließen im Osten gen Morgen und im
Westen gegen Abend; von Ozean zu Ozean strömen sie, sich vereini¬
gend, sie werden lauter Ozean.
Gleich wie diese daselbst nicht wissen, daß sie dieser oder jener
Fluß sind, also fürwahr, o Teurer, wissen auch alle diese Kreaturen,
wenn sie aus dem Seienden wieder hervorgehen, nicht, daß sie aus
dem Seienden wieder hervorgehen. Selbige, ob sie hier Tiger sind
oder Löwe, oder Wolf, oder Eber, oder Wurm, oder Vogel, oder
Bremse, oder Mücke: was sie immer sein mögen, dazu werden sie
wieder gestaltet.
Was jene Feinheit ist, ein Bestehen aus dem ist dieses Weltall,
das ist das Reale, das ist die Seele, dasbistdu,o Cvetaketu!“
Dieses „das bist du“ (tat tvam asi) bildet den Grundstein
der gesamten Vedäntalehre. Das gemeinsame Wesen aller Dinge,
das Brahman, ist gleich dem innersten Prinzip des Menschen, dem
A t m a n , dem Selbst.
„Hier in dieser Brahmanenstadt (dem Leibe) ist ein Haus, eine
kleine Lotosblume (das Herz); inwendig darinnen ist ein kleiner
Raum; was in dem ist, das soll man erforschen, das wahrlich soll
man suchen zu erkennen... So groß dieser Weltraum ist, so groß
ist dieser Raum inwendig im Herzen; in ihm sind beide, der Himmel
140
und die Erde, beschlossen; beide, Feuer und Wind; beide, Sonne und
Mond, der Blitz und die Sterne und was einer hinieden be¬
sitzt und was er nicht besitzt, das alles ist darin beschlos¬
sen.“ (Chändogya Upanishad 8, 1 bis 4.) „Dieser ist meine
Seele (Atman) im innern Herzen, kleiner als ein Reiskorn oder Ger¬
stenkorn, oder Senfkorn, oder Hirsekorn, oder eines Hirsekornes
Kern; dieser ist meine Seele im innern Herzen, größer als die
Erde, größer als der Luftraum, größer als der Himmel, größer als
diese Welten.
Der Allwirkende, Allwünschende, Allriechende, Allschmeckende,
das Allumfassende, Schweigende, Unbekümmerte, dieser ist meine
Seele im innern Herzen, dieser ist das Brahman, zu ihm werde ich
von hier abscheidend eingehen. Wem dieses ward,' fürwahr, der
zweifelt nicht!“ (Chändogya Upanishad 3, 14.)
Der Atman ist überall vorhanden, einheitlich, in sich selbst
ruhend, unveränderlich, wunschlos, machtvoll, ent¬
rückt den Formen der Zeit und des Raumes.
Indem so das unendliche Wesen der Dinge absolut einheitlich
ist, erscheint die bunte Mannigfaltigkeit der empirischen Realität als
eine Täuschung, in welcher der Mensch befangen lebt, solange er
nicht die wahre Erkenntnis erlangt hat. Schleier der M ä y ft.
nennt der Inder diese scheinbare Mannigfaltigkeit, welche das Wesen
der Welt verdeckt und die einheitliche Realität der Dinge in mannig¬
faltige Formen auflöst.
„Atman aber ist das Höchste selbst und durch sich selbst
leuchtend; er erkennt und erkennt doch nicht, denn sein Erken¬
nen ist objektlos, ist Innewerdung.“ (Nrisinhotta-
ratapariya Upanishad IX.) Denn der Atman ist eigentlich das wahre
Selbst, das unvergängliche seelische Prinzip des Menschen, welches
als Absolutes „zeitlos“ ist. Die wahre Erkenntnis besteht somit in
vollkommener Aufhebung jeder Subjekt-Objekt-Spaltung, welche nur
einen besonderen Fall der allgemeinen täuschenden Verschiedentlich-
keit der Dinge darstellt.
Bei diesen Voraussetzungen ist es nur selbstverständlich, daß
vom Atman keine bestimmte Aussage gemacht werden kann. Jede
Determinierung würde ihn einschränken und darum ist er „nicht
so und nicht so (neti, neti)“ 1 ). „Verschieden ist’s vom Wiß-
baren und doch darum nicht unbewußt! ... Nur wer es nicht er-
') Man möge damit vergleichen, das „vous avez tort, qnoique vous ayez
raison“ des schizophrenen Philosophen.
141
kennt, kennt es, wer es erkennt, der weiß es nicht, nicht erkannt
vom Erkennenden, erkannt vom Nicht-Erkennenden!“ (Kena Upani-
shad 1, 2.) „Nicht nach innen erkennen und nicht nach außen er¬
kennen, noch nach beiden Seiten erkennen, auch nicht durch und
durch aus Erkenntnis bestehend, weder bewußt noch unbewußt, un¬
sichtbar, unbetastbar, begreifbar, uncharakterisierbar, undenkbar,
unbezeichenbar, nur in der Gewißheit des eigenen
Selbstes gegründet, die ganze Weltausbreitung
auslöschend, beruhigt, selig, zeitlos ..., das ist das erste
Viertel, das ist der Atman, den soll man erkennen.“ (Mandukya
Upanishad 1, 7.)
Das „Tat tvam asi“ bildet auch den Kernpunkt der indi¬
schen Ethik. Das Mitleid ist ihr die Kardinaltugend. Da man näm¬
lich in jedem Wesen sich selbst wiederfindet, soll man keinem etwas
zuleide tun, man würde sonst nur sich selbst schädigen, eigenen, all¬
gemein gültigen und überall webenden seelischen Urgrund ver¬
leugnen*).
Weigert sich nicht auch der schizophrene Philosoph, Holz zu
sägen, weil er sich selber nicht zersägen kann?
Als letzte Konsequenz der Lehre erscheint bekanntlich das Ideal
der absoluten Loslösung von der Maya, der Vielheit der Objekte und
der steten Ansprüche, welche diese an den Menschen stellen, —
kurzum, das Nirvana, Erlöschung und Seligkeit. Der Weg zu diesem
Endziele des Weisen führt durch die allmähliche Abtötung der
Wünsche und Bedürfnisse und die praktische Ausübung des Atman-
prinzips durch das Mitleidhaben mit anderen Geschöpfen.
„Wer ohne Verlangen, frei von Verlangen, gestillten Verlan¬
gens, selbst sein Verlangen ist, dessen Lebensgeister ziehen nicht aus;
sondern Brahman ist er und in Brahman geht er auf.“ (Brihadara-
nyaka Upanishad 4, 4, 7.)
Um aber ohne Verlangen da zu stehen, .muß man das wahre
Wesen der Welt erkennen, man muß einsehen: „Der Atman ist ohne
Weltanhaftung: drum seid Ihr selbst er, und das Licht, mit dem Ihr
leuchtet, ist Euer eigenes. Ja, die Welt, da sie ganz aus Sein und
Bewußtsein besteht, ist nur Ihr Selbst!“ ... (Nrisinhottaratapaniya
Upanishad IX.)
Durch das Bewußtsein „ich bin Brahman“ (aham Brahma asmi)
*) „Denn indem er allerwärta denselben Gott wohnen sieht, wird er nicht
sich selbst durch sich selbst verletzen wollen und so geht er den höchsten
Weg.“ Mahabharatam. Zitiert bei Deussen I, III. p. 16.
142
wird das Selbst, der Atman zum Weltall. „Und auch heutzutage,
wer also eben dieses erkennt: Ich bin Brahman!, der wird zu
diesem Weltall; und auch die Götter haben nicht Macht, zu bewirken,
daß er es nicht wird, denn er ist die Seele (Atman) derselben.“ (Bri-
hadaranyaka Upanishad 1, 4, 10.)
Ist diese restlose Identifizierung des eigenen Ich und der Welt
vollendet, dann kann der Weise, der Erlöste, mit Fug und Recht be¬
haupten:
„In mir entstand das Weltganze, in mir nur hat Bestand das
All, in mir vergeht dies Brahman, das Zweitlose, ich bin es selbst.“
(Kawalaya 18, 23.)
Wie sprach unser schizophrener Philosoph? „Ich bin alles,
was existiert. Ich habe alles gemacht. Ich bin die allein existie¬
rende Verkörperung der Menschheit. Ich bin Gott und dieses Bild
an der Wand ist auch Gott, alles ist eins.“
Wie der zwischen dem Nichts und der ganzen Welt oszillierende
Schizophrene, sagt der entsagende König Janaka:
„Nunmehr glaube ich, daß ich überhaupt kein Reich habe
oder daß mein Reich allumfassend ist: auch mein eigener Leib ist
nicht mein, oder auch die ganze Erde ist mein, und wie sie mir ge¬
hört, so auch den anderen“ 1 ). „Des Kleinen bin ich und nicht weniger,
bin groß, bin das bunte reiche Weltall, der Alte bin ich, bin der Gott¬
herr, ganz golden bin ich, seliger Erscheinung, ohn’ Hand und Fuß
bin ich, unendlich mächtig, seh’ ohne Augen, höre ohne Ohren; ich
bin der Wissende und außer mir ist kein anderer Wissender in ewigen
Zeiten.“ (Kavalya 18, 23.)
In diesem Zusammenhang ist es nötig, auf die Bedeutungen des
Wortes Brahman im Laufe der religiösen Entwicklung Indiens in
aller Kürze hinzuweisen’).
Ursprünglich bedeutet Brahman das Gebet, den Zauberspruch,
die heilige Rede, welche drei Bedeutungen eng aneinander grenzen.
Brahman, als Gebet bedeutet zugleich „die Anschwellung“ des Ge¬
mütes, die Ergebung des Betenden, also die Andacht und die eksta¬
tische Tendenz nach der Vereinigung mit dem All und den Zauber¬
spruch, welcher in magischer Weise die Götter selbst zwingt und den
Wünschen des Betenden willig macht. „Früher waren es die Götter,
welche durch das Gebet angetrieben wirkten, jetzt wird das Gebet
das eigentliche Agens, welches vermittelst der Götter die gewollte
') Mahabharatam XIV. 32, zit. bei Deussen I, III. p. 82.
*) Deussen, Allg. Geschichte der Philosophie, I. p. 239 bis 264.
143
Wirkung übt oder auch sie (die Götter) ganz beiseite läßt; in dem
einen wie in dem anderen Falle aber nicht mehr an den guten Willen
der Götter gebunden ist, sondern durch sie oder ohne sie mit magi¬
scher Kraft als Zauberformel gesprochen, den gewollten Zweck un¬
fehlbar bewirkt.“
So wird das Gebet rechtzeitig verabsolutiert und zu einer selb¬
ständigen Macht umgebildet, was in dem charakteristischen Aus¬
spruche zum scharfen Ausdruck kommt: „Der Brahmane, der solches
weiß, in dessen Gewalt sind die Götter.“ (Wag. Samhita 31, 21.)
Weiterhin bedeutet Brahman das heilige Wissen (Veda) und den
heiligen Stamm der Brahmanen. Die oben angedeutete Tendenz des
Gebetes, sich zu einer selbständigen Macht zu verabsolutieren, führt
stufenweise dazu, daß dieses Brahman, das Gebet zu dem göttlichen
Urprinzip der Welt, dem Absoluten, schlechthin gemacht wird. Zu¬
nächst ist noch das Brahman vom Schöpfer der Welt, Prajäp&ti, ab¬
hängig, welcher mittels des heiligen Wissens sein Werk vollbrachte.
Später wird Brahman Prajäpäti gleichgesetzt und schließlich wird
Prajapäti vom Brahman abhängig, das Brahman zum höchsten
schöpferischen Prinzip. „Brahman fürwahr war diese Welt zu
Anfang. Dasselbe schuf die Götter.“ (Otäp brahmana 11, 2, 3.)
Nicht um des historischen Interesses willen führen wir hier diese
Entwicklungsstadien an. Es gilt zu zeigen, wie in der indischen
Lehre die rein psychische Potenz, die uneingeschränkte, ungebän-
digte Wucht des Gebetes, also im Grunde die Macht des primitiven,
die unbekannte Welt umspannenden Wünschens zu einem kosmischen
Prinzip wurde. Es ist nicht zu verwundern, daß bei diesem Ursprung
des Systems auch seine Konsequenzen vielfach den großzügig magi¬
schen Charakter tragen. Der Brahmanschüler (Brahmacarin) wird
gepriesen als Inkarnation des Brahman, er ist Schöpfer und Beleber
von allem im Himmel und auf Erden. Er ist kurzum ein großartiger
Zauberer. In der Tat:
„Der Brahmanschüler belebend beide Welten geht.
In ihm sind einmütig die Götter alle.
Er hält und trägt die Erde und den Himmel,
Er sättigt durch sein Tapas selbst den Lehrer. (Tapas =
Askese, hier betteln.)
Als Brahman macht er Tag und Nacht, schützt die Welten,
beherrscht Feuer, Sonne, Gewitter und Regen.“ (Atharvä-
vedä 11.)
W\T haben da vor uns eine Lehre von großartiger kultur¬
geschichtlicher Bedeutung, welche Philosophie, Religion und Mystik
144
des ältesten Kulturvolkes geworden ist, sein historisches Geschick
bestimmt hat und jahrtausendelang bis heute wesentlich unverän¬
dert blieb. Ein solches System muß in der Volkspsyche tief ver¬
wurzelt sein und erscheint uns als Ausdruck tiefster psychischer Ten¬
denzen').
Und da müssen wir zunächst in dem ganzen System eine gro߬
artige Verzichtleistung sehen, eine gewaltige Abkehr von der äuße¬
ren Welt und eine damit notwendig verknüpfte Verinnerlichung.
Es ist für uns bedeutsam, festzustellen, mit welcher Deutlichkeit
die Inder die Abkehr von der Welt als die Grundlage der Erkenntnis
und der Erlösung hinstellten.
„Unbefriedigt erfaßt er mit dem Auge der Erkenntnis die Welt¬
verdrossenheit (nirveda). Und wenn das Auge der Erkenntnis keinen
Gefallen mehr findet an Begierde, an Geschmack und Geruch und er
auf Ton, Gefühl und Gestalt nicht mehr seinen Geist lenkt, dann
kommt er los von der Begierde, aber die Rechtschaffenheit läßt er
nicht los ... Nach und nach ergreift er die Weltverdrossenheit und
läßt das böse Werk fahren, dann wird er von Gerechtigkeit erfüllt
und erlangt die höchste Erlösung... (MAhäbhäratam XII, 242,
II, 12.)
Und in knapper Formulierung: „Aus Weltverdrossenheit wende
man sich dem Nirvanam zu, und nicht sorge man sich über irgend
etwas, denn als ein Glück erlangt der Brahmane durch die Welt¬
verdrossenheit das Brahman“. (Daselbst XII, 189, 17.)
Es ist, als ob hier das Volk, ob der Stärke seiner Wünsche, seiner
dämonischen Leidenschaften erschrocken, der Unzulänglichkeit seiner
psychischen Kräfte zu ihrer Verwirklichung bewußt, systematisch der
Welt der Objekte sein tiefes lebendiges Interesse entzog. In sich
gekehrt, verleugnete es die Welt, es sah dann in seinem eigenen In¬
nern die Quelle der Macht und das Wesen des Kosmos und leitete
daraus die Kraft und die Möglichkeit ab, in der Welt des Scheines
das Wirkliche, welches ihm mit der Wunschlosigkeit gleich war, zu
erreichen.
Wir erinnern an die Enormität indischer mythologischer Ge¬
stalten, an das Gigantische, oft Ungeheuerliche der göttlichen und
menschlichen Helden des indischen Epos; mit handgreiflicher Klar-
') Vgl. Schopenhauer, Welt als Wille und Vorstellung. I. p. 459.
„Was sich solange unter einem so viele Millionen umfassenden Volke in Aus¬
übung erhalten hat, während es die schwersten Opfer auflegt, kann nicht
willkürlich ersonnene Grille sein, sondern muß im Wesen der Menschheit seinen
Grund haben.“
145
heit offenbart sich hier die Unbändigkeit des primitiven Wünschens
und Wollens, ohne jede Rücksicht auf objektive und subjektive Mög¬
lichkeiten. Zugleich aber erschrickt der Inder ob der gewaltigen
Naturmächte seiner Umgebung und verzweifelt an der Möglichkeit,
die Welt der Objekte zu beherrschen. Kann auf diesem Wege der
Macht des Wünschens nicht Genüge getan und die Macht über die
Welt erlangt werden, so wird ein anderer entgegengesetzter Weg ein¬
geschlagen, der Weg des Verzichtes. Verschließt man sich den Weg
zur Welt, so muß man den Weg von der Welt ab betreten, welcher
zu der großartigen rücksichtslosen Introversion führt.
Erscheint so die Askese als ein Mittel zur Macht und als
solche verwurzelt in durchwegs praktischen Motiven, so darf
man doch die theoretische Tragweite dieser Einstellung nicht
außer acht lassen. Praktische und theoretische Motive werden aufs
Engste vermengt, die Welt der Objekte wird nicht nur entwertet, als
Ziel der Wünsche und Strebens, sie ist auch Täuschung, Schein,
Schleier der Mäyä.
Nach dem allgemeinen Verhalten, daß die praktischen Interessen
den theoretischen vorausgehen, dürfen wir wohl annehmen, die theo¬
retische Entwertung der Welt der Objekte war auch hier zum Teil
sekundär, eine Konsequenz, oder ein Vorwand des praktischen Ver¬
zichtes. Die Konsequenz gewann aber bald große Bedeutung und in
dem fertigen System des Vedanta spielt die theoretische Verneinung
der wahrnehmbaren Welt die erste Rolle. Von nun an verschwindet
dieses Motiv nicht mehr aus der Metaphysik und erfährt die mannig¬
faltigsten Gestaltungen. „Es besteht unbestreitbar, solange es Philo¬
sophen auf Erden gibt und überall, wo es Philosophen gegeben hat
(von Indien bis England, um die entgegengesetzten Pole der Bega¬
bung für Philosophie zu nehmen), eine eigentliche Philosophen-Ge-
reiztheit und Ranküne gegen die Sinnlichkeit. Desgleichen be¬
steht eine eigentliche Philosophen-Voreingenommenheit und Herz¬
lichkeit in bezug auf das ganze asketische Ideal“ 1 ).
Woher diese Verachtung für die Sinnlichkeit, woher die Ver¬
neinung der dem gesunden Verstände sichersten Gegebenheit, der
körperlichen Welt der Wahrnehmung?
Gemäß der unbändigen Macht des Wollens nehmen wir einmal
einen stark entwickelten Erkenntnistrieb an, der sein Ziel sofort weit
faßt und alles erkennen will, jedoch mit vollständig unzulänglichen
*) Nietzsche: Zur Genealogie der Moral. Körners Taschenausgabe
p. 411.
Bychowski, Metaphysik und Schizophrenie. (Abhandl. H. 21.) 10
146
Mitteln. Er weiß die Realität noch nicht richtig anzupacken, weiß
sich aber dennoch in seinem kosmischen Streben nicht zu bescheiden,
er will alles kennen, trotzdem er nur weniges erkennen könnte.
Taucht das Bewußtsein dieser Diskrepanz zwischen dem Wollen und
Können auf, so wird es als allzu peinlich — man will eben doch
alles erkennen — verdrängt und umgebildet. Und welche Trans¬
formation kann es dem Erkennenden gefälliger gestalten, als jene,
welche die Unzulän glichkeit des Subjektes zur
Nichtswürdigkeit des Objektes macht, das Nicht-
erkennen-können, dahin deutet, daß in der Welt des Scheines eben
nichts zu erkennen ist, als der Schein, der Schleier der Mäyä selbst.
Dieser traurige Trost wird zu der höchsten Wahrheit erhoben und
hinter die täuschenden Erscheinungen das einzig
wahre, reelle Ding an sich gesetzt, welches auf dem Wege der
bloßen Innewerdung (sanskr. anubhüti) erkannt werden kann. So
bekommt die Introversion ihre höchste Weihe und Begründung, aus
einem Ausweg, einer Ausflucht wird sie zu dem einzigen Weg, dem
höchsten Ideal der Erkenntnis. So vollendet sich denn die indische
Lehre in dem Yoga-System, welches eine Praxis der Introversion,
eine Anweisung zum willkürlichen Stupor darstellt.
Die fundamentale Erscheinung des menschlichen Geistes, wel¬
cher hinter der einzig gegebenen Erscheinungswelt eine Welt der
Dinge an sich wittert, ja die Welt überhaupt in zwei unterschiedliche,
ja entgegengesetzte Teile zerspaltet und die Wertbetonung von der
täglich gegebenen auf die nur erdachte, intelligible Welt der Nou-
mena verschiebt — diese Erscheinung wurzelt zutiefst in der Ent¬
wicklung der menschlichen Psyche und ihrer Beziehung zur Welt.
So erscheint das Ding an sich, der Atman, als das theoretische
Korrelat der Gottheit, welcher Begriff, wie gezeigt worden, aus ana¬
logen Motiven der Entwicklung der Grundbeziehung nach der prak¬
tischen Seite hin entspringt. Die engste Beziehung der religiösen
Wesenheiten zu den metaphysischen Begriffen, welche die Geschichte
des menschlichen Geistes beherrscht, wird verständlich und aus den
Grundtatsachen der Psyche abgeleitet. — Und die praktischen Kon¬
sequenzen des indischen Systems?
Wir sahen: der Yoga leitet zur vollkommensten Introversion an,
man versetzt sich in eine Art Stupor, in welchem Zustand die äußere
Welt verschwindet und nur noch die innere wahrgenommen wird.
Diese Introspektion erscheint als das höchste Ziel der Erkenntnis.
„Sie erinnern sich, daß es unser Ziel ist, die Seele selbst wahrzuneh-
147
men,“ sagt der moderne Yogalehrer 1 ). „Erkenntnis ist Macht“, und
.Jn der Mitte des Herzens“ oder zwischen den Orbitalbögen, wo der
Yogin das Zentrum seiner introvertierten Geisteskonzentration wahr¬
nimmt und den Sitz seiner Persönlichkeit lokalisiert, findet er auch
den Zentralpunkt, den Ruhepunkt der Welt’).
Es ist überaus bezeichnend, wie trotz der Weltabkehr und der
Vernichtung des Verlangens, der „Weltanhaftung“, von welcher das
System ausgeht, und der höchsten Introversion, in welcher es gipfelt,
die grenzenlosen Machtwünsche des Yogins in uneingeschränkter
Phantasie verwirklicht werden. Die Yoga Sutras des Patanjali*) ver¬
sprechen dem Yogin allerlei magische „Machtvollkommenheiten“,
welche er durch die Anwendung der „Allzucht“ auf die verschieden¬
sten Verhältnisse erlangen soll: Unsichtbarmachung, Kräfte eines
Elefanten, Verstehen der Stimmen aller Tiere, Eingang des Bewußt¬
seins in einen fremden Leib, Aufleuchten, Gehen im Lufträume
u. a. m. Dies alles sind Äußerungen der großartigen, typisch magi¬
schen Macht, welche der Yogin über die Realität erlangt, nur da¬
durch, daß er sich von ihr frei macht und mit ihr nicht mehr rechnet.
Es bekunden sich hier die tiefsten Motive der Doktrin, das Ver¬
langen, die Welt autistisch zu beherrschen, ohne sie zu kennen, indem
man die Psyche mit ihren Potenzen in den Vordergrund stellt und
wenn nötig, die ganze äußere Realität einfach verleugnet.
Dieses System, aufgebaut auf der konsequentesten Abkehr von
den Objekten konnte nicht wieder zu Objekten führen und so konnte
das Volk der Inder keine Kultur in unserem Sinne des Wortes schaf¬
fen. Denn unsere Kultur ist ja ein zweckbewußter, systematischer
Ausbau der Grundbeziehung, wo das Subjekt seine Aktivität in der
Welt der Objekte entfaltet, aus ihr dann wiederum neue Kräfte
schöpfend, dieselben wieder objektiviert. So erwies sich die indische
Lehre verhängnisvoll für das Geschick des Volkes. Der Analogie
der Struktur des schizophrenen Wahnsystems entspricht die Analogie
der praktischen Folgen, Analogie zwischen dem individuellen Schick¬
sal des Kranken und dem kollektiven Schicksal des Volkes.
Die psychologischen Inhalte der indischen Lehre aus unbewußten
Motiven in konsequenter Weise verarbeitet, erscheinen mit größerer
Deutlichkeit, wenn sie in einer individuellen Schöpfung bewußt aus-
') Svami Vivekanda. Yoga Philosophy, Lectures on Raja Yoga, Longnans,
Green and Co, London 1905, Zit. bei Morel.
’) Siehe Morel. Essai sur l’introversion mystique. Geneve Kundig 1918.
*) IV.er Text 3, 16; 3, 49.
10 *
148
gebildet sind. Ich meine die moderne Auflage der Vedanta, das
metaphysische System Schopenhauers.
Von dem Bewußtsein der Übermacht — er sagt des Primats —
des Willens ausgehend, welcher seinem Wesen nach ewig unbe¬
friedigt und darum leidend sein muß, betrachtet der Philosoph die
Welt der Objekte als endlose Objektivierungen dieses einzigen und
unendlichen Weltwillens. Der empirischen Erscheinung, in welcher
von diesem Gesichtspunkte aus nur Leiden und immer neue Selbst¬
täuschung des Willens gesehen wird, wird jede Realität abgesprochen,
Erscheinung wird gleich Schein gesetzt. Raum und Zeit sind Formen,
durch welche die große Täuschung, der Schleier der MAyft. zustande
kommt; sie sind, das Prinzipium Individuationis, in¬
dem sie den Anschein der Vielheit erwecken, wo im Grunde nur ein
Ding an sich, weder Subjekt noch Objekt existiert. Die Abkehr von
der Welt der Objekte, die Befreiung und schließliche Vernichtung
des individuellen Willens wird als das höchste Ideal hingestellt.
Das letzte Wort des Schopenhauerschen Hauptwerkes, der
letzte Ausdruck des kunstvoll und tiefsinnig aufgebauten Welt¬
systems ist das „Nicht s“, und so erfüllt sich hier das tiefe Wort
Nietzsches über die Bedeutung der asketischen Ideale: „Daß
aber überhaupt das asketische Ideal dem Menschen soviel bedeutet
hat, darin drückt sich die Grundtatsache des menschlichen Willens
aus, sein horror vacui: er braucht ein Ziel..., und eher
will er noch das Nichts wollen als Nichtwollen...“ 1 ).
Es war seit jeher klar, daß das Schopenhauersche System in
besonders starkem Maße die persönlichen Motive des Schöpfers
realisiert, daß es eine gewaltige Projektion und Verabsolutierung seines
eigenen Selbst ist. In diesem Sinne kann man auf diese Metaphysik
mit besonderer Berechtigung die Worte D i 11 h e y s anwenden; es
seien „Bilder des eigenen Selbst, Bilder des psychischen Lebens,
welche den Metaphysiker geleitet haben, als er über Denkarbeit
entschied und deren insgeheim wirkende Gewalt ihm die Welt um¬
wandelte in eine ungeheure phantastische Spiegelung seines eigenen
Selbst“’).
Die gewaltige Projektion geht hier offenbar von dem Erleben
des eigenen starken Willens aus, welcher in seinem unbändigen
Streben nach Macht und Lust — man beachte nur, wie stark
') Zur Genealogie der Moral p. 399.
*) D i 11 h e y , Einleitung in die Geisteswissensehaft, zit. bei H. Maier,
p. 324.
149
hedonistisch Schopenhauers Lebenswertung gefärbt ist —, auf den
unüberwindlichen Widerstand der Realität stößt. Aus diesem Wider¬
stand leitet Schopenhauer bekanntlich die Allverbreitung des
Willens ab, welcher von dem motivierten menschlichen Willen über
die Reizempfänglichkeit der organischen Welt zum blinden Drang
des mechanischen Geschehens herabsinkt 1 ).
Dieser eigene unbefriedigte Wille wird zu dem allgemeinen
grundlosen Willen hypostasiert, welcher nur sich selbst zum Gegen¬
stände hat; er will nur wollen und ist an sich ewig rastlos. Die Vor¬
stellung täuscht ihm immer neue Befriedigung vor, nur in ihr liegt
die Wurzel der wechselnden Erscheinung. So sagt Schopenhauer
eigentlich seinem Willen: Verzichte auf die Welt der Erscheinung,
wolle sie nicht, denn es ist bloßer Schein, erkenne nur das Ding an
sich, welches du selbst bist.
In dieser Erkenntnis liegt die Erlösung und diese erweist sich
als das eigentliche treibende Motiv des ganzen Systems. An einer
Stelle der „Aphorismen zur Lebensweisheit“ rühmt der Philosoph
das intellektuelle Leben als „Schutzwehr gegen die schlechte Ge¬
sellschaft und gegen die vielen Gefahren, Unglücksfälle, Verluste
und Verschwendungen, in die man gerät, wenn man sein Glück ganz
in der realen Welt sucht. So hat z. B. mir meine Philosophie nie
etwas eingebracht; aber sie hat mir sehr viel erspart.“ Nach diesem
Geständnis bemitleidet er den „realen“ Menschen, welcher „hinsicht¬
lich des Genusses seines Lebens auf Dinge außer ihm angewiesen ist“.
Die „Welt als Wille und Vorstellung“ spricht, sucht man in ihr
nach Belegen für die verstehende Psychologie des Systems, eine
überaus deutliche Sprache. Besonders bezeichnend ist die scharfe
Betonung, mit welcher Schopenhauer die angebliche Uninteressiert¬
heit des ästhetischen Genusses, die Befreiung vom Willen, welche
die Betrachtung des Schönen verschafft, preist. „Das ist der
schmerzenlose Zustand, den Epikuros als das höchste Gut und als
den Zustand der Götter pries; wir sind für jenen Augenblick des
schnöden Willensdranges entledigt, wir feiern den Sabbat der
Zuchthausarbeit des Wollens, das Rad des Ixion steht still. Ohne
Ruhe aber ist durchaus kein wahres Wohlsein möglich. So liegt das
Subjekt des Wollens beständig auf dem drehenden Rade des Ixion,
*) Ein Yogatext besagt: Wegen der Schmerzen, die aus der Unbeständig¬
keit des Genusses, aus der Beängstigung während des Genießens und aus den
nachbleibenden und künftig abzubüßenden Charaktereindrücken entspringen
. . . ist für den Weisen alles ein Leiden. Yoga Sutras des Patanjali III. 2, 15.
übersetzt von D e u s s e n.
150
schöpft immer in Liebe der Danaiden, ist der ewig schmachtende
Tantalus“ 1 ). Durch die Auffassung der Welt als Wille und Vorstel¬
lung wird jener kurze, selige, weil interesselose Augenblick auf das
ganze Leben ausgedehnt. Die Zuwendung zur Welt verliert jene
„Weltanhaftung“ des Inders und verwandelt sich in befreite und be¬
freiende Kontemplation, an welcher der Wille sich nicht mehr be¬
teiligt. Von der Vielheit der Dinge, welche man als Schein durch¬
schaut, kehrt man sich ab, diesen Schein braucht man nicht mehr
zu wollen.
Bewußt und konsequent, unter eingehender Berücksichtigung
des gesamten empirischen Wissens werden in diesem metaphysischen
System psychische Tendenzen ausgebildet, die sich im Keime bei den
Schizophrenen Vorfanden. Was auf der einen Seite dem Unbewußten
entsprungen, unbewußt verarbeitet, die kranke, auf die Realität nicht
mehr eingestellte Psyche zum Wahne führt, das ergibt auf der ande¬
ren Seite ein konsequentes, logisch und begrifflich durchgebildetes
System, welches seinen Schöpfer nicht in Konflikt mit der Welt der
Objekte bringt. Bei seiner Begriffsbildung, mag sie auch aus durch¬
aus subjektiver Quelle entspringen, hält sich der Philosoph an die
logischen Normen des objektiven Denkens und wo er ihre Aufhebung
fordert, bei der Bestimmung des metaphysischen Willens, als Dinges
an sich, tut er es bewußt, indem er erklärt, die für die Welt der Er¬
scheinungen geltenden Normen können nicht auf das Ding an sich
ausgedehnt werden.
So ist es dem Philosophen möglich, trotz theoretischer
Verleugnung der Welt, in ihr p r a k t i s c h zu leben, sie zu erkennen
und den Kontakt mit der Realität, auch mit der sozialen, nicht zu ver¬
lieren. Es ist, als ob die bewußte Verallgemeinerung ihn von dem
Schicksal des Kranken rettete. Während dieser seine Ablösung von
der Welt offensichtlich an einer affektiven Lebenswunde beginnt,
kehrt sich der Philosoph vom Leben ab, welches ihm in seiner Ganz¬
heit als Lebenswunde erscheint.
Die Bewußtheit der Motive, der Anspruch auf Allgemeingültig¬
keit, also im Grunde die gewollte, erzwungene, aber nicht bis in die
’) Die Welt als Wille und Vorstellung, I. 231. Nietzsche bemerkt,
daß Schopenhauer die ästhetische Kontemplation als Antidotum gegen die
sexuelle Interessiertheit, ähnlich also, wie Lupulin und Kampher empfiehlt und
frägt „ob nicht seine Grundkonzeption von ,Wille und Vorstellung 1 der Ge¬
danke, daß es eine Erlösung vom ,Willen 1 durch die Vorstellung* geben könne,
aus einer Verallgemeinerung jener Sexualerfahrung ihren Ursprung genommen
habe.“ Zur Genealogie der Moral, p. 409.
151
tiefen unbewußten psychischen Schichten, geschweige denn ins Orga¬
nische dringende Abkehr von der Realität ermöglicht dem Philoso¬
phen eine konsequente und logische Systembildung, welche dem
Schizophrenen versagt bleibt. Man kann sich den Metaphysiker
nicht vorstellen, welcher sein System für sich allein ausspinnen
würde, ohne jedes Bedürfnis nach allgemeinem Interesse und An¬
erkennung; unsere Kranken aber können ihre Systeme für sich haben,
zu ihrer ausschließlichen Befriedigung, ohne sich um die divergente
Realität zu kümmern, sie sind Könige und Thronfolger an und für
sich und können so in der Anstalt eine noch so niedrige Arbeit ver¬
richten. Der Metaphysiker wird eben auch von kognitiven Tendenzen
beherrscht’), er strebt nach Allgemeinheit und nach Allgemeingültig¬
keit der Erkenntnis, während bei dem Kranken die kognitiven Motive
durch die affektiven gänzlich unterdrückt werden und er so in seinen
engen Zauberkreis eingesponnen bleibt.
So ist denn nur die unbewußte Ablösung von der Welt patho¬
logisch. Nicht bewußt, kann sie auch nicht konsequent sein, die
affektbetonten Komplexe, die verdrängten Triebkomponenten werden
um so stärker betont (in psychoanalytischer Sprache zu reden: mit
Libido besetzt), und verzerren die Struktur der Persönlichkeit, wie
ihr Weltbild.
Das dem Denken eigene Streben nach Einheit muß, um sinn¬
gemäß zu sein, mit den Nonnen des objektiven Denkens und der
Realität selbst rechnen. Die schizophrene Vereinheitlichung ge¬
schieht aber unter dem Umgehen der Normen und der gegebenen
Realität, weswegen ihre Bildungen innerlich widerspruchsvoll und
ohne Kontakt mit der Realität bleiben müssen.
Es würde eine reizvolle Aufgabe sein, die Geschichte des mensch¬
lichen Denkens, insbesondere der Philosophie, vom Gesichtspunkte
der verschiedenen Gestaltung der Grundbeziehung Psyche-Welt dar¬
zustellen; wir würden sehen, wie immer wieder eines der beiden Ele¬
mente überragt, wie immer wieder eine Synthese der beiden erstrebt
wird und so dasjenige, was der unmittelbar lebende Mensch immer
in irgendwelcher Weise verwirklicht auf bewußtem und komplizier¬
tem Wege gesucht wird. Um den Rahmen der Arbeit nicht zu über¬
schreiten, muß ich mir versagen, dieser Aufgabe nachzugehen.
Nachdem wir den Vergleich zwischen metaphysischen und schi¬
zophrenen Systembildungen gezogen haben, ist es notwendig, auch
') Vgl. darüber Heinrich Maier, 1. c
152
das religiöse Denken heranzuziehen, woraus sich dann allgemeine Ge¬
sichtspunkte zur Psychologie des Denkens ergeben werden.
Wir haben die enge Verwandtschaft des religiösen und des
schizophrenen Denkens gesehen, welche beide in der prälogischen
Mentalität wurzeln. Das primitive Element schien uns auf dem Ge¬
biete des Glaubens und der betreffenden Praktiken von einer nicht
hoch genug zu schätzenden Bedeutung zu sein, wir sahen in dem
Gebet einen direkten Abkömmling des Zauberspruches und in den
Riten das Mittel, die unzulängliche höhere Realität direkt zu beein¬
flussen. Die gesamte religiöse Begriffsbildung erwies sich durch¬
drungen von mystischen Anteilnahmen, welche die Normen des ob¬
jektiv gerichteten Denkens außer Acht lassen und in Wirklichkeit
einander fremde Gebiete und Erscheinungen verbinden. Wenn der
Gläubige jedes Ereignis auf sich beziehen kann und darin ein Zeichen
oder eine Fügung Gottes sieht, der sich mit ihm so eingehend be¬
schäftigt, so ist das ohne Zweifel ein sublimierter begrifflicher Aus¬
druck jener hervorragenden Eigenbeziehung des Primitiven, welcher
an der gesamten Umgebung irgendwie teilnahm und von ihr beein¬
flußt werden konnte. Andererseits aber läßt uns diese Attitüde an
die Eigenbeziehung des Schizophrenen denken; auch ihm kann die
geringste Begebenheit bedeutsam erscheinen und zu seiner Person in
engster Beziehung stehen, auch ihm können sich gute oder schlechte
ihn betreffende Ereignisse durch die kleinsten Veränderungen in der
Umgebung kundgeben.
Auch ergibt sich weitgehende Übereinstimmung zwischen der Mo¬
dalität, nach welcher der Gläubige seine Glaubensobjekte denkt und
der Art und Weise, wie der Schizophrene seine Wahnobjekte mit
Attributen ausstattet. Wenn mir der Kranke erzählt, in seinem
Varech befinde sich eine Boa, die so groß sei, daß sie von hier (Lau¬
sanne) bis Genf reiche und, um mir den Widerspruch zu erklären,
hinzufügt, die Boa befinde sich auch in den beiden Nachbarzellen:
wenn ich bei dem Versuch, den Kranken zu einer schärferen Präzi¬
sierung des Gedankens zu bringen, sofort feststelle, daß er zwischen
dem Raume, welchen die Boa einnimmt und ihrem Wirkungsgebiete
keinen Unterschied macht und daß ihm das Ungeheuer den „esprit du
mal“ bedeutet, so kann ich nicht umhin, diese Denkweise als eine
typisch religiöse zu bezeichnen. In der Tat wird auch Gott zugleich
personifiziert und als überall anwesend gedacht, auch zwischen seiner
Person und Wirkung seiner Allmacht wird weder begrifflich noch
räumlich scharf unterschieden; die heilige Jungfrau wirkt Wunder in
einem bestimmten Bilde und heilt gleichzeitig Kranke in einem ande-
153
ren weit entfernten, ja, sie steigt von dem Bilde herab, um in die
Geschicke der Sterblichen tätig einzugreifen 1 ).
Bei näherem Zusehen ergibt sich, daß jeder Paranoide seinen
Verfolger mit teilweise göttlichen oder dämonischen Attributen aus¬
stattet, worunter die Wirkung auf Distanz das Vornehmste bildet.
Wir sind übereingekommen, diese tiefe Analogie des schizophre¬
nen und religiösen Denkens auf die in beiden festgelegte prälogische
Mentalität zurückzuführen. Aber woher der Unterschied? Denn es
wird doch niemandem einfallen, das schizophrene Denken dem reli¬
giösen gleichzusetzen.
Der Unterschied liegt zunächst offenbar in den Resultaten und
in dem Wert der beiden Denkweisen. Der Glaube ist im großen und
ganzen ein hervorragender Faktor der Vergesellschaftung 1 ), er be¬
festigt und vertieft den Zusammenhang des Einzelnen mit der Gesell¬
schaft und letzten Endes mit der Welt, mit dem All. Hingegen son¬
dert der Wahn den Kranken von der Kollektivität ab, er ist verur¬
teilt, aus sich und für sich allein eine imaginäre Welt zu spinnen,
welche sein ausschließlicher, nicht teilungsfähiger Besitz bleiben
muß, auch wenn seine Ideen human oder gar kosmisch, seine Stre¬
bungen altruistisch gerichtet sind.
Auch gestaltet sich dementsprechend das ganze Verhältnis zur
Realität sehr verschieden. Der Gläubige kann mit der objektiven Er¬
fahrung ebenso gut rechnen wie der Nichtgläubige, nur ist er sich
ihrer höheren Verwurzelung bewußt und hypostasiert gleichsam im
Göttlichen. Alles, was ihm an der Realität theoretisch und praktisch
unzugänglich erscheint. Der Glaube aber an sich hindert ihn nicht
im Geringsten, sein Interesse der Welt der Objekte zuzuwenden und
dieselbe sinn- und zweckgemäß zu beeinflussen. Denn auch wenn er
vom Gott gar vieles erhofft und seinem innigen Gebete eine nicht
geringe Zaubermacht zuschreibt, so weiß er sich dennoch in eine Welt
hingestellt, wo die Kausalität nach eigenen Gesetzen waltet und wo
den Wunsch von der Erfüllung eine aus mannigfachen kausalen Zu¬
sammenhängen bestehende Distanz trennt.
Anders der Schizophrene. Ihm wird Wunsch in Realität un¬
mittelbar umgesetzt und sein wahnhafter Glaube sperrt die objektive
Wirklichkeit oder deren Teile vollständig ab. So büßt er seine Zu¬
wendung zur Welt ein und die Geschichte seiner Krankheit besteht
') Vgl. Maeterlinck, La soeur Beatrice.
') Vgl. darüber Simmel, „Die Religion“ in der Sammlung der sozialen
Monographien, herausgegeben von Martin Buber. Dürkheim, Les
Fonne8 ölementaires de la vie r41igieuse.
154
zum Teil aus verzweifelten Versuchen, diese verlorene Welt zurück¬
zufinden. Die Auflösung seiner- Grundbeziehung geht so weit, daß er
nicht nur den Kontakt mit der Umgebung verliert, sondern selbst die
im Laufe der Entwicklung des menschlichen Denkens herausgearbei¬
teten Denknormen einbüßt. So wird er unfähig, die Wirklichkeit
richtig zu beurteilen und subjektive Zusammenhänge von den objek¬
tiven zu unterscheiden.
Dieser Abbau der Funktion, wie wir hier mit voller
Berechtigung den krankhaften Prozeß bezeichnen können, führt not¬
wendigerweise zu einer Art von Betätigung, welche für die Persön¬
lichkeit sowie für die Gemeinschaft wertlos ist. Gewiß können die
Produktionen des Kranken denen des Primitiven gleich sein, welcher
ja von seinen Volksgenossen keineswegs als ein Verrückter ange¬
sehen wird, da sie seine Mentalität teilen. Aber eben darin liegt
das Verhängnis des Kranken. Die Psychose löst ihn ab von der Welt
und von der Gesellschaft, für diese ist er, muß er als abnorm gelten,
weil er sich an die von ihr stillschweigend angenommenen und inne¬
gehabten Normen nicht mehr halten kann. Die Krankheit zwingt
sein Denken zu einem Rückschlag, sie drängt es in uralte verschol¬
lene Formen hinein und entfremdet ihn der Welt, wie sie nun einmal
für seine Mitmenschen gegeben ist.
Die Tatsache aber, daß er so zu den Formen des primitiven Den¬
kens gelangt, welche der bestimmte Ausdruck einer Entwicklungs¬
stufe der Grundbeziehung waren, läßt uns einen Einblick in den
schichtenartigen Aufbau der Psyche gewinnen.
In der Tat lehrte uns die Betrachtung des normalen Denkens, daß
auch darin jene prälogische Mentalität keineswegs gänzlich ver¬
schwunden, daß sie vielmehr nur teilweise verschüttet ist, überbaut
von höheren Formen des objektiv gerichteten Denkens. Es ist, als
ob die Krankheit die Grundbeziehung Psyche-Welt in ihrer aktuellen,
normalen Gestaltung schädigte, auflöste und verschob, so daß die
Psyche auf frühere, aufgegebene Beziehungsformen zurückgreifen
muß, will sie sich noch überhaupt betätigen. Von diesem Gesichts¬
punkte aus ist es auch besonders bezeichnend, daß die Krankheit Re¬
missionen, ja jahrelange Besserungen gestattet, welche Heilungen
gleichkommen. Die ganze Invasion des primitiven Denkens hört auf,
die höheren Schichten werden wieder in ihr Recht eingesetzt und die
normale objektiv gerichtete Grundbeziehung hergestellt.
Eine ungeahnte Bedeutung erlangt die vergleichend historische
Betrachtung der Psyche, wenn wir das prälogische Denken, wie es
sich in den großen Gebieten der Religion, der Magie und des Aber-
155
glaubens betätigt, mit dem metaphysischen und dem objektiv gerich¬
teten xarifrzr/v dem Wissenschaftlichen vergleichen. Die erste Be¬
trachtung könnte leicht schließen, daß da große unüberbrückbare
Distanzen vorliegen, daß vor allem der stolze auf Erfahrung gestützte
und logisch durchgebildete Bau der Wissenschaft mit jenen primi¬
tiven Gebilden keine Berührungspunkte hat. Eine vertiefte Betrach¬
tung wird aber lehren, daß auch das wissenschaftliche Denken in
mannigfacher Weise in der primitiven Mentalität wurzelt und daß
somit gewisse Modalitäten der Grundbeziehung Psyche-Welt wohl
fortgebildet, aber prinzipiell festgehalten und auf die höheren Ent¬
wicklungsstufen mitgenommen werden.
Nehmen wir ein Grundgesetz des primitiven Denkens, das Gesetz
der mystischen Anteilnahme (Formulierung siehe S. 73). In seiner
ursprünglichen scharfen Fassung ist es naturgemäß dem wissen¬
schaftlichen Denken fremd, wir können uns nicht vorstellen, daß
Gegenstände, Organismen, Erscheinungen, gleichzeitig sie selbst und
etwas anderes sein können. Viel verständlicher erscheinen uns die
Konsequenzen jenes Grundsatzes. Die Vermengung verschiedenarti¬
ger Bereiche von Erscheinungen, das Aufeinander- und Durcheinan¬
derwirken getrennter Kausalketten — dies alles widerspricht zwar
unserer an begriffliche Scheidungen gewöhnten Denkweise; aber
liegt nicht im Wesen jedes wissenschaftlich schöpferischen Strebens
die Tendenz, verschiedenartige Erscheinungsgruppen zu vereinigen,
sie aus einem Prinzip zu begreifen und zu erklären? Ist diese Ten¬
denz nicht der eigentliche Spiritus movens des wissenschaftlichen
Schaffens?
Und was zunächst als eine künstliche und oberflächliche Ana¬
logie erscheinen mag, wird einleuchtend, sobald wir die speziellere
Betätigung des forschenden Denkens prüfen. Bekanntlich arbeiten
wir besonders gerne mit Begriffen, welche allgemein genug gefaßt
sind, um die mannigfaltigsten Erscheinungsgruppen einzuschließen.
So bildet die Energie eine heutzutage selbstverständliche und
nicht zu vermeidende Vorstellung. Wir sprechen von Energiebetäti¬
gung. Energieumsetzung, Energiesumme und wir können auf diese
Begriffe nicht verzichten, trotzdem wir große Mühe hätten, eine De¬
finition der Energie selbst zu geben. Desgleichen wird in der Psy¬
chologie vielfach von psychischer Energie gesprochen und mit dem
Begriff der Libido werden komplizierte Theorien aufgebaut, welche
große Tatsachengruppen zusammenfassen und erklären, ohne daß es
zurzeit möglich wäre, den Grundbegriff selbst mit genügender
Schärfe zu umgrenzen. Und mögen die Pedanten alle solche Ver-
156
suche unwissenschaftlich, unkritisch und was sonst alles mehr nennen,
sie entstehen und entwickeln sich doch und verschaffen dem Forscher
und allen an der Forschung Interessierten eine hohe Befriedigung.
Denn man mag noch so viel vor Hypothesen und Theorien warnen,
eine Tatsachensammlung und Registrierung ist noch keine Wis¬
senschaft.
Was hat aber dies alles mit dem primitiven Denken zu tun? Nun
das Energieprinzip befriedigt uns, weil es große und sehr verschieden¬
artige Erscheinungsgebiete in ein einheitliches System bringt. Aber
auch der Primitive hat seinen Energiebegriff, es ist der Mana des
Melanesiers, der Wakan der Sioux, der Orenda des Irokesers. „Wenn
der Irokese sagt, das Leben der ganzen Natur sei das Produkt der
Konflikte, welche zwischen den ungleich verteilten Orenda verschie¬
dener Wesen stattfinden, da drückt er in seiner Sprache den moder¬
nen Gedanken aus, nach dem die Welt ein System von Kräften ist,
welche sich gegenseitig einschränken und im Gleichgewicht halten“').
Dieses Prinzip erlaubt offenbar dem Primitiven, die Welt auf
seine Art zu verstehen und zu begreifen, wie uns das Energieprinzip
ein zusammenhängendes Weltbild ermöglicht. Wenn der Primitive
von den magischen Wirkungen der Gegenstände durch Kontakt oder
auf Distanz spricht, so können wir diese Übertragung der mystischen
Kraft als ein erstes Symbol unserer Energieumsetzung auffassen. Von
diesem Gesichtspunkte aus scheint es uns nicht mehr absurd, daß der
Fetisch eine besondere Kraft beherbergt und sie Personen und ande¬
ren Fetischen mitteilen kann, denn vorausgesetzt, daß er in sich tat¬
sächlich besondere Energie enthält, so ergibt sich alles weitere von
selbst. Ein Milligramm Radium ist der wunderbarste Fetisch der
Welt.
Wir haben zwar das Gesetz der mystischen Anteilnahme ver¬
lassen, aber unser Denken kann sich keineswegs mit der begrifflichen
Scheidung verschiedener Kausalketten und Bereichen von Erschei¬
nungen begnügen. Immer wieder brechen die monistischen Grund¬
tendenzen des Denkens durch und bemächtigen sich der disparatesten
Gebiete, welche sie von einem Prinzip durchwalten lassen. Vom
Standpunkte der Psychologie des Denkens aus ist
es wesentlich dasselbe, ob man die ganze Welt als
Atman auffaßt oder ob man das einzige Heil,
sei es in den Atomen, sei es in der Energie, sieht.
Versucht man die psychischen Phänomene aus den chemisch physi¬
kalischen Hirnvorgängen abzuleiten oder sieht man in dem Gei-
') Dürkheim, 1. c. p. 291.
157
stigen das allein Wirkliche, man unterliegt immer trotz der angeb¬
lichen, empirischen Grundlage seiner Aufstellungen den gleichen
a priori gegebenen Tendenzen der lebenden und erkennenden Psyche.
Es wäre naiv, diese Tendenzen zu mißbilligen, denn sie sind es,
wie wir sahen, die das Werden der Wissenschaft bedingen, wenn sie
es auch in ihrer verabsolutierten Betätigung ungünstig beeinflussen
können.
Wichtige Prinzipien der Wissenschaft verdanken ihre Formulie¬
rung nicht so sehr der Erfahrung, welche sie erst nachträglich bestä¬
tigte, als vielmehr jenem Grundstreben des Denkens nach Einheit,
nach Identität. Es ist dies für die Prinzipien der Trägheit, der Hal¬
tung des Stoffes, Erhaltung der Kraft, besonders eingehend von
Meyerson 1 ) nachgewiesen worden, wurde aber schon vielfach von
Philosophen und Physikern ausgesprochen. Schopenhauer spricht
von dem a priori gesichterten, weil aus der Kausalität folgenden
Gesetz der Trägheit, Descartes leitet dieses Gesetz daraus, daß „Gott
gar keiner Veränderung unterliegt und imm er in der gleichen Weise
handelt“. Was das Gesetz der Erhaltung der Energie anbelangt, so
sagt einer seiner experimentellen Begründer Joule: „Wir könnten
a priori beweisen, solche absolute Zerstörung der lebendigen Kraft
mV* sei unmöglich, denn es wäre augenscheinlich absurd, anzuneh¬
men, die Kräfte (powers), mit welchen Gott den Stoff ausstattete,
könnten zerstört oder durch Menschenwirkung geschaffen werden;
aber wir verfügen nicht nur über dieses eine Argument, wie sehr es
auch für einen jeden vorurteilsfreien Verstand entscheidend schei¬
nen muß“*).
Ohne Streben nach Einheit, kein Erfassen der Realität, keine
Wissenschaft. Aber dieses Streben selbst hat notwendige Grenzen
und so sehr es als Tendenz zum Begreifen der Wirklichkeit notwendig
ist, so verderblich ist es als erreichtes Endergebnis. In der Tat, man
kann die Erscheinungen ohne Vereinheitlichung nicht verstehen, aber
man versteht sie nicht mehr, wenn man sie aus vollkommener Ein¬
heit ableiten will. Dem Inder ist die ganze Welt nur eine Täuschung,
da die Vielheit nur aus dem Nichtwissen entspringen kann, während
der Atman das einzig Wirkliche ist. Aber noch mehr: diese Einheit
vernichtet schließlich die Realität und der Atman grenzt an das
Nichts an. Vergebens versucht der indische Philosoph die Welt zu
erklären und aus dem Avidya (Nichtwissen) abzuleiten. Er kann
*) Identitö et r6alit6. Paris.
’) Die drei Zitate nach Meyerson.
158
wohl dem Yogin, welcher in sich einkehrt und sich von jeder äußeren
Realität befreit, eine großartige magische Macht über dieselbe ver¬
sprechen, ebenso ein divinatorisches Wissen, ohne ihm jedoch das Ge¬
ringste über die tatsächlichen Erscheinungen dieser Realität mitteilen
zu können, ja zu wollen.
Hierin liegt eine tiefe Polarität des Denkens, daß es die Realität
einheitlich zu erfassen sucht, erfassen muß, aber daß es in unablässi¬
ger verabsolutierten Verfolgung dieser Tendenz die Realität ver¬
nichtet.
Dies ist aber im Grunde die Polarität der Grundbeziehung
Psyche-Welt selbst. Die Psyche lebt und entfaltet sich an der Welt
und indem sie diese sich immer mehr zu eigen zu machen sucht, muß
sie der selbständigen eigengesetzlichen Existenz der Realität immer
mehr Rechnung tragen. So bemächtigt sie sich zwar der Welt, wird
ihr aber zugleich entfremdet, distanziert. Darum muß im Grunde
jedes objektiven Erkennens eine gewisse Unbefriedigung liegen,
welche das subjektive Korrelat jener tatsächlich und von uns unab¬
hängig gegebenen Schranke Psyche-Welt bildet.
Den Primitiven verbanden mit der Welt intime und mannigfache
Beziehungen. So wie alles mit allem Zusammenhängen konnte, so
war auch er in mystische Anteilnahmen aller Arten verstrickt. Dafür
kannte er die Realität nicht, wie sie das objektiv gerichtete Denken
kennt, aber er besaß sie in einer ganz anderen Art, als wir dies ver¬
mögen, denn wir haben eben von dem Baume der Erkenntnis
genossen.
Aber eingedenk jener uralten, unzerstörbaren Grundtendenzen
unserer Psyche können auch wir auf den vollen Besitz nicht verzich¬
ten. In der Religion, in der Metaphysik, versucht der Mensch immer
wieder die ganze Welt zu ergreifen, die Distanz zwischen sich und
dem Kosmos aufzuheben. Nur gelingt dies keineswegs dem begriff¬
lichen Denken, welches auf Unterscheidung seinem Wesen nach nie
verzichten kann. Schon in den metaphysischen Systemen sehen wir
darum mystische Elemente und das rationalistische xa^i^ijv Ge¬
bäude der Ethik Spinozas gipfelt in dem Amorintellectu-
a 1 i s D e i.
Bewußt strebt nach der Verschmelzung mit dem Objekte der
Mystiker; in der Extase, wo die Subjekt-Objekt-Spaltung aufgehoben
wird, glaubt er die Realität zu schauen, wie es ihm sonst nie ver¬
gönnt ist. So stehen gleichsam an zwei Polen des Geistes: die ur¬
sprüngliche participatio mystica und die erstrebte unio
m y 81 i c a.
Verzeichnis der benützten Literatur.
Abraham: Die psychosexuellen Differenzen der Hysterie und der
Dementia praecox. Zbl. f. Neur. u. Psych. 1908, p. 521. — BergsonH.:
Essai sur les donnöes immödiates de la conspience. Alcan, Paris. — Derselbe,
Mattere et Memoire. Alcan, Paris. — Derselbe, Energie spirituelle. Alcan,
Paris. — Berze: Die Schizophrenie im Lichte der Assoziations- und in dem
der Aktionspsychologie. Allg. Ztsch. f. Psych. 1919, p. 123. — Bleuler:
Die Schizophrenien. Aschaffenburgs Handbuch. — Derselbe, Affektivität,
Suggestibilität und Paranoia. Marhold, Halle a. S. 1916. — Derselbe, Über
negative Suggestibilität. Psych.-neur. Wchsch. 1904, Nr. 27/28. — Derselbe,
Zur Theorie des schizophrenen Negativismus. Psych.-neur. -Wchsch. 1910/11,
Nr. 18—21. — Derselbe, über die Störung der Assoziationsspannung etc.
Allg. Ztsch. f. Psych., Bd. 74, S. 1. — Derselbe, Das autistisch undisziplinierte
Denken in der Medizin und seine Überwindung. Springer, Berlin 1919. — Der¬
selbe, Schizophrenie und psychologische Auffassungen. Allg. Ztsch. f.
Psych. 1920, p. 135. — Derselbe, Über extrakampine Halluzinationen. Psych.-
neur. Wchsch. 1913. — Derselbe, Zur Theorie der Halluzinationen. Vortrag,
gehalten auf der Versammlung des Schweizer Vereins für Psychiatrie am
5. Juni 1920. — Derselbe, Das autistische Denken. Jahrb. f. Psych., IV. —
B1 o n d e 1: La consience morbide. Alcan, Paris 1914. — B o v e n: Caractdre
individuel et altenation mentale. Schweizer Arch. f. Neur. u. Psych., VI., 2. —
Dar d el: Impressions d’un catatonique. Schweiz. Arch. f. Neur. u. Psych., VI.,
2. —* Deussen: Allg. Gesch. d. Philosophie. I. Bd., 1 ., 2. u. 3. Abt. die Philo¬
sophie der Inder. Leipzig, Brockhaus, 1894—1908. — Derselbe, Sechzig
Upanishads des Veda. Leipzig, Brockhaus, 1897. — Dürkheim: Les
formes 616mentaires de la vie röligicuse. Alcan, Paris 1912. — Derselbe,
R£presentations individuelles et räprösentations collectives. Revue de Metap.
et de Morale 1898. — Ferenczi: Introjektion und Übertragung. Jahrb. f.
Psychoanal. — Derselbe, Über die Entwicklungsformen des Wirklichkeits¬
sinnes. Int. Ztsch. f. Psychoanal. 1913. — Flournoy: Une mvstique
moderne. Arch. de Psychologie, XV., 1915. — Frazer: Le rameau d’or.
Paris 1903. — Freud: Sämtliche Arbeiten, insbesondere aber: Kleinere
Schriften zur Neurosenlehre, IV. Folge, 1918; Totem und Tabu; Formulierungen
über die zwei Prinzipien des psychischen Geschehens, Jahrb. f. Psychon. III.;
Die Traumdeutung. — Friedman: Über die Beziehung der pathol. Wahn-
bildung zu der Entwicklung der Erkenntnisprinzipien, insbesonders bei Natur¬
völkern. Allg. Ztschr. f. Psych. 1896. 52. Bd. — Derselbe: Weiteres zur
Entstehung der Wahnideen und über die Grundlage des Urteils. Mtsch. f.
Psych. u. Neur. 1897. — Derselbe: Über Wahnideen im Völkerleben. Berg¬
mann, Wiesbaden. 1900/1901. — H o p p e , A.: Beitrag zur Pathologie der Er¬
kenntnis. Ztbl. f. Nervenk. 1908. — Derselbe: Zur logischen Grundlage der
Psychopathologie. Ztsch. f. d. ges. Neur. u. Psych., Bd. II. Wahn und Glaube.
Ibid. — Derselbe: Erkenntnistheoretische Fragen in der Psychopathologie.
Psych.-Neur. Wchsch. Nr. 15/16, 1920/21. — Heveroch: Der Beziehungs¬
wahn und das Problem der Kausalität. Ztsch. f. Pathopsych. Bd. UI.—Hubert
& Mau s 8: Thöorie gänörale de la magie. Ann6e sociologique. VII. 144. — Ja-
net, P.: Les obaessions et la psychasthönie. III6me Edition. Alcan,Paris 1919.—
Jaspers, K.: Allgemeine Psychopathologie. Berlin 1913. — Derselbe,
Psychologie der Weltanschauungen. Berlin 1919. — Derselbe, Zur Analyse der
Trugwahmehmung. Ztsch. f. d. ges. Neur. u. Psych., Nr. 6. — Derselbe, Über
160
leibhaftige Bewußtheiten. Ztsch. f. Pathopsych. 1913. — Derselbe, Referat über
Trugwahrnehmung. Ztsch. f. d. ges. Neur. u. Psych., Ref. 4. Derselbe,
Kausale und verständliche Zusammenhänge zwischen Schicksal und Psychose
bei der Dementia praecox (Schizophrenie). Ztsch. f. d. ges. Neur. u. Psych.
1913, 14. — Jung, C.: Symbole und Wandlungen der Libido. — Derselbe:
La structure de l’inconscient. Archives de Psych., XVI., 1917. — Krae-
pelin: Psychiatrie. VIII. Auflage, 1. Band. — Kretschmer: Die
Willensapparate des Hysterischen. Ztsch. f. d. ges. Neur. u. Psych., 54, 1920. —
Derselbe, Der sensitive Beziehungswahn. Berlin 1918. — Krüger: Über die
Genese und klinische Bewertung der Trugwahrnehmungen und Wahrvorstel¬
lungen in ihrem Verhältnis zueinander. Ztsch. f. d. ges. Neur. u. Psych., 51. —
L e c k y: Geschichte des Ursprunges und des Einflusses der Aufklärung in
Europa. II. Aufl., Heidelberg 1873. — Lehmann: Aberglaube und Zauberei.
Stuttgart 1908. — L6 vy-Bruhl: Les fonctions mentales dans les soci6t6s
primitives. Alcan, Paris 1918. — Maier, H.: Psychologie des emotionalen
Denkens. Tübingen 1908. — Maier, H. W.: Über katathyme Wahnbildung.
Ztsch. f. d. ges. Neur. u. Psych., 13, 1912. — Markuszewicz: Beitrag
zum autistischen Denken bei Kindern. Int. Ztsch. f. Psychoanal., VI., 1920. —
Meyerson: Identite et r^alite. Paris. — v. Monakov: Biologie und
Psychiatrie. Schweiz. Arch. f. Neur. u. Psych., IV., 1, 2. — Morel: Essai
sur l’introversion mystique. Geneve 1918. — v. M u r a 11: Ein geistes¬
kranker Philosoph. Schweiz. Archiv für Neur. und Psych., VI., 2. —
M u r i s i e r: Les maladies du sentiment räligieux. Pari» 1903. —
Nietzsche: Zur Genealogie der Moral. Menschliches — Allzumensch¬
liches. Leipzig. — Preißig: Note sur le langage chez des alignäs.
archives de psych. t. X. 1911. p. 91. — Preuß: Der Ursprung der Religion
und Kunst. Globus 86/87. — R e i k: Probleme der Religionspsychologie. Int.
psychonal. Verlag, Wien 1919. — R e p o n d: Über die Beziehungen zwischen
Parästhesien und Halluzinationen, besonders bei deliriösen Zuständen. Mtseh.
f. Psych. u. Neur. Bd. 38. Heft 4. — R i b o t: La logique des sentiment«. —
Derselbe: Essai sur les passions. — Derselbe: Psychologie des Senti¬
ments. Paris. — R o h d e: Psyche. II. Aufl. Tübingen 1898. — Schil¬
der, P.: Selbstbewußtsein und Persönlichkeitsbewußtsein. Berlin 1914. —
Derselbe: Wahn und Erkenntnis. Berlin 1918. — Schilder u. Weid¬
ner: Über symbolähnliche Vorstellungen im* Rahmen der Schizophrenie.
Mtschr. f. d. ges. Neur. u. Psych. 1914. 26. Schopenhauer: Werke.
Hrsgg. v. Frauenstädt. — S i 1 b e r e r: Zur Symbolbildung. Jahrb. f. Psych.
HI. IV. — Derselbe: Bericht über eine Methode, gewisse Halluzination s-
erscheinungen hervorzurufen unu zu beobachten. Ibid. I. — Derselbe:
Symbolik des Erwachens und Schwellensymbolik überhaupt. Ibid. HI. —
Derselbe: Die Probleme der Mystik und ihrer Symbolik. Wien. — Sim¬
mel: Hauptprobleme der Philosophie. Leipzig 1913. — Derselbe: Die Reli¬
gion. Die Gesellschaft — Sammlg. soziolog. Monogr., hrsgg. v. Martin Buber. —•
Specht: Zur Phänomenologie u. Morphol. d. pathol. Wahrnehmungstäuschun-
gen. Ztschr. f. Pathopsych. 1913/14. — Stern, W.: Die Analogie im volks¬
tümlichen Denken. Diss. Berlin 1893. — Stöcker: Zur Genese der Hallu¬
zinationen. Ztschr. f. d ges. Neur. u. Psych. 50. — S t o 11: Suggestion und
Hypnose in der Völkerpsychologie. Leipzig 1894. — S u 11 y: Etudes sur
l’enfance. — Queyrat: La logique chez Penfant. Paris 1902. — W u n d t
W.: Elemente der Völkerpsychologie. Leipzig 1913.
| l CU o
aShäNDLUNGTEN AUS DER NEUROLOGIE,
PSYCHIATRIE, PSYCHOLOGIE UND IHREN
GRENZGEBIETEN
5HHEFTE ZUR MONATSSCHRIFT FÜR PSYCHIATRIE UND NEUROLOGIE
HERAUSGEGEBEN VON K. BONHOEFFER
HEFT 22
(Aus der Psychiatrischen und Nervenklinik der Universität in Frankfurt a. M.
[Direktor: Prof. Dr. Kleist))
Der Selbstmord
Privatdozent Dr. med. R. Weichbrodt
■
S.IL
BERLIN 1923
VERLAG VON S. KARGER
KARLSTRASSE 15,
Medizinischer Verlag von S. Karger in Berlin NW. 6
In den
Abhandlungen aus der Neurologie, Psychiatrie,
Psychologie und ihren Grenzgebieten
Beiheftez. Monatsschrift für Psychiatrieu.Neurologie, sind bisher erschienen;
Heft 1: Typhus und Nervensystem. Von Prof. Dr. Georg Stertz in
Breslau. (Vergri ffen.)
Heft 2: Ueber die Bedeutung von Erblichkeit und Vorgeschichte
für das klinische Bild der progressiven Paralyse. Von Dr.
J. Pernet in Zürich. (Vergriffen.)
Heft 3: Kindersprache und Aphasie. Gedanken zur Aphasielehre auf
Grund von Beobachtungen der kindlichen Sprachentwickelung und
ihrer Anomalie.. Von Priv.-Doz Dr. Emil Fröschels in Wien. Mk.5.50
Heft 4: Epilepsie und Dementia praecox. Von Professor Dr. W.
Vorkastner in Greifswald. Mk. 5.—
Heft 5: Forensisch-psychiatrische Erfahrungen im Kriege. Von Priv^-
Doz. Dr. W. Schmidt in Heidelberg. Mk. 8.—
Heft 6: Verbindung endogener und exogener Faktoren in dem
Symptomenbilde und der Pathogenese von Psychosen. Von
Priv.-Doz. Dr. Hans Seelert in Berlin. Mk. 3.50
Heft 7: Zur Klinik und Anatomie der reinen Worttaubheit, der
Heilungsaphasie und der Tontaubheit. Von Priv.-Doz. Dr. Otto
Pötzl in Wien. Mit zwei Tafeln. Mk. 4.—
Heft 8: Die Spielbreite der Symptome beim manisch-depressiven
Irresein. Von Prof. Dr. P. Schröder in Greifswald. Mk. 3.—
Heft 9: Die symptomatischen Psychosen und ihre Differential¬
diagnose. Von Priv.-Doz. Dr. Hans Krisch in Greifswald. Mk 2.25
Heft 10: Die AbderhaldenscheReaktion raitbes.BerücksichtigungihrerEr¬
gebnisse i.d.Psychiatrie. Von Priv.-Doz. Dr.G.E wa Id in Erlangen. Mk.9.—
Heft 11: Der extrapyramidale Symptomenkomplex (das dystonische
Syndrom) und seine Bedeutung in der Neurologie. Von Prof.
Dr. G. Stertz in München, (Vergriffen.) Mk. 6.—
Heft 12: Der anethische Symptomenkomplex. Eine Studie zur Psycho¬
pathologie d. Handlung. Von Priv.-Doz. Dr. 0. Albrechtin Wien. Mk. 4.—
Heft 13: Die neurologische Forschungsrichtung in der Psychopatho¬
logie und andere Aufsätze. Von Prof. Dr. A. Pick in Prag. Mk. 8.—
Heft 14: Ueber die Entstehung der Negrischen Körperchen. Von
Prof. Dr. L. Benedek und Dr. F. O. Porsche in Kolozsvar. Mit
10 Tafeln. Mk. 8.-
Heft 15: Ueber die Bedeutung und Entstehung der Stereotypien.
Von Priv.-Doz. Dr. Jakob Kläsi in Zürich. Mk. 1.50
Heft 16: Ueber Psychoanalyse. Von Dozent Dr. R Aller s in Wien. Mk. 2.—
Heft 17: Die Zergliederung des psychischen Krankheitsbildes bei
Arteriosklerosis-cerebrl. Von Nervenarzt Dr. S. J. R. de Monchy
in Rotterdam. Mk. 2.—
Heft 18: Epilepsie und manisch-depressives Irresein. Von Dr. Hans
Krisch in Greifswald. Mk. 2 —
Heft 19: Ueber die paranoiden Reaktionen in der Haft* Von Dr.
W. Försterling in Landsberga d. W. Mk. —
Heft 20: Dementia praecox, intermediäre psychische Schicht und
Kleinhirn - Basalganglien - Stirnhirnsysteme. Von Priv.-Doz.
Dr. Max Loewy in Prag-Marienbad. Mk. —.—
Heft 21: Metaphysik und Schizophrenie. Eine vergleichende psycho¬
logische Studie. Von Dr. G. Bychowski in Warschau Mk. — .—
Heft 22: Der Selbstmord. Von Priv.-Doz. Dr. med. R. Weichbrodt in
Frankfurt a. M. Mk. —.—
Die Abonnenten der „Monatsschrift für Psychiatrie und Neurologie“
erhalten diese Abhandlungen zu einem um 20 °l 0 ermäßigten Preise.
Die obigen Preise sind Grundpreise, die nach dem jeweiligen Umrechnungsschlüssel verviel¬
facht, die jeweiligen Verkaufspreise ergeben. Pür das Ausland gelten obige Preise In
Schweizer Pranken als Verkaufspreise, ohne jeden Aufschlag; mit Ausnahme des Portos.
ABHANDLUNGEN AUS DER NEUROLOGIE,
PSYCHIATRIE, PSYCHOLOGIE UND IHREN
GRENZGEBIETEN
BEIHEFTE ZUR MONATSSCHRIFT FÜR PSYCHIATRIE UND NEUROLOGIE
HERAUSGEOEBEN VON K. BONHOEFFER
~ - HEFT 22
(Aus der Psychiatrischen und Nervenklinik der Universitäi in Frankfurt a. M.
[Direktor: Prof. Dr. Kleist]).
Der Selbstmord.
Von
Privatdozent Dr. med. R. Weichbrodt.
BERLIN 1923
VERLAG VON S. KARGER
KARLSTRASSE 15.
Alle Rechte Vorbehalten
Druck von Ernst Klöppel in Quedlinburg
-i
\
Dem Andenken Emil Siolis
In seiner umfassenden Arbeit sagt G. v. M a y r über den Begriff
des Selbstmords: „Unter Selbstmord begreift man die akuten Einzel¬
fälle des beabsichtigten, vorzeitigen Scheidens von Menschen aus
dem Kreise der Lebenden, möge diese Absicht vom Täter in geistes¬
gesundem oder geisteskrankem Zustande verwirklicht worden sein.“
Den eingebürgerten Ausdruck „Selbstmord“ zugunsten des neuzeitlich
gebrauchten Ausdrucks „Selbsttötung“ aufzugeben, trage er Bedenken.
In der Tat wird in neuester Zeit versucht, das Wort „Selbstmord“,
bei dem einem ein Schauem durch die Knochen riesele, durch das
Wort „Selbsttötung“ zu ersetzen. Ein Mord wäre, wie Rudolf Krauß
ausführt, nach modernem Rechtsgefühl das unverzeihlichste aller Ver¬
brechen, ein Mörder der verabscheuungswürdigste, mit der schwersten
gesetzlichen Strafe bedrohte Bösewicht. Und mit einem solchen werde
durch einen sprachlichen Unfug ein Mensch auf dieselbe Stufe gestellt,
der freiwillig aus dem Leben scheide, weil ihm seine Bürde zu schwer
geworden sei. Rudolf Krauß weist darauf hin, daß in der deutschen
Literatur das Wort „Selbstmord“ erst seit der Mitte des 17. Jahr¬
hunderts nachweisbar sei, in der älteren Sprache sei noch von „Selbst-
*°d“ die Rede. Kant und Novalis hätten auch später nur von
«Selbsttötung“ gesprochen. Krauß schlägt vor, hinfort nur von
»Freitod“ zu reden. Sicherlich hat die juristische Definition, die
unter Mord eine vorsätzliche Tötung mit Überlegung versteht, bei der
Einbürgerung der Bezeichnung „Selbstmord“ den Ausschlag gegeben,
über man muß bedenken, worauf B i n d i n g wieder hinweist, daß
keinem Selbstmörder und keinem seiner Beurteiler auch nur von ferne
e 'nfäUt, in der Selbsttötung eine verbotene Handlung zu erblicken
un< ^ diese wirklich qualitativ auf eine Linie mit Mord und Totschlag
** stellen.
Dem Problem des Selbstmords sind von theologischer, philo-
8 °phischer, nationalökonomischer und vor allem medizinischer Seite
ff r oße Abhandlungen gewidmet worden, und mit heißem Bemühen ist
v ° ö verschiedener Seite die Analyse der Selbstmörderpsyche an-
ffestrebt worden. Wer aber zu den Schriften der alten Autoren greift,
det die alte Weisheit Goethes bestätigt: „Wer kann was Dummes,
was Kluges denken, das nicht die Vorwelt schon gedacht.“
e Ansicht, daß der Selbstmord fast immer ein Zeichen geistiger
2
Störung sei, hat schon vor 100 Jahren £ s q u i r o 1 ausgesprochen,
und die Meinung, daß der Selbstmord eine Erscheinung der Mono¬
manie sei, stammt nicht von den Franzosen, sondern schon im Jahre
1783 hat sie der Deutsche Auenbrugger veröffentlicht, der schon
damals erkannt hatte, wie sehr man bei der Melancholie auf die Ver¬
hütung des Selbstmordes Bedacht haben müsse. Auch die anato¬
mische Richtung, die jetzt auf Heller zurückgeführt wird, ist viel
älter. Schon im Jahre 1792 hat Elvert auf die körperlichen Ur¬
sachen und die Prädisposition beim Selbstmorde hingewiesen; einige
Jahre nach ihm tat es Osiander, der als erster Vorträge über
den Selbstmord hielt. Wir finden diese historischen Tatsachen in dem
Buche von P1 a c z e k „Selbstmordverdacht und Selbstmordverhü¬
tung“ zusammengestellt. Wenn trotz so vieler Arbeiten über das
Selbstmordproblem diesem Problem von neuem Beachtung geschenkt
werden soll, so kann man sich wieder an Goethe halten, der im
13. Buch von Dichtung und Wahrheit sagt: „Der Selbstmord ist ein
Ereignis der menschlichen Natur, welches, mag darüber schon so viel
gesprochen und gehandelt sein, als da will, doch einen jeden Men¬
schen zur Teilnahme fordert, in jeder Zeitepoche wieder verhandelt
werden muß. Es wäre etwas Unnatürliches, daß der Mensch sich von
sich selbst losreiße, sich nicht allein beschädige, sondern vernichte;
jener Ekel vor dem Leben habe seine physiologischen und seine sitt¬
lichen Ursachen, jene solle man dem Arzte, diese dem Moralisten zu
erforschen überlassen.“ Wenn man die nichtmedizinische Literatur
Über den Selbstmord durchsieht, so findet man es oft so dargestellt,
als ob die Selbstmordhäufigkeit ein Gradmesser der Kultur und der
Moralkraft eines Volkes wäre. Man stößt häufig auf die Ansicht,
daß die Religionslosigkeit, Literatur und Kunst, die Presse schuld
daran wären, daß die Selbstmorde Btändig zunähmen. So schreibt
Masaryk in seinem Buche „Der Selbstmord als soziale Massen¬
erscheinung der modernen Zivilisation“: „Da wir mit Recht an¬
nehmen, daß sich alle zivilisierten Völker der Gegenwart aus dem
Naturzustand allmählich entwickelt haben, und die krankhafte Selbst¬
mordneigung bei Naturvölkern gar nicht, bei den zivilisierten aber
in hohem Grade vorhanden ist, so folgt, daß sich bei allen Völkern
mit fortschreitender Entwicklung die krankhafte Selbstmordneigung
allmählich entwickelt; die soziale Massenerscheinung des Selbstmords
ist die Frucht des Fortschritts, der Bildung, der Zivilisation.“ Soll
wirklich RousseausWort von dem Sitten verderbenden Einfluß der
kulturellen Vervollkommnung Wahrheit sein? Sollen wirklich die
epochalen Leistungen menschlichen Forschergeistes nur den sittlichen
3
Verfall der Menschheit besiegeln? Die historische Forschung zeigt
uns, daß zu allen Zeiten unter allen Völkern der Selbstmord bekannt
war, wenn auch bei denen monotheistischer Religion seltener als
bei anderen.
Bei den alten Juden war der Selbstmord selten. Man findet einen
Namen für „Selbstmord“ und „Selbstmörder“ in der Bibel nicht, ein
Beweis, daß der Selbstmord bei den Juden kein Heim gefunden hat.
Die 24 Bücher der heiligen Schrift, die die Geschichte eines Zeit¬
raumes von ungefähr tausend Jahren umfassen, kennen nur 4 Selbst¬
morde. Erst als die Juden in stärkere Berührung mit anderen
Völkern gekommen waren und vieles kennen und nachahmen ge¬
lernt hatten, was Sitten und Gebräuche der Väter femgehalten
hatten, treten Selbstmorde bei ihnen auf. Der Talmud spricht dann
von Selbstmord als bewußter und absichtlicher Selbstvemichtung,
und der Selbstmörder wird bezeichnet als der absichtliche und be¬
wußte Selbstvemichter. Nicht als Selbstmord galt der des Unzu¬
rechnungsfähigen, d. h. des Wahnsinnigen, des Gemütskranken, des
Trunkenen, des Unmündigen, ferner des im Kriege sich Befindenden
nach unglücklichem Ausgang eines Kampfes, wo ihm der Tod durch
Feindeshand bevorstand. Erst zur Zeit der Zerstörung Jerusalems
hören wir von häufigen Selbstmorden unter den Juden, und Jo¬
se p h u s, der sich später tötete, als ihm der Tod vom Feinde be¬
vorstand, fühlte sich damals veranlaßt, mit Eifer gegen den Selbst¬
mord zu sprechen: „Warum eilen wir so sehr, unser eigenes Blut
zu vergießen? Warum wollen wir das innigste Band gewaltsam
zerreißen, das Band zwischen Leib und Seele? ... Ist doch der
Selbstmord überall, in der ganzen Natur, allem, was da lebt, fremd
und ein Frevel gegen Gott, unseren Schöpfer. Es gibt kein Her,
das absichtlich sich selbst tötet . . .“
Auch unter den Griechen herrschte in der frühesten Zeit kein
besonderer Hang zum Selbstmord. Die griechischen Philosophen
verwarfen ihn von verschiedenen Grundsätzen aus. Aristoteles
verwarf ihn als unsittlich nicht gegen sich, sondern gegen den Staat.
E p i k u r fand es lächerlich, sich aus Lebensüberdruß zu töten. Die
erste philosophische Schule, die als Grundsatz bekannte, daß der
freiwillige Ausgang aus dem Leben nicht nur in manchen Fällen
erlaubt, sondern auch eine Tugend sei, war die stoische. Zeno
bängte sich im hohen Alter auf, als er sich bei einem Fall den Finger
brach. Das Volk errichtete ihm ein Ehrendenkmal mit der Auf¬
schrift: „Sein Leben stimmte mit seinen Lehren überein.“
4
In Ägypten predigte Hegesias, ein Schüler Aristipps, mit
solchem Erfolge den Selbstmord, daß der damalige König Ptolemäus
einschritt und ihm verbot, die Lehre weiter vorzutragen.
Bei den Römern war die Selbstmordneigung anfangs ebenfalls
nicht groß. Der politische und religiöse Emst, die Strenge, mit der
sie den einzelnen an seine Pflichten gegen das Gemeinwesen und
gegen die Götter mahnten, ließen nicht zu, mit dem eigenen Leben
zu spielen. Wie N i e b u h r zeigt (zitiert bei H i r z e 1), verdammte
die Religion der Römer die Selbstmörder und versagte ihnen ehr¬
liches Begräbnis und Totenfeier. Nach H i r z e 1 verordneten die
Bücher der Pontifizes, daß wer sich erhängt hatte, nicht bestattet
werden durfte; ja noch weiter habe der am Selbstmord haftende
Makel gereicht, indem auch, wer sich selbst auf den Tod verwundet
habe, dem Büttel gleichgeachtet worden sei. Aber die Religion und
ihre Vertreter hätten keine rechtliche Macht gehabt, die Anerkennung
dieses Makels, den sie als solchen erklärten, auch andern abzunötigen
und die Erlegung von Bußen, das Dulden von Strafen zu erzwingen.
Durch die griechische Kultur und Philosophie wurden auch ihre An¬
schauungen über den Selbstmord sehr beeinflußt. Die Ansicht der
Stoiker fand bei ihnen sehr großen Anhang; so pries es S e n e c a ,
daß die Natur dem Menschen nur einen Eingang ins Leben, aber
mehrere Ausgänge aus dem Leben gelassen habe:
„Kommt das Unglück allzuschwer, so kann der Mensch jeden
Augenblick aus dem Leben scheiden. Die Tür ist offen. Wer nicht
länger bleiben will, der kann gehen.
Siehst du jenen Steilabhang? Dort hinab geht’s in die Freiheit!
Siehst du jenes Meer, jenen Fluß, jenen Bmnnen? Auf ihrem Grunde
wohnt die Freiheit! Siehst du jenen kleinen, dürren, verkrüppelten
Baum? An ihm hängt die Freiheit! . . . Fragst du nach dem
leichtesten Weg zur Freiheit — jede Ader deines Körpers ist ein
solcher Weg!“
Nach S e n e c a mache es nichts aus, früher oder später zu ster¬
ben, wohl aber, gut oder übel zu sterben. Gut sterben heiße, der
Gefahr, übel zu leben, zu entgehen. Wie außerordentlich häufig zeit¬
weise der Selbstmord bei den Römern gewesen sein muß, geht aus der
Bemerkung des T a c i t u s über den Selbstmord des Lucius Piso, des
Präfekten von Rom, hervor, er sei eines natürlichen Todes gestorben.
Durch das Christentum wurden die Anschauungen der Römer über
den Selbstmord geändert.
Bei den Germanen töteten sich häufig alte Leute bei herannahen¬
dem Siechtum, bei den Herulern durfte das Weib den Mann nicht
5
überleben; diese Selbstmorde, wie auch die der indischen Witwen bei
dem Tode ihres Gatten und der indischen Diener bei dem Tode ihres
Herrn sind als Volkssitten allerdings anders zu werten, als die
eigentlichen Selbstmorde.
Die monotheistischen Religionen verabscheuen und brandmar¬
ken als Verbrechen den Selbstmord, nur wenige Kirchenlehrer, z. B.
Eusebius, Chrysostomus, Hieronymus geben den
Selbstmord für den Fall zu, daß die Unschuld in Gefahr stehe. Auch
Mohammed hat im Koran Sura 4 den Selbstmord ausdrücklich
verboten: „Seid keine Selbstmörder, wer aber gegen dieses Verbot
handelt, den wird das Feuer der Hölle verzehren.“
Im Mittelalter soll infolge des kirchlichen Einflusses der Selbst¬
mord sehr selten gewesen sein. Wohl wurde das Leben von vielen
verneint, die sich in Klöster zurückzogen, nicht aber der Wille zum
Leben. Wir hören aber, daß unter den Frauen der Priester, die durch
die Einführung des Zölibats von ihren Männern verlassen werden
mußten, der Selbstmord sehr häufig gewesen sein soll.
Zitieren wir noch kurz einige Ansichten über den Selbstmord von
Philosophen und Dichtem des 18. und 19. Jahrhunderts. Kant be¬
trachtet die Selbsttötung als eine unsittliche Handlung, diese Tat sei
eine Herabwürdigung der Menschheit in unserer Person. Schopen¬
hauer ist der Ansicht, daß der Selbstmord der Erreichung des
höchsten moralischen Zieles entgegenstehe, indem er der wirklichen
Erlösung aus dieser Welt des Jammers eine bloß scheinbare unter¬
schiebe. Er lehnt es aber ganz entschieden ab, den Selbstmord als
ein Verbrechen zu erklären, und meint, man verurteile den Selbst¬
mord, um nicht vom Selbstmord verurteilt zu werden. Schon Scho¬
penhauer weist darauf hin, daß wir auf dem Theater, dem Spiegel
des Lebens, edle Charaktere durch Selbstmord enden sehen, ohne daß
es uns einfiele, zu meinen, sie begingen ein Verbrechen.
Nietzsche schreibt in Zarathustra: „Meinen Tod lobe ich
euch, den freien Tod, der mir kommt, weil ich will“, und an anderer
Stelle (Menschliches, Allzumenschliches, n. Teil) heißt es bei ihm:
„Was ist vernünftiger, die Maschine still zu stellen, wenn das Werk,
daß man von ihr verlangte, ausgeführt ist, — oder sie laufen zu las¬
sen, bis sie von selber stille steht, das heißt, bis sie verdorben ist?
Ist letzteres nicht eine Vergeudung der Unterhaltungskosten, ein
Mißbrauch mit der Kraft und Aufmerksamkeit des Bedienenden?
Wird hier nicht weggeworfen, was anderswo sehr not täte? Wird
nicht selbst eine Art Mißachtung gegen die Maschinen überhaupt
verbreitet, dadurch, daß viele von ihnen so nutzlos unterhalten und
Weichbrod t, Der Selbstmord. (Abhandl. H. 22.)
6
bedient werden? — Ich spreche vom unfreiwilligen (natürlichen) und
vom freiwilligen (vernünftigen) Tode. Der natürliche Tod ist der
von aller Vernunft unabhängige, der eigentlich unvernünftige Tod,
bei dem die erbärmliche Substanz der Schale darüber bestimmt, wie
lange der Kern bestehen soll oder nicht: bei dem also der verküm¬
mernde, oft kranke und stumpfsinnige Gefängniswärter der Herr ist,
der den Punkt bezeichnet, wo sein vornehmer Gefangener sterben
soll. Der natürliche Tod ist der Selbstmord der Natur, das heißt die
Vernichtung des vernünftigen Wesens durch das unvernünftige,
welches an das erstere gebunden ist. Nur unter der religiösen Beleuch¬
tung kann es umgekehrt erscheinen: weil dann, wie billig, die höhere
Vernunft (Gottes)- ihren Befehl gibt, dem die niedere Vernunft sich
zu fügen hat. Außerhalb der religiösen Denkungsart ist der natür¬
liche Tod keiner Verherrlichung wert. — Die weisheitsvolle Anord¬
nung und Verfügung des Todes gehört in jene jetzt ganz unfaßbar
und unmoralisch klingende Moral der Zukunft, in deren Morgenröte
zu blicken ein unbeschreibliches Glück sein muß.“
Giacomo Leopardi verteidigt ebenfalls den Selbstmord,
und in dem Gedichte „Brutus, der Jüngere“ (ins Deutsche übersetzt
von Hamerling) klagt er:
„Schuldunbewußt, unkundig eignen Leides
Hinleben stets die Tiere,
Die Glücklichen; zum ungeahnten Ziele
Führt sie gemach die Zeit. Doch wenn es einem
Von ihnen je, vom Schmerz bedrängt, gefiele,
Freiwillig zu zerschmettern sich die Glieder,
Kein innrer Zwiespalt würde, kein geheimes
Gesetz Einspruch erheben
Je gegen solchen Drang. Euch nur von allen
Geschlechtern, die da leben, euch, den Söhnen
Prometheus, wird zum Überdruß das Leben,
Und euch allen auch immer
Verbeut ein Götterwille
In Leid den Pfad zu heiliger Todesstille.“
Neben Lenau, dem Klassiker des Weltschmerzes (Der Selbst¬
mord), finden wir. auch bei FriedrichTheodorVischer den
Selbstmord bejaht. In seinem Gedichte „Der Erste“ preist Vischer
den Mann, der diese große, geradzu erhabene Idee, das Leben von sich
zu werfen, zum ersten Male gehabt habe:
f
I
7
„Dich möcht’ ich kennen, stolzer Göttersohn,
Der du zuerst in ungeheurem Schmerz,
Dem ewigen Fluch, der blassen Furcht zum Hohn,
Den Stahl gezücket auf das eigene Herz.
Der du zuerst geboren und erfaßt
Den Wutgedanken, den kein Mensch noch trug.
Von sich zu schleudern dieses Lebens Last.“
In seinen Tagebüchern äußert sich Hebbel verschiedentlich
über den Selbstmord: „Selbstmord setzt noch nicht Lebenshaß vor¬
aus.“ „Selbstmord ist immer Sünde, wenn ihn eine Einzelheit, nicht
das Ganze des Lebens veranlaßt.“ „Gott gab dem Menschen die
Fähigkeit, die Welt zu verlassen, weil er ihn nicht gegen die Erniedri¬
gung der Welt schützen konnte.“
Diese wenigen Beispiele zeigen, daß im 18. und 19. Jahrhundert
die Anschauungen über den Selbstmord, beeinflußt durch H u m e,
Montesquieu und vor allem Rousseau, dessen Beziehungen
zu Friedrich dem Großen diesen zu dem Reskript veranlaß-
ten, die Selbstmordstrafe in Preußen aufzuheben, bei vielen Philoso¬
phen und Dichtern nicht mehr die der Kirche waren.
Eine Statistik über die Selbstmorde in den europäischen Staaten,
die erst ein objektives Urteil über die Häufigkeit der Selbstmorde er¬
laubt, haben wir erst seit ungefähr 100 Jahren. Diese Statistik be¬
weist uns, daß die Selbstmorde ständig zunehmen. Eine Zusammen¬
stellung z. B. der Selbstmorde in Preußen, Bayern und Sachsen aus
den Jahren 1836 bis 1910 führt es uns deutlich vor Augen, wobei zu
berücksichtigen ist, daß die Bevölkerung nur um ungefähr 40 Pro¬
zent wuchs.
Jahr
Preußen
Bayern
Sachsen
1836
1446
—
162
1850
1736
282
390
1860
2105
419
548
1870
2963
452
657
1880
4769
688
1171
1890
5978
661
1066
1900
6660
885
1282
1910
8179
1047
1573
Diese starke Zunahme der Selbstmorde finden wir aber nicht nur
in deutschen Bezirken, sondern, wie die Zusammenstellung K r o s e s
zeigt, in allen europäischen Staaten; so stiegen in den Jahren 1870 bis
8
1900 die Selbstmorde in Österreich von 1560 auf 4215, in Italien von
836 auf 2040, in Frankreich von 4490 auf 8926, in England von 1495
auf 2896, in der Schweiz von 321 auf 746, in Belgien von 367 auf 786,
in Dänemark allerdings nur von 505 auf 550 und in Irland von 112
auf 118; in Norwegen allein sehen wir eine geringe Abnahme, von
128 auf 117; also in fast allen europäischen Staaten ein enormes An¬
steigen der Selbstmorde. Berechnen wir die Selbstmorde auf eine
Million Einwohner, so sehen wir deutlich die Unterschiede in der
Selbstmordneigung der verschiedenen Völker; es kommen in Däne¬
mark 244, in der Schweiz 225, in Frankreich 222, in Deutschland
207, in Rußland jedoch nur 31 und in Spanien sogar nur 21 Selbst¬
morde auf eine Million Einwohner. Auch in denselben Staaten zei¬
gen sich zwischen verschiedenen Gebieten große Differenzen; so
haben wir z. B. in Deutschland auf eine Million Einwohner berechnet
im Liegnitzer Bezirk 389 und im Aachener Bezirk nur 57 Selbst¬
morde.
Der Selbstmord ist auch bei der städtischen Bevölkerung häufi¬
ger als bei der agrarischen. Bei den häufigen Selbstmorden in den
großen Städten darf man aber nicht vergessen, daß viele Stadtfremde
sich in der Großstadt das Leben nehmen; würde man ferner bei allen
Selbstmördern der Großstädte die Geburtsorte berücksichtigen, so
würde man zu ähnlichen Befunden wie K u e r t e n kommen. Nach
Kuerten waren in den Jahren 1896—1898 in Dresden 14,5 bis
22,4 Prozent der Selbstmörder Stadtfremde, in Leipzig hatten aus
den Jahren 1890—1910 von den Selbstmördern 11 Prozent der Män¬
ner und 7,2 Proz. der Frauen ihren Wohnsitz nicht in Leipzig. An¬
ders lägen aber die Verhältnisse für Leipzig, wenn man die Selbst¬
mörder nach der Gebürtigkeit unterschiede. Während nach der
Volkszählung vom Jahre 1900 in Leipzig 55,17 Prozent der Männer
und 54,88 Prozent der Frauen außerhalb Leipzigs geboren waren,
waren es von den Selbstmördern 75,7 Prozent der Männer und 78,03
Prozent der Frauen; unter den Selbstmördern also ist der Prozent¬
satz der Nichtortsgebürtigen bedeutend größer als unter der Gesamt¬
einwohnerschaft. Demnach wären es also weniger die zugereisten
Selbstmörder, die die Selbstmordziffer der Städte erhöhten, als viel¬
mehr solche Fremde, die sich bereits kürzere oder längere Zeit in der
Stadt aufgehalten hätten.
Was den Beruf und damit oft untrennbar das Milieu betrifft, so
bestehen unverkennbare Einflüsse auf die Selbstmordhäufigkeit.
Handel und Gewerbe stellen die meisten Selbstmörder, auffallend
häufig ist die Selbstmordneigung der Dienstmädchen; Bergbau, Hüt-
9
ten- und Salinenwesen haben die geringste Selbstmordhäufigkeit. Es
sind nicht die Ärmsten, Tiefstehendsten, Ungebildetsten, die sich vor¬
wiegend das Leben nehmen, sondern mehr Gebildete und Höher¬
stehende, also nicht die, die nicht mehr sinken können, sondern vor
allem die, die herabgleiten oder herabzugleiten fürchten. So sehen
wir auch in Gefängnissen mehr Selbstmorde als in Zuchthäusern.
Eine besondere Betrachtung verlangen die Selbstmorde der Sol¬
daten. Nach den vorliegenden Statistiken haben sich die Soldaten
viel häufiger das Leben genommen als dieselben Altersklassen der
Zivilbevölkerung. Besonders hoch war die Selbstmordhäufigkeit in
der österreichischen Armee, dort nahmen sich ungefähr 8mal so viel
Soldaten als gleichaltrige Zivilisten (auf 1 Million Männer der Alters¬
klasse berechnet) das Leben. Auch in Deutschland war der Selbst¬
mord unter den Soldaten weit häufiger als unter den gleichaltrigen
Zivilpersonen. War auch hier in den letzten Jahren eine deutliche
Abnahme der Soldatenselbstmorde zu bemerken, so war die Selbst¬
mordhäufigkeit der Soldaten immerhin noch ungefähr doppelt so groß,
wie die der gleichaltrigen Zivilpersonen. Es gab deutliche Unter¬
schiede zwischen den einzelnen Armeekorps, die nicht durch die ver¬
schiedene Selbstmordneigung der verschiedenen deutschen Bezirke
bedingt sein konnten, obwohl diese verschiedene Selbstmordneigung
auch in der Armee zum Ausdruck kam, so stellten die sächsischen
Armeekorps analog der sächsischen Bevölkerung die meisten Selbst¬
mörder. Es sei hier schon kurz darauf hingewiesen, daß die Ver¬
teilung der Soldatenselbstmorde auf die einzelnen Monate von der im
allgemeinen festgestellten Regel erheblich abweicht. Während bei
der Zivilbevölkerung, worauf noch später zurückzukommen sein wird,
die Monate Mai und Juni die meisten Selbstmorde aufweisen, sehen
wir bei den Militärpersonen an erster Stelle den Januar, an zweiter
Stelle den Februar. Hier soll auch gleich der weitverbreiteten An¬
sicht entgegengetreten werden, daß im Kriege und in erregten Zeiten
die Selbstmordziffer fällt. Daß z. B. nach dem Erdbeben in San Fran-
zisko in den darauffolgenden 3 Jahren die Selbstmordhäufigkeit um
97 Prozent gesunken ist, hängt doch wohl mit dem wirtschaftlichen
Aufschwung nach dem Erdbeben zusammen, war doch wohl durch
den Wiederaufbau die Arbeitslosigkeit sehr zurückgegangen. Wenn
wir uns aber über die Selbstmordhäufigkeit im Kriege ein Urteil
bilden wollen, so müssen wir die Frauen- und Männerselbstmorde ge¬
trennt betrachten; dann sehen wir, wie z. B. in diesem Kriege, daß
die Männerselbstmorde erheblich zurückgehen, die Frauenselbstmorde
dagegen auf derselben Höhe bleiben oder sogar ansteigen. Bei den
10
Männerselbstmorden wird man auch berücksichtigen müssen, daß
i viele Selbstmorde an der Front nicht als Selbstmorde erkannt und,
wenn erkannt, nicht als Selbstmorde gebucht worden sind. Daß
V Selbstmorde und Selbstmordversuche an der Front und in der Etappe
relativ häufig waren, beweist z. B. ein Befehl des Generalgouverneurs
Rvon Belgien vom 21. Januar 1910: „Im Laufe der letzten Monate
haben sich die Selbstmorde und Selbstmordversuche unter den Trup¬
pen des Generalgouvernements auffallend gehäuft. In der Mehrzahl
der Fälle war als Grund zur Tat eine allgemeine seelische Verstim-
.rnung des Täters anzunehmen, bedingt durch eine gewisse krankhafte
Veranlagung, die durch die Anstrengungen des Dienstes, häusliche
. Sorgen und Heimweh bis zur Katastrophe gesteigert wurden. Bemer¬
kenswert ist, daß mehrfach in darüber erstatteten Meldungen ange¬
geben ist, daß solche Verstimmungen schon längere Zeit vor der Tat
bei den Unglücklichen aufgefallen waren.
Es unterliegt keinem Zweifel, daß in solchen Fällen oft noch
Rettung möglich ist, wenn Truppenkommandeur und Arzt gemeinsam
und unter tunlichster Beteiligung des Geistlichen auf solche aus ihrem
, seelischen Gleichgewicht geratene Menschen einwirken. Offiziere
und Unteroffiziere müssen dem Truppenarzt dauernd von ihren Be-
. , -
obachtungen Mitteilung machen, der Arzt muß durch gesteigertes
Leute sich rechtzeitig ein klares Urteil über ihren Seelenzustand ver¬
schaffen und bei etwaigen Bedenken die ungesäumte Sicherung der¬
selben durch Überweisung in ein Lazarett herbeiführen. In vielen
Fällen wird es so möglich werden, die Leute von ihrer unglücklichen
Tat zurückzuhalten. Ich ersuche alle beteiligten Dienststellen, hier¬
auf ihr besonderes Augenmerk zu richten.“
Schon Napoleon I. sah sich am 12. Mai 1802 in Saint-Cloud ver¬
anlaßt, gegen den Selbstmord in der Armee Stellung zu nehmen: „Der
erste Konsul befiehlt, daß auf den Tagesbefehl der JGrarde gesetzt
werde: Daß ein Soldat den Schmerz und die Schwermut der Leiden¬
schaften zu besiegen wissen muß; daß es ebensosehr von wahrem
Mut zeugt, wenn man die Leiden der Seele mit Standhaftigkeit er¬
trägt, als wenn man unter dem Kartätschenhagel einer Batterie un¬
beweglich stehen bleibt. Sich dem Kummer ohne Widerstand über¬
lassen, sich töten, um sich ihm zu entziehen, heißt das Schlachtfeld
verlassen, ehe man gesiegt hat.“
Einen unverkennbaren Einfluß auf die Selbstmordhäufigkeit muß
man den Familienverhältnissen einräumen. Die Ehe wirkt, wie alle
Statistiken zeigen, selbstmordbeschränkend, allerdings mehr bei Män-
rr
11
nem als bei Frauen; eine Ausnahme hiervon machen nur Ehemänner
unter 20 Jahren, die sich häufiger das Leben nehmen als Ledige der¬
selben Altersstufe. Die Selbstmordhäufigkeit der Geschiedenen, vor
allem der männlichen, ist am höchsten. Auch Verwitwete, hier vor
allem weibliche, nehmen sich relativ viel häufiger als Ledige das
Leben. Wir sehen mitunter, daß sich Verlobte kurz vor der Ehe
töten, hier spielen meist depressive Ideen eine Rolle. Ob auch die
uneheliche Geburt einen Einfluß auf die Selbstmordhäufigkeit hat, ist
aus den Statistiken nicht klar erkennbar.
Mehr als die Familienverhältnisse spielt das Lebensalter bei der
Selbstmordhäufigkeit eine Rolle. Berechnet man die Selbstmorde der
verschiedenen Altersstufen auf alle Personen dieser Altersstufen, so
ist mit zunehmendem Alter ein starkes Ansteigen der Selbstmord¬
häufigkeit feststellbar, nur mit der Ausnahme, daß die Altersstufe
20—25 Jahre meist eine höhere Selbstmordhäufigkeit hat, als die
Altersstufe 25—30 Jahre.
Eine besondere Betrachtung verlangen die Kinderselbstmorde.
Es ist nicht wahr, daß sie erst eine Erscheinung unserer Zeit sind,
schon der Talmud erzählt von Kinderselbstmorden, so „vernichtete
sich“ ein Knabe, weil er am Sabbat ein Glas zerbrochen hatte. Über
die Kinderselbstmorde liegen zahlreiche Arbeiten vor; die statisti¬
schen Angaben dieser Arbeiten untereinander zu vergleichen, bringt
gewisse Schwierigkeiten; gilt doch dem einen das Kindesalter mit
14 Jahren, dem andern mit 15—16 Jahren als abgeschlossen, und
wird gar von Schülerselbstmorden gesprochen, so wird oft die Grenze
erst bei 20 Jahren gezogen. Unter diesen Umständen sind die An¬
gaben über das Verhältnis der Knaben- zu den Mädchenselbstmorden
sehr verschieden. Aus den Arbeiten aber, die das Kindesalter mit
14 Jahren als abgeschlossen ansehen, bekommt man den Eindruck,
daß wohl die Knabenselbstmorde häufiger als die Mädchenselbstmorde
sind, aber nicht erheblich häufiger, vielleicht im Verhältnis 2:1.
Bei den Erwachsenen ist das männliche Geschlecht viel stärker
als das weibliche am Selbstmorde beteiligt. Die Ansicht, daß der
Selbstmord der Frauen früher äußerst selten war und erst eine Er¬
rungenschaft der Zivilisation ist, läßt sich leicht als irrig abtun. Was
Franz v. Kleist gesungen hat:
„Du bist ein Weib, du mußt den Selbstmord hassen.
Dem Weibe ziemt nicht eines Cato Mut“,
wurde schon vor ihm von den Frauen leider nicht immer beherzigt,
und daß auch der Selbstmord der Frauen bei unkultivierten Völkern
— 12 —
nicht selten ist, können wir in dem Buche von Ploß-Bartels
„Das Weib“ (Kap. LXXVII) nachlesen. Wir finden dort Mc. Ches-
n e y zitiert, der von den Wah-Peton- und Sisseton-Sioux-Indianern in
Dakota berichtet: „Vor 20 und mehr Jahren war es ein ganz gewöhn¬
liches Vorkommnis, daß, wenn einer Frau ihr Lieblingskind starb, sie
sich mit ihrem Lariot an dem Aste eines Baumes erhängte.“ Von den
Munda-Kohls in Bengalen hören wir durch Nottrott, daß hier die
Weiber bisweilen wegen ganz geringfügiger Ursachen ihrem Leben
durch Erhängen ein Ende machen. Die Dayakinnen in Borneo
werden nach L i n g Roth nicht selten schon durch ein unfreund¬
liches Wort zum Selbstmord getrieben. Von den Wakinga (Ostafrika)
berichtet Missionar Hübner (auch OttoPeiper) ganz ähnliches;
hin und wieder komme es vor, daß eine Frau sich das Leben nehme,
und zwar nur aus Ärger, um sich für schlechte Behandlung an ihrem
Manne zu rächen, ihm einen besonderen Streich zu spielen und Trauer
um den durch ihren Tod entstehenden Vermögensverlust bei ihm her¬
vorzurufen. Ganz dasselbe kommt in Deutsch-Neuguinea vor; so be¬
richtet K e y ß e r , daß bei den Kai Selbstmord bei Frauen häufiger
als bei Männern vorkomme und dann mehr ein Akt der Rache als
der Verzweiflung sei. Die Frauen brächten nämlich durch ihre Tat,
die ihnen freilich das Leben koste, den Mann in eine nicht geringe
Verlegenheit; denn die Angehörigen der Frau machen ihn für den
Todesfall verantwortlich und verlangen Entschädigung. Auch bei
den Mädchen der Chewsuren ist der Selbstmord nicht unbekannt,
wenn sie ihre Keuschheit nicht unverletzt zu erhalten vermochten;
hier ist der Tod durch Erhängen am gewöhnlichsten, es kommt jedoch
auch vor, daß sich die Mädchen erschießen. In Angola bringt Kin¬
derlosigkeit die Weiber dazu, sich das Leben zu nehmen. Kät¬
scher spricht von der großen Geneigtheit der Chinesinnen zum
Selbstmord. Die Vielweiberei erzeuge in den Familien, die ihr huldi¬
gen, Neid, Bosheit, Lieblosigkeit, Haß und treibe viele eifersüchtige
Weiber zum Selbstmord. Interessant ist auch der von Ploß-Bar¬
tels angeführte Artikel der Tientsiner Zeitung „Shilvpao“ vom
8. Januar 1888. „. . . Es ist dabei Gebrauch, den Selbstmord in
Gesellschaft von sechs andern, also zu sieben, zu vollziehen. Wenn
diese jungen Mädchen, die geschworen haben, ewig jungfräulich zu
bleiben, entdecken, daß ihre Eltern Gatten für sie ausgesucht haben,
so tun sie sich mit sechs anderen Leidensgenossinnen zusammen,
stehlen sich um Mitternacht heimlich aus ihren Häusern und suchen
Hand in Hand den Tod, indem sie sich ins Wasser stürzen. . .
Es sind bei Ploß-Bartels noch manche Beispiele von Frauen-
M
«
ij
*
a
:
■
«
il
a
4
4
u
fl
13
Selbstmorden bei Naturvölkern zu finden, und der Hinweis dort, diese
ethnologische Forschung fortzusetzen, kann nur unterstrichen wer¬
den. Bemerkenswert sind in dieser Hinsicht die Angaben von Paul
G ä d e k: e n , daß unter den Farbigen der Kapkolonie die Selbst-
mordneigTJng bei beiden Geschlechtern gleich groß ist, während unter
den Weißen dort die Frauen keine größere Selbstmordneigung als die
Farbigen, haben, die Männer aber eine siebenmal größere.
Die Statistik zeigt uns, daß die Selbstmorde der Männer viel
häufiger als die der Frauen sind. In Japan kamen zwar in den Jah¬
ren 1881.—1905 auf 100 Männerselbstmorde 62 Frauenselbstmorde,
in Europa aber war im 19. Jahrhundert das Verhältnis der Männer- zu
den Franenselbstmorden ungefähr 4:1. In den letzten Jahren ver¬
schieben sich aber auch hier diese Verhältnisse sehr. Die Frauen¬
selbstmorde nehmen weit mehr als die Männerselbstmorde zu. Im
Jahre 1893 gab es z. B. in Preußen 5135 Männer- und 1244 Frauen-
selbstmorde, im Jahre 1913 aber 6831 Männer- und 2383 Frauen¬
selbstmorde. In Sachsen verschob sich in derselben Zeit das Verhält¬
nis 918 : 265 auf 1221 :464. Noch mehr änderten sich die Unter¬
schiede in und nach dem Kriege, wie die hier folgende Zusammen¬
stellung der Selbstmorde aus den Jahren 1901 bis 1919 zeigt.
c hbrodt. Dar Selbstmord. (Abhandl. H. 22.)
Auf 100 Männerselbstmorde kommen demnach Prauenselbstmorde
14
a
a
8
{S§
66
468
436
744
iä
SS
2M CD
96
855
276
132
297
180
262
!§
142
422
I®
3
486
312
81
48
817
677
261
Bi
181
163
SS
S
a
a
128
SS
40
860
äs
3S
454
115
64
101
47
441
254
409
144
282
175
236
si
180
475
284
8
“1
8®
29
764
SS
iß CM
05 CN
^53
SS
es
s
1917
S
rH
SS
66
383
Ol —
SS
442
186
es
46
475
283
493
19
§5
8S
— CM
120
253
148
609
90 -4>
263
86
8*
678
209
▼H -M
CCS
SS
SS
s
1916
eo
»4
■4*05
t- «-<
di cm
10 iS
CR
O QQ
öä
05 —
O 05
•4« —«
90
117
ag
c—1-
>1 <«f
2g
00 CM
Si
221
278
98
269
184
642
261
8
288
118
8g
589
256
118
299
126
177
es
49
i
I
CO -4*
CO CM
—
iß QQ
4*
® <o
SS
■M iQ
CMt-
'# —
es
•H
8|
8S
m
SS
05 r-
28
§9
ao§
SS
CM
29
800
§Ü
8§
iß 90
051>
*9»
77
108
g
o>
CM
SS
86
178
64
549
040
§1
COOO
r> io
H
05 ^
iß hI
GO
m
n
121
640
Bi
00 CM
CM »C
— t-
OkO
N
ON
iS
iß 05
CM 05
sg
■^eo
SS
r-l CO
119
241
78
112
38
i
290
86
184
iß
SS
>1 O
91
es
ii
820
899
145
508
CM 05
SS
lg
2S
S 2
-s
52
1221
464
886
23
HM
73
118
$
s
a
247
89
166
■"t CO
tß
OC5
iß ?!
mö
00 00
ä3
CD CM
35 co
»—1
Cß CM
'"8
SS
04 c-
5§
2S2
00
öS
iH "4*
84
399
116
783
205
4
1
682
US
6911
408
418
98
899
78
119
i
«4
a
1
SS
8f
30 —
DJO
Iß 22
cä?3
05 CM
co ■*r
SS§
281
406
113
494
160
415
*8
2g
— c-
1000
CM
1
715
SS
CM —
S2
fH
410
857
SS
00
83
241
SS
»
8
Ol
*4
i
§§8
-r
SS
— Ol
Iß CM
SS
2g
Sg
O 50
r» t—
CM CD
.c8
0 -*r
s§
Si
CM CO
co
S2
— I>
§2
N i
c4 —
28
1187
ü
82
393
87
286
SS
s
I
i
es
SS
i2
2S
oig
SS
50 CM
6g
SS
05
sss
es
00 co
iß co
„M CO
141
488
86
345
130
789
CO O
O —
i-i
■M» ßl
CD
O 4h
ßl iß
Ol —
86
1163
SS
se
00
91
226
koeo
C—Ob
8
i
CM
s s
52
iß
3§
CM 05
SS
r-1
3i
X
00 CM
WO
CM l-
co O
CD CM
CM -4*
22
— ib
130
429
l> cc
r» iß
»
116
789
S 1 "
°S
co co
s i
co eo
90 Iß
cm eo
96
238
61
100
1 26
§
<N
s
se
2?&
**
CO t-
!oo cg
3 CO
OM CM
CM CM
CO co
-r. a>
•'S
SS
Is
w
911
-* —
CO CD
— CO
H
22
s*°
i-i eo
ßi
CD
gg
30
1000
ii
84
326
»8
70
88
ä
I
§
SS
co -m
*r co
SS
30
ißt-'
SS
22
r-4
OOl
*8
ii
240
339
00 CD
O —
— Tf«
n
r- 30
t> 4h
SS
CD
0
566
es
— r—
36
1107
848
812
72
848
88
242
£8o>
8
1
239
SS
$5
5i t>
Iß —
öS
iß C
53g
II
« Q
CO Q
— 4 1
«g
106
672
Df
099
I
179
108
t— CD
.M —
867
366
»g
|~S
74
241
SS
Ö
1994
lO
gj
SS
-i
es
Ht'
216
221
70
136
C-CD
iß *>
00
CD CO
«4* O
AM t-
2H4
836
||
CD *h
CM «M
— CO
66
S13
134
6
"I
183
119
26
1051
336
315
0 —
80
246
49
103
3
1
CO
53
wo
C-CD
iH
sg
05 -4*
0 05
— O
5m CM
69
160
»1
245
760
236
842
§§
55 co
— co
£5
CO
«8
12t
8
681
c- >41
— ^
36
1088
30 CO
üu
eg
70
284
3S
Ö
|
240
OJ
kOt-
t—
iß
2§
£1C*
Jg
8g
§i
245
342
106
483
0 s
— CO
57
326
*g
8
001
°o
s
»-4 r4
^1
SS
CO CM
ei
67
238
es
s
fj
239
s s
ei
« co
Sä
81
442
CM 00
— r-
— CO
68
299
®§
128
5
1
526
178
133
CO CD
2joo
SS
s !
22 eo
CD »1
CM
SS
»H
CD
■
a
* B
*s
£ B
* a
fä
* a
► ä
* ä
* ä
f 0
* B
>‘B
•
Bt B
* B
^ B
• W.
m.
t* i
►
Jahr.
Ostpreußen . .
Westpreußen
Berlin ....
Brandenburg .
8
U 8
8 ’
§ 83
*4 c
geniesten. . .
Sachsen . . .
Schlesw.-Holstein
Hannover . .
Westfalen . .
I • § f
ä £
5g©
1 i
1 i 1 <
• »
•§
J • 60 • * QQ
c «4 N 1
. ” • _S • • 60
** - fl a 1
1 1 I i i i
& 5* 1 1 3 1 8
Q W OT f£ ffl H 3
10U 1912 1913 1914 1915 1919 1917 1918 1919
5 —
!3813315 83152
j
jS<81S
CO *4C» ££ r- - § % $
i ! ;8S3
^Sl^«Mlssls I slgsls
‘ n* 330» MN iOCO
« ifl® « - Nf-
00 O 1 OC 9 t»0Q CO *~i ip*« eo
*1 N r« *t 0304 <M 3 h M
H 5 31« 5
8 SS SS 8$J|3
93 0» ^ iO oo © co oo co © NR 03 g co r- t»j c-> eo o
' ~ =2 '"§ §;? 5
o® «« «-$ 2 » «>o ®g仧sz ssjsslas s
*-■ «m ioInia n
| ■»* ja« eo
«• «« ©- o.® nj ■*£; t-g gg gglgS SS S
w “ SlSÜ
t» |^> co l^ro cs i
*5 •*& *“S 32 SS SS g* 3
oo cm x rto 8
S NN «
»O C» 34 CD | Tf CO CO 00 cHt» CD CO =—< t* 11>- £1 l»OC ' ;M -=* I OO CO *h
~ ■"* ~ m "®i"^i , *s|‘ c i =g g
i _ i i i r a "
M S °ä 5S =s “>§5 "S!5S|gr!s3!?i8 3
I *• H S S& 8
— Ol HO) COJ} |XN;lfl(9|Mr< «
; | _
so co oo co |® 3 |oiC rt ji lO om i—< oo | cc co |-fco Iroco cp o>|co
*-■ "T -N 3m cm r«ioO cmco’i^cm Icoco : 3 £2 «
GM j OM I rr IO O» Cf
_!_ 1 1 ! °h s r
— SOO oocoicoco «-)«-) t»cp I® £4 ico cp Ico — !co «N |o e> Icd
«M eo | —« CH CM | ft .NÄ|t»0|M'l» ÖtftiO
GM I TM ffl 00(9 N
I I I I | ° l’"" 2 j w
®s m : •sh*’ ”2 ^sbglsshssbsigs s
CO«H OM ?J QO oo GM t» OM © © 30 -o rT fO CM
»m i-* CO | i-i GM t» C4 — ,«D CM ** X —« CM
T4 GM O t» lO O»
O - « N
x® <*« GMxixcoioix ®-gsj»ssissjss sä s
“HS 58 8
^ «SS 35« *:S *53 £8 2
j LO •-» OO CM
<33 0 04 ißCO CO 03 ! X g ioj 00 lg P» CO
'"j ~ 53 | t ' c -*pSj§S K
| *h «O io iO —CI» CO C3 <©CO CO* I CD *—» I TM X 133 fO O
•"• CM -N ^ rH -4. NCn.ÖO MN ä# !»■
cm gm i» <!* *• *>
kO -o» CM
04« -o xx CO* MO COSg CO CO Xglgg, * g • g
| | -I w g*S8
si*ai» bi» ei» bi? ei»amau*si» bi» aU’a »al»a *b »’aU’a »alx'a »e »ä i
• • • d60r^ * •* * * * *© • • ..
© Lrf o Qi l
m n r> r* w 3
| ä -13 8 1 • w f§ •
~ 1P
§ I ^ 8 g g g ^ g 2
ö 'd ... ä •*••§■
■ • • • I • •
h3 • 5
5 .
118 R-illllliiil M 11911
<2SQ^CQCfio5^ö5ö2|£(3@!ö§i3iJÄWW&4Q
HNWlOrlHCOO 00 C>, in ^ C5, ^ cq ©, Ci, O^ Cq rH
id rn" ©" © id ^ nd ©" iv" <d © 'd cd ©* ^d cT cd od cd ©" rd cd
Hl'fcoö5t^«5iOkON'^©'<fco«i556»ON^^»o^»oiO
CDJON^^iO^iOvO
CO
co
»o
©
r-
©
r-
©
ca °-
<N
©
©
©
©
fr-
©
od
»d
cd
•%
CO
©■
aT
<M
©"
cT
©" g
h* 2
cd"
©
©"
co
©
CG
cf
sT
©
tv
ifl
tO
©
»o
©
h*
h*
©
I>
m
*0
©
©
•H
^ ,
36,6
36,0
rH
N
H*
42,6
29,2
©
r-"
©
co
co
©
©
cT
r*
30,2
co
©"
©
00
H
©
34,4
28,7
1
37,2
17,9
33,7
cq H*,
ad;~
© •©
30,3
©
sf
Oi,
rd*
©
iO
s
t-
H*
Ci
00,
CO
©
©
©
©
co
rH
©
©
©,
©,
O,
rH rH
©
»■r
cT
CD*
©
©"
cd
nd
rH
cd
cd
Ci
co"
©
©"
iv*
cd
co
© cf
cT
co
■■d
©
(M
©
H*
<N
©
©
©
co
so
©
CO
rH
©
©
©
© ©
©
©
©
©
rH,
©
ao^
IV,
in
aq.
©
©
r^.
rH,
©
©,
CD
o
©,
c^
00,
rv
m
©
©
CO
iv"
iv"
*£
r«*"
co"
iv"
r-~
cd
co'
CO
Ci
cd
iO
©"
»d
©~
rH
ad
cd
rH
cd
©
©
©
©
©
co
co
co
©
H
©
©
©
CO
©
©
©
©
©
©
h*
©
Oi,
IV
iO,
00,
in
00
00,
IV
©
rH
in.
©
in
©
©
aq.
©
CO
iQ
©"
cd
tv*
<30
iv*
cd
.©"
00
cd
©~
cd
CD
cc"
©"
cd
id
^d
©
©
©
H*
©
©
©
co
©
©
© 1
<©
©
©
rH
©
©
©
©
©
©
©
©
26,2
26,8
o
8S
31,9
48,2
©
©"
&Q
©
©
34,6
31,7
cd
©
©,
©
cq^
©
©
©"
©
rH
cd
©
19,3
in
cd
©
00,
WO*
©
22,1
©
CD
S
26,0
cd
©
r»
©
CD
©
CO,
©
CD
©,
©
CO
i>
©,
©
i>
00
©
rH
©
©
©
°q
o"
<d
^H
cd
[>"
cT
cd
©~
Oi
!>■"
r-~
cd
©
©~
©"
©“
co
©
cd
i—•
©
©
Hjl
©
©
©
©
©
©
©
©
©
T*
©
©
©
©
©
©
©
©
©,
co
©
©,
I>
m
©
©
©
CD,
©,
©
1
-f.
CD
©
rH
c>-
CD,
©
H,
CD
TfT
cd
cd
cd
Oi
cd
cd
■^jT
o"
©
1
^-T
Ci
SS
©"
»d
SS
tH
id
©
co
©
co
©
©
©
©
iH
©
©
co
H
©
©
©
©
©
r-^
©
©
©-
co
in
©
©
e
in
©
©
O
O,
00,
C"-
rH
m
o
©
IV,
co
cd
©"
i>
©"
cd
cd
i>"
cT
©
cd
©"
in
©
©
SS
cd
©
9d
nd
©"
©
©
©
©
©
©
©
©
©
©
©
©
©
©
rH
©
©
©
©
©
©
©
CO,
rd
©
cd
©
©
ss
©
2
35.4
34.5
CD
iv"
©
©
©,
rH
©
33,7
25,5
26,6
IV^
-H*
5o
\
CD,
rd
©
28,1
rH
©
23,1
25,3
©
nd
©
31,9
©,
rH
10,6
cq,
©
©
©~
©
© ©
5'S
27,0
34,6
00,
rd
©
©'
co
©
S5
28,7
20,8
©
8“
26,0
14,3
32,0
©
in
©
©,
Ol"
©
Oi,
©
rH
S
©
Oi"
rH
t-
cT
©
26,9
00
cd
©
©
©
IV
©
co
©
CD
©
©
©
©
Oi
O,
©
©
©
m‘
cd
co
©
0Ö‘
©
©
©
CD
©
rH
©
S 1
*d
©
©
m
cd
©
©
©
©
©
©
co
©
©
©
©
©
rH
©
©
©
©
©
©
©
©
co
©
©
in
©
©
©
©~
©
H
©
©
rH
©
rH
©
©
co
o
©"
©"
©
oc‘
od
©‘
id
©"
od
©
©
©
©
©
rH
©"
©
©
r-’
HU
©
©
©
©
©
©
co
©
©
©
©
rH
in
©
©
©
©
©
©
©
00
m
©,
©
©
rH
mf©
00
©
rH
©
i
©
©
Ci
CD
CD,
©,
©
Oi
cd
rd
co'
in
©
r-
m
in
©
©
CD
1
CD
oT
cd
Oi
r-T
O
cd
©
©
co
©
©
©
©
co
©
©
rH
©
rH
©
©
©
©
H
©
©
lO
rH
27,1
©
©"
^H
32,2
24,2
23,2
©^
©
in,
©
26,7
25,1
©
»d
©
©^
io"
rH
27,1
©
cd
©
20,0
33,8
in,
HjT
©
27,1
©
18,6
23,1
©,
©
24,1
20.8
0< rt »Ofi e (So M ö
cq P • »t; r *S-i •-* ® 3
o © 5 S ® fl k >■ rn
Ifai i i^iiH
^ifegiiis’Sj
o ^mcoPLiaiQQBiton
S sb g
3 g|
i!i
• S OS «
g 'S »5 -*
J § S ß
,fi S Ö §
1 i § 11
2 ■§ S* 5* |
2 35 OQ 03 OÖ
|aS
| -i J
^ CQ W
S .-3
5 'S
li#
&>•§ öp
I Bf!
fl fl fl.
© © ®
3|3
II 8
S c 2 8
17 —
® io oo^ h* © 3 »
05* O 2
^CO«^iOiOH®3
co
cq
co
kO
cq
©
co“
«>*
co
oo* |
h«*
H
co
kO
co
IO
[> 1
co
CO
co
o
iß^
r*
rH
IO
p*
tf
§
l>*
00
£
8 1
rH
sT
$
o cq co »o c» h o ä » w »q, a o^ w
hT r*T ©* fd oT ^* cm* co i> xo oo“ oo* so ph* p“
«ÄCQWNW^iOiOlMTOHCiWWCC«
cq CO^ 00 ^ ©q Oq ©^ ©^ rH cq oq ©3^ kß^ cq^ cq pq kq oq
oT co* *p*“ ^ cm* o* © 3 “ co oo o* o* cm* >o* co* 05* ©f cT
WCCTjlNCO^HrlMWCOHCOCCCOCCH
cq rq cq cq tq Cq 00^ O o^ CO Ä
p-^ *-T tj* ©f ©f cT p~T cT ©* cd*
co cm co co ^ kß co
cq^ co t- p* ©_
co* ocT cT i>*
CM Ol ©3 CO ©3
CO iß N H 00^ W O »
«•* ©f cd cf -p#* »cf cf d-* I cm h co cm op io r- cm
CO^COCOCOCOOOr* COfMCOCMCOCOCMCM
co kO co io 05 ^ t* co cq cm^ tq <q rq ©^ ©^ oq cq
o* eo \o r-»* co' ©f cf ©* cp ©3* o cm* cf co* r»* oo*
iß^ Cq cq CM^ kq Cq 05
cm* ^-T co* cm* ocT kcT cm
COfMCOCMCOCOCMCM
Oi^«*it'-coc^ 00 Ä ©q . ©j rq cq cq oq cq cq 05 ^
CC H tjT o" o" co" (N I 05* of cd cd cf 00* -p** CM*
CM^CO^^OICOCM COCOrHCOCOCMCMCQ
CO SO pH CO
CO
co
C^
CO
Ol
CO
o
05
co
o
00
00
■rH^
cq
CO
oo
b
H
05
CM
pH
o
-p*
3
<p*
•H»
cd
05
CM
CO
kß
8
CM
00
pH
©1
8
<p*
rH
r*-
©3
kß
co
8
8
D
P
r-
©1
o
O
O
o
o
CM
pH
05
o
"Pt
00
CO
s
■H
co
CM
3
05
iß
cd‘
rH
rH
04
kß
co
8
00
rH
ig s
SO
o
pH
CO
05“
8
5
“>
CM
00
CO
05
o
rH
co
p—»
CM
pH
co
00
t>-
■p*
cq
O
5
00
ö
CM
CO
CO
o
co
•H«
rH
cd
co
o
CM
i>
8
o
H
CM
co
Pjl
rH
CM
co
CM
CM
CO
Tf
CM
CO
CM
co
s;
co
pH
^■H
co
©9
00
pH
CM
O
CO
t-
so
05
o
05
kß‘
00
00
co
8 _
00
cd
05
cd
rH
cS
CM
P-H
o*
CO
05
H
©1
©3
pH
CO
kß
co
CM
kß
CM
co
CM
|~
co
Cq
C^
05
Tf^
05^
jq
rq
1
w
rH
oq
co
o
rq
g
iß*
_r
05*
kß*
■***
IO*
co
1
so*
co
o*
p-T
CM*
-pjT
r*-'
H
CM
CM
rH
pH
CM
Csl
co
CO
co
iß
CM
CO
rH
©3
nP
5
iß
00
r-
o
rH^
rH
c*
CM
cq
o
1
cq
cq
oq
CP-
05
6
n
CO*
OQ
CO*
CM
co
CM
8 *
r»*
CM
SS s
CO
CM
kß*
CM
rH
CO
1
t>*
rH
rH
co
hT
co
88
co
CM
H~~
cq
p*
CM
Iß
00
co
<3
Tf«
o"
kß
▼H_
CO
r«
iq
s
kß*
»o*
CM
CM*
cd
CM
00 *
cd*
§?
co*
8
cd*
s?
00
pp
H
co
CM
CM
Ol
CM
rH
so
CO
CM
CM
pH
CM
* ja *r
g o fl
ja 2 o
S fl CD
fl ja
fl CkO
« f-i
o
O
• ,D -H
T3 2
• e 2
<£>
. o-
.fl
2*
.<£<?
Oh
• 2
1|
a h
fl
rO
o
CJ
&o 00
• ö|
pß rO
- J
2 1
60 3
ß _Q
S 3 ö ja ü Ja *
•S 2 g s s s fl
O OQ CQ CG CO *3
g § -3
* S 2
ja -fl 13
3 •*1. -a 11
ja ll 11
© 05 o .ST :0 M d
03 CS 02 _5 .-3 03 a
18
Aus dieser Zusammenstellung geht also hervor, daß schon in
den letzten Jahren vor dem Kriege die Frauenselbstmorde weit mehr
als die Männerselbstmorde zugenommen haben; es kamen in Preußen -
im Jahre 1901 auf 100 Männerselbstmorde 24,5, im Jahre 1913 aber
schon 34,9 Frauenselbstmorde. In ganz Deutschland verschob sich
die Beteiligung der Frauen an den Selbstmorden in den Jahren
1901—1913 von 25,2 auf 34,2 (auf 100 Selbstmorde berechnet).
Nehmen wir die absoluten Zahlen, so nahmen die Männerselbstmorde
im Jahre 1901—1913 um ungefähr 23 Prozent zu, während die
Frauenselbstmorde in derselben Zeit um ungefähr 70 Prozent stiegen.
In den Kriegsjahren nahmen dann die Männerselbstmorde ab, die
Frauenselbstmorde dagegen ständig zu, so daß in Deutschland im
Jahre 1918 auf 100 Männerselbstmorde 03,4 Frauenselbstmorde
kommen. In einzelnen Bezirken traten sogar mehr Frauen- als
Männerselbstmorde auf, so kommen auf 100 Männerselbstmorde in
Berlin 123,6 und in Hamburg 100,1 Frauenselbstmorde. Nach dem
Kriege nahmen die Männerselbstmorde wieder zu, aber auch die
Frauenselbstmorde stiegen weiter an. So nahmen sich in Preußen
im Jahre 1919 2663 Frauen das Leben, also fast doppelt soviel wie
im Jahre 1901. Aus der Statistik geht also hervor, daß je mehr die
Frauen am Erwerbsleben teilnehmen, desto größer die Selbstmord¬
häufigkeit der Frauen ist. Daß das Erwerbsleben bei der Häufigkeit
des Selbstmordes eine große Rolle spielt, zeigt auch eine dieser Tage
durch die Zeitung gehende Notiz über die Zunahme der Selbstmorde
in Amerika: „. . . Die Selbstmordstatistik, die sich voii 1911—1915
in Amerika ziemlich auf derselben Höhe hielt, wies mit dem Auf¬
schwung der amerikanischen Kriegsindustrie immer geringere Ziffern
auf. Jetzt aber, wo durch den Friedensvertrag von Versailles die
Arbeitslosigkeit in den Vereinigten Staaten ungeheuer zugenommen
hat, ist die Zahl der Selbstmorde wieder sehr angewachsen.“
Was den Einfluß der Religion auf die Häufigkeit der Selbst¬
morde betrifft, so ist diese Frage noch umstritten. G a u p p erklärt
es für zweifellos falsch, in der Zugehörigkeit zu einer Konfession
einen schützenden Faktor von Bedeutung zu suchen, es wäre gerade¬
zu sinnlos, aus derartigen statistischen Feststellungen den höheren
sittlichen Wert einer Konfession ableiten zu wollen; wohl würden
Religionen, die dem Selbstmord indifferent oder gar günstig gegen¬
über ständen, seine Häufigkeit vermehren, es lasse sich auch im
allgemeinen sagen, daß die protestantischen Länder mehr Selbst¬
morde als die katholischen aufweisen, aber wie ein Blick auf Frank¬
reich und England zeige, gäbe es auch Ausnahmen. Rost dagegen
I
19
behauptet, daß in der Irreligiosität die eigentliche Ursache der
modernen Selbstmordneigung zu suchen wäre. Das Weib töte sich
viel seltener als der Mann, weil es frommer wäre. P1 a c z e k
schreibt: „Von welchem Standpunkte immer man die Frage auf¬
werfen mag, ob und wie weit das religiöse Empfinden und die
religiöse Überzeugung — ganz allgemein gesprochen — einen uner¬
schütterlichen Halt gegen Selbstvernichtungsanwandlungen bietet,
ihre tatsächliche Bedeutung im Widerstand gegen einen auftauchen¬
den Selbstmorddrang ist unbestreitbar.“ Daß nicht die Religion an
sich, sondern die Religiosität einen Einfluß auf die Selbstmord¬
häufigkeit ausübt, beweist wohl auch die Tatsache, daß bei Sekten
die Selbstmorde äußerst selten, bei Dissidenten aber äußerst häufig
sind. Auch die Verschiebung der Selbstmordhäufigkeit unter den
Juden in den letzten 70 Jahren beweist es deutlich, daß die Re¬
ligiosität und nicht die Religion von Einfluß ist.
So kamen auf 1 Million Einwohner in:
Preußen
im Jahre
kath.
evang.
jüd.
Selbstmorde
1849/1855
50
160
46
11
1869/1872
69
187
96
1891/1900
93
247
241
11
1901/1907
101
252
Bayern
294
11
1844/1856
49
135
106
1870/1879
74
195
115
11
1880/1889
95
222
186
1890/1899
93
210
212
H
1900/1908
102 222
Württemberg
253
11
1844/1860
80
114
66
11
1873/1880
135
177
98
11
1881/1890
118
169
138
..
1891/1900
112
155
263
1901/1907
117
193
Baden
215
11
1864/1870
121
159
95
1871/1880
155
213
151
11
1881/1890
160
237
222
11
1891/1900
159
250
229
11
1901/1905
169
268
269
11
20
Aus diesen Zahlen geht hervor, daß die Juden, solange sie
religiös waren, die geringste Selbstmordhäufigkeit aufwiesen, daß
mit dem Schwinden der Religiosität die Selbstmordhäufigkeit stieg,
um heute die Selbstmordhäufigkeit der anderen Religionen zu ttber-
treffen. Das ist auch aus folgender Statistik zu erkennen:
In den Jahren 1901—1907 nahmen sich das Leben in der
Provinz:
kath.
evang.
jüd.
Ostpreußen
129
1839
24
Westpreußen
308
1123
17
Berlin
382
3647
209
Brandenburg
414
6345
120
Pommern
58
1980
21
Posen
488
758
31
Schlesien
2484
5192
78
Sachsen
237
5935
28
Schleswig-Holstein
84
2887
17
Hannover
273
3656
42
Westfalen
949
1940
34
Hessen-Nassau
617
2171
112
Rheinprovinz
2545
2514
93
Hohenzollem
48
4
0
in Preußen also
9016
39991
826
1 Million Einwohner berechnet:
Provinz:
kath.
evang.
jüd.
Ostpreußen
67
153
250
Westpreußen
53
213
141
Berlin
265
316
312
Brandenburg
303
294
518
Pommern
188
177
292
Posen
53
184
135
Schlesien
133
356
236
Sachsen
155
317
497
Schleswig-Holstein
334
294
719
Hannover
110
227
387
Westfalen
78
169
235
Hessen-Nassau
158
227
326
Rheinprovinz
86
202
247
in Preußen also
101
252
294
Auch diese Statistik beweist, daß in Preußen die Selbstmord¬
häufigkeit der Juden die Selbstmordhäufigkeit der anderen Re-
21
ligionen übertrifft, in den Provinzen aber, in denen noch eine starke
Religiosität unter den Juden vorherrscht, wie Posen und West¬
preußen, ist die Selbstmordhäufigkeit der Juden geringer als die der
evangelischen Christen. Noch deutlicher käme es zum Ausdruck,
daß es auf die Religiosität ankomme, wenn man auch hier die
Statistik nach Geschlechtern trennte. K u e r t, e n führt eine solche
Statistik für Sachsen aus den Jahren 1905—1909 an.
Selbstmordziffer auf 1 Million Lebender nach der Volkszählung
von 1905:
Religion:
männlich
weiblich
Evangelisch-lutherisch
t
482,4
150,6
Evangelisch reformiert
j
Römisch-Katholisch
563,1
184,5
Andere Christen
138,7
43,5
Israeliten
583,3
117,5
Aus dieser Statistik ersehen wir, daß in Sachsen bei den Juden
die Männer an erster Stelle, die Frauen aber an dritter Stelle in bezug
auf die Selbstmordhäufigkeit stehen. Diese Statistik zeigt uns auch
gleichzeitig, daß die Behauptung, bei den schwach vertretenen Be¬
kenntnissen bestünde eine geringere Selbstmordhäufigkeit, — was
L e g o y t damit zu erklären suchte, daß die Angehörigen solcher Be¬
kenntnisse im Kampf mit der Intoleranz der Mehrheit und dem Be¬
streben, keinen Anstoß zu geben, sich an moralische Disziplin ge¬
wöhnen und so auch gegen geistige Verwirrungen widerstandsfähiger
werden, — nicht unbestritten hingenommen werden kann.
Auch den klimatischen Einflüssen wird ein Einfluß auf die
Selbstmordhäufigkeit eingeräumt. Die Ansicht Montesquieus,
daß sich im Winter mehr Menschen als im Sommer töten und daß das
nebelreiche trübe England das klassische Land der Selbstmorde sei,
ist durch die Statistik gründlich widerlegt worden. Wie eine Stati¬
stik von B o d i o zeigt, steigen die Selbstmorde im Frühling an, um
im Mai und Juni ihren Höhepunkt zu erreichen, sie fallen dann wieder
ab, um im Dezember und Januar den tiefsten Stand zu haben. Diese
Erscheinung tritt in fast allen Ländern auf, betrachtet man aber auch
hier die Selbstmordzahlen nach Geschlechtern getrennt, so kann man
bei den Frauenselbstmorden keine derartig ausgesprochene Gesetz¬
mäßigkeit feststellen. Daß diese Gesetzmäßigkeit auch für Soldaten¬
selbstmorde nicht zutrifft, daß da vielmehr der höchste Stand im
Januar und Februar erreicht wird, ist bereits bei der Besprechung
der Soldatenselbstmorde angegeben worden. Daß also, wie Prin¬
zin g meint, die Sommerhitze, namentlich solange der Organismus
22
noch nicht an dieselbe gewöhnt ist, Kongestionen, die den Menschen
leichter erregbar machen, zur Folge hat und so ein gewaltsames Ende
herbeiführen kann, ist noch gar nicht bewiesen. Von Mayr will
auch ebensowenig die gesteigerte soziale Reibung als die Temperatur
an sich für die Zunahme der Selbstmorde im Sommer verantwortlich
machen, sondern die Gesamtheit der in ihrem vollen Detail nach
dieser Richtung noch gar nicht erschöpfend geprüften Natureinflüsse.
Man muß K u e r t e n zustimmen, daß alles, was bisher zur Begrün¬
dung der Zunahme der Selbstmorde im Frühjahr gesagt worden ist,
unbewiesene Hypothesen sind, daß es bisher noch unmöglich er¬
scheint, eine kausale Beziehung zwischen Jahreszeit und Selbstmord¬
häufigkeit klar nachweisen zu können. In diesem Zusammenhang
wäre vielleicht von Interesse, daß Wilmanns für die Aufnahmen
der Psychosen in der Heidelberger Klinik einen Frühjahrsgipfel fest¬
gestellt hat.
Was nun die von den Selbstmördern gewählte Todesart, die
Technik des Selbstmordes, betrifft, so werden wir auch hier gut tun,
die Geschlechter getrennt zu betrachten. Wir sehen unter den ver¬
schiedenen Völkern oft weitgehende Unterschiede; oft beeinflußt der
Beruf, oft auch die Mode die Wahl der Todesart, oft sprechen auch
gesellschaftliche Anschauungen mit, so gilt in manchen Kreisen es
als unehrenhaft, sich zu erhängen. In Deutschland steht bei den
männlichen Selbstmördern an erster Stelle das Erhängen, an zweiter
das Erschießen, an dritter das Ertränken, während bei den weiblichen
Selbstmördern an erster Stelle das Vergiften, an zweiter das Er¬
tränken und an dritter das Erhängen steht. Manchmal läßt schon die
Wahl einer Todesart darauf schließen, daß wir es mit keinem geistes¬
gesunden Menschen zu tun haben können. Schon Griesinger
weist darauf hin: „Je ungewöhnlicher und je grausamer die ange¬
wandten Mittel der Ausführung sind, um so mehr hat man Grund, die
Tat als Ergebnis krankhafter Verstimmung zu betrachten.“ Auf
diesen Punkt wird später noch einzugehen sein.
Sehr eingehend beschäftigen sich manche Statistiken mit den
Beweggründen zum Selbstmord. Bei einem gelungenen Selbstmord
wird es oft sehr schwierig, ja sogar oft unmöglich sein, die wahren
Gründe in Erfahrung zu bringen. Die Selbstmörder hinterlassen oft
keine Zeile, die Anverwandten wissen aber mitunter nicht die Gründe
oder werden sie meist zu verheimlichen suchen, um den Ruf der
Familie nicht zu gefährden. Religiöse Rücksichten werden oft dazu
führen, daß direkt falsche Angaben gemacht werden, um den Selbst¬
mord als krankhafte Tat erscheinen zu lassen, auch vermeintliche An-
23
spräche an Versicherungsgesellschaften spielen eine Rolle. Mögen
auch die in Frage kommenden Behörden mit der größten Sorgfalt
Nachforschungen anstellen, den meisten Beamten wird die Schulung
fehlen, durch geeignete Fragen brauchbare Anhaltspunkte für die
wahren Beweggründe zum Selbstmord in Erfahrung zu bringen oder
aus den verschiedensten Erhebungen das wahrscheinlichste heraus¬
zufinden. Aus diesen Erwägungen wird man einer Statistik der
Motive nicht allzuviel Wert beimessen.
Im Anschluß an die statistischen Ergebnisse könnten die statisti¬
schen Erhebungen der Gothaer Lebensversicherungsbank, die für
75 Jahre von K. S a m w e r zusammengestellt sind, interessieren.
Bei der Gothaer Lebensversicherungsbank, wie wohl bei jeder ande¬
ren Gesellschaft auch, galt jede Selbstentleibung als unsittlich.
Unter Selbstmord wurde die absichtliche Selbsttötung verstanden,
man nahm dabei an, daß auch der Unzurechnungsfähige die Absioht,
sich das Leben zu nehmen, haben und ausführen könne. Aber schon
im Jahre 1836 trat Medizinalrat Dr. Müller aus Pforzheim dafür
ein, den Selbstmord wie einen gewöhnlichen Sterbefall zu behandeln,
da er nicht aus freier Willensbestimmung, sondern aus Krankheit her¬
vorgehe. Die Versicherungsbank machte aber geltend, daß es sich
nicht um die Strafe für ein begangenes Verbrechen, sondern um
einen Rechtsnachteil wegen Verletzung eines Vertragsverhältnisses
handle. Im Jahre 1849 räumt sie aber bei erwiesener Unzurechnungs¬
fähigkeit das Recht auf volle Prämienreserve ein. Aber erst im Jahre
1896 gibt sie Rechtsanspruch auf die volle Versicherungssumme, wenn
die Selbstentleibung durch geistige Störung oder schwere körper¬
liche Leiden veranlaßt war. Seit 1904 ist die Auszahlung der vollen
Prämie unanfechtbar, wenn die Versicherung schon 2 Jahre bei Be¬
gehung des Selbstmordes bestanden hat. Es war eben nicht möglich,
ein einwandfreies Urteil über den Geisteszustand des Selbstmörders
zu erhalten, und durch die zweijährige Karenzzeit glaubt man sich
vor Versicherungsbetrügem geschützt.
Nach § 169 der R.-V.-O. ist bei einer Versicherung für den
Todesfall der Versicherer von der Verpflichtung zur Leistung frei,
wenn derjenige, auf dessen Person die Versicherung genommen ist,
Selbstmord begangen hat. Die Verpflichtung des Versicherers bleibt
beateben, wenn die Tat in einem die freie Willensbestimmung aus-
scbWeßenden Zustande krankhafter Störung der Geistestätigkeit be¬
gangen worden ist.
Die Versicherung muß beweisen, daß ein Selbstmord vorliegt, die
Angehörigen, daß der Selbstmord im unzurechnungsfähigen Zustande
'rr-
24
ausgeführt worden ist. Aus Sam wer s Zusammenstellung ersehen
wir, daß in den Jahren 1829—1903 bei der Gothaer Lebensversiche¬
rungsbank 1629 Selbstentleibungsfälle vorkamen, die sich folgender¬
maßen verteilten:
1829—1878 1879—1903
15—30 Jahre 0,28 pro Tausend 0,30 pro Tausend
31—40
77
0,27
7?
77
0,34 „
7?
41—50
7’
0,35
77
77
0,49 „
77
51—60
77
0,56
77
77
0,63 „
77
61—70
?7
0,50
77
77
0,39 „
71—90
77
0,29
77
77
0,27 „
77
0,40 pro Tausend 0,44 pro Tausend
Diese kleinen Zahlen ergeben also relativ dieselben Verhältnisse
wie die großen Zahlen der Statistiken der einzelnen Staaten. Inter¬
essant ist ferner, daß auch hier die Verteilung der Selbstmorde auf
die einzelnen Monate eine ähnliche Kurve zeigt, wie wir sie aus der
Statistik der Selbstmorde kennen.
1829—1903
Januar und Februar 199 Fälle
März und April 226 „
Mai und Juni 239 „
Juli und August 208 „
September und Oktober 201 „
November u. Dezember 196 ,,
15.7 Prozent
17.8
18.8 „
16.4 „
15,8 „
15.5 „
Also auch hier fallen die meisten Selbstmorde in die Monate Mai
und Juni. Auch die Unterschiede in der Technik des Selbstmordes
sind dieselben. Wir haben es bei den Versicherten vor allem mit
Männern zu tun, und wie die Statistiken bei Männern an 1. Stelle den
Tod durch Erhängen, an 2. Stelle durch Erschießen, an 3. Stelle durch
Ertränken angeben, so sehen wir auch bei den Versicherten, daß
durch
Erhängen
470,
Sturz aus dem Fenster
19,
Erschießen
424,
Erstechen
17,
Ertränken
151,
Überfahrenlassen
16,
Vergiften
83,
Verbrennen
2,
Halsabschneiden
48,
unbekannte Ursache
6,
öffnen der Pulsader 23,
geendet haben.
Da die Lebensversicherungsgesellschaften auch vor Ablauf der
Karenzzeit die volle Versicherungssumme auszahlen, sofern der Selbst-
25
mord nachweisbar in unzurechnungsfähigem Zustande ausgeführt
worden ist, wird hier und dort zu derartigen Fragen von sachverstän¬
diger Seite Stellung genommen werden müssen; und nicht nur bei
Lebensversicherungen, sondern auch bei Kranken-, Invaliden- und
Unfallversicherungen, sowie bei Dienstbeschädigungen wird manch¬
mal die Frage zu beantworten sein, ob der Selbstmörder zur Zeit der
Tat in einem unzurechnungsfähigen Zustande war, oder ob er etwa
voraussehen konnte, daß sein Versuch auch anders als mit dem Tode
enden könnte. Nach einer Entscheidung des 3. Senats des Preußi¬
schen Oberverwaltungsgerichts vom 14. 1. 1899 ist, wie dem Buche
Hübners „Über den Selbstmord“ zu entnehmen ist, ein Selbstmord¬
versuch kein vorsätzliches Sichzuziehen einer Krankheit. „Wie von
dem Gerichtshöfe wiederholt nachgewiesen worden ist, kommt es für
die Anwendung des § 26a, Ziffer 2, K.-V.-G. nicht darauf an, ob das
Mitglied die Krankheit selbst veranlaßt hat, sondern darauf, ob sein
Vorsatz auf die Erzeugung der Krankheit gerichtet gewesen ist. Dies
wäre im vorliegenden Falle dann anzuerkennen, wenn Sch. wußte,
daß dasjenige Mittel, welches er zur Herbeiführung seines Todes ge¬
wählt hat, nicht unmittelbar den Tod, sondern zunächst eine Erkran¬
kung zur Folge haben werde . . .“ Bei der Frage der Dienst¬
beschädigung hat der 1. Senat des Reichsmilitärversorgungsgerichts-
am 13. 4.1920 eine zur Versorgung berechtigende Dienstbeschädigung
auch für den Fall angenommen, daß die Tat zwar nicht im Zustande
der Unzurechnungsfähigkeit begangen worden ist, sich aber infolge
der dem Militärdienst eigentümlichen Verhältnisse bei einer Person
des Soldatenstandes ein derartiger Gemütszustand entwickelt hat, daft
hierdurch die natürlichen Hemmungsvorstellungen gegen die Selbst¬
tötung zurückgedrängt wurden. Auch in diesem Falle ist der durch
krankhafte Vorstellungen beeinflußte Gemütszustand die als Dienst¬
beschädigung anzunehmende Gesundheitsstörung und der Tod ihre
zwangsmäßige Folge.
Derartige Erörterungen führen uns zu der Frage: Ist der Selbst¬
mord, wie E s q u i r o 1 behauptet, immer eine krankhafte Handlung?
Entspringt er immer krankhaften Zuständen? W e r n i c k e sagt in
seinem Grundriß der Psychiatrie: „Wer nach dem Verlust eines Ver¬
mögens, nach der Verurteilung zu entehrender Strafe, nach dem Tode
einer geliebten Person sich das Leben nimmt, handelt sicher unter
dem Einfluß einer überwertigen Idee, und wir werden die Handlungs¬
weise auch als abnorm bezeichnen müssen, obschon sie nicht auf
Geisteskrankheit zurückzuführen ist. Es wird also in jedem einzel¬
nen Falle erst festzustellen sein, ob eine krankhafte überwertige Idee
20
vorliegt, oder noch eine in die Gesundheitsbreite fallende. Die Ent¬
scheidung dieser Frage werden wir geneigt sein, davon abhängig zu
machen, ob das Motiv für den der betreffenden Erinnerung anhaften¬
den dominierenden Affekt ausreichend ist oder nicht.“
G r u h 1 e führt in der „Psychiatrie für Ärzte“ aus: „Es ist ein
müßiges Spiel mit Begriffen und Worten, wenn man erörtert, ob der
Selbstmord an sich schon eine pathologische Tat ist oder noch in die
Breite des Normalen gehört. Fest steht die Tatsache, daß er häufig
aus Stimmungen hervorgeht, die eine abnorme Tiefe und Kraft be¬
saßen. Fest steht die andere Tatsache, daß sich die Schicksals¬
umstände eines Menschen zuweilen derart verwirren, daß jeder
ruhigen Überlegung der Selbstmord als die einzige Lösung erscheint.
Hier ist dann nichts von Abnormität zu entdecken.“
In den „Psychopathologischen Dokumenten“ äußert sich Birn¬
baum: „Die zahlreichen, in sich verflochtenen inneren und äußeren
Zusammenhänge, das ganze verwickelte Gewebe, in welchem seelische
Anlage und Entwicklung, innere Motive und äußere Anlässe, psychi¬
sche Situation und äußere Lebenslage zusammenwirkend zu .diesem
einen Endpunkt hinführen — sind niemals durch einseitiges Auf¬
greifen eines Fadens restlos aufzulösen. Aber ebensowenig voll lös¬
bar ist dieses Rätsel der Selbsttötung, wenn nicht dieser wesentliche
Einschlag des Pathologischen herausgeholt und verwertet wird. Der
Selbstmord ist an sich nocli kein psychopathologisches Phänomen,
aber er ist es doch vielfach, und er ist es oft genug in erster Linie.“
Und weiter betont Birnbaum: „Das Rätsel des Selbstmords ist
ganz gewiß nicht mit dem Hinweis auf das Psychopathische gelöst.“
Bei diesen Untersuchungen kommt es natürlich sehr darauf an,
was man unter Psychopathie versteht. So sagt z. B. KurtSc h nei¬
de r in den „Studien über Persönlichkeit und Schicksal eingeschrie¬
bener Prostituierten“: „Ich sehe in den Psychopathien keine Krank¬
heiten, sondern von Gewohnheiten abweichende, rein quantitative
Variationen und Spielarten menschlichen Wesens, die allerdings für
das betreffende Individuum oder die Gesellschaft unerfreulich sind.“
G a u p p spricht von zahlreichen Menschen, die wir nicht als
geisteskrank bezeichnen, die aber doch krankhafte Züge mannig¬
facher Art aufweisen: es sind die Nervösen, die Psychopathischen,
die Entarteten infolge krankhafter Veranlagung. Häufig stammen sie
von geisteskranken oder von nervenkranken, trunksüchtigen,
schwächlichen Eltern ab. Die Entarteten zeigen eine Geistesbeschaf¬
fenheit, die für den Selbstmordgedanken einen günstigen Boden ab¬
gibt: Leidlich guter Verstand, große Gefühlserregbarkeit ohne Nach-
r
27
haltigkeit, schwächliche Willensantriebe ohne Erfolg, egoistische
Triebe von starker Ausprägung, gesteigerte Empfindlichkeit für un¬
lustbetonte Eindrücke und Erlebnisse — ein solches Gemisch geistiger
Fähigkeiten erweist sich dem Ansturm des Lebens gegenüber nur
allzu leicht als unzureichend; es kommt zu Enttäuschungen, die bei
der gemütlichen Erregbarkeit des Nervösen leicht zur raschen Tat
führen.
Was die erbliche Belastung anbetrifft, so können wir in der Tat
oft bei Kranken, die infolge eines mißlungenen Selbstmordversuches
in eine Anstalt gebracht werden, feststellen, daß sie geisteskranke
oder nervöse Angehörige haben. Sehr oft zeigt es sich auch, daß in
derartigen Familien Selbstmorde oder Selbstmordversuche bekannt
sind. Schon Voltaire spricht davon, wie bei R i b o t zitiert zu
finden ist, daß die Neigung zum Selbstmord erblich wäre. „Ich habe
fast mit eigenen Augen einen Selbstmord angesehen, der es verdient,
von den Ärzten beachtet zu werden. Ein Mann reiferen Alters, der
sich in geordneten, auskömmlichen Verhältnissen befand, einem
ernsten Beruf nachging, keinerlei Passionen hatte, tötete sich am
17. Oktober 1769 und ließ ein für den Magistrat seiner Geburtsstadt
bestimmtes schriftliches Entschuldigungsschreiben wegen seines frei¬
willigen Todes zurück, das zu veröffentlichen man nicht für zweck¬
mäßig fand, aus Furcht, hierdurch andere Menschen zur Flucht aus
dieser verleumdeten Welt zu veranlassen. Bis hierher sehen wir
nichts Außergewöhnliches, ähnliche Fälle kommen überall vor. Er¬
staunlich ist nur folgendes: Sein Bruder und sein Vater hatten sich im
selben Alter getötet wie er. Welche geheime Anlage des Geistes,
welche Sympathie, welches Zusammenwirken psychischer Gesetze
läßt hier den Vater und seine beiden Söhne im selben Lebensalter auf
gleiche Weise durch eigene Hand zugrunde gehen?“
Derartige Beobachtungen sind auch von anderer Seite mitgeteilt
worden, schon Cicero kennt das Fortwirken des Beispiels des
Vaters, so berichtet z. B. auch E s q u i r o 1 von einer Familie, wo
Großmutter, Mutter, Tochter und Enkel sich das Leben genommen
haben. Nun wäre es verfehlt, anzunehmen, daß die Selbstmordneigung
an sich erblich ist, vielmehr liegen die Verhältnisse doch wohl so, daß
in sehr vielen Fällen solchen Eltern, die aus irgendwelchen Gründen
das Leben wegwerfen oder wegzuwerfen versuchen, die Fähigkeiten
abgehen, Kinder zu erziehen, daß solche Eltern vor allem nicht im¬
stande sind, ihren Kindern die Hemmungen beizubringen, die den
Menschen befähigen, Uber viele Widerwärtigkeiten des Lebens hin¬
wegzukommen, vielen Lockungen aus dem Wege zu gehen. Wir dür-
28
fen uns daher auch nicht wundem, daß unter den Eltern von Ver¬
brechern der Selbstmord relativ häufig ist. So fand M a r r o, wie
Lombrosos Buche „Die Ursachen und Bekämpfung des Ver¬
brechens“ zu entnehmen ist, Selbstmord der Eltern bei Dieben in 5,0
Proz., Brandstiftern in 8,2 Proz., Sittlichkeitsverbrechern in 3,9 Proz.,
Meineidigen in 2,1 Proz., Gaunern in 1,5 Proz.
Den willensschwachen Menschen fällt vielleicht in widerwärtigen
Lagen der Selbstmord der Angehörigen ein, und leicht bringt sie die
Nachahmung zu derselben Handlung. Daß die Nachahmung bei den
Selbstmördern eine große Rolle spielt, ist eine uralte Erfahrung. So
können wir in den „Fröschen“ des Aristophanes, was ich L. L e w i n s
Buche „Die Gifte in der Weltgeschichte“ entnehme, lesen:
Euripides: Was schade ich denn nun wohl dem Staatswohl, wenn
ich über Sthenoboia dichte?
Aischylos: Du hast ehrbare Frauen, ehrbare Männer durch
deine Bellerophosgeschichte verlockt, Schierling zu
trinken.
Die Nachahmung hat zu Zeiten sogar Selbstmordepidemien her¬
vorgerufen. So erzählt P1 u t a r c h , daß in Milet sich nacheinander
auffallend viele junge Mädchen das Leben genommen hätten, und
man habe nicht eher dieser Epidemie beikommen können, als bis man
dazu geschritten wäre, die toten Mädchen nackt auf dem Markte aus¬
zustellen. Im Hotel der Invaliden zu Paris hatte sich ein Soldat an
einer Säule erhängt; an derselben Säule erhängten sich 12 andere
Soldaten, und man mußte diese Säule entfernen, um den Selbstmorden
zu steuern. Nach dem Erscheinen von Goethes „Werther“ soll, wie
wir aus Berichten jener Zeit entnehmen, eine Selbstmordepidemie in
Deutschland eingesetzt haben, „viele gleichgestimmte Jünglinge
sollen Werthers vielbeweintem Schatten ins Grab gefolgt sein“. Es
ist auch bekannt, daß Leute, die einer Beerdigung eines Selbstmörders
beigewohnt haben, sich danach das Leben genommen haben. Beson¬
ders stark haben wir bei den Kinderselbstmorden mit der Nach¬
ahmung zu rechnen, so sind unter den 323 Kinderselbstmorden, die
Eulenburg zusammengestellt hat, eine Reihe, bei denen nachzu¬
weisen ist, daß sie durch Nachahmung zu dem Selbstmord gekommen
sind. Einen sehr interessanten Fall finden wir in dem Buche „Über
kindliche Selbstmorde“ von Redlich und L a z a r: „Als der Bau¬
unternehmer E. E. gestern abend von einem Ausfluge in seine Woh¬
nung zurückkehrte, fand er auf einem Kanapee sein 3jähriges Söhn-
chen und sein 1 Vä Jahre altes Töchterchen bewußtlos auf. In der
29
Wohnung war ein starker Gasgeruch zu verspüren. Der Gashahn
war offen. Mit vieler Mühe gelang es, die beiden Kinder wieder zum
Bewußtsein zu bringen. Der 3jährige Knabe gab an, daß er sich und
seine Schwester töten wollte aus Gram darüber, daß die Mutter ihn
nicht spazieren geführt habe. Bei dem Mittagsmahl soll der Vater
von einem Selbstmord erzählt haben, den ein Junge durch Einatmen
von Leuchtgas beging. Der kleine Knabe hatte der Erzählung auf¬
merksam gelauscht.“
Neben dem Nachahmungstriebe kann auch gegenseitige Beein¬
flußbarkeit den Menschen zu einem Selbstmord führen. Wir kennen
Doppelselbstmorde, wo die suggestive Kraft des einen den andern
dahin gebracht hat, mitzusterben. Man könnte einen solchen Selbst¬
mord einen „induzierten Selbstmord“ nennen. Als Beispiel wäre der
Dichter Heinrich von Kleist anzuführen. A. Leppmann schreibt
darüber: „Die Stetigkeit seines Handelns scheiterte immer an Stim¬
mungen und Verstimmungen, öfters hatte er davon gesprochen, daß
der Selbstmord die erlösende Tat für ihn sein werde, und wiederholt
hatte er den besonderen Wunsch geäußert, mit einem Freunde gemein¬
sam sterben zu können. Da führte ihn der Zufall mit einer Frau zu¬
sammen, welche ein körperliches Leiden hatte, durch das ihr angeb¬
lich nach der Meinung eines Chirurgen qualvoller Tod bevorstand.
Jedenfalls war sie zur Zeit des Zusammentreffens in keiner Weise
etwa sichtbar schwer körperlich leidend, nein, sie krankte „an einer
tiefen Schwermut“, wie es in der Schilderung heißt. Sie war eine
..emotionsbedürftige, überspannte“ Frau, welche, nachdem ihr der
Dichter seine Selbstmordneigung andeutete, ihm offenbarte, sie könne
das Leben nicht mehr ertragen, und die Tötung durch ihn als Freund¬
schaftsdienst verlangte. Sie packte ihn bei seiner Ehre, indem sie
zweifelte, daß er es tun würde, da es ja auf Erden keine Männer mehr
gäbe. Sie stachelten sich gegenseitig durch überschwengliche Briefe
und Gespräche auf. Äußere Gründe hatte auch v. Kleist. Er war
mit seinem Vermögen fertig, hatte in keiner der angestrebten Lebens¬
stellungen sich gehalten und war auch mit seiner Familie zerfallen.
So zogen sie denn beide an einem Novembertage hinaus nach dem
Wannsee an die Stelle, wo Heinrich v. Kleist schon 10 Jahre vorher
Freunden gegenüber Selbstmordideen ausgesprochen hatte. Sie wohn¬
ten in einem Wirtshaus nachts in getrennten Zimmern, schrieben Ab¬
schiedsbriefe voll todessüchtiger Phantasien, tranken im Freien zu¬
sammen Kaffee und dann bestellte sich Heinrich v. Kleist (ein be¬
zeichnender Beweis für seine degenerative Persönlichkeit [?]) noch
für 8 Groschen Rum, nachdem übrigens am Abend vorher die beiden
Wein und Rum getrunken hatten. Kurz nach dem Genüsse des Rums
schoß Kleist erst seiner Freundin eine Kugel ins Herz und dann sich
eine solche durch den Mund ins Hirn.“
Für die Selbstmörder, die durch die suggestive Kraft eines an¬
dern zum Selbstmord gebracht werden, wird meist die vorhin ange¬
führte Beschreibung zutreffen, die G a u p p von den zum Selbstmord
Veranlagten entwirft. Auch A. Leppmann ist der Ansicht, daß
es sich bei diesen Selbstmördern meist um Menschen handelt, deren
seelisches Gleichgewicht durch dauernde Wesenseigentümlichkeiten
gestört ist. A. Leppmann führt dabei weiter aus, was hier schon
vorweggenommen werden soll, daß die Schilderung G a u p p s für den
Selbstmordkandidaten im allgemeinen durchaus gelten könne. Man
würde aber dabei betonen müssen, daß der Umfang derartiger Ent¬
artungseigenschaften sehr verschieden sein könne, und daß in man¬
chen Fällen von Selbsttötung bzw. Selbsttötungsversuch dieselben an
und für sich nicht umfangreich zu sein brauchten, und erst eine Sum¬
mierung besonderer innerer und äußerer Ursachen hinzukommen
müsse, um die Selbsttötung auszulösen. So gäbe es Fälle, bei wel¬
chen die Konstellation, welche zu der Tat Anlaß gäbe, vielleicht nur
ein einziges Mal während der ganzen Dauer des Lebens einträte,
wie z. B. Entartungseigenschaft, Pubertätsentwicklung, Augenblicks¬
furcht vor Strafe bei Entdeckung eines Fehltritts. Dann wäre die
einfache Selbsttötung meist eine Momentshandlung, die Wirkung
eines im Augenblick explodierenden Affekts.
Nun sind für gewisse Selbstmorde Anschauungen und Erziehung
fraglos bestimmend gewesen und noch bestimmend, wir brauchen
z. B. nur an die Selbstmorde der Greise bei den alten Germanen und
die Witwenverbrennungen in Indien zu denken. Auch den Selbst¬
mord des Generals Nogi mit seiner Gattin, den P1 a c z e k als Bei¬
spiel eines physiologischen Selbstmords anführt, möchte ich von die¬
sem Gesichtspunkte aus betrachten. Wir müssen bedenken, daß auch
zu unserer Zeit in bestimmten Kreisen im Gegensatz zur Kirche der
Selbstmord als Sühne für ehrlose Handlungen angesehen wird; die
Kinder werden schon in den Anschauungen erzogen, daß man den
Verlust der Ehre nicht überleben dürfe, daß „ein freier, mutiger Tod
anständiger als ein entehrtes Leben zu achten wäre“. Wenn nun in
manchen Kreisen jemand für ehrlos gehalten wird, der eine körper¬
liche Züchtigung nicht rächt oder rächen kann, so wird der Selbst¬
mord eines Generalssohns verständlich, der sich erschoß, weil er in
einer Nacht von einem Matrosen geohrfeigt wurde, ohne den Täter
erkannt zu haben. Daß nach der Katastrophe sie nicht ihrem Leben
ein Ende gemacht hätten, wird von Cicero dem Marbod, von
Byron Napoleon vorgeworfen.
31
Nun ist allerdings damit, daß ein Selbstmord verständlich ist,
daß die Beweggründe ausreichend erscheinen, noch nicht bewiesen,
daß der Selbstmörder psychisch gesund war. Helenefriederike
Stelzner führt als Beispiel eines philosophischen Selbstmords —
sie versteht darunter Selbstmörder, die aus der Summe der Er¬
kenntnis heraus, als Fazit eines langen, gedankenreichen Lebens,
ohne Affekt, ohne äußeren Zwang in den Tod gehen — Charlotte
Stieglitz an, jene Frau, die sich im Jahre 1834 mit einem sechs Jahre
vorher auf der Hochzeitsreise gekauften Dolch ins Herz sticht, um
ihrem Manne, den sie für ein großes dichterisches Genie hält, jenes
große und ergreifende Leid zu bereiten, welches seinen Genius wieder¬
erwecken und seiner Poesie neuen Inhalt geben werde. Wer sich
aber eingehend mit dieser gewiß sehr interessanten Frau und der
damaligen Zeit befaßt, wird Stelzner nicht ohne weiteres zu¬
stimmen können.
So wenig man aber auch immer aus den Beweggründen und der
Art des Selbstmords Schlüsse auf den Geisteszustand des Selbst¬
mörders ziehen kann, so läßt doch mitunter die Wahl der Todesart
erkennen, daß es sich um die Tat eines Geisteskranken handelt.
Wenn z. B. eine Frau sich Hände und Füße mit Nägeln durchbohrt
und dann in einen heißen Backofen kriecht, wenn ein Mann sich
Nägel in den Kopf treibt, wenn ein anderer Mann sich mit einer
Axt den Schädel einschlägt, so wird wohl niemand zweifeln, daß in
diesen Fällen eine Geisteskrankheit bestanden hat. Mit Adolf
Wagner, Kraepelin u. a. wird angenommen, daß ungefähr
ein Drittel aller Selbstmörder geisteskrank sind. Ob diese Annahme
den Tatsachen entspricht, oder ob der Prozentsatz nicht zu hoch ge¬
griffen ist, muß noch eingehender Forschung überlassen werden. Wir
haben schon auf alle die Schwierigkeiten, die dieser Klärung ent¬
gegenstehen, hingewiesen; auch der Pathologe wird uns vorläufig
dieser Klärung nicht viel näher bringen können, solange wir bei
einer Reihe von Psychosen die typischen pathologischen Verände¬
rungen noch gar nicht kennen, wobei noch ganz außer acht zu lassen
ist, daß, worauf Vera Strass er in ihrem Buche „Die Psychologie
der Zusammenhänge undBeziehungen“hinweist,auch derForscher, der
den Selbstmörder auf dem Seziertisch untersucht und die Organminder¬
wertigkeit feststellt, noch lange nicht wissenschaftlich verpflichtet ist,
zwischen dem Gefundenen und den seelischen Konflikten, die dem
Tode vorangegangen sein können, einen Zusammenhang herzustellen.
Bei der Beurteilung der geisteskranken Selbstmörder muß be¬
rücksichtigt werden, daß die Selbstmordneigung der Geisteskranken
im direkten Verhältnis zur Selbstmordneigung der übrigen Bevölke-
32
rungsschicht steht. So lesen wir z. B. in einer Arbeit Heil-
bronners „Zur Psychopathologie der Melancholie“: „Wenn ich
die poliklinischen Fälle mitberücksichtige, so sehe ich hier (in Hol¬
land) mindestens ebenso viele reine Melancholien wie unter der
sächsichen Bevölkerung mit ihrer bekannten Tendenz zu depressiven
Psychosen, mit der Differenz allerdings, daß uns die Suizidneigung,
die die sächsische Bevölkerung auszeichnet, hier viel weniger zu
schaffen macht.“ Während in Holland auf 1 Million Einwohner nur
56 Selbstmorde kommen, sind es in Sachsen 332. Wir sehen also auch
an diesen Beispielen, daß die Selbstmordneigung in der Psychose
nicht etwas ganz Neues, nicht etwas dem Menschen sonst Fremdes
ist, daß vielmehr durch die Psychose nur Gegenvorstellungen, Hem¬
mungen nicht mehr funktionieren und in manchen Fällen ganz auf¬
gehoben werden. Man kann auch hier einen Schillerschen Satz paro¬
dieren: die Psychose erfindet nichts, sie schwatzt nur aus. Aus
dieser Erkenntnis müssen wir aber die Lehre ziehen, in Gegenden, in
denen eine stärkere Selbstmordneigung feststeht, bei depressiven
Psychosen ganz besonders mit der Suizidgefahr zu rechnen.
Von den Psychosen haben wir natürlich vor allem bei der Melan¬
cholie mit dieser Gefahr zu rechnen, besonders bei der ängstlichen,
traurigen Verstimmung und der Ratlosigkeit. Kraepelin weist
darauf hin, daß die Selbstmordgefahr im Beginn und gegen Ende des.
Anfalles am größten zu sein pflege, da dann die Willenshemmung den
Kranken nicht unfähig mache, sich zum Handeln aufzuraffen. Be¬
sondere Aufmerksamkeit verdienen jene Kranke, die viele hypochon¬
drische Klagen Vorbringen und ständig erklären, es helfe ihnen doch
nichts, sie würden doch nie mehr gesund. Man darf sich von depres¬
siven Kranken nicht täuschen lassen, sie dissimulieren oft, um den
Arzt zu veranlassen, die strenge Bewachung aufzuheben, die sie an der
oft sehr gut durchdachten Ausführung des Suizids hindert. In einigen
Fällen besteht sozusagen eine Selbstmordsucht, die Kranken ver¬
suchen immer und immer wieder, sich zu beschädigen, sich zu töten,
und mitunter können sie trotz strengster Bewachung doch ihr Ziel
erreichen. Wir müssen ehrlich bekennen, daß es selbst bei den aller-
erdenklichsten Vorsichtsmaßregeln auch in der besten Anstalt nicht
immer möglich ist, einen Selbstmord zu verhindern, wir können es
aber uns schon als positive Leistung buchen, daß es uns wenigstens in
ungefähr 99 Proz. gelingt. Besteht bei den melancholischen Kranken
eine starke Willenshemmung, so ist freilich die Selbstmordgefahr nicht
in besonderem Maße in Rechnung zu stellen, man darf aber nicht
außer acht lassen, daß auch bei derartigen Kranken unerwartet im¬
pulsive Handlungen Vorkommen können und daß eine solche impul-
33
Bive Handlung ein Suizid sein kann. Auch bei der Manie muß man
daran denken, daß plötzlich eine depressive Phase mit Suizidneigung
einsetzen kann. Aber nicht nur bei den zirkulären Psychosen, son¬
dern auch bei den depressiven Zuständen aller andern Psychosen ist
mit einer Suizidgefahr zu rechnen. Wir kennen depressive Zustands¬
bilder bei den arteriosklerotischen und senilen Geistesstörungen, bei
der progressiven Paralyse, bei den Defektpsychosen, bei der Epilep¬
sie, bei den alkoholischen Geistesstörungen, bei den Fieberpsychosen.
Depressive Zustände bei senilen und arteriosklerotischen Geistesstö¬
rungen sind nicht ungewöhnlich; auch die progressive Paralyse be¬
ginnt häufig mit einem Depressionszustand, im neurasthenischen Sta¬
dium dieser Krankheit werden alle möglichen hypochondrischen Kla¬
gen vorgebracht, die Kranken sind schlaflos, verstimmt, haben hef¬
tige Kopfschmerzen. Daß auch Neurastheniker mit Lues aüs Furcht
vor einer Paralyse Suizid begehen können, ist bekannt. Bei derarti¬
gen Kranken sollte der Arzt seine Fragen mit äußerster Vorsicht
stellen, sie sind oft sehr hellhörig und fühlen, daß auch der Arzt an
eine beginnende Paralyse denkt. Bei der Epilepsie sind es oft heftige
Affektentladungen und periodische Verstimmungen, die zur Selbst¬
beschädigung und zum Selbstmord führen. Mitunter bestehen Angst¬
zustände, schreckhafte Halluzinationen, die den Kranken z. B. gegen
seine vermeintlichen Angreifer wild um sich schlagen lassen oder
auch bestimmen können, all den Schrecknissen durch Selbstmord aus
dem Wege zu gehen. Ähnlich liegen die Verhältnisse bei den alko¬
holischen Geistesstörungen, auch hier können schwere Angstzustände
und schreckhafte Halluzinationen auftreten. Kurz vor Ausbruch
eines Deliriums oder bei der abortiven Form des Deliriums sehen wir
Schlaflosigkeit, ängstliche Unruhe und mitunter Selbstmordneigung.
J. S e r r 6 (zitiert nach Hoppe) hat unter 1500 Fällen von Deli¬
rium tremens 12,86 Proz. Selbstmordversuche gesehen. Bei der Alko-
holhalluzinose kann es unter dem Einfluß der lebhaften Halluzinatio¬
nen zu Selbstbeschädigungen und zum Selbstmord kommen. Auch bei
den Dipsomanen, jenen Kranken, die periodisch von krankhaften
Stimmungen beherrscht werden und dann Alkoholmißbrauch treiben,
bestehen häufig Selbstmordneigungen. Man findet oft die Behaup¬
tung, daß der Alkoholismus eine der wichtigsten Ursachen der Selbst¬
morde sei. P r i n z i n g nimmt an, daß mehr als der 4. Teil der
Selbstmorde des männlichen Geschlechts und im vollen Mannesalter
ein volles Drittel durch Alkoholmißbrauch herbeigeführt werde; er
führt auch die Zunahme der Selbstmorde auf die Zunahme des Alko¬
holismus zurück. Dem wird man nicht ohne weiteres zustimmen kön-
34
nen; haben wir doch im Kriege so gut wie gar keinen Alkoholismus
gehabt, und doch nahmen die Selbstmorde nicht in dem Maße ab, sie
nahmen sogar bei den Frauen ständig zu. Wir dürfen dabei auch
nicht vergessen, daß damit, daß uns bei einem Menschen der Alkoho¬
lismus bekannt wird, noch nicht gesagt ist, auf welchem Boden dieser
Alkoholismus entstanden ist. Daß z. B. haltlose Psychopathen, die
doch einen sehr hohen Prozentsatz der Selbstmörder stellen, häufig
Alkoholmißbrauch treiben, ist bekannt, wie ja überhaupt Psycho¬
pathen zum Mißbrauch von Giften, wie Morphium und Kokain, neigen.
Bei den Morphinisten sehen wir während der Entziehungskur Selbst¬
mordneigungen auftreten, und mitunter wird der Selbstmord während
der Abstinenzerscheinungen ausgeführt. Bei dem Kokainismus kommt
noch hinzu, daß er zu einer reizbaren, ängstlichen, mißtrauischen
Stimmung führt mit Unstetigkeit und Ruhelosigkeit, dazu mitunter
noch alle möglichen Halluzinationen, oft ängstlichen Charakters, die
Selbstmordneigung mit sich bringen.
Ganz besonders muß darauf aufmerksam gemacht werden, daß
auch bei Fieberpsychosen mit einer Suizidgefahr gerechnet werden
muß. Bonhoeffer weist darauf hin, daß unbeabsichtigte Selbst¬
beschädigungen und gewollte Suizidversuche im Beginn der Fieber¬
psychose zu fürchten seien.
Bei den Imbezillen besteht im allgemeinen keine besondere
Selbstmordneigung, allerdings kann es bei ihrer Affektlabilität aus
ganz geringfügigen Anlässen, z. B. Heimweh, zu einem Selbstmord¬
versuch oder Selbstmord kommen.
Kranke mit Zwangsvorstellungen fühlen sich in einigen Fällen
von diesen Vorstellungen derart belästigt, daß sie Selbstmord be¬
gehen. Zu erwähnen wären noch die schweren Selbstbeschädigungen
von Katatonen, deren impulsive Handlungen auch zu einem Selbst¬
mord führen können.
Bei der Hysterie wird vielfach mit Recht angenommen, daß die
Suizidversuche nicht ernst gemeint sind, oft nur inszeniert sind, um
die Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. Man soll sich aber hüten,
dem Kranken derartiges zu sagen, solche Äußerungen könnten ihn
dahin bringen, den Ernst seiner Absicht zu beweisen. Manchmal
täuscht sich der Hysteriker, worauf auch B u m k e hinweist, über die
Gefährlichkeit des gewählten Mittels, und der Selbstmord gelingt.
Wenn auch den Statistiken zu entnehmen ist, daß ungefähr ein Drittel
der Selbstmörder geisteskrank ist, so wird man sich klar machen
müssen, daß diese Zahlen keinen Anspruch auf Genauigkeit haben.
Ist doch in den meisten Fällen die Diagnose „Geisteskrankheit“ auf
die Angaben von Laien zurückzuführen. Nun sind diese Angaben oft
35
von religiösen Rücksichten diktiert, und auch zivilrechtliche Ansprüche
an Versicherungsgesellschaften können die Angaben beeinflussen.
Während nun Friederike Stelzner, Gaupp u. a. bei
den Personen, die nach einem Selbstmordversuch in die Klinik einge¬
liefert wurden, feststellten, ob und welche psychischen Anomalien Vor¬
lagen, fragten wir uns, wer von denen, die zu einer bestimmten Zeit
in Frankfurt a. M. einen Selbstmord oder Selbstmordversuch verübt
hatten, vor der Tat in der Frankfurter Heilanstalt gewesen war. Aus
den Polizeiakten konnten wir die Namen für die Zeit von Januar 1906
bis Juli 1920 feststellen. In dieser Zeit nahmen sich 1272 Männer und
572 Frauen in Frankfurt a. M. das Leben, und bei 242 Männern und
217 Frauen wurde der Polizei ein Selbstmordversuch bekannt. Von
den Selbstmördern waren 35 Männer und 9 Frauen, von den Personen,
die wegen eines Selbstmordversuches der Polizei gemeldet waren,
40 Männer und 22 Frauen zu irgendeiner Zeit vor der Tat in der
Frankfurter Heilanstalt gewesen. Wenn man auch annimmt, was
Kuerten für Leipzig und Dresden gezeigt hat, daß ungefähr 20
Proz. der Selbstmörder zugereist waren, so bleiben immerhin noch
ungefähr 1400 Selbstmorde, von denen nur 44 vor der Tat in der
Frankfurter Anstalt waren. Nun lagen die Verhältnisse gerade in
Frankfurt so, daß die meisten, die wegen einer psychischen Anomalie
in eine Anstalt mußten, die Frankfurter Anstalt zum mindesten pas¬
sierten. Man wird mit Recht einwenden, daß häufig im Beginn der
psychischen Erkrankung, also zu einer Zeit, wo die psychischen Ano¬
malien noch nicht so in Erscheinung getreten zu sein brauchen, daß
an eine Anstaltsbehandlung gedacht wird, eine Reihe von Selbst¬
morden verübt werden; auch das wird zugegeben werden müssen, daß
die Furcht, wegen der „Nervosität“ in eine Irrenanstalt gebracht zu
werden, hier und dort zu einem Selbstmord führen kann. Aber es
bleibt immerhin auffällig, daß nur 44 von ungefähr 1400 Selbstmör¬
dern vorher zu irgendeiner Zeit in der Frankfurter Anstalt waren,
also kaum ein Zehntel von denen, die ungefähr zur Zeit der Tat
geisteskrank gewesen sein müßten, wenn die Statistik Recht hätte, die
in ungefähr 30 Proz. der Fälle Geisteskrankheit annimmt. Auch
Pilcz, der die Sektionsprotokolle der Selbstmörder des Instituts für
gerichtliche Medizin in Wien durchmusterte, mußte feststellen, daß
von 1245 Männern 42, von 426 Frauen 35 notorisch geisteskrank
waren, also Feststellungen, die nicht sehr von unseren Erhebungen
abweichen. Man wird es demnach verstehen, daß die vorhin gegen
den hohen Prozentsatz geäußerten Bedenken nicht grundlos sind.
Bei den Selbstmordversuchen sind es ungefähr 20 Proz. der Män-
ner und 10 Proz. der Frauen, die vor der Tat in der Frankfurter An¬
stalt gewesen sind. Wir müssen aber bedenken, daß es sich nur um
die Selbstmordversuche handelt, die der Polizei bekannt geworden
sind; die Mehrzahl der Selbstmordversuche kommt ihr wohl gar nicht
zu Ohren, denn wir können nicht annehmen, daß in einer Zeit, in der
rund 1800 Selbstmorde verübt worden sind, nur rund 450 Selbstmord¬
versuche vorgekommen sein sollen. Der Umstand muß auch bei der
Betrachtung des von G a u p p beigebrachten Materials berücksichtigt
werden; auch in München werden sicher in 2 Jahren weit mehr als
124 Selbstmordversuche vorgekommen sein.
Wenn man nun sieht, wie gering der Prozentsatz der Selbst¬
mörder ist, die vor der Tat zu irgendeiner Zeit in der Anstalt gewesen
sind, im Gegensatz zu denen, die einen Selbstmordversuch begangen
haben, so werden die Bedenken noch stärker, die schon früher da¬
gegen erhoben worden sind, daß die Ergebnisse bei Menschen mit
Suizidversuchen auf Selbstmörder angewendet werden. In einem be¬
stimmten Alter, in den Pubertätsjahren, beschäftigen sich viele mit
dem Tode, spielen eine Reihe von Menschen mit Selbstmordideen, wir
brauchen nur in Autobiographien bedeutender Männer zu blättern.
So lesen wir z. B. bei L i c h t e n b e r g: „Ich habe schon auf Schulen
Gedanken vom Selbstmord gehegt, die den gemein angenommenen
in der Welt schnurstracks entgegenliefen, und erinnere mich, daß ich
einmal lateinisch für den Selbstmord disputierte und ihn zu verteidi¬
gen suchte. Ich muß aber gestehen, daß die innere Überzeugung von
der Billigkeit einer Sache (wie dieses aufmerksame Leser werden ge¬
funden haben) oft ihren letzten Grund in etwas Dunklem hat, dessen
Aufklärung äußerst schwer ist oder wenigstens scheint, weil eben der
Widerspruch, den wir zwischen dem klar ausgedrücktem Satze und
unserm undeutlichen Gefühle bemerken, uns glauben macht, wir haben
den rechten noch nicht gefunden. Im August 1769 und in den fol¬
genden Monaten habe ich mehr an den Selbstmord gedacht als je¬
mals, und allezeit habe ich bei mir befunden, daß ein Mensch, bei dem
der Trieb zur Selbsterhaltung so geschwächt worden ist, daß er so
leicht überwältigt werden kann, sich ohne Schuld ermorden könne.
Ist ein Fehler begangen worden, so liegt er viel weiter zurück. Bei
mir ist eine vielleicht zu lebhafte Vorstellung des Todes, seines An¬
fangs, und wie leicht er an sich ist, schuld daran, daß ich vom Selbst¬
mord so denke. Alle,- die mich nur aus etwas größeren Gesellschaf¬
ten und nicht aus einem Umgänge zu zweit kennen, werden sich wun¬
dern, daß ich so etwas sagen kann. Allein Herr L. weiß es, daß es
eine meiner Lieblingsvorstellungen ist, mir den Tod zu gedenken, und
daß mich dieser Gedanke zuweilen so einnehmen kann, daß ich mehr
37
zu fühlen als zu denken scheine und halbe Stunden mir wie Minuten
vorübergehen. Es ist dieses keine dickblutige Selbstkreuzigung, wel¬
cher ich wider meinen Willen nachhinge, sondern eine geistige Wollust
für mich, die ich wider meinen Willen sparsam genießen, weil ich zu¬
weilen fürchte, jene melancholische nachteulenmäßige Betrachtungs¬
liebe möchte daraus entstehen.“
Wie chronische körperliche Leiden lebhafte Selbstmordideen auf-
kommen lassen, zeigt uns z. B. eine Stelle aus dem Heiligenstädter
Testament Beethovens vom 6. Oktober 1802: „Noch war’s mir nicht
möglich, den Menschen zu sagen: Sprecht lauter, schreit, denn ich bin
taub! Ach, wie wäre es möglich, daß ich damit die Schwäche eines
Sinnes zugeben sollte, der bei mir in einem vollkommeneren Grade als
bei anderen sein sollte, eines Sinns, den ich einst in der größten Voll¬
kommenheit besaß, in einer Vollkommenheit, wie ihn wenige von
meinem Fache gewiß haben, noch gehabt haben! 0, ich kann es nicht!
. . . Welche Demütigung, wenn jemand neben mir stand und von
weitem eine Flöte hörte und ich nichts hörte, oder jemand den Hirten
singen hörte und ich auch nichts hörte! Solche Ereignisse brachten
mich nahe an Verzweiflung; es fehlte wenig, und ich endigte selbst
mein Leben. — Nur sie, die Kunst, sie hielt mich zurück! Ach, es
dünkte mir unmöglich, die Welt eher zu verlassen, bis ich das alles
hervorgebracht, wozu ich mich aufgelegt fühlte. . .
Bei derartigen Menschen können plötzlich eintretende unange¬
nehme Ereignisse je nach der Stärke dieser Ereignisse und der Wider
Standskraft des einzelnen Individuums eine Explosion herbeiführen;
der Lebenserhaltungstrieb entgleist. Gewiß, eine Reihe von Selbst¬
mördern ist geisteskrank, wobei es noch dahingestellt bleiben muß,
wie hoch dieser Prozentsatz ist; sehr viele Selbstmörder sind ohne
Frage haltlose oder erregbare Psychopathen und weisen, wie G a u p p
hervorhebt, krankhafte Züge mannigfacher Art auf. Es hieße aber
den Bogen überspannen, wenn wir fast alle Selbstmorde auf krank¬
hafte Zustände zurtickführen wollten. Die Grenzen zwischen Krank¬
heit und Gesundheit sind zwar oft schwer zu ziehen, und sie ändern
sich mit der Änderung wissenschaftlicher Anschauungen, die Medizin
ist eben keine exakte Wissenschaft, wie z. B. die Mathematik. Es
geht aber nicht an, alle Absonderlichkeiten und Abweichungen eines
Menschen als krankhaft zu bezeichnen. „Es gibt“, wie P1 a c z e k
betont, „Situationen im Leben, aus denen der vollwertigste Mensch
keinen andern Ausweg findet. Situationen, die ein vollwertiger
Mensch klar und nüchtern überschaut, die daraus sich ergebende
Lösung klar durchdenkt und in voller Ruhe den einzigen, ihm denk¬
baren Ausweg wählt. Gewiß können nun in jedem Falle die Meinun-
r
38
gen über die Notwendigkeit auseinandergehen . . Wir, die wir
ohne jeden Affekt die Vorgänge überschauen, werden in vielen Fällen
noch einen Ausweg erkennen, wie ja auch der Zuschauer beim
Schachspiel mitunter noch einen Zug sieht, der das Spiel retten
könnte, während der Spieler es als aussichtslos aufgibt. Es ist aber
noch nicht gesagt, daß der Ausweg, der uns möglich erscheint, auch
für den Selbstmordkandidaten gangbar ist. Daß bei einem großen
Teil der Selbstmörder eine Einengung aller psychischen Fähigkeiten
besteht, wird Friederike S t e 1 z n e r zugegeben werden müssen; viele
Selbstmörder befinden sich vor der Tat gewissermaßen in einem Aus¬
nahmezustand, in dem eine Reihe von Möglichkeiten, die Situation
zu retten, einem entgehen können. In einen solchen Zustand aber
kann unter bestimmten Voraussetzungen jeder Mensch geraten, ohne
daß ein ernster Psychiater ihn für einen Geisteskranken oder Psycho¬
pathen erklärt. Gewiß — man kann es gar nicht scharf genug be¬
tonen — ist damit, daß der Selbstmord verständlich erscheint, ganz
und gar nicht der Beweis für die geistige Gesundheit des Selbst¬
mörders erbracht, auch für das von P1 a c z e k angeführte Beispiel
der Charitekrankenschwester, die bei einer Operation durch Ver¬
wechslung von Kokainlösungen den Tod eines Kindes herbeiführte
und sich darauf mit einer starken Kokainlösung tötete, gilt dieser
Einwand. Der Geisteskranke kann aus einem verständlichen Motiv
Selbstmord begehen. Wenn z. B. ein Kranker unter dem Namen
seines Arztes bei dem zugezogenen Facharzt telephonisch anfragt,
was er gefunden habe, und erfährt, es handle sich um eine beginnende
Paralyse, so werden viele den daraufhin erfolgten Selbstmord ver¬
ständlich finden. Aber wie man nicht das Verständliche der Tat als
Beweis für die geistige Gesundheit anführen kann, so geht es nicht
an, den Selbstmord an sich schon als ein Symptom einer geistigen
Störung anzusehen oder zu behaupten, daß er fast immer krankhaften
Zuständen entspringe. Es gibt eine Reihe von Selbstmördern, bei
denen keinopsychischen Anomalien nachweisbar sind. Schopen¬
hauer schreibt, daß unter Umständen auch der gesundeste und
vielleicht selbst der heiterste Mensch sich zum Selbstmord ent¬
schließen kann, wenn nämlich die Größe der Leiden oder des unaus-
weichbar herannahenden Unglücks die Schrecken des Todes über¬
wältigt. Wie hoch der Prozentsatz dieser Selbstmörder ist, kann
nicht gesagt werden, zur Beantwortung dieser Frage reichen die
Unterlagen nicht aus. H o c h e schreibt darüber: „Verhältnismäßig
selten, wenn auch nicht so selten wie man gewöhnlich annimmt, ist
diejenige Selbsttötung, die man als Bilanzselbstmord bezeichnen
könnte, d. h. ein solcher, bei dem in kühler und klarer Besonnen-
39
heit alle dafür und dagegen sprechenden Gründe abgewogen werden,
etwa wie in den Fällen von Kassierern oder Bankiers, die jahrelang
von fremden Geldern ein gutes Leben führen und dabei die ganze
Zeit über schon das Gift bei sich führen, mit dem sie im Augenblick
der Verhaftung ihrem Leben ein Ziel setzen. Auch jetzt hören wir
von wohlüberlegtem freiwilligem Tode geistig hochstehender Men¬
schen, die nicht die Absicht haben, den jetzigen Umschwung und die
politische Demütigung vor unseren Feinden mitzumachen . .
Unsere Betrachtungen zeigen uns, daß in der wissenschaftlichen
Erforschung des Selbstmordproblems noch manches zu leisten ist.
In allen großen Städten, in denen Abteilungen für psychisch Kranke
bestehen, müßte der Polizei die Verpflichtung auferlegt werden, nicht
nur jeden ihr zu Ohren kommenden Selbstmordversuch, sondern auch
jeden Selbstmord sofort dieser Abteilung zu melden, damit von sach¬
verständiger Seite eingehende Erhebungen angestellt werden können.
In jedem Falle müßte eine genaue Sektion erfolgen, Körpermessungen
könnten ebenfalls vorgenommen werden, und alle Befunde müßten an
einer Stelle gesammelt und bearbeitet werden. Derartige Bestim¬
mungen könnten unter Umständen die Nebenwirkung haben, daß die
Selbstmordhäufigkeit beeinflußt würde. Sagt doch Hebbel in
seinem Tagebuch: „Ich glaube, wenn mich nichts vom Selbstmord
zurückhielt, so wär’s der Gedanke, auf die Anatomie geschleppt und
dort zerschnitten zu werden.“
Bei den statistischen Erhebungen wäre zu wünschen, daß alle
Daten für Männer und Frauen gesondert zusammengestellt würden;
man sollte auch den Fragen besondere Aufmerksamkeit schenken, ob
Selbstmorde in der Familie schon vorgekommen sind, ob der Selbst¬
mörder einziges oder uneheliches Kind ist. Die während des Krieges
begangenen Selbstmorde in den verschiedenen Armeekorps sollten
auf Grund der Rentenakten eingehend einheitlich bearbeitet werden.
Fassen wir zum Schluß noch einmal alles kurz zusammen: Die
Statistik zeigt, daß das Wirtschaftsleben in erster Linie die Häufigkeit
der Selbstmorde beeinflußt. Recht deutlich kommt diese Tatsache zum
Ausdruck, wenn die Zunahme der Männer- und Frauenselbstmorde
getrennt betrachtet wird. In den letzten 13 Jahren vor dem Kriege
nahmen die Männerselbstmorde ungefähr 20 Proz., die Frauenselbst-
morde aber um 70 Proz. zu. Nun ist gerade in diesen Jahren die Zahl
der Frauen, die sich dem Berufsleben zugewendet haben, sehr gestie¬
gen; auch die Selbstmorde der Großstadt zeigen es uns, sind doch un¬
gefähr 75 Proz. der Selbstmörder in Großstädten nicht in der Gro߬
stadt geboren, sondern später zugezogen, also Menschen, die nicht fähig
gewesen sind, in der Großstadt festen Fuß zu fassen. Man sucht der
40
Ansicht, daß das Wirtschaftsleben der wichtigste Faktor beim Selbst-
mord sei, mit dem Einwande zu begegnen, daß gerade bei den Ärmsten
der Selbstmord selten sei; es töten sich aber gewöhnlich doch nicht die,
die sich an ihr Elend gewöhnt haben oder keine besseren Tage kennen,
sondern die, die ins Gleiten kommen oder zu gleiten fürchten. In zweiter
Linie ist die Religiosität, nicht die Religion bei der Selbstmordhäufig¬
keit von Einfluß. Wir haben es an den Juden zeigen können, wie sie
mit der Abnahme der Religiosität von der 3. an die 1. Stelle in der
Selbstmordhäufigkeit rückten; und neben dem Wirtschaftsleben ist
es wohl auch die Religiosität, die die Tatsache miterklärt, daß die
Selbstmordhäufigkeit der Männer 3—4mal so groß ist, wie die der
Frauen, ist doch die Frau religiöser als der Mann. Daß auch die
größere Aktivität des Mannes für den Unterschied verantwortlich zu
machen ist, soll keineswegs bestritten werden.
Ein sehr großer Einfluß auf die Selbstmordhäufigkeit muß dem
Volkscharakter eingeräumt werden. Verschiedene Autoren sprechen
hier von Rasse; wir kennen indessen keine klare wissenschaftliche
Definition dieses Begriffes, den namhafte Autoren völlig ablehnen,
aber es steht fest, daß die Neigung zur Selbstvemichtung bei den ver¬
schiedenen Stämmen verschieden stark ausgeprägt ist; und nicht nur
in der Selbstmordneigung der verschiedenen Völker, auch innerhalb
derselben Stämme bestehen weitgehende Unterschiede.
Die Selbstmordneigung nimmt mit dem Alter zu und wird durch
den Familienstand stark beeinflußt, die Ehe wirkt selbstmord-
beschränkend.
Daß die Selbstmordhäufigkeit im Frühling ansteigt, um im Mai
und Juni den höchsten Stand zu erreichen, dann abfällt, um im De¬
zember und Januar am tiefsten zu stehen, ist eine Erscheinung, die
noch sehr der Klärung bedarf, und die damit nicht genügend begrün¬
det ist, daß man sie auf die klimatischen Verhältnisse zurückführt,
denn betrachtet man auch hier die Männer- und Frauenselbstmorde
getrennt, so zeigt sich bei den Frauenselbstmorden nicht diese Gesetz¬
mäßigkeit, und bei den Soldatenselbstmorden wurde in den Monaten
Januar und Februar der höchste Stand gefunden, also 3—4 Monate
nach der Einstellung. Nachahmung, suggestive und erzieherische
Einflüsse werden als wichtige Momente bei der Selbstmordhäufigkeit
bewertet werden müssen.
Ein bestimmter Prozentsatz der Selbstmörder ist geisteskrank,
begeht infolge depressiver oder sonstiger krankhafter Ideen die Tat.
Daß aber die Geisteskrankheit bei ungefähr einem Drittel der Selbst¬
mörder in Frage kommt, diese Annahme erscheint auf Grund eigener
Untersuchungen und kritischer Betrachtungen anderer Arbeiten nicht
41
genügend begründet, dieser Prozentsatz ist sicherlich viel zu hoch.
Daß sehr viele Selbstmörder „geistig irgendwie abnorme Persönlich¬
keiten sind, oder mindestens solche, die an der Grenze geistiger Ge¬
sundheit stehen“, kann nicht bestritten werden; es gibt aber eine
Reihe von Selbstmördern, bei denen irgendwelche psychische Anomalien
nicht zu finden sind, die als geistig gesund angesprochen werden
müssen; es gibt, um mit H o c h e zu reden, einen Bilanzselbstmord.
Unter gewissen Umständen kann die Widerstandsfähigkeit eines
jeden Menschen gebrochen werden, je nach Anlage werden bei dem
einen erhebliche, bei dem anderen ganz geringe Reize notwendig sein;
aber auch ein und derselbe Mensch kann auf dieselben Reize zu ver¬
schiedenen Zeiten verschieden reagieren, körperliche Beschwerden,
Ermüdung, Alkoholgenuß u. a. m. können dabei eine Rolle spielen.
Wenn aber auch im allgemeinen selbst bei sehr schweren Gemüts¬
bewegungen noch genügend Hemmungen vorhanden sind, eine Flucht
aus dem Leben zu verhindern, „die Scheu vor dem Eingreifen in den
eigenen Körper“ nicht zum Schweigen bringen zu lassen, so kann es
doch durch die Summierung verschiedener Momente zu einer Explo¬
sion kommen. Man wird A. Leppmann zustimmen müssen, daß
eine derartige Konstellation wohl nur ein einziges Mal während der
ganzen Dauer des Lebens eintritt, und ein Mensch über eine derartige
Situation gebracht wird im allgemeinen nie mehr einen Selbstmord
begehen. Daß dies für Geisteskranke nicht zutrifft, bedarf wohl
keiner besonderen Betonung.
Daß die Selbstmordhäufigkeit ein Gradmesser deT Kultur und
Moralkraft eines Volkes sei, daß die Zunahme der Selbstmorde als ein
Signal zunehmender Volksdegeneration zu gelten habe, muß ganz
entschieden bestritten werden. Es ist nicht wahr, daß der Selbstmord
bei unzivilisierten Völkern unbekannt ist.
Mit der Kenntnis einer Reihe von Momenten, die für die Selbst¬
mordhäufigkeit von Belang sind, ist der Weg gegeben, der Selbst¬
mordhäufigkeit beizukommen. Bei uns gilt zwar nicht mehr das atti¬
sche Gesetz: „Wer nicht länger leben will, der zeige es an und scheide
nach erhaltener Erlaubnis aus dem Leben.“ Das Prinzip aber ist in
unserer Zeit durch die Einrichtungen der Heilsarmee und der Ber¬
liner Stadtmission, die eine Selbstmörderfürsorge betreiben, in ge¬
wisser Beziehung verwirklicht.. Auch die Psychopathenfürsorge, die
auf Veranlassung des Reiches jetzt in allen Städten aufgenommen
werden soll, gibt Gelegenheit, überall derartige Einrichtungen zu
schaffen, sozusagen Sprechstunden für Selbstmordkandidaten abzu¬
halten. Abgesehen davon, daß in vielen Fällen mit Rat und Tat ein¬
gegriffen werden könnte, würde schon die Aussprache an sich häufig
r
42
günstig wirken. So erklärt z. B. schon Lichtenberg die gerin¬
gere Selbstmordhäufigkeit der Katholiken im Verhältnis zu den Pro¬
testanten damit, daß den Katholiken die Ohrenbeichte Gelegenheit
gäbe, sich auszusprechen und so dem gefährlichen Grübeln ein Ziel
setze. Die Hauptarbeit aber, der Selbstmordhäufigkeit zu begegnen,
wird Haus und Schule zu leisten haben. „Erziehen heißt, das Kind
für das wirkliche Leben heranbilden. . . . Jener Erzieher, der sein
Kind zum Verzichten anleitet, steht ethisch viel höher, als derjenige,
der es von Genuß zu Genuß führt.“ Diese Worte S t e k e 18 können
nicht stark genug unterstrichen werden. Auch die Schule wird ihre
Hauptaufgabe darin sehen müssen, lebenstüchtige Menschen heranzu¬
bilden, die Kinder für den Lebenskampf mit genügend Hemmungen
auszurüsten. Der Erzieher kann, muß vielleicht sogar den Glauben
haben, daß die Macht der Erziehung, wie St. Mi 11 meint, fast gren¬
zenlos ist, daß es keine einzige natürliche Neigung gäbe, welche sie
nicht stark genug wäre einzuschränken, und, wenn es erforderlich
wäre, durch Entwöhnung zu zerstören. Die Schule soll auch den
Kindern nicht eine zu große Ehrfurcht vor jedem geschriebenen
Wort einimpfen, sie vielmehr belehren, daß nicht alles, was gedruckt
ist, geglaubt werden muß. Auch Ansichten sehr bedeutender Män¬
ner müssen nicht immer von der Allgemeinheit geteilt werden, sie
können unter Umständen sogar der Allgemeinheit sehr schädlich sein.
Deshalb braucht man aber nicht gleich gegen eine Reihe von Werken
anzugehen, nicht gleich zu behaupten, Kunst und Literatur wären
Schuld an der Selbstmordhäufigkeit. Manche Werke sind eben nicht
für Unreife und Halbgebildete geschaffen. Wenn wirklich hier und
da ein haltloser Psychopath durch einen Ausspruch z. B. Nietz¬
sches: „Meinen Tod lobe ich euch, den freien, der mir kommt, weil
ich will“, angefeuert, sich töten sollte, so wäre es übertrieben, des¬
wegen derartige Werke zu bekämpfen, die Millionen von Menschen
Freude, Unterhaltung, Erbauung bringen.
Bei der Erziehung darf selbstverständlich die religiöse Erzie¬
hung nicht außer acht gelassen werden. Es müßte besonders darauf
gesehen werden, daß hier Haus und Schule Hand in Hand arbeiten.
Die Statistik zeigt, daß die Religiosität einen sehr großen Einfluß auf
die Selbstmordhäufigkeit hat, daß religiöse Menschen viel mehr Hem¬
mungen als indifferente oder irreligiöse gegen die Selbstvernichtung
haben. Mit Goethes Satz: „Wer Wissenschaft und Kunst besitzt
— Hat auch Religion, — Wer jene beiden nicht besitzt, — Der habe
Religion“, ist diese Frage nicht abgetan. Gerade dem haltlosen
Psychopathen wird Wissenschaft und Kunst nicht die Hemmungen
geben, die eine tiefe Religiosität ihm geben könnte. Was man aber
43
auch immer noch zur Bekämpfung der Selbstmordhäufigkeit anführen
könnte, immer müssen einem Lichtenbergs Worte einfallen:
„Man schreibt wider den Selbstmord mit Gründen, die unsere Ver¬
nunft in dem kritischen Augenblick bewegen soll. Dieses ist aber
alles vergeblich, solange man sich diese Gründe nicht selbst erfun¬
den hat, das heißt, sobald sie nicht Früchte, das Resultat unserer
ganzen Erkenntnis und unseres erworbenen Wesens sind. Also alles
ruft uns zu: bemühe dich täglich um Wahrheit, lerne die Welt kennen,
befleißige dich des Umganges mit rechtschaffenen Menschen, so wirst
du jederzeit handeln, wie dir’s am zuträglichsten ist . . .“
Es bleibt aber noch die Frage zu erörtern, ob und wie die Selbst¬
morde Geisteskranker zu verhindern sind. Wir haben die krank¬
haften Zustände, die zur Selbstvernichtung führen können, geschil¬
dert, haben gesehen, daß vor allem depressive Zustände in Frage
kommen, und haben darauf hingewiesen, daß solche Kranke am
allerbesten in einer geschlossenen Anstalt aufgehoben sind. In vielen
Fällen handelt es sich um heilbare Psychosen, um Menschen, die wäh¬
rend ihrer Krankheit unbedingt vor sich selbst geschützt werden müs¬
sen. Es kommt also darauf an, recht früh derartige Zustände richtig
zu erkennen und sofort für eine geeignete Unterbringung solcher Kran¬
ken zu sorgen. Es ist besser, einmal zu viel als zu wenig mit der
Selbstmordmöglichkeit gerechnet zu haben. Gewiß, auch in einer ge¬
schlossenen Anstalt wird nicht immer trotz energischster Bewachung
der Selbstmord verhindert werden können, aber in mehr als 90 Proz.
gelingt es doch. Dazu aber, daß die Kranken sich nicht weigern,
rechtzeitig die geschlossene Anstalt aufzusuchen, daß auch ihre An¬
gehörigen nicht einen solchen Vorschlag weit von sich weisen, ist es
unbedingt erforderlich, daß Vertrauen zu den geschlossenen Anstalten
geschaffen wird, daß man sich von den irrigen Anschauungen über die
„Tollhäuser“ freimacht und einsieht, daß heute eine gut geleitete ge¬
schlossene Anstalt sich kaum von einem modernen Krankenhaus un¬
terscheidet. Wenn aber sogar noch Ärzte der Ansicht sind, daß es
Gummizellen und Zwangsjacken gibt, kann man nicht darüber stau¬
nen, daß Laien an diesen Vorstellungen festhalten. Die Gummizelle
ist aber ein Märchen, und die Zwangsjacke ist seit fast vierzig Jahren
in einer modernen Anstalt nicht mehr im Gebrauch. Wie jeder andere
Kranke wird auch der Geisteskranke während seiner akuten Erkran¬
kung mit Bettruhe behandelt.
Bei einer Selbstmörderfürsorge werden die Ärzte in erster Linie
heranzuziehen sein, und vor allem psychiatrisch geschulte. Wenn
auch der Erfolg wie bei vielen anderen Fürsorgeeinrichtungen gar
44
nicht im Verhältnis zur aufgewandten Mühe stehen wird, so wird es
doch für die Ärzte eth befriedigendes Gefühl sein, wenigstens einige
Menschen dem Leben erhalten zu haben.
Literatur.
(Die in Placzeks Buch „Selbstmordverdacht und SelbBtmordverhütung“ ange¬
gebene Literatur ist hier nicht wiederholt)
B inding und Ho che: Die Freigabe und Vernichtung lebensunwerten
Lebens. Meiner, Leipzig 1920. — Birnbaum: Psychopathologische Doku¬
mente. Springer, Berlin. — Brenning, £.: Der Selbstmord in der Literatur.
Vortrag. — B r e s 1 e r: Wichtige Entscheidungen auf dem Gebiete der gericht¬
lichen Psychiatrie. 16. Folge.—Gädeken,Paul: Über die psycho-physiologische
Bedeutung der atmosphärischen Verhältnisse, ins. des Lichts, Ztschr.f.Psychother.
— G a u p p: Einige neuere Arbeiten über die Lehre vom Selbstmord. Mon. f.
Kriminalpsychologie u. Strafrechtsreform, 3. Jahrg., 1906. — Geiger, K. A.:
Der Selbstmord. — Heilbronner, Karl: Zur Psychopathologie der Me¬
lancholie. M. f. Psych. u. Neur., Bd. 22. — H i r z e 1, Rudolf: Der Selbstmord.
Archiv f. Religionswissenschaft, 11. Bd., 1908. — H o c h e: Vom Sterben.
G. Fischer. 1919. — Hoppe: Die Tatsachen über den Alkohol. — K tl r t e n, 0.:
Statistik der Selbstmorde im Königreich Sachsen. Erg. H. zum D. Stak Zen¬
tralblatt 1912/14, H. 3. — Leppmann, A.: Tötung auf ausdrückliches ernst¬
liches Verlangen. Z. f. ges. Strafrechtswissenschaft, 32. Bd. — L e w i n, L. M.:
Die Gifte in der Weltgeschichte. Springer, Berlin. — G. Ch. Lichtenbergs
Werke. Eugen Diederichs, Jena 1907. — Märker, Johann: Von den Ur-.
Sachen des häufigen Selbstmords. Frankfurt a. M. 1818. — v. Mayr: Hand¬
wörterbuch der StaatswisBenBchaften. 3. Auf]., 7. Bd. — Möbius: Über
Entartung. — Ollendorff: Krankheit und Selbstmord. Diss. Greifswald
1907. — Pelm an: Grenzfragen. — Ribot: Vererbung. — Roth, A.:
Über den Selbstmord, Budapest 1878. — Sam wer, K.: Die Selbstentleibung
der Gothaer Lebensversicherungsbank A.-G. 1829—1903, Masius Rundschau,
17. Jahrg., 4. Heft — Scharrenbroich: Erlaubtheit des Selbstmordes.
— Schlegel: Das Heimweh und der Selbstmord. 1835. — Schneider y
Kurt: Studien über Persönlichkeit und Schicksal eingeschriebener Prosti¬
tuierter. Springer 1921. — Stegmann: Über den Geisteszustand der Selbst¬
mörder. A. Z. f. Psych. 1909. —Strasser, Vera: Psychologie der Zu
sammenhänge und Beziehungen. 1921. — Wertheimer, E. J.: Zur Patho¬
logie und Pathogenese der Selbstmorde. Diss. München 1892. — Wilmanns:
Über die Zunahme des Ausbruchs geistiger Störungen in den Frühjahrs- und
Sommermonaten. M. m. W. 1920, H. 7. — Porträtgalerie aus Lamp rechts
Deutscher Geschichte. Reel. Univ.-Bibl. Nr. 5181/82. — Über den Selbstmord^
herausgegeben von einem Menschenfreunde zur Warnung, Beruhigung und
Trost für Zagende, Leidende und Mutlose. Frankfurt a. M. 1819.
ABHANDLUNGEN AUS DER NEUROLOGIE,
PSYCHIATRIE, PSYCHOLOGIE UND IHREN
GRENZGEBIETEN
BEIHEFTE ZUR MONATSSCHRIFT FÜR PSYCHIATRIE UND NEUROLOGIE
HERAUSGEGEBEN VON K. BONHOEFFER
HEFT 23
Ober die Stellung der
Psychologie im Stammbaum der
Wissenschaften und die Dimension
ihrer Grundbegriffe
Von
Dr. Heinz Ahlenstiel
BERLIN 1923
VERLAG VON S. KARGER
KARLSTRASSE 15.
Medizinischer Verlag von S. Karger in Berlin NW. 6.
In den
Abhandlungen aus der Neurologie, Psychiatrie,
Psychologie und ihren Grenzgebieten
Beihefte z. Monatsschrift für Psychiatrie u. Neurologie, sind bisher erschienen:
Heft 1: Typhus und Nervensystem. Von Prof. Dr. Georg Stertz in
Breslau. (Vergriffen.)
Heft 2: Ueber die Bedeutung von Erblichkeit und Vorgeschichte
für das klinische Bild der progressiven Paralyse. Von Dr,
J. Pernet in Zürich. (Vergriffen.)
Heft 3* Kindersprache und Aphasie/ Gedanken zur Aphasielehre auf
Grund von Beobachtungen der kindlichen Sprachentwickelung und
ihrer Anomalie. Von Priv.-Doz Dr. Emil Fröschels in Wien. Mk 5.50
Heft 4: Epilepsie und Dementia praecox. Von Professor Dr W.
Vorkastner in Greifswald. Mk. 5.—
Heft 5: Forensisch-psychiatrische Erfahrungen im Kriege. Von Priv.-
Doz. Dr. W. Schmidt ip Heidelberg. Mk. 8.—
Heft 6: Verbindung endogener und exogener Faktoren in dem
Symptomenbilde und der Pathogenese von Psychosen. Von
Priv.-Doz. Dr. Hans Seelert in Berlin. Mk. 3.50
Heft 7: Zur Klinik und Anatomie der reinen Worttaubheit, der
Heilungsaphasie und der Tontaubheit. Von Priv.-Doz. Dr. Otto
Pötzl in Wien. Mit zwei Tafeln. Mk. 4.—
Heft 8: Die Spielbreite der Symptome beim manisch-depressiven
Irresein. Von Prof. I)r. P. Schröder in Greifswald. Mk. 8.—
Heft 9: Die symptomatischen Psychosen und ihre Differential¬
diagnose. Von Priv.-Doz. l)r. Hans Krisch in Greifswald. Mk. 2.25
Heft 10: Die AbderhaldenscheReaktion mitbes.BerücksichtigungihrerEr-
gebnissei.d.Psychiatrie. Von Priv.-Doz.Dr.G.Ewa ld in Erlangen. Mk.9.—
Heft 11: Der extrapyramidale Symptomenkoraplex (das dystonische
Syndrom! und seine Bedeutung in der Neurologie. Von Prof.
Dr. G. Stertz in München (Vergriffen.)
Heft 12: Der anethische Symptomenkomplex. Eine Studie zur Psycho¬
pathologie d. Handlung. Von Priv.-Doz. Dr. O. Al brecht in Wien. Mk. 4.—
Heft 13: Die neurologische Forschungsrichtung in der Psychopatho¬
logie und andere Aufsätze. Von Prof. Dr. A.Pick in Prag. Mk. 8.-—
Heft 14: Ueber d. Entstehung d. Negrischen Körperchen. Von Prof. Dr.
L. Benedek u. Dr. F.O. Porsche in Kolozsvar. Mit 10 Tafeln Mk. 8 —
Heft 15: Ueber die Bedeutung und Entstehung der Stereotypien.
Von Priv.-Doz. Dr. .Jakob Kläsi in Zürich. Mk. 1.50
Heft 16: Ueber Psychoanalyse. Von Dozent Dr. R A11 e rs in Wien. Mk. 2.—
Heft 17: Die Zergliederung des psychischen Krankheitsbildes bei
Arteriosklerosis-cerebri. Von Nervenarzt Dr. S. J. R. de Monchy
in Rotterdam. Mk. 2.—
Heft 18: Epilepsie und manisch-depressives Irresein. Von Dr. H^ns
Krisch in Greifswald. Mk. 2 —
Heft 19: Ueber die paranoiden Reaktionen in der Haft. Von Dr.
W. Försterling in Landsberg a. d. W. Mk. 2 10
Heft 20: Dementia praecox. Intermediäre psychische Schicht und
Kleinhirn - Basalganglien - Stirnhirnsysteme. Von Priv.-Doz.
Dr. Ma x Loewy in Prag-Marienbad. Mk. 2.40
Heft 21: Metaphysik und Schizophrenie. Eine vergleichende psycho¬
logische Studie. Von Dr. G. Bychowski in Warschau. Mk. 3.60
Heft 22: Der Selbstmord. Von Priv.-Doz. Dr. med. R. Weichbrodt in
Frankfurt a. M. Mk. 0.90
Heft 23: Ueber die Stellung der Psychologie im Stammbaum der
Wissenschaften und die Dimension ihrer Grundbegriffe. Von
Dr. Heinz Ahlenstiel in Berlin. Mk. 1.80
Die Abonnenl^p der „Monatsschrift für Psychiatrie und Neurologie*
erhalten diese Abhandlungen zu einem ermäßigten Preise. __
Die obigen Preise sind Grundpreise, die. nach dem jeweiligen Fmreciinungsschliisscl
vervielfacht, die Verkaufspreise ergehen. Für das Ausland gelten obige Preise
in Schweizer Franken als Verkaufspreise. ohne jeden Aufschlag, mit Aus¬
nahme des Portos.
■J
ABHANDLUNGEN AUS DER NEUROLOGIE,
PSYCHIATRIE, PSYCHOLOGIE UND IHREN
GRENZGEBIETEN
BEIHEFTE ZUR MONATSSCHRIFT FÜR PSYCHIATRIE UND NEUROLOGIE
HERAUSGEGEBEN VON K. BONHOEFFER
HEFT 23
Uber die Stellung der
Psychologie im Stammbaum der
Wissenschaften und die Dimension
ihrer Grundbegriffe
Dr. Heinz Ahlensiiel
BERLIN 1923
VERLAG VON S. KARGER
KARLSTRASSE 15.
Medizinischer Verlag von S- Karger in Berlin NW. 6.
In den
Abhandlungen aus der Neurologie, Psychiatrie,
Psychologie und ihren Grenzgebieten
Beihefte z. Monatsschrift für Psychiatrie u. Neurologie, sind bisher erschienen:
Heft 1: Typhus und Nervensystem. Von Prof. Dr. Georg Stertz in
Breslau. (Vergriffen.)
Heft 2; Ueber die Bedeutung von Erblichkeit und Vorgeschichte
für das klinische Bild der progressiven Paralyse. Von Dr.
J. Fern et in Zürich. (Vergriffen.)
Heft 3* Kindersprache und Aphasie/ Gedanken zur Aphasielehre auf
Grund von Beobachtungen der kindlichen Sprachentwickelung und
ihrer Anomalie. Von Priv.-Doz. Dr. Emil Frischeis in Wien. Mk 5.50
Heft 4: Epilepsie und Dementia praecox. Von Professor Dr W.
Vorkastner in Greifswaid. Mk. 5.—
Heft 5: Forensisch-psychiatrische Erfahrungen im Kriege. Von Priv>
Doz. Dr. W. Schmidt ip Heidelberg. Mk. 8.—
Heft 6: Verbindung endogener und exogener Faktoren in dem
Symptomenbilde und der Pathogenese von Psychosen. Von
Priv.-Doz. Dr. Hans Seelert in Berlin. Mk. 3.50
Heft 7: Zur Klinik und Anatomie der reinen Worttaubheit, der
Heilungsaphasie und der Tontaubheit. Von Priv.-Doz. Dr. Otto
Pötzl in Wien. Mit zwei Tafeln. Mk. 4.—
Heft 8: Die Spielbreite der Symptome beim manisch-depressiven
Irresein. Von Prof. Dr. P. Schröder in Greifswald. Mk. 3.—
Heft 9: Die symptomatischen Psychosen und ihre Differential¬
diagnose. Von Priv.-Doz. I)r. Hans Krisch in Greifswald. Mk. 2.25
Heft 10: Die AbderhaldenscheReaktion mitbes.BerücksichtigungihrerEr¬
gebnisse i.d. Psychiatrie. Von Priv.-Doz. Dr.G.Ewald in Erlangen. Mk.9.—
Heft 11: Der extrapyramidale Symptomenkoraplex (das dystonische
Syndrom) und seine Bedeutung in der Neurologie. Von Prof.
Dr. G. Stertz in München (Vergriffen.)
Heft 12: Der anethische Symptomenkomplex. Eine Studie zur Psycho¬
pathologie d. Handlung. Von Priv.-Doz. Dr. 0. Al brecht in Wien. Mk. 4.—
Heft 13: Die neurologische Forschungsrichtung In der Psychopatho¬
logie und andere Aufsätze. Von Prof. Dr. A. Pick in Prag. Mk. 8.—
Heft 14: Ueber d. Entstehung d. Negrischen Körperchen. Von Prof. Dr.
L. Benedek u. Dr. F.O. Porsche in Koiozsvar. Mit 10 Tafeln Mk. 8
Heft 15: Ueber die Bedeutung und Entstehung der Stereotypien.
Von Priv.-Doz. Dr. Jakob Kläsi in Zürich. Mk. 1.50
Heft 16: Ueber Psychoanalyse. Von Dozent Dr. R A1 le rs in Wien. Mk. 2.—
Heft 17: Die Zergliederung des psychischen Krankheitsbildes bei
Arteriosklerosis-cerebri. Von Nervenarzt Dr. S. J. R. de Monchy
in Rotterdam. Mk. 2.—
Heft 18: Epilepsie und manisch-depressives Irresein. Von Dr. Hgns
Krisch in Greifswald. Mk. 2.—
Heft 19: Ueber die paranoiden Reaktionen in der Haft. Von Dr.
W. Försterling in Landsberg a, d. W. Mk. 2 10
Heft 20: Dementia praecox, intermediäre psychische Schicht und
Kleinhirn - Basalganglien - Stirnhirnsysteme. Von Priv.-Doz.
Dr. Max Loewy in Prag-Marienbad. Mk, 2.40
Heft 21: Metaphysik und Schizophrenie. Eine vergleichende psycho¬
logische Studie. Von Dr. G. Bychowski in Warschau. Mk. 3.60
Heft 22: Der Selbstmord. Von Priv.-Doz. Dr. med. R. Weichbrodt in
Frankfurt a. M. Mk. 0.90
Heft 23: Ueber die Stellung der Psychologie im Stammbaum der
Wissenschaften und die Dimension ihrer Grundbegriffe. Von
Dr. Heinz Ahlenstiel in Berlin. __ Mk. 1.80
Die Abonneitl^u der „Monatsschrift für Psychiatrie und Neurologie**
erhalten diese Abhandlungen zu einem ermäßigten Preise.
Die obigen Preise sind Grundpreise, die, mich dem jeweiligen UmrecimungsscbÜissel
vervielfacht, die Verkaufspreise ergeben. Für das Ausland gelteQ obige Preise
in Schweizer Franken als Verkaufspreise, ohne jeden Aufschlag, mit Aus¬
nahme des Portos.
ABHANDLUNGEN AUS DER NEUROLOGIE,
PSYCHIATRIE, PSYCHOLOGIE UND IHREN
GRENZGEBIETEN
BEIHEFTE ZUR MONATSSCHRIFT FÜR PSYCHIATRIE UND NEUROLOOIE
HERAUSOEOEBEN VON K. BONHOEFFER
HEFT 23
Uber die Stellung der
Psychologie im Stammbaum der
Wissenschaften und die Dimension
ihrer Grundbegriffe
Von
Dr. Heinz Ahlenstiel
BERLIN 1923
VERLAG VON S. KARGER
KARLSTRASSE 15.
Formal nach der Art ihrer Eingliederung im Universitätsbetriebe
wie inhaltlich nach der Art ihrer Fragestellung, ihrer engen grund¬
begrifflichen Verbindung mit der Philosophie ist die Psychologie von
heute noch ein Glied der Geisteswissenschaften. Sind auch vielfach,
wie in den experimentellen Zweigen, Berührungspunkte mit der Natur¬
wissenschaft vorhanden, so fühlt sie sich doch in ihrer Grundlage, in
der Auffassung des Wesens des Psychischen grundsätzlich geschieden
oder doch zum mindesten unabhängig von der Naturwissenschaft.
Auch in der Medizin teilt man ganz allgemein diese Stellung¬
nahme. Selbst dort, wo Versuche vorliegen, wie die der neueren
Temperamentlehre, deren Ausbau die medizinische Psychologie zu
einem der wichtigsten Gebiete der gesamten heutigen Psychologie
machen und das Schwergewicht so sehr nach der naturwissenschaft¬
lichen Seite verschieben müßte, daß ihr Verbleibenkönnen im geistes¬
wissenschaftlichen Verbände zum mindesten doch recht fraglich
werden würde, selbst dort ist man (ein allerdings nicht gerade selte¬
ner Vorgang) in der theoretischen Grundlegung konservativ geblie¬
ben, man ist sich zwar klar, daß unsere Vorstellungen über die Seele
und ihre Stellung im modernen Weltbild noch „widerspruchsvoll,
unabgeklärt, in einem Übergangsstadium begriffen“ sind, benutzt aber
doch erkenntnistheoretische Begriffe und Fragestellungen zur Grund¬
legung der Wissenschaft und glaubt beispielsweise etwas zu sagen,
wenn man sich eingangs zu einer erkenntnistheoretischen Einstellung
wie der des „spiritualistischen Monismus“ bekennt.
Auch die weiter zurückliegenden theoretischen Vorstöße zu¬
gunsten einer naturwissenschaftlichen Auffassung der psychologi¬
schen Grundbegriffe von einer Seite, die sonst aus ihrer ablehnenden
Stellung zu mancher Fragestellung der Philosophie kein Hehl gemacht
hat, haben an einem gewissen Punkte haltgemacht, auch hier hat
man das Bedürfnis behalten, sich zunächst erkenntnistheoretisch zu
orientieren, ein Beginnen, das für die restlos klare naturwissenschaft¬
liche Gestaltung des Bewußtseinsbegriffs und konsekutiver Frage¬
stellungen verhängnisvoll geworden ist.
4
Die grundlegende Orientierung mit den Mitteln der Erkenntnis¬
theorie am Anfang aller Psychologie ist in der Naturwissenschaft
eben noch ganz allgemein, bezeichnend ist, daß sie nicht einmal bei
den Vertretern der Richtungen vermißt wird, die am wenigsten Ver¬
anlassung hätten, an hergebrachte Anschauungen Konzessionen zu
machen.
Im folgenden wird nun versucht zu zeigen, daß die bisher
übliche, im Anschluß an die Erkenntnistheorie erfolgte grundlegende
Formulierung des Begriffes Psychisch nicht zu halten ist, daß sie
einen Widerspruch zu der Art und Weise des Begriffsgebrauchs be¬
deutet, durch den die Wissenschaft — nicht nur etwa die Natur¬
wissenschaft allein — groß geworden ist, daß die tatsächliche
Dimension der fraglichen Begriffe außerhalb erkenntnistheoretischer
Spekulation betrachtet eine völlig andere und den sonstigen natur¬
wissenschaftlichen Begriffen durchaus vergleichbare ist und daß eine
erkenntnistheoretische Grundlegung der Psychologie völlig inhaltslos
ist. Die Psychologie wird nach dieser Auffassung zur Naturwissen¬
schaft, zu einer Wissenschaft, die sich nicht nur einzelner natur¬
wissenschaftlicher Methoden bedient, sondern die in Forschungsziel
und Methodik ein organisches Glied jenes großen Körpers bildet,
dessen Hauptteil die unter dem Namen Naturwissenschaft zusammen¬
gefaßten Wissenschaften ausmachen. In dieser Auffassung gestaltet
sich die Fassung der psychologischen Grundbegriffe wie der wissen¬
schaftlichen Begriffe überhaupt so, daß schon die erkenntnistheore¬
tische Fragestellung entfällt, die ersteren erscheinen jedoch in einer
etwas anderen Beleuchtung als etwa auch vom Standpunkte des
materialistischen Monismus aus, diese wie jede andere Lösung des
Problems entfällt mit der Frage selbst.
Ehe wir uns zur Kritik des Begriffes Psychisch wenden, ist es
unerläßlich, auf Ziel und Wesen naturwissenschaftlicher Forschung
und Methodik überhaupt, wenn auch in äußerster Kürze, einzugehen,
ist doch das, was wir heute Naturwissenschaft nennen, kein irgend¬
wie mit theoretischer Begründung abzugrenzender Zweig des großen
Ganzen Wissenschaft, sondern nur der Teil, an dem sich ein Reini-
gungs- und Reifungsprozeß bereits vollzogen hat, der den restlichen
Teilgebieten der Wissenschaft, den sogenannten Geisteswissenschaf¬
ten, noch bevorsteht — der Psychologie beginnt er gerade eben
seinen charakteristischen Stempel aufzudrücken. Nur wenn wir ge¬
nügend weit zurücktreten, den ganzen Entwickelungsgang der
Wissenschaft überhaupt im Auge behalten und uns erinnern, daß
5
eben dieser Prozeß mit seinen Widerständen auch zum Teil ein
psychologisches Problem ist, dürfen wir hoffen, das Problem richtig
za sehen und die Kluft zwischen jenen beiden Gruppen richtig zu be¬
urteilen, in die heute noch unser wissenschaftliches Leben geschieden
ist, zwischen Naturwissenschaften und Geisteswissenschaften.
Versuchen wir ganz allgemein zunächst zu definieren, was wir
unter Wissenschaft vom naturwissenschaftlichen Standpunkte aus
zu verstehen haben. Angesichts der Tatsache, daß man sich — so
lange Jahre nachdem C o m t e bereits weit auf dem richtigen Wege
vorangeschritten war — heute noch gern bei der Frage nach der Ein¬
teilung der Wissenschaften auf Wundt und Stumpf bezieht, die
sich im Aufstellen L i n n § scher Systeme der Einzelwissenschaften
gefallen konnten unter ausdrücklicher Ablehnung der Auffassung,
die hier eine Berücksichtigung der Entwickelungstendenz forderte
(W. Wundt, 115, S. 28f., H. C. Stumpf, 103, S. 57), angesichts
dieser Tatsache ist zunächst darauf hinzuweisen, daß die Wissen¬
schaft niemals ein fester zu verwaltender Besitz, sondern eine Auf¬
gabe ist. Die Wissenschaft wird somit zu einer Aktion, einer Hand¬
lung. Die biologische Formel einer Handlung ist nun ihr Ziel und als
dies Ziel können wir mit Wilhelm 0 s t w a 1 d die „Voraussicht
künftiger Ereignisse zum Zwecke praktischer Prophezeiung“ setzen.
Der Zusatz praktisch darf hier nicht mißverständlich zu eng auf¬
gefaßt werden (0 s t w a 1 d selbst hat eine derartige Mißdeutung seiner
Auffassung scharf zurückgewiesen), er wendet sioh gegen ein Über¬
sehen der biologischen Bedeutung der Wissenschaft, dieser großen
intelligenten Orientierungsfunktion der Spezies Mensch, gegen eine
Verdunklung der Fragestellung, wie sie etwa Poincare (96) mit
der Forderung „la Science pour la Science“ in seiner Hymne über -den
Wert der Wissenschaft unterläuft. Die Wissenschaft arbeitet zwar
nicht auf Bestellung, sondern auf Lager, aber das, was sie herstellt,
ist brauchbares Werkzeug, zwar nicht der Forderung des Augenblicks
angepaßt, sondern für universellen Gebrauch bestimmt und kein
Luxusartikel. Wie vorsichtig man sein muß, ehe man ein Wissens¬
gebiet als außerhalb der praktischen Verwendungsmöglichkeit stehend
bezeichnet, und dem die Nutzbarkeit abspricht, was mit Helm-
boltz’ Worten „ohne direkte Aussicht auf möglichen Nutzen, nur
um der wissenschaftlichen Vollständigkeit der Gesamterkenntnis
wfllen“ gewonnen ist, zeigt das Beispiel C o m t e s selbst, der nach
Poincar6 die Ansicht aussprach, ,,qu’ il serait vain de chercher k
connaitre la composition du soleil“, ihn hat der Nachweis des luft-
6
schiffüllenden Heliums auf der Erde und der bestätigte Rückschluß,
den man auf die Häufigkeit des Skandiumvorkommens auf Grund
von Fixstemspektralanalysen machte, u. a. ad absurdum geführt.
Mit anderen Worten könnte man auch sagen, Ziel der Wissen¬
schaft ist die größtmöglichste Annäherung an die Laplacesche
Intelligenz mit universeller Voraussagefähigkeit, „une intelligence
qui par un instant donng connaitrait toutes les forces dont la nature
est animee et la Situation respective des etres qui la composent, si
d’ailleurs eile 6tait assez vaste pour soumettre ces donnGes ä l’analyse,
embresserait dans la meme formule les mouvements des plus
grands corps de l’univers et ceux du plus 16ger atome: rien ne
serait incertain pour eile et 1’ avenir comme le passte serait präsent
ä ses yeux“. (Laplace 71, S. Vif.)
Eine Spezies,' ausgerüstet mit einem Wissen, das dem der
Laplac eschen Intelligenz möglichst nahe käme, das die Frage
„was muß geschehen, damit“, in gleicher Weise beantworten könnte
wie die Frage: „was geschieht, wenn“, wäre biologisch gesehen die
beste an den Daseinskampf angepaßte Art.
Als handelnde und interessierte Person haben wir dabei nicht
eine Reihe einzelner Individuen, sondern eins der organismusartigen
Individuen hoher Ordnung im Sinne Verworns und Hertwigs
einzusetzen (Verworn 110, S. 71; 0. Hertwig 5, S. 15, S. 48ff.),
heute also teilweise den einzelnen modernen Kulturstaat, teilweise
die Gesamtheit derselben, jedenfalls eine Person fünfter Ordnung, wie
Verworn sagen würde, ein Gebilde, das ruhig ein paar Jahr¬
hunderte in einzelnen Wissensgebieten mit universeller Einstellung
arbeiten kann und nicht ängstlich darauf zu sehen braucht, daß
alles Erarbeitete sofort seine praktische Verwendung finde.
Unter Wissenschaft ist im folgenden immer nur die Komponente
reine Wissenschaft zu verstehen, in die praktisch realisierte, unter
diesem Namen gehende Resultante sind noch sehr viel andere Stre 1
bungen, unabweisbare praktische Forderungen des Alltags (wie in
Technik und Medizin), affektive Bedürfnisse, rein persönliche Ziele
und tausend Zufälligkeiten aller Art bestimmend eingegangen. Wie
erheblich der Fortschritt ist, den die Formulierung des Wissenscbafts-
begriffes durch Ostwald bedeutet, wird deutlich, wenn wir die
herkömmlichen inhaltslosen Definitionen betrachten, wie etwa die
zwei nachstehenden, die zwei gebräuchlichen Wörterbüchern der
Philosophie entstammen:
„Wissenschaft bedeutet . . . Material in objektivem Sinne den
durch Schrift und Leben überlieferten Schatz des Wissens der Mensch¬
heit, formal den nach logischen Regeln geordneten Inbegriff von
Uhrsätzen“ (62, S. 1104).
„Wissenschaft ist objektiv die systematische Einheit prinzipiell
zusammengehöriger, ein eigenes Gebiet ausmachender Erkenntnisse,
formal der methodische Betrieb der Forschung“ (42, S. 1856).
An dem eigentlichen Problem gehen diese Definitionen völlig
vorbei. Nur die oben gegebene Definition vermag ein Handlungsziel
wenigstens mit einer gewissen Präzision zu benennen, nur sie vermag
uns den Blickpunkt zu geben, den wir in praxi, ob eingestandener¬
maßen oder nicht, doch ständig vor Augen haben müssen. Bei der
Beurteilung des Fortschrittes, bei der Auswahl des Materials, bei der
Scheidung des wichtigen vom unwichtigen sind wir ständig ge¬
zwungen, Ziele zu setzen, die sich letzthin wieder nach einem gemein¬
samen Ziel orientieren. Dies Ostwaid sehe Ziel der Wissenschaft
ist das einzige, dessen Abstraktion aus der Aktion Wissenschaft bisher
gelungen ist, — dafür ist nicht Bedingung, daß nun dem Einzelnen
bei seiner Arbeit das Ziel bewußt vorschwebe oder daß ihm seine
Formulierung überhaupt möglich sei, es genügt, daß es sich aus seiner
Arbeit abstrahieren läßt. Nur diese Formel wird der biologischen
Dimension des Wissenschaftsbegriffes gerecht, und wenn man auch an
Bedeutung für die positive Arbeit in der Wissenschaft von ihr nicht
mehr verlangen darf, als eben eine so allgemeine Formulierung ent¬
halten kann, so liegt doch ein nicht zu unterschätzender Wert darin,
daß die Bezugnahme auf sie gestattet, die lästigen, immer wieder¬
kehrenden, die Fragestellung übersehenden Definitionsversuche des
Wissenschaftsbegriffs en bloc abzulehnen. (Anmerkung.)
Das Gebiet, auf das sich wissenschaftliche Arbeit erstreckt, läßt
sich in drei große Felder teilen, in das der
3 . Gesellschaftswissenschaften, 1 _
2 . Lebenswissenschaften 1 _
1. Arbeitswissenschaften 1
wobei deren Begriffe so weit zu fassen sind, daß in den drei Stufen
der in Frage kommende Bereich restlos aufgeteilt sei. Stufe 1 um¬
faßt alle Wissenschaften des Unbelebten (Astronomie, Physik,
Chemie, Mineralogie usw.), Stufe 2 die biologischen Wissenschaften
(allgemeine Biologie, Zoologie, Botanik, Physiologie usw.), Stufe 3
endlich die Geisteswissenschaften oder, wie wir sie besser nennen,
die Gesellschaftswissenschaften (Geschichte, Rechts- und Staats-
8
Wissenschaft, Sprachwissenschaft). Auf ihren Inhalt und Umfang
wird später noch zurückzukommen sein. (0 s t w a 1 d, 9, 10, 88, 84.)
Die Psychologie ist, wie hier vorwegnehmend bemerkt sei, eine
Grenzwissenschaft mit Anteilen aus der zweiten wie der dritten Stufe,
wenn auch zum größten Teile der letzteren angehörig.
Diese Einteilung berührt nur die materialen Wissenschaften.
Von den formalen oder Ordnungswissenschaften, wie der Mathematik
und verwandten Gebieten, sehen wir hier ab, da sie allein noch nicht
Wissenschaft im obigen Sinne sind, sondern erst in ihrer Anwendung
in einer der obigen Stufen die biologische Dimension einer (erhal¬
tungsgemäße Voraussage leistenden) Wissenschaft erhalten. Die
Stufenfolge des obigen Schemas, wie es von Wilhelm Ostwald
aufgestellt und hier durch die Fortlassung der formalen Wissenschaf¬
ten modifiziert ist, bringt den Reifezustand, den Kompliziertheitsgrad
wie die gegenseitige Abhängigkeit bzw. Unabhängigkeit der einzel¬
nen Stufen in der Gesetzaufstellung, Regel- und Begriffsbildung und
endlich damit auch die für jede Stufe erforderliche Vorbildung zum
Ausdruck. Diese Stufenfolge, die im wesentlichen schon auf C o m t e
zurückgeht, beginnt mit der Wissenschaft größten Umfanges und
kleinsten Inhaltes oder geringster Spezialisierung und schreitet unter
regelmäßiger Einengung nach oben fort. Auf die gegenseitige Ab¬
grenzung und das Verhältnis der einzelnen jeweils eine der drei Stu¬
fen zusammensetzenden Einzelwissenschaften brauchen wir hier nicht
einzugehen, gegenüber dem genannten Problem der begrifflichen Ab¬
hängigkeit usw. sind sie als Einheit aufzufassen.
Damit das obige Stufenschema sowie die ihm zugrunde gelegte
Definition der Wissenschaft gültig sei, müssen drei Voraussetzungen
erfüllt sein. Die erste bezieht sich auf die Arbeitswissenschaften
selbst. Zunächst muß — wir können uns hier kurz fassen — das
Kausalitätsprinzip als gültig vorausgesetzt werden. P e t z o 1 d
formuliert es unter dem Namen „Gesetz der Eindeutigkeit“ dahin
(86, Bd. I, S. 89): „Es lassen sich für jeden Vorgang Elemente bezw.
Mittel finden, vermöge deren kein anderer als der gerade vorliegende
beschrieben wird.“ Hilbert formuliert es für die Physik (58, H,
S. 61): „Aus der Kenntnis der 14 physikalischen Potentiale in der
Gegenwart folgen alle Aussagen über dieselben für die Zukunft not¬
wendig und eindeutig soweit sie physikalischen Sinn haben.“
Wir können das Gesetz hier kurz dahin formulieren, daß bei ide¬
aler Kenntnis aller arbeitswisBenschaftlicher Bedingungen eines Ge¬
schehens unter allen Umständen der fernere Verlauf eindeutig gegeben
9
ist. Negativ ausgedrückt: es gibt keine Zufallsmöglichkeiten, auch
nicht in Form jener mikroskopischen Lücken in der Kausalität, wie
sie beispielsweise Driesch in seinen indeterminierten, äquipoten¬
tiellen Systemen, an denen die Entelechie „leitend“ angreifen kann,
„ohne Arbeit zu leisten“, aufgestellt hat.
HansDriesch (38, vol. II, S. 185ff.): „We have not imputed
any action to entelechy that might seem to represent any amount of
energy in itself . . . we think it right to assume, that on the basis of
the Chemical System actually present in the organism an indefinite
though not strictly infinite variety of reactions regarding the pro-
duction of ferments is possible. It is this sum of possible reactions
that entelechy takes part in, suspending and relaxing suspensions
according to its purposes of regulation.“
In den Beweis, wieso die Annahme der eindeutigen Bestimmtheit
nach dem heutigen Stande unseres Wissens die sparsamste und daher
methodisch allein zulässig ist, braucht und kann hier nicht einge¬
treten werden.
Die zweite Voraussetzung betrifft das Verhältnis von Arbeits¬
wissenschaft zu Lebenswissenschaft. Man darf in dem Leben nur ein
— wenn auch hochkompliziertes — physiko-chemisches Geschehen
sehen, was dem sonstigen arbeitswissenschaftlichen Geschehen durch¬
aus vergleichbar ist und was nur darum begrifflich als belebt heraus¬
genommen ist, weil die Körper, die es zeigen (Organismen), die
Fähigkeit haben, solange die äußere energetische Situation im Sinne
Semons (102, S. 8) nicht über eine gewisse Breite hinaus schwankt,
sich in ihrer Spezies in der Umwelt zu erhalten. Mit anderen Wor¬
ten, wir müssen die Frage nach dem Wesen des Lebens in der Formu¬
lierung, wie sie Bütschli gestellt hat, bejahen: „Ist es zulässig,
das Entstehen des eigentümlichen Bedingungskomplexes, von dem
die Lebenserscheinungen abhängen, sowie dessen Fortschreiten zu
höherer Ausbildung als ein im Lauf der Erdentwickelung oder Welt¬
entwickelung zufällig eingetretenes zu beurteilen oder nicht?“
Da nun von den untersten Lebewesen bis zu den höchsten Stu¬
fen, die die psychischen Erscheinungen zeigen, eine lückenlose onto-
genetische und eine allerdings lückenhafte aber doch deutlich erkenn¬
bare phylogenetische Stufenfolge führt, müssen wir uns in dritter
Voraussetzung darüber klar sein, daß eine Theorie wie die der
Wechselwirkung mit der Bejahung der beiden obigen Voraussetzun¬
gen ausgeschlossen ist. Mit anderen Worten, auch die Aktionen der
mit einer Psyche versehenen Lebewesen müssen im Prinzip ebenso
eindeutig physiologisch und in letzter Linie arbeitswissenschaftlich
10
bestimmbar sein, wie die der niedersten Spezies, ja wie ein beliebiges
physiko-chemisches Geschehen.
Das Abhängigkeitsverhältnis, in dem die einzelnen Wissenschaf¬
ten miteinander stehen, ist folgendes: Das Stufenschema besagt: Die
Gesetzlichkeiten einer oberen Stufe können in letzter Linie immer
nur auf solche einer unteren Stufe erklärend zurückgeführt werden,
d. h. die Begriffe der Gesellschaftswissenschaften können nur in sol¬
chen der Lebenswissenschaften und diese wieder nur in solchen der
Arbeitswissenschaften ihre letzte erklärende Definition finden. Eine
Erklärung der Lebensvorgänge ist nur aus physiko-chemischem Ge¬
schehen möglich, des soziologischen, gesellschaftswissenschaftlichen
Geschehens nur aus physiologischem bzw. biologischem. Die Arbeit
in einer oberen Stufe setzt ein gewisses Vertrautsein mit allen unte¬
ren voraus, die höheren Stufen wurzeln in den niederen, aber nie
umgekehrt, der Physiologe muß Physiker und Chemiker sein, wäh¬
rend der Physiker von der Existenz einer Physiologie keine Kenntnis
zu haben braucht. Die Abhängigkeit ist eine völlig einseitige. Der
Stufenbau will mit dieser Anordnung der drei Gruppen übereinander
also beispielsweise besagen, daß ein Versuch der Bereicherung der
Arbeitswissenschäft durch der Psychologie entnommene Begriffe zii-
rückzuweisen ist, wie ihn etwa M e y n e r t unternahm, wenn er
sagte: „Bewußtseinsfähigkeit muß im Wesen des Atoms schlummern,
sonst könnte ein Komplex von Atomen, unser Gehirn, kein Bewußt¬
sein haben“, oder H a e c k e 1 mit seiner „Atomseele“ oder Mach-
P e t z o 1 d mit ihrer Zerlegung der Atome in „analytische Empfin¬
dungselemente“. Auf diese Versuche wird später zurückzukommen
sein.
Die Kompliziertheit der Wissenschaften entspricht ihrer Stufen¬
höhe, so ist das Leben das komplizierteste physiko-chemische, arbeits¬
wissenschaftliche Geschehen und das psychische oder — weiter ge¬
faßt — das auf psychischen Funktionen beruhende gesellschafts¬
wissenschaftliche, staatsorganistische das komplizierteste lebens¬
wissenschaftliche Geschehen.
Der ganze Stufenbau der Wissenschaften zeigt nun einen fort¬
schreitenden Prozeß der Organisierung, neben dem Wachsen in die
Breite durch registrierendes Anhäufen von Beobachtungen geht die
Arbeit einher, das einzelne isolierte für eine Voraussage nur be¬
schränkt verwertbare Geschehen als Spezialfall eines allgemeinen Ge¬
schehens zu erkennen, es, wie man sagt, zu erklären (cf. Helm-
h o 11 z, 5, Bd. I, S. 341; Bd. II, S.' 187). Möglichst viel Dinge und
Vorgänge dergestalt zu erklären, zu möglichst vielen Begriffen den
11
Oberbegriff zu finden, ist die Hauptaufgabe der Wissenschaft, da pro¬
portional mit dem Vorschreiten auf dieses Ziel ihre Fähigkeit zur
Voraussage aller Geschehensmöglichkeiten wächst. Der Reifezustand
der einzelnen Wissenschaften, gemessen an dieser Fähigkeit zur Vor¬
aussage, entspricht direkt dem Grade ihrer Mathematisierung, der von
Stufe 1 bis 3 entsprechend der steigenden Komplizierung fortschrei¬
tend abnimmt.
Helmholtz beurteilt den Fortschritt der Naturwissenschaft
nach dem Maße, in welchem die Kenntnis eines alle Naturerscheinun¬
gen umfassenden ursächlichen Zusammenhanges fortgeschritten ist
(5, Bd. I, S. 343). Die Führung haben hier die Arbeitswissenschaften
— für die Physik sieht Hilbert „die Möglichkeit nahegerückt, daß
aus ihr im Prinzip eine Wissenschaft von der Art der Geometrie
werde“ — (57,1, S. 407) —, es folgen die Lebenswissenschaften und
endlich in weitem Abstande die Gesellschaftswissenschaften, die sich
noch im Vorstadium der Wissenschaft befinden und erst Material für
die Gesetzlichkeiten Zusammentragen, die ihnen einmal eine voraus¬
schauende Beherrschung ihres Wissensgebietes ermöglichen sollen.
Man hat die Abhängigkeit der einzelnen Wissenschaften von¬
einander, wie sie oben angedeutet wurde, hier und da darum ver¬
kannt und geleugnet, weil die höheren Stufen in ihrer Regel und Be¬
griffsbildung teilweise selbständig vorgegangen sind. So beherrscht
die physikalisch-chemische Betrachtungsweise zwar die Physiologie
vollständig, in der allgemeinen Biologie spielt jedoch das Zurück¬
greifen auf die Grundwissenschaft keine Rolle, hier sind besondere
Betrachtungsweisen im Gebrauch, wie die teleologische, in deren
„finaler“ Richtung man einen grundsätzlichen Gegensatz zur kausalen
Forschungsweise zu sehen geglaubt hat.
Aber was heißt denn eigentlich teleologisch erklären?
Erklären heißt immer einen Spezialfall als Sonderfall eines um¬
fassenderen Geschehens deuten, und diese Gesetzlichkeit ist bei der
Teleologie eine Beobachtung, die wir ganz grob schematisch etwa
folgendermaßen ausdrücken können: Innerhalb einer gewissen
Schwankungsbreite der äußeren energetischen Situation haben die
Organismen die Fähigkeit, ihre Spezies zu erhalten. In den Dienst
dieses Erhaltungsbestrebens ist nun bis zu einem sehr hohen Grade,
solange die betrachteten Spezies bzw. das einzelne Individuum sich
nicht allzuweit von der Normbreite entfernt, die ganze Formgestal¬
tung und Organbildung gestellt, wie auch die ganze Organfunktion,
bis hinauf zur Handlung, wo seine Wirksamkeit sich bis in die Ziel-
12
setzung der einzelnen Handlungen und die Abstimmung ihrer spezi¬
fischen Schaltungskraft erstreckt.
Die teleologische Betrachtungsweise ist die bedeutungsvollste der
allgemeinen Biologie. Vielleicht läßt sich auch auf absehbare Zeit ihr
Ersatz durch eine physiologische, bei der maßlosen Kompliziertheit
der fraglichen Probleme und Objekte nicht einmal als möglich vor¬
stellen. Das hindert aber nicht, daß die teleologische Betrachtungs¬
weise eine behelfsmäßige und vorläufige und der kausalen durchaus
subordinierte Betrachtungsweise ist, und daß eben diese Stabilisie¬
rungsfähigkeit der Organismen selbst nur wieder durch physiko¬
chemische Mechanismen erklärbar ist. Was es dagegen besagen soll,
wenn man der Teleologie einen „höheren Wirklichkeitswert“ zu¬
schreibt, ist schwer zu verstehen.
Die dritte Stufe, die Gesellschaftswissenschaft, hat bisher nur in
einzelnen Teilwissenschaften (Sprachwissenschaft) engbegrenzte und
nur über kleinste Betrachtungskreise reichende Gesetzlichkeiten auf¬
gestellt. Von soziologischen, historischen, kulturgeschichtlichen
Gesetzlichkeiten ist bislang kaum die Rede. Dies darf uns nicht wun¬
der nehmen, da hier das komplizierteste Geschehen vorliegt. Zu
einer Resignation, zum Glauben, daß die Soziologie verurteilt sei,
ewig auf der Stufe kompilatorischen Materialsammelns zu verharren,
liegt nicht der geringste Anlaß vor. Nur darf man diese Leistung
nicht von heute auf morgen erwarten. Erste bedeutsame Ansätze
sind bereits gemacht in der Erkenntnis, daß sich der Staat mit einem
Metazoenorganismus vergleichen läßt und daß für die Leistung gegen
über der Umwelt wie für das Verhältnis der einzelnen zusammen-
setzenden Teilelemente (Zellen bzw. Personen) zueinander in puncto
Differenzierung und Zentralisation die gleichen Voraussetzungen gel¬
ten. Eine Ableitung von Gesetzlichkeiten aus dieser Analogie ist
freilich nur von physiologisch geschulter Seite möglich. Da die
Analogie nahezu eine vollständige ist, ist nur dort eine fruchtbare
Durchführung möglich, die mehr ist als ein interessanter Vergleich,
wo die tausendfache Wechselwirkung zwischen Zelle und Gesamt¬
organismus bis in Einzelheiten hinein bekannt ist.
Versuchen wir nun den Umfang des Arbeitsgebietes der Psycho¬
logie innerhalb des oben umrissenen Rahmens abzugrenzen. Was
gemeint ist, wenn wir ohne Spekulation leichthin von Psychologie
sprechen, ist klar. Wir meinen die Wissenschaft von der mensch¬
lichen Persönlichkeit, wie sie uns in Wort und Handlung entgegen¬
tritt, die Lehre von den Charakteren, den Temperamenten, den indi¬
viduellen Reaktionstypen, den Begabungen, den wirtschaftlichen
Eignungen, von den Handlungszielen, von der Art und Weise, wie
sich die Persönlichkeiten und ihre Aktionen (ganz individuell ge¬
sehen) unter den verschiedensten Einstellungen in den tausenderlei
verschiedenen Situationen des Lebens, oder, dem Alter, dem Ge¬
schlecht, dem Beruf, dem sozialen Niveau oder nationalen Verbände
nach (generell betrachtet) verhalten. Mit anderen Worten: Die Psy¬
chologie soll uns Menschenkenntnis vermitteln und mögliche Rich¬
tungen für Menschenbehandlung angeben, wenn wir ihre Aufgabe
ganz naiv formulieren wollen. Sie ist im Verein mit der Gesell¬
schaftswissenschaft die Wissenschaft, an die wir auf Schritt und Tritt
die meisten Fragen zu stellen haben.
Eine Psychologie in dem angedeuteten Ausmaß ist in einem
Wurf auch nur in den gröbsten Umrissen noch nicht einmal versucht
worden. Die physiologische Psychologie ist eine Grundlage der neuen
Wissenschaft, aber sie steht der Physiologie viel näher als der Psy¬
chologie. Erst in der Temperamentlehre betreten wir von physio¬
logischer Seite her eigentlich psychologischen Boden. Hier liegt die
eine große Wurzel der Psychologie. Ihre Entwicklungsfähigkeit nach
dieser Seite hin ist einstweilen noch nicht zu übersehen. Der anderen
Seite der Individualitätsdarstellung, der Darstellung von Anlagen,
Zielen, Dispositionen und Aktionen hat die Psychologie erst in locker
verbundenen Ansätzen nahezukommen versucht, von einem Gerecht¬
werden auch nur im Umfange der Fragestellung ist bisher noch nicht
die Rede. Die lebendige Menschenschilderung lag lange Zeit aus¬
schließlich und liegt auch heute noch zu einem wesentlichen Teile in
der Hand von Dichtern und Schriftstellern. Die Zeiten liegen doch
erst in jüngster Vergangenheit, daß jedes Lehrbuch der Psychologie
jedem guten Roman an eigentlichem psychologischen Gehalt weit
unterlegen war. Die Zeit ist aber reif dafür, an die lehrbuchmäßige
Erfassung von Menschenkenntnis, ja bis zu einem gewissen Grade
von Lebenserfahrung zu gehen. Ehe man zu Abstraktion von Ge¬
setzlichkeiten in weiterem Umfange wird vorgehen können, ist aller¬
dings noch ungeheuer viel deskriptive Arbeit zu leisten. — In ihren
letzten Fragestellungen geht die Psychologie in die allgemeine Ge¬
sellschaftswissenschaft über. Die Frage nach der psychologischen
Bedeutung der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Schicht,
des Sichbefindens in einer Berufsklasse, die Fragen nach dem Um¬
fange des Wirkungskreises, der Weite des Kreises, aus dem die Reize
bezogen werden, die Frage nach dem Horizont schlechthin und die
Frage nach den Verschiebungen die durch Differenzierungs- und Zen¬
tralisierungsprozeß des Staates, durch die rapiden Organbildungen
im Staatsorganismus auf technischem Wege in psychologischer Hin¬
sich bewirkt werden, sind nur im engsten Zusammenhänge mit den
übrigen Problemen der Gesellschaftswissenschaft zu lösen.
Wir können die Psychologie, wenn wir uns mit unserer Frage¬
stellung an den oben umrissenen streng systematischen Zusammen¬
hang der Wissenschaften halten, definieren als die Wissenschaft von
Menschen, eventuell auch der höheren Wirbeltiere, die nicht nach
dem physiologischen Körper, sondern nach der Handlung, der Hand¬
lungsdisposition, fragt, die allgemein biologisch-gesellschaftswissen¬
schaftlich nach dem Verhalten gegenüber der Umgebung und wich¬
tiger noch nach dem Verhalten im sozialen Verbände fragt (der letzte
Begriff dabei im weitesten Sinne gefaßt). Diese Psychologie hat zwei
große Wurzeln, die eine haftet in der Psychologie, die andere in der
Gesellschaftswissenschaft. Der Gegenstand ist ungeheuer kompli¬
ziert, prinzipiell ist er aber ebenso restlos möglicher Gegenstand der
Voraussage, wie etwa die Bewegung eines Himmelskörpers. Es ist
nicht ganz überflüssig, dies zu betonen, denn man hat gemeint, das
Wesen der Individualität sei mit Gesetzen nicht oder doch nicht
restlos auszuschöpfen. Auch bei William Stern finden sich
Äußerungen dieser Art, die bedenklich stimmen können und jeden¬
falls das Problem eher verdunkeln als erhellen. So heißt es bei¬
spielsweise (104, S. 3): „Individualität bedeutet stets Singularität.
Jedes Individuum ist ein in identischer Form nirgends und niemals
sonst vorhandenes Gebilde. An ihm betätigen sich wohl gewisse
Gesetzmäßigkeiten, in ihm verkörpern sich wohl gewisse Typen, es
ist in vielen Hinsichten mit anderen Individuen vergleichbar — aber
es geht nicht restlos auf in diesen Gesetzmäßigkeiten, Typen und
Gleichungen, stets bleibt ein Plus, durch welches es sich von anderen
Individuen unterscheidet, die den gleichen Gesetzen und Typen
unterliegen.“ Diese Behauptung ist entweder eine elementare Selbst¬
verständlichkeit, dann gilt sie keineswegs für die Psychologie allein
sondern überhaupt für die Wissenschaft, dann ist jedes Objekt in
seiner Besonderheit ein Individuum, beispielsweise jeder Vulkan,
aber es wäre doch sehr mißverständlich, wenn man sagen wollte, die¬
ser ginge nicht restlos in physiko-chemischen Gesetzmäßigkeiten auf.
Auch sein individueller Charakter ist gesetzmäßig bedingt, freilich
kommt man mit der Ableitung der jeweils gerade vorliegenden Kon¬
figuration einmal praktisch an einen Haltepunkt, man kann eben
immer nur von einem bestimmten Potentialwert zu einem bestimmten
Zeitpunkt aus ableiten. Aber dies ist schließlich eine der grund¬
legenden Selbstverständlichkeiten jeder Wissenschaft und klingt in
15
der Einleitung zu einem psychologischen Lehrbuch doch recht mi߬
verständlich.
Es wird sich später noch Gelegenheit bieten, auf den außer¬
ordentlich unglücklichen Unterschied einzugehen, den R i c k e r t
zwischen nomothetischer und idiographischer Betrachtungsweise kon¬
struiert hat. Die idiographische, den besonderen Vorfall schildernde
Betrachtungsweise hat ihre Bedeutung nur als Messung eines als Aus¬
gangswert in die Rechnung zu setzenden Faktors oder als Vorstufe der
nomothetischen, allgemeingültige Gesetzmäßigkeiten aufstellenden
Wissenschaft, so wird sich die Historie beispielsweise noch eine Weile
mit dieser Betrachtungsweise behelfen müssen, aber eine derartige
Feststellung ist höchstens zur Unterscheidung des Reifezustandes
zweier Wissenschaften brauchbar, keineswegs aber zur Aufstellung
irgendwelcher Gegensätzlichkeiten zwischen Naturwissenschaft und
Geisteswissenschaft. *
Bis hierher wird man von naturwissenschaftlicher Seite im all¬
gemeinen geneigt sein, der entwickelten Auffassung zuzustimmen,
— eine abweichende Ansicht, wie die der Neovitalisten aller Rich¬
tungen, muß sich nur darüber klar sein, daß sie zu recht weittragen¬
den Konsequenzen auf arbeitswissenschaftlichem Gebiet gezwungen
ist, zu deren weiterem Ausspinnen ihr doch wohl schließlich der Mut
fehlen würde, das gleiche gilt von den Anhängern einer Wechsel¬
wirkung. Aber auch dort, wo man die Berechtigung des entwickel¬
ten Standpunktes zugibt, wird man folgende Einwendung machen:
Die Möglichkeit einer Wissenschaft, wie sie oben umrissen wurde, sei
durchaus zugegeben, aber das Psychische ist doch eben etwas grund¬
sätzlich anderes als die Gesamtheit der Objekte, denen eben die
Untersuchung galt, es ist ein „ganz unvergleichbar anderes“, ein auf
ganz andere Weise in der „inneren Anschauung und Erfahrung“ ge¬
gebenes. Erst diese Frage führt uns zu unserem eigentlichen Pro¬
blem, doch möge man sich den etwas weiten Weg hierher nicht ver¬
drießen lassen, denn die Antwort auf diese Frage kann nur aus dem
Zusammenhang der oben entwickelten Gedankengänge heraus erfol¬
gen und verstanden werden.
Machen wir uns zunächst klar, was wir unter dem Begriffe
Psychisch im gewöhnlichen Sprachgebrauch verstehen. Jedesmal,
wenn wir in der Praxis des täglichen Lebens ohne Spekulation etwas
über die Psyche aussagen, machen wir damit in jedem Falle Aus¬
sagen bezüglich des Ob und Wie ganz bestimmter Funktionen des
16
fraglichen Individuums, und zwar sind es gewisse hochkomplizierte
und koordinierte Funktionen unseres Muskelapparates, unseres Or¬
gans für Effekt in der Außenwelt, auf die diese Aussagen gehen. Von
den sonstigen psychischen Funktionen an der glatten Muskulatur, an
den Drüsen usw., Funktionen, deren Effekt im wesentlichen auf den
Körper beschränkt bleibt und sich nicht in die Außenwelt hinein er¬
streckt, wird der Einfachheit wegen hier nicht die Rede sein, es ge¬
nügt, sich daran zu erinnern, daß sie da sind, an Bedeutung für die
Psychologie treten sie völlig hinter den Effektleistungen in der
Außenwelt zurück. — Überhaupt sei darauf hinzuweisen gestattet,
daß die Aufgabe dieser Darlegung nur die ist, die Dimension der
Grundbegriffe der Psychologie in systematisch-enzyklopädischem
Rahmen aufzuzeigen, um so endlich den Fehler einer alten mißbräuch¬
lichen Anwendungsform deutlich zu machen, aber nicht die, den In¬
halt des Begriffes für den Spezialforscher zu vertiefen. —
Wir können diese Funktionen negativ etwa so umreißen, daß wir
sagen, es handelt sich um alle Funktionen des benannten Organs, die
sich nicht als Reflexe darstellen. Diese Unterscheidung zwischen
psychischen und reflektorischen Funktionen ist eine völlig unmißver¬
ständliche. Unter normalen Verhältnissen wird kaum je ein Zweifel
entstehen können, ob eine Aktion oder Reaktion als psychisch oder
reflektorisch anzusehen ist. Für die Reflexe gilt etwa folgendes
Charakteristikum: Mit gegebenem Reiz oder mit einer geringen Zahl
gegebener Reize ist der resultierende motorische Effekt sofort gege¬
ben, einmal überhaupt als solcher, d. h. sein Auftreten ist nur von
Setzen weniger Reize abhängig und bleibt unbeeinflußt von der übri¬
gen gesamten äußeren energetischen Situation, dann ferner seiner
Gestaltung nach, d. h. diese ist bei vergleichbaren Individuen prak¬
tisch die gleiche. Innere und äußere energetische Situation,
individuelle Differenzen und Umgebungsbeschaffenheit spielen für
die Zeiträume, auf die sich unsere Aussage erstreckt, keine
Rolle, die reflektorischen Funktionen sind allein abhängig von
wenigen Reizen. Diese Reize sind, ebenso wie die resultierenden
Effekte, einfacher Natur. Hierdurch, sowie durch die Starrheit
ihrer Gestaltung und die Bestimmtheit ihres Eintretens erhalten
die reflektorischen Funktionen den Charakter des Maschinen¬
mäßigen. Demgegenüber gilt für die psychischen Funktionen:
Auch sie stellen Reizbeantwortungen dar, die Reize sind aber
sehr viel komplizierterer Natur, sie wirken gestaltmäßig, ganz geringe
Variationen lösen grundverschiedene Reaktionen aus, es ist ferner
eine individuell verschiedene Konstante in Rechnung zu setzen, die
17
gesamte äußere Situation hat ebenfalls eine mehr oder minder hohe
Bedeutung. Reiz und resultierender Effekt folgen vielfach zeitlich
durchaus nicht alsbald aufeinander, sondern können durch sehr lange
Zeiträume getrennt und derselbe einmalige Reiz kann mehreren zeit¬
lich und der Gestaltung nach geschiedenen motorischen Äußerungen
•zugeordnet sein. Die bewirkten Effekte sind ebenfalls meist hoch¬
komplizierte und erstrecken sich zum Teil über unvergleichlich län¬
gere Zeiträume. Dementsprechend stößt hier die Voraussage bezüg¬
lich der Gestaltung des Effektes und seiner zeitlichen Daten auf
außerordentliche Schwierigkeiten, so daß sie sich in der Regel nur in
Möglichkeiten bewegt.
Die angeführten Charakteristika unterscheiden die beiden Grup¬
pen nur graduell, prinzipielle Unterschiede haben sich bisher nie¬
mals finden lassen. Das Fehlen solcher Unterschiede berechtigt aber
nicht, diese Sonderung prinzipiell anzugreifen. So hat man gemeint,
da anzunehmen sei, daß die vom Willen abhängigen Innervationen
den gleichen Gesetzmäßigkeiten folgen wie die Reflexe, da also kein
prinzipieller Unterschied zwischen reflektorischer und willkürlicher
Bewegung bestünde, daß man darum die Unabhängigkeit vom Willen
und das Maschinenmäßige des Ablaufes als Charakteristika des
Reflexes fallen lassen müsse. Wer so argumentiert, begeht einen
Fehler gegen eine der Grundvoraussetzungen des Begriffsgebrauchs,
er vergißt, daß die Grenzen der Begriffe, wenn über¬
haupt, nur äußerst selten scharf sind, daß der
Inhalt der Begriffe ja gerade in der Begrenzung
liegt, und daß die Begriffe das an Gehalt ver¬
lieren, was sie an Volumen gewinnen, wenn wir
sie verwässern, daß wir begrifflich ganz allgemein auch nur
graduell Geschiedenes trennen, wobei es genügt, daß sich die Zentren
der Begriffe scharf voneinander scheiden lassen. Will man zum Aus¬
druck bringen, daß zwischen zwei Vorgängen, die als prinzipiell ge¬
sondert galten, kein solcher Unterschied besteht, so kann dies nur auf
die Weise geschehen, daß man die beiden Begriffe aus einem gemein¬
samen Oberbegriffe (im vorliegenden Falle wäre das „die durch Ver¬
mittlung von Nervenzellen erfolgende Reizbeantwortung“) als Son¬
derfälle ableitet. Die engen Begriffe bleiben in den meisten Fällen
trotz der Anerkennungen des Zusammenhanges nach wie vor not¬
wendig, und der ganze Gewinn besteht in der Verwirrung, die man
durch das Belegen eines weiteren Begriffes mit dem eingebürgerten
Wortsymbole eines engeren Begriffes angerichtet hat. Meist läßt
sich auch aus der Arbeit der Urheber derartiger Versuche der Beweis
Ahlenstiel, Ober die Stellung der Psychologie new. (AbhandL B. 23 .) 2
18
des Gesagten bringen, in der Praxis brauchen sie trotz ihrer De¬
finition die Begriffe im alten engen Sinne weiter.
Wie sehr die Dinge hier manchmal im argen liegen, auch dort,
wo man es nicht erwarten sollte, zeigt der Kampf Verworns gegen
den Ursachenbegriff (112). V. sah in dem Begriff der Ursache
noch ein spekulatives Element, das er zwar einmal besaß, aber
heute verloren hat und wollte den Begriff der Ursache zugunsten des
Begriffes der Bedingungen fallen lassen. Er übersah dabei, daß Ur¬
sache im gewöhnlichen Sprachgebrauch eben die für die fragliche
Betrachtung wichtigste Bedingung bedeutet und daß eine derartige
Begriffserweiterung, wie sie die Nivellierung des Ursachebegriffs auf
den Bedingungsbegriff bedeutet, eben nur die Preisgabe eines wert¬
vollen Arbeitsbegriffes darstellt.
Verwandt mit der obigen Fassung des Begriffes Psychisch ist die
Gestaltung dieses Begriffes in der Pathologie. Hier ist die Frage¬
stellung allerdings nicht ganz parallel gerichtet. Es handelt sich hier
um die Auswertung des organischen und des funktionellen Ursachen¬
anteils eines Symptoms. Wo die Fragestellung zusammenfällt ist die
Begriffgestaltung die gleiche, die durch die psychischen Funktionen
charakterisierten Funktionsabläufe sind biegsam, plastisch, modifika¬
tionsfähig, während die physischen starr sind (Bleuler, 29).
Die vorstehend charakterisierten Funktionsabläufe unseres Hand¬
lungsapparates sind nun jedesmal Inhalt unserer Aussage, wenn wir
etwas über die Psyche oder die psychischen Größen: Intelligenz,
Wille, Bewußtsein, Empfindung, Wahrnehmung, Gedächtnis, Charak¬
ter, Persönlichkeit aussagen. Diese schwerwiegende Tatsache hat
man vielfach scheinbar völlig vergessen. Jedesmal, wenn
wir die obigen Begriffe im Alltagsleben gebrau¬
chen, machen wir Aussagen über Art und Zeit des
Ablaufes jener oben beschriebenen durch ihre
Modifikationsfähigkeit ausgezeichneten Aktio¬
nen, wenn auch nur insoweit, daß wir gewisse Funktionen oder —
da es sich meist um hochkomplizierte koordinierte motorische Funk¬
tionen handelt von charakteristischem biologischen Effekt auf die
Umgebung, können wir statt dessen auch Handlungen sagen —
ganz allgemein als mögliche oder zu erwartende setzen und andere
als das Gegenteil ausschließen. Nur in der Bezugnahme
auf diesen Handlungsapparat haben die psycho¬
logischen Begriffe der Praxis ihren Inhalt. Cha¬
rakterisieren wir beispielsweise eine Persönlichkeit als heiter oder
traurig, willensstark oder willensschwach, intelligent oder dumm
19
osw., so machen wir damit — wenigstens in allgemeiner Form — be¬
stimmte Voraussetzungen bezüglich des bei ihr zu erwartenden Ver¬
haltens, wir schaffen bei uns eine charakteristische Einstellung ihr
gegenüber, deren Wie als allgemein bekannt hier nicht näher aus¬
geführt zu werden braucht.
Halten wir die Tatsache fest, der Begriff Psyche des alltäglichen
Sprachgebrauches hat einen Sinn, der klar und wohlumschrieben ist,
er deckt sich mit der oben getroffenen Begriffsbestimmung der Wis¬
senschaft der Psychologie. Wir haben unter Psyche also
den Inbegriff der Verhaltungsweise eines Orga¬
nismus gegenüber seiner lebenden und toten Um¬
gebung zu verstehen, soweit dieses Verhalten,
im wesentlichen bewirkt durch unser Hand¬
lungsorgan, plastisch, modifikationsfähig, ein¬
stellungsfähig und nicht maschinenmäßig und
starr ist. Dieser Begriff der Psyche, wie er uns im Alltags¬
gebrauch ohne Spekulation dient, ist also ein soziobiologischer und
keineswegs ein physiologischer Begriff. Er gilt nicht den das psychi¬
sche Verhalten steuernden Himfunktionen, von denen wir ja auch
bisher noch gar nichts wissen, sondern er geht auf Handlungen bzw.
auf Handlungsdispositionen. In diesem Sinne haben Psychologie und
Physiologie nichts miteinander zu tun.
In der Philosophie, speziell in der Erkenntnistheorie, steht nun
das Wortsymbol Psychisch für etwas grundsätzlich anderes, für etwas,
das nicht nur verschiedener, sondern „unvergleichbarer“ Art ist.
Es sei gestattet, im folgenden eine Reihe derartiger Verwendungen
des Wortsymbols Psychisch und der Wortsymbole anderer psycho¬
logischer Grundbegriffe zusammenzustellen, und zwar in wörtlichem
Zitat, zunächst ohne anschließende Kritik.
R. Avenarius: „Das Resultat unserer Untersuchung war, daß
alles Sein dem Inhalt nach als Empfindung, der Form nach als Be¬
wegung zu denken ist“ (14, S. 61).
W. v. Bechterew: „Wir brauchen kaum auseinander zu
setzen, daß wir objektiv keine exakten Kriterien der Bewußtheit
haben . . . Die Psychoreflexologie in unserem Sinne läßt die Er¬
scheinungen des Bewußtseins ganz beiseite . . . Man muß auch
noch bedenken, daß das Bewußtseinselement nichts in die sogenann¬
ten psychischen Vorgänge hineinbringt, was uns das Wesen der Vor¬
gänge selbst erklären oder sie von den unbewußten automatischen
Vorgängen unterscheiden lassen könnte“ (19, S. 8ff.).
E. Becher: „Die Wirklichkeit von Bewußt-Seelischem steht
mit völliger Sicherheit fest“ (17, S. 93).
2 *
20
E. Bleuler: „Unmittelbar kennen wir nur die (eigene) psychi¬
sche Reihe. Einen Existenzbeweis für die physische gibt es nicht
und kann es nicht geben“ (28, S. 17).
E. du Bois Reymond: „Kein mathematisch überlegender
Verstand könnte in beiden Fällen (Hören eines Akkords und Ge¬
branntwerden mit einem Glüheisen. Ref.) a priori bestimmen, wel¬
ches der angenehme und welches der schmerzhafte Vorgang sei. Daß
es vollends unmöglich sei und stets bleiben werde, höhere geistige
Vorgänge aus der als bekannt vorausgesetzten Mechanik der Him-
atome zu verstehen, bedarf nicht der Ausführung . . . Unser Natur¬
erkennen ist also eingeschlossen zwischen den beiden Grenzen, wel¬
che die Unfähigkeit, einerseits Materie und Kraft zu verstehen, an¬
dererseits geistige Vorgänge aus materiellen Bedingungen herzulei¬
ten, ihm ewig steckt“ (33, S. 42).
Driesch: „Am Anfänge alles Philosophierens steht der allein
von allen Sachverhalten völlig unbezweifelbare Ursachverhalt. Ich
habe bewußt geordnetes Etwas . . . Unsagbar verwoben ist das eine,
was ich da habe, im vollsten eigensten Sinn des Wortes, denn ein
eigentliches Sagen gibt es hier nicht, weil die Sprachen mit Rücksicht
auf die Bedürfnisse des Naturerfassens, aber nicht mit Rücksicht auf
die Bedürfnisse des Seelenerfassens gebildet wurden“ (37, S. 91, S. 57).
Ebbinghaus: „Seele und Nervensystem sind nichts real Ge¬
trenntes und einander Gegenüberstehendes, sondern sie sind ein und
derselbe reale Verband, nur dieser in verschiedenen und auseinander¬
fallenden Manifestationsweisen. Seele ist dieser reichhaltige Ver¬
band, so wie er sich gibt und darstellt für seine eigenen Glieder, für
die ihm angehörigen Teilrealitäten. Gehirn ist derselbe Verband,
so, wie er sich anderen analog gebauten Verbänden darstellt, wenn
er von diesen, menschlich ausgedrückt, gesehen und getastet
wird“ (41).
Friedrich J o d 1: „Auf der Scheidung von äußerer und in¬
nerer Erfahrung beruht die Trennung der Psychologie von den Natur¬
wissenschaften, welche die Inhalte der äußeren Erfahrung bearbei¬
ten . . . Naturwissenschaft und Psychologie können also niemals
dasselbe Objekt zu bearbeiten haben“ (61). .
H ä b e r 1 i n: „Psychologie allein verarbeitet Wirklichkeits¬
material . . . Naturwissenschaft hat in gewissem Sinne keine Idee,
materialiter nämlich, denn sie verzichtet grundsätzlich auf Erkennt¬
nis der im Sinne der Bestimmtheit wahren Wirklichkeit. Aber aller¬
dings ist auch sie begründet in der Idee der Psychologie (weil dies
die Idee der empirischen Wissenschaft ist), doch erst mittelbar . . .
21
Und auch sie sucht die psychische Wirklichkeit, bescheidet sich aber
mit ihrem allgemeinen Bilde. So ist auch Naturwissenschaft nach
Material und Gegenstand eine Psychologie“ (49, S. 114, S. 146).
K r ä p e 1 i n: „Ja, wir könnten das eindringendste Verständnis
für alle in der Hirnrinde sich abspielenden körperlichen Vorgänge
besitzen, ohne an sich auch nur einen Augenblick zu der Vermutung
gezwungen zu werden, daß wir in jenem Gebiete den Träger des
Seelenlebens vor uns haben. Aus diesen Erwägungen ergibt sich die
Notwendigkeit, außer den körperlichen Zuständen der Hirnrinde auch
die seelischen Erscheinungsformen jener letzteren gesondert zu er¬
forschen. Wir erhalten auf diese Weise zwei Reihen innig miteinan¬
der verbundener, aber ihrem Wesen nach unvergleichbarer Tat¬
sachen, das körperliche und das psychische Geschehen“ (65, Bd. I,
S. 7f.).
H. Kleinpeter: „Was psychisch ist, wissen wir aus unserer
direkten Erfahrung, wir erleben es, es anderweitig ersetzen oder be¬
schreiben zu wollen, hat gar keinen Sinn“ (63, S. 248).
Fr. Kraus: „Das psychische Geschehen ist stets begleitet von
einem physischen“ (66, S. 366, S. 377). „Die Person ist nicht psy¬
chisch oder physisch, sie ist neutral.“
Kretschmer: „Andererseits vergißt der Materialismus, daß
die Materie uns niemals direkt, sondern nur in Form seelischer Emp¬
findungen gegeben, daß also die primäre und unmittelbare Erfahrung
stets die psychische ist.“
„Immerhin wird man sagen dürfen, daß gewisse Ausprägungen
des spiritualistischen Monismus diejenige Weltanschauung bilden,
die offenbar dem geschulten modernen Denken noch am besten ent¬
spricht. Eine Weltanschauung also, die unter strenger Betonung
einer letzten Einheit aller Dinge den empirisch unzweifelhaften Er¬
kenntnisprimat des Seelischen vor dem Materiellen anerkennt, die
weiß, daß uns in unserer Erkenntnis unmittelbar nur Seelisches ge¬
geben ist“ (67, S. 11).
Th. Lipps: „Das Ich ist ein doppeltes Auge, nämlich ein sinn¬
liches und zum anderen ein geistiges Auge. Das Bewußtseinswirk¬
liche ist das unmittelbar oder das erste Wirkliche. Und dies muß
zugleich als das letzte Wirkliche gedacht werden“ (72, S. 105ff.).
„Die körperlichen Vorgänge und die ihnen zugrunde liegenden
mechanischen Gehimprozesse samt ihrem Substrat, dem Gehirn, sind
der Gegenstand der Forschung des Physiologen, allgemeiner gesagt:
der naturwissenschaftlichen Erkenntnis. Diese aber besteht hier wie
überall in der Fassung des zu erkennenden in die allgemeinen mecha-
22
nisehen Begriffe und die Unterordnung desselben unter mechanische
Gesetzmäßigkeiten. In diesem Begriffssystem und dieser Gesetz¬
mäßigkeit findet aber das Bewußtsein keine Stelle. Dagegen hat es
die Psychologie einzig zu tun mit jener Seele und dem, was in ihr
geschieht. Sie geht aus von den Bewußtseinserlebnissen und be¬
stimmt das reale seelische Geschehen, wie es diese Bewußtseinserleb¬
nisse fordern. Mit einem Worte, Physiologie, insbesondere des Ge¬
hirns, und Psychologie sind Wissenschaften, die in ganz verschie¬
denen Welten sich bewegen und absolut voneinander geschieden
sind. — Das psychologische Denken aber schließt vor allem dies in
sich, daß man Bewußtseinstatsachen nicht an Begriffen mißt, die aus
einer anderen Sprache, etwa der physikalischen oder auch der bio¬
logischen, hergenommen sind, sondern daß man seine Begriffe einzig
gewinnt aus der Beobachtung der Bewußtseinserlebnisse“ (73,
8. 39ff.).
F. A. L a n g e: „Man muß sich zu dem Schlüsse erheben können,
daß also das ganze Tun und Treiben des Menschen, des Einzelnen
wie der Völker, durchaus so vor sich gehen könnte, wie es wirklich
vor sich geht, ohne daß übrigens auch nur in einem einzigen dieser
Individuen irgend etwas wie Gedanke, Empfindung usw. vor sich
ginge“ (70, S. 155).
Ernst Mach: „Vielmehr ist das Ding ein Gedankensymbol
für einen Empfindungskomplex von relativer Stabilität. Nicht die
Dinge, Körper, sondern Farben, Drucke, Räume, Zeiten (das, was wir
gewöhnlich Empfindungen nennen) sind eigentliche Elemente der
Welt“ (75, S. 458f.).
„. . . Aufgabe der Physik, die Gesetze des Zusammenhanges der
Empfindungen (Wahrnehmungen) aufzufinden“ (77, S. 58).
J. P. M o e b i u s: „Jeder kann nur an einer einzigen Stelle in
das Innere sehen, nämlich in sich selbst. Er schreibt seinen Mit¬
menschen ähnliches zu, wie er es in sich findet, aber er schließt nur
darauf aus Analogie, egomorphistisch sozusagen. Empirische Psy¬
chologie kann daher nur Selbstbeobachtung mit denkender Bearbei¬
tung sein. Alles, was über die Möglichkeit der Erfahrung hinaus¬
geht, nennen wir Metaphysik, eine Psychologie daher, die den An¬
spruch auf Allgemeingültigkeit erhebt, ist Metaphysik. Erst recht
Metaphysik ist jede Psychologie, die über, den Menschen hinaus-
greift“ (79, S. 12).
C. von Monakow: „In der Horme erblicke ich die Urgenesis,
das sich fortgesetzt entzündende und latent glimmende Feuer des
Lebens. Die Horme, welche einen metaphysischen Begriff darstellt,
23
— sie ist das objektive Gegenstück der von jedem bewußt gefühlten
Seele — bildet den Mittelpunkt jeder seelischen Manifestation, und
zwar nicht nur beim Menschen, sondern auch beim Tier“ (80, S. 19).
H. Münsterberg: „Der Weg zur Psychologie muß von der
Philosophie ausgehen. — Das psychische Objekt ist nur einem erfahr¬
bar. Der fremde Bewußtseinsvorgang kann somit nicht für uns da
sein, sondern muß für das fremde Subjekt existieren.
Sobald wir aber im Auge behalten, daß alles Psychische aus der
Aktualität wirklicher Subjekte stammt, so werden wir für die Psy¬
chologie das Recht zurückfordem, unabhängig von naturwissen¬
schaftlichen Konstruktionen, nur aus dem Zusammenhänge des
Lebens über das Dasein psychischer Objekte zu urteilen, aus ihren
eigenen Bedürfnissen heraus ihre Hilfsbegriffe zu bilden“ (81, S. 1,
S. 104).
Wilhelm Ostwald: „Hiernach schlage ich vor, das Be¬
wußtsein als eine Eigenschaft einer besonderen Art der Nervenenergie
aufzufassen.“ — Es muß „während des Denkens ein Anteil der ge¬
wöhnlichen Energien verschwunden sein“ (82, S. 378ff.).
Friedrich Paulsen: „Der psychische Vorgang ist an sich
nichts als ein physischer Prozeß. Wenn der Materialismus hieran
entschlossen festhält, dann ist er durchaus unwiderleglich. Der Satz,
Gedanken sind eigentlich nichts anderes als Bewegungen im Gehirn,
ist völlig unwiderleglich. Freilich nicht weil er wahr, sondern weil
er absolut sinnlos ist, das Sinnlose teilt mit der Wahrheit den Vor¬
zug, daß es nicht widerlegt werden kann. Ein Gedanke, der im
Grunde nichts-anderes als eine Bewegung ist, ist ein Eisen, das
eigentlich von Holz ist. Dagegen ist nicht zu disputieren, man kann
nur sagen, ich verstehe unter einem Gedanken einen Gedanken und
nicht eine Bewegung von Gehimmolekülen“ (88, S. 91).
„Seele ist die auf nicht weiter sagbare Weise zur Einheit ver¬
bundene Vielheit innerer Erlebnisse“ (88, S. 887).
„Erkennen wir unser eigenes Innere wie es an sich ist? Sicher¬
lich, es ist im Bewußtsein, wie es an sich ist“ (88, S. 394).
J. P e t z o 1 d t: „Innerhalb des Gebietes des psychologischen Ge¬
schehens fehlt die eindeutige Bestimmtheit“ (11, S. 90).
„Unter dem psychophysischen Parallelismus habe ich immer nur
die Lehre verstanden, daß das psychische Leben, wenn es soll be¬
griffen werden, in allen seinen Phasen eindeutig Vorgängen des Zen¬
tralnervensystems zugeordnet werden müsse oder daß es keine
Empfindung und Vorstellung geben könne, ohne einen gleichzeitigen
Vorgang im Gehirn“ (91, S. 288).
24
B 6 1 a R 6 y e s z: . eine sichere Tatsache, daß das Psy¬
chische an einen Ort nicht gebunden sein kann“ (100, S. 303).
Reinke: „Die psychischen Vorgänge in den Lebewesen halte
ich nicht für materiell oder energetisch, sondern für supramateriell,
soweit sie auf das körperliche Substrat einwirken, kann man sie
supramaterielle Kräfte nennen“ (98, S. 62).
Reichardt: „Was man Seele im alten ursprünglichen Sinn
genannt hat, dies ist also eine unmittelbare, nicht weiter zu definie¬
rende, an sich vorpsychische Lebenserscheinung. — Das Seelische,
Psychische, sich im Bewußtsein abspielende, durch unmittelbare Er¬
fahrung gegebene ist gewissermaßen das Instrument, dessen sich die
Zentralstelle . . . bedient, um sich . . . zweckmäßig zu betätigen“
(97, S. 172ff.).
William Stern: „Psychisch nennen wir diejenigen Phäno¬
mene, welche Gegenstände innerer, dem Erlebenden allein zugäng¬
licher Erfahrung sind oder sein können. . . . Physisch nennen wir
diejenigen Phänomene, welche Gegenstände äußerer, also mit ande¬
ren Menschen gemeinsamer Erfahrung sind oder sein können. . . .
Die Alternative Psychisch-Physisch kann lediglich für die Phänomene
als zureichend erkannt werden, an die personalen Akte des Indivi¬
duums reicht die phänomenale Scheidung von psychisch und physisch
gar nicht mehr heran, sie sind psychophysisch neutral“ (104, S. 19ff.).
Stumpf: „Es liegt hierin (in der Tatsache, Ref., „daß das er¬
schließbare eigene psychische Leben vor dem gegenwärtigen Moment
sowie das fremde psychische Leben, das wir aus seinen Äußerungen
mit annähernder Sicherheit erschließen können, qualitativ dem un¬
mittelbar Gegebenen gleichartig ist“) doch ein gewaltiger erkenntnis-
theoretischer Vorzug gegenüber den Naturwissenschaften, der sehr
wohl als Ausgleich für die Unmöglichkeit räumlicher Maßbestimmun-
gen beim Psychischen gelten kann“ (107, S. 21).
V a i h i n g e r: „Als letzte unmittelbare Wirklichkeit ist uns
streng genommen aber doch immer nur die Empfindung gegeben.
Hier verwickelt man sich freilich in ein Labyrinth von Fragen. . . .
Soviel scheint aber doch wahrscheinlich, daß die Reduktion der
Atombewegungen auf Empfindungen leichter ist als das umgekehrte.
Die Empfindungen sind uns zuerst gegeben und die Ausdeutung der¬
selben zu materiellen Körpern scheint doch später zu sein. . . .“
(108, S. 99).
Max Verworn: „Es ist richtig, daß ich die Welt nur als die
Summe meiner Empfindungen und Vorstellungen kenne, aber es ist
falsch, daraus zu folgern, daß nichts weiter existiert . . .“ (12, S. 22).
25
Wilhelm Wundt: „Das Bewußtsein und die es begleitenden
Gehimprozesse begrenzen sich aber nicht im mindesten, sondern sie
sind, vom Standpunkte der Naturerkenntnis betrachtet, Funktionen
von an sich unvergleichbarer Art, die im Verhältnis unabänderlicher
Koexistenz stehen“ (114, S. 331).
Ziehen: „AU© Argumente, die gegen ihn (den Materialismus,
Ref.) vorgebracht werden, lassen sich kurz in den Satz zusämmen-
fassen, daß selbst die kompliziertesten chemischen Verbindungen, die
wir uns ersinnen könnten, doch eben immer nur physikalisch-chemi¬
sche Prozesse sind und der Materialismus schlechterdings nicht im¬
stande ist, uns ein gemeinschaftliches durchgängiges Merkmal oder
irgendeinen Übergang von diesen chemisch-physikalischen Prozessen
zu den psychischen nachzuweisen. Gegenüber diesem Argument ist
der Materialismus in der Tat ohnmächtig“ (119, S. 50).
Wir haben eine bunte Reihe von Anwendungsformen des Wort-
symboles Psychisch wie der damit fast gleichartig gebrauchten
Symbole Bewußtsein und Empfindung an uns vorüber ziehen lassen
und zwar in wörtlicher Wiedergabe. Diese erschien darum angebracht,
weil ein Referat über das hier gesagte nur möglich ist, wenn wir den
Begriff Psychisch in der hier gebrauchten Art überhaupt als ernstlich
diskussionsfähig annehmen. Hier müssen wir den Trennungsstrich
machen, wir müssen der unzählige Mal wiederholten, aber durch die
Wiederholung nicht mit einem Inhalt beschenkten Behauptung zu
Leibe rücken, daß uns in „innerer“ Erfahrung ein Etwas, eben das
Psychische, gegeben sei. Wir müssen dem ..unsagbaren“ Psychischen
das unvorstellbar entgegensetzen. Nur an dieser Stelle
istdas Problem anzugreifen. Das Befremden, das dieses
Vorgehen gegenüber dem „einzigen völlig unbezweifelbaren Ursach-
verhalt“ zunächst hervorrufen mag, schwindet, sobald wir uns die
Verwendung des Wortsymboles Psychisch näher ansehen.
Es handelt sich bei den oben angeführten Verwendungsweisen
des Wortes Psychisch nicht mehr um begrifflichen Gebrauch, wenig¬
stens nicht, wenn wir einem Begriff den Sinn geben, den er eben in
der Praxis für uns enthält, wenn wir in ihm überhaupt noch ein defi-
nitionsfähiges Gebilde sehen. Hier verstehen wir unter einem Begriffe
eine Gesamtheit miteinander verbundener Merkmale, deren Zusam¬
menhang abstrahiert ist aus einer Reihe von Erfahrungen. Von dem
Besitz eines Begriffes sprechen wir dann, wenn jemand fähig ist, alle
oder meist nur die für den betrachteten Punkt in Frage kommenden
26
* Qualitäten bei seinem aktiven Angreifen (Begreifen) des Objektes
richtig als Voraussetzungen einzusetzen. — Für die Gesamtheit aller
der Eigentümlichkeiten, die der Begriff umfaßt, steht ein Zeichen,
das Wortsymbol des Begriffes. Dies Zeichen allein sagt nichts aus,
nur insoweit, als es für die damit gedeckten Merkmale steht. Was
psychisch und physisch in der Praxis der Umgangssprache bedeuten,
das ist, sahen wir oben, ein fester Begriff, der wohl verständlich ist,
die in den oben angeführten Aussagen statthabende Verwendung des
Wortsymbols Psychisch können wir dagegen nicht mit irgendeinem
begrifflichen Inhalt erfüllen.
Was soll es denn heißen, das „undefinierbare“, in der „inneren
Erfahrung gegebene“ Psychische? Wenn wir unter „innen“, „geben“
und „Erfahrung“ das verstehen sollen, was wir gewöhnlich darunter
verstehen, dann können wir nur sagen, wir verstehen nicht, was es
heißt, „in innerer Erfahrung etwas gegeben“ bekommen.
Hier liegt der Schwerpunkt unserer Darlegung, wir müssen uns
darüber klar werden, daß die psychische der „inneren Erfahrung“
nichts ist, daß einen begrifflichen oder überhaupt verständlichen
Inhalt hat. Es ist sehr wohl klar, was der Begriff Psychisch in der
Umgangssprache, ohne jede Spekulation gebraucht, besagt, hier hat
er die besprochene soziobiologische Dimension, ein Umstand, den man
vielfach übersehen hat. Wird dagegen dies Wortsymbol seines gan¬
zen begrifflichen Gehaltes aus der Praxis entkleidet, so wird es so
nichtssagend wie eine beliebige Wortneubildung.
Charakteristisch für das Verkennen der Dimension des Begriffes
psychisch der Umgangssprache ist die Auffassung, wie sie etwa
Jaspers entwickelt (58, S. 14).
„Von der Einsicht in den prinzipiellen Gegensatz statischen Ver¬
stehens zur sinnlichen Wahrnehmung, genetischen Verstehens zum
Erklären, hängt die Möglichkeit eines geordneten Studiums und eines
klaren Forschens in der Psychopathologie ab. Es handelt sich hier
um völlig verschiedene letzte Erkenntnisquellen. Es gibt Forscher,
die die Neigung besitzen, diese Erkenntnisquellen für die Wissen¬
schaft zu leugnen, die nur das sinnlich Wahrnehmbare als solches,
nicht das durch das Sinnliche hindurch Verstandene als objektiv gel¬
ten lassen wollen. Dagegen ist nichts einzuwenden, insofern man
nicht mehr einen Beweis für die Berechtigung einer letzten Erkennt¬
nisquelle bringen kann. Aber man kann unter allen Umständen Kon¬
sequenz fordern. Diese Forscher müssen, um widerspruchslos zu blei¬
ben, aufhören, von Seelischem überhaupt zu reden, an Seelisches als
Wissenschaftler überhaupt zu denken, sie müssen aufhören Psycho-
27
pathologie zu treiben, sich vielmehr auf Himprozesse und körper¬
liche Vorgänge bei ihrem Studium beschränken. Sie müssen kon¬
sequenterweise aufhören, als Sachverständige vor Gericht aufzu¬
treten, denn sie wissen nach ihrer eigenen Ansicht von dem, wonach
sie gefragt werden, wissenschaftlich nichts; sie dürfen nicht die Seele,
sondern nur das Gehirn begutachten . .
Hier wird, und das geschieht in der Regel, übersehen, daß Be¬
griff Psychisch der Umgangssprache eben gar nicht auf das nach viel¬
facher Ansicht ja eben auch „unsagbare innere Erleben“ geht, son¬
dern daß die psychologischen Begriffe des gemeinen Sprachgebrauchs
immer Aussagen machen bezüglich des — ganz allgemein gesprochen
— handlungsmäßigen und sozialen Verhaltens, wissenschaftlich aus¬
gedrückt der plastischen Aktion des fraglichen Objektes.
Wir haben ein volles Recht, von Seele zu
sprechen, denn in der Praxis wird dieses Wort -
Symbol mit dem eingangs scharf umrissenen Be¬
griff verbunden und erschöpft in diesem Begriff
seinen Inhalt; daß daneben noch ein inhalt- und begriffloser,
noch nicht einmal gleichnismäßiger Gebrauch oder richtiger Mi߬
brauch desselben Wortsymbols in der Philosophie vorliegt, der nur
aus der Verwendung eben dieser fremden Firmenmarke einen Schein
von Solidität erhält, kann uns nicht zum Vorwurf gemacht werden.
Die ganze philosophische und speziell die erkenntnistheoretische
Spekulation lebt überhaupt nur davon, daß sie die Wortsymbole der
klaren Begriffe Psychisch und Physisch der Alltagssprache benutzt,
aber ohne deren Inhalt, und so bei flüchtiger Betrachtung den Schein
von Verständlichkeit erhält, setzt man die Begriffe mit ihrer tat¬
sächlichen Dimension in diese Fragestellungen ein, so werden diese
sofort wesenlos.
Alle Probleme dieser Art: Idealismus — Mate¬
rialismus — Parallelismus, Empirismus — Ratio¬
nalismus, Realismus — Phänomenalismus kann
man nicht einmal aufwerfen, ohne sich der hoff¬
nungslosesten Doppelsinnigkeit schuldig zu
machen. Die Kritik hat hier bei der Fragestellung einzusetzen.
Was soll es heißen, wenn man beispielsweise nach der Realität
der Atome (Elektronen) fragt. Wenn man damit nicht ernstlich zur
Diskussion stellen will, ob hunderte von Physikern und Chemikern
an verschiedenen Orten zu verschiedenen Zeiten bei experimentellen
Beobachtungen das Opfer genau gleichartiger Sinnestäuschungen
beim Ablesen ihrer Instrumente geworden sind, ist die Frage völlig
28
sinnlos. Den Begriff Real kann man nur auf Inhalte
von Wahrnehmungen anwenden, ich kann fragen, ob
die Person, die ich jetzt vor mir sehe, wirklich oder eine Vision ist.
Von den Wahrnehmungen aber versuchen wir weiter zu den Begriffen
zu gelangen, indem wir aus den vorliegenden Reihen nach Möglich¬
keit abstrahieren und es heißt die Realität aller dieser Wahrnehmun¬
gen bezweifeln, wenn wir nach der Realität der aus ihnen gewonne¬
nen Begriffe fragen. Bei einem Begriffe aber fragen
wir, ob er richtig oder vollständig sei, in dem oder
dem Punkte. Plank (94, S. 73) hat sich sehr deutlich in diesem
Sinne ausgesprochen: „Die Atome, so wenig wir von ihren näheren
Eigenschaften wissen, sind nicht mehr und nicht weniger real, als
die Himmelskörper oder als die uns umgebenden irdischen Objekte,
,und wenn ich sage, ein Wasserstoffatom wiegt 1,6.10 — M g, so ent¬
hält dieser Satz keine geringere Art von Erkenntnis wie die, daß der
Mond 7.10” g wiegt.
Von der gleichen Größenordnung ist meistens auch die Frage
nach der „Abbildung der Wirklichkeit“, die Frage nach der „Subjek¬
tivität und Objektivität der Erkenntnis“, das Problem vom Verhält¬
nis unserer Erkenntnis zur Wirklichkeit. Wenn man sich vergegen¬
wärtigt, daß wir die unvollkommene Wahrnehmung benutzen, um
den vollkommeneren Begriff zu erarbeiten, und sich weiter vergegen¬
wärtigt, daß auch das Begriffssystem in einem stän¬
digen Wandel begriffen ist, der, wie wir hoffen, zu immer
weiterer Vertiefung im Sinne gesteigerter Voraussagefähigkeit führt,
ein Wandel, für den wir jedoch in keiner Weise
mögliche Grenzen absehen können, dann haben wir
alles gesagt, was sich prinzipiell über diese Frage sagen läßt.
Welchen Zweck hat es, von einer im philosophischen Sinne abso¬
luten Wirklichkeit — eine contradictio in adjecto — überhaupt als
diskussionsfähig zu sprechen, sei es auch nur, um sie zurückzuweisen.
Der Fehler philosophischer Fragestellungen liegt ganz allgemein
darin, daß sie übersehen, daß man nicht voraussetzungs¬
los beginnen kann, mit jedem Wortsymbol, das
wir benutzen, machen wir, wenn es überhaupt
begrifflich verständlich sein soll, mehr oder
minder weittragende Voraussetzungen. Wer sich
überhaupt menschlicher Sprache bedient und damit ein riesiges kon¬
ventionelles Begriffsnetz voraussetzt, der kann nicht mehr, wie die
erkenntnistheoretischen Versuche des cogito, ergo ... ab ovo be¬
ginnen.
29
So ist die Frage sinnlos, ob die Welt um mich wirklich sei oder
nicht, denn wirklich und unwirklich haben ihren Sinn nur in ihrem
gegenseitigen Nebeneinander, es sind Teilbegriffe, die einem Ganzen
entnommen sind und von denen (ex definitione) daher nie einer das
Ganze charakterisieren kann. Wir können fragen, ob etwas, das wir
sehen, eine wirkliche Vision oder greifbare Wirklichkeit ist. Be¬
zeichne ich aber die ganze Welt als wirklich oder eingebildet, so
verlieren diese Teilbegriffe ihren spezifischen
Inhalt bei dieser Anwendung auf das Ganze.
Es gibt überhaupt keine gesonderte philo¬
sophische Fragestellung mehr außerhalb des
Rahmens der Einzelwissenschaften, dies muß mit
aller Schärfe betont werden, die Philosophie ist heute nicht mehr
existenzberechtigt, nachdem sie ihren Gehalt an tatsächlicher Wissen¬
schaft nach und nach und nunmehr restlos an die Einzelwissenschaf¬
ten abgegeben hat, die ein lückenloses Netz über das denkbar mög¬
liche Gebiet der Wissenschaft bilden. Es gibt keine übergeordnete
Wissenschaft, die das Recht hätte, mit gesonderter Fragestellung
die Ergebnisse einer oder mehrerer Einzelwissenschaften zu behan¬
deln oder zusammenzufassen.
Ein solcher Mißbrauch liegt beispielsweise vor bei dem Begriffe
des Mach sehen, von P e t z o 1 d t übernommenen analytischen
Elementes (12, S. 88, S. 67). Die Feststellung, daß sich die
Atome in analytische Elemente, in Begriffe und Empfindungen zer¬
legen lassen, ist eine Aussage, die völlig aus der hier in Frage kom¬
menden Einzelwissenschaft herausfällt. Die Physik erfährt durch
eine Aussage dieser Art nicht die geringste Bereicherung. Die Täu¬
schung liegt hier in der Verwendung des Wortsymboles Element.
Wo ich. sonst in der Welt Elemente suche und finde, da haben diese
Elemente die Eigenschaft, daß ich aus ihnen aufbauen kann. Die
Verwendbarkeit zur Synthese ist ein integrierender Bestandteil des
Elementbegriffes, nimmt man dem Begriff diese Eigenschaft, dann
bleibt von ihm nicht mehr übrig als von einem klingenlosen Messer,
dem das Heft fehlt. Derartige analytische Elemente gibt es nur eben
in der Philosophie. So bleibt von dieser Aussage bestenfalls nicht
mehr als die recht mißverständlich formulierte Selbstverständlich¬
keit übrig, daß die Atome Begriffe sind — wie aller Inhalt der
Wissenschaft — und daß sie, wie dieser, auf dem Wege über Wahr¬
nehmungen erarbeitet werden.
Philosophische Schulung hat heute nur noch eine negative Be¬
deutung. Es ist zweifellos von einem gewissen Wert, wenn man sich
30
darüber klar geworden ist, daß der Vertiefungsprozeß, in dem sich
unsere Begriffe befinden, nirgends endlich zu denken ist,
wenn man vermeidet, den Physiker zu belehren, daß er bei der Erfor¬
schung des Aufbaues der Materie einmal an einen Halt kommen
müsse, und womöglich noch hinzufügt, daß dieser aus harten und
glatten Kügelchen bestehen müsse, — positive Aussagen außerhalb
des Rahmens der EinzelwiBsenschaften vermag uns die Beschäftigung
mit allgemeinen Problemen dagegen nicht zu geben.
Ein Schulbeispiel für die Inhaltlosigkeit solcher selbständiger
Versuche, außerhalb des Rahmens der Einzelwissenschaften Gesetze
aufzustellen oder überhaupt etwas zu schaffen, ist etwa die Z i e h e n -
sehe Parallelgesetzlichkeit (119, S. 64).
Das Koordinatennetz läßt sich heute bereits restlos über den
Gegenstand der Wissenschaft legen. Die Philosophie hat ihr einstiges
Ödland längst in die Parzellen der Einzelwissenschaften aufgeteilt,
wie sie in dem Ostwald-Comteschen Stufenschema sämtlich
und lückenlos zusammengefaßt sind. Die Philosophie hat keinen
eigenen Boden mehr zu fruchtbringender Bestellung. Bei der Allge¬
meinheit ihrer Problemstellungen ist ihre Aussage bestenfalls eine
Selbstverständlichkeit, häufiger aber dank der Nichtbeachtung der
Voraussetzungen, die der Gebrauch eines Begriffes in sich schließt,
inhaltlos.
Darin liegt die große Bedeutung des 0 81 w a 1 d sehen Systems
der Wissenschaften, das es für den, der sich hineingedacht hat, alle
möglichen prinzipiellen Fragestellungen der Wissenschaft in ihrer
systematischen Abhängigkeit enthält, wie dies hier auch mehrfach
angedeutet wurde. Dies implizite auch einmal ausführlich explizite
zu entwickeln, wäre eine dankbare Aufgabe.
Die Verwirrung, die in die psychologischen Grundbegriffe durch
den erkenntnistheoretischen Mißbrauch hineingetragen ist, hat sei¬
nerzeit Beer-Bethe-Üexküll zu einem heute noch inter¬
essanten und immer wieder zitierten Versuche veranlaßt, für die ver¬
gleichende Physiologie des Nervensystems folgendes Schema der
Reizbeantwortungen aufzustellen (20, S. 138f.):
Reizbeantwortungen:
A. ohne Vermittlung differenzierter Elemente — Einzeller u. Pflanzen
= Antitypien.
31
B. durch differenzierte Elemente (Nerven) — bei Metazoen
= Antikinesem
a) in immer gleicher Weise wiederkehrend = Reflexe
b) modifizierbar = Antiklisen.
Unter den Begriff der Antiklise sollen nach den genannten
Autoren „alle die Vorgänge fallen, die man bisher als bewußt be¬
zeichnet hat“. Der Versuch der Einführung dieser neuen Termini
ist gescheitert, zum Teil schon aus formalen Gründen. Der hier ent¬
wickelte Antiklisenmechanismus deckt sich im wesentlichen mit dem
Begriff der Psyche, wie er oben entwickelt wurde. Und hier steckt
doch auch eine nicht mehr rein formale Schwäche. Denn mit dem
Begriff der Antiklise ist die Physiologie hier schon auf das Gebiet der
angrenzenden Nachbarwissenschaft der Psychologie übergetreten,
und die neue Namengebung hätte doch ungleich weitere Gebiete be¬
rührt als nur die vergleichende Physiologie des Nervensystems, wie
die Autoren glaubten. Denn die tatsächliche Wissenschaft der Psy¬
chologie, wie sie gedeiht und sich entwickelt, ist eben nicht die
Wissenschaft von der subjektiven Seite der Dinge, die die Physio¬
logie von der objektiven Seite betrachtet.
Einen ähnlichen Standpunkt finden wir vertreten in der B e c h -
terewsehen „Psychoreflexologie“. Der Fehler der viel zu weiten
Fassung des Reflexbegriffes wird hier veranlaßt durch die Verken¬
nung der tatsächlichen Dimension der psychologischen Begriffe.
Erwähnung mag in diesem Zusammenhänge noch der A v e n a -
r i u 8 sehe Begriff der Vitalreihe finden, die zerfällt in eine unab¬
hängige physische und eine abhängige psychische Reihe, da F r i e d -
rieh Kraus seine Wiederbelebung versucht hat. Wir glauben
nicht, daß diese Bemühungen, ebensowenig wie die Petzoldts,
diesen Begriff retten können. Ein Versuch, von außen in eine Wis¬
senschaft — hier die Physiologie — neue Wortsymbole hinein¬
zutragen, ist wohl immer zum Scheitern verurteilt. Der psycho¬
logische Anteil des Begriffes ist nicht nennenswert — von unse¬
rem Standpunkt aus gesprochen — aus dem herkömmlichen der
erkenntnistheoretischen Einstellung herausgetreten, der Begriff Psy¬
chisch ist nicht in seiner sozialen Dimension gefaßt worden, sondern
das Innen von Hirnfunktionen geblieben, eine von diesen abhängige
Reihe, deren Glieder ,glicht eindeutig bestimmt“ seien.
Wie weit herab wir in der Tierreihe von einer Psyche sprechen
wollen,^ist von dem entwickelten Standpunkt aus eine fast rein prak-
32
tische Frage, die sich von selbst entscheiden wird. Wie wir die
Dinge heute übersehen, wird man außer bestenfalls bei Wirbeltieren
und sozialen Anthropoden kaum noch von einer Psyche sprechen
wollen. Steigen wir allzutief herab, so werden die Funktionen doch
zu sehr verschieden, als daß wir sie mit Vorteil noch unter einen ge¬
meinsamen Begriff fassen könnten. Dehnt man den Begriff Beseelt
so weit wie F e c h n e r, wenn er von einer „Pflanzenseele“, ja sogar
von einem „Pflanzenbewußtsein“ spricht (44), oder wie Becher
(18, S. 371), wenn er die Annahme einer Beseelung alles Lebenden
macht oder noch weiter, daß man mit H a e c k e 1 auch die Atome
beseelt sein läßt, dann verliert der Begriff Beseelt all den speziellen
Gehalt, den er eben, ohne Spekulation in der Praxis gebraucht, durch
seine enge Begrenzung hat, dann besagt der Begriff nur noch so viel
wie der Begriff Belebt oder bei noch weiterer Ausdehnung über¬
haupt nichts mehr. Wenn Haeckel sagt (51, S. 38): „Ohne die
Annahme einer Atomseele sind die gewöhnlichsten und allgemein¬
sten Erscheinungen der Chemie unerklärlich. Lust und Unlust, Be¬
gierde und Abneigung, Anziehung und Abstoßung müssen allen
Massenatomen gemeinsam sein; denn die Bewegungen der Atome, die
bei Bildung und Auflösung jeder chemischen Verbindung stattfinden
müssen, sind nur erklärbar, wenn wir ihnen Empfindung und Willen
beilegen“, so ist eine derartige Aussage keine Bereicherung unse¬
rer chemischen Kenntnisse durch die Psychologie, sondern nur noch
ein Operieren mit einem Wortsymbol, dessen Begriff zugrunde ge¬
gangen ist. Niemals kann eine untere Stufe des
Baues der Wissenschaften in ihren Grundbegrif¬
fen derart aus einer übergeordneten Stufe berei¬
chert werden. Eine derartige Befruchtung ist nur an Grenz¬
gebieten möglich.
Aber wir haben das volle Recht, von einer Psyche auch bei Tie¬
ren zu sprechen, und es ist doch eine recht eigenartige Konsequenz
aus dem spekulativen Mißbrauch des Wortsymbols Psychisch, wenn
man die Auffassung vertritt: „Die Tierpsychologie wird also trotz
ihres Namens besser daran tun, wenn sie ihre Aufgabe unter Weg¬
lassung der Frage des Psychischen folgendermaßen formuliert. . . .“
Ziehen (118, S. 1142).
Neuerdings hat sich unter dem Einfluß der Gestaltforschung in
der Psychologie eine Umgestaltung der Fassung des Begriffes Psy¬
chisch angebahnt. Der Begriff beginnt, ohne die erkenntnistheore¬
tische Ungreifbarkeit völlig abzustreifen, doch wenigstens einige
greifbare Züge anzunehmen. In der Medizin hat man von dieser Um-
33
Stellung allerdings bisher kaum Kenntnis genommen. — Man höre
darüber K ö h 1 e r (64, S. 192f.):
„Hernach, wie ja schon auf Grund unserer physikalischen Vor¬
untersuchung, müssen wir uns sagen, daß der Gegensatz von physi¬
scher Welt und Bewußtsein, besonders aber der von nervösem Ge¬
schehen und Phänomenen, gewöhnlich etwas übertrieben dargestellt
wird . . . Das Auftreten komplexer Einheiten, welche doch zugleich
von jedesmal spezifischer Gliederung sind, wird z. B. mit Recht als
charakteristisch selbst für höchste psychische Leistungen angesehen,
wenn diese Erscheinung auf optischem Gebiete ihre Korrelat in phy¬
sischem Strukturzusammenhang findet, wird im Bereiche der Denk¬
vorgänge dasselbe gelten müssen. Es war stets einer der Haupt-
einwände gegen die Annahme physischer Korrelate des Denkens (der
höheren psychischen Vorgänge überhaupt), daß „Einheiten von spe¬
zifischer Gliederung“ nicht als physische Realitäten vorkämen, ja
nicht Vorkommen könnten. Da dieser Einwand bei Anerkennung der
dynamisch-übergeometrischen Strukturen oder Gestalten überall fort¬
fällt, so erkennt man wohl jetzt schön, was die Gestaltstheorie zu¬
künftig für die höhere und für die Psychologie des Denkens wird be¬
deuten müssen.“ ... A. a. 0.: „Aktuelles Bewußtsein ist in jedem
Falle zugehörigem psychophysischem Geschehen den (phänomenal
und physisch) realen Struktureigenschaften nach verwandt, nicht
sachlich sinnlos, nur zwangsläufig daran gebunden. Man pflegt zu
sagen, daß selbst bei genauester physikalischer Beobachtung und
Kenntnis der Hirnprozesse würde doch aus ihnen nichts über die
entsprechenden Erlebnisse zu entnehmen sein. Dem muß ich also
widersprechen: Es ist im Prinzip eine Himbeobachtung denkbar,
welche in Gestalt und deshalb in wesentlichsten Eigenschaften ähn¬
liches physikalisch erkennen würde, wie der Untersuchte phänome¬
nal erlebt.“
Hierzu ist zu sagen, so unendlich viel wir auch von einer Klä¬
rung von Mechanismen dieser Art im einzelnen erwarten dürfen, die
Frage nach der Dimension der psychologischen Grundbegriffe bedarf
ihrer nicht zu ihrer Entscheidung, darf ihrer nicht bedürfen, sie
ist nur eine Frage des Stehens zu den eigenen Voraussetzungen, eine
Frage begrifflicher Sauberkeit, über sie und über die Stellung der
Psychologie lassen sich die Akten heute schon schließen.
Verstehen wir unter der Psyche die Gesamtheit derjenigen
Funktionen, die modifiziert, plastisch, biegsam, verlaufen und cha¬
rakteristische, hochkomplizierte soziobiologische Effekte hervor-
rufen, dann ist das psychische Geschehen im Prinzip selbstverständ-
Ahlenstiel, Über die Stellung der Psychologie usw. (AbhandL H. 23.)
3
34
lieh eindeutig bestimmbar. In diesem Sinne gibt es also eine psy¬
chische Kausalität oder, anders ausgedrückt, die psychischen Funk¬
tionen unterliegen, was bei ihrer Dimension selbstverständlich ist,
der einen, das arbeitswissenschaftliche, biologische und soziologische
Geschehen beherrschenden eindeutigen Bestimmtheit, — sind doch
alle oberen Stufen nur Komplizierungen des arbeitswissenschaftlichen
Grundgeschehens. Die Psychologie steht nicht in dem Gegensatz
zur Physiologie, daß die eine das „innen“, die andere das „außen“
schildert, das ist ein Gleichnis, dem wir nichts, auch nicht das Ge¬
ringste entnehmen können, — wohl aber ist Aufgabenkreis und Be¬
trachtungsweise beider einstweilen völlig verschieden, ebenso wie die
Betrachtung eines Automobils als Verkehrsmittel und als Maschine
völlig gesondert möglich ist. Ebenso wird einstweilen die Psycho¬
logie in weiter Hinsicht unabhängig von der Physiologie in der Auf¬
stellung ihrer Begriffe, Regeln und Gesetzlichkeiten vorgehen kön¬
nen und vorgehen müssen, ebenso wie etwa ja auch die teleologische
Betrachtungsweise selbständig ihre Regeln gebildet hat, ohne die
Physiologie, aber keineswegs im Gegensatz zu ihr, denn im Prinzip
hat diese einmal in ihr Erbe einzurücken, ebenso wie in das der Psy¬
chologie, wenn wir heute auch angesichts der ungeheuer komplizier¬
ten Verhältnisse dieses nicht einmal als ernstlich möglich ausdenken
können.
Es bleibt zu zeigen, daß auch die übrigen Grundbegriffe der
Psychologie in ihren praktischen Dimensionen sich in den Rahmen
des umrissenen Begriffes Psychisch fügen. Auch der Begriff „Be¬
wußtsein“ hat im gemeinen Sprachgebrauch, ohne Spekulation an¬
gewandt, seine klare und scharfe Dimension.
Die weite Fassung des Bewußtseinsbegriffes bewußt im Sinne
von „bei Bewußtsein“ (Gegensatz: die Bewußtlosigkeit des Komas),
bedarf keines Eingehens. Bewußt heißt hier so viel wie temporär
beseelt. Der praktische Inhalt dieser Aussage bei Bewußtsein bzw.
bewußtlos ist evident.
Den Ausgangspunkt für die Differenzierung der Begriffe Be¬
wußt und Unbewußt in der Praxis bildete die Beobachtung, daß
die Psyche das gleiche ein- und ausgehende oder in ihr vorhandene
Material zu verschiedenen Zeiten einer sehr verschiedenen Behand¬
lung teilhaftig werden läßt. So steht uns Gedächtnismaterial zu Zei¬
ten zur Verfügung, zu anderen nicht, so beeinflussen Reize unsere
Handlungen einmal sofort einschneidend, während sie ein anderes
35
Mal ohne Wirkung bleiben, endlich gibt es Handlungen, völlig gleich¬
artige Handlungen, die wir praktisch sehr verschieden werten müs¬
sen, je nachdem wir sie als bewußt oder unbewußt geschehen bezeich¬
nen. Das Wissens- und Willensmaterial, das wir nun als bewußt zu¬
sammenfassen und dem un- bzw. unterbewußten gegenüberste'llen,
hat das Gemeinsame, daß es für die jeweils der Betrachtung zugrunde
gelegte Handlung oder Handlungsgruppe verwertbar ist — ganz all¬
gemein gesprochen —, oder bei dieser zur Verwertung kommt. (Das
Physiologische interessiert uns als Praktiker wie als Psychologen
dabei zunächst gar nicht.) Ob die besagte Verwertung eintritt, ist
praktisch außerordentlich bedeutsam und wir haben, in der Praxis
gemessen, an der ungeheuren Kompliziertheit des fraglichen Objek¬
tes zureichende Kriterien, um zu entscheiden, in vielen Fällen wenig¬
stens, ob eine solche Verwertung stattgefunden hat oder eine Ver¬
wertbarkeit besteht. Wir haben also in der Praxis ob¬
jektive Kriterien der Bewußtheit, ja noch mehr,
in diesen Kriterien erschöpft der Begriff in der
Praxis seinen Inhalt. So urteilen wir über das Bewußt-sein
einer Tatsache, um nur eine Erstreckung der praktischen Dimension
des Begriffes anzudeuten, durch die Feststellung ihrer Mitteilbarkeit,
so sagen wir andererseits, wenn wir beispielsweise eine stattgehabte
Kränkung als unbewußt erfolgt charakterisieren, damit aus, daß sie
bei vorheriger Erkenntnis der kränkenden Wirkung unterblieben
wäre, daß jetzt nach dem Offenbarwerden des verletzenden Effektes
eine Aktion zu seiner Behebung zum mindesten als möglich zu er¬
warten ist, daß jedenfalls mit dem Auftreten weiterer kränkender
Akte in unmittelbarem Anschluß daran nicht zu rechnen ist, während
von allem das Gegenteil gilt, sobald die Kränkung als bewußt ange¬
sprochen wird.
Welche praktischen Eigentümlichkeiten des Verhaltens endlich
der Begriff Doppelbewußtsein“ (der mit zwei mehr oder minder
hochgradig getrennten Personen in demselben Körper rechnen läßt)
oder der der Bewußtseinstrübung (zusammenhangloses Verhalten,
Desorientiertheit, Amnesie usw.) besagt, bedarf nach dem Gesagten
wohl kaum der weiteren Ausführung.
Lehnen wir die Verwendung des Wortsymbols Bewußt in der
Erkenntnistheorie als inhaltlos ab — Beispiele dafür waren oben
gegeben —, so ist das Bewußtsein kein Begriff mehr, von dessen
physiologischer Erklärung, so wie sie heute möglich ist, eine Ver¬
tiefung des Begriffes zu erwarten ist. Wir werden also nicht sagen,
„Bewußtsein entsteht, wo es gilt, nach Wahl zu handeln“, sondern
3 *
36
umgekehrt, eine Wahlhandlung nennen wir immer auch eine bewußte
Handlung. Wir werden auch nicht mit Bleuler sagen: „Wir neh¬
men nun an, daß diese Verbindung einer psychischen Funktion mit
dem bewußten Ich dasjenige sei, was einem Psychismus die bewußte
Qualität gibt“ (25, S. E. 92), wir werden den Satz umkehren: Wir
nennen die Psychismen bewußt, die Glieder jener den Schaltapparat
zu unserem Handlungsorgan beherrschenden Schaltgruppe sind oder
diese beeinflussen können (an diese assoziiert sind), wofür wir Kri¬
terien in der beschriebenen Verhaltungsweise des betrachteten Indi¬
viduums haben.
Die Frage nach der Ausdehnung des Bewußtseins im Tierreiche
ist nach dem Gesagten eine rein praktische Frage. Und die Praxis
hat die Frage einstweilen so beantwortet, daß sie nur beim Menschen
bewußte und unbewußte Funktionen unterscheidet. Ob hier in näch¬
ster Zeit ein Wandel bevorsteht, wage ich nicht zu entscheiden.
Sicher aber ist wohl, daß der Kreis der Arten, auf die man diese
Begriffe anwenden wird, ein außerordentlich eng begrenzter sein
wird. Natürlich besteht gar kein prinzipieller Unterschied zwischen
Mensch und Tier, auch nicht in diesem Punkte, aber beim Tier liegen
diese Verhältnisse doch sehr viel einfacher, so daß es im allgemeinen
kaum möglich sein wird, Bewußtes und Unbewußtes einander gegen¬
über zu stellen. Einseitig nach dem Vorhandensein von Bewußtsein
fragen, etwa wie Clapar6de (35, S. 1196): „Suchen wollen, in
welchem Moment das Bewußtsein im Tierreiche beginnt, ist eine vom
Standpunkte des Parallelismus unmögliche Aufgabe und außerdem
nutzlos“, ist auch von unserem Standpunkt nicht angängig; von
Bewußtem zu spreche*n hat nur dort Sinn, wo man
gleichzeit ig auch von Unbewußtem sprechen kann.
Dies übersieht auch, wer in dem Pflüger sehen Rückenmarks¬
bewußtsein oder gar in den „empfindenden und wollenden Tierfrag¬
menten Pflügers“ ein ernstes Problem sieht. Diese Frage läßt
sich mit völliger Bestimmtheit beantworten. Im isoliert gedachten
Rückenmark gibt es nur einerlei Funktionen und das sind Reflexe.
Wir können also nicht einmal von einer Rücken¬
marksseele, geschweige denn von einem Rücken¬
marksbewußtsein sprechen.
Zell- und Molekularbewußtsein endlich sind in unserem Sinne
ebenfalls überhaupt keine zulässigen Begriffsbildungen mehr, sie
stehen etwa auf gleicher Stufe mit dem Versuch, die Funktion eines
gegen Geldeinwurf Waren abgebenden Automaten durch ein rudi¬
mentäres Verkaufsbedürfnis seiner einzelnen maschinellen Bestand-
37
teile zu erklären. Das Problem, ob sich ein handelndes Wesen kon¬
struieren ließe, das kein Bewußtsein hätte, hat nach all dem Gesagten
für uns natürlich keinen Inhalt, denn wo wir Handlungen von einer
speziellen Art sehen, wie sie oben beschrieben wurde, da nennen wir
diese im allgemeinen Sprachgebrauch der Umgangssprache ja eben
bewußt, und fassen in Konsequenz auch die Schaltgruppe, von der sie
ein Teil sind, begrifflich unter der Bezeichnung „Bewußtsein“ zu¬
sammen.
Bewußtsein ist für uns nicht die Eigenschaft, die seelische Vor¬
gänge von den automatenhaften unterschiede, denn wir haben das
Seelische ja schon definiert als das nicht automatenhaft Starre, son¬
dern als die plastische Funktion, die wir beim Menschen wieder in
die beiden Gruppen bewußter und unbewußter Funktionen sondern.
Die Frage also, ob man sich das ganze Handeln des Menschen auch
automatenhaft ohne Bewußtsein denken könne, läuft von diesem
Standpunkte auf eine contradictio in adjecto hinaus.
Die Frage nach dem Zwecke des Bewußtseins werden wir aus
der entwickelten Fassung des Begriffes heraus formulieren als Frage
nach der biologischen Bedeutung der Weite des Bewußtseins, und
diese ist dahin zu beantworten, daß ceteris paribus dort die größere
Vollkommenheit im Sinne einer größeren Haltbarkeit im Lebens¬
kämpfe vorliegt, wo der richtunggebend modifizierende Einfluß der
unter dem Bewußtsein verstandenen Schaltungsgruppen der grö¬
ßere ist.
Neben dem Begriff des Bewußtseins und dem der Psyche steht
als dritter Begriff, dessen Wortsymbol besonders von der erkenntnis-
theoretischen Spekulation benutzt worden ist, der Begriff der
Empfindung. In der Praxis des alltäglichen Gebrauchs hat der
Begriff, wie leicht zu zeigen, ebenfalls seinen festen Inhalt, der wohl
beschreibbar ist, wenn dies auch, wie bei einem so hochkomplizierten
psychologischen Begriffe selbstverständlich, nicht mit wenigen Wor
ten erschöpfend möglich ist.
Jedesmal, wenn wir von dem Statthaben bzw. nicht Statthaber
einer Empfindung bei einer Person reden, so machen wir damit ganz
bestimmte Voraussetzungen bezüglich des Verhaltens dieser Person.
Voraussetzungen, die eben den Inhalt des Begriffes der Empfindung
ausmachen, wenn sie auch vielfach nur sehr allgemein oder nur nega
tiv, ausschließend gehalten sein können. Wir können diesen Begrif:
etwa folgendermaßen formulieren: man versteht unter Empfindung
die aktuelle Dispositionsänderung, die die Psyche oder ihr bewußter
38
Teil durch die qualitative Erregung eines Sinnesorgans erfährt. Spre¬
chen wir beispielsweise von einer Schinerzempfindung, so machen
wir damit die praktisch sehr bedeutsame Aussage, daß das Verhalten
der betroffenen Person aktuell oder zum mindesten potentiell eine
charakteristische Umstellung erfahren hat, deren Einzelheiten von
Fall zu Fall außerordentlich variieren, die aber alle doch in einer
gemeinsamen Richtung liegen. So erwarten wir beispielsweise eine
Klage oder einen Seufzer dort, wo ein Schmerz empfunden wird, oder
falls diese ausbleiben, doch keine harmlos heitere Äußerung, zum min¬
desten aber nehmen wir an, daß diese, wenn sie erfolgt, jetzt ganz
anders zu werten sei als sonst, daß sie gegen Widerstände erfolge,
deren Damm unter Umständen durchbrochen werden könne und
keineswegs jetzt betrachtet werden dürfe wie gewöhnlich, etwa als
Indikator jener Einstellung, die man gute Laune nennt usw. Muta-
tis mutandis gilt das hier Gesagte für alle Empfindungen, Geruchs-,
Geschmacks-, Tast-, Gesichts- und Gehörsempfindungen.
Dieser Begriff „Empfindung“, wie wir ihn in der Umgangssprache
alltäglich ohne Spekulation gebrauchen, enthält eine Aussage von
klarer Dimension.
An dem Gebrauch des Wortes Empfindung in der Philosophie
haftet dagegen kein begrifflicher Inhalt mehr. Mit dem Begriff
der Empfindung ist unweigerlich ein Organis¬
mus vorausgesetzt, an dem die durch diesen
Begriff ausgedrückte Schal t u ngsänderung vor
sich geht. Was soll es da heißen, wenn man sagt, alles Sein sei
„dem Inhalt nach als Empfindung zu denken“, wenn man die Welt in
„Empfindungselemente“ zerlegt, wenn man den Reiz eine „objek¬
tivierte Empfindung“ nennt. „Die eigentliche Empfindung ist an sich
nur empfindbar, nicht wiedergebbar“, sagt man sehr schön.
(Kleinpeter 63, S. 14.) Aber was soll es heißen: „eine Empfin¬
dung empfinden“? Wir empfinden keine Empfindung, sondern nur
Qualitäten, wir erleben auch kein Bewußtsein, sondern nur Ereig¬
nisse. Was man hier sagt, hat keinen begrifflichen Inhalt mehr, ist
auch nicht ein Gleichnis, sondern nur ein Aneinanderreihen der Be¬
griffe barer Wortsymbole.
Als des letzten aus der Reihe der Grundbegriffe der Psycho¬
logie sei des Ich begriffes in Kürze gedacht. Welches der Sinn des
Begriffes ist, bedarf keiner weiteren Ausführung. Spricht eine Person
von sich als „ich“, so kann über die damit gemeinte Person kein
Zweifel obwalten. Was bleibt nun von diesem Begriffe außer dem
gemeinsamen Wortsymbol noch übrig, wenn wir sagen: „alles Psychi-
39
sehe hat Ichcharakter (Oesterreich), oder wertn wir von „frem¬
den Ichen“ reden. Ein „fremdes“ Ich ist eine contradictio in adjecto,
der Begriff, der mich und den anderen zu vergleichen vermag, ist der
Begriff der Persönlichkeit, unter dem wir die spezifischen Eigenheiten
umfassen, wie sie sich in der inhaltlichen Zielsetzung der Wollens-
richtungen, in dem Habitus der Aktions- und Reaktionsabläufe, in
der Intelligenz, in dem Einfluß der Erlebnisse usw. offenbaren.
Sagen wir aber solipsistisch: „Mein Ich ist die Welt“, oder sagen
wir: „Ich bin das einzige Wesen, dessen Existenz sicher ist, die Per¬
sonen um mich existieren nur in meiner Einbildung“, so versuchen
wir beide Male, ein Ganzes durch seine Teile zu charakterisieren, bei
welcher Erweiterung der Teilbegriffe natürlich deren spezifischer,
eben in der Begrenzung liegender Inhalt verloren geht.
Die Geschichte des Entwicklungsganges der psychologischen Be¬
griffe in der Philosophie und ihres allmählichen Dimensionslos¬
werdens, ihres Abstreifens der Kraftkomponente, wie sie bei der
Begriffsbildung der Psychovitalisten noch erkennbar ist, kann uns
hier nicht beschäftigen. Wir möchten auch glauben, daß die Bedeu¬
tung philosophischer Gedankengänge für die fortschreitende Ver¬
tiefung der Begriffe doch stark überschätzt worden ist, die eigentlichen
Träger des Fortschrittes sind die Hunderte unphilosophischer Köpfe,
die in mühsamer Einzelarbeit Zoll um Zoll die Grenze unseres Wis¬
sens weiter stecken. Wenn Mach einmal meint, die Wissenschaft
sei „fast mehr durch das gewachsen, was sie zu ignorieren verstan¬
den, als durch das, was sie berücksichtigt hat“, so dürfen wir dies
doch nicht dahin auffassen, als ob die Arbeit der großen Begriffs-
zertrümmerer in gleicher Weise entscheidend für den Fortschritt sei,
wie etwa ein entscheidendes Experiment in einer Einzelwissenschaft,
jene sprechen nur formal begriffliche Bankerott- und Todeserklärun¬
gen aus, die andere bewirkt haben. Die einzige Aufgabe, in die sich
noch ein Teil der alten philosophischen Einstellung retten kann, ist
die der enzyklopädischen Zusammenfassung der Inhalte der Einzel¬
wissenschaften, besonders soweit diese Aufgabe den Inhalt angeht,
der für die Vertreter anderer Wissenschaften von besonderer Bedeu¬
tung ist. Dieser Verbindungsdienst zwischen den
einzelnen Wissenschaften und im Zusammenhang
damit die ebenfalls noch unverdient arg ver¬
nachlässigten Fragen nach der Technik der
Wi s s e n s t h e s a u r i e r u n g, der Be g r i f f s s y m b o 1 i k
usw. ist die einzige allerdings außerordentlich
dankbare Aufgabe, die den sy stemati sch-1heo-
40
retisch eingestellten Naturen noch bleibt, nur
darf dabei nicht die Erkenntnis verloren gehen, daß dieser Etappen¬
dienst für die Front der Einzelwissenschaften da ist und von dieser
ihre Weisungen zu erhalten hat ohne meinerseits das Recht zu haben,
diese bestimmend zu beeinflussen.
Um den Entwicklungsprozeß, der sich an der Gesamtheit der
Wissenschaft abspielt und in dessen Zusammenhang erst die Konse¬
quenzen deutlich werden, die in der Ablehnung des dimensionslosen
Psychischen und in der soziobiologischen Dimensionierung der Grund¬
begriffe der Psychologie liegen, wenigstens in groben Zügen anzu¬
deuten, sei gestattet, noch auf die Differenzen zwischen Naturwissen¬
schaft und Geisteswissenschaft einzugehen und die zu postulierende
und in Ansätzen bereits nachweisbare naturwissenschaftliche Um¬
gestaltung der letzteren zu berühren.
Die erste Forderung, die sich ergibt, können wir zusammenfassen
in dem Motto: Anschluß der Geisteswissenschaften oder, wie wir
besser sagen, der Gesellschaftswissenschaften an den naturwissen¬
schaftlichen Unterbau, die Lebenswissenschaften. Dieser Anschluß
könnte heute bereits in einem hohen Grade realisiert sein, wenn er
auch zunächst noch nicht die Innigkeit der Verbindung der Lebens¬
wissenschaften, speziell die der Physiologie mit ihrem Unterbau, den
Arbeitswissenschaften, Physik und Chemie, besitzen würde. Eine
Konsequenz dieses Anschlusses wäre die schon von C o m t e er¬
hobene Forderung, beim Betrieb jeder höheren Stufe die Kenntnis der
unter ihr liegenden Stufen der Wissenschaften zu verlangen. Man
kann Physiker sein, ohne etwas von Biologie zu verstehen, man kann
aber nicht Soziologe sein, ohne eingehende biologische Kenntnisse
und ohne die Fähigkeit strenger Gesetzes- und Begriffsanwendung,
ohne die Kenntnis der durchgehenden eindeutigen Bestimmtheit, wie
sie uns die Arbeitswissenschaft vermittelt. Daß natürlich die Ge¬
sellschaftswissenschaft, ebenso wie die Lebenswissenschaft in ihrer
teleologischen Betrachtungsweise, gegenüber der Unterstufe einst¬
weilen eine gewisse Selbständigkeit haben kann, ohne dabei das
Subordinationsverhältnis aufzugeben, war schon erwähnt. Wie weit
wir heute noch von der Erfüllung dieser Forderung naturwissen¬
schaftlicher Vorbildung auch für den Soziologen entfernt sind, bedarf
keiner Ausführung. Einen Schritt vorwärts in dieser Richtung dür¬
fen wir vielleicht erwarten, sobald die erste ernstliche Durchführung
des Vergleiches Staat = Metazoenorganismus erfolgt ist, zu der
41
schon Ansätze vorliegen und die vielleicht nicht allzulange mehr auf
sich warten lassen dürfte.
Des weiteren ist mit dem Verzicht auf jede begriffliche Sonder¬
stellung der Geistes- bzw. Gesellschaftswissenschaften ernst zu
machen. Diese müssen sich klar sein, daß auch ihr ideales Ziel das
„voir pour prövoir“ Comtes, die vorhersehende Beherrschung des
ihrer Betrachtung zugrunde liegenden gesellschaftswissenschaft¬
lichen Geschehens ist, wenn auch die Annäherung hier in der kom¬
pliziertesten Oberstufe immer am kleinsten Sein muß, gemessen an
den Unterstufen mit einfacheren Verhältnissen. Einstweilen wird
sich die Geschichte noch mit dem Zusammentragen von Material be¬
gnügen müssen, aber eine Entwicklungsmöglichkeit in diesem Sinne
werden wir ihr nicht absprechen dürfen, ihr bisheriger Weg vom
Heldenlied zur Kulturgeschichte führt durchaus in dieser Richtung.
Die Behauptung Rickerts: „Der grundlegende Unterschied zwi¬
schen Naturwissenschaft und Geisteswissenschaft besteht darin, daß
die eine Begriffe mit allgemeinem, die andere mit individuellem In¬
halte bildet“, ist richtig, wenn wir sie durch den Zusatz vorwie¬
gend einschränken, aber was soll es heißen, wenn R i c k e r t (101,
S. 469) darin einen „prinzipiellen logischen Unterschied“ sieht, der
„nie zu einem bloß graduellen werden kann“ wenn er von der „Un¬
möglichkeit“ spricht, „die Geschichte als Darstellung einmaliger Ent¬
wicklungsreihen zu einer generalisierenden Naturwissenschaft zu
machen“, wenn er „dem naturwissenschaftlichen Denken jede Indivi¬
dualität eines zukünftigen Ereignisses absolut verschlossen“ lassen
sein will.
Es wurde oben schon gezeigt, wie gänzlich ungeeignet es ist, in
idiographischer.und nomothetischer Begriffsbildung einen Unterschied
zwischen Naturwissenschaft und Geisteswissenschaft zu sehen. Der
i d i o g r a p h i s c h e Begriff ist eine Vorstufe des
nomothetischen. Nomothetische Begriffe im Sinne von
Helmholtz (54): „Das Wesen unseres Begreifens den Natur¬
erscheinungen gegenüber ist, daß wir Gattungsbegriffe und Natur¬
gesetze zu finden suchen. Naturgesetze sind nichts anderes als
Gattungsbegriffe für Veränderungen in der Natur“, sind auch in der
Geschichte möglich.
Umgekehrt kennt auch die Naturwissenschaft mit Helm¬
holtz’ Worten (4, Bd. II, S. 359) „zwei Wege, den gesetzlichen
Zusammenhang der Natur aufzusuchen, den der abstrakten Begriffe
und den einer reichen experimentierenden (auf gesellschaftswissen-
42
schaftliche Verhältnisse übertragen würde es heißen „beobachten¬
den“, Ref.) Erfahrung. Der erstere Weg führt schließlich mittels der
mathematischen Analyse zur genauen quantitativen Kenntnis der
Phänomene, aber er läßt sich nur beschreiten, wo der zweite schon
das Gebiet einigermaßen aufgeschlossen, d. h. eine induktive Kennt¬
nis der Gesetze mindestens für einige Gruppen von dahin gehörigen
Erscheinungen gegeben hat, und es sich nur noch um Prüfung und
Reinigung der schon gefundenen Gesetze und den Übergang von
ihnen zu den letzten und allgemeinsten Gesetzen des betreffenden
Gebietes und um die vollständige Entfaltung von deren Konsequen¬
zen handelt. Der andere Weg führt zu einer reichen Kenntnis des
Verhaltens der Naturkörper und Naturkräfte, bei welcher zunächst
das Gesetzliche nur in der Form, wie es die Künstler auffassen, in
sinnlich-lebendiger Anschauung des Typus seiner Wirksamkeit er¬
kannt wird, um sich dann später in die reine Form des Begriffes
herauszuarbeiten.“
Das hier Gesagte ist für die ganze Wissenschaft einschließlich
der Gesellschaftswissenschaften gültig. Die Geschichte der Natur¬
wissenschaft gibt das Beispiel, wie wenige von denen, die einst auf
dem Zickzackgange suchenden Beobachtens die ersten Wege bahn¬
ten, auch nur im entferntesten ahnten, wie stolz einst die via regia
des entwickelten Begriffs sein würde, die ihre Nachfolger schreiten.
Wenn auch das, was an historischen Gesetzen bisher aufgestellt
wurde, nach Stumpf (107, S. 55) auf Besonnene eher abschreckend
gewirkt hat, und w T enn man sich heute auch noch besser darauf be¬
schränkt, „zu zeigen, wie es eigentlich gewesen“, so ist dies kein Be¬
weis, daß es auch in Zukunft so sein wird. Eine derartige Argumen¬
tation übersieht völlig die Möglichkeit einer Entwicklung und schätzt
die Zeiträume weniger Jahrhunderte, während der der beobachtete
Stillstand bestanden hat — für biologische Rechnung .ein Moment —,
fälschlich viel zu lang ein.
Es könnte überflüssig scheinen, wenn der von R i c k e r t geltend
gemachten Bedenken hier überhaupt so eingehend gedacht wurde.
Auch das soziologische Geschehen ist ein Lebensvorgang und geben
wir dem Leben keine begriffliche Sonderstellung prinzipieller Natur,
wie dies ja auch in der Regel nicht geschieht — der Neovitalismus
hat doch nur eine beschränkte Anhängerzahl —, so sind auch Hand¬
lungen eindeutig bestimmbar und gesetzmäßig erfaßbar. Aber frei¬
lich, „das Bedürfnis, Begriffe, die sehr verschiedenen Denkgebieten
angehören, in gegenseitigem Einklang zu halten, ist sehr verschieden
stark entwickelt . . ., und noch geringer ist die Dringlichkeit der
43
Forderung, sämtliche benutzten Begriffe in Übereinstimmung zu hal¬
ten, falls diese Begriffe sich nicht in einem einzigen Bewußtsein ver¬
einigt finden, sondern von verschiedenen Personen in verschiedener
Tätigkeit angewendet werden . . ., es wird dann .„ein Widerspruch
innerhalb der Gesamtheit der angewendeten Begriffe keineswegs als¬
bald als ein unerträglicher Zustand erfunden,“ wie 0 s t w a 1 d ein¬
mal sagt.
Eine gewisse „Laxheit in der Anwendung streng allgemeingülti¬
ger Gesetze“, wie sie H e 1 m h o 11 z bei seinen Schülern „aus unseren
grammatikalischen Schulen“ beobachtet hat, begünstigt die Geistes¬
wissenschaft bei der Schwierigkeit, hier einen Schluß als falsch zu
erkennen, oder eine Frage experimentell zu entscheiden überhaupt.
Hier kann von Gesetzen, ja selbst nur von Regeln, einstweilen kaum
die Rede sein. Bei diesem Stande der Dinge, angesichts der gering¬
gradigen Verarbeitung des Materials, die der Eigenart der einzelnen
Persönlichkeit im guten wie im schlechten Sinne sehr viel mehr Spiel¬
raum läßt, bei der, systematisch betrachtet, vielfach wenig strengen
Zielsetzung der Fragestellung ist es des weiteren nicht verwunder¬
lich, wenn die Autorität eine so große Rolle spielt, während die
Mathematik und die bis zu einem gewissen Grade mathematisierten
Wissenschaften „keine Autorität kennen, als die des eigenen Ver¬
standes“. Ungünstig in diesem Sinne wirkt das Vorbild der Philo¬
sophie, in der die Persönlichkeit die stärkste Rolle spielt und spielen
muß, da sie keinen sachlichen Inhalt mehr hat. Hier versammeln
Lebende wie Tote förmliche Gemeinden um sich.
Den Gegensatz der beiden Gruppen hat H e 1 m h o 11 z einmal
auf zwei Worte pointiert: Die Naturforscher wurden von den Philo¬
sophen der Borniertheit geziehen, die letzteren von den ersteren der
Sinnlosigkeit (4, Bd. I, S. 124f.). Dieser Satz, die treffendste Formu¬
lierung der Differenz, kann auch für die Gegenwart noch gelten.
Borniertheit meint, die naturwissenschaftliche Betrachtungsweise
erscheint der Gegenseite nüchtern, materialistisch, trivial, sie fühlt
sich durch sie in der Wärme ihres Gefühls und ihrer Begeisterung
gestört, sie empfindet sie als ungeistig, als bar dessen, was die eigent¬
liche Erhebung gibt, während umgekehrt von naturwissenschaftlicher
Seite das Fehlen affektiver Momente als Vorzug empfunden und als
Notwendigkeit gefordert wird und man hier den von diesen Strebun¬
gen diktierten Fragestellungen der Philosophie keinerlei Inhalt ab¬
gewinnen kann. Das Hineinspielen affektiver Nebenziele in die
Arbeit der Geisteswissenschaften ist begreiflich, da es sich hier gene¬
rell um Dinge handelt, denen wir in der Praxis ständig wertend
44
gegenübertreten müssen, aber es ist doch wieder ein Zeichen für die
relative begriffliche Unreife dieser Wissenschaften. Wenn beispiels¬
weise Lamprecht (69, S. 5) den Rat gibt, „jedem Geschichts¬
werke bewußtermaßen den Charakter eines Kunstwerkes zu geben,
wenn man es für angezeigt hält, den Problemen der Universal¬
geschichte mit dem vollen Emst religiöser Gefühle zu nahen, so sehen
wir hierzu eine Parallele in jenen Zeiten, da die Naturwissenschaften
selbst noch in den Kinderschuhen staken, bei ihrem behaglichen Be¬
triebe Lehrgedichte möglich waren, da in Land- und Sternkarten
bildliche Darstellungen, Personen, Landschaften und Gegenstände
auf die weißen Flächen hineingezeichnet wurden, Mikroskope und
wissenschaftliche Instrumente aller Art mit schmückenden Reliefs
versehen wurden usw. Arbeitstempo und geraffte Zielvorstellung
lassen heute überhaupt nicht einmal den Gedanken an derartige
Möglichkeiten auftauchen, bezeichnend ist außerdem, daß etwa auf
unseren kartographischen Darstellungen schon rein räumlich kein
Platz mehr vorhanden sein würde.
Selbst ohne mit Hegel die Vernunft in der Geschichte zu
suchen, Erlebenwollen dramatischer Wirkung, seelenläutemder
Katharsis, eines „sittlichen in Erhebung beim Nachfühlen der Per¬
sönlichkeiten und der sie beherrschenden Ideen liegenden Wertes der
Geschichte“ und andererseits Arbeit im Interesse objektiver Voraus¬
sage fördern einander nicht. Ein Nebeneinander ist hier immer ein
Kompromiß im schlechten Sinne, hemmende und bahnende Tenden¬
zen arbeiten hier einander entgegengesetzt.
Der ontogenetische Entwicklungsgang, wie ihn C o m t e sche¬
matisiert (3, S. 11): „Or chacun de nous, en contemplant sa propre
histoire, ne se souvient-il pas qu’il a 6te successivement quand ä.
ses notions les plus importantes, theologicien dans son enfance, m6ta-
physicien dans sa jeunesse et physicien dans sa virilite?“ ist nach
seiner Auffassung auch etwa der phylogenetische der Wissenschaft,
— vom „etat thöologique“ durch den „6tat metaphysique“ zum
„etat positive“. Die Naturwissenschaften sind in den letzteren ein¬
getreten, die Geisteswissenschaften befinden sich noch im etat meta¬
physique. Ein Beispiel dafür ist die Münsterberg sehe Lehre
von einem freien Willen in der Geschichte, der einer Sphäre angehört,
wo es keine Ursachen gibt, weil er im Zeitlosen liegt, — ist überhaupt
die Tatsache, daß hier in der Frage nach der Willensfreiheit ein ernst¬
liches Problem gesehen wird. In den Geisteswissenschaften glauben
die Metaphysiker unserer Tage noch eine Freistatt zu besitzen, hier,
wo es, wie Becher meint (17, S. 304), noch eine echte Zweck-
45
forechung im Gegensatz zur Zweckmäßigkeitsforschung der Natur¬
wissenschaften gibt.
In der berühmten Zweckfrage haben wir wieder ein Beispiel für
das Inhaltloswerden eines festen Begriffes, sobald man ihn von dem
Zusammenhänge löst, in dem er wurzelt. Fragen wir beispielsweise
mit M o e b i u s nach einem „Zweck des Daseins“ (78, S. 323), so ist
es unzulässig, auch nur mit der „Möglichkeit“ zu antworten, „daß
die allgemeinen Erwägungen uns zu der Annahme berechtigen, es
gebe überhaupt einen Zweck des Lebens“, es sei denn, daß wir ge¬
willt seien, einen Organismus außerhalb der Welt vorauszusetzen, der
mit dieser einen Zweck verfolge. Der Zweckbegriff setzt
ein Objekt voraus, das von einem Subjekt eben
in der Weise wie es der Begriff zweckhaft aus¬
sagt, benutzt wird. Gegen diese Voraussetzung vergeht sich
auch die Charakterisierung als „Selbstzweck“, die völlig inhaltslos
ist und eben nur durch die Benutzung des Wortes „Zweck“, das hier
aber den Begriff nicht mehr deckt, bei oberflächlicher Betrachtung
als etwas aussagend imponieren kann.
So hat ein Zahn etwa den Zweck des Beißens, aber nur für seinen
Träger, für sich selbst, den Zahn, hat er keinen'Zweck.
Avenarius stellt einmal bei Besprechung des Welträtsels
(16, Bd. II, S. 510) zwei Typen einander gegenüber. „Dem einen
hat mit der Beantwortung aller das Weltproblem ausmachenden Fra¬
gen die Welt nunmehr alles Problematische verloren, während der
andere entgegnet: das alles berührt meine höchsten oder tiefsten,
meine ersten oder letzten Fragen gar nicht. Mit einem Worte, die
ganze naturwissenschaftliche Erkenntnis der Weltbeschaffenheit läßt
mich noch immer gerade die Hauptsache zur Gewinnung eines wahr^
haften Welterkennens vermissen.“ Bei einer derartigen Fragestellung
handelt es sich nicht mehr um eine Erkenntnis im wissenschaftlichen
Sinne des Begriffs, und im Sinne eines planmäßigen Fortschreitens
wissenschaftlicher Forschung ist zu hoffen, daß die Anpassung an den
ereteren Typ eine zunehmend allgemeinere werden möge. Jedenfalls
liegt der Versuch außerhalb der Leistungsfähigkeit der begrifflichen
Mittel, hier das Stillschweigen der Tatsachen zu ersetzen.
Diese Erkenntnis wird gern verdrängt, auch sonst ist der Ab¬
schluß gegenüber elementaren Tatsachen der Naturwissenschaft un¬
verkennbar, man will gar nicht realisieren, daß das Leben — physi¬
kalisch gesprochen — ein hochgradig unfreies System ist, daß die
Potentialdifferenz eines Organismus gegenüber seiner Umgebung so
steil ist, daß Form und Funktion im Dienste der ausschließlichen
46
Erhaltungsgemäßbeit stehen müssen, daß auch bei den Funktionen,
die wir die Psyche nennen, nicht einfach eine bereichernde Addition
von Fähigkeiten und Eigenschaften erfolgen kann, daß auch hier
altes abgeworfen und neues gebildet wird in genau so strenger Ab¬
hängigkeit vom Gesetz der ausschließlichen Erhaltungsgemäßheit,
wie etwa bei den ins Meer steigenden, zu Walen werdenden Säugern,
bei den eine hochdifferenzierte Struktur verlierenden Schmarotzern
usw. An alles dies ist man affektiv im allgemeinen hier zweifellos
minder gut angepaßt, man atmet mit Bangen die dünne Luft, die von
der Gegenseite herüber weht. Aus diesem Zusammenhänge ist auch
die oft maßlos scharfe Abwehr zu verstehen, den die Propagierung
naturwissenschaftlicher Denkweise gefunden hat, man erinnere sich
etwa der „brennenden Scham“ Paulsens, der „Scham über den
Stand der allgemeinen Bildungund der philosophischen Bildung unseres
Volkes“, angesichts der H a e c k e 1 sehen Welträtsel, eines Buches,
über dessen offenkundigen Mängeln man nicht seine ungeheuren Ver¬
dienste um die Verbreitung des Entwicklungsgedankens vergessen
darf, einer Erkenntnis, der keine Philosophie etwas auch nur an¬
nähernd Gleichwertiges entgegen zu stellen vermag. „Den eigenen
Erfolg kann man ungefähr an der steigenden Unhöflichkeit der Rück¬
äußerung beurteilen“, — diese Abwehr ist die einer Gruppe, die die
eigene liebgewordene Geisteswelt dem Andringen einer übermächti¬
gen anderen Betrachtungsweise erliegen sieht.
Noch sehr viel ließe sich über die Differenzen beider Einstellun¬
gen sagen, das hier nur gestreift werden kann, wie die ausschlie߬
liche Einstellung der Philologie auf die rein formale Seite der Ver¬
ständigung, die Wortsymbole, die an die eines Liebhabers, eines
Sammlers erinnert, die rein formal-historische Einstellung der Rechts¬
wissenschaft usw. Im allgemeinen sind die Vorstöße von natur¬
wissenschaftlicher Seite mit radikalem Programm ziemlich selten
gewesen, man hat sich zu sehr durch die behauptete begriffliche
Selbständigkeit der Gegenseite imponieren lassen und zu wenig den
Entwicklungsgang der ganzen Wissenschaft selbst im Auge gehabt.
Selbst an die Philosophie, die, wie zu zeigen versucht, keine Möglich¬
keit einer eigenen Fragestellung hat, hat man sich nicht herangewagt,
das zeigen am besten die erkenntnistheoretischen Einleitungen und
teilweise auch die Begriffsdimensionierungen und Fragestellungen in
unseren Lehrbüchern der Psychopathologie. Einige kräftige Worte
hat Bleuler gegen die Philosophie gerichtet (32, S. 107): „Wenn
man unter Wissenschaft das verstehen will . . ., so ist sie, soweit sie
Wissenschaft ist, nicht Philosophie, und soweit sie Philosophie ist
47
nicht Wissenschaft, sondern ein logisches (?, Ref.) Spiel zur Befrie¬
digung autistischer Bedürfnisse.“ Andererseits gibt es auch Außen¬
seiter, die ernsthaft bei der Neuregelung des ärztlichen Studienganges
vier Stunden Philosophie gegenüber drei Stunden Zoologie verlangt
haben, diesen Respekt vor der Philosophie ein wenig zu erschüttern,
war ein Ziel dieser Ausführung.
Die erfrischendsten Worte der Kritik hat der stärkste Systema¬
tiker, den die Naturwissenschaft besitzt, Wilhelm Ostwald,
gefunden, mit seiner Verachtung der „Papierwissenschaft“, seiner
Kritik der scholastischen Einstellung der Geschichtswissenschaften,
wie der Sprachwissenschaften, des Schulmeistersinns der letzteren
gegenüber den praktischen Problemen, des fortschritthemmenden
Heilighaltens der Sprache, ihrer nutzlosen Kleinarbeit, Äußerungen,
die man an Ort und Stelle (9, 10, 82, 83, 86) nachlesen möge.
Man darf eine derartige Stellungnahme, die der Methode und
nicht dem letzten Inhalt gilt, nicht dahin mißverstehen, als würde
die Bedeutung dieser Wissenschaftsgruppe verkannt, voll entwickelt
zur Gesellschaftswissenschaft ist diese Gruppe die Krönung des
Stufenbaues der Wissenschaften. Die Beackerung dieses letzten jung¬
fräulichen Bodens der Wissenschaft nach naturwissenschaftlicher
Methode könnte in den ersten Anfängen heute schon begonnen wer¬
den. Freilich sind vorher noch mächtige Widerstände zu brechen,
sehen wir doch sogar in der Medizin noch Reste ihres Kampfes zwi¬
schen verstaubter Tradition und neuem naturwissenschaftlichen
Geiste. Die Blüte der Saat und ihre Ernte ist aber erst spät zu er¬
warten, ist doch das begonnene Jahrhundert, wie wir das Tempo
der Entwicklung heute einschätzen, kaum sehr viel mehr als erst das
Jahrhundert einer der Unterstufen der Gesellschaftswissenschaften,
das „Jahrhundert der Psychologie“.
Zusammenfassung.
Die Stellungnahme konnte bei der Weite der Gebiete, die be¬
rührt werden mußten, zur Wahrung der nun einmal für geboten er¬
achteten Kürze im Eingang und Schluß vielfach nur formelhaft er¬
folgen. Hierin liegt ein und in der Verschwommenheit der fraglichen
zentralen Probleme und Begriffe, deren Dimensionen jeweils nur aus
dem Gebrauche deutlich werden, ein zweiter Grund dafür, daß eine
Zusammenfassung nicht mehr geben kann, als eine ganz grobe Orien
tierung über die Einstellung des Autors, doch sei sie versucht.
48
Der Schwerpunkt dessen, was gesagt werden soll, ist darin zu
sehen, daß daran erinnert wird, daß die psychologischen Begriffe, wie
wir sie in der Umgangssprache ohne Spekulation gebrauchen, gar
nicht auf das eine „unbeschreibbar andere“ gehen, das man in der
Erkenntnistheorie dadurch näher zu bezeichnen versucht, daß man es
die „innere Seite“ dessen nennt, was von „außen“ gesehen Him-
geschehen ist, sondern daß dipse Begriffe, wie es für die Größen
Psyche — Bewußtsein, Empfindung — Ich ausgeführt wurde, ihre
wohldefinierbare soziobiologische Dimension haben. Physiologie und
Psychologie unterscheiden sich nicht durch das „Innen“ und „Außen“
ihrer Betrachtungsweise, sondern dadurch, daß sie konsekutive, hin¬
tereinanderliegende Fragestellungen haben, dadurch, daß die eine
physiko-chemisch, die andere biologisch-gesellschaftswissenschaftlich
betrachtet. Dabei bleibt die Fragestellung und Begriffsbildung der
Psychologie streng der der Physiologie trotz aller großen temporären
Selbständigkeit subordiniert.
Alle Begriffe bilden, was ihr erklärtes Hervorgehen aus einander
anlangt, einen von unten nach oben sich immer weiter verzweigenden
Stammbaum (mit dem stärksten Wachstum an den Zweigspitzen), wie
er mit groben Strichen in dem Comte-Ostwaldsehen Stufen¬
schema der Wissenschaften charakterisiert ist, in dem sich Arbeits-,
Lebens- und Gesellschaftswissenschaften übereinander schichten. Die
Psychologie hat als Grenzwissenschaft zwischen Lebens- und Gesell¬
schaftswissenschaften zwei große Wurzeln ihrer Fragestellung, eine
physiologische und eine soziologische. In der Stufenhöhe ist der Um¬
fang der erforderlichen Vorbildung, der Kompliziertheitsgrad und
der Reifezustand der einzelnen Wissenschaft ausgedrückt, den wir
ausnahmslos an dem Grade messen, in dem die Kenntnis der die
Objekte beherrschenden Gesetzmäßigkeiten vorgeschritten ist.
Die Philosophie hat in dem fraglichen Stammbaum der Wissen¬
schaften kein Feld, ihre einstigen realen Inhalte sind heute längst an
die Einzel Wissenschaften abgegeben, eine gesonderte Fragestellung
besitzt sie überhaupt nicht, sie lebt nur von der begriffslosen Ver¬
wendung der Wortsymbole echter Begriffe der Einzelwissenschaften,
so die Erkenntnistheorie vom Mißbrauch der Wortsymbole der sozio-
biologisch dimensionierten psychologischen Grundbegriffe, und erhält
dadurch ihren Schein von Verständlichkeit.
Es ist somit Ernst zu machen mit der restlosen Entfernung aller
erkenntnistheoretischen sog. Begriffe (Augenblicksbildsr charakteri¬
stischer begriffsloser Anwendung gibt eine Reihe wörtlicher Anfüh¬
rungen) wie auch aller erkenntnistheoretischen, überhaupt aller phi-
49
losophisehen Fragestellungen, die als solche den Anspruch auf Selb¬
ständigkeit außerhalb einer Einzel Wissenschaft erheben; hier vergeht
sich die Fragestellung ganz gewöhnlich gegen die Voraussetzungen,
die in dem fragenden Begriffe schon gegeben sind, daher bleibt jede
Lösung ebenso inhaltslos wie die Frage selbst.
In der Differenz Naturwissenschaft—Geisteswissenschaft haben
wir nicht zwei in der Natur ihres Objektes grundsätzlich geschiedene
Gruppen zu sehen, sondern zwei verschiedene Behandlungsweisen,
von der die eine die Vorstufe der anderen ist und die sich durch die
mehr oder minder strenge Fragestellung aus dem systematischen
Aufbau der Wissenschaften heraus, durch das mehr oder minder um¬
fangreiche Hineinspielen affektiver Bedürfnisse, durch die mehr oder
minder strenge Bezugnahme auf den Unterbau und allgemein durch
die Größe des Wirkungsfeldes unterscheiden, das der persönlichen
Eigenart des Forschers offensteht.
In der Fragestellung ist die vorstehende Ausführung dem Ge¬
dankenkreise der 0 s t w a 1 d sehen Wissenschaftslehre entnommen,
der Lösung wurde die Bleuler sehe Auffassung der Grundbegriffe
der Psychologie zugrunde gelegt. Dabei wurde noch weitgehender
als bei beiden und bei Petzoldt jede selbständige philosophische
Fragestellung aufgehoben. Dies Verbundensein allen drei Genannten
gegenüber hervorzuheben schien darum nötig, weil bei dem Versuch,
gerade hier zur Klarheit zu kommen, das Trennende in erster Linie,
Petzoldt gegenüber sogar fast ausschließlich, hervortreten
mußte.
Die Literaturzusammenstellung soll nur als Beleg der angeführ¬
ten Anschauungen dienen, jedoch ist eingangs eine Anzahl der ent¬
weder grundlegenden oder ergänzenden oder in den zugrunde liegen¬
den Anschauungen verwandten Arbeiten — ohne dabei irgendwelche
Ansprüche zu erheben — vorangestellt, die Fernerstehenden einen
raschen Überblick über den Fragekreis von verwandtem Standpunkte
aus gestatten.
Literatur.
1. E. Bleuler, Versuch einer naturwissenschaftlichen Betrachtung der
psychologischen Grundbegriffe. Allgem. Zeitschr. f. Psych. Bd. 50. 1894. —
3. Derselbe, Lehrbuch der Psychiatrie. 2. Aufl. Berlin 1918. —
3. A. Comte, Cours de philosophie positive. 4 ed. Paris 1877. Tome I. —
4. H. ▼. Helmholtz, Vorträge und Reden. ~3. Aufl. Braunschweig 1884.
Bd. I: Über das Verhältnis der Naturwissenschaften zur Gesamtheit d. Wissen¬
schaft — Über Ziel und Fortschritte der Naturwissenschaft — Bd. II: Das
Ahlenettei, Über die Stellung der Psychologie uew. (Abhandl. H. SS.) 4
50
Denken in der Medizin. — Über das Streben nach Popularisierung der Wissen¬
schaft. — 5. 0. Hertwig, Der Staat als Organismus. Jena 1922. — 6. Pau 1
J e n s e n, Erleben und Erkennen. Jena 1919. G. Fischer. — 7. A d o 1 f
Meyer, Die logische Stellung der Biologie im System der Wissenschaften.
Naturw. Wochenschr. N. F. 21. Bd. Heft 5. — 8. Derselbe, Die mecha¬
nistische Idee in der modernen Naturwissenschaft. Naturw. Wochenßchr. N. F.
Bd. 19. Jena 1920. — 9. Wilhelm Ostwald, Grundriß der Naturphiloso¬
phie. Leipzig, Reclam 1908. — 10. Derselbe, Das große Elixier. Leipzig
1920. Dürr & Weber. — 11. J. Petzoldt, Naturwissenschaft, im „Hand¬
wörterbuch f. Naturwissenschaften“. VII. Bd. Jena 1912. — 12. M. V e r w o r n,
Prinzipienfragen in der Naturwissenschaft. 2. Aufl. Jena. Fischer. —
13. R. Avenarius, Bemerkungen zum Begriff des Gegenstandes der Psy¬
chologie. Vierteljahrsschr. f. wissensch. Philosoph. 1894. 1895. — 14. Der¬
selbe, Philosophie als Denken der Welt gemäß dem Prinzip des kleinsten
KraftmaßeB. Leipzig 1876. — 15. Derselbe, Der menschliche Weltbegriff.
Leipzig 1891. — 16. Derselbe, Kritik der reinen Erfahrung. Bd. I, II.
2. Aufl. 1907/08. — 17. Erich Becher, Geisteswissenschaften und Natur¬
wissenschaften. München 1921. — 18. Derselbe, Naturphilosophie, in „Die
Kultur der Gegenwart“. Teil III, Abt. 7. Leipzig 1914. — 19. W. v. Bech¬
terew, Objektive Psychologie oder Psychoreflexologie. Leipzig 1913. —
20.Beer,Bethe,Uexküll, Vorschläge zu einer objektivierenden Nomen¬
klatur in der Physiologie d. Nervensyst. Zentralbl. f. Physiol. Bd. 13. 1899.
— 21. A. B e t h e, Dürfen wir den Ameisen und Bienen psychische Qualitäten
zuschreiben? Pflügers Archiv. 70. Bd. 1898. — 22. Derselbe, Noch ein¬
mal über die psychischen Qualitäten der Ameisen. Pflügers Archiv. 79. Bd.
1900. — 23. Derselbe, Allgem. Anatomie u. Physiologie d. Nervensystems.
Leipzig 1903. — 24. E. Bleuler, Naturgeschichte der Seele und ihres Be¬
wußtwerdens. Berlin 1921. — 25. Derselbe, Das Unbewußte. Journ. f.
Psychol. u. Neurolog. Bd. 20. Erg.-Heft 2. 1913. — 26. Derselbe, Schizo¬
phrenie u. psychol. Auffassungen, zugleich ein Beispiel, wie wir in psycholog.
Dingen aneinander vorbeireden. Allg. Zeitschr. f. Psych. u. psych. ger. Medi¬
zin. Bd. 76. — 27. Derselbe, Die psycholog. Richtung i. d. Psychiatrie.
Schweizer Arch. f. Neur. u. Psych. 2. Bd. Heft 2. — 28. Derselbe, Psycho¬
physischer Parallelismus u. ein bißchen andere Erkenntnistheorie. Zeitschr. f.
Psychol. 41. Leipzig 1906. — 29. Derselbe, Psychisch u. Physisch L d.
Pathologie. Zeitschr. f. d. ges. Neurol. u. Psych. Orig. Bd. 30. 1916. —
30. Derselbe, Diagnostische Assoziationsstudien v. Bewußtsein u. Assozia¬
tion. Journ. f. Psychol. u. Neurol. 6. Bd. 1905. — 31. Derselbe, Psychi¬
sche Kausalität u. Willensakt. Zeitschr. f. Psychol. Bd. 69. 1914. — 32. D e r -
selbe, Das autistisch undisziplinierte Denken i. d. Medizin. Berlin 1919. —
33. E. du Bois-Reymond, Uber die Grenzen d. Naturerkennens. Die 7
Welträtsel. 3. Aufl. Leipzig 1891. — 34. L. Büchner, Kraft u. Stoff.
18. Aufl. Leipzig 1894. — 35. E. Claparöde, Tierpsychologie, im „Hand¬
wörterbuch d. NatuTwissensch.“ Bd. 9. 1913. — 36. C. Detto, Die Theorie
der direkten Anpassung. Jena 1904. G. Fischer. — 37. H. Driesch, Leib
u. Seele. 2. Aufl. Leipzig. — 38. Derselbe, The Science and Philosophie
of the Organism. vol. I., II. London 1908. — 39. H. Ebbinghaus, Psycho¬
logie in „Kultur d. Gegenwart“. Teil I. Abtlg. 4. Leipzig 1908. — 40. Der-
selbe, Grundzüge d. Psychologie. 2. Aufl. 1905. — 41. Derselbe, Grund¬
riß d. Psychologie. I. 42. (Zit. nach Eisler.) — 42. R. Eisler, Wörterbuch
d. philos. Begriffe. 3. Aufl. Bd. I—III. Berlin 1910. — 43. S. Exner, Ent¬
wurf z. einer physiol. Erklärung d. psych. Erscheinungen. Wien 1894. —
44. G. Th. Fechner, Nanna oder über das Seelenleben d. Pflanzen. 4. Aufl.
1908. — 45. V. F r a n z, Die Welt d. Lebens in Objekt, nicht anthropozentrisch.
Betrachtung. Leipzig 1907. Barth. — 46. Derselbe, Die Vervollkommnung
in d. lebend. Natur. Jena 1920. G. Fischer. — 47. F. W. F r ö h 1 i c h, Reflexe
im „Handwörterb. d. Naturwissensch.“ Bd. VIII. 1. 1913. — 48. J. Geyser,
Lehrb. d. aUg. Psychologie. 3. Aufl. Bd. I. Münster 1920. — 49. P. H ä b e r -
lin, Der Gegenstand d. Psychologie. Berlin 1921. — 50. E. Haeckel, Die
Welträtsel. 8. Aufl. Bonn 1902. — 51. Derselbe, Die Perigenesis d. Pla-
stidule. Berlin 1876. Reimer. — 52. C. Hauptmann, Die Metaphysik i. d.
mod. Physiologie. Dresden 1893. — 53. W. H e 11 p a c h, Unbewußtes oder
Wechselwirkung. Zentralbl. f. Psych. 48. Bd. 1908. — 54. H. v. Helm-
holtz, Handb. d. physiolog. Optik. 1867. S. 484. — 55. H. E. Hering.
Inwiefern ist es möglich, d. Physiolog. v. d. Psycholog, sprachlich zu trennen?
Biolog. Zentralbl. 23. Bd. 1903. — 56. G. Heymanns, Das künftige Jahr¬
hundert d. Psychologie. Leipzig 1911. Barth. — 57. D. H i 1 b e r t, Die Grund¬
lagen d. Physik. Nachr. v. d. königl. Ges. d. Wissensch. zu Göttingen. Math.-
phygikal. Kl. I. Mitteilg. 1915. 2. Mitteilg. 1917. — 58. K. Jaspers, Allg.
Psychopatholog. Berlin 1913. — 59. P. Jensen, Organ. Zweckmäßigkeit,
Entwicklg. u. Vererbung. Jena 1907. — 60. Derselbe, Leben, im „Hand¬
wörterbuch d. Naturwissensch.“ VI. Bd. Jena 1912. — 61. F. J o d 1, Lehrbuch
d. Psychol. 2. Aufl. S. 6. Stuttgart 1903. — 62. Kirchners Wörterbuch
d. philosoph- Grundbegriffe. 6. Aufl. v. C. Michaelis. Leipzig 1911. — 63.
H. Kleinpeter, Der Phänomenalismus. Eine naturwissensch. Weltanschau¬
ung. Leipzig 1913. Barth. — 64. WolfgangKöhler, Die phys. Gestalten
in Ruhe u. im stationären Zustand. Braunschweig 1920. — 65. E. K r ä p e 1 i n ,
Psychiatrie. 8. Aufl. Bd. I. Leipzig 1909. — 66. Friedrich Kraus, Die
allgem. u. d. spez. Patholog. d. Person. I. Leipzig 1919. — 67. E. Kretsch¬
mer, Medizin. Psycholog. Leipzig 1922. — 68. K. Lamprecht, Über den
Begriff d. Geschichte u. über histor. u. psychol. Gesetze. Ann. d. Naturphilos.
Bd. II. 1903. — 69. Derselbe, Moderne Geschichtswissensch. Freiburg 1905.
Heyfelder. — 70. F. A. Lan ge, Gesch. d. Materialismus. Buch 1 u. 2. 17. Aufl.
Leipzig 1902. — 71. P. S. de Laplace, Oeuvres. Tome VII. Theorie
analyt. des Probabilitäs. Paris 1847. — 72. Th. Lipps, Naturwissensch. u.
Weltanschauung. Verh. d. Ges. Dtsch. Naturf. u. Ärzte. 1. Leipzig 1906. —
73. Derselbe, Leitf. d. Psycholog. 2. Aufl. Leipzig 1906. — 74. E. M a c h ,
Die Analyse d. Empfindungen. 7. Aufl. Jena 1918. — 75. Derselbe, Der
relative Bildungswert d. philolog. u. d. mathematisch-naturwissenschaftl. Bil¬
dungsfächer. Leipzig 1886. — 76. Derselbe, Die Mechanik in ihrer Ent¬
wicklung histor.-kritisch dargestellt. 7. Aufl. 1912. — 77. Derselbe, Die
Geschichte u. d. Wurzel d. Satzes v. d. Erhaltung d. Arbeit 2. Aufl. Leipzig
1900. — 78. P. J. M o e b i u s, Über den Zweck des Lebens. Annal. d. Natur-
philosopb. 3. Bd. 1904. — 79. Derselbe, Die Hoffnungslosigkeit aller
Psychologie. 2. Aufl. Halle 1907. — 80. G. v. Monakow, Psychiatrie u.
Biologie. Schweiz. Arch. f. Neurol. u. Psychiatr. IV. Bd. — 81. H. Mti n s ter¬
be r g, Grundzüge d. Psycholog. 2. Aufl. Leipzig 1918. — 82. W. O s t w a 1 d .
4*
Vorlesungen über Naturphilosoph. Leipzig 1902. — 88. Derselbe, Monist
Sonntagspredigten. II. Leipzig. Akadem. Verlagsges. (42. Der Bau d.
Wisßensch. 43. Naturgeschichte d. Begriffe. 44. Wissenschaft u. Technik.) —
84. Derselbe, Die chem. Literatur u. d. Organisation d. Wissensch. Leip¬
zig 1919. Akadem. Verlagsges. — 85. Derselbe, Das System d. Wissensch.
Annalen d. Naturphilosoph. VI.—VIII. Bd. Leipzig. — 86. Derselbe, Die
Wissenschaft. Leipzig 1911. Kröner. — 87. W o. 0 81 w a 1 d und W. B1 o ß -
f e 1 d t, Über kausale u. finale Erklärung. Annal. d. Naturphilosoph. Bd. 1H.
1904. — 88. Fr. Paulsen, Einleitung in d. Philosoph. 17.—19. AufL Stutt¬
gart 1907. — 89. Derselbe, Philosophia militans. 2. Aufl. Berlin 1901.
90. J. Petzoldt, Einführung i. d. Philosoph, d. rein. Erfahrung. Leipzig
1900/04. — 91. Derselbe, Die, Notwendigkeit u. Allgemeinheit d. psycho¬
physisch. Parallelismus. Arch. f. Philosoph. 2. Abtlg. VHI. Bd. Berlin 1902.
— 92. Derselbe, Das Gesetz d. Eindeutigkeit Vierteljahrsschr. f. wissensch.
Philos. 19. Jahrg. 1895. — 93. E. Pflüger, Die sensorischen Funktionen d.
Rückenmarks d. Wirbeltiere. Berlin 1853. — 94. M. Planck, Die Einheit
d. physikal. Weltbildes. Physikal. Zeitschr. Bd. 10. 1909. — 95. L. Plate,
Selektionsprinzip u. Probleme d. Artbildung. 4. Aufl. Berlin 1919. —
96. H. Poincarä, La Valeur de la Science. Paris 1905. — 97. M. Rei-
ehardt, Theoretisches über d. Psyche. Journ. f. Psychol. u. Neurol. Bd. 24.
1918. — 98. J. Reinke, Einleitung i. d. theoret Biologie. 2. Aufl. Berlin
1911. — 99. Derselbe, Bemerkungen zu O. Bütschlis Mechanismus u. Vita¬
lismus. Biolog. Zentralbl. Bd. 22. 1902. — 100. B. R^6si, Geschichte d.
Seelenbegriffes u. d. Seelenlokalisation. Stuttgart 1917. — 101. H. Rickert,
Die Grenzen d. naturwissensch. Begriffsbildung. 2. Aufl. Tübingen 1913. —
102. R. 8 e m o n, Die Mneme als erhaltend. Prinzip. 3. Aufl. Leipzig 1911. —
103. Th. Schjelderup-Ebbe, Beitr. z. Sozialpsycholog, d. Haushuhns.
Zentralbl. f. Psychol. Bd. 88. (Zit als Beispiel einer tierpsychol. Arbeit mit
rein soziobiologisch. Fragestellung.) — 104. L. W. Stern, Die differentielle
Psychologie. 3. Aufl. 1921. — 105. O. zur Strassen, Die neuere Tier¬
psychologie. Leipzig 1908. Teubner. — 106. Derselbe, Die Zweckmäßig¬
keit, in „Kult. d. Gegenw.“ III. Abtlg. 4. Leipzig 1915. — 107. C.H.Stumpf.
Zur Einteilg. d. Wissenschaften. Abhdlg. d. kgl. preuß. Akadem. d. Wissensch.
Berlin 1906. — 108. H. Vaihinger, Die Philosophie des als ob. 4. Aufl.
Leipzig 1920. — 109. M. Verworn, Die biolog. Grundlagen d. Kulturpolitik.
Jena 1915. G. Fischer. — 110. Derselbe, AlJg. Physiologie. 5. Aufl. Jena
1909. — 111. Derselbe, Die Frage nach d. Grenzen d. Erkenntnis. 2. Aufl.
Jena 1908. — 112. Derselbe, Kausale u. konditionale Weltanschauung.
2. Aufl. Jena 1918. — 113. W. Wundt, System d. Philosophie. 4. Aufl.
Bd. I u. II. Leipzig 1919. — 114. Derselbe, Grundzüge d. physiolog.
Psychologie. 5. Aufl. Leipzig 1902/03. — 115. Derselbe, Ober die Ein¬
teilung d. Wissenschaften. Philosoph. Studien. Bd. V. 1889. — 116. Th. Zie¬
hen, Erkenntnistheorie auf psycho-physiolog. u. physikal. Grundlage. Jena
1913. — 117. Derselbe, Leitfaden d. physiolog. Psychologie. 8. Aufl. Jena
1908. — 118. Derselbe, Psychologie, im „Handwörterbuch, d. Naturwissen¬
schaften“. VII. Bd. 1912. — 119. Derselbe, Zum gegenwärtigen Stand der
Erkenntnistheorie. Wiesbaden 1914.
Anmerkung. Die tiefgehende Mißdeutung, der die im Vor¬
stehenden entwickelte Auffassung vom Wesen der Wissenschaft als
einer in letzter Linie die Spezies im Daseinskampf mit belebten und
unbelebten Mächten immer vollkommener stabilisierenden Funktion
bei einem der Naturwissenschaft nahestehenden Philosophen wie
Schlick unterliegt (M. Schlick: Allgemeine Erkenntnislehre.
Berlin 1918), sei hier, da sie typisch für das Verkennen der Frage¬
stellung in weiten Kreisen ist, zum Anlaß genommen, um noch einmal
erweiternd auszuführen, was mit der Aussage von der biologischen
Bedeutung der Wissenschaft eigentlich besagt werden soll.
Schlick führt aus (S. 791!.):
„Dieser innige Zusammenhang zwischen Erkenntnis und prak¬
tischem Nutzen hat nun viele Denker zu der Meinung geführt, der
Wert des Erkennens bestehe, jetzt wie einst, überhaupt bloß in die¬
sem Nutzen. Wissenschaft, sagen sie, diene allein der praktischen
Voraussicht, der Herrschaft Uber die Natur; nur hierin finde sie
ihren Sinn und Wert. Die Forderung, Erkenntnis um ihrer selbst
willen zu suchen, ganz ohne Rücksicht auf ihre Anwendung im
Leben, fließe aus mißverstandenem Idealismus und bedeute in
Wahrheit eine Entwertung der Wissenschaft (z. B. 0 s t w a 1 d)....
Diese Ansicht übersieht einige Punkte, die für das Verständnis der
menschlichen Geistesentwicklung gerade die wichtigsten sind. So
gewiß der Verstand anfänglich nur ein Instrument der Lebens¬
haltung war, so gewiß ist seine Tätigkeit heute nicht mehr bloß das,
sondern selbst eine Quelle der Lust. Es ist ein allgemeiner, auch
sonst wirksamer Naturprozeß, der diesen Wandel hervorbringt: der
Prozeß der Umwandlung der Mittel in Zwecke. Tätigkeiten näm¬
lich, welche notwendige Mittel zur Erreichung bestimmter Zwecke
bilden, deren Ausübung aber zunächst nicht unmittelbar mit Lust
verknüpft ist, werden uns durch Gewöhnung allmählich so ge¬
läufig und vertraut, daß sie einen integrierenden Bestandteil des
Lebens ausmachen: schließlich geben wir uns ihnen auch um ihrer
selbst willen hin, ohne einen Zweck damit zu verbinden oder zu er¬
reichen; ihre Ausübung selbst bereitet uns Lust, sie sind aus Mitteln
zu Zwecken geworden. Waren sie einst nur als Mittel wertvoll, so
sind sie es jetzt an sich selber.... Erkenntnis, sofern sie Wissen¬
schaft ist, dient also nicht irgendwelchen anderen Lebensfunktio-
nen. Sie ist nicht auf praktische Beherrschung der Natur gerich¬
tet, obwohl sie hinterher oft auch dazu nützlich sein mag, sondern
sie ist eine selbständige Funktion, deren Ausübung uns unmittel¬
bar Freude bereitet, ein eigener, mit keinem anderen vergleichbarer
Weg zur Lust. Und in dieser Lust, mit der der Erkenntnistrieb
das Leben des Forschenden füllt, besteht ihr Wert.“
Die Tatsache, daß wissenschaftliche Tätigkeit für den Forscher
lustbetont ist, wird gewiß niemand abstreiten wollen. Man kann
gewiß sehr wohl sagen, daß der Einzelne die Wissenschaft um der
unmittelbaren Befriedigung willen suche, die die Arbeit in ihr ge¬
währt. Aber Schlicks Argumentation wird dem, was hier gesagt
werden soll, in der Fragestellung nicht gerecht. Was unter¬
sucht werden soll, sind hier garnicht die Motive des Forschens beim
Einzelnen. Es soll vielmehr für die Handlung „reine
Wissenschaft“ eine kurze Formel gefunden werden.
Solange wir nicht mit physico-chemischen oder mit hirnphysiolo¬
gischen Formeln an die Formulierung der Handlung herantreten
können, ist die einzig mögliche Formel für eine Handlung die teleolo¬
gische, die Benennung ihres (allermeist biologischen) Effektes. Diese
Formel für die Komponente reine Wissenschaft — die einen Teil bil¬
det der großen komplexen Aktion Wissenschaft des praktischen Be¬
griffes, in welche, wie bereits ausgeführt wurde, noch sehr viel andere
Momente bestimmend eingegangen sind —, diese Formel für die
Aktion reine Wissenschaft ist die einzige überhaupt ernstlich etwas
aussagende Formel geblieben, die bisher versucht worden ist.
Über ihre Möglichkeit kann man — allenfalls — diskutieren, nur
möge man sie in dem angreifen und durch vollkommeneres zu er¬
setzen suchen, was sie eigentlich besagen will. Die Handlung Wissen¬
schaft soll durch sie erklärend definiert werden, d. h. es sollen in
gröbsten Umrissen Gesetzlichkeiten oder Regeln angedeutet werden,
die für die Richtungnahme des wissenschaftlichen Interesses, wenn
man das Objekt aus der nötigen Distanz betrachtet, für die Schal¬
tungskraft — Wichtigkeitsbeimessung — verschiedener Fragestellun¬
gen beim Einzelnen wie in der Allgemeinheit sowie möglicherweise
auch für die Schaltungskraft der Aktion Wissenschaft (als Gesamtheit
gefaßt) gegenüber anderen Aktionen etwa der Aktion Kunst usw.
innerhalb des Staatsorganismus wirksam sind.
Diese Definition beansprucht natürlich nicht, ein fertiges Schema
zu sein, mit dem man alle berührten Probleme ohne weiteres lösen
könne, dazu ist sie zu allgemein und dazu liegen die Dinge viel zu
kompliziert, wohl aber will sie eine ganz grobe Regel geben und zum
56
Ausdruck bringen, daß man nur auf dem Wege der teleologischen
Betrachtungsweise hoffen darf, hier überhaupt Gesetzlichkeiten auf¬
zustellen. Ordnen sich — selbstverständlich — auch nicht alle die
große Handlung Wissenschaft zusammensetzenden zahllosen Einzel¬
funktionen beim Einzelnen wie bei der übergeordneten Persönlichkeit,
der Gemeinschaft, eindeutig auf das angegebene Ziel, so können wir
doch aus der behaupteten Gesetzlichkeit eine ganze Reihe von Aus¬
sagen, Rücksagen und Voraussagen ziehen, die, auch wo sie nur
negativ gerichtet sind, uns immerhin schon etwas weiter helfen.
Wer die Definition ablehnt, der behauptet damit theoretisch einen
Bankerott der Voraussage, an den er selbst praktisch nicht glaubt.
Wir haben eben alle einen leidlich klaren und festen Begriff von dem,
was wir eigentlich unter Wissenschaft verstehen. Zur Verdeutlichung
sei ein krasses Beispiel gebildet. Wenn sich beispielsweise alle
Mineralogen und Geologen der Welt in der gegenwärtigen wie in allen
folgenden Generationen ausschließlich darauf vereinten, Form, Ge¬
stalt und Lage aller unzähligen kleinen und kleinsten Kristalle zu
einander, die ein beliebiges Granitmassiv, etwa das des Brockens,
zusammensetzen, auf das genaueste zu beschreiben, eine Arbeit, die
nur in unabsehbaren Zeiträumen zu Ende geführt werden könnte, so
würde wohl übereinstimmend ein solches Unternehmen als eine Ver¬
irrung bezeichnet werden. Ja, noch mehr, wir werden es als außer¬
ordentlich unwahrscheinlich ansehen, daß ein ähnlicher Fall über¬
haupt je einträte, wir behaupten also das Walten von bestimmten
Gesetzlichkeiten und die Möglichkeit eines Maßstabes. Für beides
eine Formel in ganz grober Annäherung zu geben, ist der Sinn der
Definition der Wissenschaft als einer in letzter Linie praktischen
Größe.
Treten wir so weit zurück wie in der gegenwärtigen Betrach¬
tung und überhaupt in dieser ganzen Darstellung, dann wirkt die
Betonung des Umstandes, daß die Wissenschaft von Mittel zum Zweck
geworden sei (um uns der Ausdrucksweise Schlicks zu bedienen)
eher verwirrend als weiterführend, denn sie berührt nur den Punkt,
wie sich mit der zunehmenden Zusammenschweißung der Individuen
zum Staatsorganismus bei der Einzelpersönlichkeit Motivierung und
Zielbewußtsein der Handlung Wissenschaft verschoben haben. Dies
sollte hier garnicht zur Diskussion gestellt werden, für das, was
hier gesagt werden soll, ist es — wie bereits oben betont — natürlich
völlig gleichgültig, ob der zur Formulierung benutzte Zweck dem Ein¬
zelnen in so deutlicher Form, daß er formulierbar sei, bewußt vor¬
schwebe, wenn er sich nur aus der Arbeit abstrahieren läßt.
56
überhaupt lftfit sich doch vielleicht in höherem Grade, als man
bisher in der Regel und als S c h 1 i c k in den z. T. angeführten Zeilen
zu meinen scheint, bei Handlungen der verschiedensten Art sowohl
des Einzelnen wie des Staatsörganismus das Prinzip der Erhaltungs-
gemäöheit als — allerdings mit besonderem Verständnis zu ver¬
stehende — Voraussage leistende Gesetzlichkeit zur Anwendung
bringen.
Die im Vorstehenden behandelten Fragen der Wissenschaftslehre,
des Begriffsaufbaues usw., in deren Zusammenhang das zentrale Pro¬
blem, die soziobiologische Dimension der psychologischen Grund¬
begriffe, behandelt wurde, wären als soziologische bzw. als sozial¬
psychologische Probleme zu bezeichnen. Die Sozialpsychologie ist
aufzufassen als Oberstufe der allgemeinen Biologie, wie zu zeigen
versucht wurde. Und so wendet sich diese Arbeit neben den Kreisen,
an die sie sich nach dem Orte ihres Erscheinens richtet, auch an den
vorerst leiderkleinen Teil derjenigen, die von der organischen Natur¬
wissenschaft aus den Weg zu diesen Fragen gefunden haben, ln
diesen Kreisen hofft sie homophon zu klingen und die fttr ein Ver¬
stehen nun einmal erforderlichen präformierten Gedankengänge
anzutreffen.
ABHANDLUNGEN AUS DER NEUROLOGIE,
PSYCHIATRIE, PSYCHOLOGIE UND IHREN
GRENZGEBIETEN
BEIHEFTE ZUR MONATSSCHRIFT FÜR PSYCHIATRIE UND NEUROLOGIE
HERAUSGEGEBEN VON K. BONHOEFFER
HEFT 24
(Aus der psychiatrischen und Nervenklinik der Universität Berlin
[Direktor: Geh.-Rat Professor Dr. Bonhoeffer].)
Zur Klinik der nichtparalytischen
Lues-Psychosen
Von
*
Dr. H. Fabriiius
Dozent, Chefarzt in Helsingfors.
BERLIN 1924
VERLAG VON S. KARGER
KARLSTRASSE 15.
Medizinischer Verlag von S. Karger in Berlin NW. 6.
In den
Abhandlungen aus der Neurologie, Psychiatrie,
Psychologie und ihren Grenzgebieten
Beihefte z. Monatsschrift für Psychiatrie u. Neurologie, sind bisher erschienen:
Heft 1: Typhus uud Nervensystem. Von Prof. Dr. Georg Stertz in
Breslau. (Vergriffen.)
Heft 2: lieber die Bedeutung von Erblichkeit und Vorgeschichte für das
klinische Bild der progressiven Paralyse. Von Dr. J. Pernet in
Zürich. (Vergriffen.)^
Heft 3: kindersprache und Aphasie. Gedanken zur Aphasielehre auf
Grund von Beobachtungen der kindlichen Sprachentwickelung und
ihrer Anomalie. Von Priv.-Doz Dr. Emil Fröschels in Wien. Mk.5.50
Heft 4: Epilepsie uud Demeutia praeeox. Von Prof. Dr. W. Vorkastner
in Greifswald. Mk. 5.—
Heft 5: Forensisch-psychiatrische Erfahrungen im Kriege. Von Priv.-Doz.
Dr. W. Schmidt in Heidelberg. Mk. 8.—
Heft 6: Verbindung endogener und exogener Faktoren in dem Symptomen¬
bilde und der Pathogenese von Psychosen. Von Priv.-Doz. Dr. Hans
Seelert in Berlin. Mk 4.-~
Heft 7: Zur Klinik und Anatomie der reinen Worttaubheit, der lleilungs-
aphasle und der Tontaubheit. Von Priv.-Doz. Dr. Otto Pötzl in
Wien. Mit zwei Tafeln. Mk. 6.—
Heft 8: Die Spielbreite der Symptome beim manisch-depressiven Irresein.
Von Prof. Dr. P. Schröder in Greifswald. Mk 3.—
Heft 9: Die symptomatischen Psychosen und Ihre Diiferentinldiagnose.
Von Priv.-Doz. Dr. Hans Krisch in Greifswald. Mk. 2 25
Heft 10; Die Abdcrlmldeiische Reaktion mit bes. Berücksichtigung ihrer Er¬
gebnisse i.d. Psychiatrie. Von Priv.-Doz. Dr.G. Ewa Id in Erlangen. Mk.9.—
Heft 11: Der extrapyramidale symptomeiik<*niplex (das dy«tonisChe Syn¬
drom) uud seine Bedeutung in der Neurologie. Von Prof Dr. G.
Stertz in München. (Vergriffen.)
Heft 12: Der anelltische Symptomenkomplex. Eine Studie zur Psychopatho¬
logie d. Handlung. Von Priv.-Doz. Dr. O. Albrecht in Wien. Mk 4.- -
Heft 13: Die neurologische Forsehuugkriclttuiig lu der Psychopathologie
und andere Aufsätze. Von Prof. Dr. A. Pick in Prag. Mk. 8.—
Heft 14: lieber die Enterbung der Neurisclieii Körperchen Von Prof. Dr.
L. Benedek u. Dr. F.O. Porsche in Kolozsvar. Mit lOTafeln. Mk 15 —
Heft 15: lieber die lledeutuug uud Eutstekuiig der Stereotypien. Von Priv.-
Doz. Dr. Jakob Kläsi in Zürich. Mk. 3.—
Heft 16: lieber Psychoaualyse. Von Dozent Dr. R. Allere in Wien. Mk. 3.60
Heft 17: Die Zergliederung des psychischen Krauklieitshildcs bei Artcrio-
sklerosis-cerebri. Von Nervenarzt Dr. S. J. R. de Monchy in
Rotterdam. Mk. 3 —
Heft 18: Epilepsie u. manisch-depressives Irresein. Von Dr. Hans Krisch
in Greifswald. Mk. 3 —
Heft 19: lieber die paranoiden Reaktionen in der Haft. Von Dr. W. För-
sterling in Landsberg a d. W. Mk. 3 60
Heft 20: Demeiitia praecox, intermediUre psychische Schiebt und Kleinhirn-
Ba8alganglieu-Stirnhirnsystcme. Von Priv.-Doz. Dr. MaxLoewy
in Prag-Marienbad. Mk. 4 20
Heft 21: Metaphysik uud Schizophrenie. Eine vergleichende psychologische
Studie. Von Dr. G. Bychowski in Warschau. Mk. 5.—
Heft 22: Der Selbstmord. Von Priv.-Doz. Dr. R. Weichbrodt in Frank¬
furt a. M. Mk 1.60
Heft 23: Leber die Stellung der Psychologie im Stammbaum der Wissen¬
schaften und die Dimeusion ihrer Grundbegriffe» Von Dr. Heinz
Ahlenstiel in Berlin. Mk. 180
Heft 24: Zur Klinik der lilclitparalytisehen Lues-Psychosen. Von Dozent
Dr. H. Fahritius in Helsingfors. Mk. 4.—
Die Abonnenten der „Monatsschrift für Psychiatrie und Neurologie*
e« halten diese Abhandlungen zu einem ermäßigten Preise.
Obige Preise sind Goldpreise, eine Gold mark gleich 10 ; 42 Dollar.
ABHANDLUNGEN AUS DER NEUROLOGIE,
PSYCHIATRIE, PSYCHOLOGIE UND IHREN
GRENZGEBIETEN
BEIHEFTE ZUR MONATSSCHRIFT FÜR PSYCHIATRIE UND NEUROLOGIE
HERAUSGEGEBEN VON K. BONHOEFFER
HEFT 24
(Aus der psychiatrischen und Nervenklinik der Universität Berlin
[Direktor: Gelu-Rai Professor Dr. Bonhoeffer].)
Zar Klinik dernichtparalytiscüen
Lues-Psychosen
Von
Dr. H. Fabritius
Dozent, Chefarzt in Helsingfors.
BERLIN 1924
VERLAG VON S. KARGER
KARLSTRASSS 15-
Als Plaut im Jahre 1913 seine Monographie über Halluzinose
der Syphilitiker schrieb, scheint er mit einer gewissen optimistischen
Schaffensfreude an die Sache gegangen zu sein. „Unsere neuen
diagnostischen Hilfsmittel,“ schreibt er, „setzen uns nunmehr in den
Stand, annähernd in jedem Falle, unabhängig von den psychischen
Befunden, festzustellen, ob eine Syphilis vorliegt.“ Und gegenüber
der Skepsis einiger von ihm zitierter Forscher, die in ihren Fällen
nicht mit einer .einfachen Lueswirkung, sondern mit verwickelteren
kombinierten exo- und endogenen Momenten rechnen wollen, äußert
er sich: „Dieses Bedürfnis, nach komplizierten Erklärungsmöglich¬
keiten zu suchen, die ja wohl in einzelnen Fällen auch einmal zu¬
treffen mögen, ist gerade bei der Himsyphilis befremdlich. Warum
soll die Tätigkeit der Spirochaeten im Gehirn mit ihren zahlreichen
Folgezuständen nicht in vielen Fällen allein eine Psychose bewirken
können? Daß die Reaktionsweise des Individuums auch hier eine
große Rolle spielt, bleibt unbestritten. Warum soll sie aber eine so
besonders große Rolle spielen, eine größere, wie etwa bei Intoxika¬
tionspsychosen mit chemischen Giften? Dies scheint mir ein Vorurteil
zu sein, das für den Fortschritt der Erkenntnis hinderlich ist.“
Nun sind 10 Jahre seit der Veröffentlichung der Arbeit Plauts
verstrichen. Ob wir aber dem Ziele in der von ihm erhofften Rich¬
tung näher gekommen sind, erscheint mir auf Grund der allerdings
leider recht spärlichen diesbezüglichen Literatur der letzten Jahre
zweifelhaft. Wenn man z. B. die Arbeit des Dänen Wimmer vom
Jahre 1918 liest, die — wie Plaut in einem Referat derselben zu¬
gibt — eine wertvolle Bereicherung unseres Wissens auf diesem
Gebiet darstellt, wird man im Gegenteil von einem gewissen Pessi¬
mismus ergriffen. Wimmer will das Vorhandensein spezifischer
Luespsychosen zwar nicht ganz in Abrede stellen, das Meiste aber,
was er unter seinem großen Material gesehen, will er als „typische
oder atypische“ Paralysen auffassen. Auch der Holländer B o u m a n
drückt sich ähnlich in sehr vorsichtiger und kritischer Weise aus.
Zu diesen kommen noch einige andere Umstände, die unsere
Gesichtspunkte in der Psychiatrie in den letzten Jahren stark ver¬
schoben haben und die m. E. Bedenken gegen eine Fragestellung
ähnlich wie PI au t’ s aufkommen lassen.
Man muß wohl zugeben, daß die Regungen und Strebungen, die
in den ersten 10—15 Jahren dieses Jahrhunderts die Psychiatrie
beherrschten, wenigstens vorläufig gescheitert sind. Unter Krae-
l*
4
pelins Führung jagte man nach Krankheitseinheiten, hoffte zu
jedem exogenen Reiz ein anatomisches Substrat und ein klinisches
Bild zu finden, und es schien schon, als ob Kraepelin durch die
Schaffung der beiden großen Gruppen der manisch-depressiven und
der Dementia-praecox-Kranken in das Chaos der vielen Symptomen-
bilder Ordnung geschaffen hätte. Aber gleichzeitig erleben wir das
eigenartige Schauspiel, daß er und zahlreiche andere Forscher am
Niederreißen des mühevoll errichteten Baues tätig sind. Immer neue
Gruppen, Untergruppen und Übergangsformen müssen aufgestellt
werden, man hat, wie Körthe „mit Schrecken“ feststellt, nicht
nur Begriffe wie Dementia praecox, manisch-depressives Irresein
und degenerative Seelenstörung, sondern auch Dementia praecox
im weiteren Sinne, manisch-depressives Irresein im weiteren Sinne
und degenerative Seelenstörung im weiteren Sinne. Und außer
dieser „Diagnose im weiteren Sinne“ haben wir Bezeichnungen wie
„wirkliche“ oder „echte“ Paranoia“, oder echte Dementia praecox
usw. Wie weit kann die Grenze ausgedehnt werden, fragt er schlie߬
lich, und diese Äußerung erinnert an Hoch es bekannte „Be¬
fürchtung“ auf der 40. Jahresversammlung der südwestdeutschen
Irrenärzte 1909, daß die Gruppen, um wirklich nur Identisches zu
umschließen, schließlich so klein werden würden, daß sie überhaupt
nur einen Fall enthalten.
Eine starke Erschütterung dieser Anschauungen rief sodann
vor allem die Lehre Bonhoeffers von den exogenen Reaktions¬
typen hervor. Bekanntlich will er festgestellt haben, daß bei einer
gewissen Intensität und Dauer der einwirkenden Schädigung, „un¬
abhängig von derArt derNoxe“ (zu der auch die Traumen
gehören), gemeinsame „psychopathologische Mechanismen“ ausgelöst
werden, und zwar sollen hierbei vor allem Bilder von delirantem,
epileptoidem und dämmerzustandsartigen Charakter, Halluzinosen,
Amentiabilder und Korsakoffsehe Symptomenkomplexe ent;
stehen. Diese Feststellungen sind wohl den Hauptzügen nach als
richtig anerkannt worden, und man kann nur Erwin Popper
zustimmen, wenn er sagt: „Trotzdem hier eine letzte Übereinstimmung
noch nicht geschaffen werden konnte, vermögen die neuen Fest¬
stellungen und Streitpunkte jedoch nicht mehr der Bonhoeffer
sehen Lehre den Boden zu entziehen.“
Über die Deutung und Ursache dieser Erscheinungen hat,
soviel ich gesehen, Bonhoeffer keine theoretischen Spekulationen
gemacht. Er spricht nur — wie bereits oben gesagt — von ge-
5
wissen „psychopathologischen Mechanismen“, die zur Auslösung ge¬
langen Bollen. Dieser Ausdruck wirft aber — scheint mir — ein
gewisses Streiflicht auf das Problem.
Durchmustem wir die von Bonhoeffer geschilderten Reak¬
tionstypen, so finden wir in den deliranten, epileptoiden usw. Bildern
als gemeinsamen Zug eine Störung oder Trübung des Bewußtseins
oder richtiger der synthetischen, kohärenten Kräfte des Seelen¬
lebens. Das mehr oder weniger feste Gefüge des normalen Seelen¬
lebens zerfällt, anstatt Kohärenz tritt Inkohärenz ein, die Fähigkeit
der Aufmerksamkeit leidet, eine Teil- oder Obervorstellung kann
nicht genügend festgehalten werden oder das Einprägungsvermögen
neuer Eindrücke und ihre Einordnung in den früheren Wissens¬
bestand versagt, also — wie auch Kraepelin zeigt — Störungen
der Auffassung, Sinnestäuschungen, Bewußtseinstrübung, Merk¬
schwäche, Unklarheit, abenteuerliche Wahnbildungen. Gewisse für
das normale seelische Geschehen notwendige Fähigkeiten leiden also
und die Bonhoeffer sehen Erfahrungen besagen nur, daß diese
empfindlicher, vulnerabler anderen exogenen Schädlichkeiten gegen¬
über sind.
Hier, finde ich, liegt das Neue und Eigenartige der B o n h o e f -
fersehen Lehre, und es scheint mir deshalb, daß eine Kritik der¬
selben, wie die Spechts, nicht das Richtige trifft. Dieser Autor
will geltend machen, daß auch manische und melancholische Zu¬
standsbilder durch exogene Reize ausgelöst werden könnten, und
wenn er sie der „langen Liste“ Bonhoeffers hinzufügt, würde
diese fast alle psychiatrischen Symptomenbilder umfassen. Bei den
Bonhoeffer sehen Bildern aber handelt es sich um gewisse vulne¬
rable Gehirnmechanismen und dadurch hervorgerufene wesensver¬
wandte Symptomenbilder, bei den manischen und depressiven Bil¬
dern dagegen um ganz andersartige klinische Erscheinungsformen.
Aus demselben Grunde repräsentieren auch die exogenen Reak¬
tionstypen Jelgersmas in Holland etwas ganz anderes als die
Bonhoeffer sehen. Als Folgen exogener Reize sollen nach J e 1 -
gersma drei „primäre Symptome“ entstehen, und zwar:
1. Affektstörungen manischer und depressiver Färbung, die
der Ausdruck einer „Erhöhung der Stoffwechselvorgänge
im Gehirn“ sein sollen,
2. Verwirrtheit und
3. Demenz.
6
Unter sich stellen diese Typen offenbar etwas Verschieden¬
artiges dar und bilden nicht dieselbe geschlossene Einheit, wie die
exogenen Reaktionstypen Bonhoeffers. Hier werden Folge¬
zustände exogener Einwirkungen mit Reaktionsweisen zusammen¬
geführt, was nur zu einer Verwischung der Begriffe führen kann.
Kehren wir aber nach diesen Betrachtungen zur Frage der
Luespsychosen zurück, so fordert uns das soeben Gesagte zum Suchen
eventueller exogener Reaktionstypen auch bei der Lues auf. Ver¬
hält sich die Lues in dieser Hinsicht anders wie andere Infektions¬
krankheiten? Sind die Halluzinosen der Syphilitiker, denen Plaut
seine Monographie widmete, nicht als exogene Reaktionstypen auf¬
zufassen? Und sind die anderen Reaktionstypen Bonhoeffers
unter den Luespsychosen vertreten?
Sodann müssen wir einige andere Gesichtspunkte berücksich¬
tigen, die besonders in den letzten Jahren eine so große Rolle
spielen. Ich meine die heutigen endogenen Reaktionsformen, die
jetzt fast die früheren Krankheitseinheiten verdrängt haben. Ge¬
rade die bereits zitierte Arbeit Wimmers zeigt, daß zur Auffassung
einer Psychose keineswegs die Feststellung positiver Luesreaktionen
in Blut und Liquor genügen, sondern daß wir auch auf andere, vor
allem endogene Momente Rücksicht nehmen müssen.
Die Auffassung der Psychosen als endogene Reaktionsweisen
hat bei niemand eine so scharfe Prägung erhalten, wie bei dem
Schweden Gadelius in seinem großen Werke „Det menskliga
själslivet“ (das menschliche Seelenleben). Anstatt Psychosen will er
Reaktionsweisen und Verbindungen derselben stellen, und zwar kennt
er eine manisch-depressive, eine schizophrene, eine paranoische oder
egozentrische und eine epileptische Reaktionsform. Sogar die Ver¬
wirrtheit stellt er als eine endogene Reaktionsform dar, die im
normalen Leben ihr Gegenstück in den Träumen haben soll. Die
Gestalt und die Züge einer Psychose sollen nun vor allem durch die
angeborenen Reaktionstendenzen bestimmt werden.
Eine fast ähnliche Ansicht finden wir in einer Arbeit Kretsch¬
mers (Zeitschr. f. d. ges. Neur. und Ps. 48, S. 370), sowie in seiner
bekannten Arbeit vom Körperbau und Charakter. Durch die Kon¬
stitution soll der seelische Habitus des Menschen bestimmt sein, und
sie bestimmt auch «der Hauptsache nach seine Psychose, ja diese
sollen, wie er sich an einer Stelle ausdrückt, nur „Schwankungen
und Katastrophen“ des normalen Zustandes sein, die wir aber mit
Ausdrücken, wie „Depression, Katatonie, epileptischem Dämmer¬
zustand“ bezeichnen. „Im großen biologischen Rahmen beobachtet
7
aber sind die endogenen Psychosen nichts anderes als persönliche
Zuspitzungen normaler Temperamentstypen“ (Körperbau und Cha¬
rakter, S. 93).
Eine Reihe anderer Forscher sind sodann bezüglich einzelner
Psychosen zu ähnlichen Resultaten gelangt.
So schuf K1 e i s t als Grundlage seiner Involutionsparanoia die
hypoparanoische Konstitution. Friedmann hat mit seinen „mil¬
den“, Gau pp mit seinen „abortiven“ Paranoiaformen die Bedeu¬
tung der Anlage für die paranoische Erkrankung hervorgehoben.
Und neuerdings fügt Kretschmer seine „Sensitiven“ in den
bereits beschriebenen paranoisch disponierenden Konstitutionstypen
hinzu.
Aber auch von einer spezifisch schizophrenen, in der individuellen
Anlage versteckten Reaktionsweise hat man zu sprechen angefangen.
So wollen Friedlaender und Erwin Popper in zahlreichen
Fällen bei ihren Kriegsneurotikern typisch schizophrene Bilder ge¬
sehen haben, die keineswegs als latente Schizophrenie gedeutet wer¬
den können, sondern als Reaktionstypen, die auf der Basis einer
psychopathischen, bzw. degenerativen schizoiden Reaktionsbereit¬
schaft entstanden sind. Kahn hat ihnen dann begeistert zuge¬
stimmt, nur sieht er die Sache vom Standpunkt des Erbbiologen aus
an und wendet eine andere Terminologie an; anstatt vom schizoiden
Charakter zu sprechen, redet er von einem krankhaften Genotypus,
der durch verschiedene Momente aus der Latenz ins Leben wach¬
gerufen werden kann, sei es nun, daß es sich um psychogene Reize
handelt, die eine schizophrenieähnliche psychopathische Erkrankung
hervorrufen, oder um „Prozeßfaktoren“, die die Psychose der
Schizophrenie erzeugen.
Schließlich will ich noch an jene Strebungen erinnern, denen vor
allem Bumke und Seelert Ausdruck gegeben haben. Ihnen zu¬
folge haben wir nicht nur mit endo- und exogenen Faktoren bei der
Gestaltung des Symptomenbildes einer Psychose zu rechnen, sondern
auch mit einer Verbindung derselben. Daß auch dies ein Gesichts¬
punkt ist, der unzweifelhaft als richtig anerkannt werden muß,
muß wohl zugegeben werden. Man muß nach Kenntnisnahme des¬
selben fast erstaunen, daß die Kraepelinsehe Forschungsrichtung
(Thalbitzer,Dreyfuß) sich soviel Mühe gab, um auszuklügeln,
ob die Melancholie des Rückbildungsalters zum manisch-depressiven
Formenkreis gezählt werden sollte, oder ob sie eine eigene Krankheit
darstellte, da sie doch so recht markante eigenartige Züge und an¬
scheinend so oft freistehend ohne Anlehnung an frühere manische
8
oder depressive Schübe vorkoinmt. So ungezwungen — und wenig¬
stens vorläufig richtig — erscheint die Erklärung, daß wir es hier
nicht nur mit einem durch die Altersinvolution ausgelösten Depres¬
sionszustand zu tun haben, sondern auch mit einem Zustand, der
durch jenes Moment die spezifische Färbung der Angst bekommen
hat. Wir müssen also nicht nur mit einer Verbindung oder einem
Danebenstehen von verschiedenen Faktoren, sondern auch mit einer
gegenseitigen Beeinflussung derselben rechnen, und zwar bei de»
verschiedensten geistigen Störungen.
Durch alle diese Momente scheint sich die Fragestellung in der
Diagnostik und Systematik der Geisteskrankheiten in den letzten
Jahren wesentlich verändert zu haben. Vor 4 Jahren hat Körtke
auf die Unzulänglichkeit der jetzigen Systematik hingewiesen, die
unter Berücksichtigung „gemischt psychologisch-somatischer“ Ge¬
sichtspunkte nach Krankheitseinheiten jagt. Anstatt dessen will er
eine „Doppelsystematik“ einführen, die in gleicher Weise den psycho¬
logischen, wie den somatischen Bedürfnissen gerecht wird. In dieser
Betrachtungsart will er „die logische Fortentwicklung der Krae-
pe 1 insehen Begriffe und das von Alzheimer verlangte Zuende¬
gehen des von Kraepelin beschrittenen Pfades erblicken“.
Kurz darauf kommt Kretschmer und — unbefriedigt sowohl
von der Kraepelin sehen „eindimensionalen“ Diagnostik, wie von
der Körtke sehen Doppelsystematik — will eine „mehrdimensio¬
nale“ Diagnostik einftihren. Bei den psychischen Erkrankungen
haben wir nicht nur mit mehreren kausalen Faktoren: Charakter.
Erlebnis, Milieu, Trauma usw. zu rechnen, sondern wir müssen uns
auch vergegenwärtigen, daß diese den Zügen der Störung ihr eigen¬
artiges spezifisches Gepräge geben. Anstatt eine „Mischdiagnose“
will er deshalb eine „Schichtdiagnose“ aufbauen, die alle am Krank¬
heitsbild beteiligten Komponenten nach ihrer Lagerung und führen¬
den Wichtigkeit, jede nach ihren eigenen Gesetzen deuten und am
Schluß in der Gesamtdiagnose zum Ausdruck bringen.
Nach dieser Abweichung von unserem Thema, die durch die
Arbeit Wimmers veranlaßt wurde, wollen wir zu dieser zurück¬
kommen. Für Wimmer ist — wie gesagt — die Feststellung einer
sogen, manifesten Lues in einem Psychosefall keineswegs Grund
genug, um den Fall als eine Luespsychose aufzufassen. Es ist schon
höchst bezeichnend, daß er seine Arbeit „Nichtsyphilitische Geistes¬
krankheiten bei Syphilitikern“ bezeichnet. Die Fälle, die sehr gut
und gewissenhaft beobachtet sind — „die Analyse der Fälle verrät“,
sagt Plaut in seiner Besprechung der Arbeit im Referatenteil der
9
Zeitschr. f. d. ges. Neur. u. Psych., „den erfahrenen, kritischen Beob¬
achter und enthält manche feine Bemerkung“, zeigen fast alle
positive Wa Rea, im Liquor und Blut zur Zeit der Psychose und
mehrere bieten außerdem Symptome von Lues, bzw. Lues cerebri dar.
Trotzdem betrachtet Wimmer nur einen einzigen Fall als
eine Psychose auf der Basis einer luetischen Gehimerkrankung. In
den übrigen 10 Fällen findet er in der Vorgeschichte des Kranken,
in den endogenen Verhältnissen, in der Milieu- und Erlebniswirkung
eine genügende Erklärung der geistigen Störung. Er ist überhaupt
der Ansicht, daß die meisten (cf. S. 294) der bisher veröffentlichten
Krankengeschichten nur einen Beweis für „die Wahrscheinlichkeit des
ätiologischen Zusammenhangs der betreffenden Psychose mit Syphi¬
lis“ liefern, und obwohl er die syphilitischen Psychosen nicht in
Abrede stellt, findet er doch an seinem großen Material „erstaunlich
wenig Fälle, wo die Diagnose einfache syphilitische Psychose“ ge¬
stellt werden konnte. Die große Mehrzahl der Fälle stellt typische
oder atypische Paralysen dar.
Als Beispiel seiner Auffassungsweise will ich zwei von seinen
Fällen anführen.
Fall 2. 25jähriger Mann. Aufgenommen im Sommer 1905. Lues 1901,
die einen malignen Verlauf nahm (Gumma nasi, Gibbusbildung, luetischer
Matur nach Wimmers) und spastische Parese 1905. Pat ist trotzdem
verlobt und soll am 19. Mai 1905 seine Hochzeit auf dem Lande feiern. Am
Morgen des festgestellten Tages schwerer Dämmerzustand und mehrtägiges
verwirrtes Umhertreiben ln den Straßen. Nachfolgend Amnesie. In der
Klinik klar, orientiert, gummöses Syphiloid auf dem rechten Augenlid und
der Unterlippe, Gibbusbildung im mittleren Teil des Rückens. Paraparese.
8päter keine Symptome.
Trotz der aktiven Lues hält Verf. den Fall für eine „Situations¬
psychose in optima forma“; der schwere Konflikt — eine Ehe bei
der schweren und verheimlichten Krankheit zu schließen — treibt
ihn dazu, vor der Braut die Flucht zu ergreifen.
Fall 3. 29jähriges Ladenfräulein. Herbst 1916 Lues. Erst Septem¬
ber 1917 wurde ihr wegen Exanthems die sichere Diagnose Syphilis mitge¬
teilt; das machte auf sie einen tiefen Eindruck. Etwa 4—5 Wochen später
ängstlich, deprimiert, halluziniert Im Krankenhause anfangs orientiert,
ohne Wahnvorstellungen und Halluzinationen. Etwas später aber wieder
GehörBhalluzinationen, unnihig, jammert; zwei Monate später ruhig — exta-
tische nicht expansive Halluzinationen, Desorientierung, „jedoch kein allge¬
meines Umnebeltsein“. Wa. Rea. im Blut pos., im Liquor pos. (der Kranken¬
geschichte zufolge, obwohl Wimmer bei der Besprechung von negativem
Liq. — Wa. spricht).
Körperlich hat Pat. maculopapulöses Exanthem. Papeln an dem
Lab. min.
10
Auch hier sieht Wimmer nur ein „genaues zeitliches Zusam¬
menfallen“ zwischen nicht nervösen syphilitischen Manifestationen
und einer „psychogenen Geisteskrankheit“, im Anschluß an die Mit¬
teilung von der syphilitischen Infektion.
Wenn man diesen Maßstab anlegt, so muß man wirklich
Wimmer recht geben, daß nur eine ganz geringe Zahl von den bis
jetzt veröffentlichten Fällen als Luespsychosen angesehen werden
können. Man muß zu den von ihm wie von Nonne geforderten
4 Kriterien einer Luespsychose, nämlich: 1. sichere Infektion, 2. zeit¬
gemäßes Zusammenfallen der Psychose mit nervösen und nicht ner¬
vösen luetischen Manifestationen, 3. ein Schwanken der psychischen
Störungen parallel den neurologischen Erscheinungen und 4. posi¬
tive Wa—R. im Liquor (allerdings nach Wimmer auch kein
sicheres Zeichen eines Lues des N. S.), — die Forderung aufstellen,
daß keine anderen schwerwiegenden, psychogenen, endogenen oder
anderen Umstände vorliegen dürfen, die die Psychose in anderer
Weise erklären könnten.
Zu festeren und greifbareren Resultaten ist dagegen Walther
(1914) gelangt. Vor allem scheinen mir seine Halluzinosefälle,
sowie auch seine Korsakoffbilder eine sehr wertvolle Bereicherung
unserer Kenntnis der Luespsychosen zu sein. Sie bestätigen die
frühere Erfahrung, daß die Lues in irgendeiner Weise zur Auslösung
von Halluzinosen disponiert. Walther zählt sie zu den exogenen
Reaktionstypen zusammen mit den Verwirrtheitszuständen. Wir
werden auf diesen Punkt später noch zurückkommen.
Auch L. Bouman in Amsterdam hat einen guten Beitrag zu
den paranoisch-halluzinatorischen Formen geliefert (1916) und will
besonders die akut verlaufenden Fälle als luetisch bedingte auf¬
fassen, weil sie wenigstens einigermaßen von der Therapie beein¬
flußt zu werden scheinen. Er teilt unter seinen 6 Fällen 3 hierher¬
gehörige mit, und gibt uns wertvolle differentialdiagnostische Be¬
sprechungen. Ähnlich wie Wimmer ist er sehr kritisch und skep¬
tisch und fordert zur genauen Erwägung aller Umstände auf. Be¬
sonders der präpsychotische Zustand des Kranken zeigt uns oft,
wie vorsichtig wir in unserem Urteil bezügl. eines vermutlichen Zu¬
sammenhangs zwischen einer Psychose und Gehirnlues sein müssen.'
Er will sogar die Forderung aufstellen, daß wir, um einen Fall als
Luespsychose betrachten zu können, einen gewissen Erfolg von der
kombinierten Quecksilber-Salvarsantherapie sehen sollen.
Bezüglich der Entstehung der Halluzinosen und ihre Stellung
zur Lues cerebri haben übrigens die Arbeiten der letzten Jahre viel-
11
leicht einige Aufklärungen gebracht. Schon Plaut widmete in
seiner anfangs erwähnten Arbeit dieser Frage Aufmerksamkeit. Er
untersuchte nämlich das Paralytikermaterial der psychiatrischen
Klinik in München bezüglich der Häufigkeit von Gehörstäuschungen.
Schon früher hatten Kraepelin, Obersteiner, Ziehen u. a.
gefunden, daß diese in der Paralyse verhältnismäßig selten Vor¬
kommen, Plaut aber fand unter 713 Fällen nur 3 Fälle, bei denen
er die Gehörstäuschungen auf einen paralytischen Prozeß zurück¬
führen mußte, und sogar in diesen drei Fällen lagen ganz ungewöhn¬
liche eigenartige Verhältnisse vor. Dies scheint ja stark zugunsten
der Auffassung zu sprechen, daß nicht die sogen, metaluetischen
Prozesse besonders geeignet sind, Gehörshalluzinationen zu erzeugen.
Dies wird noch durch die Arbeiten anderer Forscher wahrschein¬
lich gemacht.
So fanden auch Banse und Rodenburg neulich, daß Gehörs¬
und Gesichtstäuschungen bei der Paralyse selten sind. Wenn vor¬
handen, treten sie entweder als flüchtige Begleiterscheinungen bei
lebhaften Erregungszuständen mit Bewußtseinstrübung auf, oder sie
sind auf psychopathische Anlage, Potatorium oder Kopftraumen
zurückzuführen. Morawcsik ist allerdings zu einer entgegenge¬
setzten Auffassung gelangt.
Weiter hat S i o 1 i 1910 einen, auch mikroskopisch untersuchten
Fall von halluzinatorischer Tabespsychose veröffentlicht, in der er
spezifisch-syphilitische Veränderungen im Gehirn vorfand. Infolge¬
dessen wirft er die Frage auf, ob nicht auch die Tabesfälle, die
während ihres Verlaufs halluzinoseartige Psychosen aufweisen, patho¬
logisch-anatomisch durch eine Lues cerebri kompliziert seien.
Dieser Ansicht tritt auch Schroeder bei, der 1916 einen wert¬
vollen Beitrag zum Kapitel Lues cerebri und ihre Beziehungen zur
progressiven Paralyse geliefert hat. Er will einen vermittelnden
Standpunkt einnehmen, und glaubt — gestützt auf einige Fälle —,
daß wenigstens in den chronischen Halluzinoseformen luetische zere¬
brale Vorgänge die Grundlage der Erscheinungen bilden, wogegen
wir die akut verlaufenden Fälle bei der unkomplizierten Tabes
fänden.
Neulich hat wiederum Urechia (1922) einen Fall von Cha¬
rakterveränderung bei einem langjährigen Tabiker beschrieben, der
zufällig an einer Grippe zugrunde ging. Die Veränderungen in der
Hirnrinde veranlassen auch ihn, von Himlues, nicht von Tabes¬
psychose zu sprechen.
12
Schließlich will ich noch kurz die auch von Plaut, Walther
u. a. zitierten Resultate Otto Meyers aus dem Jahre 1903 er¬
wähnen. Bei seinen „nicht-paralytischen“ Psychosen bei Tabes
dorsalis fand er, daß die basalen Himnerven ganz auffallend oft am
„tabischen“ Krankheitsprozeß mitbeteiligt sind, worauf bereits auch
Moeli hingewiesen hatte. Auch dies darf vielleicht mit aller
Reserve in dem Sinne verwertet werden, daß es sich hier vielleicht
um spezifisch-basale luetische Erkrankungen gehandelt hat.
Andererseits hat Carl v. Rad 4 Fälle von Halluzinosen bei
Tabikern veröffentlicht (von denen der dritte Fall doch kaum ver¬
wertet werden kann, da es sich um einen chronischen Alkoholiker
handelt). Klinisch lag einerseits eine sichere Tabes vor, anderer¬
seits Psychosen mit Halluzinationen und nicht systematisierten
Wahnideen, und die Fälle scheinen folglich zugunsten der alten Er¬
fahrung zu sprechen, daß die Tabes, also irgendwelche „metalue¬
tische“ Prozesse, halluzinoseerzeugend wirken würden. Der Einwand
muß aber erhoben werden, daß wir hier — gleich wie in fast allen
übrigen Tabesfällen, die durch eine Psychose kompliziert waren —
keine mikroskopisch-anatomische Untersuchung haben, und daß
folglich die Unterlage dieser „metaluetischen Psychosen“ uns völlig
rätselhaft bleiben muß.
Wie ersichtlich ist die Frage nach der Stellung der Halluzinosen
zur Lues noch keineswegs gelöst. Die soeben besprochenen Ver¬
mutungen sind aber in der Zukunft der Beachtung wert.
Die Beiträge zu unserer Frage sind außer den bereits zitierten
sehr spärlich, offenbar weil die Weltereignisse so viele andere
Themen in den Vordergrund des Interesses brachten. Außer der
großen Arbeit Krauses von 1915 habe ich in der Literatur nur
kleinere kasuistische Mitteilungen gefunden, die keine neueren
Gesichtspunkte bringen.
Auch die Arbeit Krauses gibt uns hauptsächlich eine Zu¬
sammenstellung von eigenen kasuistischen Beiträgen zur pathologi¬
schen Anatomie der Ilimsyphilis und zur Klinik der Geisteskrank¬
heiten bei syphilitischen Himerkrankungen. Sie bildet aber — wie er
selbst sagt — auch nur einen ersten vorläufigen Teil. Als Nach¬
schlagewerk sowohl bezügl. der beschichte der luetischen Gehirn¬
krankheiten, wie ihrer pathologischen Anatomie leistet das Buch vor¬
zügliche Dienste.
Von anderen Verfassern will ich vor allem Schroeder nennen,
der unser Wissen bezügl. der Abgrenzung der Luespsychosen von der
Paralyse — besonders von der atypischen und stationären Form der-
13
selben — bereichert hat, und zwar vor allem vom pathologischen
anatomischen Gesichtspunkt aus. Kleinere kasuistische Mitteilungen
Meiern Jessen, Urechia und ßusdea und der Holländer
F. S. Meyer zeigt an 6 Fällen, wie schwierig die Differential¬
diagnose zwischen der Paralyse und der Psychose bei der Lues
eerebri sein kann.
Nach diesem kurzen geschichtlichen Überblick werde ich zu.
meinen eigenen Fällen gehen. Ich habe dabei dank der Zuvor¬
kommenheit des Herrn Geheimrat Prof. Bonhoeffer die Gelegen¬
heit gehabt, die Fälle der 11 letzten Jahre zu verwerten, die in der
Nervenklinik der Charit6 zur Beobachtung kamen. Es sind Fälle,
in denen die Diagnose Luespsychose gestellt wurde, und in denen
also genügende Gründe für ihre Auffassung als Paralyse nicht vor¬
zuliegen schienen. Außer diesen Fällen habe ich zwei eigene Fälle
aus meinem Krankenhaus in Helsingfors benützt.
Ehe wir zu den Fällen gehen, wird es nötig sein, die Frage der
Gruppierung der Luespsychosen zu besprechen.
Selbstverständlich kann ich mich dabei in dieser wesentlich
klinischen Arbeit nicht von pathologisch-anatomischen Gesichts¬
punkten leiten lassen. In diesem Punkte ist man ja übrigens zu einer
gewissen Einigung der Ansichten gekommen, aber die gewonnenen
Resultate sind für die Klinik nicht von derselben Bedeutung. Wenn
wir auch die arteriellen, meningealen und gummösen Erscheinungen
auseinanderhalten können, und wenn man auch von Heubner,
Fournier, Teissin, Roux, Oppenheim und mehreren
anderen an bis zu Krause versucht hat, die klinischen Symptome
dieser pathologisch-anatomischen Erkrankungsformen festzustellen,
so konnte man — wie bereits oben kurz erwähnt wurde — zu keinem
befriedigenden Schluß kommen, weil 1. die Kranken uns fast nie den
Gefallen tun, nach den Schemen unserer pathologischen Lehrbücher
zu erkranken, sondern meistens Mischzustände darbieten, und weil
2. auch die Topographie der krankhaften Prozesse von außerordent¬
lich hoher Bedeutung ist. In der Neurologie haben wir vielleicht
mehr Nutzen von der pathologischen Anatomie gehabt. In der
Psychiatrie müssen wir uns — wenigstens vorläufig — bemühen, die
Krankheitserscheinungen zu gruppieren.
Kuriositätshalber will ich nur das Einteilungsprinzip Baums
erwähnen. Er will die Psychosen infolge von Syphilis auf 5 Gruppen
aufteilen, je nachdem sie vor der Lues oder im 1., 2. oder 3. Stadium»
oder schließlich in metaluetischen Stadien auftreten.
14
Gleichfalls finde ich die Einteilung Walthers nicht glücklich.
Er teilt nämlich die Luespsychosen in zwei große Gruppen: 1. chro¬
nische Defektzustände, 2. akute Psychosen, zu denen er akute Hallu-
zinosen, Angstpsychosen und Dämmerzustände zählt. Auch sonst
wird ja nicht der zeitliche Verlauf als Einteilungsprinzip verwendet.
Praktisch wird es wohl auch in vielen Fällen unmöglich sein, zu be¬
stimmen, wann ein Fall als ein akuter, wann als ein chronischer an¬
gesehen werden soll.
Bei der großen Mehrzahl der Autoren, die sich mit den syphi¬
litischen Geistesstörungen im weiteren Sinne befaßt haben, gehen —
wie es mir scheint — die Ansichten bezügl. der Systematik und der
Auffassung derselben nach zwei Richtungen.
Wir haben auf der einen Seite die Skeptiker, wenn ich so sagen
darf, deren typischer Vertreter Wimmer ist. An seinem großen
Krankenhausmaterial findet er durchaus überwiegend Dementia
paralytica, „typische oder atypische“ Fälle. Von seinen 11 veröffent¬
lichten erkennt er nur einen als Lues- (nicht Metalues-)psychose
an, und zwar als einen exogenen Reaktionstypus, einen torpiden
Verwirrungszustand. Bei den zahlreichen übrigen Geistesstörungen,
die bei Syphilitikern zum Vorschein kommen und beschrieben wor¬
den sind, handelt es sich aber — wenn nicht um Paralyse — um
ein zufälliges Zusammentreffen von Lues mit einer psycho- oder
endogenen bzw. andersartigen Psychose. Auch Plauts Fälle und
Zahlen aus einer Großstadt, wie München, deuten — sagt Wimmer
— wenigstens nicht darauf, daß einfache syphilitische Psychosen
besonders häufig sind. Auch L. B o u m a n erinnert in seiner Haltung
sehr an Wimmer.
Auf der anderen Seite finden wir Autoren, die entweder mehr
kritisch einige Typen von Geistesstörungen als luetisch bedingte
herauswählen wollen, oder die überhaupt fast alle bis jetzt bekannte
psychiatrische Zustandsbilder als mögliche Erscheinungsformen des
luetischen Irreseins ansehen. Ich werde hier nicht mit einem
Autorenverzeichnis prahlen, es handelt sich ja doch um bekannte
Sachen, und bei Krause finden wir genügend geschichtliche No¬
tizen, sondern werde versuchen, mich aus diesem Wirrwarr von An¬
schauungen herauszufinden, also dasjenige herauszugreifen, was als
sichergesiellt angesehen werden kann, und wiederum das Unklare
womöglich aufzuklären.
Zunächst drängt sich dabei — wie bereits anfangs erwähnt
•wurde — jener Typus auf, den auch Wimmer als eine spezifische
syphilitische Psychoseform ansieht, der exogene Reaktionstypus, der
an Heubners Rauschzustände erinnert, wie er es auch bemerkt.
Bereits 1903 hat Marcus eine gute zusammenfassende Darstellung
derselben gegeben. Kraepelin faßt diese Zustände deliriöser
Verwirrtheit als eine Gruppe zusammen, und neulich hat Krause
ans zahlreiche Beispiele derselben geliefert, und auch die uneinheit¬
liche, bunte Pathogenese derselben durch seine pathologisch-anato¬
mischen Untersuchungen beleuchtet.
Das Wesen der Störung in diesen Fällen liegt m. E. und wie
ich bereits oben darzulegen versuchte, in einem Versagen der kohären¬
ten, zusammenhaltenden Kräfte des Seelenlebens, und wir finden in
ihnen vor allem eine mehr oder weniger hochgradige, dauernde oder
kurze vorübergehende Bewußtseinstrübung, Erschwerung der Auf¬
fassung, Merkschwäche, Unklarheit, Halluzinationen, Wahn¬
ideen usw.
Klinisch sind die zu diesem Typus gehörigen Fälle in ihrer
extremsten Ausprägung scharf und klar gezeichnet. Ich meine die¬
jenigen Fälle, in denen die Bewußtseinsstörung stark im Vorder¬
gründe der Erscheinungen steht und die zuerst von Heubner be¬
schrieben wurden. In seinen Rauschzuständen steht der psychische
Symptomenkomplex „ungefähr in der Mitte zwischen den beiden
Krankheitsbildem, die man von der Hirnhautentzündung und von
der umschriebenen Hirnerweichung zu geben pflegt“. Sie entstehen
meistens nach diffusen Vorbotserscheinungen ziemlich. akut und
nehmen entweder einen ganz stürmischen, nicht selten letalen Ver¬
lauf, oder auch einen mehr protrahierten. Diese letzteren Fälle
stellen Übergangsformen zu den Fällen dar, die von Anfang an
einen mehr schleppenden, unpräzisen Charakter aufweisen, die aber
m. E. imbedingt zur selben Gruppe, wie die extremen Formen ge¬
hören und mit ihnen wesensgleich sind.
Gar nicht so selten stoßen wir nämlich auf Fälle — ich werde
auch Beispiele derselben geben — in denen sich die Vorgänge nicht
so stürmisch entwickeln. Die Kranken verändern sich allmählich,
werden erregt, ohne jedoch die Orientierung zu verlieren. Es treten
dann — oft des Nachts — Schübe von mehr oder weniger deutlicher
Verwirrtheit auf: die Kranken glauben im Theater zu sein, schreiben
einen Brief an den Kaiser, knien plötzlich nieder, schreien: „sie
wollen mich tot machen“ und laufen davon. Bald klärt sich das
Bewußtsein wieder auf.
Halluzinationen kommen vor, oft massenweise, wie in den Fällen
von Marcus: wir haben hier amentiaähnliche Fälle, sie können
aber auch fehlen oder jedenfalls in dem Hintergrund der Erschei-
16
nungen bleiben. Gleichfalls können wir katatone Züge sehen, wie
sie Bonhoeffer auch in seinen exogenen Reaktionstypen be¬
schreibt. Treten aber ausgesprochene katatone Symptomenbilder
auf, werde ich die Fälle nicht zu den exogenen Reaktionstypen
führen, sondern bespreche sie zusammen mit manisch-depressiven u. a.
Zustandsbildern.
Vorläufig habe ich noch gar nicht die Halluzinosefälle behandelt.
Bekanntlich zählt Bonhoeffer sie zu den exogenen Reaktions¬
typen. Ich werde es jedoch aus gewissen praktischen Gründen nicht
tim, sondern werde sie zusammen mit den paranoiden Luespsychosen
zu einer Gruppe führen. Zum exogenen Reaktionstypus der Lues¬
psychosen werde ich folglich Fälle von akuten oder mehr protrahier¬
ten Verwirrtheitszuständen mit oder ohne Halluzinationen zählen,
in denen der Verwirrtheitszustand nicht Teilerscheinung einef
Gruppe von Symptomenbildem ist, sondern das Wesentliche der
psychischen Veränderung. An diese Fälle lehnen sich auch die
Fälle von dämmerzustandsartiger Verwirrtheit bei luetischer Epi¬
lepsie an. Auch hier müssen wir wohl mit einem exogenen Reaktions*
typus zu tun haben, obwohl die Verhältnisse etwas verwickelter und
etwas anders liegen.
Wir kommen sodann zu den Halluzinosen, bzw. den halluzina¬
torisch-paranoiden Formen der Luespsychosen.
Außer Plaut hat vor allem Walther sehr schöne Fälle von
Halluzinosen bei Syphilitischen veröffentlicht und Bo um an lieferte
einen Beitrag zur Kenntnis der paranoiden Form. Die Ähnlichkeit
mit der Alkoholhalluzinose wird hervorgehoben. Außer den Hallu¬
zinationen und Wahnideen, die nicht systematisiert werden, tritt die
ängstliche Stimmungslage stark in den Vordergrund der Symptome.
Wenn ich diese Fälle zu einer Gruppe zusammenführe, so ge¬
schieht es — wie bereits gesagt — aus praktischen Gründen. Sie
bilden nämlich einen recht scharf umgrenzten eigenartigen Kreis mit
recht markanten Zügen. Die Grenze gegenüber den Verwirrtheits¬
zuständen kann allerdings auch ganz fließend sein, wie z. B. der
erste Fall Plauts sehr schön zeigt. In seiner Epikrise bezeichnet
ihn Plaut selbst als eine Psychose, die „am ehesten an gewisse
Erregungszustände, die man bei Paralytikern beobachtet“, erinnerte.
Halluzinationen wurden überhaupt nur „auf der Höhe der Erregung“
(und gar nicht in der Münchener Klinik) beobachtet. Von einer wirk¬
lichen Halluzinose würde ich jedoch ein wenigstens einigermaßen
geordnetes und ruhiges Verhalten fordern, in dem die Halluzinationen
und event. Wahnideen als Hauptsymptome auftreten. Sehr be-
17
merkenswert ist hier auch ein schweres psychisches Trauma, das neben
dem zweifelsohne vorhandenen luetischen Prozeß vorlag. Die
Symptome entstanden nämlich im Anschluß an eine gerichtliche Be¬
nachrichtigung, daß er ein uneheliches Kind habe.
Gleichfalls muß der Fall III bei Plaut richtiger als ein Ver¬
wirrtheitszustand bezeichnet werden, wie es wiederum auch Plaut
selbst zugibt. Das Krankheitsbild war vielmehr „eine depressive
Verstimmung“ mit „einzelnen stürmischen Erregungszuständen von
großer Flüchtigkeit, die ohne distinkte Sinnestäuschungen und ohne
ausgeprägte Wahnvorstellungen verliefen“.
Von einer Halluzinose muß man aber ein recht verschiedenes
Bild verlangen, wie bereits oben gesagt wurde, und wie wir es sehr
schön z. B. in den Fällen von Walther, v. Rad und auch in
mehreren von Plauts übrigen Fällen finden.
Als dritte Gruppe der Luespsychosen bieten sich uns sodann die
Defektzustände mit mehr chronischem Verlauf. Der Beginn kann
entweder von Anfang an schleppend unmerklich sein, oder die
Krankheit kann sich im Anschluß an einen akuten Erregungs¬
zustand entwickeln. Die Berechtigung, diese Gruppe zu schaffen,
braucht wohl kaum motiviert zu werden. Seitdem die ersten Ar¬
beiten über Syphilis und Geistesstörungen Mitte des vorigen Jahr¬
hunderts erschienen, tritt fast bei allen Autoren die Hervorhebung
des ruinierenden Charakters der Hirnsyphilis hervor, sei es in der
Gestalt der echten Paralyse oder der cerebral-luetisch bedingten Er¬
scheinungen. Überhaupt bekommt man beim Durchlesen der Lite¬
ratur den Eindruck, daß wenn die syphilitische Durchseuchung des
Gehirns zu Geistesstörungen führt, dies immer als etwas Ernstes
betrachtet werden muß.
Klinisch unterscheidet man m. E. am zweckmäßigsten zwei ver¬
schiedene Typen:
Die Pseudoparalyse Fourniers und
die postsyphilitische Demenz Binswangers.
Zu der ersten müssen wir Fälle zählen, die klinisch das Bild
einer Paralyse darbieten, und zwar gehören. ihr sowohl einfach
demente, wie expansive, gehemmte, gemischte und atypische Formen
an. Auf die Differentialdiagnose der echten Paralyse gegenüber
brauche ich hier nicht einzugehen, da sie genügend bekannt ist;
äußerst wertvolle Hilfsmittel haben wir gerade hier in den Blut- und
Liquoruntersuchungen.
Die zweite Form entwickelt sich mehr oder weniger unmerklich
im Anschluß an Schübe von gehimluetischen Erscheinungen, Apo-
Pabrftius, Zur Klinik der nichtparalytischen Lues-Psychosen. (Abhandl. H. 24) 2
18
plexien und dergl., auch unter den Fällen der Charite fanden sich
solche. Ich habe sie jedoch nicht verwertet, da sie bereits ge¬
nügend bekannt sind. Bei 11. Birnbaum (1908) finden wir
mehrere solche Fälle.
Sodann werden von einigen Autoren auch Kraepelin —
Fälle, in denen raumbesehränkemle luetische Prozesse meistens
Gummen, psychische Symptome hervorrufen, zu einer Gruppe zu-
sammengefaßt. Mir scheint kein Grund hierfür vorzuliegen. Die
psychischen Störungen bei Gehirntumoren werden ja auch nicht als
eine geschlossene Krankheitseinheit vorgeführt.
Wir hätten hiermit diejenigen drei Grundformen von Lues¬
psychosen dargestellt, in die sich die große Mehrzahl von Lues¬
psychosen einreihen lassen und von deren Vorhandensein bei der
meisten Autoren Einstimmigkeit herrscht. Wir gelangen aber jetzl
zu den Formen, die von zahlreichen Beobachtern beschrieben worden
sind und über deren tatsächliche Existenz kein Zweifel bestehen
kann — auch ich werde in meiner Kasuistik mehrere solche Fälle
vorführen —, die uns aber sowohl bezüglich ihrer Pathogenese wie
ihrer klinischen Einordnung und Zugehörigkeit vorläufig recht un¬
verständlich sind.
Es sind dies jene Formen, die als melancholisch-hypochondri¬
sche, maniakalische, ausgesprochen katatone und zyklisch-zirkuläre
beschrieben worden sind. Das Unsichere, der Streitpunkt, liegt hier
in der Frage: sollen wir sie als echte selbständige Krankheitsformen
auffassen, sollen wir also dem luetischen Gehirnprozeß die Fähigkeit
zusprechen, melancholische, manische, katatone und andere Psycho¬
sen zu schaffen, oder sind diese nur vorübergehende Zustandsbilder
auf dem Wege zur Paralyse oder anderen luetischen Psychosen
chronischen Charakters? Oder handelt, es sich um ein zufälliges
Auftreten von manischen, depressiven oder anderen Psychosen bei
Luetikern?
Man kann der Frage gegenüber zwei verschiedene Positionen
einnehmen. Entweder begnügt man sich, wie neulich Walther,
damit, ganz einfach festzustellen, daß Zustandsbilder der erwähnten
Art bei Patienten Vorkommen, die syphilitisch infiziert waren und
neurologische Erscheinungen von Hirnlues darboten, oder man sucht
in ihre Pathogenese einzudringen, um dadurch womöglich die Berech¬
tigung und das Verständnis dieser Krankheitstypen zu ergründen.
Wir sahen bei der Besprechung der Gruppe der Verwirrtheits¬
zustände, daß diese sich wahrscheinlich als exogene Reaktionstypen
auffassen lassen. Es ist aber fraglich, ob wir berechtigt sind, die
19
manische», depressive», katatonen und zirkuläre» Forme» in der¬
selben Weise aufzufassen. Bekanntlich bestreitet Bonhoeffer
dieses, und zwar aus empirischen Gründen. Andere aber, vor allem
Specht, Jelgersma und Gadelius ziehen mehrere Gründe
heran, die zu Gunsten einer solchen Auffassung spreche». Wenn
einmal — sagt man — die Verwirrtheitszustände infolge einer Locke¬
rung oder eines fehlerhaften Funktionierens gewisser seelischer Me¬
chanismen auftreten, müssen wir auch Gründe haben, anzunehmen,
daß diejenigen Gehirnprozesse, welche die Grundlage der Affekte
bilden, durch verschiedene exogene Momente funktionell verändert
werden können. Dafür zeugen die manische/i Zustände bei akuten
Alkoholintoxikationen oder bei den paralytischen Gehirnvorgängen.
Specht will außerdem bei sich selbst zwei typische akute exogen
hervorgerufene Depressionsschübe beobachtet haben, einmal infolge
einer leichten Gasvergiftung, ein andercsmal im Anschluß an eine
Influenza, und er glaubt, daß ähnliche Fälle oft Vorkommen, obwohl
sie selten zur ärztlichen Beobachtung kommen.
Specht hebt, weiter hervor, daß manische Zustände und Ver¬
wirrtheitsbilder nicht wesensverschieden sein können, da wir
fließende Übergänge zwischen ihnen sehen, und will die letzteren
nur als eine Steigerung, eine „Cerebrationsstufe“. wie er mit
Sc hü Ile sagt, der ersteren auffassen. Andererseits macht er, sowie
andere, darauf aufmerksam, daß die Verwirrtheitszustände keines¬
wegs als ausschließlich exogen-toxische Reaktionstypon angesehen
werden dürfen, da sie auch psychogen ausgelöst werden können.
Wenn diese Auffassung zu Recht bestehen würde, könnten wir
also die manisch-depressiven u. a. ähnliche Bilder als exogene
Reaktionstypen den Verwirrtheitszuständen angliedern. Wenn nicht,
so können frir trotzdem durch eine leichte Verschiebung des Ge sichts¬
punktes zu einer Verständigung gelangen. Anstatt von einer exogen
hervorgerufenen krankhaften Tätigkeit zu sprechen, müssen wir uns
die Vorgänge als exogen ausgelöste endogene Bereitschaften betrach¬
ten. Diese Betrachtungsweise ist ja heutzutage sehr beliebt, und
mehrere Autoren: Seelert, Schroeder, Pernet, Kalb
haben z. B. bezüglich der Paralyse geltend machen wollen, daß die
Gehimvorgänge hier zu einer Steigerung endogener manischer,
depressiver oder anderer Konstitutionskomplexe führen können, was
ja praktisch einer Auslösung eines manischen oder anderen Zu¬
standes durch exogene Momente gleichkommt.
Wie ersichtlich, läßt sich also das Auftreten von den verschie¬
denen Seelenstörungen bei der Gehimsyphilis gut verstehen, und
2 *
20
rein empirisch können wir auch nicht anders, als ihr tatsächliches
Vorhandensein registrieren. Es könnte unter diesen Umständen ge¬
boten erscheinen, die manischen, depressiven, katatonen und zirku¬
lären Psychosen als Erscheinungsformen des Irreseins bei Gehirn¬
lues einzureihen. Eins ist aber versäumt worden.
Man vermißt nämlich in der Literatur Notizen über den weiteren
\
Verlauf der veröffentlichten Fälle; die Symptome der akuten oder
subakuten Erkrankung oder Schübe werden geliefert, vom weiteren
Schicksal der Kranken erfahren wir aber nichts. Auch ich werde
keine großen Aufklärungen in diesem Punkte bringen können, erstens
sind meine Fälle zu gering an Zahl, zweitens habe ich — trotz ge¬
machter Nachforschungen — in verhältnismäßig wenigen Fällen
Auskunft über das spätere Verhalten der Kranken bekommen können.
Ich glaube aber doch, daß es eine wichtige Aufgabe der Zukunft werden
könnte, diese Lücke auszufüllen.
Aus dem, was ich erfahren, scheint mir jedoch hervorzugehen,
daß viele von diesen Fällen gerade zu denjenigen gehören, von
denen Wimmer sagt, daß ihre psychischen Symptome nur Mani¬
festationen einer Krankheit waren, die sich doch schließlich als eine
Paralyse entpuppte. Und noch in einer anderen Hinsicht sind sie
interessant. Sie können uns vielleicht einige Aufklärungen über die
Beziehungen der Himlues zur Paralyse bringen. Hier steckt m. E.
ein Problem, das mehr Aufmerksamkeit verdient hätte, als ihm zuteil
geworden ist.
Man stellt fast immer die Frage: Lues cerebri oder Paralyse?
Vom praktischen Gesichtspunkt aus ist dies ja wohl verständlich,
vom theoretischen aber nicht. Kraepelin, der auf 40 Seiten die
Ursachen und das Wesen der Paralyse behandelt, sagt nur auf einer
Stelle (II. .494) kurz: „Endlich ist noch auf die nahen klinischen Be¬
ziehungen der Paralyse zur Tabes und Lues cerebrospinalis . . . hin¬
zuweisen“, und zwar beabsichtigt er mit dieser Äußerung haupt¬
sächlich einen Beweis für die Abhängigkeit der Paralyse von der
syphilitischen Infektion zu liefern. Auch Plaut sagt in seinem
Referat über die syphilitischen Geistesstörungen (1909), daß der Pa¬
ralyse durch ihre durch Nißl, Alzheimer u. a. sichergestellte
histologische Eigenart allerdings eine Sonderstellung verbleiben
wird; nach der Nachweisung von Spirochaeten im Gehirn müssen
wir aber „mit der Möglichkeit rechnen, daß sie diese Sonderstellung
nicht außerhalb, sondern innerhalb der luetischen Gehirnerkrankun¬
gen angewiesen bekommt“.
21
Also auch bei ihm wird nur von einer „Sonderstellung“ der
Paralyse, einem Nebeneinanderstehen dieser und der Gehirnlues ge¬
sprochen, nicht aber von einer eventuellen Beziehung zwischen den
beiden Krankheitsformen.
Nur Gennerich hat den metaluetischen Prozeß als eine
Liquordurchtränkung des nervösen Gewebes auffassen wollen, die
dadurch zustande käme, daß zunächst spezifisch luetische Prozesse
langsam und allmählich die normale, wenn ich so sagen darf,
liquorfeste Beschaffenheit der Pia zerstören würden. Die Diffusion
des Liquors in das nervöse Gewebe würde hierdurch ermöglicht sein,
und der Übergang von der „histologischen Hirnsyphilis zur Para¬
lyse“ ließe sich in dieser Weise durch einen neu hinzutretenden
mechanischen Faktor, eben den Eintritt der „Liquordiffusion“ er¬
klären (Münch, med. Wochenschr. 92, S. 1195). Leider hat er mit gar
keinen Beweisen seine Auffassung gestützt, die wohl deshalb ganz
unbeachtet geblieben, bzw. abgelehnt worden ist.
Ich werde im klinischen Teil noch auf diesen Punkt zurück¬
kommen. Es gibt Fälle, die uns zu ernstem Nachdenken auffordern.
Ich werde Fälle vorführen, die uns ziemlich unverständlich bleiben,
wenn wir uns auf den Standpunkt stellen: Himlues oder Paralyse,
die aber in ein ganz anderes Licht rücken, wenn wir Hirnlues und
Paralyse sagen.
Ich werde also folgendes Einteilungsprinzip aufstellen:
I. Exogene Reaktionstypen mit akutem oder protrahiertem
Verlauf,
a) ängstlich-verwirrte Erregungszustände,
b) epileptisch-bedingte dämmerzustandsartige Bilder.
II. Halluzinose bzw. halluzinatorisch-paranoide Fälle.
III. Chronische Defektpsychosen.
Zum Schluß werde ich die manischen, »depressiven, ausge
sprochen katatonen u. a. Zustandsbilder behandeln.
Für die Überlassung des Materials der Charite in Berlin, sowie
für sein in jeder Hinsicht so freundliches Entgegenkommen erlaube
ich mir auch an dieser Stelle, Herrn Geheimrat Prof. Dr. Bon-
hoeffer meinen wannen Dank auszusprechen.
Klinischer Teil.
I. Exogene Reaktionstypen.
Obwohl die ersten beiden Fälle recht alltäglich sind, werde ich sie
mitteilen, weil sie erstens sehr typisch sind,und weil sif zweitens einen
guten x\usgangspunkt zum Verständnis der folgenden Fälle bilden.
Fall 1. W. B., 29 Jahre alt, Vizefeldwebel. Aufgen. 9. 3. 14, gest.
25. 3. 14. Diagnose: Luespsychose? Progressive Paralyse? Bei der Aufnahme
schwerer Erregungszustand. Pfeift, johlt, tanzt durchs Zimmer. Auch in der
Packung nicht zur Ruhe zu bekommen. Nachts delirant, schreit: „Jetzt geht’s
los, meine Nerven, meine Nerven.“ Kein Schlaf. 10. 3. Delirant« Unruhe
dauert fort.
Angaben der Frau: Familienanamnese o. B. Hat die Dorfschule be¬
sucht, Schulleistungen gut. Bis zum 20. Jahre auf dem Kahn gefahren.
8—9 Jahre beim Militär gewesen, besuchte Festungsbauschule. War abstinent,
ruhig und solide.
11. 3. Schwer zu fixieren. Antwortet gar nicht oder verwirrt. Große
motor. Unruhe. Nach dem Bericht eines Kameraden soll Pat. ein sehr
ruhiger Mensch gewesen sein. Soll sehr strebsam gewesen sein, wollte ein großes
Pensum auf der Festungsbauschule schaffen, sei sehr verschlossen gewesen.
12. 3. Nachts sehr unruhig, auf Hyoscin ruhiger, jedoch kein Schlaf.
Von einem Kameraden wird noch berichtet, daß Pat. als Rekrut einen
Schlag auf den Kopf mit einer Kreuzhacke bekommen habe. 2 oder 3 Tage
vor hiesiger Aufnahme einen „Anfall“, habe auf dem Bett gelegen und sich
geschüttelt. Habe sich schon länger nicht wohl gefühlt, das Arbeiten sei ihm
schwer gefallen.
13. 3. Unruhe dauert immer noch an, spricht eigentümlich zusammen¬
gesetzte Worte.
10. 3. Körperliche Untersuchung oder Exploration wegen des dauernd
erregten Zustandes nicht möglich. Erst auf besondere starke Hvoscinspritzen
etwas beruhigt.
24. 3. Ernährungszustand sehr schlecht. An der rechten Hand und auf
dem Handrücken eine 5-mark-stück-große, blau-schwärzlich verfärbte Stelle.
Lymphangitis. Nahrung tägl. X A —1 Liter Milch, sonst nichts.
25. 3. Blut — Wa. positiv. Lumbalpunktion (postmortal): Pb. I. und
II. Trübung, massenhafte Lymphozyten. Wa. pos.
Dauernde Verschlechterung des Befindens. Exitus.
Sektionsprotokoll: Geringe fibröse Verdickung der Pia mater.
Starke Hyperämie des Gehirns, geringe Unregelmäßigkeit in der Stärke der
Windungen, zwei kleine linsengroße Exostosen des Schädeldaches. Fein¬
körnige diffuse ausgedehnte Fettdurchw’achsung der Herzmuskulatur, geringe
Verfettung der Aortenintima. Akutes Emphysem beider Lungen. Taenia
saginata. Gelappte Nieren. Rinde der Nebenniere sehr schmal, fettige
Degeneration in den Nieren.
Mikroskopisch keine Paralyse.
Fall 2. K. Sch., 57 Jahre alt, Pförtner. Aufgen. 20. 10. 21. gest-
14. 12. 21. Luespsychose.
23
Kommt von der medizinischen Klinik zur Aufnahme. Desorientiert über
Ort und Zeit. Gibt auf Fragen Auskunft Angabe der Personalien richtig, als
Beruf „Geiger und Trompeter“. Perseverationen. Glaubt in der Kaserne zu
sein, spricht unverständlich vor sich hin, sagt „Tresse, Vizefeldwebel“ etc.
(Krank?) „Im linken Arm habe ich keine Kraft.“ (Kopfschmerzen?) — „Die
ganzen Drüsen! Sind Drüsen keine Kopfschmerzen?
Somatisch: Kräftig, innere Organe o. B. Kopf nicht sicher klopf
empfindlich, keine sicheren Schmerzäußerungen, kein Verziehen des Gesichtes.
Beweglichkeit gut.
Pup. mittelweit, Lichtreaktion träge. An den Hirnnerven nichts Patho¬
logisches. Bauchdecken- und Kremasterreflexe nicht sicher auslösbar.
Arme und Beine: Tonus nicht sicher prüfbar, da Pat. nicht entspannt, im
1. Arm wohl in toto etwas herabgesetzt (?). Armreflexe lebhaft, links viel¬
leicht mehr als rechts. Pat. und Ach. Reflexe gleich, lebhaft. Babinski links
positiv, die übrigen spastischen Reflexe negativ. Kraft nicht sicher prüfbar,
da Pat. Bewegungen nicht ordentlich ausführt und bei vorhergehenden Be¬
wegungen perseveriert. L. Arm anscheinend in allen Bewegungen etwas
schwächer als rechts. ‘Ellenbogenbeugen wohl besser als -strecken. Unter¬
schenkelstrecker bds. gut, alle übrigen Bewegungen nicht prüfbar. Pat. legt
sich plump auf die Erde, ist nicht zum Aufstehen zu bewegen. Diadochokinese
mit der 1. Hand ungeschickter ausgeführt als rechts.
Sensibilität: Nadelstiche werden bald links, bald rechts stärker ange¬
geben. Im allgemeinen im Gesicht, Armen und Rumpf links weniger als
rechts, an den Beinen links stärker als rechts. — Befolgt Aufforderungen
richtig. Benennen von gezeigten Gegenständen erschwert.
21. 10. Ausdrucksloser Gesichtsausdruck, es gehe ihm gut. Spricht
von Beamten, die ihn hergebracht hätten. Lacht, spricht undeutlich.
Über Parese hinausgehende Ungeschicklichkeit der linken Hand, rechts
keine Störung. — „Als ob ich links gar nicht weiß, was Drohen heißt“ (war
dazu aufgefordert worden). (Motorische Apraxie?) Die Parese betrifft die
Schulterbewegungen mehr als die anderen.
Pup. Reaktion 1. prompt, wenig ausgiebig, Fundus o. B., r. träge, geringe
Reaktion.
Arme: Reflexe gegen rechts lebhafter, 1. leichte Hypertonie. Heben des
linken Armes im Schultergelenk mit reduzierter Kraft möglich, bleibt rechte
deutlich zurück. Beugen und Strecken im Ellenbogen- und Handgelenk in der
Kraft gegen rechts etwas vermindert. Bei feineren Bewegungen links geringe
Ungeschicklichkeit, links deutliche Adiadochokinese. Beim Zeigefingerver¬
such links geringe Ataxie. Lagegeftihl bds. erhalten, bei feineren Ausschlägen
nicht sicher zu entscheiden, ob falsche Antworten auf Aufmerksamkeits¬
störung zurückzuführen sind. Beim Benennen von Gegenständen scheint er¬
schwerte Wortfindung zu bestehen. Pat. konfabuliert viel, erzählt ohne Zusam¬
menhang. Zeitlich und örtlich vollkommen desorientiert, schweift immer sofort
ab. Bei einem neuen Satz bringt er Worte vom vorhergehenden mit herein.
Unt. Extr.: Links leichte Hypertonie. Knie und Hüftbcugung mit
reduzierter Kraft möglich. Pat. und Ach. Refl. bds. lebhaft, links Babinski.
Oppenheim normal. Rossolimo, Mendel.
26. 10. 21. Angaben der Ehefrau: Kennt Pat. seit 25 Jahren. Alkohola-
busus, war aktiver Musiker. War oft betrunken. Sehr aufgeregter Mensch,
jedoch nicht tätlich, sorgte gut für die Familie. Seit 21 Jahren Pförtner.
24
Vor 1 Jahr Klagen über Kopfschmerzen und Schwindel, Dienst fiel ihm
schwer. Vor % Jahren bewußtlos nach Hause gebracht, nach % Stunde
kam er zu sich. Schon August 21 konnte er nicht richtig sprechen, konnte
die Worte nicht herausbringen. Schweifte im Gespräch oft ab. Sonst keine
Wesensänderung. Keine Größenideen.
11. 10. 21 machte Pat. nachts Greifbewegungen, sagte, er habe einen
Schlaganfall bekommen, die Sprache verschlechterte sich plötzlich, konnte
nicht sagen, was er wollte. Keine Bewußtlosigkeit, sprach wirres Zeug.
L. Arm und 1. Bein waren angeblich gelähmt. Einige Tage später Besserung,
Sprache unverändert. — Von früheren Krankheiten nichts bekannt, auch
nichts von Geschlechtskrankheiten. 2 gesunde Kinder, eine Fehlgeburt. —
Keine Veränderung der Stimmungslage, ist ordentlich, solide gewesen, trank
nicht mehr. — 1 Schwester des Pat. seit 26 Jahren in Irrenanstalt, ein Bruder
..nervenleidend“. Eltern tot. Ursache unbekannt.
Angaben des Sohnes: Seit 1 Jahr plötzlicher Stimmungswechsel bei dem
Pat., schimpfte ohne Grund, war mürrisch. 1914 Trauma: fiel von der Straßen¬
bahn. Verletzung an der Nase. Keine weiteren Folgen. Keine Bewußtlosigkeit
Bestätigt die Angaben der Mutter, Gedächtnis seit Aug. 21 nachgelassen.
2. 11. 21. Stumpf-euphorisch, liegt teilnahmslos im Bett. Zeitlich und
örtlich immer noch desorientiert. Aufmerksamkeit stark herabgesetzt, auch
vrenn Pat. sich fixieren läßt. Keine richtige Deutung der Situation. Kein
deliranter Beschäftigungsdrang. Bleibt nach einigen sprachlichen Persevera¬
tionen ohne weitere sprachliche Äußerungen liegen. Kommt einzelnen Auf¬
forderungen nach, befolgt andeie nicht, wiederholt, was man zu ihm spricht
Erkennt ihm vorgehaltene Gegenstände. Sprache undeutlich, verwechselt
Silben. Pat. Refl. sehr lebhaft, links mehr als rechts, keine Ataxie der
unteren Extremitäten. Mendel angedeutet. Feinere Bewegungen der 1. Hand
ungeschickter als rechts. Händedruck links weniger stark als rechts.
24. 10. Blut Wa. stark positiv; Liquor: Wa. stark positiv. Ph. I.
Trübung, starke Pleozytose.
14. 11. Spricht abgehackt, Sätze enden in unverständlichen Worten.
Vollkommen desorientiert Befolgt Aufforderungen manchmal erst, nachdem
es ihm dreimal gesagt worden ist. Starker Rededrang, auch ungefragt
Drängt heraus. Benennen einfacher Gegenstände richtig, statt Streichholz¬
schachtel „Streichhölzer“. (Was macht man damit?) öffnet sie, schließt sie:
„Da sieht man nach.“ Murmelt unverständliche Worte. Aufforderung zu
lesen: dreht das Lesestück nach allen Seiten, wendet es: ..Das kann ich auch
nicht lesen.“
Urin: Leichte Trübung.
17. 11. Dauernd delirant, legt die Bettdecken hin und her. Körper¬
liche Unruhe, zieht die Beine auf und ab, die Hände sind viel in Bewegung,
will aus dem Bett. Er sei in der Kaserne, habe sein Geld bekommen, könne
gehen. Verfällt bei den Situationsverkennungen in seine frühere Militärzeit
zurück. Zeitlich und örtlich desorientiert, erkennt den Arzt richtig. — Die
am 26. 10. begonnene Schmier- und Salvarsankur wird ausgesetzt.
26. 11. 21. Immer noch desorientiert. Beschimpft seine Frau. Eifer¬
suchtsideen. Spricht mühsam, wiederholt einzelne Worte z. T. unverständlich.
12. 12. 21. Seit gestern benommen. Reagiert nicht auf Nadelstiche
und Ansprechen, Glieder fallen schlaff herunter, wenn man sie hochhebt. Pup.
25
L. R. schwach auslösbar. Macht Abwehrbewegungen bei der Prüfung. Läßt
Stuhl und Urin unter sich.
14. 12. Aus dem komatösen Zustand nicht wieder erwacht. Ruhige
gleichmäßige Atemzüge. Puls in den letzten Tagen beschleunigt, aber von
guter Füllung. Kampfer. Coffein. Exitus.
Sektionsbefund: Kreislauforgane: Mesoartitis productiva der aufsteigen¬
den Aorta und des Aortenbogens, sowie der absteigenden Brustaorta, endend
etwa 2 cm oberhalb des Zwerchfells mit starker Erweiterung der Aorta, die
dicht über den Aortasegln 10 cm weit ist mit leichter Verzerrung und Ver¬
dickung des Aortensegels und starker Sklerose der ganzen Aorta, ganz aus¬
geprägt in der Baucbaorta, in Becken- und Oberschenkelarterien, in den
Carotiden und Kranzschlagadem. Starke Sklerose der Gehirnschlagadern und
der Verzweigungen in der Pia. Schwielen der Herzmuskulatur, Hypertrophie
der Herzmuskulatur, Dicke an der Basis 16, an der Spitze 11 mm.
Nervensystem und Sinnesorgane: chron. produktive rezidiv. Lcpto-
meningitis und Perienzephalitis, bes. des Vorderhirns. Rezidiv, hämorrhag.
Pachymeningitis. Starke Ependymitis granularis d. 4. Gehirnkammer, ge¬
ringe der Seitenkammern. Starke Atrophie der Gehirnrinde im Stirnhirn und
im Gebiete des Zentralnerven. Zahlr. ältere hämorrhag. Erweichungsherde
im Streifenbündel bds. und an der Gehirnrinde.
Mikroskopisch: Lues cerebrospinalis. Die kleinen Hirngefäße zeigen an
vielen Stellen ausgesprochene Endarteritis syphil. An einigen Stel¬
len kleine Blutungen aus den Gefäßen und völlige Obstruktionen des Lumens.
Sekundäre Verödungen.
Zusammenfassung Fall 1 u. 2.
Im Fall 1 erkrankt der Pat., ein „solider“ ruhiger, abstinenter,
aber verschlossener 29jähriger Vizefeldwebel, ganz akut, und die
Krankheit endet nach stürmischem, deliranten Verlauf in 2—3 Wo¬
chen tödlich. Vor der Erkrankung soll Pat. schon längere Zeit sich'
nicht wohl gefühlt haben. Körperliche Untersuchung wegen des
dauernd erregten Zustandes nicht möglich. Zeit der Ansteckung
nicht bekannt. Wa in Blut und Liq. positiv.
Der Fall stellt einen typischen tödlich verlaufenden Rausch¬
zustand dar. Vom Resultat der pathologisch-anatomischen Unter¬
suchungen bekommen wir leider nichts anderes zu wissen, als daß
„keine Paralyse“ vorlag.
Schließlich muß wohl auch noch erwähnt werden, daß in diesen
— wie in mehreren von den folgenden Fällen — ein Kopftrauma
stattgefunden hatte. Pat. erhielt nämlich, allerdings 7—8 Jahre vor
der letzten Erkrankung, mit einer Kreuzhacke einen Schlag auf
den Kopf. Auch von einem „Anfall“ 2—3 Tage vor der letzten
Aufnahme wird berichtet. Pat. sei auf dem Bett gelegen und soll
sich „geschüttelt“ haben.
Fall 2 stimmt in vielen Punkten mit dem ersten Fall überein,
•der Verlauf ist aber mehr protrahiert.
l’at., ein bereits 57jährigerPförtner, der selbst keine Mitteilungen
machen konnte, und bei dem keine anamnestiscken Angaben bezügl.
der Lues zu erhalten waren, soll immer ein sehr aufgeregter Mensch
gewesen sein, der aber gut für die Familie sorgte: er soll starker
Trinker gewesen sein. Im Alter von 50 Jahren — also wie in Fall 1
etwa 7 Jahre vor der Erkrankung — Trauma: fiel von der Straßen¬
bahn; Verletzung an der Nase, aber keine Bewußtlosigkeit.
1 Jahr vor der Erkrankung Klagen über Kopfschmerzen und
Schwindel. Vor % Jahren bewußtlos nach Hause gebracht, kam
nach */•» Stunde zu sich. Etwa 2 Monate vor der Aufnahme wurde
bemerkt, daß er nicht richtig sprechen konnte. Gedächtnis schlechter.
Bei der Aufnahme deutliche Zeichen von linksseitiger Hemipa¬
rese. Babinski links positiv. Sehncnreflexe erhöht. Pupillenreaktion
links prompt wenig ausgiebig, r. träge, geringe Reaktion. Leichte
Apraxie links, erschwerte Wortfindung, konfabuliert zusammenhang¬
los. völlig desorientiert. Sprache undeutlich.
Während des ganzen Aufenthaltes im Krankenhaus (20. 10. bis
14. 12. 20) delirant, unruhig, desorientiert. Kann jedoch einzelne
Gegenstände benennen. Befolgt Aufforderungen nach mehrmaliger
Wiederholung.
Wa. R. in Blut und Liq. stark positiv. Exitus.
Hier liegt möglicherweise eine Kombination von Lues mit
Arteriosklerosis cerebri vor. Zerebrale Erscheinungen (Schwindel.
Ohnmachtsanfälle, Sprachstörungen, Gedächtnisabnahme) traten
1 Jahr vor der letzten Erkrankung auf. Diese muß wohl trotzdem
als ein luetisch bedingter Verwirrtheitszustand betrachtet werden.
Dafür spricht ja nicht nur die stark positive W. Rea. in Blut und Liq..
sondern vor allem die Sektion, die die Diagnose Lues cerebri be¬
stätigte.
Der Fall verläuft nicht ganz so stürmisch, w r ie Fall 1. Bessere
Tage, an denen Pat. etwas zu fixieren ist, wechseln mit schwer
deliranten ab. Der Fall stellt somit den Verwirrtheitszustand in
etwas sozusagen verdünnter Form dar und bildet hierdurch einen
Pbergang zu den mehr protrahierten Fällen.
Fall 3 ist akut verlaufend, nimmt aber einen günstigen Ausgang.
Fall 3. M. M., Kaufmannsfrau. 47 Jahre.. Aufgen. 23. Mai 17. entl.
27. Mai 17. Diagnose: „Luespsychose?“
Angaben des Sohnes: Pat. klage seit 4 Wochen über heftige Kopf¬
schmerzen, die sie darauf zurückführt, daß sie einmal Kopfläuse bekommen
habe. Seit etwa % Jahr schlechtes Gedächtnis, wisse mitten im Satz nicht,
was sie sagen wolle, vergesse auch, was man ihr erzählt habe. Äußerte Be¬
fürchtung, „Gehirnerweichung“ zu bekommen. Wollte einmal Gashahn auf-
drelten. Vor kurzer Zeit habe Pat. „Influenza“ gehabt, habe viel über Kopf-
27
schmerzen. Frieren und Schüttelfrost geklagt Sei immer ein geselliger
Mensch gewesen, habe eine ganze Gesellschaft unterhalten können. Seit eini¬
gen Wochen Klagen über schlechten Schlaf. — Früher immer gesund ge¬
wesen, von depressiven Phasen nichts bekannt. Normale Entwicklung, in
der Schule gut gelernt Nach der Schulzeit Wäschenäherin, mußte auch in
der Ehe mitarbeiten, da der Mann trank. Jetzt zum zweiten Male verheiratet*
kinderlose Ehe. Im Kriege 5—6 Monate in einer Munitionsfabrik, dann
krank, Klagen über allgemeine Schwäche, Appetitlosigkeit, Herzkrämpfe, das
Herz setze immer aus. Kopfschmerzen und Schlaflosigkeit. März 16 wegen
„Scharlach“ und Herzkrämpfe 4 Wochen im Krankenhaus; vor 4 Jahren Unter
leibsoperation.
23. 5. örtlich und über die Situation orientiert, zeitlich etwas ungenau.
Entsinnt sich, vor kurzem in der hiesigen Poliklinik untersucht worden zu
sein, gibt Einzelheiten darüber an. Als Grund der Einlieferung gibt sie an,
„einen schrecklichen Traum“ gehabt zu haben: habe ihren Sohn zu Hause
deutlich schreien hören, sei in großer Angst gewesen, weil ihr Sohn geköpft
und sie selbst habe verstümmelt werden sollen. Pat. kann nicht genau ab¬
grenzen, wieweit ihre traumhaften Erlebnisse sich vor oder nach dem Trans¬
port in die hiesige Klinik abgespielt haben. Habe deutlich gehört „Ernst
Rad am (Sohn) erst verbrühen, dann Nase wegschneiden, dann köpfen, dann
in die Hölle, dann in den heißen Ofen“. Habe geglaubt, ihren Sohn dadurch
retten zu können, daß sie alle Gegenstände aus ihrer Wirtschaft hierherbringe.
Habe alle Gegenstände hierhergebracht (in Gedanken), habe immer Angst
gehabt, daß sie nicht das Richtige bringe. Stimmen hätten jedoch darauf be¬
standen, daß der Sohn geköpft werden solle. Erzählt von Erlebnissen auf der
Hautklinik: man habe ihr ein Kind gezeigt, das aber keins gewesen sei, es
habe von vorn wie eine Puppe ausgesehen. Habe ihr Hemd zerrissen, weil
man sie wegführen wollte, „von einem Kerker in den anderen“, weil sie er¬
zählen sollte, wie Salvarsan entstanden sei, über den Erfinder *und über die
Salvarsaninjektion. Sie habe „Schüttelfrost“ bekommen und 2 Decken ver¬
langt, die Schwester habe ihr das abgeschlagen. Das Mittagessen hier (gibt
richtig an, was es war), habe Bie abgeschlagen, da sie noch „keinen Verstand“
hatte. Das erste, an das sie sich erinnern könne, sei, daß sie „nackt dage-
sessen habe“. Nachdem sie ihr Sohn besucht habe, habe sie gewußt, daß
alles „nur ein Traum“ gewesen sei. Stimmen und sonstige Halluzinationen
für die Zeit der Krankheit werden negiert.
Berichtet, daß sie 2- oder Bmal zu Haus auch „schreckliche Träume“
gehabt habe, auf deren Inhalt sie sich nicht besinnen will.
Bestätigt die anamnestischen Angaben der Angehörigen. Sie habe bis
zuletzt keinerlei Schwierigkeiten beim Einkauf gehabt, habe sich mit den
Lebensmittelkarten gut zurecht gefunden.
Ist über die politischen Ereignisse etc. gut orientiert. Rechnen gut.
Merkfähigkeit nicht besonders gestört. Nachsprechen von Paradigmata
fehlerlos.
Luetische Infektion vor 6X* Jahren (in 2. Ehe). In erster Ehe 9 Aborte,
4 Partus (2 klein gestorben). Vor 7 Jahren Gebärmutter und Eierstöcke operativ
entfernt, soll „Polypen am Uterus“ gehabt haben. Vorher braungelber Ausfluß.
Somatisch: Am Nervensystem kein pathologischer Befund. Innere
Organe o. B. — Vorher auf der Hautklinik, mehrere Hg.-Kuren durchgemacht,
letzte 1916, die wegen Stomatisis unterbrochen werden mußte. Jetzt wieder in
28
der Hautklinik Hg.-Kur und Salvarsan. Wegen der oben geschilderten Ver¬
wirrtheitszustände zur psychiatr. Station verlegt
Zusammenfassung Fall 3.
Diagnose: Luespsychose.
47jährige Kaufmannsfrau. Immer gesund; ein geselliger Mensch.
2 mal verheiratet. Lues vor 6 x /2 Jahren.
Seit Vs Jahr schlechtes Gedächtnis, wisse mitten im Satz nicht,
was sie sagen solle. Seit 4 Wochen heftige Kopfschmerzen. Vor
kurzer Zeit auch akute Infektionskrankheit (Influenza?).
23. 5. bis 27. 5. 17 in der Charite, überführt von der Hautklinik,
in der Pat. antiluetische Behandlung erhielt. Daselbst plötzlich
ängstlich verwirrt. Hatte schreckenhafte Halluzinationen, hörte
deutlich Stimmen: „Ernst Radam (Sohn) erst verbrühen, dann Nase
wegschneiden, dann köpfen, dann in die Hölle, dann in den heißen
Ofen.“ Verwirrte Handlungen. Hemd zerrissen, flüchtige Wahnideen.
In der Charit^ ziemlich ruhig, orientiert, zeitlich nicht genau.
Rechnen, Merkfähigkeit gut. Keine Sprachstörung. Negiert Hallu¬
zinationen. Alles sei nur ein Traum gewesen. Nervenstatus o. B.
Entlassen nach 4 Tagen.
Der Fall muß als ein akuter Verwirrtheitszustand auf luetischer
Basis aufgefaßt werden. Er ähnelt stark dem Fall 4 bei Marcus,
der auch in kurzer Zeit abklang. Auslösend oder mitwirkend lag
hier kurz vor dem Ausbruch der Krankheit eine akute fieberhafte
Infektion vor.
Im Krankheitsbilde waren die Halluzinationen so stark hervor¬
tretend, daß man fast versucht wäre, ihn als Halluzinose aufzufassen.
Dagegen spricht jedoch vor allem das völlig verwirrte Benehmen
der Kranken, das sich m. E. nicht mit der Diagnose der Halluzinose
vereinigen läßt. .
Fall 4. W. Ph., 28 Jahre alt, Schaufenster-Dekorateur, aufgen. 24. 6.
20, entl. 12. 8. 20. Lues cerebri. Pseudobulb. Sprache.
Angaben des Vaters: (Gibt einen ziemlich verworrenen Bericht, zeigt
Neigung, seinen Sohn herauszustreichen.) Pat. hat früher ein flottes Leben
geführt, mit 20 Jahren 400 Mark monatlich als Dekorateur verdient. Viel ge¬
raucht. 1912 luetische Infektion. Sehr viel Kuren (10) und Krankenhaus¬
behandlung deswegen. Frühjahr 1914 Schlaganfall. Vor 3 Jahren ira Virchow-
Krankenhaus wegen seines schlechten Laufens. Im Jan. v. J. Trauma: Ver¬
letzung an Ohr und Hinterkopf. Wieder 6 Mon. im Virchow-Krankenhaus.
Bis dahin als Bürovorsteher tätig in voller psychischer Rüstigkeit. Dann
arbeitslos zu Haus, ging am Stock. Vor 4 Wochen Grippe, deswegen Kran¬
kenhausaufnahme, dort delirantes Bild, seitdem Sprachstörung. Gedächtnis¬
nachlaß, Verlust der geistigen Auffassung und Klarheit werden vom Vater
streng verneint. Das 1. Bein sei bis vor der Grippe ganz gesund gewesen.
29
Somatisch: Großer, hagerer Patient in mäßigem Ernährungszustände,
kräft Knochenbau. Alte Narbe hinter r. Ohrmuschel (Operation). Pup.
mittelweit, gleich, ziemlich rund. Lichtreakt. fehlt bds., Conv. Rea. bds. vor¬
handen. Augenbewegungen frei. Zunge weicht etwas nach links ab. Sprache:
nasal, langsam, schwerfällig. Beim Nachsprechen schwieriger Paradigmen
unscharfes Verbinden der einzelnen Laute. Keine aphasischen Störungen.
Arme: Tonus rechts >. links, grobe Kraft 1 > r. Keine Atrophie.
Keine Ataxie. Armreflexe rechts Spur lebhafter als links.
Untere Extr.: Tonus rechts > links, grobe Kraft 1 > r. Keine Atrophie,
keine Ataxie. Sensibilität o. B.
Pat. Refl. lebhaft bds., rechts > links, kein Klonus. Ach. Refl. bds.
gesteigert, Klonus, rechts > links, ziemlich lange andauernd, gleichmäßig.
Kein Oppenheim. Babinski pos. bds., r. deutlicher als links. Mendel-Bechte¬
rew rechts deutlich, links negativ, Rossolimo desgl. Gang spastisch-pare-
tisch, geht schlürfend. Wenig Bewegung im Kniegelenk. Füße werden kaum
vom Boden abgehoben.
27. 6. Nachts ängstlich erregt, schrie „sie wollen mich totmachen 4 *, es
liege jemand unter seinem Bett, der ihn töten wolle. Morgens weiterhin
ängstlich, man werde seine Eltern nicht hereinlassen, sagen, daß er bewußtlos
sei. 29. 6. Schlaf nach Schlafmitteln gut. Normales Verhalten. 1. 7. Lumbal¬
punktion. 5 ccm, klar, etwas erhöhter Druck. Ph. I. Trübung. Mittelstarke
Lymphozytose. Wa. stark pos. 3. 7. Ängstliche Verfolgungsideen: im Essen
sei Veronal, merke es daran, daß er gleich nachher einschlafe. Solle von
der Reichswehr in einem Auto durch die Stadt gefahren und ans Krouz ge¬
schlagen werden; man wolle durch die Tür schießen. Sein Rückenmark solle
herausgerissen werden, örtlich und zeitlich orientiert Hat — nach Pfleger¬
bericht — ein paarmal seinen Namen rufen hören. Dauer solcher Zustände
24 Stunden und länger, Zwischenzeiten frei.
15. 7. 20. Zeitweilig sehr unruhig und ängstlich, verläßt oft das Bett,
heftiges Weinen und Schluchzen, er habe Gift im Körper, im Essen sei auch
Gift. Nahrungsaufnahme und Schlaf mäßig.
16. 7. Wieder freier. Freut sich, daß ein Mitkranker ihn für einen
Kriminalbeamten hält. Stuhlgang schlecht, Einlauf.
21. 7. Wieder ängstlich. Steht am Fenster, schaut hinaus. Äußert nur
auf Befragen ängstliche Vorstellungen.
29. 7. 2 Tage frei von Angst, lächelt über seine ängstlichen Ideen.
Heute erneut ängstlich, ißt schlecht, es sei Gift im Essen.
5. 8. Ablehnend. Nahrungsaufnahme verweigert.
6. 8. Möchte aufstehen, hat Krankheitseinsicht
12. 8. Bis heute psychisch frei geblieben.
12. 8. Auf Wunsch des Vaters entlassen.
Zusammenfassung Fall 4.
Wir finden einen 28jährigen Mann, der ein flottes Leben geführt
und viel geraucht hat. Lues mit 20 Jahren. 2 Jahre später rechts¬
seitige Hemiplegie. 4% Jahre später, also etwa 1*/* Jahr vor der
jetzigen Erkrankung Trauma: Verletzung am Ohr und Hinterkopf.
Vor 4 Wochen wegen Grippe aufgenommen in ein Krankenhaus.
30
Ein delirantes Bild entwickelte sich, weshalb Pat. in die Charite
verlegt wird.
Hier bds. lichtstarre Pupillen, gesteigerte Sehnenrcflexe.
Babinski bds. positiv. Sprache, langsam schwerfällig, nasal. Resi¬
duen einer rechtsseitigen Lähmung.
VVa Rea in Blut und Liq. stark positiv.
Psychisch wechseln Tage und Nächte großer ängstlicher Er¬
regung mit flüchtigen depressiven Wahnideen mit ruhigen besonne¬
nen Tagen ab. Hört auch ein paarmal seinen Namen rufen. Ist
jedoch örtlich und zeitlich orientiert.
Wenn ich den Fall trotz der nur gering ausgesprochenen
Symptome zu dem exogenen Reaktionstypus rechne, so geschieht es,
weil erstens die Symptome auf eine Lockerung des seelischen Ge¬
füges verbunden mit einer ängstlichen Erregung zurückzuführen
sind, weil zweitens der Fall weder als eine Depression, noch eine
paranoide Erkrankung angesehen werden kann, dazu ist die Stiin-
mungslage zu inkonstant und labil, die Wahnideen zu flüchtig, und
die Halluzinationen viel zu wenig ausgesprochen, drittens weil der
Fall doch stark mit denjenigen übereinstimmt, die Marcus zu
seinen „Verwirrtheitszuständen“. Walther zum exogenen Reak¬
tionstypus führt.
In Marcus Fall II lag eigentlich keine Verwirrtheit vor.
sondern der Pat. war stumpf, apathisch, traumhaft. Trotzdem und
obwohl seine übrigen Fälle viel stärker verwirrt seien, findet Mar¬
cus. daß der Fall zur „Amentia Meynerts“ gehört, in der auch
„asthenische und stuporöse“ Fälle Platz finden. Als charakteristisch
für die luetischen Verwirrtheitszustände hebt Marcus weiter das
äußerst Wechselnde. Sprunghafte, Launische im Bilde hervor. Dies
kam ja auch in meinem Falle zum Vorschein.
Der Fall 10 bei Walt, her, der einzige von seinen 12,den er als
einen deutlich exogenen Reaktionstypus ansieht, ähnelt sehr dem obigen.
43jähriger Mann. Vor 3 Jahren Sprachstörung. Konnte 1 Tag
lang nicht, sprechen. Vor 3 Monaten Doppelsehen, etwas später
Kopfschmerzen, Erbrechen, Schwindelgefühl. Nach 2 Wochen nach
diesen Erscheinungen psychischer Störungen desorientiert, unruhig.
Selbstmord- und Verfolgungsideen. — Bei der Aufnahme April 1909
Augenmuskelstörungen, Fazialisparese, rechtsseitige leichte Parese.
Bl. Wa. R. pos., Liq. Wa. R. neg., aber Zellvermehrung. Ph. I +
Psychisch unruhig, spricht dauernd, desorientiert, ab und zu ver¬
wirrt. Glaubt immer eines Mordes schuldig zu sein, weint. Nach
Schmierkur bedeutend besser. — 2 Jahre später gesund.
Auch hier also keine starke Ausprägung der Verwirrtheitserschei
nungen, die jedoch deutlich genug ausgesprochen sind, um die Zu¬
ordnung des Falles zu unserer Gruppe zu berechtigen.
Über weitere Fälle verfüge ich nicht. Aus diesem Grunde ver
zichte ich auf eine zusammenfassende Darstellung des luetischen
exogenen Reaktionstypus, die sielt wesentlich auf Literaturforschung
stützen müßte. Der letale Ausgang in zwei von meinen vier Fällen
darf keineswegs im Sinne einer sehr ernsten Prognose verallge¬
meinert werden, ln Walthers Fall trat Heilung ein, gleichfalls
in 14 von Marcus 17 Fällen. Ebenso bestand in einem Fall-
Meyers die Heilung wenigstens 5 Jahre. Wie sich die Zukunft
des Kranken gestaltete, ob die durchgemachte Krankheit den Boden
für irgendwelche andere luetische Gehirnerkrankungen vorbereitete,
geht aus den Krankengeschichten nicht hervor.
Als eigenartiges, wahrscheinlich aber nicht .bedeutungsloses
Moment kam in drei von meinen vier Fällen ein Kopftrauma vor.
Ehe ich zur folgenden Gruppe gehe, will ich kurz auf die
Pathogenese unserer Fälle eingehen.
Die exogenen Reaktionsbilder entstehen bekanntlich als Ant¬
wort auf die verschiedensten Einwirkungen meistens infektiös-toxi¬
scher Art. Wie verhält sich aber das krankmachende Agens bei der
Lues cerebri? Sind es die lokalen entzündlichen Erscheinungen,
oder Zirkulationsstörungen oder noch irgendwelche andere Momente,
die krankheitsauslösend wirken? Oder haben wir mit toxischen
Wirkungen zu tun?
Ich glaube, daß die bis jetzt vorliegenden pathologisch-anato¬
mischen Untersuchungen eine gewisse Leitung zur Beantwortung der
Frage werden geben können.
Bereits Heubner fand in seinen Rauschzuständen, die ich
ähnlich wie Wimmer zu den exogenen Reaktionstypen zählen will,
syphilitische Neubildungen, und zwar meistens an der Basis. „Ganz
besonders gewöhnlich“ aber lagen syphilitische Arterienerkrankun¬
gen in.den Häuten und Erweichungen, Infarkte u. ä. in den großen
Ganglien vor. Die Hirnrinde soll aber Heubner zufolge verhält¬
nismäßig frei von Veränderungen gewesen sein.
In anderen Fällen aber finden wir bei einem ungefähr ähnlichen
klinischen Bilde andersartige pathologisch-anatomische Bilder.
Krauses Arbeit liefert uns in dieser Hinsicht wertvolle Aufklärun¬
gen. Auch bei Schroeder finden wir manche feine Bemerkungen.
Fall 2 (bei Krause). Nach langdauernden Kopfschmerzen
und Schwindelanfällen entwickelte sich einige Wochen vor dem
32
Tode ein deliranter Zustand, der in Sopor überging. Nach vorüber¬
gehender Besserung wieder tiefe Verwirrtheit und schwere Unruhe.
Exitus.
Pathologisch-anatomisch liegt ein Gumma an den Häuten der
Konvexität des Stirnlappens vor.
Fall 5 (Krause). Etwa 2 Wochen Unruhe und motorische
Erregung, dann delirante Verwirrtheit, die nach 14 Tagen zum Tode
führt. Die Sektion zeigt einen chronischen, an der Basis tumorarti¬
gen Entzündungsprozeß, der auch an der Konvexität „an keinem
Teile“ vermißt wurde.
Fall 14 (Krause). Etwa 8—9 Monate nach der Ansteckung
stürmischer akuter Verwirrtheitszustand, der in einigen Tagen zum
Tode führt. Pathologisch-anatomisch: intensive Meningitis, außer¬
dem „in nicht erheblichem Grade“ entzündliche Vorgänge an dem
mesodermalen Gewebe und an den Gefäßen.
Fall 10 (Schroeder). Verwirrtheitszustand in acutissima
forma, wilde Jaktationen, bald rasch zunehmende Somnolenz und
Coma. Exitus. — Bei der Sektion findet man an zahlreichen Stellen
Veränderungen an den Arterien, die alle den Charakter der gum¬
mösen Neubildung tragen.
Fall 4 (Schroeder). Nach einjährigen Vorboten von
Reißen, Kopfschmerzen und Angstgefühl plötzlich schwerer Ver¬
wirrtheitszustand; dann vorübergehend Besserung. Bald wieder hoch¬
gradige Erregung, schlägt ein paar Scheiben ein, schreit usw.
Exitus nach etwa zwei Monaten.
Bei der Sektion makroskopisch nichts für Paralyse, aber auch
nichts für die gewöhnlichen Formen von Lues cerebri. Mikrosko¬
pisch: auffallend wenige Veränderungen, was in bemerkenswertem
Kontrast zu der Schwere der Erscheinungen in vivo steht. Es
handelt sich um geringe Infiltrationen und eine leichte Verdickung
der Pia, und alsdann um Veränderungen, die als paralytisch ange¬
sehen werden können. Aber: in sehr geringer Ausprägung und nur
„auf einem Teil der Schnitte“. Dagegen konnten auf „sehr großen
Strecken“ der Gehirnrinde weder Infiltrationen, noch Gewebsunter-
gang nachgewiesen werden.
F a 11 9 (W a 11 h e r). Nach kurzen halluzinatorischen Vorboten,
die jedoch später in den Hintergrund traten, ängstlicher und leicht
verwirrter Erregungszustand mit etwas schwankendem Verlauf.
Exitus nach etwa 3 Monaten. Die Sektion ergab eine — nicht sehr
ausgedehnte entzündliche Infiltration der Meningen.
38
Fall 17 (Marcus). Ganz akut verlaufender schwerer Ver¬
wirrtheitszustand, der in 7 Tagen zum Tode führt. — Pathologisch¬
anatomisch: Basalmeningitis. An den Zellen der Hirnrinde Verände¬
rungen, die von Marcus als „Reizzustand“ bezeichnet werden.
In meinem Fall 1 fand sich bei der Sektion (leider nur
spärliche Notizen) geringe fibröse Verdickung der Pia und starke
Hyperämie des Gehirns. Mikroskopisch „keine Paralyse“.
Im Fall 2 lag pathologisch-anatomisch eine chronische
Leptomeningitis und Perienzephalitis vor. • An vielen Stellen ausge¬
sprochene syphilitische Endarteritis.
Die pathologisch-anatomischen und mikroskopischen Befunde
zeigen also, daß die verschiedenartigsten luetischen Veränderungen
des Gehirns ein recht einförmiges klinisches Bild erzeugen können.
Wir finden — auffallend oft — Veränderungen an der Basis in Form
von meningitischen und gummösen Prozessen, weiter endarteritische
und gummöse Gefäßveränderungen, ein Gumma an der Konvexität
des Stirnhims. Und die Veränderungen können, wie im Fall . 4 von
Schroeder und in Walthers Fall verhältnismäßig gering
sein bei den schwersten klinischen Erscheinungen. In dem einen
Fall Sehroeders lagen sogar paralytische Veränderungen leich¬
terer Art vor, also auch hier exogene Reaktionsbilder.
Alles dies scheint mir darauf zu deuten, daß wir die Symptomen-
bilder des luetischen exogenen Reaktionstypus als toxisch bedingte
aufzufassen haben. Wahrscheinlich kommen andere mitwirkende
Faktoren, Zirkulationsstörungen, Hyperämie, Schwellung, Lymph-
stauung, Hirndruck usw. auch in Betracht. Hauptsächlich haben
wir hier wohl doch mit toxischen Schädigungen zu tun. Marcus
sah Reizungserscheinungen an den Ganglienzellen, auch da, wo
keine entzündlichen Prozesse sichtbar w r aren. Und Krause sagt
bei der Besprechung seiner Fälle 13 und 14, „ich kann mich nicht dem
Eindruck entziehen, daß eine Schädigung wahrscheinlich toxischer
Art das nervöse Parenchym betroffen hatte“.
Epileptisck-dämmerzustandsartige Verwirrtheitsbilder.
In meiner Kasuistik finden sich zwei Fälle dieser Art.
Fall 5. R. M., Kunstmaler, 41 Jahre. Aufgen. 3. 8. 22, entl. 19. 9. 22.
Diagnose: Lues cerebrospinalis.
3. 8. Angaben der Ehefrau: Kennt den Mann seit 1915, seit 6 Jahren
verheiratet. Vor 10 Jahren luetische Infektion. Innerhalb 4 Jahren 4 Kuren.
Von jeher leicht erregbar, doch leicht zu beruhigen. Immer gleichmäßig
lebhaft, kein jäher Stimmungswechsel. Arbeitete viel, besonders in letzter
Zeit, sorgte gut für die Familie. Glückliche Ehe. Herbst 1921 konnte er
plötzlich nicht mehr unterrichten, verstand alles, fand die Worte nicht.
Pa britius, Zur Klinik der aichtparalytlschen Lues-Psychosen. (Abhandl. H. }<) 3
— 34
Dauer etwa Stunde. Pat hatte Kritik dafür. Anfang 22 ähnliche Störung
von minutenlanger Dauer, oberflächlicher als vorher, glaubte, es sei vom
vielen Rauchern — Vor 2 Jahren änderte Pat seine künstlerischen Anschau¬
ungen. Damals nervös, erregbar. Dann wieder ruhiger. Juli 22 sehr über¬
arbeitet gewesen, nicht besonders auffällig, etwas „nervös“. 16. 7. vorüber¬
gehende Sprachstörung. 21. 7. plötzlich grundloses Lachen. Ging schwer¬
fällig, „wie umnebelt“. Bewußtseinsverlust, Zuckungen in den Extremitäten,
Schaum vor dem Mund, Zungenbiß, unwillkürlicher Urinabgang, Gesicht stand
schief. Dauer: einige Minuten. Kurz darauf 5—6 Anfälle, ohne das Bewußt
sein wieder erlangt zu haben. Wurde erregt, schlug um sich, reagierte nicht
auf Anruf. Am nächsten Tage Amnesie, sprach klar. 2 Tage darauf sprang
Pat. aus dem Fenster, verkannte die Situation, glaubte hypnotisiert zu sein.
In den letzten Tagen wieder klar. Nach Sanatoriumsaufenthalt Besserung:
gegen früher unverändert, keine Veränderung im Sinne der progressiven
Paralyse. Libido unverändert. — Früher nicht ernstlich krank gewesen; kein
Potus; starker Raucher. 2 gesunde Kinder, kein Abort. Keine Nerven- oder
Geisteskrankheiten.
Angaben des Pat.: Über Lues die gleichen Angaben wie Ehefrau, bis
Herbst 21 keine Erscheinungen. Dann plötzlich Bewegungsstörungen in der
r. Hand, konnte Gegenstände nicht festhalten. Sprach ruckweise, konnte
nicht anders sprechen, wußte, was er sagen wollte. Dauer etwa Vk Stunde.
— 21. 7. 22 litt er unter starker Hitze, „der Kopf war nicht ruhig 4 *. Weiß
von dem Anfall nichts mehr, erst im Krankenhaus zu sich gekommen. Glaubte,
vom Mitpatienten hypnotisiert zu werden, glaubte im „Halbschlaf“ seinen
Paß verloren zu haben, nahm an, daß Mitpatient ein Mörder sei. „Heute halte
ich es für unmöglich.“ Sprang aus dem Fenster, rief um Hilfe. — Erinnert
sich gut an den darauf folgenden Sanatoriumsaufenthalt, Längeres Reden
strenge ihn an. Keine Kopfschmerzen, kein Schwindel, „dumpfes Gefühl im
Kopf*. Viel gearbeitet in letzter Zeit, war Schüler von Corinth, jetzt Expres¬
sionist Schwere innere Kämpfe, bis er sich dazu durchgerungen. Kurz nach
der luetischen Infektion vor 10 Jahren Lähmung der linken Gesichtshälfte.
Sonst nie ernstlich krank.
4. 8. 22. Lumbalpunktion: 5 ccm klarer Liquor, kommt im Strahl.
Sprache etwas getragen, verlangsamt. Testworte werden richtig nachge¬
sprochen, leicht abgehackt
Rechenaufgaben: prompte Lösung. Zahlenmerken gut Krankheiteein
sicht für den Dämmerzustand, gute Kritik für die krankhaften Erscheinungen.
Hofft gesund zu werden. Stimmungslage vielleicht etwas stumpf, erklärt
sein Verhalten mit den neuen Eindrücken auf der Abteilung.
Somatisch: Ziemlich kräftig, etwas hager. Kopf freibeweglich. Pupillen
rund, bds. gleich. L. R. und C. R. prompt. Fundus o. B. Augenbewegungen
frei. Fazialis: l. Nasolabialfalte stärker ausgeprägt als rechts, ab und zu
Zuckungen in den Muskeln aller Äste inkl. Platysma. Geringe Parese der
3 Äste (8. Anamnese). Arme: Reflexe gesteigert sonst o. B. Sensibilität am
Rumpf normal. Geringe Hypotonie der unteren Extremitäten.
Pat. und Ach. Refl. fehlen bds. Bei der Prüfung zuckt Pat ab und zu
zusammen. Keine Ataxie, Gang o. B. Innere Organe o. B. Blut — Wa.:
stark positiv (Neosilbersalvarsankur). — Lumbalpunktion: 18. 8. 22 stark
pos. Pli. 1. starke Trübung, starke Lymphozytose.
35
Lumbalpunktion: 11. 9. 22 stark pos.
Ph. I. deutliche Trübung, mittl. Lymphozytose.
5. 8. Wollte gestern erst Frau fragen, ob er sich punktieren lassen
solle, habe aus Äußerung des Oberpflegers entnommen, daß er dabei sterben
müsse. — Hält an seinen Beziehungsideen fest. Kritik setzt erst spät ein.
16. 8. Höre die Unterhaltung der Patienten im Nebenraum auf eigen¬
artige Weise; er vernehme kurze, ruckartige, schnell aufeinander folgende
Laute, die er nicht als Worte identifizieren könne, nach einer Anzahl Laute
komme eine Pause, dann wieder dieselben Wahrnehmungen. Nur im Liegen
diese Erscheinungen, sonst nicht. Höre manchmal Laute „wie durch einen
Schleier hindurch“. Ihm sei nicht aufgefallen, daß etwas auf ihn bezogen
werde. Deswegen nicht sehr beunruhigt, schläft gut. Nachts keine solchen
Wahrnehmungen.
20. 8. Seit gestern keine Gehörswahrnehmungen, kann keinen Grund
dafür angeben. Fühlt sich wohl, es gehe ihm „ausgezeichnet“. — Schlaf gut.
19. 9. 22. Neosilbersalvarsankur beendet. Wohlbefinden; völlig ge¬
ordnet. Hält auf Wunsch einen sehr anregenden Vortrag über Expressionis¬
mus. Glaubt die Gehörswahrnehmungen auf die Kur zurückführen zu müssen.
Sei im Anfang in der Klinik empfindlich gewesen, habe wohl nicht das rich¬
tige Vertrauen gehabt. Sprache ungestört. Möchte noch bei seinem Schwa¬
ger (Arzt) Hg.-Schmierkur und Neosalvarsankur durchführen. Gebessert
entlassen.
Zusammenfassung.
F a 11 5. Diagnose: Lues cerebrospinalis.
41jähriger Kunstmaler. Lues mit 31 Jahren. Kurz danach
Lähmung der linken Gesichtshälfte. Leicht erregbar, lebhaft.
Potus neg.
Herbst 21 konnte er plötzlich während *4 Stunde Worte nicht
finden, verlor Gegenstände aus der rechten Hand. Anfang 1922 ähn¬
licher Anfall, leichter. Juli 22 auffallend „nervös“. 16. 7. Sprach¬
störung. 21. 7. plötzlich grundloses Lachen. Kurz danach großer
epileptischer Anfall, dem sich bald 5—6 neue Anfälle zugesellten,
ohne daß Pat. das Bewußtsein wiedererlangt hatte. Danach Däm¬
merzustand. Am folgenden Tage klar. 2 Tage darauf sprang er aus
dem Fenster, verwirrt. Nach Sanatoriumsaufenthalt besser.
3. 8. bis 19. 9. 22 in der CharitA Krankheitseinsicht für den
Dämmerzustand.
Somatisch: Pupillen o. B. Leichte Residuen einer linksseitigen
Fazialisparese. N. S. sonst o. B.
Wa. R. in Bl. und Liq. stark pos. Ph. I starke Trübung. Starke
Pleocytose.
Psychisch: leichte Beziehungsideen und unbestimmte Gehörs¬
täuschungen. Gebessert entlassen.
3 *
36
Der Fall ist in jeder Hinsicht typisch. Hier kommen Anfälle
und postparoxymale Dämmerzustände sowie selbständige äquivalente
Verwirrtheitszustände vor.
Fall 6. P. S., 38 Jahre alt, Schlosser. Aufgen. 5. 4. 18, entl. 5. 11. 18.
Luespsychose.
Angaben der Frau: 1 gesundes Kind von 8 Jahren, 1 Fehlgeburt im
4. Monat. Über Geschlechtskrankheiten ist ihr nichts bekannt. Pat. war
auch sonst nie krank. War im Kriege von 14 ab, soll Jan. 17 den ersten
Anfall bekommen haben: ist plötzlich umgefallen, hat mit den Armen um sich
geschlagen, wußte nach dem Anfall nicht, was geschehen war. Am gleichen
Tage 2. Anfall. Ref. weiß nichts über die Dauer des Anfalls. Pat. kam in
Nervenheilanstalt. Erkannte dort seine Frau nicht, war aggressiv. Wurde
später als ungeheilt entlassen. War 1 Monat bei seiner Frau, es fiel ihr
nichts Besonderes an ihm auf. Pat. wollte sich noch erholen, arbeitete
nicht viel.
Okt. 17 Klagen über erschwertes Gehen, Fußgelenk schwoll an, kam ins
Krankenhaus. Dann wieder zu Haus, fühlte sich wohl. 5. 4. 18 Anfall: als
Ref. den Mann von der Feldarbeit abholen wollte, lag er auf der Erde,
krümmte sich, wollte die Schuhe ausziehen, wälzte sich am Boden, machte zu¬
weilen die Augen auf, auf Fragen keine Reaktion, Blut tief aus dem Mund.
Deswegen hierher gebracht, im Wagen unterwegs Kot und Urin unter sich
gelassen. Vor diesem Anfall keinerlei Auffälligkeiten.
Status: Kräftiger Knochenbau, gute Muskulatur, guter Ernährung*
zustand. An vielen Körperstellen Ekzem. Pup. rund, rechts weiter als links,
reagieren wenig prompt und unausgiebig auf Licht und Konvergenz. Tiefe
Bißwunde auf der Zunge. Alle Reflexe vorhanden, kein Unterschied zwischen
beiden Seiten. Links schlecht geheilter Knöchelbruch mit Subluxation des
Fußes nach innen. Schmerz- und Bertihrungsempflndung nicht gestört.
Angaben des Pat: Gibt über seine Geburt und seine Berufsbildung
klar und sachlich Auskunft. Im Sommer 16 Doppelsehen. Berichtet über
den Anfall im Jan. 17 wie die Frau, auch über die darauf folgende Zeit bis
zur Aufnahme hier berichtet er den Angaben der Frau entsprechend. Ent¬
sinnt sich, daß er am Tage vorher auf seinem Laubenland einen Schlüssel
gemacht habe, wisse weiter nichts, sei nur erstaunt gewesen, daß er jetzt im
Krankenhaus sei. 1903 Schanker, vom Arzt mit Pulver äußerlich behandelt,
keine spezifische Kur. Sonst nie ernstlich krank gewesen. Pat seit 1909
verheiratet vorher Blut Wa. neg. Alkohol- und Nikotinabusus negiert.
Ist über politische Ereignisse sehr gut orientiert drückt seine Unzu¬
friedenheit über dies und jenes auB, kommt dabei immer wieder mit Gedanken¬
gängen, die in keinem Zusammenhang mit der Politik stehen.
Wassermann im Bl. stark pos. Lumbalpunktion 5 ccm, klar. Nonne-
Apelt starke Trübung. Starke Vermehrung der Lymphozyten. Wa. R. stark pos.
16. 4. 18. Fühlt sich gesund. Frau habe einen Fehler begangen, ihn
hierherzubringen, erzählt dann in schwachsinniger, kritikloser Weise über
Aufenthalt im anderen Krankenhause. Rechen- und Merkfähigkeit nicht grob
gestört sagt die Monate rückwärts prompt und fließend auf. Aufgefordert
berichtet Pat. über den Krieg ausführlich, zeigt sich gut orientiert ist jedoch
weitschweifig, es fehlen ihm oft die passenden Ausdrücke, Redeweise des-
37
wegen etwas geschraubt, es besteht leichte artikulatorische Unsicherheit,
bleibt häufig an den Anfangssilben der Worte hängen, schmiert auch die
Silben ineinander. Uneinsichtig bezügl. seines Aufenthaltes hier, schimpft
Aber Irrenanstalt Teupitz, in der er war, klagt über seinen Zustand, weint
und jammert. Ist nicht ablenkbar. Auf Vorhalt, daß er während seines
Lazarettaufcnthaltes den Arzt für Prinz Heinrich gehalten habe, gibt er an,
es seien ihm damals solche Gedanken gekommen, er habe Stimmen gehört,
ohne die Menschen zu sehen, es sei so gewesen, als wenn ein Sprechapparat
aufgestellt gewesen sei, habe elektrischen Strom empfunden, die Fenstel seien
von selbst „wie elektrisiert“ aufgegangen, „es muß eine elektrische Zelle ge¬
wesen sein“. Habe bekannte Stimmen gehört. Habe an der Wand eine
Faust gesehen, daran habe man Gesichter erkennen können; gibt zu, daß es
sich um Wahnideen gehandelt habe. Der Mörtel sei aus der Wand gewesen,
habe sich die Sache mit den Gesichtern vielleicht nur eingebildet. Hält daran
fest, daß die Zelle elektrisch war. Alles andere könne auf Irrtum beruhen.
Rechte Krankheitseinsicht für die früheren Anstaltsaufenthalte besteht nicht. —
Drängt auf Entlassung, wolle nicht mit „Idioten“ zusammen sein. Ist be¬
freundet mit einem „klugen“ Mitpatienten (Paralytiker).
Frau berichtet noch, daß Pat. nach seinem Aufenthalt in Irrenanstalt
Teupitz verändert gewesen sei: aufgebracht, reizbar, schimpfte, raisonnierte,
sprach mehr als früher, war weitschweifig dabei.
18. 4. 18. Erregt, gereizt, beklagt sich über schlechte Behandlung, will
entlassen werden, läßt sich davon sehr schnell wieder abbringen. Keine Nei¬
gung, sich zu beschäftigen, döst vor sich hin, dann wieder sehr gesprächig.
24. 4. Abends Erregungszustand. Beschimpft andere Pat. Weinerliche
Erregung. — Gibt an, schon wiederholt bemerkt zu haben, daß mittags etwas
ins Essen getan werde, man wolle ihn um die Ecke bringen. Nachmittags im
Garten einen Anfall. Als er von der Bank aufstehen wollte, fiel er vornüber,
blieb liegen. Gesichtsfarbe blaß. Dguer etwa % Stunde. Ins Bett gebracht,
verhielt er sich ruhig.
28. 4. Erneuter Anfall. War mürrisch und mißgestimmt, verweigerte
das Essen. Anfall begann mit Zuckungen in beiden Armen, die ungefähr.
6—7 Minuten anhielten. Atmung laut, Gesichtsfarbe blaß. Pupillen reagier¬
ten 1—2 Minuten nach Aufhören der Zuckungen nicht auf Licht, waren sehr
weit. Auf Stiche keine Reaktion. Babinski bds. positiv. Nach dem Anfall
gereizt. Weiß nachher nichts vom eigentlichen Anfall, es sei ihm so Übel
gewesen, habe nichts essen mögen.
4. 5. Stimmung unzufrieden. Drängt dauernd heraus.
7. 5. Anfall, wie vorher. Wieder Erregungszustand danach.
12. 5. Ist sehr laut, schimpft dauernd, daß er hier nicht hineingehöre.
Schläft gut auf Medikamente.
28. 5. Zufriedener, fügsamer, nicht mehr so affektbetont. Mitteilsam.
Erzählt von Familienverhältnissen und Erlebnissen beim Militär, ohne Rück¬
sicht darauf, ob seine Mitteilungen zur Situation passen. Gelegentlich bei
Spontansprache leichtes Stocken, ebenso geringe Unsicherheit der? Artiku¬
lation. Habe keine Beschwerden, nie Kopfschmerzen gehabt. Gegen anti-
lnetische Behandlung ablehnend. — Gibt Dauer deB Aufenthaltes in der Klinik
und Datum richtig an. Bei Rechenaufgaben Fehler infolge von Unaufmerk¬
samkeit
38
Pup. b. o. Rechte Nasolabialfalte erheblich tiefer als links, sonst F&ziar
lis o. B. Zungenbißwunde gut vernarbt Beine ataktisch. Sonst gegen früher
unverändert.
2. 6. Anfall.
6. 6. Erregungszustand. Muß zur unruhigen Station.
17. 6. Erregung dauert immer noch an. Pat. ist unzufrieden, schimpft
auf die schlechte Behandlung, werde ungerechtfertigt in dieser „Idioten-
anstalt“ zurückgehalten. Verweigerte zuweilen Schlafmittel. Sammelte im
Garten Scherben und schmutziges Papier, nahm den anderon Kranken Brot
weg. Behauptet, das Hemd eines verstorbenen Patienten bekommen zu haben,
man wolle ihn zugrunde richten, auch die Pantoffeln, die er anhabe, gehören
einem Toten. Zeigt eine gerötete Stelle auf der Zehe, gibt an, sich angesteckt
zu haben. Weigert sich zuerst, die Sachen anzuziehen, tut es aber später
unaufgefordert. Sein „Fahneneid“ sei beleidigt, wenn Soldaten an der
Charite vorübergingen, wendeten sie sich um. Bedauert seine Familie, seine
Frau habe einen „Idioten“ zum Mann, er sei moralisch beleidigt. Frau habe
deswegen ihren Mädchennamen wieder angenommen. Der Schwiegervater
sei aus Kummer darüber gestorben. Bringt alle Äußerungen in pathetischer
Weise vor, gestikuliert lebhaft dabei, ist jedoch nicht enttäuscht, wenn seine
Ansichten nicht für richtig erkannt werden.
20. 6. nachm. Anfall: wurde blaß, leichte Zuckungen im linken Arm und
Bein (5 Min.). Nach 20 Min. kehrte das Bewußtsein zurück. Nach dem
Anfall lebhafte motorische Unruhe, schrie zuweilen auf.
21. 6. Wollte entlassen werden, weinte, war kaum zu beruhigen.
24. 6. Lag apathisch im Bett, nahm keine Nahrung zu sich. Keine
Blasen- und Daralentleerung. Reagierte nicht auf Fragen.
2. 7. Seit 29. 6. wurde schlaffe Lähmung des r. Armes bemerkt
Brachioradialis, Strecken der Hand und Finger, Abduktor und Extensor des
Daumens, Supinator brevis sind völlig gelähmt, Trizeps ist paretisch. Beuger
des Unterarms ebenfalls völlig gelähmt Funktion der Schultermuskeln sowie
Beuger von Hand und Fingern ist gut. Hypalgesie nicht nachweisbar. Ver¬
letzung oder Spuren von Druckschädigung nicht zu konstatieren. — Liegt in
absonderlicher Haltung im Bett, Arme nach beiden Seiten ausgestreckt, Kopf
zur Seite geneigt, spricht nicht, gibt passiven Bewegungen nach. Nachts
schlaflos, zog seine Schuhe über die Hände etc.
4. 7. Armparese o. B. Elektrische Untersuchung o. B.
15. 7. Liegt seit einigen Tagen regungslos im Bett, nimmt zeitweise
überhaupt keine Nahrung zu sich. Spricht weder spontan, noch auf Fragen.
Schlaf schlecht, geht nachte zuweilen aus dem Bett, hält den Kopf auf die
Brust gesenkt, ist nicht zu bewegen, ins Bett zu gehen. Verkannte Pfleger,
schimpfte auf sie. Im Untersuchungszimraer sieht er unentwegt ah die Decke,
spricht vor sich hin, langsam pathetisch: „wir werden belauscht“. Spricht
nach, was Babel, sein Pfleger, ihm oben im Zimmer vorspreche. Auch seinen
Schwager habe er sprechen hören. Andere Stimmen habe er nicht gehört.
Glaubt daran, daß der Pfleger hier sei, Babel sage, man solle ihn nicht danach
fragen. Glaubt Pflegerinnen zu erkennen, die früher in Montm^dv als
Bartholomäerinnen auf der Mädchenschule waren. — In letzter Zeit seien
hier komische Dämpfe ins Fenster gekommen, das habe man ihm zum
8chaden gemacht, „sie wollen mir den Tod vorbereiten“, auch das Essen
39
habe nach Dämpfen gerochen. Schleimhaut sei immer trocken, das rühre
wohl von einem Gift her, „ich nehme das an“. Es werde ihm stets vergifte¬
tes Essen gereicht. Das Mundsptilwasser sei vergiftet. Auf die Frage nach
der Nahrungsverweigerung gibt er an, „Eugen Babel sagt, gib dem Fräu¬
lein keine Antwort darauf, das gehört nicht zur Sache“. — Kann das Datum
nicht angeben. Es sei im Juli. Sonst Angabe von richtigen Daten aus seiner
Vorgeschichte. Weigert sich, sich eine Zahl zu merken. Klagt über Schmer
sen im Rücken. Hat das Waschen verweigert, „ich war so eigensinnig“. Aus
seinen Erzählungen geht hervor, daß er über seine Umgebung recht gut orien¬
tiert ist — Zeigt depressiven Gesichtsausdruck, habe seiner Familie viel
Schaden zugefügt, das sei doch bekannt Es sei ihm zugerufen worden, daß
er sich in allen Punkten, die die Sittlichkeit betreffen, vergangen habe. Daß
seine Hand gelähmt sei, „sei eine Strafe Gottes“, „ich denke mir das so“.
17. 7. Phoneme. Beeinträchtigungsvorstellungen. Ängstliche Befürch¬
tungen für seine Person, Mißdeutung unangenehmer körperlicher Empfindung
im Sinne von Folgen äußerer beabsichtigter Schädigung durch die Umgebung.
Trockenen Gaumen deutet Pat als Giftwirkung des Trinkwassers. „Die lassen
mich nicht in Ruhe, Tag und Nacht flüstern sie mir zu“. — Krankhafte Eigen¬
beziehungen, wahrscheinlich im Zusammenhang mit Phonemen. Hypochon¬
drische, phantastische Vorstellungen. Habe im Bett ein Kalbsfell gehabt, das
über den Kopf gezogen, seitdem das Gefühl, daß er einen Kuhmagen habe.
„Ich vermute eben, ich habe einen Kuhmagen und da kann mir nichts helfen,
kein Einlauf“. Aufmerksamkeit des Pat. ist zeitweise durch die Phoneme ab¬
sorbiert. Pat. antwortet dann nicht. — Auf Befragen gibt er an, daß jetzt
wohl der Monat Juli sei, sagt dann: „Das stimmt wieder nicht, ruft mir mein
Schwager zu“. — Die Stimmung sei nicht gut, fühle sich verraten und verkauft
von seinen Familienangehörigen, es komme keiner her. Er bekomme hier hin
und wieder neue Gesichter zu sehen, die ihm bekannt seien, komme aber nicht
auf die Namen. In Gesichtsausdruck und Verhalten des Pat. kommt eine
etwas unbehagliche mißmutige Stimmung zum Ausdruck“. „Ich bin doch kein
Idiot, ich bin bloß gestempelt, weil ich in der Charitö bin.“ Beim Nach-
sprechen Stocken, leichte Unsicherheit bei Aneinanderreihen der Silben, sonst
aber keine Artikulationsstörung.
24. 7. Gestern starke ängstliche Erregung, lief ängstlich umher, klopfte
gegen die Türen, wurde aggressiv gegen Pfleger, schrie um Hilfe: „Menschen¬
leben in Gefahr, hier werden die Kehlen durchgeschnitten.“ Ein Pfleger habe
sich mit seiner Frau eingelassen. — Heute ruhig, verweigert die Nahrung.
Antwortet nicht. Zuweilen ausgesprochen negativistisch.
29. 7. In den letzten Tagen wechselndes Verhalten. Zuweilen ruhig,
liegt mit gefalteten Händen im Bett, es ginge ihm gut, läßt sich den Arm
galvanisieren. Dann wieder unruhig, läuft umher, sagt, er sei von den Toten
auf erstanden, sei jetzt Jude.
30. 7. Glaubt, daß man ihn mit Petroleum begossen habe, „steckt mich
nur an, damit ich verschwinde“. Er habe einen Kuhmagen, sei mit gespalte¬
ner Nase zur Welt gekomme^, werde neu geboren werden. — Gibt bald darauf
an, daß er sich nur eingebildet habe, einen Kuhmagen zu haben, weil ex
solange keinen Stuhlgang mehr hatte. ..Und mein Schwager hat es mir doch
luge rufen.“
40
„Vielleicht ist das meine Krankheit,“ sagt er auf die Frage, ob er die
Stimme des Schwagers höre. —
Anfall: beginnt angestrengt zu atmen, verdreht die Augen, etwas Schaum
vor dem Mund. Keine Zuckungen. Dauer 6 Min. Lag % Stunde ruhig,
wälzte sich dann im Bett, ‘schrie öfters laut auf. Nach 1 Stunde setzte
Schlaf ein.
22. 8. Abends vorher unruhig, schimpfte, sein Bett sei beschmutzt, er
könne sich nicht hineinlegen.
30. 8. War nachts wieder gelegentlich laut, weigerte sich, Schlafmittel
zu nehmen. — Gibt auf Fragen an. es sei hier bo, als wenn die Leute nicht
gut auf ihn zu sprechen seien, ..am Tage, da gebt es ja, bloß immer
die Nacht“. „Es kommt mir so ein, ich höre d a Bemerkungen, und ich höre
da Bemerkungen. Das Gefühl werde ich wohl nicht mehr los werden. Das
beruht auf Wahrheit.“ — Im Garten gehe ihm alles aus dem Weg, wenn er
sich auf eine Bank setze, verschwinden die anderen. Schlafmittel möchte er
nicht nehmen, weil er sonst das Bett naßmache. Er sei verraten und verloren
von der Welt —
Jetzt etwas Unzufriedenes, gereizte, mißmutige Stimmung, gerät, wenn
von den ihm unangenehmen patholog. Erlebnissen gesprochen wird, in ge¬
steigerten Affekt. Ist über Umgebung und Zeit orientiert — Bei der Explo¬
ration jetzt zugänglich, bleibt mit seinen Angaben sachlich beim Thema, nur
gelegentlich Abschweifungen. Klagt, jetzt über Doppelsehen. Müsse beim
Lesen ein Auge schließen, sehe sonst die Buchstaben doppelt. Pupillen
gegen früher unverändert. Bei Konvergenz wird r. Bulbus nicht so stark
adduziert wie links, dann tritt Doppelsehen auf. Beim Blick in die Ferne
kein Doppelsehen, nur beim Sehen in die Nähe, die Lampe an der Saaldecke
sehe er auch doppelt Periphere Armlähmung jetzt wieder geheilt Nur Funk¬
tion des Brachioradialis ist noch nicht voll zurückgekehrt. Spezialärztl. Augen¬
befund: Beim Blick in die Ferne macht bei abwecnselndem Verdecken des r.
und 1. Auges im Moment des Freigebens das 1. Auge eine stärkere Außen¬
wendung wie das rechte. Es steht also das jeweils verdeckte Auge in Adduk¬
tion, links mehr wie rechts. In der Nähe ist dieses Verhalten nicht so ausge¬
sprochen. In Kombination mit der Kopfhaltung (Kopfdrehung nach rechts!
erscheint die Diagnose einer länger bestehenden Abduzensparese rechts gerecht¬
fertigt, obwohl ein Beweglfthkeitsdefekt. nicht mehr sicher nachweisbar ist.
Gleichnamige Doppelbilder.
16. 9. Sehr reizbar. Schimpft viel, besonders gegen Abend, mürrisch.
18. 9. Bittet von der unruhigen Station verlegt zu werden, verspricht,
sich nicht störend zu benehmen. Bittet spontan, ihn doch zu „reklamieren“.
Erzählt unter Tränen, daß Kranke ihn belästigen, über ihn sprechen. „Gehe
ich in den Garten, dann sprechen sie, gehe ich nicht in den Garten, dann
sprechen sie noch mehr.“ Sein Nachbar sei ein Fatzke. Er habe ihm seine
Zigaretten geschenkt, um ihn sich vom Halse zu halten.
18. 10. Bittet um Entlassung. Paranoide Mißdeutung: werde hier zurück
gesetzt, der eine Kranke sehe aus wie sein Schwager. Der Oberpfleger sei
gegen ihn, habe veranlaßt, daß er das letztemal keinen Besuch bekam. —
Nachts wieder unruhig, schimpfte laut. Gab auf Befragen an, er habe Schmer¬
zen in den Gelenken, müsse elektrische Apparate haben. Meinte, der Wasch-
41
tisch stände zu nahe an seinem Bett, der elektrische Strom von der Lampe
ziehe ihm in die Knochen. Läßt sich beruhigen, schläft aber nicht.
5. 11. 18. Überführung in andere Irrenanstalt.
18. 1. 20 gestorben in Teupitz. Diagnose: progressive Paralyse (kein
Sektionsbefund).
Zusammenfassung.
Fall 6. Diagnose: Luespsychose.
38jähriger Schlosser. Lues mit 28 Jahren, keine Behandlung,
sonst nie krank. Im Kriege von 1914 ab. Im Sommer 1916 Doppel¬
sehen. Jan. 17 epileptischer Anfall, am selben Tage noch zwei An¬
fälle. Danach verwirrt, aggressiv, mußte ins Krankenhaus (Teupitz).
Nach der Entlassung verändert, reizbar, sprach viel.
3. 4. bis 5. 11. 16 in der Charite. Pat. wurde in schwerem
Dämmerzustand nach einem Anfall eingeliefert.
Im Krankenhaus wiederholte Anfälle, oft mit nachfolgender
Verwirrtheit. Trotz guter Orientierung, Merk- und Rechenfähigkeit,
macht Pat. einen kritiklosen, schwachsinnigen Eindruck. Wird all¬
mählich immer reizbarer, Erregungszustände werden immer schwe¬
rer, verworrener. Stimmungslage während der Dämmerzustände
typisch epileptisch: „pathetisch“, „moralisch beleidigt“ usw.
Seit Anfang Juli schlaffe Lähmung des rechten Armes. Liegt
in absonderlicher Haltung, später regungslos im Bett. Spricht
pathetisch vor sich hin. Halluziniert akustisch und will auch
„Dämpfe“ gerochen haben. Beeinträchtigungs- und Vergiftungsvor¬
stellungen. Immerfort pathetische Redensarten und Benehmen.
Orientiert. Ende Juli 17 wieder Doppelsehen, das auch von augen¬
ärztlicher Seite bestätigt wird. Wa. Rea. in Bl. u. Liq. stark positiv.
Laut Mitteilung am 13. 1. 20 in Anstalt Teupitz an Paralyse ge¬
storben.
Ich habe diesen Fall mitgenommen, obwohl ich auf den Ein¬
wand völlig vorbereitet bin, daß es sich hier nur um eine Paralyse
handelt. Die Anfälle — wird man sagen — waren keineswegs
epileptische, sondern von Anfang an paralytische. Schon recht früh
spricht die Krankengeschichte von einem „kritiklosen, schwach¬
sinnigen Eindruck“, sowie von Sprachstörungen.
Dies mag berechtigt sein. Der Fall bietet aber soviele eigen¬
artige Umstände, die offenbar auch die Diagnose: „Luespsychose“
in der Charite veranlaßten, daß ich ihn als ein bezeichnendes Bei¬
spiel jener „atypischen Paralysen“, von denen Wimmer spricht,
angeführt habe.
Die Krankheit fängt im Sommer 1916, also 3V& Jahre vor dem
Tode mit Doppelsehen an; dann stellen sich % Jahr später die An-
42
fälle ein. Diese und besonders die schweren nachfolgenden Dämmer¬
zustände mit ihren pathetischen hochtrabenden Zügen hatten klinisch
ganz den Charakter einer Epilepsie. Sodann sind die recht starken
Halluzinationen bemerkenswert und passen vielmehr mit einer
luetisch-epileptischen Psychose als mit einer Paralyse zusammen.
Schließlich ist ja auch der 3%jährige Verlauf recht auffallend.
Es mag sein, daß hier also eine Paralyse vorliegt, jedenfalls ist
es eine atypische, und die Vermutung kann nicht ganz zurück¬
gedrängt werden, daß wir es anfangs mit einer Lues cerebri zu tun
hatten, die zum Doppelsehen und epileptischen Manifestationen
Anlaß gab, und die dann in eine Demenz, vielleicht Paralyse (eine
mikroskopische Untersuchung lag nicht vor) überging.
Halluzinose- bzw. halluzinatorisch-paranoische Fälle von
Luespsychosen.
Wenn ich diese Fälle nicht zusammen mit den exogenen Reak¬
tionstypen führe, so geschieht es — wie bereits gesagt — weil sie
klinisch ein ziemlich stark abweichendes Bild darbieten. Ebenso
wie der Alkohol- oder Cocainwahn eine eigene Gruppe bilden,
scheint es mir berechtigt, die entsprechenden luetisch bedingten
Störungen getrennt für sich zu behandeln.
Es gibt von diesen Gruppen zwei Untergruppen, die fließend
ineinander übergehen.
Erstens haben wir die mehr halluzinose-ähnlichen Fälle. Hier
stehen die Halluzinationen im Vordergrund der Symptome. Die
Wahnideen sind meistens flüchtig, unsystematisiert, die Stimmung
oft ängstlich oder ängstlich-erregt. Schwerere Bewußtseinstrübun¬
gen kommen dagegen — wie in den Verwirrtheitszuständen —
nicht vor.
Zweitens finden wir Fälle, in denen paranoische Züge, vor allem
in Gestalt des Eifersuchtswahns hervortreten. Kraepelin erwähnt
in seinem Lehrbuch diese Gruppe, und neulich hat Bouman Bei¬
träge zur Kenntnis derselben geliefert. Auch Fälle, die durch Ver-
folgungs- und Beziehungsideen ausgezeichnet sind, treffen wir unter
den Luespsychosen.
Die Übergänge zwischen diesen beiden Gruppen sind natürlich
fließend. In den mehr ausgesprochenen Halluzinosefällen sind
Wahnideen immer vorhanden, und andererseits treffen wir in den
paranoischen Fällen fast immer mehr oder weniger zahlreiche
Halluzinationen.
Ich verfüge über 5 Fälle dieser Art.
43
F all 7. F. S., Privatwächter, 33 Jahre alt. Aufgeii. 16. 6.. entl. 22. 7. 22.
Diagnose: Luespsychose (oder progressive Paralyse).
Kann keinen Grund angeben, weshalb er die Klinik aufsucht. Er sei
ein Medium, werde von der Kriminalpolizei verfolgt Weint, knirscht mit den
Zähnen, ruft: „Diese Verbrecher“, grimassiert stark, ist ablenkbar. Er stehe
seit 2 Jahren „unter Beeinflussung 41 . Man habe gesagt, er habe das zweite
Gesicht, sei gefährlich und müsse deshalb unschädlich gemacht werden. Des¬
halb habe er ,Einflüsterungen 44 bekommen. Müsse alles nachsagen, was er
vor 2 Jahren schon gesagt habe, höre alles im rechten Ohr. Auch hätte
man ihm „das Gesicht heruntergeklappt“, wie eine Mütze, da gehe plötzlich ein
(Schatten vor seinem Gesicht vorbei, wie eine Gestalt. Andere Gesichtshallu¬
zinationen negiert. Früher als Steward zur See gereist, viel in der Welt
herumgekommen. Vor langen Jahren Tripper, sonst immer gesund. Spricht
in manirierter Weise mit manirierten Gesten, grimassiert stark. Starke
Hyperhydrosis, rascher Farbenwechsel.
Somatisch: Mäßig kräftig gebaut, in mittlerem Ernährungszustand. Ge¬
sichtsfarbe blaß, wechselt stark beim Sprechen. Innere Organe: o. B. Nerven¬
system: keine Störungen der Reflexe, gute Licht- und Konvergenzreaktion der
Pup. Blut — Wa. neg., Liquor: Wa.: stark positiv. Phase I.: deutliche Trü¬
bung; starke Lymphozytose.
17. 6. Es gefalle ihm „ausgezeichnet 44 hier. Sei ,nervös“, örtlich
orientiert Seine Nervosität bestehe in ,Einflüsterungen“. Fragt plötzlich
lebhaft: „Sie meinen es doch gut mit mir. 44 Bittet um Urlaub für seinen Ge¬
burtstag (22. 6.). Erzählt spontan weiter: er sei „ganz zerrissen“, wenn er
sehe, dränge sein Inneres nach rechts, das Gesicht klappe herunter und wolle
nach links, habe ein Gefühl, als ob er nicht aus sich hcrauskönne. Will nicht
weiter reden, faßt sich in manirierter Weise an den Kopf: „Mein Kopf ist
wie umgertihrt, wenn ich von meiner Krankheit sprechen soll“. Schweift ab,
verliert den Zusammenhang. Vor 5 Jahren Friseur gewesen, habe viel Kri¬
mmalpolizisten in der Kundschaft gehabt, diese hätten gesagt, er müsse sich
hüten, sei „Autosuggestionist“, er werde verfolgt. 1920 sei das Unglück über
Ihn hereingebrochen. Er habe einer Kundin ein Bild von sich geschenkt,
eines Tages seien Bekannte dieser Dame in den Laden gekommen, man habe
ihm den geladenen Revolver ins Gesicht gehalten und gerufen: „Da ist der
Kriminalspitzel.“ Man habe ihm geraten, Berlin zu verlassen. Seit dieser
Zeit — besonders in den ersten 6 Monaten — lungere man um ihn herum.
Leute, die unter allen möglichen Vorwänden ins Geschäft kämen, flüsterten
ihm ins Ohr, „den Jungen werden wir schon kriegen, der wird noch irrsinnig
werden, der hat das Hellsehen, der muß unschädlich gemacht werden, wir
werden ja doch bis an sein Lebensende bei ihm sein, daß er von der Krank¬
heit nicht mehr loskommt“ u. ä. Wurde verfolgt auf der Straße, Leute sahen
ihn boshaft an. Ging nur noch mit geladenem Revolver aus, wegen der Ver¬
folgungen mußte er einmal über eine Mauer in einen fremden Garten springen.
Danach Hellseher, habe schon vor 2 Jahren die Sieger der heutigen Pferde¬
rennen ausgerufen. Wisse nicht, ob das auch etwas mit seinen Verfolgern zu
tun habe. Habe eine Wut gegen diese Verbrecher, möchte sie töten. Im
Jahre 21 habe er Ruhe gehabt. Plötzlich sagt er: man habe ihm gesagt: „Da
kommt der Herr von 1920, das bringt Glück, immer duplizierte Zahlen, 20, 22,
J
— 44
20, 30, 33 u , er halte es eigentlich für Witze, aber es könne doch möglich sein,
daß es eine Bedeutung habe. Schweift ab, knüpft an das Wort Witz an: „Ich
bin ja auch ein witziger Mensch“. Während der Unterhaltung dauerndes
Grimassieren, grundloses Lachen, springt öfters auf, macht lebhafte Gesten.
20. 6. Es gefalle ihm hier nicht, weil die Türen verschlossen seien, bittet
wieder um Urlaub für seinen Geburtstag. (Nach Beziehungsideen gefragt?)
Berichtet unklar, konfus, leicht abschweifend, 2 junge Leute hätten 1920 gesagt,
sie wollten das stenographieren, was er sage, um ihn später ausliefern zu
können, er sei doch aber ein einwandsfreier Mensch. Springt plötzlich auf,
bittet um eine Zigarette, schmeichelt in kindischer Weise. — Schweift immer¬
fort ab, hört mitten im Satz auf zu sprechen. Verbrecher seien um ihn herum,
hätten gesagt: „Da ist der Kerl, er trägt ja ein braunes Jackett“ usw. Habe
diese Leute nur einmal gesehen, „sie waren jünger als ich“. Haben ihm
sofort die Gedanken weggenommen und gesagt: „nun hat er keinen eigenen
Willen mehr“. Ist entrüstet, als man ihn nach homosexuellen Neigungen fragt,
habe immer nur Neigung zu älteren Frauen gehabt (ob er das Sprechen direkt '
gehört habe?). „Nein, es sei so über sein Gesicht gejagt, er habe den Kopf
nach links gedreht“ Sagt plötzlich: „Ich habe einen physischen Ekel vor
Kot“, kann das aber nicht begründen. Sei im Feld „Bombenschmeißer“ ge¬
wesen, wegen seiner „zarten. Gesundheit“, habe der Feldwebel gesagt. Habe
gegen Schwarze gekämpft, einen Ekel — nicht Angst — vor diesen gehabt
„weil die schwarze Rasse die weiße Rasse vernichten wollte“.
Habe die Schule bis zur 3. Klasse besucht, nicht weitergekommen, „weil
er so schwache Nerven“ hatte. Mit 20 Jahren Schanker (am dors. Rand
präput peni8 sind 2 abgeheilte — offenbar Ulzera-Narben sichtbar). Blut
Wa. sei immer positiv gewesen. — Plötzlich Affektlabilität: weint bitterlich,
ist nicht zum Sprechen zu bewegen. Gleich darauf wieder freundlich, lacht
Leicht beeinflußbar, geht sofort auf vorgeschlagenes Thema ein. Aufmerk¬
samkeit schwer zu fixieren. Auffallend ist eine starke Intelligenzschwäche.
Beim Rechnen umständlich, oft Fehlresultate bei einfachen Aufgaben. —
Weint plötzlich: „Ich habe immer meine Miete von meinem Gehalt gleich
bezahlt, jetzt komme ich nicht mehr nach Hause, meine arme Mutter weint.
Bin in Verbrecherhände gekommen, diese Hunde, verfluchten“.
Beim Spontansprechen keinerlei paralytische Eigentümlichkeiten. Nach¬
sprechen von Paradigmata ist bei der Zerfahrenheit nicht möglich. Pat hat
keinerlei Kritik für die Dürftigkeit seiner intellektuellen Leistungen. Rechnen
sei ihm immer schwer gefallen.
Angaben der Mutter: Veränderung Frühjahr 22 aufgefallen: sah oft so
alt aus, wie ein Greis. Auffallend still, bei Ansprechen schrak er auf. Seit
8 Wochen habe er berichtet, daß er schon seit 1920 Hellseher sei, daß er Er¬
eignisse prophezeit habe, die sich jetzt ereignen, sah Gestalten, besonders
nachts, ein Schatten gehe dauernd neben ihm her. Bis vor 4 Tagen im Beruf
tätig, tüchtig und beliebt gewesen. Fühlte sich elend und müde, wollte sich
nicht waschen, ging mit Stiefeln zu Bett, verweigerte Nahrung, behauptete, er
sei „suggestionskrank“. War früher sehr lebhaft, hatte für alles Interesse,
las viel, ging gern spazieren. In der Schule zerstreut, gute Auffassung, aber
faul. In seinem Beruf als Friseur ebenfalls tüchtig, wurde vor 1 Jahr Privatr
Wächter aus pekuniärem Anlaß. Nach der Entlassung vom Militär 1 Jahr
45
J£opfschütteln“, sehr aufgeregt. — Außer Lungenentzündung als Kind immer
gesund. Keine Nerven- oder Geisteskrankheiten in der Familie.
27. 6. Neo-Salvarsankur.
10. 7. Kur wird gut vertragen. Ist viel ruhiger, äußerst spontan keine
Wahnideen mehr. Keine Halluzinationen, Stimmung euphorisch. Unterhält
sich mit anderen.
22. 7. 22. Verhalten in den letzten Tagen unverändert. Stimmung
euphorisch, Affektlabilität nicht mehr so stark, wenn auch vorhanden. Kleinere
Rechenaufgaben werden gelöst, etwas schwerere nicht. Gibt an, nicht ant¬
worten zu können, wenn er sich aufrege. Friseur wolle er nicht wieder
werden, das mit den Messern sei zu gefährlich (erklärt das nicht weiter, lacht
unmotiviert). Beharrt bei der Tatsächlichkeit seiner damaligen Wahr¬
nehmungen, verliert sich beim Erzählen sofort in Einzelheiten. Keine Hallu
zinationen, keine Beziehungsideen mehr.
Wird entlassen. Auf die Frage, ob er sich keine Gedanken mehr machen
werde, sagt er mit großem Affekt: „davor werde ich mich jetzt schon sichern,
ich gehe jetzt nur noch mit dem Revolver aus. % Stunde später bestreitet er,
diese Bemerkung gemacht zu haben.
Nach Auskunft der Mutter vom 26. 6. 23 ist Pat. nicht arbeitsfähig und
muß von der Mutter erhalten werden. Er ist leicht erregbar, glaubt sich noch
immer beobachtet, schreibt viel; kein Krankheitsgefühl, weigert sich, zum
Arzt zu gehen.
Zusammenfassung.
Fall 7. Luespsychose (oder progr. Paralyse?).
33jähriger Privatwächter. Schule bis zur 3. Klasse, soll lebhaft
gewesen sein, viel gelesen haben. Lues mit 20 Jahren, keine Geistes¬
krankheiten in der Familie.
16. 6. bis 22. 7. 22 aufgen. in der Charite.
Seit Frühjahr 22 Veränderung aufgefallen. Still, erzählte, daß
er Ereignisse prophezeit habe, sei Hellseher seit 1920, arbeitete
trotzdem bis vor 4 Tagen.
Er stehe seit 2 Jahren unter „Beeinflussung“, habe „Einflüste¬
rungen“. Halluziniert akustisch, vielleicht auch leicht optisch.
Stimmen meist drohenden Charakters, „da ist der Kriminalspitzel,
den Jungen werden wir noch kriegen“. Ziemlich flüchtige Verfol-
gungs- und Beziehungsideen, Verbrecher seien um ihn herum, hätten
ihm die Gedanken weggenommen und gesagt: „nun hat er keinen
eigenen Willen mehr“. Manieriertes auffälliges Benehmen, dauerndes
Grimassieren, grundloses Lachen, springt plötzlich auf, weint un¬
motiviert. Keine feste Affektlage, ängstlich-erregte Stimmung in
deutlicher Beziehung zu den Halluzinationen. Orientiert. Auffallend
ist eine starke Intelligenzschwäche.
Somatisch: Pupillen und andere Reflexe in Ordnung. Wa. im
Blut neg., Liq.: Wa. stark pos. Ph. I deutliche Trübung, starke
Lymphozytose.
46
Nach Neo- und Silbersalvarsankur wird Fat. bedeutend ruhiger,
■äußert spontan keine Wahnideen mehr, keine Halluzinationen. Stim¬
mung euphorisch.
Die Mutter berichtet am 26. 6. 23, daß Pat. seit der Entlassung
nicht arbeitsfähig sei. Sei leicht erregbar, glaubt sich noch immer
beobachtet. Kein Krankheitsgefühl. Weigert sich zum Arzt
zu gehen.
Das absonderliche manierierte Benehmen des Kranken, seiner
zerfahrenen Redensarten, der „Gedankenentzug“, die im ganzen
euphorisch gleichgültige Stimmung und die Labilität der Affekte
lassen wohl in erster Linie den Verdacht auf eine paranoide Schizo¬
phrenie aufkommen.
Andererseits haben wir aber die stark positiven Liquorreaktio¬
nen und die Beeinflussung der Behandlung, die allerdings keine
durchgreifende gewesen zu sein scheint. Auch ähnelt der Fall sehr
stark z. B. Fall 5 bei Plaut.
In der Klinik hat man differentialdiagnostisch vor allem an eine
Paralyse gedacht, offenbar auf Grund des stark hervortretenden
schwachsinnigen Zuges im Krankheitsbild. Ganz ungewöhnlich
wäre in diesem Fall das Anfangsbild der paralytischen Krankheit.
Auch der neg. Blut-Wassermann spricht ja vielleicht dagegen. Gegen
eine Paralyse sprechen auch die stark hervortretenden Halluzi¬
nationen.
Ein sicheres Urteil über den Fall können wir uns nur bilden,
wenn wir den weiteren Verlauf überblicken können. Vorläufig
müssen wir ihn als eine Halluzinose auf luetischer Basis auffassen,
die allerdings mit katatonen und schwachsinnigen Zügen stark
durchsetzt ist.
Fall 8. F. S., 30 Jahre, Straßenbahnschaffner. Auf gen. 31. 12. 22,
entl. 3. 4. 23.
Bei Aufnahme Klagen über Kopfschmerzen, gibt an, von seinen Schwie¬
gereltern vergiftet worden zu sein. Schildert in •wortreicher Weise und mit
Nebenumständen seine Vorgeschichte, damit man sähe, daß er kein Idiot sei.
Ängstlich wegen „der Vergiftung“.
Angaben der Ehefrau: Kennt Pat. seit 4 Jahren, seit 26. 7. 19 verb.
Pat. war immer mißtrauisch und eifersüchtig, schloß die Frau in die Wohnung
ein, glaubte trotzdem, daß jemand während seiner Abwesenheit in der Wohnung
war. Pak war fleißig, sparsam und solide. Eifersucht steigerte sich immer
mehr, ließ Frau durch andere kontrollieren. Ließ sich (Juli 22) Magen aus¬
pumpen, Frau habe „Hängepfeiffenpulver“ ins Essen getan (Frau hatte Erbsen
mit Natron gekocht). Roch immer am Essen. Auch gegen die Schwieger¬
eltern in dieser Beziehung mißtrauisch, hielt geronnene Milch im Kaffee für
„Giftbazillen“. Glaubte auch im Schlaf eine Spritze bekommen zu haben.
47
Vom 29./30. 12. 22 Suizidversuch. Grund: Frau habe ihn mit Tuberkulose
und Syphilis infiziert, sei Giftmischerin. Ließ sich wieder den Magen aus¬
pumpen. Machte auch Polizei auf die Frau aufmerksam. — Sinnestäuschungen
wurden nicht von den Angehörigen beobachtet. — 1 Kind von 2 Jahren.
1 Fehlgeburt von 8 Wochen. Pat. wurde 18 wegen Lues spin., Alopecia speci-
fica, Angina spec. und Exanthem in Hautklinik behandelt. Go.: pos.
Angaben des Pat.: Letzte Gravidität $er Frau stamme nicht von ihm
(Fehlgeburt). Frau sei in letzter Zeit sehr zurückhaltend gegen ihn gewesen,
habe mit einer anderen Frau geflüstert von „Abtreibung“. Frau betrüge ihn
seit August/September, hänge seine alten Kleider in den Schrank, damit ihr
Liebhaber nicht merke, daß sie verheiratet sei; habe auch Fußspuren auf dem
Balkon entdeckt — Frau habe versucht, ihm Gravidität und Abort zu ver¬
heimlichen, ihn aber nachher als „Mitwisser“ vernichten wollen, ihm u. a.
auch eine mit „Nikotin“ vergiftete Zigarette gegeben, so daß ihm nach
2 Zügen Übel geworden sei. Er glaube auch, daß seine Schwiegermutter ihm
einmal, als er schlief, eine Spritze geben wollte. Im Essen sei bestimmt Gift
gewesen, er habe jedesmal „Kreuzschweiß“ bekommen, auch Schüttelfrost
und braunen Auswurf. Suizidversuch habe er gemacht, weil er doch „dran
glauben“ müsse. Seine Mutter habe auch dreimal versucht, sich zu erhängen,
weil der Vater ein „Hurenbock“ gewesen sei.
15. 1. 18. Infektion mit Lues, mehrere Kuren gemacht. Fragt, ob seine
Kopfschmerzen und der Schwindel etwa von einer Gehirn- oder Rückenmarks¬
erkrankung herrühren könnten; bringt seine Äußerungen mit großem Rede¬
schwall vor, schmückt sie viel mit retorischen Flocken und Redensarten aus,
belegt alles mit genauen Daten.
Angaben der Schwester: Pat. war als Kind etwas „graulich“, immer
still, spielte nur mit seinen Geschwistern. Stets sehr eitel. Fleißig auf der
8chule, Streber. Nach der Schule Maurerhandwerk erlernt, guter Arbeiter,
solide gelebt. Im Kriege verschüttet gewesen, Nervenchok, Lazarettbe¬
handlung. In der Ehe ohne Veranlassung eifersüchtig.
Seit dem Kriege „nervös“, regt sich über Kleinigkeiten auf. Sonst nicht
auffällig, guter Gesellschafter. Nur gegen Frau Beeinträchtigungs- und Be-
ziehungsideen.
8. 1. 28. Glaubt wieder, daß Milch und Kakao, die die Frau mitgebracht
hat, vergiftet waren, habe nach Genuß derselben Schüttelfrost, Zittern und
Schmerzen im r. Bein bekommen. Hält auch auf Einwand an seiner Wahn¬
idee fest. Nach kurzer Zeit plötzlich einsichtig.
18. 1. 28. Weinerlich, glaubte ins Irrenhaus zu kommen und entmündigt
zu werden. Meint, Paralyse zu haben, die ihm „beigebracht“ worden sei.
Frau wolle ihn um die Ecke bringen. Nimmt dann wieder alle Verdächtigun
gen zurück, ist jedoch wechselnd in seinen Anschauungen. Gesichtsausdruck
ängstlich gespannt, will nicht als geisteskrank betrachtet werden.
17. 1. 23. In der r. Unterbauchgegend und dem oberen Drittel des r.
Oberschenkels breite etwa 15 cm lange Narbe. L. R. 1. etwas träger als r.
C. R. normal. N. VH 1. Spur geringere Innervation als r., nur bei Bewegun¬
gen. N. XH: leichtes fibrilläres Zucken. Sprache: bei Testworten leichtes
Silbenstolpern, sonst o. B. Keine deutlichen Paresen. Pat. Refl. vorhanden,
r. und 1. gleich, schwach auslösbar. Ach. Refl.: r. nicht sicher auslösbar, 1. —.
Babinski: l. manchmal leichte Dorsalflexion. Sonst keine Pyramidensymptome.
48
Leichte Ataxie bds. K. H. V. nicht prompt, einzelne auffahrende unsichere
Bewegungen.
31. 1. Äußert Eifersuchtsideen gegen Frau, sie wolle ihn in eine
Anstalt bringen, obgleich er nicht geisteskrank sei. Seine Eifersuchts- unri
Verfolgungsideen seien berechtigt, habe nur keine Beweise. Die Schwieger¬
eltern seien wohl nett zu ihm gewesen, es sei aber erzwungene Liebe gewesen.
1. 2. Widerruft seine Ansichten von gestern.
14. 2. Läßt sich dauernd bestätigen, daß er nicht entmündigt und nach
Gesundung entlassen wird. Sehr mitteilungsbedürftig. Seine früheren Äuße¬
rungen seien Hirngespinste gewesen, freue sich, wenn seine Frau ihn besuche.
Überhöflich im Wesen. Fühlt sich ganz gesund, will aber Kur beendigen.
Appetit gut.
28. 2. Wieder Eifersuclitsideen gegen Frau. Ängstlich, glaubt wieder,
man wolle ihn entmündigen. Bringt alles affektsteif vor, dazwischen kurzes,
kaltes, unnatürliches Lächeln. Keine ängstlichen Äußerungen.
4. 3. Beziehungsideen gegen den Pfleger.
4. 4. Lebhaft und weitschweifig in seinen Reden. Korrigiert seine
Eifersuchtsideen. Ängstlich in bezug auf seine Lues. Außer der Logorrhoe
starke emotionelle Labilität, teils weinerlich, gleich darauf wieder leicht
euphorisch-expansiver Grundstimmung. Merkfähigkeit: etwas gestört.
2. 5. Geordnetes Benehmen. Führt dem Arzt gegenüber weitschweifig«
Gespräche über seine Erkrankung, interessiert sich, wie der weitere Verlauf
beurteilt wird. Krankheitseinsicht. In seinen Angaben etwas kindisch, kritik¬
los. Affektlage leicht euphorisch, expansiv.
Blut — Wa.: negativ. 5. 1. 23.
Lumbalpunktion: 19. 1. 23: Ph. 1. Üpalescenz, leichte Lymphozytose.
Wa.: 0,2 und 0,4 schwach pos. 0,8 stark pos. — Lumbalpunktion: 27. 3. 23:
Ph. I. leichte aber deutl. Trübung, mittl. Lymphozytose. Wa.: stark positiv.
Therapie: Neo-Salvarsan, 10 Spritzen 0,3—0,6.
29. 6. 23. Pat. stellt sich in der Klinik vor, arbeitet bei der Straßenbahn,
aber nicht als Schaffner. Er ergänzt die frühere Krankengeschichte durch
die Angabe, daß er ganz sicher Stimmen gehört habe, so die Stimmen seiner
Frau und auch des Schwiegervaters, „so im Flüsterton“. Auch will er am
Dach ein „blumenartiges Flimmern“ gesehen haben. — März 23 hörten die
Stimmen allmählich auf. Nach Weihnachten will Pat. einen halbstündigen
Anfall von Bewußtlosigkeit gehabt haben.
Bezügl. der Eifersuchtsideen äußert Pat., daß er sie gänzlich überwunden
habe. Den Abort erklärt er sich jetzt damit, daß das Kind der 2. oder
3. Schwangerschaft bei einem syphilitischen Vater angeblich krank sei. Die
Frau hätte deshalb die Schwangerschaft unterbrechen lassen.
Pup. Refl. und Pat. Refl. o. B. Ach. Refl. —.
In den letzten Tagen 11 Pfund zugenommen.
Pat. — wie früher — auffallend — weitschweifig.
Zusammenfassung.
Fall 8. Diagnose: Luespsychose.
30 Jahre alter Straßenbahnschaffner. Immer mißtrauisch, eitel,
strebsam. Im Krieg verschüttet gewesen.
49
Lues: 15. 1. 18. Heiratete Juli 19. Soll immer eifersüchtig
gegen Frau gewesen sein, schloß sie in die Wohnung ein. Roch
immer am Essen. Ließ sich im Sommer 22 den Magen auspumpen,
weil Frau ihn vergiftet habe. Auch gegen die Schwiegereltern mi߬
trauisch.
Ende Dez. 22 Suicidversuch. Ursache: Frau habe ihn infiziert,
sei Giftmischerin. Erregt.
31. 12. 22 bis 3. 4. 23 in der Charite.
Hält an seinen Eifersuchts- und Vergiftungsideen fest. Frau
hätte eine Fruchtabtreibung machen lassen, weil das Kind nicht von
ihm stamme. Halluzinierte besonders im Dez. 22 recht stark, hörte
die Stimmen der Frau und des Schwiegervaters „wie im Flüsterton“.
Auch leichte optische Halluzinationen. Äußerst weitschweifig,
schmückt seinen Redeschwall mit retorischen Floskeln aus. Belegt
alles mit genauen Daten. Affektlage im allgemeinen steif, mit expan¬
siver Grundstimmung, ab und zu ängstlich, weinerlich. Emotionelle
Labilität. Benehmen geordnet.
Somatisch: Lichtreaktion etwas träge links.
VII. Spur geringere Innervation bei Bewegungen.
XII. Leichtes fibrilläres Zittern. Leichtes Silbenstolpem. Pat.
Refl. schwach auslösbar. Ach. R. r. unsicher, 1. —. Babinski ab und
zu leichte Dorsalflexion.
Bl. Wa. — Liq.: 19. 1. 23 Wa. pos. (von 0,2 an), 27. 3. 23 Wa.
stark pos. Ph. I. Deutl. Trübung, mittlere Lymphozytose. März 23
hörten die Stimmen allmählich auf. Pat. wurde ruhiger.
29. 6. 23 stellt sich Pat. in der Klinik vor. Arbeitet bei der
Straßenbahn, aber nicht als Schaffner. Keine Eifersuchts- oder
Beziehungsideen, keine Halluzinationen. Auffallend gesprächig und
weitschweifig.
Dieser Fall nähert sich mehr dem klassischen halluzinatorisch¬
paranoischen Typus als der vorige Fall, weil das Bild nicht durch
manierierte und demente Züge verwischt ist. Daß die Krankheit
luetisch bedingt war, müssen wir wohl bei der sicheren Infektion
und den starken Veränderungen des Liquors annehmen.
Klinisch haben wir es mit einem Eifersuchtswahn im Sinne
Jaspers, Meyers und Schuppius zu tun, nicht mit einer
krankhaften Eifersucht. Die Wahnideen entstanden allmählich,
offenbar auf Grund einer angeborenen Anlage. Pat. war immer
mißtrauisch, von Anfang an eifersüchtig, hatte immer ein Bedürfnis,
alles genau zu erklären und mit Daten zu belegen. Die Wahnideen
Pabri t Ina, Zur Klinik der nicht paralytischen Lues-Psychosen. (Abhandl. H. J4) 4
50
werden systematisiert, und ziehen immer größere Gebiete des all¬
täglichen Lebens in ihren Kreis.
Die luetischen Vorgänge im Gehirn haben in diesem Falle,
scheint es, mehr eine endogene Bereitschaft mobilisiert, als einen
exogenen Reaktionstypus geschaffen.
F a 11 9. R. G„ Techniker. 43 Jahre. Aufgen. 25. 2. 16, entl. 23. 3. 16.
Diganose: Luespsychose.
Anamnese: Vater 67 Jahre, lebt noch, Mutter mit 42 Jahren gestorben an
Schwindsucht. Angeblich kein Suizid der Verwandten (hat keine Beziehung
zu Verwandten des Vaters). Großvater väterlicherseits konnte in letzten
Lebensjahren nicht gehen. Onkel mütterlicherseits auch an Lungenkrankheit
gestorben. Schwester des Pat. „nervenleidend“, leicht erregbar. Bruder als
Kind lungenleidend. 1 Halbbruder von Vaters Seite ist geistig zurück, hatte
nach Diphtherie Lähmungen, aber nur im Halse. Über erste Entwicklung weiß
Pat. nichts. Litt seit den ersten Schuljahren an Stottern. Besuchte die
ß-klassige Schule des Vaters (Lehrer), erhielt Unterricht in Franz, und Latein.
Lernen fiel ihm nicht schwer. Keine Enuresis, keine Krampfanfälle. Nach
der Konfirmation Unterricht beim Taubstummenlehrer. Seit 1892 beim Magi¬
strat in Berlin angestellt. Anfang der 90er Jahre geschlechtliche Infektion.
Mit 30 Jahren eine Kur, bisher keine Wa. R. Gesund bis 1911, dann Herz¬
klopfen und Atembeschwerden, große Augenpupillen, die sich immer wieder
zusammenzogen. Arzt konnte daher nichts finden. Seit 1909 verheiratet,
7jähr. Mädchen, dann Knabe mit y 2 Jahr gestorben. 1 Abort. Frau gesund.
Ehe bis vor 1—2 Jahren gut. War früher gern in Gesellschaft, trank gern
Bier. Vertrug Alkohol mal gut, mal weniger, wurde dann ausgelassen, über¬
mütig. In der Ehe kein regelmäßiger Alkoholgenuß mehr. Habe vor
10 Jahren in der Trunkenheit einem fast 14jähr. Mädchen an die Genitalien
gefaßt. Keine Anzeige. Hatte starke Gewissensbisse deswegen. 1914 habe
„das Theater um ihn herum angefangen“. Die Kollegen machten ,Andeu¬
tungen“, sprachen von Sachen, die 10 Jahre zurückliegen und bestraft werden
können. Hätten es nicht zu ihm gesagt, habe aber gemerkt, daß er gemeint
war. Zur Rede gestellt, wurde es von den Kollegen bestritten. Habe all¬
mählich gemerkt, daß er „auf Schritt und Tritt beobachtet werde“. Alle
hätten vor ihm ausgespuckt, auch solche, die er nicht kannte, das seien „Auf¬
passer“ gewesen. Wenn er bei der Arbeit etwas verkehrt gemacht habe, sei
gespuckt, gegrinst, geklopft und mit den Türen geklappt worden. Auch
sonst habe man „Theater in dieser Art“ gemacht, es aber immer abgestritten.
Empört über derartiges Verhalten habe er sich mit den Kollegen verfeindet
Auch zu Hause sei ihm dasselbe aufgefallen. Phoneme werden bestritten.
Brennen im Halse, auch Brustschmerzen. Habe schon Speichel untersuchen
lassen. Kollegen seien von einer Stelle aufgehetzt, einer habe die Leitung
übernommen. In letzter Zeit habe er den Eindruck, als ob er hypnotisiert
werde durch „innerliches Brennen“. Das Brennen werde auf elektrischem
Wege gemacht Warum man ihm das an tue, wisse er nicht Könne sich nicht
richtig verteidigen, da alles nur „indirekt angedeutet“ werde.
26. 2. Hat schlecht geschlafen, eigenartige Empfindungen gehabt „wie
bei Pollutionen“. Hohes Glücksgefühl, meint, „weil vom Opium gesprochen
wurde“, könne er vielleicht einen Opiumrausch gehabt haben. Habe öfters
51
Gedanken, von denen er nicht weiß, wo sie herkommen, habe schon an eine
„Mordverdächtigung“ gedacht Dies sei seit 8 Tagen. Treffe manchmal auf
der Straße frühere Bekannte, die längst tot seien. Könne sich das nicht er¬
klären, wisse genau, daß er sich irre. Einwendungen gegenüber ist er ein¬
sichtig, sagt selbst, daß es sich um schwierige, schwer faßliche Dinge handele,
daß er sich vielleicht irre. Verfällt aber gleich darauf wieder in seine Wahn¬
ideen zurück. Es sei ihm doch klar geworden, daß scheinbar harmlose Dinge
einen tieferen Sinn für ihn hätten. Es würden ihm auch Angewohnheiten
nachgemacht
Angaben der Frau: Kennt den Mann 10 Jahre, keine Stimmungsano-
malien, aber viel „für sich“. Änderung des Charakters „allmählich“. Wurde
mißtrauisch, meinte, daß Kollegen über ihn sprechen. Das dauerte 1 Jahr
lang, dann glaubte er, „Sticheleien“ im Büro zu bemerken, zog deswegen aus
einem Beamtenwohnhaus nach Berlin. Jedoch keine Veränderung seiner
Wahrnehmungen. Dauernde Verschlimmerung seines Zustandes. Die Frau
gibt die gleiche Schilderung des Krankheitsbildes wie der Pat. Gegen die
Frau keine Eifersuchtsideen. In der Arbeit gut Es werde Rücksicht auf ihn
genommen, arbeite allein im Zimmer.
Somatisch: Kaum mittelkräftig. Muskulatur schwach, Fettpolster go
ring. Innere Organe o. B. Pat und Ach. Reff, gleich, lebhaft Kein Babinski.
Pup. spurweise entrundet, Weite etwas wechselnd, links weiter als rechts,
Augenbewegungen frei. Wassermann positiv. Lumbalpunktion verweigert
Therapie: Tinct amara Smal 20 Tr. tägl. Bad jeden 2. Tag.
2. 8. 16. Schmierkur. — Findet, daß die Pat. früheren Bekannten sehr
ähnlich sähen. Weiß aber, daß es sich nur um Ähnlichkeit handelt, daß es
wirkliche Bekannte von ihm nicht sind. Hat den Eindruck, daß seine Ge¬
danken festgestellt werden können seit ein paar Wochen.
22. 8. Hält sich für sich. Hat den Eindruck, daß zwischen seine Ge¬
danken aus dem Hals heraus andere Gedanken kommen, Krankheitseinsicht
dafür. Eigenbeziehungen. Erklärungsvorstellungen für die patholog.
Symptome. Oberflächliches Krankheitsgefühl, Empfindung, daß es sich um
abnorme Vorgänge handelt Angeblich hat sich der Zustand hier gebessert
Pat korrigiert seine Beziehungsvorstellungen gegen die Arbeitskollegen nicht
Auch hier krankhafte Mißdeutung seiner patholog. Erscheinungen mit äußeren
Erlebnissen. Habe den Eindruck, daß er hier nicht hergehöre, habe sich
deshalb zurückgezogen.
23. 3. Entlassen. — Soll nachher besser und arbeitsfähig gewesen sein.
Juli 16 bei einem Bootsunglück ums Leben gekommen.
Zusammenfassung.
Fall 9. Diagnose: Luespsychose.
43jähriger Techniker. Litt seit den ersten Schuljahren an
Stottern. Lues mit etwa 20 Jahren.
Seit 2 Jahren habe „das Theater um ihn herum“ angefangen.
Die Kollegen machten „Andeutungen“, Pat. wurde „auf Schritt und
Tritt“ beobachtet, man hätte vor ihm ausgespuckt, mit den Türen
geklappt. Phoneme werden bestritten; „innerliches Brennen“, was
auf elektrischem Wege gemacht werde. Zog aus einem Beamten-
4 *
52
wohnhaus aus wegen angeblicher „Sticheleien“ im Büro. Trotzdem
lange arbeitsfähig. Es werde Rücksicht auf ihn genommen, arbeite
allein im Zimmer. Keine Eifersuchtsideen.
25. 2. bis 28. 3. 16 in der Charite.
Stimmungslage ziemlich indifferent. Empört über das Verhalten
der Kollegen. Habe sonderbare Gedanken, wisse nicht, woher die
kommen. Einwendungen gegenüber einsichtig, sagt aber gleich
darauf, es sei ihm doch klar geworden, daß scheinbar harmlose
Dinge einen tieferen Sinn für ihn hätten.
Somatisch: Pup. spurweise entrundet, sonst N. S. o. B. Bl. Wa.
positiv. Lumbalpunktion verweigert. Gebessert entl. Arbeitsfähig.
Ertrank Juli 1916 bei einem Bootsunglück.
Daß wir es hier mit einer Luespsychose zu tun haben, ist höchst
wahrscheinlich, obwohl die Lumbalpunktion verweigert wurde.
Pat. hatte sicher Lues gehabt, und die Wa. Rea. im Blut war positiv.
Auch die bedeutende Besserung, die — laut mündlicher Mitteilung
der Frau — nach der antiluetischen Behandlung eintrat, spricht zu¬
gunsten einer Luespsychose.
Klinisch stellt der Fall ein schönes Beispiel eines rein paranoi¬
schen Typus dar, und zwar in der Gestalt eines Beziehungs- und Be¬
einträchtigungswahnes. Halluzinationen kommen wahrscheinlich
vor („innerliches Brennen“), treten aber gegenüber den Wahnideen
ganz zurück. Eifersuchtsideen sollen dagegen gar nicht vorhanden
gewesen sein.
Den folgenden Fall habe ich mitgenommen, obwohl die Verhält¬
nisse bei dem recht hohen Alter des Pat. (63 Jahre) etwas schwerer
zu überblicken sind. Die Wa. Rea. im Liquor ist außerdem negativ,
im Blut aber stark positiv. Lues lag sicher in der Anamnese vor
und war nie behandelt worden. Sein Hauptinteresse bietet der Fall
als Beispiel jener „syphilisverdächtigen“ Halluzination im Senium,
von denen uns Plaut 3 Beispiele geliefert hat.
Fall 10. R. F., 63 Jahre, Arbeiter. Aufgen. 2. 8. 12, entl. 9. 1. 13.
Bei der Aufnahme ruhig, nicht abweisend. In der Schule mäßig gelernt,
als Gerber gearbeitet
Kleiner, untersetzter Mann, leidlich ernährt. Rechter Unterschenkel und
Fuß stark geschwollen, blau-rot verfärbt, glänzend, teilweise mit Borken be¬
deckt, keine offenen Stellen. Zehen verdickt, Nägel schwarz verfärbt.
Innere Organe o. B.
Nervensystem: L. Pupille zeigt Trübung, Cornea verzogen. Pupülen
normal. Pat Refl. nicht auslösbar, Achillesreflexe desgl. Nervenstatus sonst
normal.
Will in den Jahren 1880—90 als Restaurateur viel getrunken haben, jetzt
Pot neg. Lues pos., keine Behandlung. Lungenentzündung vor ca. 6—7 Jahren.
53
Seit ca. 20 Jahren will Pat. an Ulcera cruris des r. Fußes leiden. L. starke
Varizen.
3. 8. Fühlt sich seit 4—6 Wochen verfolgt, leidet an Angstgefühlen,
Beklemmungen in der Herzgegend, starkes Herzklopfen. Glaubt, daß man
ihm die Hoden abschneiden wolle. Hört Stimmen: „schlagt ihn tot“. Beim
Druck auf die Bulbi keine Halluzinationen. Bezieht alles auf sich, z. B. wenn
die Leute auf der Straße die Köpfe zusammenstecken, glaubt er, man spreche
über ihn.
6. 8. Verhalten geordnet. Keine Klagen.
8. 8. Wassermann stark pos. Lumbalpunktion: klare Flüssigkeit, keine
Eiweißvermehrung; bis zu 20 Lymphozyten im Gesichtsfeld. Wassermann
negativ. — Hg.-Injektionen.
13. 8. Behauptet, daß man ihm den Sack abschneiden wolle, daß man
ihm nach dem Leben trachte, was er später jedoch auf Befragen lächelnd
zurtickweist Verhalten geordnet. Keine Angst oder Verstimmung. Füße besser.
16. 8. Hält an seinen Wahnideen stark fest, „was er höre, höre er eben“.
81. 8. Stimmen, die er in den letzten Tagen nicht gehört, hört er wieder,
man wolle ihn töten.
3. 9. Ruhiger, gibt zu, daß die Stimmen nur in seiner Einbildung be¬
standen haben könnten.
9. 9. örtlich und über Umgebung orientiert. Obwohl er richtig angibt,
vor 32 Jahren geheiratet zu haben, kann er das Jahr nicht ausrechnen.
Erheblich reduzierte Merkfähigkeit. Recht starke Gehörshalluzinationen, die
auf einen Mann bezogen werden, dem er Geld geborgt habe. „So’n dummer
Kerl, Dusselkopf, Schafskopf.“ Die Äußerungen bezogen sich immer auf die
Geldangelegenheiten: „von dem kann man verlangen, was man will, das
kriegt man“. Teils waren die Halluzinationen eingekleidet in Selbstvor-*
würfe. Hörte genau seinen Namen. Habe keine Abwehnnaßregeln anläßlich
der Stimmen getroffen: „Was soll ich machen, er hat kein Geld.“ Stimmen
nehmen allmählich eine drohende Haltung an, er solle totgeschlagen werden.
Später mischten sich auch die Stimmen anderer Leute in die Drohungen. —
Wahnideen werden immer systematisiert, im Mittelpunkt derselben die Geld¬
affäre. Jetzt wollen auch andere Menschen ihn töten. Halluzinationen nur
auf akustischem Gebiet, sehr deutlich.
1. 10. „Ich weiß, daß ich zum Tode verurteilt bin, da geben Sie mir
doch gleich Gift zu trinken, damit ich nicht so gemartet werden kann.“ —
Keine Krankheitseinsicht.
23. 10. Ruhiger, hält sich für gesund, will nicht mehr Stimmen hören,
blickt aber nach den Luftschachten über ihm und murmelt leise vor sich hin.
1. 11. Wieder unruhiger. Mißtrauisch. Hin und wieder laute Zomes-
ausbrüche.
19. 11. Schlaf gut. Halluzinationen noch lebhaft. Keine Krankheits¬
einsicht
9. 1. Alle paar Tage Zustände zorniger Gereiztheit Immerfort Gehörs¬
halluzinationen, die auf die Lüftungsklappen projiziert werden. Sonst still
und ruhig, zieht sich von den anderen Pat zurück. Keine auffallenden intel¬
lektuellen Defekte. Gute Merkfähigkeit, gut orientiert über Zeit und Umgebung.
Pat in Buch vom 9. 1. 18 bis 27. 3. 23.
Diagnose: Dementia senilis mit paranoiden Ideen und Halluzinationen.
54
Zusammenfassung.
Fall 10. 63jähriger Arbeiter, früher Restaurateur (vor 25 Jah¬
ren), danach viel getrunken. Lues positiv. Leidet seit mehreren
Jahren an Ulcera cruris. Wa. R. im Blut pos., im Liq. —.
Seit 4—5 Wochen Angstgefühle, Beklemmungen in der Herz¬
gegend. Fühlt sich verfolgt. Hört Stimmen bedrohenden Charak¬
ters. Bezieht alles auf sich. Man wolle ihm den Sack abschneiden,
man trachte ihm nach dem Leben. Die Wahnideen werden immer
mehr systematisiert. Intelligenz herabgesetzt.
Stimmung ängstlich, mißtrauisch, gereizt. Hin und wieder
laute Zomesausbrüche. — Sonst ruhig, gut orientiert. Keine Krank¬
heitseinsicht.
Hier kommen pathogenetisch wahrscheinlich mehrere Kräfte in
Betracht. Auf das Senium muß wohl die ängstliche bedrückende
Stimmungslage zurückgeführt werden, sowie der geistige Schwäche¬
zustand. Dieser zusammen mit den Halluzinationen gibt vielleicht
den Wahnideen ihren flüchtigen, absonderlichen Inhalt. Die Hallu¬
zinationen treten auffallend stark hervor.
Die Ähnlichkeit des Falles mit den akustischen, syphilisverdäch¬
tigen Halluzinosen bei Plaut berechtigt die Veröffentlichung des
Falles. Wir fordern uns auf, bei starken Halluzinationen auch im
Senium nach Syphilis zu suchen.
Der folgende Fall ist in der Hinsicht sehr interessant, daß wir
den fast 7—8jährigen Krankheitsverlauf, der mit dem Tode ab¬
schloß, überblicken können.
R. N., Tischler, 40 Jahre alt. Aufgen. 2. 8. 20. cnt.1. 13. 12. 20.
Lues cerebri. Luespsychose.
Bei der Aufnahme etwas widerstrebend. Gesichtszüge schlaff. Andeu¬
tung von maskenartigom Gesichtsausdruck.
Pup. rechts eng, entrundet, links mittelweit. L. R. vorhanden, jedoch
träge uijd nicht ausgiebig. C. R. prompt, normal, Augenbewegungen frei,
kein Nystagmus. Augenhintergrund o. B. Fazialis gleichmäßig innerviert,
beim Mundspitzen und Pfeifen auffallend ungeschickt.
Zunge: Beim Hervorstrecken und Bewegen nach rechts und links zeit¬
weilig unregelmäßiges Wogen der Muskulatur. Sprache: Keine exakte Arti¬
kulation. Beim Nachsprechen schwieriger Paradigmen deutliches Silben-
stolpem, auch Verwischen der Silben. Auffallend geringe Innervation der
Gesichlsmuskulatur beim Sprechen (Gesichtszüge bleiben gleichmäßig schlaff).
Innere Organe o. B. Feinere Fingerbewegungen bds. etwas ungeschickt. Pat
'Refl. lebhaft, bds. gleich. Ach. Refl. normal, keine Pyramodenreflexe (Rosso-
limo r. pos., links angedeutet, nichts Sicheres). Sensibilität am ganzen Körper
intakt. Kein Klonus. Anfangs widerstrebend, will nicht mehr bleiben, jedoch
leicht beeinflußbar, fügt sich. Macht gleichgültigen Eindruck, Stimmungslage
schwankend. Während der Exploration gesprächig, redet lange Zeit spontan.
55
ohne besonderes Ziel, kommt vom Hundertsten ins Tausendste. Zeitweilig
gereizt. Zeitlich, persönlich, örtlich orientiert. Widerspricht sich dauernd,
ohne es zu merken. Uneinsichtig in seine Lage. Er sei jetzt hier, weil er
krank sei. (Sind Sie krank?) „Nein, das ist dasselbe wie in der Maison de
8ant6 (Anstalt), weil ich mich auch krank fühlte“. Zahlenmerken: nach 3 Min.
richtig (31 minus 19?). „Das muß ich aufschreiben, im Kopfrechnen bin ich
schwach.“ — (Jahr?) „21“, erst nach mehrmaligen Einwänden richtig. (Krieg?)
„1813“, verbessert dann „1913“: war nicht eingezogen, war gerade in Nerven¬
heilanstalt. Klagen: Kopfschmerzen, die zeitweilig tagsüber auftreten und
nicht heftig sind. Schlaf sei schlecht, Stuhlgang auch. Potenz sei erloschen.
Erzählt umständlich und in weitschweifiger Weise von seinen Leiden, weicht
dauernd vom Thema ab.
4. 8. (Blut nach polikl. Blatt am 27. 7. 20 neg.) Lumbalpunktion: 5 ccm
klar. Opalescenz. Mittelstarke Vermehrung der Lymphozyten. Wassermann:
0.8 stark pos., 0,4 schwach pos., 0, 2 neg.
25. 8. Drängt oberflächlich heraus.
Habe bemerkt — schon vor der Aufnahme — daß Sachen seiner Frau
abgenützt waren, Frau habe gemeint, es sei „Altersschwäche“. — Er habe keine
bestimmte Person im Verdacht, aber von nichts kommt nichts. — Als er in
Anstalt Neuruppin gekommen sei, sei ihm aufgefallcn, daß das Kopfkissen
neubezogen worden sei. — Redet fahrig um die Dinge herum. Will offenbar
mit seinen Eifersuchtsideen nicht heraus. In seiner ganzen Art etwas Unbe¬
stimmtes. Meist heiter, bittet nur ab und zu um Abführmittel. Es gefalle
ihm hier nicht, weil er keine Freiheit, keinen Ausgang habe. Seit über
6 Jahren keine rechte Erektion mehr gehabt. Auf der Straße keine Be¬
merkungen über sich gehört. Spricht gleichgültig von seiner Impotenz. Die
Nerven seien kaputt, das zeige sich in allen Bewegungen. Könne nicht mehr
tanzen. Gedächtnis sei schlecht, aber schon von Schulzeit an.
Vor 5—6 Jahren in Nervenheilanstalt wegen „geschlechtlicher Sachteil “.
Lächelt bei der Exploration, gleichgültiges Verhalten, langsam fahrig in seinen
Bewegair gen, sieht ziellos zum Fenster hinaus.
19GS infiziert bei seiner Frau. 3 Totgeburten, 1 Fehlgeburt. Eine jetzt
18jährige Tochter bis 6 Jahren gesund, dann 6 Jahre in Anstalt in Potsdam,
„weil sie nicht laufen konnte“. — Er halte sich hier für sich, sei immer so
gewesen, höchstens mal mit Frau ins Konzert gegangen. Wenn man ihn ent¬
lassen würde, würde er Arbeit suchen.
1. 10. Fühlt sich gut, glaubt arbeiten zu können. Gehen und Wasser¬
lassen sei in Ordnung. Nach der 3. und 4. Salvarsanspritze viel Erektionen
bis zur 8., dann wieder schwach.
2. 10. Beendigung der Silber-Salvarsankur. Insgesamt 2,1 g.
27. 10. Pup. beide leicht entrundet. L. R. nur angedeutet Pup. ver¬
engern sich nur wenig über Mittelweite hinaus. C. R. prompter. R. maximale
Konvergenz, links weniger intensiv. Sprache: beim Nachsprechen Neigung
zu schmieren, nie scharf artikuliert. Bei Paradigmen hin und wieder leichtes
Silbenstolpern. Schnelle Handbewegungen etwas ungeschickt, vor allem
Handschütteln, rechts besser als links. F. N. V. prompt. Pat. Refl. lebhaft,
gleich, Ach. Refl. normal. Rossolimo ist links nicht auszuschließen, r. neg.
Gang mit offenen Augen nicht auffällig, bei geschlossenen Augen sehr große
Unsicherheit schon beim ersten Schritt. Beim plötzlichen Aufstehen kommt
56
er ins Schwanken, greift nach einem Halt, kann sich dann gerade aufrecht
halten. Gibt auf Befragen an, daß er solch verändertes Gefühl hin und wieder
seit Monaten habe. Im April sei es ihm besonders aufgefallen, er habe mit
seiner Frau tanzen wollen, sei umgefallen, ohne eine Erklärung dafür zu
finden. Hält an den Eiferßuchtsideen nicht mehr fest, sehe auch, daß das
Abgeschabte an der Bluse Altersschwäche sei. Beim Rechnen Defekte wie
früher. Zahlenmerken: nach 2 Min. vergessen.
Stimmungslage gleichgültig, etwas weinerlich, keine tiefen, affektbe¬
tonten Äußerungen. Drängt oberflächlich hinaus, bricht heute bei der Frage
der Entlassung in Tränen aus. Was ihm hier nicht gefalle, könne er nicht
sagen, möchte zu seiner Frau. Kein Widerspruch, als ihm gesagt wird, er
müsse noch mehrere Wochen hier bleiben. Auf der Station falirig, ziellos,
geht und sitzt ohne sich wesentlich zu beschäftigen umher. Ober politische
Zeitereignisse unterrichtet.
29. 10. Beginn der Schmierkur.
Augenhintergrund: große physiolog. Exkavation, normal gefärbte Papille.
R. Pap. temporal etwas blaß, vielleicht beginnende Atrophie. Schmale Rand¬
zone, die auch atrophisch erscheint.
Vom 23. 10. 14 bis 20. 1. 15 Anstalt Neuruppin .
Diagnose: prog. Paralyse.
Gedächtnis für jüngste Vergangenheit lückenhaft. Geringes Krankheit*-
bewußtsein. Eifersuchtsideen: deswegen aggressiv gegen Frau. Obszöne
Redensarten. Typisches Silbenstolpern.
1. 11. Angaben der Ehefrau: Pat habe erzählt, vor der Ehe (1897) ge¬
schlechtskrank gewesen zu sein. Schmierkur gemacht. Im ersten Jahr der
Ehe zweite Schmierkur, Arzt sagt, es sei eine veraltete Sache. Arzt riet der
Frau zur ärztlichen Behandlung (nach Untersuchung). Keine äußeren
Zeichen der Ansteckung. In der Ehe sei sie nie krank gewesen. 3 Totge¬
burten im 7., 8. und Monat, letztes Kind war ausgetragen, soll nach ärzt¬
lichem Urteil kurz vor der Geburt abgestorben sein. Steißlage. Arzt habe
Totgeburt auf die Ansteckung zurtickgeführt. 4. Kind 1902 normale Geburt
Nach 14 Tagen blasenförmiger Hautausschlag, nach Behandlung mit Bädern
zurückgegangen, nicht mehr aufgetreten. Körperlich und geistig normal
entwickelt. Mit 5J4 Jahren plötzlich „Kinderlähmung“. Wurde als luetisch
angesehen, Schmierkur. Konnte Schule nicht besuchen, störte Unterricht, war
geistig zurück. Idiotenanstalt. Watschelte beim Gehen, konnte allmählich
nicht mehr stehen, brach sofort zusammen.
Bei der Frau keine luetischen Erscheinungen. Ab und zu seit Jahren
Kopfschmerzen, führt das auf Sorgen zurück. Vor 4 Wochen 3—4 Tage
Schwindelanfälle und Ohrensausen. Während der Ehe (1908—10) hat sich
Pat außerehelich neu infiziert. Geschwüre an den Händen, Frau bekam
Ausfluß. Pat. bekam flüssige Medikamente, Frau weiß nicht, ob Arzt innere
Infektion annahm. Frau habe eingestanden (als er noch geistig gesund war),
sich außerehelich angesteckt zu haben. Nach 3—4 Wochen Rückgang der
Geschwüre.
1913 geistige Veränderung: Eifersuchtsideen (bestanden auch noch 15
nach Anstaltsentlassung). Ende 15 ganz plötzliche Besserung: „war ver¬
nünftiger als früher“, war sofort ruhig, wenn Ref. ihn wegen event Eifer¬
suchtsideen zurückwies. Bis Mai 20 beinahe vollwertig gearbeitet, zwischen-
57
durch mal nicht, weil er alles vergaß. Scheu und zurückhaltend schon vor
der Erkrankung. Jetzt Eifersuchtsideen: Frau dürfe sich nicht im Saal Um¬
sehen. Karfreitag 19 „Sprachanfall“. Wurde nach Hause gebracht, sprach un¬
artikuliert, Speichel floß aus dem Munde. Arzt führte Anfall auf geschlecht¬
liche Infektion zurück. Nach 4—5 Wochen weiter bessere Sprache, jedoch
gegen früher undeutlicher.
Vor 8 Jahren % Jahr in Maison de sante, Arzt habe gesagt, es sei „eine
schwere Gehirnparalyse“. Vor Aufnahme „tiefsinnig“, Eifersuchtsideen: sei
5 Monate zu Haus gewesen, nicht gearbeitet, um Frau zu beobachten; Er¬
regungszustände, riß der Frau die Sachen vom Leib, bedauerte es nachher.
Erregungen kamen plötzlich, mehrmals am Tage.
Vor 5—6 Jahren schweres Blasenleiden, habe Vk Jahr lang Wasser nicht
halten können. Vor 8 Jahren Unfähigkeit, den Stuhl zu halten, 14 Tage lang,
damals auch Essen ausgebrochen. Seit 12 Wochen entlassen, weil er alles
verkehrt mache. Nahrungsaufnahme gering seitdem. Vor 1 Jahr in Straßen
Berlins verirrt, seitdem nicht mehr allein ausgegangen. Außerdem Schwin
delanfäDe 3—4mal hintereinander mit nachfolgendem Erbrechen ohne vor¬
ausgegangenen Anlaß.
3. 11. Augenhintergrund o. B.
23. 11. Krankheit unverändert. Pat. ist weinerlich, bricht bei der Visite
spontan in Tränen aus, begründet es damit, daß er nach Hause wolle, drängt
nicht weiter auf Entlassung. Schlaffe Gesichtszüge.
7. 12. Schmierkur 6 Wochen, tägl. 4,0 Hydr. ein. beendet. Bl. Wa. neg.
Sieht Eifersuchtsideen als „Dummheit“ an, habe ja auch Gespenster ge¬
sehen, zuletzt vor 1 Jahr. Früher deswegen in Anstalt gekommen: „es war
wie Spukgeschichten, als ob mich jemand am Halse packte“. Gesehen habe
er niemand, „es war wie ein Traum“. Die Eifersuchtsideen wären ebenso
unbegründet gewesen. Rechendefekt und Merkfähigkeitsstörung wie früher
vorhanden. Sprache: keine sichere artikulatorische Störung. Bei Paradigmen
zuweilen etwas verwaschen und silbenstolpernd. Geordnet, unauffällig, ge¬
ringe Initiative. Drängt nicht heraus. Möchte Weihnachten zu Haus sein.
Zuweilen kurzer, weinerlicher Affekt. Fängt ohne Grund an zu weinen. Kann
auf Befragen keine Ursache nennen. Schlaffe Gesichtszüge.
Lumbalpunktion: klar, wasserhelk Druck nicht wesentlich erhöht, 6 ccm
entnommen. Ph. I. Opalescenz.
Lymphozytose: mittelstarke Vermehrung. 0,8 stark pos., 0,4 schwach
pos., 0,2 negativ.
9. 12. Augenhintergrund: bds. blaß, nicht pathologisch. Salvarsankur:
Silbersalvarsan 0,1 (1) und 0,2 9 Spritzen. Entl. 13. 12. 20.
Nachuntersuchung: 18. 3. 21. Befinden unverändert. Arbeitsunfähig.
Eifersuchtsideen. Stumm, kein Interesse. Liest nicht die Zeitung, wechselnde
Stlmmnng8lage. Zeitweise euphorisch, neigt zu Schimpfereien. Lenksam wie
<ein Kind. Frau muß verdienen. Oberflächliche Äußerungen: er möchte Ar¬
beit haben. Verläuft sich gelegentlich in den Straßen.
In der Nacht 22./23. Juli 1921 plötzlich im Schlaf ein Anfall, schnarchte
auf, hatte Krämpfe, danach bewußtlos und regungslos im Bett, wurde inB
Krankenhaus überführt und starb am 24. 7. 21. — Am Tage, als die Frau den
Mann aus dem Krankenhaus* herausholte, bekam sie eine linksseitige Läh¬
mung. Wa. Rea. im Blut pos. Jetzt: typisch spastisch-paretischen Gang.
58
Zusammenfassung.
Fall 11. Diagnose: Luespsychose.
46jähr. Tischler. Mit etwa 22 Jahren luetische Infektion. Soll
immer scheu und zurückhaltend gewesen sein. 1913 geistige Ver¬
änderung. Eifersuchtsideen. 23. 10. 14 bis 20. 1. 15 war Pat. in
Anstalt Neuruppin aufgenommen. Diagnose: progr. Paralyse. Ge¬
dächtnis für jüngste Vergangenheit lückenhaft. Geringes Krank¬
heitsbewußtsein. Eifersuchtsideen. Deswegen aggressiv gegen Frau.
Typisches Silbenstolpern.
Ende 1915 plötzliche Besserung, „war vernünftiger als früher“,
jedoch noch Eifersuchtsideen. Bis Mai 20 beinahe vollwertig ge¬
arbeitet, zwischendurch nicht, „weil er alles vergaß“. Vor 3—4 Jah¬
ren schwere Blasen- und Mastdarmstörungen (Inkontinenz).
2. 8. 20 Aufnahme in die Charite wegen Eifersuchtsideen.
Äußerst weitschweifig, „kommt vom Hundertsten ins Tausendste“,
örtlich, persönlich, zeitlich orientiert. Affektlage recht indifferent.
Keine Halluzinationen. In seiner ganzen Art etwa3 Unbestimmtes.
Will offenbar mit seinen Eifersuchtsideen nicht heraus. Kopf¬
rechnen äußerst dürftig.
Somatisch: L. Reakt. d. Pup. nur angedeutet, Pat. Refl. lebhaft.
Sensibilität intakt. Gang mit geschlossenen Augen äußerst unsicher.
Leichtes Silbenstolpern. Wa. R.: im Blut negativ, im Liq. positiv.
Pleozytose: mittelstark.
18. 3. 21: Nachuntersuchung. Interesselos, arbeitsunfähig,
fortwährend Eifersuchtsideen. Juni 23 teilt die Frau mft, daß der
Mann am 24. Juli 1921 infolge eines „Anfalls“ gestorben sei. Die
Eifersuchtsideen waren in der letzten Zeit verschwunden.
Der Krankheitsverlauf ist ganz eigenartig. Bereits 1913, etwa
17 Jahre nach der Infektion und im 39. Jahre des Pat. wurde er —
nach den Angaben der Frau — verändert. Im folgenden Jahre
mußte er wegen Eifersuchtsideen in einem Krankenhaus aufge¬
nommen werden, und hier wurde die Diagnose: progressive Paralyse
gestellt. Dann 5—6jährige Remission, in der Pat. arbeitsfähig war,
und als sich wieder ein akuter Schub entwickelte, finden wir aber¬
mals ein — allerdings sehr schlaffes — paranoides Bild mit Eifer-
suchtsideen vor. Danach bildet sich ein Demenzzustand aus, der den
Kranken unfähig zur Arbeit macht. Auch zur Zeit der Remission
1915 bis 20 muß wohl eine geistige Schwäche vorhanden gewesen sein,
da er zwischendurch nicht arbeiten konnte, weil „er alles vergaß“.
Ist die Krankheit nur als eine atypische Paralyse aufzufassen,
in der flüchtige Eifersuchtsideen auftauchen? Denn hier handelt eä
59
sich tatsächlich mehr um flüchtige Einfälle als um systematische
Wahnideen. Oder haben wir es mit einer Luespsychose zu tun, die
allmählich in eine Paralyse übergeht?
Eine Diskussion wird — glaube ich — zu keinem sicheren
Schluß führen. Als Ergebnis des Falles können wir nur feststellen,
daß der Fall — wenn eine Paralyse — sehr atypisch war, so daß
in der Charite die Diagnose nach einem etwa 6—7jährigen Verlauf
auf eine Luespsychose gestellt wurde.
Von den fünf Fällen 7—11 gibt uns der erste ein typisch halluzi¬
natorisches paranoisches Bild, das allerdings mit schizoiden Zügen ge¬
mischt ist. Der zweite Fall liefert ein schönes Beispiel eines Eifer-
suchtswahns bei einem offenbar paranoisch veranlagten Manne; im
dritten treffen wir wiederum den Typus eines Beziehungswahns.
In allen drei Fällen liegt Lues sicher vor, in den beiden ersten Fällen
Ist der Liquor positiv, ira dritten das Blut (Punktion verweigert).
Auffallend ist vor allem im zweiten und dritten Fall der günstige
Einfluß der antiluetischen Behandlung. Auch im ersten wurde eine
bedeutende Besserung erzielt, aber keine Arbeitsfähigkeit.
Im vierten Falle haben wir vielleicht mit einer Verbindung von
luetischen und senilen Wirkungen zu tun. Auffallend sind hier die
stark hervortretenden Halluzinationen.
Im letzten Falle schließlich haben wir mit einem 7jährigen
Krankheitsverlauf zu tun. Die Krankheit beginnt mit stark hervor¬
tretenden Eifersuchtsideen, die nach einer Remission von 4—5 Jah¬
ren wieder zum Vorschein kommen. Pat. geht dann an einem
klinisch als eine Paralyse erscheinenden Siechtum zugrunde. Der
Fall muß entweder als eine höchst atypische Paralyse aufgefaßt
werden, oder hier liegt eine Verbindung Ir/.w. ein Nacheinander¬
folgen von cerebral-luetischen Vorgängen und einer Paralyse vor.
Wir werden ähnlichen Fällen noch bei der Besprechung der mani¬
schen, depressiven und katatonen Zustandsbilder begegnen.
Bezüglich der Diagnose der Halluzinose- bzw. der halluzina¬
torisch-paranoischen Fälle will ich noch ihre Verwandtschaft und
Ähnlichkeit mit manchen Verwirrtheitszuständen betonen. Wir
finden bei diesen ja sehr oft sowohl Halluzinationen wie Wahnideen,
und andererseits bei jenen auf der Höhe der Erregung eine mehr
oder weniger deutlich ausgesprochene Verwirrtheit. Wir dürfen uns
hierbei differential-diagnostisch vor allem vom Gesamteindruck leiten
lassen, und vor allem von einer Halluzinose eine gewisse Besonnen¬
heit und ein geordnetes Benehmen fordern, wogegen hei den Ver-
wirrtheitszuständen der Schwerpunkt auf der mehr oder weniger
unberechenbaren launischen Bewußtseinstrübung liegt
Chronische Defektzustände.
Diese Formen von Luespsychosen gehören zu den längst und
am besten bekannten, so daß eine Veröffentlichung neuer Beiträge
zu denselben kaum berechtigt wäre.
Ich werde deshalb auf einige Fälle von postsyphilitischer
Demenz, die in der Charite zur Beobachtung kamen, verzichten,
will aber einen Fall von einfacher pseudoparalytischer Demenz mit-
teilen, weil er m. E. nicht alltäglich ist. Ich habe den Fall selbst in.
Helsingfors beobachtet.
Fall 12. 38jähr. Eisenbahnbeamter. Aufgen. 10. 5. 22. Immer gesund,
eifriger Sportsmann gewesen. Nie getrunken. Lues negiert
Im Herbst 17 war Pat. als Beamter am finnischen Bahnhof in Peters¬
burg. Es waren schwere Zeiten (der Kommunismus siegte damals gerade in
Rußland) und Pat. wurde sehr überanstrengt und hatte allerlei Unannehmlich¬
keiten zu überstehen. Er wurde schlaflos, schweigsam und nervös und zog
sich — wie auch sein Chef später vor dem Gericht bestätigte — zurück für
sich selbst Während unseres Krieges in Finnland im Frühjahr 18 mußte er
im Dienste der Roten in Petersburg arbeiten. Er wurde deshalb, als er im
Mai 18 nach Finnland fliehen konnte, von den Weißen verhaftet und wurde
seines Amtes verlustig erklärt Seine Nervosität nahm jetzt stark zu, und im
Sommer 1918 wurde er in' einer privaten Irrenanstalt zu Helsingfors aufge¬
nommen. Hier wurde pos. Wa. R. im Blut und im Liq. festgestellt. Nachher
war Pat noch fast 1J4 Jahre in einer Anstalt in Wiberg.
Nach seiner Entlassung lebte er — ohne arbeiten zu können — bei seinem
Vater auf dem Lande. Inzwischen hatte sein Vormund Einspruch gegen seine
Verurteilung erhoben. Auf Grund einer ärztlichen Bescheinigung wurde
auch das Urteil kassiert. Er forderte nun auch, zum Dienst wieder zuge
lassen zu werden, und wurde mir zwecks Begutachtung überwiesen.
Status Mai 1922. Kräftig gebaut. Am Nervensystem völlig normale
Verhältnisse, nur die Lichtreaktion der Pupillen fehlt bei er¬
haltener Konvergenzreaktion völlig. Liq.: klar, Pandy X X. Phase L x ,
Goldsool: keine Paralysereaktion. Wassermann —. Pleozytose: Zelle in mm*.
Bei der Intelligenzprttfung können keine Defekte nachgewiesen werden.
U. a. schreibt Pat. mir einen Bericht über seinen Prozeß, der völlig korrekt ist.
Das einzige Pathologische besteht in einer offenbaren leichten Ermüdbarkeit.
Spricht man längere Zeit mit dem Pat., fängt er an, die Fragen zu wieder¬
holen und sagt oft: „Was sagen Sie?“, „ich verstand nicht ganz“ usw., wird
auch leicht erregt und hat ab und zu etwas Gespanntes in seinem Wesen.
In meinem Gutachten schlug ich vor, den Pat. versuchsweise auf
einem einfacheren Posten zu verwenden. Er wurde auch jetzt als Rechen¬
gehilfe angestellt, mußte aber nach etwa IM Monaten entlassen werden, denn
-er war nicht fähig, mehr als ungefähr % bis 1 Stunde zu arbeiten, dann
sanken seine Leistungen fast bis auf 0. In seinem Benehmen lag nichts
Auffälliges.
61
Zusammenfassung.
Fall 12. 38jähriger Eisenbahnbeamter, der immer gesund ge¬
wesen war und seinen Dienst (am finnischen Bahnhof in Petersburg)
versorgt hatte. Lues negiert. Im Herbst 17 und im Frühjahr 18
z. Zt. der russischen Revolution und des finnischen Krieges hatte
Pat. viel zu leiden, wurde düster, schlief nicht, zog sich zurück und
mußte im Sommer 1918 in eine Privatanstalt aufgenommen werden.
Hier wurde positive Wa. R. in Blut und Liq. festgestellt. Pat. war
dann noch 1*4 Jahre in einer anderen Anstalt. Im Frühjahr 22 ver¬
langte er wieder in seinen Dienst einzutreten und wurde von mir
untersucht.
Status Mai 1922. Nervensystem o. B. Nur die Pupillen sind
völlig lichtstarr, Konvergenzreaktion dagegen erhalten. Wa. R.
in Bl. und Liq. negativ, Ph. I +, Pandy ++, Goldsool nicht para¬
lytisch. Die Intelligenzprüfung weist keine gröberen Defekte auf. Aus
diesem Grunde erhielt Pat. versuchsweise wieder leichten Dienst bei
den Staatseisenbahnen, es zeigte sich aber, daß er völlig unfähig war,
etwa Verwendbares zu leisten. Sein Benehmen war völlig geordnet.
Dieser Fall muß wohl als ein typisches Beispiel einer leichten,
einfachen, pseudoparalytischen Demenz bezeichnet werden. Zur Zeit
des akuten Schubes — der einen schlaffen, deprimierten Charakter
hatte — war die Wa. Rea. in Liq. und Blut positiv und als Folge des
überstandenen Prozesses hatte Pat. lichtstarre Pupillen. Danach
entstand ein jetzt wenigstens 3Jahre dauernder stationärer Zu¬
stand von leichter Demenz mit negativen Reaktionen.
Luespsychosen von manisch-depressivem oder
katatonem Charakter.
Wir kommen jetzt zu einer letzten Gruppe von Luespsychosen,
die Zustandsbilder der soeben erwähnten Art zeigen. Es sind gerade
diese Fälle, die bezüglich ihrer klinischen Stellung und Einordnung
so unaufgeklärt sind.
Ich verfüge über 11 zu dieser Gruppe gehörige Fälle, von denen
drei uns nur durch einen einzelnen Schub bekannt sind, wogegen
der Gesamtverlauf sich nicht überblicken läßt. In den übrigen
8 Fällen habe ich diesbezügliche Notizen erhalten können, und sie
stellen dadurch einen willkommenen Zuschuß zu unserer Kennt¬
nis dar.
A. Manische bzw. depressive Zustandsbilder.
Unter unserem Material befindet sich nur ein einziger Fall von
ausgesprochen manischem Typus.
62
Fall 13. F. K., Kaufmannaehefrau. 27 Jahre. Aufgen. 22. 8. 21«
enü. 24. 9. 21. Diagnose: Luespsychose. Manisches Zustandsbild
Angaben des Ehemanns: Regt sich bei jeder Kleinigkeit auf, schimpft
in den gemeinsten Ausdrücken, wirft mit Gegenständen, schimpft manchmal
stundenlang, lacht manchmal gleich wieder. Schlaf seit Monaten schlecht, in
den letzten 4 Wochen von Tag zu Tag schlimmer. Kauft sinnlos ein, Wirt¬
schaftsgeld verbraucht sie zu nebensächlichen Sachen, macht Anzahlungen.
Will sich andere Einrichtung kaufen, will Verwandte noch anborgen. Läßt
sich in Geschäften Pelze umhängen, die sie gar nicht kaufen kann. Regt sich
über Kleinigkeiten auf, duldete keine Widerrede, glaubte sich von Mann und
Verwandten tyrannisiert; glaubte sich von Männern verfolgt, sei so hübsch,
bilde sich überhaupt viel auf ihre Person ein, sehr eitel. Macht alles mehr¬
mals; hat Selbstmordgedanken: Gift, Gas, will einen Revolver haben. Seit
1 Mon. schlechte Nahrungsaufnahme, behauptet immer, schon gegessen
zu haben.
Vor der Aufnahme sehr aufgeregt, zankte mit jedem. Größenideen, wollte
Schneideratelier aufmachen, sich reiche Kundschaft besoigen. Sprach von
Scheidung. Aggressiv gegen Mann. Bei Überführung ins Krankenhaus Er- *
regungszustand. — Hatte vorher einem Herrn im Lokal 1 Glas Bier ins Ge¬
sicht gegossen, als dieser mit Ref. in Streit geraten war. Als Pat ihren
Eltern davon berichtete, bekam sie Krampfanfall, den Arzt für epileptisch
hielt. 4—5 Tage im Bett gelegen, sehr ruhig, bekam Medizin. Fing die letzten
Tage an im Bett zu suchen. Klagte in letzter Zeit über Übelkeit, habe Band¬
wurm. Sonst niemals — auch früher nicht — Ohnmächten oder Krämpfe.
Menses einmal 6 Mon. weggeblieben, dann wieder, regelmäßig aufgetreten.
Keine Gravidität.
Seit 1 Jahr verheiratet. Geburt —. Fehlgeburt während des Krieges.
Geschlechtskrank: Go. 1914, jetzt W. R. pos. (bei Ref. Wa. neg., lehnt luet
Infektion ab). Außer Kinderkrankheiten keine Erkrankungen, öftere Klagen
über Herzbeschwerden. Eltern gesund. Mutter sehr nervös, Geschwister 8,
gesund, 1 gest Nichts Besonderes in der Familie.
Ref. kennt Pat. seit 1914, erlebte jede Situation: war traurig, wenn sie
etwas Trauriges erfuhr, dann wieder sehr lustig. Machte sich über alles sehr
viel Gedanken, wurde leicht kopflos. Stimmungswechsel von 34 Stunde zu
34 Stunde, länger andauernde traurige Verstimmungen nicht gewesen. Kaufte
schon immer gern ein.
Angaben der Pat.: Sei gesund, habe nur etwas „mit den Nerven**, sei
ein bißchen „nervös“, habe schwere Arbeit gemacht, feine Handarbeiten.
Mann erzähle viel, sei ein Nörgler, das Geld sei ja da, sie wolle sich nur neu
einrichten, habe sich vom Vater 4000 Mark geliehen. Habe sich sehr zu ihren
Ungunsten verändert, wolle sich vom Mann scheiden lassen. Sie sei eine
fleißige Frau, habe Wirtschaft gemacht und noch 5 Stunden im Geschäft des
Vaters gearbeitet. „Himmelhochjauchzend zu Tode betrübt“, sage die Mutter
von ihr. Von luetischer Infektion nichts bekannt. Mai bis Juni 2 Sa. und
5 Spritzen Hg. bekommen. Ist bei ihren Erzählungen weit ausholend und
weitschweifig, „ich will weiter erzählen“, erzählt laut und lebhaft.
Somatisch: Klein, guter Ernährungszustand. Innere Organe o. B.
Pup. tibermittelweit, Lichtreaktion bds. — (Skopolamin?). Alle Reflexe vor¬
handen und gleich. Pat. Refl. bds. lebhaft Kein Babinski etc.
63
24. 8. Lumbalpunktion: 5 ccm klarer Liquor, Druck nicht erhöht.
Phase I. Trübung, starke Lymphozytosenvermehrung. Wa. stark positiv.
Wa. im Blut negativ.
7. 9. Fast ständig hochgradig erregt, schimpft, schreit, singt beständig,
tanzt im Zimmer herum, reißt sich die Kleider vom Leib, beschimpft den Arzt
mit unflätigen Redensarten. Motorische Unruhe, spricht dauernd, zum Teil
französisch. Schimpft auf ihren Mann, stößt alle Worte kurz hervor, ideen¬
flüchtig, macht ständig lebhafte Bewegungen, wälzt sich auf dem Stuhl herum,
längt an zu weinen. Spricht völlig unzusammenhängend sinnloses Zeug.
Gesicht stark gerötet, Atmung erregt, verlangt Wasser.
20. 9. Motor. Unruhe dauert fort, redet ununterbrochen in ideen¬
flüchtiger Weise, meist in lauter, gehobener Stimmung. Nahrungsaufnahme
schlecht. Schläft nur auf Skopolamin.
24. 9. In Sanatorium überführt.
Zusammenfassung.
Fall 13. Diagnose: Luespsychose. Manisches Zustandsbild.
Es handelt sich um eine 27jähr. Kaufmannsfrau, die früher
keine manisch-depressiven Züge gezeigt hatte. „War traurig, wenn
sie Trauriges erfuhr, dann wieder lustig“. — Schlaf seit einigen
Monaten schlecht, sodann schnelle Entwicklung eines typisch-mani¬
schen Bildes mit Größenideen, machte Einkäufe, glaubt sich von
Männern verfolgt, weil sie so hübsch sei. Fast ständig hochgradig
erregt, schimpft, schreit, singt beständig, ideenflüchtig.
Wa. Rea. im Blut negativ (vor der Aufnahme soll sie nach An¬
gabe des Mannes pos. gewesen sein). Wa. R. im Liq. stark pos.
Ph. I, Trübung, starke Lymphozytenvermehrung.
Somatisch: Pup. übermittelweit. Lichtreakt. bds. aufgehoben.
Pat. Refl. lebhaft.
Wie sollen wir nun den Fall auffassen? Als eine einfache Manie,
die entweder durch die syphilitischen Vorgänge im Gehirn ausgelöst
worden ist oder zufällig gleichzeitig mit diesen besteht? Oder als
die erste Manifestation einer beginnenden Paralyse?
Somatisch liegt nichts vor, das uns zu einer sicheren Ent¬
scheidung verhelfen könnte. Die Blut-Wa. R. war allerdings negativ.
Erstens spielt dies ja aber keine entscheidende Rolle, zweitens war
sie etwas früher vor der Aufnahme positiv gewesen. Wichtig war
vielleicht der „Anfall“, den Pat. kurz vor der Aufnahme hatte, und
den ein Arzt für luetisch-epileptisch hielt. Aber er kann ebenso gut
ein paralytischer gewesen sein. Das einzige, was uns weiter helfen
könnte, wären Nachrichten über den weiteren Verlauf. Vorläufig
müssen wir den Fall als ein manisches Zustandsbild auf luetischer
Basis auffassen.
Die beiden folgenden Fälle stellen depressive Typen dar.
64
R. S., Unteroffizier (Bankbeamter), 44 Jahre alt. Aufgen. 8. März, entl.
1. Juli 16. Diagnose: Luespsychose. Bei der Aufnahme ruhig.
Anamnese: aktiv gedient 1893. Zum Heere eingezogen Sept 15. Vom
3. 2. bis 20. 2. wurde er ins Lazarett gelegt, subjektiv völliges Wohlbefinden.
Im D.-U.-Verfahren nach Haus entlassen. Wurde durch Blutentnahme auf den
Zusammenhang mit seiner alten Lues aufmerksam gemacht (vor 25 Jahren
acquiriert). Bekam Angstzustände, konnte nicht schlafen. Arzt ordnete Be¬
handlung an. Aufnahme in Lazarett. Hatte das Gefühl, als ob das Bett sich
drehte, dachte: „jetzt geht die Krankheit los“. Kein Bewußtseinsverlust,
keine Zuckungen. In den letzten Tagen das Gefühl, als ob die Füße ihn nicht
mehr trügen. Heredität: Vater durch Selbstmord geendet, Bankdirektor, Geld
an der Börse verloren. Mutter gesund. 5 Brüder, einer davon „mondsüchtig“,
soll tagelang im Bett geschrien und um sich geschlagen haben. — Gibt spontan
an, daß ihn mehr als die Angst vor der Lues die Angst vor der Entdeckung
einer Unterschlagung drücke. Habe 18 000 Mark in Effekten verspielt. Erste
Entwicklung o. B. Realgymnasium bis Obersekunda, gut gelernt. Als Bank¬
beamter gelernt. Bei Ausbruch des Krieges Börsenvertreter. — Lues mit
19 Jahren, zwei Schmierkuren. 3 Spritzkuren, letzte 1909 oder 10. 1906 ge- ‘
heiratet. Keine Kinder, kein Abort. Hat sich immer gesund gefühlt.
Somatisch: Mittelkräftige Muskulatur, etwas Fettpolster. Innere Organe:
o. B. Pup. bds. eng, bds. entrundet. Lichtreaktion bds. — Konverg. Reakt
erhalten. Sonst am Nervensystem kein pathologischer Befund. Blut — Wa.:
stark positiv. Lumbalpunktion: Wa. stark pos. Starke Lymphozytose.
Reichl. Blutbeimischung im Lumbalpunktat.
Angaben der Frau: Bemerkte, daß Pat beim Rauchen blaß wurde, mit
den Händen nach Stütze griff und sagte: „mir ist so schwindelig“. 10—12 Zi¬
garetten am Tag geraucht. Alkoholintoleranz. Leicht reizbar. Ist nach¬
lässig geworden, schiebt alles lange hinaus, an der Sprache nichts auf ge
fallen. Lebensüberdrüssig, die Ärzte hätten gemeint, er hätte Para¬
lyse. Pat. sprach dauernd über die Krankheit und die Geldsache.
10. 3. Glaubt, nicht wieder aus der Klinik herauszukommen. Abends
sehr erregt, bittet, ihn der Militärbehörde zur Bestrafung zu überweisen. Er
habe seine ganze Familie an den Bettelstab gebracht. Er müsse mit Zucht¬
haus bestraft oder zum Tode verurteilt werden.
16. 3. Gibt an, seit Mitte März plötzlich Kopfschmerzen bekommen zu
haben. Das Gehen sei ihm schwer geworden. Mitte März traten plötzlich
Kopfschmerzen auf, erschwertes Gehen, mußte Sock nehmen. Beichtete die
Geldangelegenheit seiner Mutter und seinem Bruder. — Mit 19 Jahren Syphi¬
lis gehabt. Im Febr. 16 in Lazarett gekommen zur Beobachtung wegen Ein¬
leitung des D.-U.-Verfahrens. Keine Beschwerden. Habe keinen leichten
Dienst gehabt im Bekleidungsamt, sei durch Maschinenläim sehr gestört wor¬
den und habe sich nicht setzen dürfen. Beine hätten den Körper nicht ge¬
tragen. Es sei beim Militär gesagt worden, daß* in seinen Papieren stehe, er
habe 9 Jahre im Zuchthaus gesessen, deswegen solle er aus dem Heere aus¬
gestoßen werden, die Kameraden hätten ihn nicht Seckel, sondern „Sauer“
genannt. Habe jeden Abend darauf gewartet, daß der Oberleutnant ihn etwas
fragen würde. Den Offizieren sei verboten worden, ins Bekleidungsamt zu
gehen (Pat war dort tätig), das sei nur seinetwegen gewesen. Habe wegen
all dieser Sachen nicht schlafen können. Er habe auch schlecht gestanden
65
mit seinen Kameraden, da er bessere Schulbildung hatte. Die Vorgesetzten
seien liebenswürdig gewesen, er sehe aber jetzt ein, daß es Pharisäer seien,
da sie ihm 8 Jahre Zuchthaus verschafft hätten. Könne Krankenhauskosten
nicht bezahlen. — Man habe auch behauptet, daß er gar nicht Unteroffizier sei,
nicht gedient habe. Habe geweint deswegen. — Sei unehelich geboren, mit
2 Brüdern unter dem Namen Schröder ins Standesamtsregister eingetragen.
Er solle falsche Papiere haben. Vor der Militärzeit nichts von derartigen
Verdächtigungen bemerkt. Von Hausbesitzer etc. auch jetzt beeinträchtigt
gefühlt. — Hier auf der Abteilung keine gröberen Wahnideen geäußert, Angst
vor Strafe geringer, habe sich alles überlegt, hin und wieder jedoch mi߬
trauisch, glaubt, in der Zeitung „Verdächtiges“ gelesen zu haben, äußert ab
und zu Beeinträchtigungsideen. Gedächtnis gut Keine Sprachstörung.
Gibt an, 3—4 Spritzkuren, 1 Schmierkur durchgemacht zu haben.
Stttius: s. oben. Unterhalb der 1. Brustwarze Rumpfzone bis auf den
Rücken von Hypalgesie und Hypästhesie, r. nur Hypalgesie.
Therapie: Hydrag. salizyl. 1,0, ol oliv. 9,0.
20. 3. Äußert spontan keine paranoischen Symptome. Depressiv ängst¬
lich, Selbstanklagen, Befürchtungen, daß er bestraft werde. Indolent gegen
Umgebung, affektstumpfer Gesichtsausdruck.
27. 3. Muß katheterisiert werden. Urin frei.
12. 4. Muß dauernd katheterisiert werden. Temp. abends über 38. —
Indolentes Verhalten dauert fort
13. 4. Keine Blasenstörung mehr. Temp. normal.
19. 4. Neo-Salvarsan Dos. ni.
27. 4. Linksseitige Nebenhodenschwellung. — Glaubt noch immer, daß
etwas mit seinen Papieren nicht in Ordnung sei, hält seine Beziehungsideen
aufrecht. Das Gedächtnis habe nachgelassen.
2. ö. . Nebenhodenschwellung stärker. Temp. gelegentlich 89,3. In¬
zision. Danach Besserung.
15. 4. Neo-Salvarsan. Dos. IV. intravenös. Nebenhodenentzündung
abgeheilt.
30. 4. Spricht noch immer von falschen Papieren, jedoch einsichtiger,
es könne auch eine Verwechselung sein, vielleicht sei es auch eine Krankheit,
er habe vielleicht alles nur so aufgefaßt. Subjektives Wohlbefinden, möchte
nach Haus und wieder auf der Bank arbeiten.
2. 6. 1 ccm Hydrarg. salizyl. 0,1, ol oliv. 1,0.
6. 6. Neo-Salvarsan, Dos. IV. intravenös.
19. 6. Beschäftigungsbedürfnis, leicht euphorisch, wünscht entlassen zu
werden. Krankheitseinsicht für seinen Zustand bei der Aufnahme: niemand
habe ihm etwas gesagt, habe sich „alles zusammengereimt“, meint aber doch
wieder: „ganz bringe ich den Gedanken nicht los“. Keine neuen Eigenbe¬
ziehungen. Subjektives Wohlbefinden. Interesse für die Umgebung und die
politischen Ereignisse.
Pupillen eng, gleich, lichtstarr. Sonst nichts Pathologisches. Schmerz¬
empfindung o. B. Im 1. Hodensack noch leichte Schwellung, kein Druck¬
schmerz. Inzisionsnarbe.
SO. 6. Ist als d. u. entlassen. Hat das Bedürfnis durch logische Gründe
darzulegen, daß seine damaligen Gedankengänge nicht zutreffend waren.
Kommt nicht dazu, die früheren Gedankengänge vollkommen als Produkt
Pabritlue, Zur Klinik der nicbtparalytiechen Lues-Ptyehoeen. (Abbandl. H. 24) 5
66
seiner psychischen Krankheit anzusehen. Möchte wieder in seinem Beruf
tätig sein. Entlassen als arbeitsfähig in seinem Beruf.
Zusammenfassung.
Fall 14. Luespsychose.
44jähr. Bankbeamter. Vater durch Selbstmord geendet. Ein
Bruder nicht ganz in Ordnung. Immer gesund. Lues mit 19 Jahren.
Zum Heere eingezogen. Entlassen Febr. 15, da Wa. R. im Blut pos.
Schwindelanfall ohne Bewußtseinsverlust. Dachte „jetzt geht die
Krankheit los“. Seitdem ängstliche Vorstellungen, leicht reizbar,
„schiebt alles lange hinaus“. Mitte März 15 plötzlich Kopfschmer
zen, erschwertes Gehen. Stark depressive Wahnideen. Beschuldigt
sich einer Unterschlagung, müsse ins Zuchthaus. Beeinträchtigungs¬
vorstellungen. Spontan keine paranoischen Symptome, keine Hallu
zinationen. Entlassen als arbeitsfähig.
Somatisch: Pup. lichtstarr, Nervensystem sonst o. B. Blut und
Liq. Wa. Rea. stark pos. Starke Lymphozytose. Die Pupillenver¬
änderungen, sowie die stark positiven Wa.-Reaktionen und die
Lymphozytose berechtigen uns wohl, den Fall als eine Luespsychose
anzusehen, und zwar haben wir mit einem typischen depressiven
Zustandsbild zu tun. Pat. wurde als arbeitsfähig entlassen. Ob er
es aber auch geblieben ist. wissen wir leider nicht.
Fall 15. A. S„ 37 Jahre alt, Arbeiterfrau. Aufgen. 18. 6. 23. Lues
psychose.
Angaben des Mannes: Pat. sei sehr aufgeweckt gewesen, immer gut
gelaunt. Vor 4 Wochen stark abgemagert. Seit 4 Wochen nicht mehr ordent¬
lich gegessen, „das tue ihr im Halse weh“. Der Schlaf sei unruhig gewesen,
war oft die ganze Nacht schlaflos. Seit ca. 4 Wochen gereizt, schimpfte bei
kleinsten Anlässen gegen ihre frühere Gewohnheit.
Vor 14 Tagen plötzlich die Sprache fort, nur gurgelnde Laute. Dieser
Zustand dauerte etwa % Tag, konnte die Worte nicht richtig aussprechen.
Der gleiche Sprachverlust ist noch zweimal eingetreten vor 8 Tagen. 1917
luetisch infiziert. Jammerte fast dauernd über ihre Krankheit, sie wolle ins
Wasser gehen. Jammerte: „mir wird so schwindelig, so schlecht“.
19. 6. Klagen: „der Kopf sei wirr“.
Angaben der Pat.: Bis zur 2. Klasse gekommen. Vor 6 Jahren
syphilitisch angesteckt Begann 2 Kuren (Salvarsan), führte keine zu Ende.
Seit 3 Wochen keinen Appetit. Vor 14 Tagen sei ihr schlecht geworden.
Dreimal die Sprache verloren. Das komme alles von der Ansteckung. Seit
etwa 3 Wochen sei sie so leicht gereizt. Ist anscheinend schwerhörig, erst
sei das rechte Ohr schlecht gewesen, jetzt das andere auch. Affektlage indif¬
ferent, wird für kürzere Zeit depressiv. Sprache undeutlich, öfter verwaschen.
Liquor: starke Eiweiß- und Zellvermehrung. Wa.: stark positiv.
Körperlich: asymmetrisches Gesicht
Pup. bds. etwas verzogen. L. R. und C. R. bds. prompt und ausgiebig.
Sonst Nervensystem o. B. Merkfähigkeit kaum gestört Bei Unterschieds¬
fragen ihrem Bildungsgrad entsprechende Antworten.
67
Zusammenfassung.
Fall 15. Diagnose: Luespsychose.
Leicht debile, 87jährige Arbeiterfrau. Immer gut gelaunt. Viel
Kummer im Leben. Luetisch infiziert vor 6 Jahren. Seit etwa
4 Wochen gereizt, müde, gänzlich appetitlos. Vor 14 Tagen plötz¬
lich Sprachverlust, konnte y% Tag nicht sprechen. Ähnliche An¬
fälle noch zweimal. Affektlage indifferent, für kürzere Zeit weiner¬
lich, depressiv, klagt dauernd, jammert. Bei den gewöhnlichen
Intelligenzprüfungen keine Demenz festzustellen.
Somatisch: blaß, schlechte Hautfarbe, unterernährt. Wa. Reakt.
in Blut und Liq. stark positiv. Phase I +, starke Pleozytose.
In diesem Fall, den ich selbst untersuchen konnte, scheint mir
der Verdacht auf beginnende Paralyse sehr naheliegend zu sein.
Das stumpfe, müde, gleichgültige Wesen der Kranken, das ab und zu
von weinerlich-depressiven Affekten unterbrochen wird, kann aller¬
dings bei der Debilität der Pat. als ein depressives Zustandsbild
angesehen werden.
Eine sichere Entscheidung ist vorläufig noch nicht zu treffen.
Fälle, die periodisch oder schubweise verlaufen.
Die jetzt zu behandelnden 8 Fälle zeigen uns recht bunte
Bilder. Teils haben wir mit mehr einheitlich gefärbten Zustands-
bildem, z. B. mit depressiven oder katatonen zu tun, teils mit ab¬
wechselnden und gemischten. Zu dem kommt, daß in einigen Fällen
offenbar periodische Manifestationen endogener Tendenzen vorliegen,
in anderen Schübe, also Rezidive des luetischen Prozesses.
Gemeinsam charakteristisch für alle ist das Atypische, sozusagen
Unberechenbare.
Fall 16. H. F., 38 Jahre, Schlächtermeister. Aufgen. 6. 8. 16, entl.
25. 8. 16. Diagnose: Luespsychose.
Bei der Aufnahme ruhig, sitzt auf dem Bett, fragt nach seinen Sachen
und seiner Frau, legt sich dann hin und schläft gut.
Angaben der Frau: Seit 1903 verheiratet. 13 Entbindungen, dabei
2 Fehlgeburten, 2 Kinder leben (11. und 13. Kind). Pat. habe während der
Militärzeit Geschlechtskrankheit gehabt, vor 3—4 Jahren Quecksilberkur durch¬
gemacht. Vor 7 Jahren Gelenkrheumatismus, Blinddarmoperation. Seit
8 Jahren blasenleidend, Schwierigkeit der Blasenentleerung, soll Nieren¬
leiden gehabt haben, starke Schmerzen, bekam Einspritzung in Unterarm,
seitdem Schmerzen im Unterarm. Oft Nasenbluten. Seit 5—6 Jahren Schwin¬
delanfälle, mußte sich wegen Schwindelgefühl öfters hinlegen, manchmal tilgt.
6—6 Schwindelanfälle, in letzten 3 Wochen nicht so oft. Schwindelanfälle
traten auch auf, wenn er sich plötzlich mit dem Kopf tieflegte, oder sich
plötzlich von einer Körperseite auf die andere legte. Niemals Bewußtseins¬
verlust dabei. Seit 4—5 Jahren Anfälle von plötzlicher Steifigkeit und Un-
6 *
68
fähigkeit zu Bewegungen in den Beinen, meist nur in einem Bein, r. oder L
In Armen nie. Keine Sprachstörung. Seit Jahren psychisch verändert, all*
mählich progressiv. Affektiv reizbar, zuletzt leicht wütend, schimpft. Ge¬
dächtnis bedeutend schlechter geworden, rechnet schlecht, unaufmerksam im
Gespräch, ideenflüchtig, kann Arbeit nicht mehr leisten. Im letzten Winter
viel gearbeitet, führt jetzt Geschäft seines Schwagers. Schläft wenig, stört
die anderen, läuft umher, klagt über Angst und Ruhelosigkeit.
Stand am Abend vorher aus dem Bett auf. wollte ins Theater. Alkohol-
mißbrauch während der Militärzeit, später nicht mehr. Mißtrauisch-eifersüch¬
tig gegen Frau, glaubt sterben zu müssen, Frau solle sich dann nicht wieder
verheiraten. Glaubt, man wolle ihm alles nehmen.
Angaben des Pat Kein Krankheitsgefühl, habe nur etwas Kopf¬
schmerzen. Weiß nicht, daß er vor wenig Tagen in Poliklinik untersucht
worden ist Gibt auf Befragen an, das Herz sei nicht gut, bekomme nicht
genug Luft beim Arbeiten, müsse oft Arbeit stehen lassen, fühle sich nicht
gut, müsse sich hinsetzen. Oft schwindelig. Gedächtnis sei „vielleicht“
schlechter geworden, verrechne sich oft im Geschäft. Müsse auch gelegentlich
weinen (weint auch während der Unterredung). Schlafe schlecht ein. Sonstige
Angaben über Vorgeschichte unsicher. Zeitliche Orientierung ungenau, könne
gar nichts behalten, müsse sich alles aufschreiben. Zahlenmerken gelingt gar
nicht. Liest die Uhr erst richtig ab, nachdem er vorher mehrfach Fehler
gemacht hat. Kann nicht mit Geld umgehen. Macht Fehler beim Lesen, ,,er
könne es eben nicht“.
Schlechte Merkfähigkeit. Liegt mit geschlossenen Augen im Bett, nimmt
aber keine Notiz von der Umgebung, auf Fragen kaum Antwort zu bekommen,
ist schwerfällig und verlangsamt. Weinerliche depressive Stimmung, klagt,
daß andere Kranke zu laut sind.
9. 8. Status som.: Pup. mittelweit, gleich, r. Pup. reagiert nur ganz
wenig, 1. besser, aber auch wenig auf Licht. Konverg. Reakt. bds. gut
Augen-, Gesichts- und Zungenbewegungen normal. Herz: dilatiert nach links,
diastol. Geräusch an der Aorta. Aortendämpfung verbreitert. Operations-
narbe nach Appendizitisoperation. Pat. und Ach. Refl. normal, Fußsohlen¬
reflex plantar, kein Babinski. Sonst alle Reflexe regelrecht. Zyanotisches
Gesicht, zyanotische kühle Hände.
Blut — Wassermann stark positiv.
12. 8. Dauernd motorisch gehemmt, hat oft Kopf von der Unterlage
hochgehoben, freihaltend, ändert diese Stellung auch während der Unter¬
haltung nicht, antwortet mit leiser Stimme auf Fragen. Kopfschmerzen.
Ängstlich gespannter Gesichtsausdruck.
18. 8. Augenhintergrund (Prof. Brückner) unscharfe Papillengrenzen,
leichte Schlängelung der Gefäße (kann leichte Neuritis gewesen sein), ob
pathologisch ist fraglich.
23. 8. Beim Versuch der Lumbalpunktion jammerte Pat., klagte, daß
ihm schlecht werde, so. daß Lumbalpunktion aufgegeben werden mußte. —
Am unteren Rücken und Unterschenkeln leichte Ödeme. Tägl. Smal 0,1-
Digipuratum in Tabl.
25. 8. Spontanverhalten unverändert. Bei Unterhaltung regsamer,
spricht etwas weniger gehemmt. Angebl. keine Kopfschmerzen mehr, Stim¬
mung sei besser, Gedächtnis sei besser. Möchte nach Haus. Zählt Geld richtig
timiwnun. Zeigt Einsicht für Unsicherheit in Zeitorientierung. Kann auch
heute nicht eine gemerkte Zahl nach 6 Min. wiederholen. Artikulation gut,
auch bei schwierigen Worten. Krankheitseinsicht und Krankheitsgefühl. —
Sei immer ein ruhiger, stiller, ernster Mensch gewesen, Frau habe oft ge¬
schimpft, daß er so wenig spreche. Nach Alkoholgenuß lebhafter. Früher
viel getrunken, dann nicht mehr. Seit ca. 6 Jahren reizbarer.
Ödeme zurückgegangen, fast ganz geschwunden.
25. 8. 1916. Entlassen, soll sich wieder vorstellen.
Juni 1920 gestorben.
Zusammenfassung.
Fall 16. Diagnose: Luespsychose. 38jähriger Schlächter¬
meister, früher gesund, immer etwas mißtrauisch, eifersüchtig gegen
Frau. Syphilis während der Militärzeit. Seit einigen Jahren
Schwindelanfälle ohne Bewußtseinsverlust, seit 3 Jahren Schwierig¬
keiten der Blasenentleerung. Auch Anfälle von plötzlicher Steifig¬
keit in den Beinen und Unfähigkeit zu Bewegungen.
Somatisch: r. Pup. reagiert nur ganz wenig auf Licht, 1. besser,
aber auch wenig. Sehnenreflexe normal. Wa. R. im Blut stark pos.
Lumbalpunktion muß wegen Jammern des Pat. aufgegeben werden.
Psychisch: seit einigen Jahren verändert, reizbarer, unaufmerk¬
sam, kann Arbeit nicht mehr leisten. Beziehungs- und Beeinträch¬
tigungsvorstellungen.
Im Krankenhaus: zeitlich nicht genau orientiert, „könne gar
nichts behalten“. Zahlenmerken gelingt gar nicht. Schlechte Merk¬
fähigkeit. Schwerfällig und verlangsamt, weinerlich-depressive Stim¬
mung. Dauernd motorisch gehemmt, hält oft lange Zeit den Kopf
von der Unterlage hochgehoben.
Im Krankheitsbild mischen sich deutlich depressive, katatone
und demente Züge. Das ganze Verhalten des Kranken ist auffallend
schlaff.
Die Frau teilte mir bezügl. des weiteren Verlaufs folgen¬
des mit:
Nach der Entlassung vom Krankenhause wurde Pat., obwohl
er noch sehr krank war, zum Heeresdienst eingezogen. Er diente
dann bis zum Kriegsschluß an der Front, und war — als er nach
Hause kam — todkrank. Er saß meist auf einem Stuhl herum oder
lag zu Bett, konnte keine Arbeit leisten. Er starb im Juni 1920.
Daß wir hier mit einer Luespsychose zu tun haben, ist sehr
wahrscheinlich, obwohl die Lumbalpunktion mißlang. Pat. hatte
sicher Lues gehabt, die Wa. Rea. im Blut war stark positiv, Pupillen¬
störungen lagen vor.
Jetzt, wo wir den Verlauf überblicken können, scheint der Fall
70
ungezwungen als eine Paralyse aufgefaßt werden zu können. Zur
Zeit der ersten Aufnahme in der Charit6 waren die Verhältnisse
doch sehr atypisch, so daß man bei der Diagnose einer Luespsychosc
blieb. Auffallend ist zum Schluß dann der verhältnismäßig lange
Verlauf, wenigstens 4 Jahre, des Falles. Wir werden dasselbe in fast
allen der folgenden Fälle erleben.
Fall 17. 0. G., Ofensetzer. 29 Jahr. Aufgen. 7. 12. 16, entl. 7. 5. 17.
Luespsychose. Progressive Paralyse.
Bei der Aufnahme sehr laut, läuft sprechend umher, erzählt von Erleb-
nissen, Beschwerden, redet durcheinander, springt vom Thema ab, schwer zu
fixieren. Gelingt es, ihn zu fixieren, so gibt er Antworten, die inhaltlich offen¬
bar richtig sind. Zeitlich und örtlich und auch über sein Vorleben — soweit
zu eruieren — orientiert. Durch nichts von seiner euphorischen Stimmung ab¬
zubringen.
Vom Begleiter wird berichet, daß Pat. in der Kaserne das gleiche Ver¬
halten zeigte wie hier, von keinem Vorgesetzten Notiz nahm. Soll bereits seit
14 Tagen durch vieles Sprechen und motorische Unruhe auffällig sein, jedoch
nicht so, daß Bestrafung erfolgte. Erst allmähliche Steigerung der Erregung.
8. 12. Heute völlig ruhig, sitzt still, ohne ein Wort zu sprechen. Ge¬
sichtsausdruck affektlos, Blick geradeaus gerichtet. Echopraxie für alle, auch
ganz unauffällige, an sich gleichgültige und zufällige Bewegungen des Arztes,
auch für absichtlich vorgenommene auffälligere Bewegungen. Zeitlich und
räumlich durchaus orientiert. Weiß von seiner Verbringung hierher. Als
Krankheit gibt er an: Schmerzen im Hals, Heiserkeit, berichtet von seiner
früheren tuberkulösen Lungenerkrankung, deswegen vorzeitig vom Militär ent¬
lassen und Rente bezogen.
9. 12. Verhalten auf der Abteilung völlig korrekt, keine wesentlichen
Auffälligkeiten. Stimmungslage: leichte Euphorie, etwas kritiklos gegen
Situation.
10. 12. Euphorie: „Hilft“ dem Arzt bei der Visite, ist behilflich bei
Krankenfütterungen etc. Antwortet schnell, lebhaft, deutlich ideenflüchtig, er¬
zählt von früheren Erlebnissen. Gesichtsausdruck fröhlich, glücklich, schreibt
viele Briefe und Karten. Höflich, nie zornig. Keine Neigung zur Imitation
von Bewegungen.
Somatisch: Sieht älter aus als er ist, viel graue Haare. Herz: o. B.
Lungen: perkutor. 1. h. vielleicht etwas schwächer als r. h. Ausk. über den
Spitzen, Atmen unrein, Exspirium verschärft. Kein Husten, kein Auswurf.
Pat. und Ach. Refl. mittelstark und gleich. Fußsohlenrefl. plantar, sonstige
Reflexe vorhanden. Pupillen: rund, mittelweit, L. R. und C. R. prompt, aus¬
giebig. Sprache intakt. Wassermann: Blut und Liquor stark positiv. Starke
Vermehrung des Eiweiß und der Lymphozyten.
12. 12. Euphorie hält an, macht im wesentlichen richtige Angaben, gute
Orientierung. Seiner Lage gegenüber kritiklos. Affektlage entspricht nicht
durchgehend dem Vorstellungsinhalt. Gesteigertes Selbstbewußtsein.
Angaben der Ehefrau: Pat. sei immer ein lustiger Mensch gewesen,
Ordentlich, fleißig, sparsam. Seit 4% Jahren verheiratet, guter Ehemann. Kein
Trinker, kein Raucher. 1 gesundes Kind, 2 Frühgeburten. Juli 16 Luftröhren-
71
und Lungenkatarrh, Selbstmordversuch mit Gas, glaubte lungenkrank zu sein.
Keine weiteren Suizidversuche.
Krankenhausaufnahme: Während der Zeit sehr still, sprach fast gar
nicht. 7 Wochen Landaufenthalt, erzählte zwar, jedoch nicht so lebhaft wie
früher. Nach Rückkehr allmähliche Besserung. Wurde lustiger, machte Be¬
suche. Keine psychische Veränderung. Nach Einziehung zum Heeresdienst
immer lustig, keine Veränderung gegen früher. Anfang Dez. auffällig ge¬
sprächig, lustiger als sonst, wollte nur ganz allein erzählen. Keine Klagen,
keine Größenideen. Vergeßlich, erzählte vieles doppelt.
10. 1. 17. Anhaltende krankhafte Erregung, singt, spricht viel, mischt sich
in alles hinein, gereizt, grob, aggressiv. Euphorische Stimmung, kritiklos
gegenüber seiner Lage, örtlich orientiert, sei nicht nervenkrank, äußert
gelegentlich den Wunsch nach Entlassung, gleichgültig, daß dies nicht ge¬
schieht. Auch nachts unruhig, auf Schlafmittel nicht die ganze Nacht Schlaf,
Gesteigertes Mitteilungsbedürfnis, ideenflüchtiges Abschweifen. Artikulation
bis auf gelegentliches unscharfes Aussprechen einzelner Silben bei Spontan¬
sprache und beim Nachsprechen schwieriger langer Worte gut.
Zahlenmerken: nach 5 Min. richtig.
(Früherer Suizid versuch?) Habe geglaubt, seine Familie nicht mehr er¬
nähren zu können. Sei damals im Krankenhaus „ganz dumm“ im Kopf ge¬
wesen (Diagnose Phthisis pulm.).
12. 2. Unter Trionaldauerbehandlung Verhalten meist ruhig. Sobald
Trlonal ausgesetzt wird, ist Pat. laut, lärmt, schlägt die Pfleger. Sprach-
artikulation verwaschener.
8. 3. In letzter Zeit viel ruhiger. Verhalten meist unauffällig.
8. 4. Pat. kann plötzlich nicht sprechen, fängt zu schreien an, beruhigt
sich dann wieder, nahm wenig Nahrung zu sich.
11. 4. Sprache dauernd erschwert, sonst ruhig. Läßt Urin unter sich.
14. 4. Liegt meist ruhig im Bett mit geschlossenen Augen, geht zu¬
weilen umher, ohne sich um seine Umgebung zu kümmern, läßt Urin unter sich.
Ißt ungeschickt, stopft den Mund sehr voll. Fazialis rechts deutlich schwä¬
cher als links innerviert. Kein Babinski. Sagt nur immer lächelnd: „ja, ja“,
vorgehaltene Gegenstände werden nicht richtig bezeichnet, oder so undeutlich
benannt, daß man nichts verstehen kann. Sprache schmierend. Sprachver¬
ständnis offenbar schwer beeinträchtigt. Verwechselt rechts und links, muß
oft auf gefordert werden, Körperteile zu zeigen, zeigt auch andere Stellen als
die verlangten, perseveriert stark. Gesichtsausdruck leer, verständnislos,
ohne Mienenspiel. Beim Sprechen häufig Verziehen des Gesichts zum Lächeln,
r. Fazialisparese sehr deutlich.
16. 4. Verhalten ruhig, freundlich. Liegt still im Bett. Nahrungsauf¬
nahme gut
Babinskki: 1. plantar, r. neutral.
Pat. Refl. und Ach. Refl. rechts stärker als links, gering. Keine sicht¬
bare Lähmung in Armen und Beinen. Fazialisparese unverändert.
Schreiben nach Diktat: Schreibt anderes, als was ihm gesagt wird.
Lesen von Druckschrift leicht paraphasisch, mühsam, stockend, nicht sinn¬
gemäß, aber besser als Spontansprechen. Bezeichnung von vorgelegten Gegen¬
ständen: gelingt nicht, benützt alle Gegenstände richtig, zeigt, daß er ihren
Gebrauch kennt
72
Verstehen: Vorgemachte Bewegungen werden leicht nachgeahmt Auf¬
träge durch Gesten versteht er schnell und leicht Wortverständnis: Körper¬
teile zeigen: heute keine Reaktion außer paraphasischen Wortresten und Satz¬
teilen. Spontan produziert er zeitweise kleine Redewendungen, wie „wa3
soll ich denn“, „danke, mir geht’s gut“ u. ä. fließend und schnell, im übrigen
nur Paraphasien. Geschriebene Aufforderungen werden paraphasisch vorge¬
lesen, aber nie befolgt. Apraktische Störungen meist nicht nachweisbar
beim Manipulieren mit Gegenständen.
25. 4. Deutliche Besserung des Sprachverständnisses und der Fähigkeit,
kleine alltägliche Sätze zu sprechen. Wortfindung noch sehr erschwert.
7. 5. Sprachverständnis weiter gebessert, nur noch etwas erschwerte
Wortfindung. Sonst Verhalten ruhig. Stimmungslage leicht euphorisch, im
ganzen wenig verändert. Entlassen.
2. Aufnahme 1. 2. 18 bis 9 . 10. 18.
Ängstlich, glaubt, er solle erschossen werden. Seit S Tagen verfolgen
ihn die Leute, die ihn umbringen wollen, weil er nicht gestreikt habe, sie
wären in seine Wohnung gekommen, hätten gestohlen, Türen und Sicherheits¬
schlösser aufgemacht;. Aus Angst nicht mehr zur Fabrik gegangen, sei mit
der Straßenbahn gefahren, um einen Krankenschein zu holen. Auf der
Straßenbahn sei er mit Revolver bedroht worden, abgesprungen und zur
Charitö gelaufen. Jammert, daß er schon sterben müsse.
Kein pathologischer körperlicher Befund. Zunge weicht etwas nach
links ab, leichter Tremor^ auch in der oberen Gesichtsmuskulatur. Erinnerung
an den ersten Aufenthalt hier. Bis Sept. 17 regelmäßig gearbeitet, wegen
Kohlenmangels entlassen worden, dann bei anderer Firma tätig. Seit einer
Woche heftige Kopfschmerzen, beim Aufstehen morgens sei ihm schwindelig
geworden. Gibt keine genaue Auskunft über die Schwindelanfälle.
Pat. rechnet schnell und flott, keine Merkfähigkeitsstörung. Für den
Krieg kein Interesse, das Lesen strenge ihn an. Während der Exploration
unaufmerksam, steckt den Kopf unter die Decke, jammert, flüstert: „sie
kommen“.
Angaben der Ehefrau: Nach Entlassung hier (Mai 17) zuerst in anderer
Klinik, dann auf dem Lande bei Verwandten. In der Landwirtschaft ge¬
holfen, keine Klagen geäußert Arbeitgeber (Fabrik) seien durchaus zu¬
frieden mit ihm gewesen. Gut für die Familie gesorgt. Stimmung ruhig und
gut, habe aber keinen Widerspruch vertragen können. Am 2. Jan. bei der
Arbeit plötzliche Lähmung des linken Arms und der linken Gesichtshälfte,
vielleicht % Stunde. Anfall wiederholte sich in den nächsten Tagen dreimal,
trotz der Beschwerden habe Pat. weitergearbeitet Bis 81. 1. gearbeitet Seit
3 Tagen abends unruhig, ängstlich; Verfolgungsideen, durchsuchte die ganze
Wohnung nach seinen Verfolgern. Für Gehörshalluzinationen keine sicheren
Anhaltspunkte. Früher verträglicher Mensch, hatte nicht gern fremde Leute
in seiner Wohnung, kamen jedoch Besucher, dann freundlich und gesprächig.
Sehr sparsamer Mensch, nicht geizig. Keine Anhaltspunkte für tabische
Beschwerden.
5. 2. Immer noch ängstliche Beeinträchtigungsvorstellungen, glaubt, es
sei geschossen worden, zieht Bettdecke über den Kopf. Vormittags schwerer
Angstzustand, aggressiv gegen Mitkranke. „Ich weiß, daß welche auf der
Treppe stehen“. Frau und Kind seien tot. Achtet aufmerksam auf Geräusche.
73
die draußen zu hören sind, begleitet sie im Sinne seiner ängstlichen Beein¬
trächtigungsvorstellungen. Ihm sei nicht zu helfen, sein Lungenflügel sei ab¬
geschnitten, unters Bett gepackt. Das Herz sei nicht getroffen worden. Trotz
ängstlicher Erregung bei diesen Äußerungen gelegentlich lächelnder Gesichts-
ausdruck. Anscheinend oberflächliches Krankheitsbewußtsein, er wolle nicht
in Irrenanstalt. Berichtet geordnet über die Zeit seit seiner Entlassung aus
der Klinik. Nennt Namen der Pfleger und Ärzte, erinnert sich auch an
Patienten aus früherer Zeit
Zahlenmerken: prompt. Rechenaufgaben rechnet er schnell. Artiku¬
lation gut Auch schwierige Worte spricht Pat. ohne Artikulationsstörung
gut nach. Geht auf Untersuchung bereitwillig ein, vergnügte Stimmung. Will
hier bleiben, ist mit Behandlung (der Lues) einverstanden, will nur nicht
sterben. Trional tägl. 2mal 0,1. Seitdem ruhiger, bleibt im Bett. Skopolamin.
Ängstliche Gedankengänge bestehen fort. Pat. äußert sie in den letzten
Tagen weniger als vorher.
11. 2. Unregelmäßiges Fieber (Ursache unbekannt). Ängstlich, solle
sterben (Schmerzen?). „Ja von dem Schuß“ (zeigt auf die Brust). Nachts
unruhig, ängstlich.
22. 8. Unverändert. Mißdeutet Verhalten der Pfleger, aggressiv, „um
sich zu verteidigen“. Läßt sich leicht beruhigen.
2. 4. Änderung insofern, als sich Pat. in letzter Zeit weniger im Sinne
seiner ängstlichen Gedanken betätigt, wird selten aggressiv. Unterhält sich
nicht mit anderen Kranken, greift nur gelegentlich einmal Äußerungen, die
er hört, auf, bringt sie in Beziehung zu seinen ängstlichen Gedanken, äußert
mitunter irgendwelche Klagen über körperliche Belästigungen, bringt dies ohne
Affektsteigerung vor, spricht sonst wenig. Pat hat wahrscheinlich viele
Halluzinationen: der Bruder habe immer alle Sachen auf ihn hin umgedreht,
er solle gestohlen haben, hätte Sachen aus der Charite mitgenommen. Es sei
ihm „unterdrückt“ worden, daß er als Zweiter zur Welt gekommen sei, es
seien damals mehrere Kinder zu gleicher Zeit geboten, seine Frau sei auch
dabei gewesen. Mehrere Kinder seien in seinen Körper hineingebracht wor¬
den, eins habe schon einen Schnurrbart gehabt. Habe Schmerzen im Leib
dabei verspürt. Das sei zum Nachwuchs des Volkes gemacht worden. Glaubt,
daß er schon öfters verstorben sei, das letztemal in der vergangenen Nacht.
Die Pat. seien Schulfreunde von ihm, alle syphilitisch krank. Er habe sich
bei der Frau infiziert, und zwar durch deren Urgroßvater, das sei eine
komplizierte Sache. Habe zwei Schrauben im Kopf gehabt, sein Bruder habe
sie gefunden. Höre Pfeifen in den Ohren und im Kopf. „Mir ist überhaupt,
als ob alles hohl ist“. Er sei ganz und gar krank. Hält an diesen hypochon¬
drischen Klagen fest, auch Einwänden gegenüber behauptet er, er habe es bei
klarem Verstand genjerkt, daß ihm die Nieren abgeschnitten seien. In seinem
Leibe innerlich würde genäht. Das sei ein Attentat von seinem Schwager.
Zeitliche Orientierung ungenau, korrigiert sich zwischendurch. Rechnen
schnell. 6 Zahlen werden richtig nachgesprochen, 7 nicht mehr. Bei der
Untersuchung schwerfällig, wie ein leicht benommener Kranker. Aufmerk¬
samkeit wird besser, wenn er zu gesteigerter Aufmerksamkeit angeregt wird.
Immer nur auf Fragen Äußerungen, spontan nicht Schläfriger Gesichtsaus¬
druck, verhält sich motorisch einförmig, ruhig. Zeitweise abgelenkt durch
halluzinatorische Vorgänge: „das ist die Mutter, die da spricht“. Seine
74
schweren hypochondrischen und ängstlichen Gedanken bringt er in affektarmer
Weise vor, spricht leise, schwer verständlich. Gute Artikulation.
R. Pupille reagiert gut auf Licht, links etwas schlechter, beide werden
während der Belichtung schnell wieder weiter. Beine schlaff. Pat. Reflexe
nur mit Jendrassik schwach auslösbar, links besser als rechts. Zehen¬
reflexe plantar, keine Ataxie in den Beinen. Bauchdeckenrefi. bds. schwach.
12. 4. Aggressiv gegen Pfleger und Patienten.
23. 4. Liegt seit 10 Tagen im Dauerbad. Seit 2 Tagen sehr erregt und
unruhig, springt aus der Wanne, hat sich am Bein verletzt. Fieber 88,7.
4. 5. Trionalbehandlung täglich 2mal 1,0.
10. 6. Unruhig, aggressiv. Läßt Kot und Urin unter sich. Sieht Fliegen
an der Decke.
22. 6. Will aufstehen, in den Garten gehen, auf der Abteilung sei es
so unruhig.
19. 7. Aggressiv gegen Mitpatienten. R. Pup. reagiert auf Licht gut,
links ganz wenig. C. R. rechts gut, links etwas weniger (hat längere Zeit kein
Skopolamin bekommen).
22. 7. Geht in den Garten, benimmt sich geordnet
6. 8. „Anfall“. (Nachtbericht.) Fiel um, schnarchte heftig, ganz steif,
hatte Zuckungen an den Händen, Füßen, Gesicht, Augen geschlossen. Mor¬
gens dösig, führt Aufträge richtig aus. (Auf Befragen.) „Es kam ganz
plötzlich, ich konnte den rechten Arm nicht bewegen und mit den Fingern
nicht zufassen“. Ihm sei schlecht und dumm im Kopf gewesen. Keine
gröbere apraktische Störung. Fazialis: der linke Mundwinkel hängt herunter,
wird beim Zähnezeigen nicht angespannt. Augenschluß, Stirnfalten symme¬
trisch. Zunge: starker Tremor, weicht beim Vorstrecken etwas nach links ab.
Kornealreflex different, rechts stärker als links, Korneasensibilität desgL
Händedruck links herabgesetzt Feine Fingerbewegungen und Opposition
rechts gut, links ungeschickt. Armbewegung und Beugung links gut Bauch-
deckenrefl. rechts vorhanden, links —. Pat Refl. bds. vorhanden, mittelstark.
Ach. Refl. vorhanden. Fußsohlenreflex: bds. gehen sämtliche Zehen nach
dorsal, kein Mendel, kein Babinski. Grobe Kraft in den Beinen gut Nadel¬
stiche werden auf der ganzen 1. Körperseite weniger empfunden als rechts.
^Jang o. B. Temp. 89,8.
10. 8. Temp. nach Darmentleerung normal.
28. 8. Lähmung ist allmählich besser geworden. Sinnestäuschungen
und ängstliche Beeinträchtigungsvorstellungen sind im Laufe der letzten
Woche zurückgetreten» Wünscht entlassen zu werden. Hält noch jetzt an
den psychotischen Angsterlebnissen fest Gute Krankheitserinnerung. „Ge¬
schossen wurde hier auch, das kann ich auch sagen“. Sei am Organismus
geschädigt worden. Das habe die Krankheit, die Lues, mit sich gebracht
Es seien auch Sachen behauptet worden, die er nicht getan habe. Hält an
Beinen Personenverkennungen fest. — Jetzt keine körperlichen Beschwerden,
jetzt könne er die Schrauben nicht mehr fühlen. Tendenz zur Korrektur.
Gute Merkfähigkeit, Interesse für die Umgebung, kennt die Namen der Pat
und Pfleger. Zeitlich orientiert. Zahlenmerken gut. Geht auf Untersuchung
* ein, bei der Unterhaltung bleibt er beim Thema, keine patholog. Steigerung
des Mitteilungsbedürfnisses, der Gesprächigkeit. Stimmungslage zufrieden.
Spricht monoton, hat aber kein Silbenstolpem.
75
S. 9. Nachts unruhig. Bat, daß seine Verwandten nicht fortgeschicki
worden, wenn sie kämen.
25. 9. Nächtl. Unruhe dauert fort, aggressiv gegen Pat. und Pflegerin,
die ihm Bein Brot aufgegessen habe.
4. 10. Derbe entzündliche Schwellung auf der rechten Backe, entzünd¬
liches ödem des rechten unteren Augenlides.
9. 10. Furunkel im Gesicht heilt ab. Nach Irrenanstalt überführt
IS. 12. 22 in Eberswalde gestorben. Obduktion: Gehirnerweichung,
Progressive Paralyse.
Zusammenfassung.
Fall 17. Diagnose: Luespsychose.
29jähr. Ofensetzer. Immer ein ordentlicher, lustiger, fleißiger
Mann. Kein Trinker. — Die psychischen Störungen zeigten sich zum
ersten Male Juli 1916 (Pat. war 29 Jahre alt). Gehemmt, deprimiert,
glaubte lungenkrank zu sein. Suicidversuch. Krankenhausaufnahme.
Nach etwa 2—3 Monaten wieder lebhafter, lustiger. Dez. 16 auf¬
fällig gesprächig, nahm von den Vorgesetzten in der Kaserne keine
Notiz. Immer vergeßlicher, erregbar. Krankenhausaufnahme wie¬
der nötig. (7. 12. 16 bis 7. 5. 17.)
Hochgradig erregt, schwer zu fixieren, redet ideenflüchtig durch¬
einander, euphorisch, abschweifend, orientiert. Beruhigt sich schnell
durch Trional; ohne Mittel laut, lärmt, schlägt die Pfleger.
Somatisch: Pup. reagieren gut, N. S. o. B. Wa. im Blut und
Liq. stark positiv. Starke Vermehrung des Eiweißes und der
Lymphozyten.
April 1917: viel ruhiger in der letzten Zeit, kann plötzlich nicht
sprechen. Fazialis rechts deutlich schwächer als links innerviert.
Sprache schmierend, stark paraphasisch. Sprachverständnis offen¬
bar schwer beeinträchtigt. Gesichtsausdruck leer. Verhalten ruhig,
freundlich. Refl. r. stärker als 1.
2. Aufnahme 1. 2. 18 bis 9. 10. 18. '
Nach der Entlassung zuerst in anderer Klinik, dann in einer
Fabrik zur Zufriedenheit gearbeitet. Am 2. Jan. 18 plötzlich
Lähmung des 1. Armes und der 1. Gesichtshälfte, vielleicht % Stunde.
Anfall wiederholte sich noch dreimal. Anfang Februar ängstliche
Beeinträchtigungsvorstellungen, jammert, schwere Angstzustände und
hypochondrische Wahnvorstellungen. Berichtet geordnet über die
Zeit aeit seiner Entlassung. Nennt Namen der Pfleger und Ärzte,
erinnert sich auch an Patienten aus früherer Zeit. Merkfähigkeit
prompt. Rechnet schnell. Artikulation auch schwieriger Worte gut.
Keine Artikulationsstörung. Zeitweise Halluzinationen. Erregt.
76
Somatisch: Pup. reagieren gut, 1. etwas schlechter. Beine
schlaff. Pat. Reff, nur mit Jendrassik.
6. 8. 18. „Anfall“. Zuckungen an den Händen, Füßen, Gesicht.
Diffuse Lähmungserscheinungen bes. links, die sich in einigen Wochen
zurückbilden. Unruhig.
Am 13. 12. 22 ist Pat. in der Anstalt Eberswalde an Paralyse
gestorben (makroskopischer Obduktionsbefund).
Wir sehen also bei dem Pat. folgende Phasen: eine depressiv-
manische; „Anfall“ mit nachfolgender starker Paraphasie. Remission.
Auch Sprache wird wieder normal — linksseitige Lähmung — ängst¬
lich— deprimiert — Siechtum — Tod nach 6V 2 jährigem Verlauf im
Alter von etwa 35 Jahren.
Mit diesen Notizen vor Augen wird es leicht sein zu sagen:
alles war nur eine lang ausgezogene Paralyse vom L i s s a u e r sehen
Typus. Wenn man aber nur z. B. den ersten Schub gesehen hätte,
in dem zum Schluß der Anfall mit der nachfolgenden sensorischen
Aphasie auftrat, wird man zugeben müssen, daß die Diagnose eines
depressiv-manischen Zustandsbildes einer Luespsychose nicht ganz
unberechtigt gewesen wäre.
Der zweite Schub scheint diese Auffassung noch zu erhärten.
Einen Monat nach einer linksseitigen Hemiparese treten psychische
Störungen in Gestalt von ängstlich-depressiven Wahnvorstellungen
auf. Intelligenz dabei gut. Zudem kommt noch der ausgesprochen
zirkuläre Verlauf, der sich im ganzen auf 6*4 Jahre ausdehnt.
Der Fall ist also an und für sich schon eigenartig, seine Be¬
sonderheit wird aber durch die folgenden Fälle noch stärker hervor¬
gehoben.
Fall 18. L. Sch., 53 Jahre alt, Maschinenputzer. Aufgen. 22. 9. 20,
entl. 8. 11. 20. Luespsychose.
*'Angaben der Ehefrau: Seit 28 Jahren mit Pat verheiratet 2 Kinder
totgeboren, 1 nach 1 Jahr gest., keine Fehlgeburten. Arbeitsamer Mensch, nie
getrunken.
16. 8. 17. Quetschung der r. Rumpfhälfte. Heilte gut aus, geringe Ver¬
letzung, wollte sich gesund melden.
April 17 eines Morgens plötzlich Gefühl, als ob Därme herausfallen
wollten. Aufgeregt 4 Wochen im Sanatorium. Schlimmer geworden.
Dauernd ängstlich verstimmt Steif, konnte nicht gebadet werden. Zu Haus
stül, saß umher, könne nicht arbeiten. Essen leidlich, Schlaf gut Ver¬
stopfung. Krankheitsschub klang nach 1% Jahren allmählich ab. 4 Monate
gesund. September 18 zweiter Schub, wie der erste J4 Jahr lang.
Seit Ostern 19 Schmiedehandwerk wieder aufgenommen. 12. 4. Maschinen¬
putzer bei der Eisenbahn, vollen Lohn. Nicht auffällig.
77
31. 7. 20. Dritter Schub, wollte nicht zur Arbeit gehen, es sei
alle« tot in ihm. Obstipation. Schlechter Schlaf. Appetitlosigkeit. Grübelte,
schweigsam, keine Suizidgedanken.
23. 9. 20. Leicht depressiver Gesichtsausdruck, liegt zu Bett, spricht
spontan nichts. Sei „Nervenkrank“, „es fehlen mir die Gedanken“. Zeitlich
orientiert. Es gefalle ihm nicht mehr hier. — Alle Antworten nach langen
Pausen, mit mehrmaligem Ansetzen zum Sprechen und Suchen nach dem Wort.
Zu längerem Sprechen nicht zu bewegen.
24. 9. Beschmutzte das Bett, aggressiv gegen die Wärter, diese banden
mittels Handtüchern Arme auf dem Rücken fest, daher Schwellung der Ober¬
arme, Drucklähmung des Nervus radialis, beide Hände hängen schlaff
herunter.
25. 9. Keine Erinnerung an die Vorgänge in der Nacht, spricht vom
Unfall 1917, deutliche Paraphasien. Zeitlich und örtlich desorientiert.
26. 9. Drängt nachts aus dem Bett. Antwortet nicht auf Fragen, un¬
willig, keine Spontanäußerungen. Sieht mißtrauisch auf den geschwollenen
rechten Arm, läßt unter sich. Nahrungsaufnahme schlecht.
27. 9. Urin: enthält Eiweiß, leichte Trübung im Sediment, hyaline und
granulierte Zylinder. Spez. Gew. 1037. Z. —. Erkennt den Arzt, sonstige
Orientierung schlecht. Antwortet langsam, zögernd. Gesichtsausdruck starr,
keine Spontanäußerungen.
Somatisch: Gut genährt, Haut fettig glänzend, Dermographismus.
Pupillen mittelweit, rund, C. R. und L. R. normal. Hirnnerven — soweit
prüfbar — o. B. Kommt Aufforderungen nicht oder unvollständig nach.
Reflexe an den oberen Extremitäten o. B. R. Arm: Ober- und Unterarm ge¬
schwollen, am Oberarm im unteren Drittel rot entzündliche Streifen, einige
Hautabschürfungen und Blasen (Druckstellen durch Umschnüren mit Hand¬
tuch s. o.). R. Hand hängt bei ausgestrecktem Arm schlaff herab, Finger sind
etwas gebeugt. Dorsalflexion der Hand nur wenig möglich, ebenso Strecken
und Abduktion des Daumens, die übrigen Finger können im Grundgelenk nur
wenig gestreckt werden. Am 1. Arm die gleichen Erscheinungen, nur etwas
geringer. — Refl. an der unteren Extr. o. B. Keine Pyramidenreflexe. Sen¬
sibilität und Berührungsempfindung nicht prüfbar, da Pat. keine Angaben
macht. Systolisches Geräusch an der Spitze. Blutdruck 110 Hg.
28. 9. Gut geschlafen. Ißt. Beantwortet Fragen sinngemäß, doch
zögernd und langsam. Keine Spontanäußerung.
29. 9. Desorientiert, konfabuliert, liegt bewegungslos im Bett, Gesicht
maskenartig. Nahrungsaufnahme gut (Diät). Urin: Menge 5Q0, Spez. 1037,
enthält Eiweiß, Gyl. hyal. und granul.
Fundus (spezialärztl.) r. 3 kl. runde Herde in Fovea, 1. 2 kl. runde Herde
in Fovea, fraglich ob nephritisch.
Lumbalpunktion: 5 ccm klare Flüssigkeit entnommen. Mittelstarke
Lymphozytose, Eiweiß +, Wa. R. stark pos. Ist orientiert. Erinnert sich
an die Vorgänge des Festbindens der Arme, spricht mit leicht zornigem Affekt.
7. 9. Fundus: r. 4 kl. weiße Herdchen in der Makulagegend, unten
rechts im umgekehrten Bilde (nephritische Herde). L.: unverändert. Retä
nitis albumin.
10. 10. Urin: bei Kochprobe nur geringe Spur Trübung.
78
11. 10. Gesichtsausdruck trotzig, verschlossen, liegt zu Bett. Ant¬
wortet meist nur „ja“ und „nein“.
Urin: durch Kochprobe kein Eiweiß nachweisbar.
15. 10. Auf langes eindringliches Befragen keine Reaktion, gibt nur sein
Alter an (r). Mürrisch verdrossener Gesichtsausdruck. Keine Abwehrbewe¬
gungen. Nicht zu bewegen, Zunge zu zeigen, gelähmte Hand zu bewegen.
Pupillen und Reflexe unverändert.
26. 10. Ähnliches Verhalten auch die letzten Tage.
Fundus: keine Veränderung gegen früher.
2. 11. Mürrisch-abweisend bei der elektrischen Untersuchung, kann
nicht erfolgen.
8. 11. Fundus: einzelne weiße Flecken.
8. 11. Abweisend, setzt der Untersuchung passiven Widerstand ent¬
gegen. Somatisch: o. B. gegen früher. Ungeheilt entlassen. Therapie:
Schmierkur.
Zusammenfassung.
Fall 18. Diagnose: Luespsychose.
53jähriger, früher arbeitsamer, gesunder Mann, der nie ge¬
trunken hat. Erkrankte vor etwa 3 Jahren zum ersten Mal.
16. 3.17: Quetschung der rechten Rumpfhälfte, die gut ausheilte.
1. Schub April 17, plötzlich eines Morgens Gefühl „als ob Därme
herausfallen wollten“. Aufgeregt. 4 Wochen im Sanatorium,
schlimmer. Hielt sich still, steif, so daß er nicht gebadet werden
konnte. Dauer dieses gehemmt-depressiven Schubes V /2 Jahre.
4 Monate später 2. S c h u b, wie der erste. Y 2 Jahr. Danach 15 Mo¬
nate mit vollem Lohn als Maschinenputzer bei der Eisenbahn tätig,
nicht auffällig. 3. Schub: 31. 7. 20 ganz plötzlich, wollte nicht zur
Arbeit, „alles sei tot in ihm“. Grübelt, appetitlos. Keine Suicid-
gedanken. Schweigsam.
23. 9. 20 in der Charite. Depressiv, orientiert, sucht nach
Worten, „es fehlen mir die Gedanken“. Dann wechseln aggressive,
verwirrte, desorientierte Tage (an denen er sogar gebunden werden
muß) mit ruhigeren Tagen ab.
Somatisch: Pupillen reagieren. N. S. auch sonst 0 . B. Ham:
Zeichen von Nephritis. Retinitis albumina. Liq.: Wassermann stark
pos., Vermehrung des Eiweißes und der Lymphozyten.
8. 11. 20. Wird ungeheilt entlassen. Stimmung trotzig, ver¬
drossen, abweisend gehemmt. Spricht kaum. Nephritis besser.
Das Krankheitsbild zeigt uns also bei dem bereits 50jährigen
Manne, dessen Liquor stark positive Wa. Reaktion aufweist, drei
melancholische Schübe mit schwerer Hemmung. Während des letz¬
ten Schubes entwickelt sich außerdem ein deliranter Verwirrtheits¬
zustand, gleichzeitig besteht eine Nephritis.
79
Sollen wir nun alle diese Zustände nur als periodische Mani¬
festationen einer Rückbildungsmelancholie auffassen? Den letzten
dritten Schub doch sicher nicht. Zeigt er doch allzu deutlich die
Zeichen einer exogenen luetischen Vergiftung. Über die Zeit der
Ansteckung erzählt die Krankengeschichte nichts. Aber die Frau,
die 28 Jahre mit Pat. verheiratet war, berichtet, daß sie zwei tot¬
geborene und ein lebendes Kind hätte, das mit 1 Jahr starb. Höchst¬
wahrscheinlich lag also beim Manne eine alte Lues vor und wir
müssen wohl deshalb alle drei Schübe der Krankheit auf eine Lues
zurückführen, und die Erkrankung, die bereits 3*4 Jahre bestanden
hat, würde vielleicht als ein Beispiel luetischer, periodischer Melan¬
cholie gelten können.
Ich würde nicht wagen, diesen Schluß zu ziehen, solange wir
das Ende der Krankheit nicht kennen. Der eigenartige fast apo-
plektiforme Beginn der Schübe, das außergewöhnliche Bild im dritten
Schub scheinen mir den Verdacht der Paralyse nicht wegjagen zu
können.
P. K„ Arbeiter, 80 Jahre.
1. Aufnahme 25. 5. 20 bis 28. 10. 20.
2. Aufnahme 30. 5. 21 bis 17. 9. 21.
8. Aufnahme 4. 3. 22.
25. 5. 20. Bei der Aufnahme sehr erregt, schimpft auf seine Frau, seine
Sachen seien ihm gestohlen. Auf der Abteilung immer noch lebhaft, erregt.
Er sei schon immer so hitzig gewesen. Wenn er so erregt sei, müsse er etwas
zerschlagen, danach sei es dann besser, es tue ihm dann sehr leid, er weine,
sei mehrmals wegen Schlägerei bestraft. Wenn jetzt Frau hier sei, hätte er
sie verhauen, um ruhig zu werden. Man dürfe ihn auch nicht festhalten,
sonst tobe er. „Da kommt mir’s nicht drauf an, und wenn ich meine Mutter
erstechen sollte“.
Mehrere Strafen wegen Einbruchsdiebstahls, bis 18 Monate Gefängnis.
Sei jahrelang Ludewig gewesen, habe dabei das Messerstechen und Revolver-
schiefien gelernt.
1915 ins Feld, bald in franz. Gefangenschaft. Dort die meiste Zeit
Arreststrafen, „weil er so frech gewesen sei“. Darum erst jetzt aus Ge¬
fangenschaft zurück (vor 9 Wochen). Für den Schaden, den er durch seine
jetzige Arbeitslosigkeit habe, werde er von der Frau Rente verlangen. Wenn
er sie nicht bekomme, werde er sich austoben, einbrechen, jeden über den
Haufen schießen, oder sich ihm in den Weg stellen.
Redet in rohen Ausdrücken Uber einen Pat. im Nebenbett (Paralyse).
Der sei doch nicht mehr zu heilen. Der solle man ein paar reinkriegen, daß
er weg sei. Als man darauf einzugehen versucht, was er doch für ein
jämmerliches Leben hinter sich habe, fängt er an zu weinen, wendet Bich ab,
versteckt das Gesicht in die Hände.
26. 5. 20. Körperlich: klein, mäßiger Ernährungszustand, zarter
Knochenbau.
80
Pup. mittelweit, rund, 1. Spur enger als r., L. R. und C. R. gut. Horn¬
hauttrübung links (mit 6—7 Jahren Augenkrankheit bis zum 10. Lebensjahr).
Pat. und Ach. Refl. mittelstark, r. —. Keine patholog. Zehenreflexe
Keine Lust zur Arbeit, könne nicht 8 Stunden ruhig sitzen. Wolle handeln
mit Wäsche etc., abends als Artist auftreten.
Mutter leide an Kopfschmerzen, 8—4 Tage lang, auch er habe darunter
zu leiden, aber nur 10—20 Minuten lang. Er ärgere sich sehr leicht, lege sich
dann hin. Vater sei ein ruhiger Mensch.
Frühere Krankheiten: Einmal eiterndes Geschwür am Glied („wird wohl
weicher Schanker gewesen sein“). Besinnt sich gut auf Vorgänge vor der
Aufnahme, insbesondere auf seine Erregung.
* Erregung läßt jetzt nach.
1. 6. 20. Schreibt viel, erregt. Will Musik hören. Habe durch seinen
Aufenthalt hier große pekuniäre Verluste.
2. 6. 20. Vor 10 Jahren Syphilis, Spritzen, Schmierkur. Quecksilberbäder.
Im Kriege Tripper, weichen Schanker. Beim Militär Ehrlich-H&ta,
Schmierkuren. Letzte Kur vor 2—3 Jahren. Angaben sind verschwommen,
unsicher, Rededrang. Wassermann stark pos.
Angaben der Ehefrau: Kennt ihn seit 11 Jahren, seit 3 Jahren verhei¬
ratet. Nach Rückkehr aus Gefangenschaft verändert: erzählte alles doppelt,
aggressiv gegen Frau und Mutter. Seit 4 Wochen Verschlimmerung, wollte
alles in Brand stecken, zerschlug Möbel, sprach dauernd von Geld, verkaufte
Sachen.
3 Kinder: 1. gest., Herzlähraung, J4 Jahr, 2. gest.. Influenza, \V% Jahr.
3. 5 Jahre, kränklich, schwächlich, kein Ausschlag.
Infektion (eigene) negiert. Familienanamnese o. B.
3. 6. 20. Lumbalpunktion: Ph. I. Trübung, sehr starke Lymphozytose.
Wa. 0,8 -f* + + +♦ 0,4 -4- + + +, 0,2 -f “(■ + •
19. 6. 20. Stimmung wechselnd, leicht beeinflußbar, auch in seinem
Gedankengang. Rededrang. Er verdiene in 1 Min. 5 Millionen. Kritiklos,
sprunghaft.
20. 7. 20. Neigt zu Schlägereien, schimpft erregt, weint mitunter.
28. 8. 20. Dauernd starker Rededrang und motorische Unruhe. Ver¬
wertet alle Vorgänge in seiner Umgebung ideenflüchtig. „Ich bin auch
Arzt . . . Kaltwasserkur . . . psychische Behandlung“. Springt zum
Französischen über.
25. 9. 20. Ruhiger, bittet nur gelegentlich entlassen zu werden, oder
um eine Zigarette.
8. 10. 20. Gute Angaben über Vorgeschichte, Rechen- und Merkfähig-
keit nicht wesentlich gestört. Über Umgebung recht gut orientiert. Immer
lustiger Mensch gewesen, habe andere mitgerissen, nie verzagt gewesen. —
Über depressive Phasen vor der Aufnahme nichts zu erfahren. Lebhaft, ge¬
sprächig, ausdrucksvolle Mimik und Gesten. Ideenflüchtige Reden. Affekt
jetzt gleichmäßig euphorisch. Keine Sprachstörung. Keine Größenideen.
12. 10. 20. Bei Exploration noch Neigung zu Erregungszuständen.
13. 10. 20. Blutentnahme. Wassermann stark pos. Lumbalpunktion:
5 ccm klar, Ph. I. Opaleszenz. Sehr starke Lymphozytose. Wa. 0,8 + + + +
0,4+ + + +
0,2 + + + +
81
20. 10. 20. Klagen über Kopfschmerzen, will entlassen werden. Wisse,
was ihm fehle, lasse sich nichts vormachen. Blieb im Bett, fühlte sich
nicht gut
28. 10. 20. Drängt heraus, begründet dies in verständiger Weise. Dauernd
Neigung zu erregter Stimmung.
Entlassen. Therapie: Neosalvarsan.
2. Aufnahme .
81. ö. 21. Mürrisch-depressiver Gesichtsausdruck, antwortet nicht, be¬
folgt Aufforderungen nur auf energische Ansprache.
1. 6. 21. Lumbalpunktion: 4 ccm klar. Keine Druckveränderung. Ph. II
leichte, aber deutl. Trübung, starke Lymphozytose, Wa. stark pos.
Noch depressiver Stimmung, gibt wohl Auskunft, Gesichtsausdruck leer.
Muß mehrmals gefragt werden. Befolgt Aufforderungen zögernd, bleibt ratlos
stehen. Ißt allein, nimmt dabei unbequeme Haltungen ein.
3. 6. 21. Pat. macht zuckende Bewegungen mit dem Oberkörper nach
vorn, hebt dann die Arme hoch über den Kopf, beugt den Rumpf nach links
vorwärts, bis der Kopf auf dem Bettrand liegt, die Arme aus dem Bett nach
unten gestreckt. Augen halb geöffnet, Blick geradeaus. Lichtreaktion —,
Zucken am ganzen Körper. Gesicht verzerrt, Kopf rot, Lippen geöffnet,
Zähne fest geschlossen, zeitweise Zähneknirschen. Nach 2 Min. löst sich der
Krampf. Pat. liegt schlaff. Bab. bds. vorhanden, Kornealrefl. träge. Reagiert
auf nichts.
4. 6. 21. Angaben der Ehefrau: Inzwischen immer etwas aufgeregt, hat
Frau aber nicht geschlagen. Vom 19. 11. 20 bis 13. 1. 21 gearbeitet, viel
Klagen über Kopf- und Magenschmerzen. Anfang Mai Verschlimmerung: lag
viel im Bett, beim Aufstehen Schwindel, sah schlecht aus. Übelkeit, kein
Erbrechen.
30. 5. Verstärktes Auftreten von Übelkeit, aß und trank nicht, schüttelte
nur mit dem Kopf. Keine Krämpfe, keine Erregung. Selbstvorwürfe wegen
der früheren sinnlosen Verkäufe.
10. 6. Öl. Kein Anfall mehr. Unverändert, spricht nicht. Steife unbe¬
queme Stellungen. Muß zum Essen angehalten werden, zum Austreten geführt'
werden. Läßt hin und wieder Urin unter sich.
13. 6. 21. Gibt an, es sei ihm bisher unmöglich gewesen, zu sprechen,
es falle ihm auch jetzt schwer. Weiß von dem epileptischen Anfall. Die
Anfälle begannen mit optischen Halluzinationen. Er Bah Schmetterlinge und
Spinnen durch das Krankenzimmer fliegen und wollte sie fangen, aber es
gelang nicht
Leichte artikulatorische Sprachstörung. Mitbewegungen im Gesicht.
8tark herabgesetzte Merkfähigkeit. Einfache Rechenaufgaben werden falsch
gelöst Spricht plötzlich nicht mehr, lächelt nur, sieht Ref. an, bewegt die
Zunge im Munde, kein Zungezeigen auf Aufforderung. — Vor der Exploration
lebhaft, heitere Mimik. „Mitunter kann ich nicht sprechen, als wenn ich die
Zunge nicht heben kann.“ Im Beginn der jetzigen Erkrankung „so verschwom¬
mene Töne“, wenn er etwas ansehe, verschwimme alles vor den Augen, könne
nach 3—4 Min. überhaupt nichts mehr sehen. Manchmal heftige Kopf¬
schmerzen l 1 /* bis 2 Tage. Sei hier in anderen Räumen gewesen, könne sie
sich gar nicht so recht vorstellen, „es sei wohl Wald gewesen“. „Da oben
war ich wohl 2 Tage.“
F a b r 11 i n ■ , Zur Klinik der nichtparaly tischen Luea-Psychosen. (Abhand]. H. 24) 6
82
14. 6. 21. Apathischer Zustand. Liegt steif mit abgehobenem Kopf im
Bett Widerstand gegen passive Bewegungen. Läßt Urin ins Bett. Nahrung
muß in den Mund geführt werden.
27. 7. 21. Dauernd katatones Bild. Mutazistisch.
17. 8. 21. Lebhaftere Mimik, antwortet auf Fragen.
24. 8. 21. Katatones Bild weniger ausgesprochen. AffektloBer Gesichta-
ausdruck. Bewegungsarmut. Keine optischen und akustischen Halluzina¬
tionen. Er fühle sich in seinem Denken völlig frei, die Stimmung sei gut
Rechen- und Merkfähigkeit gut. Keine artikulatorischen Sprachstörungen.
14. 9. 21. Gut orientiert über Ort, Zeit, Person, Wohnung. Gute Stim¬
mung. Gute Intelligenz.
Fühlt sich gesund bis auf die Lues, die wohl nicht heilbar sei; geistes¬
krank sei er nicht gewesen, vielleicht nervös. Sinnestäuschungen habe er
nicht gehabt Sei mal aufgeregt, wie jeder andere auch.
Körperlich: Ach. Sehnenreflexe bds. nicht sicher auszulösen. Lumbal¬
punktion: 6 ccm wasserklarer Liquor entnommen. Vermehrter Druck. Blut¬
entnahme. Wa. neg. Liq. wie früher. Ph. I. Opaleszenz. Starke Lympho¬
zytose. Wa. stark positiv.
17. fl. 21. Die Affektsteifheit ist noch nicht völlig abgeklungen, Be¬
wegungsarmut, jedoch weitere Neigung zum Abklingen. Außer der Affekt¬
stumpfheit besteht zur Zeit leichte Beeinflußbarkeit und Andeutung von
Negativismus. Gibt einsilbige Antworten. Neurologisch o. B. Als gebessert
entlassen.
3. Aufnahme.
Angaben der Ehefrau: Seit Entlassung vollkommen geordnet, auffallend
eitel. Fing an, Ende Jan. sehr zu trinken, klagte über starke Kopfschmerzen.
Ließ häufig Urin in die Hosen. Erkennt Arzt und Pfleger wieder.
Somatisch: Pup. r. > 1., Reaktion auf L. und C. -f. Links Kornea
wolkig getrübt in Zentren. Ach. Refl. —. Keine pathologischen Reflexe.
8timmung8lage heiter.
9. 8. Vollkommen ruhig, verlangt lächelnd seine Entlassung.
18. 8. Läßt in wachem Zustand Urin ins Bett. Dauernd gleichgültig
heiter — lächelnd.
18. 4. Starke Hyperkinese. Dauernd rhythmische Bewegungen, schlägt
in monotoner Weise die Hände um die Brust. Gesichtsausdruck starr, keine
affektiven Veränderungen.
2. 5. Hyperkinetischer Zustand hält an. Dabei stark ideenflüchtig. Stim¬
mung leicht gehoben. Größenideen.
12. 5. Ausgesprochen ideenflüchtig. Bewegungsunruhe außerhalb des
Bettes gesteigert, Bewegungen zeigen eine gewisse Monotonie. Affektlage
ziemlich indifferent, gelegentlich auch Äußerungen mit sinnlosen Größenideen.
Keinerlei Krankheitsgefühl.
25. 6. Unverändertes Bild. Dauernd starker Bewegungsdrang. Schlägt
andere Patienten. Starker ideenflüchtiger Rededrang, greift alle Begeben¬
heiten um sich herum auf.
26. 7. Die Hyperkinese ist in den letzten Tagen erheblich abgeklungen,
fast frei von psychomotorischen Störungen. In den letzten Wochen mehr¬
mals Äußerungen, er sei hier vergiftet worden, habe keine richtigen Salvar-
sanspritzen bekommen, die Injektionsflüssigkeit sei so komisch gefärbt. Auch
das Essen habe komisch bitter geschmeckt, — Stimmungslage euphorisch,
ausgesprochener als zur Zeit der abgeklungenen psychomotorischen Störungen.
Tdeenflucht, Rededrang, der sich im Verlaufe der Untersuchung steigert.
Lebhafte Affektäußerungen, dabei behält aber der Gesichtsausdruck eine
gewisse Starrheit und Steifheit. — Phantastische Größenideen, verspricht
Millionen. Kein eigentliches Krankheitsgefühl, ,.nur etwas aufgeregt“. Sitzt
nicht still, sehr ablenkbar. Keine paralytische Demenz. Grobe Störung der
Aufmerksamkeit, offenbar keine Rechenstörungen und Merkfähigkeitsdefekte.
Augenhintergrund: rechts wahrscheinlich beginnende Atrophie, links
ebenso, aber wegen Iristrübungen nicht sicher zu erkennen.
Achillesrefiexe fehlen.
18. 10. 22. Drängt in den letzten Wochen sehr auf Entlassung. Auf der
Station wechselnd, oft humorvoll, oft sehr gereizt. Interessiert sich für alles.
Großideen; drängt heraus, kommt wieder darauf zurück.
26. 10. 22. Lumbalpunktion: 5 ccm klarer Liquor unter sehr verstärktem
Druck. Blut Wa. R. negativ. Liquor starke Eiweiß- und Zellenvermehrung.
Wa. R. positiv.
5. 12. 22. Im allgemeinen ruhig. Drängt nicht heraus, hält sich aber
völlig gesund. Zeitlich und örtlich genau orientiert. Er sei hier das Ziel
von Austragungen, Beobachtungen, man wolle ihn aushorchen. Die Frau habe
ihn betiogen. Die Affektlage ist im allgemeinen stärkeren Schwankungen
nicht mehr unterworfen. Stimmung jetzt ziemlich gleichmäßig, nur hin und
wieder kurze ärgerliche Äußerungen. Fühlt sich gesund, hat an seiner Situa¬
tion, am Essen etc., nichts auszusetzen. Große Zukunftspläne, leicht ablenk¬
bar. Keine Sprachstörung.
23. 12. Erregt, gereizt, verlangte seine Entlassung, schlug Mitpatienten.
13. 4. 23. Drängt heraus, lasse sich nicht aushorchen. Müsse für Frau
und Kinder sorgen „als gesunder Mann“. Eine geordnete Unterhaltung ist
seit den letzten Wochen unmöglich. Pat. gibt sich wohl Mühe, wird aber
wieder sehr bald erregt. Könne sich seine Lues allein kurieren. Mißtrauisch
gegen andere Patienten. Recht gute Orientierung. Beteiligt sich an der
Fütterung. Ist sehr eitel.
18. 4. 23. Sehr ängstlich, berichtet von Männern mit Revolvern und
Kanonen. Näheres ist nicht zu erfahren. Geht unruhig auf und ab, spricht
von seinen Taten, seinen Reisen. Die motorische Unruhe steigert sich. Läßt
«ich im Rede- und Bewegungsdrang nicht unterbrechen. Bittet um Beruhi-
gungsmittel.
19. 4. 23. Ruhiger. Beobachtet gut, besonders neu aufgenommene Pa¬
tienten. Im übrigen entwickelt er dieselben Ideen wie früher.
22. 5. Liegt auf dem Bauche oder zusammengekauert ohne ITemd, die
Decke über den Kopf gezogen. Kümmert sich um nichts, spricht dauernd vor
sich hin. Läßt sich auch durch Fragen nicht von seinem Rededrang ab¬
bringen. Dieser ist inhaltlich völlig unzusammenhängend, ohne besondere
Betonung. Motorische Unruhe, jedoch nicht aggressiv. Nahrungsaufnahme
schlecht, muß gefüttert werden, läßt ab und zu unter sich. Offenbar gehobene
Stimmung8lage, mitunter Andeutung von Größenideen.
26. 6. Bis gestern das gleiche Verhalten. Häufig stark erregt, schlug um
eich. Läßt unter sich. Stark abgemagert Auf dem Abort wurden krampf¬
hafte Zuckungen der Extremitäten mit geringen Exkursionen beobachtet
6 *
84
Dauer 2—4 Minuten. Gestern nachm, plötzliches Abklingen der Hyperkinese
and des Rededrangs. Ißt allein. Beklagt sich heute über andere Patienten,
wird dabei wieder erregt, muß in Packung gelegt werden. Örtlich gut orien¬
tiert, zeitlich mangelhaft Hält sich für klug. Sprache heiser, undeutlich,
schwer zu prüfen, ob artikulatorische Störung. Plötzlich weinerlich.
Zusammenfassung.
Fall 19. 30jähriger Arbeiter. Immer ein äußerst heftiger,
erregbarer, rücksichtsloser (offenbar minderwertiger) Mensch, der
mehrmals bestraft worden war. 1915 ins Feld, bald in französische
Gefangenschaft, wo die meiste Zeit Arreststrafen, „weil frech“.
Syphilis mit 20 Jahren. Mehrmals Geschwüre (weicher Schanker)
am Gliede.
25. 5. 20 bis 28. 10. 20 in der CharitA Sehr erregt, gewaltsam,
leicht beeinflußbar, Rededrang und motorische Unruhe. Ideen¬
flüchtig. Orientierung gut. Rechen- und Merkfähigkeit nicht gestört.
N. S. o. B. Wa. R. in Bl. und Liq. stark pos. Entl. Gearbeitet.
30. 5. 21 bis 17. 9. 21 wieder in der Charite. Mürrisch-depres¬
siv. Folgt Aufforderungen zögernd. 3. 6. 21 Krampfanfall. Später
apathisch, katatones Bild. Mutacistisch, affektlos. Besserung. Gute
Orientierung. Gute Intelligenz. Läßt hin und wieder Urin unter sieb.
Wa. R. in Bl. und Liq. stark pos. Gebessert entlassen, voll¬
kommen geordnet.
4. 3. 22 bis Juli 23. Erregt, motorische Unruhe. Stereotype,
rhythmische Bewegungen. Stimmung leicht gehoben. Phantastische
Größenideen. Rededrang, ideenflüchtig. Keine paralytische Demenz.
Keine Merkfähigkeitsdefekte. Später flüchtige, schwachsinnige
Wahnideen.
Während der jetzt mehr als 3jährigen Krankheit können wir
3 verschiedene Schübe unterscheiden. Zuerst eine erregte manische
Phase mit sehr starken Affektausbrüchen, die gut verständlich er¬
scheint, wenn man den gewaltsamen unruhigen und rohen Charakter
des Kranken berücksichtigt.
Sodann nach etwa 6 Monaten eine gehemmte Phase gemischt
mit katatonen Zügen.
Dann zuletzt — wiederum nach 5—6 Monaten — eine erregte
Phase, die bis jetzt also fast 1% Jahre besteht und die allem Anschein
nach mit dem Tode enden wird.
Wiederum stehen wir vor der Frage: Luespsychose oder Para¬
lyse? Daß die Lues die causa mali ist, braucht wohl nicht be¬
zweifelt zu werden, da sämtliche Reaktionen trotz energischer Be¬
handlung immerfort äußerst stark positiv geblieben sind. Rein
85
klinisch sah der erste Schub typisch manisch aus, dann sind die
Bilder unreiner, verwischter, zudem kommen noch Anfälle, die wohl
am meisten den paralytischen ähneln.
Soviel ist sicher, daß wir vor einer luetisch bedingten Psychose
stehen, die innerhalb 3%—4 Jahren zu geistigem Siechtum geführt
haben würde.
Den folgenden Fall habe ich in Helsingfors beobachtet.
Fall 20. Chauffeur, 25 Jahre. Immer gesund, energischer, tüchtiger
Chauffeur, der in kurzer Zeit viel Geld verdient. Vor ca. 4 x j* Jahren Lues.
Bereits vor l 1 / 1 Jahr (Winter 1918), ateo 3 Jahre nach der luetischen In¬
fektion schien es Pat„ „daß alles nicht ganz wie früher war u . Im Sommer
und Herbst ging es ihm wieder gut. Ende 1918 wurde es wieder schlechter.
Pat. wurde stumpf und interesselos und das Gedächtnis nahm ab. Das Ar¬
beiten wurde ihm unmöglich, obwohl er sich alle Mühe gab. Außerdem wurde
er von einem schweren, früher nie gekannten Angstgefühl geplagt.
Er wurde nun in ein Krankenhaus aufgenommen, und dort unter der
Diagnose „Neurasthenie“ 2 Monate gepflegt
Nach seiner Entlassung war der Zustand nicht besser, weshalb er bald
wieder Aufnahme in einem Krankenhaus (Dr. H. Fabritius) fand.
Status April 1919.
Mittelkräftiger Mann. N. S. o. B. R. Pup. Spur > 1., reagieren beide
aber entschieden etwas träge.
Psychisch macht Pat. einen intelligenten Eindruck. Keine Intelligenz¬
störung. Klagt über schwere Kopfschmerzen und vor allem über eine
schwere Depression. „Die Gedanken stehen still“, „ich kann nicht mehr
denken“, „aus mir wird nichts“, ubw. Stimmung nie indifferent, sondern
immer sozusagen positiv, deprimiert.
Wa. R. im Blut —■, Liq. klar, Ph. I. —, Wa. R. schwach pos. Bekommt
Ung. ein. Gebessert entlassen.
2. 2. 20 bis 26. 5. 20. Wieder aufgenommen. Hat fast das ganze Jahr
arbeiten können. Erkrankte an Grippe 3. 1. 20. Seitdem müde, niederge¬
schlagen, schläft schlecht. Wünscht wieder Krankenhausaufnahrae, „weil die
Stimmung so gedrückt sei“. Wa. R. im Blut —. Rechte Pupille > 1., reagiert
sehr schlecht Sprache völlig intakt. Deutlich gehemmt, antwortet ab und zu
gar nicht Äußerst niedergeschlagen, gedrückt, klagt, „daß aus ihm nichts
mehr wird“.
Auf Wunsch der Eltern entlassen. Lebte auf dem Lande und wurde ein
bischen besser, so daß er im Herbst 1920 und Frühjahr 1921 als Chauffeur
an der Post angestellt werden konnte. Heiratete sogar im Sommer 21.
Im Herbst 21 wurde er aber wieder so schwer verstimmt, daß er Selbst¬
mordgedanken äußerte, und im städt. Krankenhaus Stengard zu Helsingfors
aufgenommen werden mußte (Dez. 21). Hier ist er seitdem geblieben. War
anfangs schlaflos, gehemmt und deprimiert. Wurde aber allmählich immer
gleichgültiger und dementer.
Aug. 1923 konnte ich ihn untersuchen. Er ist körperlich gesund und
arbeitete draußen. Geistig liegt aber ein hochgradiger Schwachsinn vor.
Sprache schmierend, lichtstarre Pupillen.
86
Wa. Rea. im Bl. stark pos., Liq. nicht ganz klar, Wa. R. -}- -f + -,
Ph. I. -f- +, Pandy -j—f- +, Pleozytose 34, Zellen in mm'.
Zusammenfassung.
Fall 20. 25jähr. Chauffeur. Früher gesund, tüchtig und ener¬
gisch. Lues mit 21 Jahren (1915). Etwa 3 Jahre später leicht
verstimmt, konnte aber arbeiten. Noch 1 Jahr später mußte er aber
Aufnahme in einem Krankenhaus suchen, da er stumpf und interesse¬
los wurde. Außerdem wurde er von einem schweren Angstgefühl
gedrückt. Dieser Schub dauerte etwa 6 Monate. Pat. war typisch
gehemmt, Affektlage ununterbrochen schwer depressiv, angstvoll
„die Gedanken laufen nicht“, „ich war früher immer so hoffnungs¬
voll“, „wie könnte ich froher werden?“ wiederholte er oft. Intelli¬
genz gut. Somatisch ist die r. Pupille > 1, reagieren beide träge.
Wa. R. im Blut —, im Liq. ganz schwach pos. Ph. I. —
Im Herbst 1919 Besserung nach Schmierkur. Im Februar 20
wiederum im Krankenhaus. Typisch depressiv mit Hemmung und
Selbstmordgedanken, da „aus ihm doch nichts werde“.
Im Herbst 1920 und Frühjahr 21 bedeutende Besserung. Ende 21
wieder schwere Depression. Pat. wird in ein Irrenhaus aufgenommen.
Hier entwickelt sich allmählich ein Zustand, der klinisch als ein»
Paralyse bezeichnet werden muß. Sämtliche Reaktionen äußerst
stark pos.
Der Fall ist außerordentlich interessant. Bei dem energischen,
früher ganz gesunden jungen Manne bildete sich etwa 4 Jahre nach
der luetischen Infektion ein typisches, reines depressives Zustands¬
bild heraus, dem sich im Laufe der zwei folgenden Jahre 2 völlig
ähnliche Schübe anschlossen. Der letzte ging dann in einen Demenz¬
zustand über, der klinisch völlig einer Paralyse entspricht
Beim ersten Schube lag wohl sicher keine Paralyse vor. Die
Intelligenz war entschieden gut. Wa. R. im Blut —, im Liq. nur
sehr schwach pos. Auf dem Boden der luetischen Prozesse bildet
sich nun die Paralyse aus. Oder sollen wir sie als eine neue Krank¬
heit auffassen? Bemerkenswert ist auch der lange Verlauf, der
jetzt 4y 2 Jahre gedauert und wahrscheinlich noch recht lange dauern
wird, da Pat. körperlich rüstig und sogar arbeitsfähig ist.
Die folgenden drei Fälle zeigen ein von dem obigen abweichen¬
des Verhalten insofern, als das Krankheitsbild stark katatone Züge
aufweist.
F a 11 21. P. H., 85 Jahre. Buchhalter. Aufgen. 7. 11. 21, entl. 23. 3. 22.
Diagnose: Katatonie (Luespsychose).
7. 11. 21. Am 1. Zeigefinger eine kleine frische Wunde. Auf Fragen ant-
87
wortet Pat. nicht. Wurde vom Arzt draußen eingewiesen, ging ohne Wider¬
streben mit Begleiter mit. — Plötzliche Bewegungen und Stellungsänderungen,
steht stramm, sieht starr an die Decke. Gesichtsausdruck ratlos, erregt.
Somatisch: Innere Organe o. B., r.-seitiger Leistenbruch. Riß am
L Zeigefinger. Pup. oval-eckig. L. R. r. normal, 1. schwach. C. R. bds.
normal.
Augenbew. frei, kein Nystagmus. Fundus: z. Zt. nicht prüfbar.
10. 11. 21. Auf vorderer Linsenkapsel ein kleines Pigmentfleckchen, bei
weiter Pupille tauchen noch mehrere darunter auf. R.: normal. Die bds. Ent¬
rundung der Pup. ist nicht lokaler Natur (spezialärztl. Augenbefund).
Fazialis wird vom Pat. nicht innerviert, in Ruhe o. B. Zunge: Wird
nicht herausgestreckt.
Reflexe an ob. und unt. Extr. normal. Tonus schlaff. Keine sicheren
pathologischen Reflexe. Blut — Wa. pos., Liq. pos. Wa. Rea. Eiweiß Ver¬
mehrung, starke Lymphozytose.
Psychisch: Setzt sich ruhig hin, spricht nicht, führt Aufforderungen zu¬
nächst nicht aus. Zieht sich dann aus. Zeigt auf seinen Leistenbruch, deutet
an, daß etwas mit dem Auto vorgefallen sei, nicht herauszubekommen, was
vorgefallen ist. — Reagiert wahllos auf einige Äußerungen, auf andere nicht,
versteht alles, reagiert nicht. Auf Nadelstiche (ziemlich starke) keine Reak¬
tion, beim Versuch in die Augen zu stechen, geht er zurück. Gelegentlich
einige Worte bei Schilderung des Autounfalls durch Gesten „So!“ (macht eine
kräftige Bewegung). Sagt „kalt“, gibt zu verstehen, daß er sich ankleiden
will. Zieht sich dann auf Aufforderung wieder aus. Verlangt dann seine
eigenen Sachen, will sich nicht mehr untersuchen lassen, Arzt wollte ihn um¬
bringen. Drängt heraus. Zieht Hemd nicht an, geht nackt zu Bett, will er¬
brechen. Verweigert die Suppe. Auf schriftliche Aufforderung keine Reak¬
tion, ist selbst nicht zum Schreiben zu bewegen.
8. 11. 21. Angaben des Stiefvaters: Nichte der Mutter des Pat. geistes¬
krank nach Gravidität, deswegen in Anstalt. 1 Neffe (Sohn einer anderen
Schwester der Mutter) „Verfolgungswahn“. Pat. als Kind: Masern, Scharlach,
Gelbsucht, Lungenentzündung. Keine Besonderheiten in der Kindheit. Ver¬
ließ die Schule kurz vor dem Einjährigen, 8—9 Jahre kaufmännisch tätig,
dann beim Stiefvater im Geschäft. Bis 1915 sehr fleißig. Dann in Ruderklub
eingetreten, vornehme Gesellschaft aufgesucht. Auto gekauft. 1915 einge¬
zogen. Kraftfahrer, Luftschiffer. Als Pat. 1918 auf Urlaub kam, fiel er
durch vieles Sprechen auf, sprach auch unglaubwürdiges Zeug, rühmte seine
Heldentaten. Nach Kriegsende — nach einer kleinen Ruhepause — wieder im
Geschäft tätig. Wollte eigenes Geschäft kaufen, deswegen heftige Ausein¬
andersetzungen mit Ref. Wollte sich erschießen. Darauf Krampfanfall: fiel
steif zu Boden, Bewußtsein scheinbar erhalten. Fuhr dann tägl. im Wagen
spazieren, schrieb Briefe an den Kaiser, kaufte sich ein Eisernes Kreuz.
Anstaltsaufenthalt bis August 19, ziemlich normal. Immer ängstlich, schweig¬
sam, menschenscheu, sprach zeitweise wieder sehr viel. Mai 20 Erregungs¬
zustand, suchte selbst Sanatorium auf, dort bis Juli 20. Dann wieder im Ge¬
schäft tätig. Erzählte gestern, Blut sei angesteckt. Sprach seit 14 Tagen
wieder viel. Schlaf und Appetit gut, letzte Nacht schlecht geschlafen. Er¬
zählte etwas, fing plötzlich an zu weinen. Wollte zur Polizei gehen, alle
guckten auf ihn wegen der Ruderklubangelegenheit (?).
88
9. 11. Spricht zusammenhanglos. „Ich bin ein Objekt der Medizin“ etc.
Viele Gestikulationen. Hebt die Hand zum Schwur etc. Beim Essen beißt er
schnell ein Stück ab, stützt den Kopf in die Hände. Setzt sich auf Aufforde¬
rung nicht hin, bleibt barfuß im Zimmer stehen. Ängstlich gehemmter
Gesichtsausdruck, blickt auf den Fußboden, hält eine Hand vor das Auge,
sieht die Tür aufmerksam an. Schüttelt verzweifelt den Kopf, bleibt in ge¬
hemmter Stellung stehen: „Es wird ein Höherer jetzt entscheiden, was von mir
aus — Unrecht und Recht entscheidet.“ „Es liegt in meinem Glauben, daß
links — rechts.“ Nimmt plötzlich stramme Haltung an, betrachtet aufmerksam
einen im Zimmer hängenden Rock. Nickt. (Wo hier?) „Stehn in höherer
Gewalt der Gerechtigkeit.“ „Ich bin das Experiment vom Ausland, weil hier
auf dem, was bei mir liegt, sicher zu spät — oder.“
Spricht immer erst nach mehrfacher Aufmunterung, wenig spontan.
10. 11. 21. Meist mutistisch. Spricht mitunter eine Zeitlang, hört abrup\
wieder auf. Über die Motive des Schweigens unsichere Angaben, „darf ich
denn reden?“ „Reden ist Silber, Schweigen ist Gold.“ Spricht in zerfahrener
Weise, mitunter zornmütig. Drängt hinaus. Manchen Äußerungen ist zu
entnehmen, daß Pat. Krankheitsgefühl hat.
Nahrungsverweigerung. Abweisend bei der körperlichen Untersuchung.
Temperatur 38,2 (ohne erkennbare Ursache). Zerfahren, lief nackt umher,
erregt Spricht von geschlechtlicher Infektion, die man an dön Augen erkenne.
Keine Anzeichen für Halluzinationen. Äußerungen religiösen Inhalts.
17. 11. Spricht unzusammenhängende Sätze. Weint. Vielleicht etwas
unsicher in der Artikulation bei schweren Paradigmen. Merkfähigkeit stark
herabgesetzt Spricht zusammenhanglos über Rudererlebnisse.
18. 11. Das Essen von zu Hause sei vergiftet, hier nicht „Es liegt noch
einer hier, der auch ich ist“
22. 11. Nahrungsaufnahme gut Immer derselbe Rededrang. Spricht
von Reminiszenzen aus seinem Leben.
26. 11. Ängstlich, fürchtet zu sterben, sei Versuchsobjekt
3. 12. Meist mutistisch oder kurze Äußerungen: depressiven oder para¬
noischen Inhalts. Nahrungsverweigerung, sein Magen sei gefüllt, es gehe
nichts mehr hinein“.
24. 12. Meist mutazistisch: liegt ausgestreckt auf dem Rücken in ge¬
spannter Haltung mit gespanntem Gesicht. Meist abgehobener Kopf.
12. 1. 22. Abduzensparese links.
14. 1. Immer gleiches Verhalten.
19. 1. Möchte aufstehen. Im Saal werde über ihn gesprochen, aus der
Zeitung über ihn vorgelesen.
Zuerst habe er Angst gehabt, geglaubt, daß er bestohlen worden sei.
Eltern hätten ihn beruhigt. Ideenflüchtig, spricht halblaut, wenig Mimik.
23. 2. Körperliches Wohlbefinden. Liest die Zeitung. Krankheitsein¬
sicht. Spricht geordnet über Bein Vorleben. Faßt manchmal Fragen schwer
auf, wiederholt auffällig das Wort: „nicht wähl?“. Auf Fragen richtige
Antworten, und zwar ausführlich. Kein Silbenstolpern.
Pup. r. > 1., längs-oval verzogen, L. R. und C. R. normal. Augen¬
bewegungen: r. nach oben, unten und zur Mitte ausgiebig, nach außen wird
der äußere Lidwinkel .nicht vollkommen erreicht. L. Auge steht fixiert im
Augenwinkel, Bewegung nach oben und unten wenig eingeschränkt, nach
89
außen fast gleich 0, (nach außen wird die Mittellinie nicht ganz erreicht).
Pat. Refl. r. > L +, sonstige Refl. +• Oppenheimer r. pos., 1. — Sensibili¬
tät o. B. Therapie: Schmierkur. Neo-Salvarsan.
7. 3. 22. Klagt Uber Druck im Kopf, wie Fett, führt es auf die Schmier
kur zurück. Will nicht im Bett bleiben, sich nicht schmieren lassen.
20. 8. Auffällig dio schnelle, in der Betonung einförmige Redeweise.
22. 3. Geordnet. Keine Klagen.
23. 3. Entlassen.
Pat. in Dalldorf 2. 5. 19 bis 9. 7. 19. Diagnose: progr. Paralyse, und vom
20 5. 22 bis 11. 6. 23 (W. R. im Blut —(- + +' im Liq. sämtliche Reak¬
tionen + r 4- -f-, Paralyse. Goldsool +.
Zusammenfassung.
Fall 21. Diagnose: Katatonie (Luespsychose).
35jähr. Buchhalter. Eine Nichte der Mutter geisteskrank, in
einer Anstalt, ein Neffe „Verfolgungswahn“. Pat. gesund, immer
scheu, schweigsam, Lues nicht bekannt. 1915 (Pat. war 29 Jahre)
fiel auf, daß Pat. vornehme Gesellschaft aufsuchte, kaufte Auto.
Dann 3 Jahre im Kriege als Luftschiffer. Ende 1918: Sprach viel
Unglaubwürdiges, wollte eigenes Geschäft kaufen, rühmte seine
Heldentaten, kaufte Eisernes Kreuz, schrieb Briefe an den Kaiser.
Einmal Krampfanfall, Bewußtsein schien erhalten. Anstaltsaufent¬
halt Dalldorf 2. 5. bis 9. 7. 19 nötig. Mai/Juli 20 wieder in Anstalt
wegen Erregungszustandes. Dann im Geschäft tätig bis Ende Okt.
21. Sprach wieder viel, sonderbares Benehmen, weinte plötzlich,
wollte zur Polizei, alle guckten auf ihn.
7. 11. 21 bis 23. 3. 22 in der CharitA Spricht zusammenhanglos,
zerfahren, absonderliche Bewegungen, hebt die Hand zum Schwur,
beißt beim Essen schnell ein Stück ab, stützt den Kopf in die
Hände. Plötzliche Bewegungs- und Stellungsveränderungen. Ge¬
sichtsausdruck ratlos, erregt, ängstlich. Deutliche Ambivalens-
erscheinungen: „es wird ein Höherer jetzt entscheiden, was von mir
aus — Unrecht und Recht — entscheidet“. „Es liegt in meinem
Glauben, daß links — rechts“. Später mutatistisch, Nahrungsver¬
weigerung. Keine Halluzinationen. Merkfähigkeit stark herabgesetzt.
Spricht zusammenhanglos.
Somatisch: Pup. oval-eckig. L. R. r. normal, 1. schwach, sonst
o. B. Wa. R. in Bl. und Liq. pos. Eiweißvermehrung, starke Lympho¬
zytose. — Später Abducensparese links. Juni 23. Laut Mitteilung
aus Dalldorf war Pat. aufgenommen in der Anstalt vom 2. 5. 19 bis
9. 7. 19. Diagnose: progr. Paralyse. Wiederaufgenommen: 2. 5. bis
11. 6. 23. W. R. im Blut stark pos., im Liq. sämtliche Reaktionen
stark pos. Goldsoolreaktion paralytisch. Diagnose: prog. Paralyse.
90
Der Verlauf zeigt uns also mehrere Schübe. Bereits 1915 war
Pat. vielleicht leicht manisch, Ende 1918 deutlich manisch erregt,
1919 wurde in einer Anstalt die Diagnose Paralyse gestellt. Remis¬
sion. 1920 wieder Erregungszustand. Dann ljähr. Remission, tätig
im Geschäft. 1921 bis 22 ausgesprochen katatones Zustandsbild.
1923 deutliche Paralyse.
Im ganzen also eine Krankheitsdauer von wenigstens 5 Jahren
— wenn wir nicht die ersten unsicheren Erscheinungen im Jahre 1915
mitzählen. Pat. lebt noch, entlassen aus dem Krankenhause.
Wie sollen wir nun die verschiedenen Schübe auf fassen? Am
einfachsten als Manifestationen einer Paralyse, wie man es bereits
1919 in Dalldorf tat. Dann kommt aber der eigenartige katatone
Schub!
F a 11 22. W. H., 37 Jahre, Arbeiter. Aufgen. 15. 2. 19, entl. 10. 6. 19.
Luespsychose.
Bei der Aufnahme beim Anskleiden Abwehrbewegungen, man solle nicht
so dicht herankommen, es stecke an. Ängstlich, antwortet unverständlich,
weil er den Mund voll Speichel hat. Könne den Speichel nicht herunter¬
schlucken, wolle ausspucken. Mutter sei früh gestorben, Vater aufgeregt,
jähzornig, früher viel getrunken. Als Junge wie andere. In der Schule
schlecht gelernt, habe auch keine Zeit zum Arbeiten gehabt. Nach der
Schulzeit auf dem Lande gewesen, dann Soldat, gern getanzt, lebhaft. Später
Geschäft des Vaters mit Bruder zusammen übernommen, sich mit diesem nicht
vertragen, da Bruder leichtsinnig war. Dann Molkerei gekauft. 1914 einge¬
zogen. 1915 Infektion. Gleich Spritzkur. Quecksilber sei nicht richtig
gespritzt worden, sei stecken geblieben, „war ganz verhärtet“. Wieder in9
Feld Mai 17. Mai 18 Bluterguß (Fußverstauchung). Blut sei neg. gewesen,
Okt. 18 pos. In Breslau Spritzkur gemacht. Seit 16 verheiratet, keine Kinder,
keine Fehlgeburten. Seit Dez. niedergeschlagen, weil er keine Arbeit hatte.
Pat. meint, er sei schwer krank, werde nie wieder gesund. Könne Wasser
nicht lassen, Urin rieche so stark, das ganze Haus rieche so, könne keinen
Menschen mehr herein lassen, wolle kein Brot essen, dann könne er nicht
austreten und die anderen könnten das nicht riechen. Könne gar nicht mehr
denken. Habe schon manchmal Gas brennen lassen, Gaßhahn offen gelassen,
Laufe an der Straße vorbei, in die er gehen wolle. Seit einiger Zeit starke
Kopfschmerzen. Zeitung könne er nicht mehr lesen, vergesse doch alles
gleich wieder. Beziehungsideen; könne sich nicht mehr unter solchen Men¬
schen sehen lassen, man wisse in der Gegend, wo er wohne, daß er krank
sei. Auch Frau werde sich von ihm scheiden lassen. Die Leute ständen
immer an den Fenstern, sähen ihm nach, hörten, wenn er in der Stube auf-
und abginge, auch die Polizei werde sich nach ihm erkundigen. Kleinheits-
Vorstellungen: passe nicht in die Gesellschaft, in die er hinein geheiratet habe,
das seien bessere Leute, Briefträger usw. Fürchte, alle Leute anzustecken,
wenn er einmal wohin gespuckt habe, habe Wasser darauf gegossen, sieb
dauernd die Hände gewaschen. Schlafen könne er auch nicht mehr, wache
immer auf, sehe nach der Uhr. Anscheinend keine Suizidgedanken. Spricht
91
leise, langsam, in allen Reaktionen deutlich gehemmt, Gedanken stark ein
geengt auf seine Krankheit, von seinem krankhaften Komplex kaum abzu¬
bringen, gibt wenig Auskunft über andere Dinge.
Von seiten des Nervensystems und der inneren Organe kein patholo¬
gischer Befund erhebbar.
17. 2. Wa. im Blut pos.
Angaben der Ehefrau: Am 20. 12. IS aus Heeresdienst entlassen. Im
Urlaub niemals eine Veränderung an dem Pat. bemerkt. Seit Rückkehr aus
dem Felde still, teilnahmslos, blieb ohne Beschäftigung zu Haus, war sehr
deprimiert darüber, daß er Geschäft und Geld verloren habe (Geschäft 1915
verkauft), machte wenig Anstrengung, eine neue Beschäftigung zu bekommen.
Die Erscheinungen nahmen in den letzten Wochen zu. Wahnvorstellungen
schildert Frau ebenso wie Pat. es tut. Kein Potus, von Infektion ist der
Frau nichts bekannt. Fehlgeburt, Frühjahr 18, im 3. Monat. Keine Kinder.
Jetzige Gravidität im 4. Monat In den letzten 9 Jahren keinerlei Verstim¬
mung bei Pat. aufgefallen.
18. 2. Sitzt teilnahmslos mit gedrücktem Gesichtsausdruck da, gibt sehr
langsam Auskunft. Krankhafte Eigenbeziehung.
19. 2. Objektive Anamnese (Schwester). Keine Nerven- oder Geistes¬
krankheiten in der Familie. In der Kindheit nichts Auffälliges. Freundlicher,
lebhafter, sparsamer Mensch, nie betrunken. Regte sich wohl über geschäft¬
liche Angelegenheiten auf, jedoch keine längeren Verstimmungen.
19. 2. Lumbalpunktion: Liq. klar, mikroskopisch mäßige Lympho¬
zytose. Wa. pos.
20. 2. Außer Erschwerung der psychomotorischen Funktion ein ausge¬
sprochener Negativismus. Preßt Arme fest an den Leib, läßt sie nicht weg¬
nehmen. Weder auf Fragen, noch spontan Äußerungen. Deutlich: Sinnes¬
täuschungen, Beziehungsideen (hört Schimpfereien von Pat.). Nahrungsauf¬
nahme erschwert.
21. 2. Liegt in unbequemer Lage auf dem r. Bettrand, hält den Kopf
oft minutenlang erhoben, der passiv hochgehobene Arm wird in der einge¬
nommenen Haltung fest gehalten. Habe nicht schlafen können, weil das Klosett
verstopft sei, heute solle er degradiert werden. Genauere Auskunft darüber
gibt er nicht. — Solle heute noch ins Zuchthaus, „ich soll falsche Angaben
gemacht haben“. Wüßte selbst von nichts. Zeigt jedoch weder Angst noch
Erregung deswegen. Auf Fragen meist zerfahrene, sinnlose Antworten. (Wie
geschlafen?) „Ich glaube, die Frau hat nicht mehr genug zu arbeiten, ich
muß wohl mal nach Hause gehen.“ Dann: er habe nicht schlafen können,
weil die Hähne gekräht hätten, und Frl. immer geklopft hätte (Nachtwache),
ßie habe Zeichen gemacht mit jemand, der im Untersuchungszimmer war. Ist
nicht imstande, anzugeben, inwiefern die Klosett Verstopfung mit seiner Schlaf¬
losigkeit in Zusammenhang stehe. Lehnt Sinnestäuschungen strikt ab, erzählt
dann, er habe seinen gefallenen Bruder auf seinem Bett sitzen sehen, als er
noch in Breslau beim Militär war. — Lächelt manchmal geheimnisvoll, scheint
Neigung zum Dissimulieren zu haben. Auf Befragen nach Beziehungsideen
verhält sich Pat. zurückhaltend, die anderen Mitpatienten schimpften nicht auf
ihn, wenn sie auch über ihn sprächen, die meinten wohl, er könne sie an¬
stecken. Manchmal sei er so gedankenlos, könne dann nicht richtig sprechen.
Wenn er viel gesprochen habe, werde das Denken schwach. Die Stimmung
92
sei nicht schlecht, nur etwas niedergedrückt, weil er im Kolleg vorgestellt
worden sei. Spricht langsam, stockend, widerstrebend. Zeigt ängstliches
Wesen, irrt mit den Augen im Zimmer umher, fährt herum, sobald jemand das
Zimmer betritt. Bestreitet jedoch, Angst zu haben.
22. 2. Liegt in steifer Haltung im Bett, den Kopf vom Kissen abge¬
hoben. Neigt zu kataleptischen Haltungen. Gesichtsausdruck völlig affekt-
los. Nahrungsaufnahme nicht spontan, läßt sich mit dem Löffel füttern.
23. 2. Beginn der Schmierkur.
27. 2. Liegt meist in starrer Haltung mit starrem Gesichtsausdruck im
Bett, er solle degradiert werden, habe gesehen, wie jemand mit seinem Hantel
durchs Zimmer ging. Schon 5 Tage Arrest bekommen, weil er nicht nach
Afrika gehen wollte. Berichtet von Erlebnissen während und nach der
Militärzeit in monotoner Weise, fast ohne abzusetzen. Negiert das Hören von
Stimmen. Wolle nicht Herr angeredet werden.
Die Kleinheits- und Angstvorstellungen werden nicht spontan geäußert,
durch Fragen ergibt sich, daß sie zwar noch bestehen, jedoch wird Pat nicht
mehr — wie anfangs — von ihnen beherrscht. Allgemeine Affektlosigkeit
Seine Frau sei noch hier (vom gestrigen Besuche), habe sie sprechen hören.
4. 3. Hört die Stimme seiner Frau im Nebenzimmer, sage immer „mein
Mann, mein Mann“. Habe Frau beschimpft.
(Wie ist es mit den Gedanken?) „Verstehe alles, aber ich kann nicht
gleich antworten.“ „Wenn ich mich aufrichte, stirbt mein Genick ab.“ —
Kann die Geburtstage seiner Verwandten nicht angeben. (Fühlen Sie sich
krank?) „Ich kaufe mir immer Weißbrot, und nun hat der Bäcker, wo ich
es sonst hole, nichts mehr.“
Gesichtsausdruck starr, affektlos.
6. 3. Neo-Salvarsaninj. 0,3 intravenös.
11. 3. örtlich nicht genau orientiert, zeitlich ebenfalls, über politische
Ereignisse ausreichend.
Erklären von Bildern: Es wird oft gar kein Zusammenhang angegeben,
beginnt oft mit Nebensächlichkeiten. Einzelnes wird verkannt
Bei der Intelligenzprüfung seinem Bildungsgrade nach genügende Ant¬
worten, ab und zu Fehlantworten. Merkfähigkeit gut, nach 3 Min., nach
5 Min. vergessen. Keine artikulatorische Sprachstörung beim Nachsprechen.
14. 3. 0,45 Neo-Salvarsan intravenös.
17. 3. Lebhaft, folgt mit den Augen den Vorgängen der Umgebung, sagt
spontan „Guten Morgen“. Gibt auf Befragen nach den zu Anfang geäußerten
Wahnideen an, daß der Urin noch immer etwas rieche, auch der Kot rieche
stark, dies erklärt er damit, daß er obstipiert sei. Ob die anderen Pat sich
vor dem Geruch des Urins ekelten, wisse er nicht, eine Reihe von Kranken
ließen den Urin ins Bett, das könnten sie aber auch vorher schop getan
haben. — Degradiert worden sei er, weil er unrechtmäßig befördert worden sei;
ganz unverständliche Angaben darüber, sagt schließlich, er wisse es
nicht genau.
22. 8. Drängt heraus, ist freier. Zeigt am Besuch der Frau Interesse,
möchte arbeiten, macht sich Sorge um die Zukunft, besonders da Frau gravide
ist Keine Wahnideen gegenüber der Frau.
8. 4. (Weshalb hier?) „Kopfschmerzen, war nervös. Ich war kurz
von Gedanken.“ Fühle sich seit 14 Tagen gesund. Hat volle Erinnerung für
früher geäußerte Beziehungsideen, Halluzinationen, volle Krankheitseinsicht
dafür. Das seien Einbildungen gewesen, alles dummes Zeug. Bei der In¬
telligenzprüfung werden die meisten Fragen richtig beantwortet, bei nega¬
tiven Resultaten entschuldigt er sich damit, daß er nur zur Dorfschule ge¬
gangen sei, oft wegen der.Arbeit gar nicht in die Schule gekommen sei. Noch
etwas gedrücktes Wesen. Sprache leise, halb flüsternd. Gesichtsausdruck der
Affektlage entsprechend, nicht sehr lebhaft.
16. 4. Lumbalpunktion: Liq. klar, Nonne Ph. I. leichte Trübung, starke
Lymphozytose (50—80 Lymphozyten Ges. Feld D.-Linse). Wa. stark pos.
24. 4. Schmierkur begonnen. 5. 5. bis 31. 5. Neo-Salvarsan intravenös,
zuerst 0,3 (lmal), dann 0,45 (5mal).
8. 6. Frühere Wahnvorstellungen seien Einbildungen gewesen. KOnne
sich an den Beginn der Krankheit nicht genau erinnern, er habe damals alles
leicht vergessen. Weshalb er damals nicht essen wollte, wisse er heute nicht
mehr, es sei vielleicht auch Einbildung gewesen, daß die Pat. über ihn ge¬
sprochen hätten. Könne sich jetzt nicht erklären, wie er auf die Degradation
gekommen sei, habe geglaubt, ins Zuchthaus zu müssen. Habe sich in den
ersten Tagen hier nicht zurechtgefunden. Die Krankheitseinsicht sei allmäh¬
lich etwa im Verlauf von 14 Tagen gekommen, es sei ihm klar geworden, daß
es sich um krankhafte Ideen gehandelt habe. Jetzt sei alles wieder wie früher.
(Früher auch so leise und heiser gesprochen?). Das mache der Aufenthalt
hier im Zimmer.
Affektlage indifferent, adäquat. GesichtBausdrnck gleichmütig, nicht leb
haft. Sprache monoton. Stimme leise, belegt.
10. 6. Entlassen.
9. 4. 20. Bis Anfang März gut gegangen, bis dahin beim Magistrat be¬
schäftigt. Redete durcheinander, war erregt Anstaltsbehandlung (Bericht
der Frau).
Zusammenfassung.
Fall 22. Luespsychose.
37jähr. Arbeiter. Freundlicher, lebhafter, sparsamer Mensch.
Kein Potus. Lues mit 34 Jahren.
Seit Rückkehr aus dem Felde teilnahmslos, ängstlich, nieder¬
gedrückt. Sonderbares Benehmen, antwortet unverständlich, weil er
den Mund voll Speichel hat. Depressive Wahnideen, der Urin riecht
stark, könne Wasser nicht halten, wolle kein Brot essen. Auch Be¬
ziehungsideen. Die Leute sähen ihm nach, auch die Polizei erkun¬
digt sich nach ihm. Stark gehemmt.
In der Charitö 15. 2. 19 bis 10. 6. 19.
Ausgesprochen negativistisch und katatonisch. Preßt Arme
fest an den Leib, liegt in unbequemer Lage auf dem Bettrand mit
erhobenem Kopf. Beziehungs- und Wahnideen. Gehörstäuschungen,
lächelt geheimnisvoll. Gesichtsausdruck sonst völlig affektlos.
Nahrungsaufnahme nicht spontan. Liegt meist in starrer Haltung
mit starrem Gesichtsausdruck im Bett. Intelligenz. Merkfähigkeit gut.
94
Somatisch: N. S. o. B. Wa. R. in BL und Liq. stark pos. Ver¬
mehrung des Eiweißes und der Lymphozyten.
9. 4. 20: Teilt die Frau mit, daß es bis Miirz 20 gut gegangen
sei, Mann war beim Magistrat beschäftigt. Dann wieder Erregungs¬
zustand und Anstaltsbehandlung.
Also bei stark positiven Blut- und Liquorreaktionen ein ausge¬
sprochenes katatones Bild bei einem 37jährigen, vor ca. 3 Jahren
luetisch infizierten Manne. Sodann teilt die Frau mit, daß er nach
einer etwa Smonatigen Arbeitsfähigkeit wieder anstaltsbedürftig ist.
Was liegt nun wieder hier vor? Ein katatones Zustandsbild
einer Luespsychose? Oder ein durch Gehirnlues (keine neurologi¬
schen Symptome, außer Wa. R. Ph. pos. und Pleozytose) ausgelöste
Katatonie? Oder nur ein zufälliges Zusammentreffen der beiden
Erkrankungen?
Wir werden durch ein Herumdiskutieren nicht klüger. Es ist
nur zu bedauern, daß wir keine weiteren Nachrichten erhalten konn¬
ten. Verdächtig ist jedenfalls der neue Schub.
Fall 23. L. K., 40 Jahre alt, Aufsehersfrau. Aufgen. 14. 5„ entl. 8. 7. 20.
Diagnose: Katatonie (Luespsychose). Progr. Paralyse. .
14. 5. Bei der Aufnahme völlig bewegungslos, kataleptisch, keine Spon¬
tanäußerungen, reagiert auf Fragen nicht, ißt allein, beschmutzt das Bett
Ist auffallend schmutzig, hat Kopfläuse. 13. 5. Stuporöser Zustand hält an.
Vollkommen mütazistisch, antwortet nicht auf Fragen, liegt teilnahmslos und
regungslos im Bett, verfolgt aber die Vorübergehenden mit den Augen. Leerer
affektarmer Gesichtsausdruck. Keine Mimik. Mäßige Flexibilitas cerea.
Kein Negativismus. Befolgt Aufforderungen. Mäßt sich ohne Widerstreben
zum Arzt führen, bleibt in unschlüssiger Haltung stehen. Setzt sich erst nach
mehrfachen Aufforderungen zögernd und steif auf den Stuhl. Sieht teilnahms¬
los geradeaus. Immer noch mutazistisch, versucht zu sprechen, bekommt
nichts heraus. Versucht sich durch Gesten zu verständigen, hierbei deut¬
liche Hemmung.
Somatisch: Übermittelgroße, sehr kräftig gebaute Frau, guter Er¬
nährungszustand. Innere Organe o. B. Kopf klein, gering entwickeltes Hin¬
terhaupt Pupillen rund, Li. Rea. normal, C. Reak. nicht prüfbar (Pat
konvergiert nicht), Augenbewegungen auch nicht prüfbar. Armreflexe nor¬
mal. Pat., Ach. Refl. ebenfalls. Keine Pyramidenreflexe.
Angaben des Ehemanns: Seit 8 Wochen im Wesen verändert, Interesse
an der Wirtschaft ließ nach, in den letzten 3 Wochen nichts mehr gearbeitet
Wurde interesseloser, Behr schweigsam, antwortete nur „Ja“ und „Nein“,
spontan nicht Vorher nichts Auffallendes. Guter Schlaf. In den letzten
Tagen Fieber (38,6), vielleicht wegen verdorbenen Magens. Nahrungsaufnahme
gut bis auf die letzten Tage. Nie körperliche Klagen. War mit Aufnahme
hier einverstanden. Über Familienanamnese nichts bekannt Eltern tot
Kenne die Pat. seit 1917. Gut gelernt, bis zur 1. Schulklasse gekommen,
spreche auch Französisch. Mit 18 Jahren ein uneheliches Kind von Dragoner-
95
Offizier. Infektion mit Lues. — Habe keine Erscheinungen gehabt, keine Kur
gemacht. Das Kind erkrankte im 11. Jahre an Anfällen, mit 14 Jahren geistig
auffällig, widerstrebendes Verhalten. 1917 hier mit Salvarsan behandelt,
dann nach Herzberge (Irrenanstalt). Die Pat. war 1916 in Herzberge: Krank¬
heitsbild dem jetzigen entgegengesetzt: war erregt, sprach und erzählte fort¬
dauernd inhaltlich vernünftig und zusammenhängend. Arbeitete bis zur
Anstaltsaufnahme. Jähzornig. 3 Monate in Anstalt: schimpfte viel, war leb¬
haft. Keine Wahnideen, keine Sinnestäuschungen, keine Anfälle. — Seit
Gebuit des ülegit. Kindes Gebärmutterknickung. Keine Nahrungssorgen.
Eigen und sauber in der Wirtschaft. Verträglich.
21. 5. Stuporöser Zustand unverändert. Keine sprachlichen Reaktionen,
setzt mit Sprechen an, bringt nichts heraus.
29. 5. Weiter stuporös, ißt bisweilen schon allein (vorher nicht). Hat
öfters ins Bett genäßt. Tägl. Blutungen. Wegen suspekter Portio Probe¬
abrasio für notwendig erachtet.
4. 6. Muß katheterisiert werden. Psychisch: keine wesentliche Änderung.
Flüstert manchmal „ja“ oder „nein“, sonst nichts. Gesichtsausdruck leer,
affektlos. Ißt spontan und ausreichend.
19. 6. Muß noch zeitweilig katheterisiert werden, gelegentlich spontaner
Urinabgang. Leichter Dekubitis. Psychisch: unverändert. Stuporöses Ver¬
halten. Muß zum Essen und Stuhlentleeren angehalten werden. Keine Kata¬
lepsie, keine Flexibilitas, kein Negativismus. — Heute einige sprachlich#
Reaktionen, doch erst auf wiederholte Fragen und dann nach langer Pause:
es gehe ihr gut, möchte heraus, habe keine Beschwerden. Wisse nicht, wo si#
•ei. Gibt Geburtsort an. Die meisten Antworten mit indifferentem Gesichts-
ausdruck, nur gelegentlich flüchtiges Lächeln. Zuerst gut zu fixieren, läßt
jedoch bald nach.
Somatisch: Urinsediment: vermehrte Leukozyten, einzelne Erythro
syten und Epithelien, Zylindroide.
Wassermann: stark pos. (Bl. und Liq.). Liq. Ph. I. starke Trübung,
starke Lymphozytose.
19. 6. Stuporös, starrer Gesichtsausdruck, bleierne Haltung. Mutazistisch.
Oft schlaflos, liegt aber ruhig. Beschmutzt sich mit Kot.
30. 6. Seit 1 Woche freier. Beginnt zuerst vereinzelt, dann häufiger mit
Nachbarpat. zu sprechen, zuerst mit Flüsterstimme, wenig spontan. Äußert
jetzt mit lauter Stimme spontan Wünsche. Bleibt dabei unbeweglich liegen,
im Gesichtsausdruck adäquate Reaktion, freundliches oder verlegenes Lächeln.
Sprechweise noch monoton und schleppend, auch sonst mehr Initiative. Unter¬
hält sich gern, geht in den Garten. Gang schwerfällig, langsam, etwas steif.
Interesse für die Umgebung. Kann nichts Rechtes über ihre Krankheit be¬
richten, weiß, daß sie nicht gesprochen hat, aber nicht warum. Keine Angabe#
über Stimmen.
7. 7. Besserung hält an. Spricht über alles. Erinnert sich an ihren krank¬
haften Zustand genau, hat keine Erklärung dafür. Ist völlig orientiert. Im
allen Bewegungen und Äußerungen noch etwas langsam. Gesichtsausdruck
freundlich lächelnd. Entlassen.
7. 7. 21. Zweite Aufnahme.
Inzwischen nicht auffällig, hat die Wirtschaft gut versorgt, wolle nur
keine Bekannten in der Wohnung, kann Grund dafür nicht angeben, auf der
96
Straße unterhalte sie sich. Stimmung immer gut, man dürfe aber nicht
zanken, sonst sei sie krank und lege sich zu Bett Schlaf und Appetit gut,
Stuhl immer etwas träge. — Seit 3 Wochen Veränderung, ganz plötzlich:
Leute im Hause sprächen über sie, daß sie Salvarsankuren mache. Das Mäd¬
chen, welches die Milch besorge, sei im Walde überfallen worden. Wirtschaft
gut weitergeftihrt. Das Nähen sei ihr schwer gefallen. Habe geweint, weil
sie sich krank vorkam. Heute ängstliche Äußerung: der Strolch habe vor
der Tür gestanden, der das Mädchen überfallen habe. — Keine besondere Ver¬
geßlichkeit, habe gelegentlich mal etwas verlegt Keine Mehrausgaben beim
Einkauf. — In letzter Zeit antiluetisch behandelt Keine körperlichen Be¬
schwerden, keine Blasonstörungen. Sprache nicht verändert
Pat. will wieder aufgenommen werden, um Ruhe zu haben, erzählt von
ihren Kuren. Schildert das Aussehen des angebl. Strolches, örtlich und
zeitlich völlig orientiert
Somatisch: Reichliches Fettpolster. Herz: über der Spitze und Pulmo-
nalis lautes systol. Geräusch, über Aorta leiser. 2. Töne akzentuiert Sonst
innere Organe o. B.
Pup. bds. nicht völlig rund, Lichtreakt. vorhanden, links vielleicht etwas
weniger als rechts. Konv. Reakt normal. Fibrilläre Zuckungen in den
Mundwinkeln. Zunge o. B. Sprache langsam, kein Stolpern, beim Nach-
sprechen von schweren Worten Auslassungen, Wiederholungen, aber kein aus¬
gesprochenes Stolpern. Gang langsam, nicht auffällig, Schmerzempfindung
nirgends gestört. — Reflexe überall normal auslösbar.
8. 7. Angaben der Pat.: Habe sich nach der Entlassung zuerst schwach
gefühlt, dann sei es besser geworden. Seit 4 Wochen habe sie wieder liegen
müssen. Eine Hausbewohnerin, der sie sich anvertraut hatte, habe über sie
geklatscht, darüber habe sie sich sehr aufgeregt Die Frau gehe in der Stadt
umher und mache die Leute schlecht, „die Frau weiß alles“. Habe erzählt,
daß Pat. syphilitisch krank sei, Ärzte und Pflegerinnen hätten es auch »o
erfahren. Berichtet bezüglich des Überfalls auf das Mädchen: es sei ein
Künstler mit langen Haaren, der wolle in ihre Wohnung eindringen. Der
Mann habe sie deswegen in die Charite geschickt, damit sie sich* beruhigen solle.
9. 7. Lumbalpunktion: 8 ccm klarer Liquor, kein erhöhter Druck. Wa. im
Liq. pos., im Blut neg., Sachs-Georgi pos.
11. 7. Läppisch-heiter. Man spreche im Saal über sie, auch oben höre
sie die Frauen über sich sprechen. Sie wolle dem Arzt berichten, aber allein.
— Berichtet über Beschimpfungen durch ein „Rotes Mädel“. Sogar die Zei¬
tungsfrau habe sie beschimpft (Stimmen hören?) „Ich höre alles“, sehe die
Stimmen auch vor sich, „fahre auch manchmal, wenn ich aufgeregt bin nnd
sehe immer dasselbe bei. Sehe Figuren und Geister. (Paradigmata!) Ich
kann es nicht sagen, vielleicht morgen, morgen bin ich nicht so aufgeregt
habe so Hitze im Kopf“. Zeitlich nicht ganz genau orientiert
17. 7. Läppisch-heiter. Anschließend an den Besuch der Tochter einer
Mitpat. Erzählungen über deren Mann (sexuelle Verfehlungen), den sie
kenne. — Singt, lacht, dann wieder Tränen, auf Ansprache lacht sie jedoch
gleich wieder. Erklärt unter Lachen, es gehe ihr nicht gut Bezüglich der
Erkrankung euphorisch. Weitschweifig in ihren Reden.
25. 7. Läuft in den Räumen hin und her, frisiert sich langwierig unff
umständlich zu allen Tageszeiten, dabei umständliche Bewegungen, singt laut
97
schimpft, weint, wenn man sie an ihrem Vorhaben hindert, freundlich-
läppisches Benehmen. Orientierung: ziemlich ungenau orientiert. Sprache
langsam, schwer, kein ausgesprochenes Silbenstolpern.
18. 8. Außer Bett, läuft umher ohne Hemd, packt ihre Bettstücke in die
Ecke, schlägt Pat., wirft sie aus den Betten. Euphorie, in ihren Reden läp¬
pisch-heiter. Sprache etwas verwaschen, schwerfällig.
7. 9. Wesen unverändert. Verblödung schreitet fort, spricht teilweise
unverständlich, ist erregt, kaum im Bett zu halten. Schmiert mit Kot. Am
1. Ellenbogen und 1. Fuß Zellgewebsentzündungen, die abgeheilt sind.
22. 9. Status idem. Nach Irrenanstalt, überführt. April 22 in Herz-
lierge. Diagnose: progr. Paralyse.
Zusammenfassung.
Fall 28. Diagnose: Luespsyehose. Prog. Paralyse.
40jährige Aufsehersfrau, keine Heredität. Gut gelernt. Lues
mit 18 Jahren').
Vor 4 Jahren (1916) war Pat. in Herzberge und bot da — wie
ich durch persönliche Nachforschungen erfuhr — ein ausgeprägt?
manisches Zustandsbild dar, das jedoch nicht als paralytisch auf¬
gefaßt wurde. Vielmehr neigte man zu der Annahme einer Lues¬
psychose.
Pat. war dann 4 Jahre zu Hause und arbeitete wie gewöhnlich
bis März/April 20. Von da ab im Wesen verändert. Wurde interesse¬
los, schweigsam, antwortete nur ..ja“ und ..nein“ und konnte nicht
weiter arbeiten.
14. 5. 20 bis 8. 7. 20 in der Charite.
Hier bot sie ein ausgesprochen katatones. stuporöses Bild dar.
Völlig bewegungslos, kataleptisch, keine Spoptanäußerungen. Kein
Negativismus. Leerer Gesichtsausdruck, ißt selbst. Nicht orientiert.
Gelegentlich flüchtiges Lächeln. Muß katheterisiert werden. Nach
zwei Monaten deutliche Besserung. Orientiert. Erinnert sich genau
an ihren krankhaften Zustand. Wa. Best. in Bl. und Liq. stark pos.
— Entlassen.
7. 7. 21 bis 22. 9. 21 wieder aufgenommen. Hat die Wirtschaft
') Uneheliches Kind, das eine interessante Krankengeschichte aufweist.
Es erkrankte im Alter von 10—11 Jahren an Anfällen und Krämpfen, die, wie
ich durch persönliche Nachfrage in Herzberge erfahren habe, teils als epilep¬
tisch, teils choreatisch angesehen wurden. Auch psychogene Zutaten waren
vorhanden. Mit 14 Jahren war der Knabe in einer Anstalt, und wurde als
Paralytiker aufgefaßt. Danach aber besser und war sogar als Musiker im
Kriege mit. 1917 wurde er mit Salvarsan in der Charite behandelt und ist
jetzt (Juli 23) seit einigen Jahren als Paralytiker in der Charite. Also ein
langgezogenes eigenartiges Bild, in dem höchstwahrscheinlich cerebral-luetische
und paralytische Züge aufeinander folgen.
Fabrltiua, Zar KUnik der nichtpanüyUaehen Luea-Psychoaen. (AbhandJ. H. m) 7
98
gut versorgt. Nicht auffällig gewesen. Seit 8 Wochen verändert,
ängstlich deprimiert. Die Leute klatschten über sie. Hört die
Leute oben sprechen, halluziniert deutlich. Vergeßlich geworden,
örtlich und zeitlich orientiert. Läppisch-heiter. Stimmung sehr wech¬
selnd, ab und zu weinerlich, tanzt dann wieder, singt und läuft
umher. Weitschweifig. Verblödung schreitet fort.
Somatisch: Pup. nicht völlig rund. Fibrilläre Zuckungen in den
Mundwinkeln. Kein Silbenstolpern. Blut — Wa. neg.. Licj.
stark pos.
April 22 geht Pat. an einer Paralyse zugrunde.
Wir haben also mit einem 6jährigen Krankheitsverlauf zu tun.
in dem wir zuerst eine typisch manische Phase finden (die auch als
Manie diagnostiziert wurde), sodann nach 4 Jahren eine ausge¬
sprochen kataton-stuporöse Phase und schließlich nach einem Jahre
eine depressive Phase mit Halluzinationen, die in eine paralytische
Demenz übergeht.
Der Fall reiht sich also gut an den letzten an. Wir werden sie
jetzt alle zusammenstellen. Zuvor aber ein kurzer Überblick über
die 3 Fälle 13 bis 15.
Fall 13 gibt uns das Beispiel eines typisch-manischen Zustands¬
bildes bei sicher vorhandener Lues, also ein Fall, der eine fast all¬
tägliche Erscheinung in einer größeren psychiatrischen Klinik bildet.
Ich habe ihn jedoch mitgenommen, teils weil man noch nicht wagte,
eine Paralyse zu diagnostizieren, teils weil er die übrigen Fälle ver¬
vollständigt.
Der Fall 14 gehört wiederum zum depressiven Typus mit de¬
pressiven Wahnideen und weist noch gar keine paralytischen Züge
auf, liefert uns also ein Beispiel jener Psychosen, bei denen wir bei
der Diagnose einer luetischen Depression bleiben müssen.
Im Fall 15 schließlich liegt auch ein depressives Bild vor.
gleichzeitig ist aber die Pat. auffallend apathisch und gleichgültig,
so daß der Verdacht auf eine Paralyse näherliegt.
Zusammen zeigen uns also die Fälle, daß die Luespsychosen in
Gestalt von typischen manischen oder depressiven Bildern auf-
treten können.
In den folgenden Fällen 16 bis 23 wiederum treffen wir außer
diesen Zustandsbildern auch typisch-katatone Bilder. Die Fälle
sind aber noch in der Hinsicht interessant, daß diese Bilder als
Phasen eines längeren Krankheitsverlaufes miteinander verbunden
sind. Die meisten von diesen Fällen lassen schließlich noch ihren
99
Verlauf überblicken und geben uns vielleicht deshalb gewisse Auf¬
klärungen bezgl. ihrer klinischen Bedeutung.
Ich werde einige Hauptzüge der Fälle zusammenstellen.
Fall 16. 38jähr. Mann, Lues vor etwa 15—16 Jahren.' Dauer
4 Jahre. Schlaffes depressives Bild. Exitus.
Fall 17. 29jähr. Mann. Zeit der Infektion unbekannt. Dauer
6y a Jahre. Folgende Phasen: depressiv-manisch — Anfall mit nach¬
folgender Paraphasie — Remission — linksseitige Lähmung —
ängstlich — deprimiert — Siechtum — Tod.
Fall 18. 53jähr. Mann. Zeit der Infektion etwas vor 25 bis
30 Jahren. 3 recht typische melancholische Schübe, der letzte durch
einen deliranten Verwirrtheitszustand kompliziert. Dauer 3%, Jahre.
Ausgang unbekannt.
Fall 19. 30jähr. Arbeiter. Lues vor 10 Jahren. Erregte mani¬
sche Phase — gehemmte Phase gemischt mit katatonen Zügen —
erregte Phase. Dauer 3%—4 Jahre. Ausgang noch unbekannt,
aber aller Wahrscheinlichkeit nach Demenz und Tod.
Fall 20. 25jähr. Mann. Lues vor 4 Jahren. 3 sehr typische
gehemmte, echt depressive Phasen, von denen die dritte in ein deut¬
lich paralyseähnliches Siechtum überging. Dauer 4V2 Jahre. Pat.
vorläufig körperlich noch rüstig.
Fall 21. 35jähr. Mann. Zeit der Infektion unbekannt. Fol¬
gende Phasen: manisch — erregt — Remission — Erregungszustand
— Remission, ausgesprochen katatones Bild — deutliche Paralyse.
Dauer 5 Jahre. Pat. lebt noch.
Fall 22. 37jähr. Mann. Lues vor 3 Jahren. Ausgesprochen
katatones Bild — Remission — wieder anstaltsbedürftig. Weitere
Nachrichten konnten nicht herbeigeschafft werden.
Fall 23. 40jähr. Frau. Lues vor 22 Jahren. Manische Phase
— 4jährige Remission — kataton — stuporöse Phase — depressive
Phase — Demenz. Tod. Dauer 6 Jahre.
Der Ausgang der Krankheit ist in 3 Fällen Siechtum und Tod.
in weiteren drei Fällen hat sich nach 3%- bis Sjährigem Verlauf eine
Demenz, die klinisch wie eine Paralyse aussieht, entwickelt, und in
zwei Fällen ist der Ausgang vorläufig unbekannt.
Die Dauer der Erkrankung ist sodann höchst auffallend. Sie
beläuft sich nämlich mindestens auf 3V2 Jahre (nur in einem Falle
fehlen nähere Angaben) und schwankt in den tödlich verlaufenden
Fällen zwischen 4 und 6V 2 Jahren.
Mit diesen Notizen vor den Augen wird man zwar einwenden
können, daß der Dauer der Krankheit keine allzu große Rolle bei-
7*
100
zumessen ist. Und man wird vielleicht weiter sagen, daß die Fälle
eigentlich nichts anderes lehren, als daß man in einigen Kliniken
mit der Diagnose der progressiven Paralyse etwas zurückhaltend ist.
Dieser Schluß wäre doch m. E. unberechtigt. Erstens wissen
wir ja nicht ganz sicher, daß in den 6 zum Schwachsinn führenden
Fällen eine tatsächliche Paralyse vorlag. da keine mikroskopische
Untersuchung gemacht worden ist.
Zweitens liegen in den meisten der Fälle vor allem zur Zeit des
ersten oder der ersten Schübe so wenige paralytisch-demente Züge
vor, daß die Diagnose einer Paralyse noch nicht berechtigt wäre.
Drittens kann es ja doch kaum nur ein zufälliges Zusammen¬
treffen sein, daß alle diese Fälle einerseits in ihrem klinischen Aus¬
sehen so abweichend vom Gewöhnlichen waren, daß man bei der
Diagnose einer Luespsychose — nicht bei einer Paralyse — blieb,
und daß sie andererseits einen so auffälligen, periodischen und ver¬
hältnismäßig langen Verlauf zeigten. •
Im Gegenteil glaube ich, daß wir aus ihnen etwas anderes
lesen können.
Sie scheinen mir dafür zu sprechen, daß, wenn eine luetisch be¬
dingte Psychose die Form eines manischen, depressiven oder kata-
tonen Zustandsbildes nimmt, so haben wir mit einer langdauernden,
meistens unter Schüben verlaufenden Krankheit zu tun, die zu geisti¬
gem Siechtum führt. Dieses Schlußstadium hat klinisch wenigstens
den Charakter einer Paralyse.
Ob wir aber alles, vor allem die eisten Schübe, als Paralyse auf¬
fassen sollen, muß vorläufig noch unentschieden bleiben. In einigen
Fällen, z. B. in dem von mir beobachteten Fall 20, lag z. Zt. des
ersten Schubes — 4 Jahre nach der Infektion — wohl kaum eine
Paralyse vor. Klinisch konnte gar keine Demenz festgestellt werden,
sondern ein reines Bild einer schwer gehemmten Melancholie.
Wassermann war außerdem im Blut neg., im Liq. äußerst schwach
pos. („suspect“). Jetzt nach fast 5jährigem Verlauf liegt aller
Wahrscheinlichkeit nach eine Paralyse vor.
Vielleicht müssen wir uns den Vorgang in der Weise vorstellen.
daß zuerst auf der Basis einer Lues cerebri eine Psychose entsteht.
Die hierbei entstandenen Veränderungen im Gehirn liefern sodann
den Boden für weitere bzw. paralytische Vorgänge im Gehirn. — -
Alles dieses muß ja doch erst durch pathologisch-anatomische Unter¬
suchungen näher festgestellt werden.
101
Zusammenfassung.
Ich hab© oben 23 Fälle von Psychosen mitgeteilt und analysiert,
die aller Wahrscheinlichkeit nach als luetisch bedingte angesehen
werden müssen. Das Resultat meiner Analyse, sowie meine Studien
in der Literatur scheinen mir zu folgenden Schlüssen zu berechtigen.
Wenn die Lues eine Psychose hervorruft, die nicht als eine
Paralyse aufgefaßt werden kann, so begegnen uns folgende Formen:
I. Exogene Reaktionstypen.
Zu diesen möchte ich Verwirrtheitszustände, Amentiabilder,
dämmerzustandsartige Psychosen und die Korsakoffsehen Sympto-
menkomplexe führen. Der Verlauf kann sehr akut sein, in anderen
Fällen aber ein verschleppter, weniger stürmischer. Der Ausgang
ist entweder Tod, Siechtum oder — in keineswegs seltenen Fällen
— völlige Genesung.
II. Ha 11 uzinose- bzvv. ha 11 uz in a tor i sc h -para -
n o i d e Typen.
Obwohl diese Formen — wie Bonhoeffer es tut — mit den
exogenen Reaktionstypen zusammengeführt werden müßten, da sie
wahrscheinlich pathogenetisch mit ihnen wesensverwandt sind, stellen
sie doch klinisch eine recht scharf begrenzte Gruppe dar, Zu ihnen
gehören sowohl akute wie chronische Verlaufsformen. Der Ausgang
kann günstig, aber auch Siechtum und Tod sein.
III. Chronische Defektzustände.
Diese Fälle, die zu den längst bekannten und anerkannten
Luespsychosen gehören, können in zwei Untergruppen geteilt
werden:
a) Syphilitische Pseudoparalyse.
b) sog. postsyphilitische Demenz.
IV. Manische, depressive und katatone Form e n .
sowie V e r b i n d u ngen derselbe n.
Wenn eine auf der Basis der Lues entstandene Psychose die
Gestalt eines manischen, depressiven oder katatonen Zustandsbildes
annimmt, so scheinen meine Fälle zu dem Schluß zu berechtigen,
daß wir in dem Falle mit keiner selbständigen Psychose zu tun
haben, sondern nur mit Phasen oder Schüben eines chronischen
Leidens, das zum geistigen Siechtum führt. Die verschiedenen
Phasen können dabei einander ähnlich sein, oder wir sehen ein
Wechseln von manischen und depressiven, depressiven und kata¬
tonen usw. Schüben.
Literatur-Verzeichnis.
1. Baum: Pathol. An&t. der luetischen Psychosen. The urol. and cut.
Kev. 24. 147. 1920. Ref. Ztschr. für die ges. Neur. und Psych. 23. S. 179. —
2. Birnbaum, H.: Über Geistesstörungen bei Himsyphilis. Allgem. Zeitschr.
f. Psych. 65. 341. 1908. — 8. Bonhoeffer: In Aschaffenburgs Handbuch.
— 4. Bouman, L.: Luetische Psychosen. Psychiatr. end neurolog. Bladen.
20. 148. 1916. — 5. B u m k e: Zur Paranoiafrage. Allg. Ztschr. f. Psychiatrie.
73. S. 873. 1917. — 6. Bumke: Über die Umgrenzung des manisch-depres¬
siven Irreseins. Zentralbl. f. Nervenheilk. und Psych. 1919. S. 381. —
7. Friedlaender: Die Beurteilung schizophrener Erkrankungen auf Grund
der Kriegserfahrungen. Zentralbl. f. d. ges. Neur. und Psych. 48. S. 301. —
8. Friedmann: Beitr. zur Lehre v. d. Paranoia. Monatsschr. f. Psych. und
Neur. 17. 1905. — 9. G a d e 1 i n s: Det menshlige sjatslivet. — 10. ßaupp:
Über paran. Veranlagung und abortives Paranoia. Zentralbl. f. Nervenheilk.
und Psych. 1910. S. 65. •— 11. Gcnnerich: Syphilis des Zentralnerven¬
systems. 1922. — 12. Heubner: Die Syphilis des Gehirns in Siemszen's
Handbuch der spez. Pathol. und Ther. 1874. — 13. H o c h e: Die Melancholie¬
frage. Zentralbl. f. Nervenheilk. und Psych. Neue Folge XXI, 1910. —
14. Jaspers: Eifersuchtswahn. Zeitschr. f. d. ges. Neur. und Psych.
Bd. I. 1910. — 15. J e 1 g e r s m a: Das System der Psychosen. Zeitschr. f.
d. ges. Neur. und Psych. Bd. 13. 1912. S. 16. — 16. J e s s e n: Diss.
Kiel 1919. — 17. Jolly: Syphilis und Geisteskrankheiten. Berl. klin. Wochen¬
schrift. 1901. S. 21. — 18. K a h n, Eugen: Zur Frage des schizophrenen
Reaktionstypus. Zeitschr. f. d. ges. Neur. und Psych. 66. 273. — 19. Kleist:
Die Involutionsparanoia. Allg. Zeitschr. f. Psych. 70. 1913. S. 1. —
20! Kraus e: Beitr. zur patholog. Anat. der Hirnsyphilis usw. 1915. Gustav
Fischer, Jena. — 21. K ö r tke, Heinr.: Ein Dilemma in der Dementia praecox-
Frage. Zeitschr. f. d. ges. Neur. und Psych. 48. S. 354. — 22. Kretsch¬
mer: Körperbau und Charakter. — 23. D e r s.: Der sensitive Beziehungswahn.
— 24. D e r s.: Gedanken über die Fortentwicklung der psychiatr. Systematik.
Zeitschr. f. d. ges. Neur. und Psych. 48. 1919. S. 370. — 25. Marcus.
Henry: Akuter Fervirrungstiust aud pu syphilitisk grund. — 26. M e y e r, F. S.:
Luespsychosen. Ned. Tijdschr. v. Geneesk. 60 (II) 516. 1916. — 27. M e y e r:
Arch. f. Psych. Bd. 46. — 28. Meyer, Otto: Beitr. zur Kenntnis der nicht
paralytischen Psychosen bei Tabes. Monatsschr. f. Psych. und Neur. 1903, XIII.
— 29. Popper, Erwin: Der schizophrene Reaktionstypus. Zentralbl. f. ti.
ges. Neur. und Psych. 62. S. 194. — 30. Plaut: Halluzinogen der Syphilitiker.
— 31. D e r s.: Die luetischen Geistesstörungen. Zentralbl. f. Nervenheilk. und
Psych. 1909. 20. S. 659. — 32. v. R a d, Carl: Über psychische Störungen
bei Tabes. Arch. f. Psych. 1917. Bd. 58. S. 58. — 33. S e e 1 e r t, H.: Ver¬
bindung endogener und exogener Faktoren in dem Symptomenbilde und der
— 103 —
Pathogenehe der Psychose. Monatßschr. f. Psych. und Neur. 1919. Beiheft
610. S. 1. — 34. Ders.: Mischung paranoischer mit depressiven Symptomen
bei Psychosen des höheren Alters. Monatsschr. f. Psych. und Neur. 52.
S. 140. 1922. — 35. Sioli: Histologische Befunde bei Tabespsychoscn.
Zentralbl. f. d. ges. Neur. und Psych. 1910. Bd. 3. S. 330. — 36. Specht:
Die klinische Kardinalfrage der Paranoia. Zentralbl. f. Nervenheilk. und
Psych. 1910/11. Nr. 8—9. — 37. Schroeder, P.: Lues cerebrospinalis, so¬
wie ihre Beziehungen zur progr. Paralyse und Tabes. Zeitschr. f. Nervenheilk.
Bd. L. N. 1916. S. 830. — 38. S c h u p p i n s: Einiges über den Eifersuchts¬
wahn. Zeitschr. f. d. ges. Neur. und Psych. Bd. XVII. S. 253. — 39. U r e -
chia? Enctüphalc. 17. Nr. 5. S. 289—*93. 1922. — 40. Urechia et
Rusdea: Encephale 1916. S. 587—595. 1921. — 41. Walther: Hirn-
syphilis und Psychose. Zeitschr. f. d. ges. Neur. und Psych. 26. 251. 1914. —
42. Wimmer: Nichtsyphilitische Geisteskrankheiten bei Syphilitikern.
Zeitschr. f. d. ges. Neur. und Psych. 42. S. 290. 1918.
ABHANDLUNGEN AUS DER NEUROLOGIE,
PSYCHIATRIE, PSYCHOLOGIE UND IHREN
GRENZGEBIETEN
BEIHEFTE ZUR MONATSSCHRIFT FÜR PSYCHIATRIE UND NEUROLOGIE
HERAUSGEGEBEN VON K. BON H OEF FER~
HEFT 25
\
Aus der Klinik für psychische und nervöse Krankheiten zu Giefjcn
(Direktor: Geheimröt Prof Dr. R. Sommer) und aus der psy¬
chiatrischen und Nervenklinik der Universität Frankfurt a. M.
(Direktor: Professor Dr. K. Kleist).
Herzkrankheiten und Psychosen
Eine klinische Studie
E. Leyser
BERLIN 1924
VERLAG VON S. KARGER
KARLSTRASSE 15.
Medizinischer Verlag von S. Karger in Berlin NW. 6.
In den
Abhandlungen aus der Neurologie, Psychiatrie,
Psychologie und ihren Grenzgebieten
Beihefte z. Monatsschrift für Psychiatrie u. Neurologie, sind bisher erschienen:
Heft 1: Typhus und Nervensystem. Von Prof. Dr. Georg Stertz in
Breslau. (Vergriffen.)
Heft 2: Heber die Bedeutung von Erblichkeit und Vorgeschichte für das
klinische Bild der progressiven Paralyse. Von Dr. J. Per net in
Zürich. (Vergriffen.)
Heft 3: Kindersprache und Aphasie. Gedanken zur Aphasielehre auf
Grund von Beobachtungen der kindlichen Sprachentwickelung und
ihrer Anomalie. Von Priv.-Doz. Dr. Emil Fröscheis in Wien. Mk.5.50
Heft 4: Epilepsie und Dementia praecox. Von Prof. Dr. W. Vorkastner
in Greifswald. Mk. 5.—
Heft 5: Forensisch-psychiatrische Erfahrungen im Kriege* Von Priv.-Doz.
Dr. W. Schmidt in Heidelberg. Mk. 8.—
Heft 6: Verbindung endogener und exogener Faktoren in dem Symptomen-
bilde und der Pathogenese von Psychosen. Von Priv.-Doz. Dr. Hans
Seeiert in Berlin. Mk 4.—
Heft 7: Zur Klinik und Anatomie der reinen Worttaubheit, der Hcilungs-
aphasle und der Tontaubheit. Von Priv.-Doz. Dr. Otto Pötzi in
Wien. Mit zwei Tafeln. Mk. 6.—
Heft 8: Die Spielbreite der Symptome beim manisch-depressiven Irresein.
Von Prof. Dr. P. Schröder in Greifswald. Mk. 3.—
Heft 9: Die symptomatischen Psychosen und ihre Differentialdiagnose.
Von Priv.-Doz. Dr. Hans Krisch in Greifswald. Mk. 2.25
Heft 10: Die Abderüaldensche Reaktion mit bes. Berücksichtigung ihrer Er-
. gebnissei.d. Psychiatrie. Von Priv.-Doz. Dr.G.E wald in Erlangen. Mk.9.—
Heft 11: Der extrapyramidale Symptomenkomplex (das dystonisehe Syn¬
drom) und seine Bedeutung iu der Neurologie« Von Prof. Dr.' G.
Stertz in München. (Vergriffen.)
Heft 12: Der auethische Symptomenkomplex. Eine Studie zur Psychopatho¬
logie d. Handlung. Von Priv.-Doz. l>r. O. Albrecht in Wien. Mk.4.—
Heft 13: Die neurologische Forschungsrichtung in der Psychopathologie
nnd andere Aufsätze. Von Prof. Dr. A. Pick in Prag. Mk. 8.—
Heft 14: lieber die Eutstchung der Negrischeu Körperchen. Von Prof. Dr.
L. Benedek u. Dr. F.O. Porsche in Kolozsvar. MitlOTafeln. Mk. 15.—
Heft 15: Ueber die Bedeutung und Entstehung der Stereotypien. Von Priv.-
Doz. Dr. Jakob Kläsi in Zürich. Mk. 3.—
Heft 16: Ueber Psychoanalyse. Von Dozent Dr. R A Ilers in Wien. Mk. 3.60
Heft 17: Die Zergliederung des psychischen Krankheitsbildes bei Artcrio-
sklerosis-ccrebri. Von Nervenarzt Dr. S. J. R. de Monchy in
Rotterdam. Mk. 3.—
Heft 18: Epilepsie u. manisch-depressives Irresein. Von Dr. Hans Krisch
in Greifswald. Mk. 3.—
Heft 19: Ueber die paranoiden Reaktionen in der Haft. Von Dr. W. För-
sterling in Landsberg a. d. W. Mk. 3.60
Heft 20: Dementia praecox, intermediäre psychische Schicht und Kleiuhirn-
Basalganglien-Stirnhirusysteme. Von Priv.-Doz. Dr. Max Loewy
in Prag-Marienbad. Mk. 4 20
Heft 21: Metaphysik und Schizophrenie. Eine vergleichende psychologische
Studie. Von Dr. G. Bychowski in Warschau. Mk. o.—
Heft 22: Der Selbstmord. Von Priv.-Doz. Dr. R. Weichbrodt in Frank¬
furt a. M. Mk. 1.50
Heft 23: Ueber die Stellung der Psychologie im Stammbaum der Wissen¬
schaften und die Dimension ihrer Grundbegriffe. Von Dr. Heinz
Ahlenstiel inBerlin. Mk. 1.80
Heft 24: Zur Kliuik der nichtparalytischen Lues-Psychosen. Von Dozent
Dr. H. Fabritius in Helsingfors. Mk. 4.—
Heft 25: Herzkrankheiten und Psychosen. Eine klinische Studie. Von
Dr. E. Leyser in Giessen. Mk. 4.—
Die Abonnenten der „Monatsschrift für Psychiatrie und Neurologie“
_erhalten diese Abhandlungen zu einem ermäßigten Preise.
Obige Preise sind Goldpreise, eine Goldmark gleich 10 /42 Dollar.
ABHANDLUNGEN AUS DER NEUROLOGIE,
PSYCHIATRIE, PSYCHOLOGIE UND IHREN
GRENZGEBIETEN
BEIHEFTE ZUR MONATSSCHRIFT FÜR PSYCHIATRIE UND NEUROLOGIE
HERAUSGEGEBEN VON K. BONHOEFFER
HEFT 25
Aus der Klinik Für psychische und nervöse Krankheiten zu Giefeen
(Direktor: Geheimrat Prof. Dr. R. Sommer) und aus der psy¬
chiatrischen und Nervenklinik der Universität Frankfurt a. M.
(Direktor: Professor Dr. K Kleist)
Herzkrankheiten und Psychosen
Eine klinische Studie
von
E. Leyser
BERLIN 1924
VERLAG VON S. KARGER
KARLSTRASSE 15.
Alle Rechte Vorbehalten
Druck von Ernst Klöppel, Quedlinburg.
Dem Andenken meines Vaters!
Inhaltsverzeichnis
Seit«
Einleitung. 7
Die rein kardiogenen psychischen Störungen.15
% Die kardiogenen Psychosen bei Arteriosklerose.33
Die kardiogenen psychischen Störungen bei weiteren Komplikationen . 49
Der Verlauf und die Gestaltung der Psychosen beim Auftreten von Herz¬
störungen .57
Ergebnis und Ausblick.74
Literatur.84
Die Art des Gegenstandes ließ im Beginn der Arbeit die Besorgnis
aufkommen, ob wohl genug Material zur Verfügung stehen würde.
Die verständnisvolle Teilnahme meines Chefs, Herrn Geheimrats
Sommer, machte auch alte Jahrgänge zugänglich, und die liebens¬
würdige Bereitwilligkeit meines früheren Chefs, Herrn. Prof. Kleist,
überließ auch Frankfurter FäUe zur Bearbeitung. Ihnen beiden, mei¬
nen hochverehrten Lehrern, bin ich dafür, wie für so vieles andere,
zu tiefem Dank verpflichtet. Es besteht die Hoffnung, daß dadurch
die Darstellung an Abgerundetheit und Vollständigkeit einiges ge¬
wonnen hat, wenn auch so manche Lücke noch schmerzlich empfun¬
den wird.
Gießen, im März 1924.
E. LEYSER.
Einleitung,
Die Lehre vpn den symptomatischen Psychosen ist von Bon-
höffer in seinen bekannten umfassenden Darstellungen soweit ge¬
fördert worden, daß es einer gewissen Rechtfertigung bedarf, wenn
im folgenden ein Sonderabschnitt aus diesem Gebiet monographisch
bearbeitet werden soll. Das Hauptergebnis der Arbeiten Bonhöf¬
fers war der Satz, daß der Mannigfaltigkeit der Grunderkrankungen
eine große Gleichförmigkeit der psychischen Bilder gegenüber steht,
so daß man berechtigt ist, von exogenen psychischen Reaktionstypen
zu sprechen. Als solche sind zu betrachten Delirien, epileptiforme
Erregungen, Dämmerzustände, Halluzinosen, Amentiabilder, bald mehr
halluzinatorischen, bald katatonischen, bald inkohärenten Charakters.
Daneben erwähnt Bonhöffer noch manische Symptomenbilder.
Daraus entwickeln sich, wenn die Störungen nicht restlos abheilen,
emotionell-hyperästhetische Schwächezustände, amnestische Phasen
von Korsakowschein Typus, Steigerungen zum Delirium acutum
und zum Meningismus. Die Erklärung dafür, daß die psychischen
Reaktionsformen trotz der Verschiedenartigkeit der Noxen einheitlich
sind, erblickt Bonhöffer darin, daß ätiologische Zwischenglieder
die Wirkung im Organismus vermitteln.
Wenn nun auch dieser Standpunkt im großen Ganzen von den
meisten Psychiatern geteilt wird, so darf hier doch daran erinnert
werden, daß von anderer Seite auch Einwürfe gegen diese Schilde¬
rung geltend gemacht worden sind. G. S p e c h t hat darauf hingewie¬
sen, daß auch depressiv gefärbte Zustandsbilder im Gefolge einer
exogenen Schädlichkeit auf treten können; er ging dabei von einer
Selbstbeobachtung bei Leuchtgasvergiftung aus. Es war auch nicht
recht einzusehen, warum nur manische Reaktionstypen sollten auf-
treten können. Nun hat freilich Bonhöffer bereits den Einwand
erhoben, daß man bei den manischen Erregungen nicht entscheiden
könne, ob hier nicht eine endogen begründete und nur exogen aus¬
gelöste Störung vorliege. Besonders nachdrücklich hat sich Ewald
in dem Sinne ausgesprochen, daß sowohl manische als auch depressive
Schwankungen immer endogen veranlaßt seien. Wir kommen auf
seine Darlegungen noch später zurück.
8
Des weiteren hat Kleist in zwei Monographien diese Frage an¬
geschnitten. Er stellt heteronome Zustandsbilder, die dem normalen
Seelenleben fremd sind, den homonomen Symptomenkomplexen der
Manie, der Melancholie, der Paranoia und der reizbaren Verstimmung
gegenüber. Bei den postoperativen Psychosen fanden sich nur hetero¬
nome Zustandsbilder; dagegen zeigte sich bei den Influenzapsychosen,
daß die heteronomen Bilder zwar überwogen, aber doch homonome
Bilder stärker hervortraten (14:5). Dabei wurden gerade die von
Bonhöffer vermissten depressiven Krankheitsbilder häufiger be¬
obachtet. Im allgemeinen wurde so Bon höffers Lehre von den
Prädilektionstypen der symptomatischen Hirnschädigung bestätigt.
Als neuen Gesichtspunkt Kleists muß man neben der stärkeren
Beobachtung homonomer Zustandsbilder vor allem seine Hervor¬
kehrung der spezifischen Veranlagung für symptomatische Psychosen
betrachten, auf Grund deren er zur Aufstellung der symptomatischen
Labilität des Gehirns kommt.
Der weitere Weg der Forschung führt nun dazu, zuerst in analy¬
tischer Kleinarbeit zu untersuchen, unter welchen Umständen bei
exogenen Schädlichkeiten die gewöhnlichen heteronomen Zustands¬
bilder auftreten, die Prädilektionstypen Bonhöffers, und wann
dagegen die selteneren homonomen. Da hier die Fragestellung die
ist, ob nicht eine autochthone Labilität im Sinne Kleists als endo¬
gen auslösender Faktor in Betracht kommt, so wird stets die möglichst
sorgfältige und eingehende Untersuchung des Einzelfalles entscheiden.
Ferner wird auch nur auf diese Weise das Problem der symptoma¬
tisch-labilen Konstitution geklärt werden können. Aber darüber
hinaus gibt Bonhöffers Hypothese von den ätiologischen Zwi¬
schengliedern insofern neue Fragen auf, als es das Wesen dieser Zwi¬
schenglieder zu erforschen gilt.
II. Fischer hat kürzlich in diesem Bestien die vereinheit¬
lichende Wirkung der, wie er sie bezeichnet, pathogenetischen Zwi¬
schenglieder mit der Wirkungsweise der endokrinen Apparate ver¬
glichen, die man wohl auch als die Träger der Konstitution des
Gesamtorganismus anzuschen pflegt. Er weist aber zugleich darauf
hin, wie schwierig es ist, innersekretorische Ausfallserkrankungen für
die Erforschung des Mechanismus der exogenen Reaktionstypen zu
verwenden. Hier handelt es sich um ein sehr verwickeltes und noch
wenig erforschtes Gebiet, und der Ruf nach „reinen Fällen“ scheint
gerade hier sehr berechtigt.
Trotz dieser Schwierigkeiten wird man H. Fischer recht geben
müssen, wenn er darauf hinweist, daß die Zwischenglieder, deren
9
vereinheitlichende Wirkung im Sinne der Prädilektionstypen f-est-
steht, im Körper selbst und zwar in bestimmten Einrichtungen des¬
selben zu suchen sind. Dieser Gedanke führt immer wieder von
neuem dazu, gerade den Psychosen im Gefolge von Erkrankungen
innerer Organe besondere Aufmerksamkeit zu widmen, sei es, daß wir
auf diesem Wege wirklich dem Wesen der ätiologischen resp.
pathogenetischen Zwischenglieder näher zu kommen hoffen, sei es,
daß es uns durch sorgfältige Untersuchung und Auswertung der
Symptomatik gelingt, bestimmte Einzelzüge mit der Affek¬
tion gewisser innerer Organe in Beziehung zu setzen.
In letzterer Hinsicht haben seit jeher als besonders bezeichnend
gegolten die Erkrankungen des Herzens. Man geht wohl nicht fehl,
wenn man diese Ansicht vor allem auf die Gleichstellung zurück¬
führt, die der Sprachgebrauch zwischen Herz und Gemüt herstellt.
Aber nicht nur solche allgemeine, sozusagen populäre Beweggründe
liegen vor, sondern auch spezielle medizinische Erfahrungen; wir
finden z. B. bei den sthenokardischen Anfällen der Coronarsklerose
häufig die sogenannte Präkordialangst. Wir weisen auch darauf hin,
daß de Monchy in 53,3 Proz. seiner Fälle von Arteriosclerosis
cerebri mit Angst Herzabweichungen vorfand, was nach ihm auf
einen Zusammenhang beider Erscheinungen hinweist.
Nun sind ja diese Erwägungen keineswegs neu; besonders hat
Stransky diese Zusammenhänge besprochen. Er hat angenom¬
men, daß bei manchen Herzkranken mit paroxysmalen Angstanfällen
ein abnormer Reizzustand der sensiblen Herznerven sich entwickele,
der bei dem Vorhandensein eines disponierten Gehirns zur illusionä¬
ren Verarbeitung dieser Sensationen und damit zur Entwicklung einer
Angstpsychose führen könne. Wir werden weiter unten des näheren
auf diese Ansicht eingehen. Vorläufig genügt es, durch die ange¬
führten Gesichtspunkte und Fragestellungen die Besonderheit ange¬
deutet zu haben, die dem Problem der Psychosen bei Herzkrank¬
heiten im Rahmen der übrigen exogenen Psychosen zukommt.
Wir geben vielmehr zunächst einen Überblick über die Ergebnisse, die bis
jetzt auf diesem Gebiet vorliegen. Wir gehen dabei, um die ältere Literatur
zu überschlagen, von der Arbeit J. Fischers aus 1 ). Dieser findet einen
direkten Zusammenhang in den Fällen, bei denen infolge gestörter Zirkulation
die Funktion des Gehirns beeinträchtigt ist, während er dort nur einen indirek-
') Anmerkung: Kurz sei, um von der Betrachtungsweise der älteren Auto¬
ren ein Bild zu geben, auf die Darstellung Witkowskys hingewiesen, der
das Wesentliche und Gemeinsame in den Psychosen bei Herzerkrankungen in
einer motorischen Unruhe mit triebartigen, zuweilen gewalttätigen Äußerun¬
gen erblickt.
10
ten Zusammenhang anerkennt, wo Organgefühle den Anstoß zur Entwicklung
einer Psychose geben. Er selbst schildert 3 Fälle von halluzinatorischer Ver¬
wirrtheit“ infolge Dekompensation eines Herzfehlers, auf die wir weiter unten
noch genauer zu sprechen kommen. Eichhorst fand bei der Resorption
von Ödemen Herzkranker häufig psychische Störungen, aber ohne besondere
ängstliche Färbung. Zuerst zeigten sich die Kranken apathisch, dann warfen
sie sich umher, neigten zu Zerstörung, spuckten, schlugen um sich und waren
traumhaft verwirrt. Nach einer Woche etwa war alles vorüber. L. W. W e b e r
führt die psychischen Störungen bei Herzkrankheiten auf Abweichungen in
der Blutversorgung des Gehirns zurück. Als derartige Störungen werden be¬
zeichnet Depression bis zum Bild hochgradiger Angst mit und ohne Sinnes¬
täuschungen, maniakalische Erregungen und halluzinatorische Verwirrtheits¬
zustände. Er berichtet von den mit leichter Arteriosklerose und Unregelmäßig¬
keit der Herztätigkeit beginnenden Melancholien, die sich mit Regelung der
Herztätigkeit bessern. Saathoff hat geglaubt, die Frage, warum nur in
seltenen Fällen Kompensationsstörungen des Herzens zu psychotischen Folge¬
erscheinungen führen, dahin beantworten zu können, daß bei luetischer Schädi¬
gung des Gehirns eine Psychose von einem bestimmten Typ auftritt, zusammen¬
gesetzt aus angstvoller Verwirrtheit, Halluzinationen und großer motorischer
Erregung B o n h ö f f e r (1. c.) äußert sich in seinem Buch dahin, daß es sich
bei den sich an die gestörte Kompensation der Herzerkrankungen anschließen¬
den psychischen Störungen hauptsächlich um Delirien, epileptiforme Erregun¬
gen und Amentiabilder handele. Er widerspricht dabei vor allem Jacob, der
den Versuch der Abtrennung besonderer Kreislaufpsychosen gemacht hat.
Dieser glaubte in ausführlichen Untersuchungen ein fest umrissenes psychi¬
sches Krankheitsbild zeichnen zu können. Auf seine beobachtungs- und ge¬
dankenreiche Arbeit kommen wir noch zurück. Später hat Bonhöffer auf
Grund einer Statistik die Vermutung ausgesprochen, daß die ängstliche Fär¬
bung der psychotischen Zustandsbilder und Verlaufsformen vielleicht bei Herz¬
dekompensationen besonders häufig sei, wenn man auch anerkennen müsse, daß
man dieselben Bilder bei anderer exogener Ätiologie antreffe. Er fand nämlich
unter 12 Fällen 5 Delirien mit ängstlicher Färbung, 4 Angstzustände mit Des¬
orientierung, 1 Halluzinose und 2 Stuporzustände.
Der Gesamteindruck, den man aus dem Studium der Literatur
gewinnt, läßt sich dahin zusammenfassen, daß es noch ungewiß ist,
ob den infolge Störung der Herzfunktion sich entwickelnden psychi¬
schen Störungen besondere Merkmale eigen sind. Die Begründung
dieses Umstandes ist u. E. darin zu suchen, daß die Wirkungsart und
-richtung der Herzstörung je nach der Lage des Falles verschieden
ist. Es erscheint darum notwendig, um diese Frage zu entscheiden,
das ganze Problem auf eine breitere Basis zu stellen. Hierfür bietet
sich in der von K. Birnbaum kürzlich systematisch behandelten
Lehre der psychiatrischen Strukturanalyse eine geeignete Grundlage.
Besonders kommen in Betracht diejenigen Gedankengänge, die
Birnbaum bezüglich der symptomatischen Psychosen entwickelt
hat, für die, wie er sie bezeichnet, exogenen Störungen mit vor-
11
wiegend restitutiver Tendenz. Als spezifische pathogenetische Deter¬
minante betrachtet er die physisch-somatogene Noxe, sei sie auto¬
toxisch, dysadenoid oder andersartig. Im klinischen Bild sind die
Hauptbestimmungsstücke die pathogenetischen Gegebenheiten; diese
stellen sich dem allgemeinen Charakter nach dar als Hirnschädigungs¬
erscheinungen unter Ergriffensein auch der primitiven psychischen
Elementarfunktionen, Phänomene, die im wesentlichen psychotisch
neu gebildet, „organisch“, „normfremd“, daher innerpsychologisch
nicht erfaßbar sind. Unter den generellen psychischen Manifestatio¬
nen der Hirnschädigungsattacke begreift B. der speziellen klinischen
Erscheinungsform nach Reiz-, Lähmungs- (bezw. Erschwerungs-)
und Perturbationserscheinungen auf den verschiedensten psychischen
Systemgebieten (halluzinatorische, Exzitations-, Dissoziations-, reiz¬
bare Schwächezustände usw.), dagegen gibt es auch gewisse psychi¬
sche Sondermanifestationen von Himdauerschädigungen, teils demen-
tiv-reversible Zustände wie das Korsakow - Syndrom, teils
dementiv-irreparable. Nebenbestimmungsstücke des klinischen Bil¬
des sind die pathoplastischen Gegebenheiten, die die Prädilektions-
gestaltungsformen hervorrufen, sie sind vorzugsweise konstitutiv,
daneben auch konstellativ bedingt, so daß sich „funktionelle“, vor¬
gebildete, pathologische Syndrome erkennen lassen, z. B. depressive,
hypochondrische, paranoische, „hysterische“ und daraus im Gesamt¬
bild Mischungen von exogenen (bezw. organischen) und endogenen
funktionellen Einheiten hervorgehen. Dabei ist das Gesamtbild noch
im wesentlichen von den Grundformen beherrscht, wenn auch die
Pathoplastik im Gegensatz zu ihrem Verhalten bei organischen De¬
menzpsychosen stärker hervortritt. Die Spielarten der exogenen
Psychosen sind teilweise pathogenetisch festgelegt durch Intensitäts¬
oder sonstige Varianten der Noxe in Form von halluzinatorischen,
amentiven, emotionell-hyperästhetischen usw. syndromalen Spiel¬
arten und in akut-perniziösen (Delirium acutum), restituierenden und
chronisch-irreparablen Verläufen. Pathoplastische Festlegungen er¬
fahren sie durch bestimmte konstitutive oder konstellative Momente.
Wir werden im folgenden versuchen, in diesem Sinne die Wir¬
kungsweise der Herzstörung in jedem einzelnen Fall zu analysieren;
dabei werden die sich ergebenden Schwierigkeiten praktischer und
theoretischer Art nicht verkannt. Der Weg zu ihrer Überwindung
resp. Klarlegung kann nur durch kasuistische exakte Einzelarbeit ge¬
funden werden. Es kann dabei der programmatische Entwurf Birn¬
baums auch nur als allgemeine Richtlinie genommen werden; die
Gruppierung der einzelnen Bausteine für die im folgenden beschrie-
12
benen klinischen Bilder muß vorurteilslos nach den sich aus der Er¬
fahrung ergebenden Schlußfolgerungen getroffen werden.
Dabei zeigt sich schon bei der Erforschung des pathogenetischen
Momentes die Fülle der Kompliziertheit unseres Problems. Ob be¬
reits bei disponierten Individuen eine geringfügige Herzstörung eine
psychische Veränderung setzen kann, ist die erste Frage. Hier be¬
gegnen wir von vornherein der Verquickung konditioneller und kon¬
stitutioneller Faktoren, die die ätiologische Erfassung aufs äußerste
erschwert. Die Abänderung der Intensität der pathogenen Noxe ist
ja, wie wir wissen, durchaus nicht identisch mit der krankheitsaus-
lösenden Wirkungskraft, sondern hängt aufs engste mit den uns vor¬
läufig noch recht mangelhaft bekannten Fragen der Disposition zu
psychisch-nervösen Störungen zusammen. Hierbei soll zugleich die
Häufigkeit solcher Fälle herangezogen werden. Auch der Zeitpunkt,
in dem die Schädlichkeit der Herzstörung sich wirksam zeigt, wird zu
untersuchen sein, und es müssen daraus Rückschlüsse auf die Natur
der Noxe gemacht werden. Des weiteren sind die klinischen Zu¬
standsbilder und Verlaufsformen zu studieren zuerst von möglichst
reinen Fällen, d. h. von solchen, bei denen eine Herzstörung allein
ohne anderweitige Komplikationen von seiten des übrigen Organis¬
mus zu psychisch-nervösen Abweichungen führt. Diese Fragen sollen
im folgenden Kapitel zusammenhängend behandelt werden.
Die so gewonnenen Ergebnisse sollen nun aber eine Prüfung
erfahren an weiterem Material, das pathogenetisch nicht so einfach
gelagert ist. Fußend auf den oben entwickelten struktur-analytischen
Anschauungen wird systematisch eine Reihe von Fällen untersucht,
die außer den Störungen der Herztätigkeit noch andere psychiatrisch
bedeutsame Normwidrigkeiten bieten. Da sind zuerst die zahlreichen
Fälle von Arteriosklerose, bei denen eine Herzerkrankung zur Aus¬
lösung einer Psychose führt. Gerade im Hinblick auf die Unter¬
suchungen de Monchys (1. c.) hat dieses Kapitel besonderes
Interesse, da ja durch ihn bereits die Zergliederung des psychischen
Krankheitsbildes bei Arteriosclerosis cerebri durchgeführt worden ist.
Weiterhin werden wir zur Analyse von Fällen schreiten, die noch
durch andere Erkrankungen kompliziert sind. Die Erweiterung in
dieser Richtung dient dazu, die wirklichen Grundformen der kardio¬
genen Psychose aus allen zufälligen Akzidentien schärfer heraus¬
zuschälen. Ferner hoffen wir auch, bestimmte Gesichtspunkte über
die Art der Verbindung mehrerer psychischer Störungen an dieser
Stelle einfügen zu können.
13
Schließlich werden wir noch dnsere Aufmerksamkeit richten auf
den Verlauf anderer Psychosen beim Bestehen von Herzfehlern, ins¬
besondere wenn dieselben zur Dekompensation führen. Hierbei soll
besonders die Bedeutung einer pathoplastischen Wirksamkeit unter¬
sucht werden; wiewohl dieser Gesichtspunkt natürlich auch in den
vorhergehenden Kapiteln nicht unberücksichtigt bleiben darf. Des
weiteren wird hier Gelegenheit sein, den Einfluß bestimmter Konsti¬
tutionsanomalien auf die pathogenetisohe Wirksamkeit kardiogener
Noxen sozusagen im Experiment zu studieren. Auch gewisse all¬
gemeinere, theoretisch wichtige Schlußfolgerungen hoffen wir aus
diesen Beobachtungen ableiten zu dürfen.
So der Plan unserer Arbeit. Dadurch wird es deutlich werden,
wo wesentlich das kardiale Moment entscheidend wirkt, sei es patho¬
genetisch im Sinne einer besonders gearteten Noxe, sei es patho-
plastisch im Sinne der Beeinflussung und Färbung der anderweit
verursachten pathopsychischen Situation. Andererseits ergeben sich
Gesichtspunkte für das Konstitutionsproblem. Wir erinnern hier
nochmals an Kleists Aufstellung der symptomatisch-labilen Kon¬
stitution. Ferner sind zu beachten die dahin gehenden Forschungen
der biologischen Richtung, wie sie H. Fischer vertritt, der die
innersekretorischen Korrelationsanomalien in ihrer Bedeutung für die
körperlichen Grundlagen des Seelenlebens untersucht hat. Schlie߬
lich sind die Vorstellungen heranzuziehen, die E. Kretschmer in
seinem bekannten Buch über Körperbau und Charakter entwickelt
hat. Vom klinisch-analytischen Standpunkt aus liegen weiterhin
bereits wichtige Arbeiten auf diesem Gebiet vor. Sowohl de Mon-
c h y s oben erwähnte Monographie über die Arteriosklerose des Ge¬
hirns als auch Seelerts Arbeit über die Verbindung endogener
und exogener Faktoren im Symptomenbild und in der Pathogenese
von Psychosen und J.Pernets Untersuchungen über die Bedeutung
der Vorgeschichte für die Gestaltung der progressiven Paralyse haben
wertvolles Material in dieser Richtung beigebracht, das freilich noch
einer Messung und Sichtung harrt an den Ergebnissen der Konstitu¬
tionsforschung, die auf anderen Wegen gewonnen worden sind.
Diese Umschreibung unseres Arbeitsplanes und unserer Ziele
diene als Rechtfertigung, daß einem so kleinen Abschnitt, wie ihn
die Psychosen bei Herzkrankheit darstellen, eine so relativ umfäng¬
liche Studie gewidmet wird, nachdem bereits so vielfache und wert¬
volle Arbeiten darüber vorliegen. Je weiter der Wissenskreis wird,
um so vielfältiger werden die Beziehungen eines ihm entstammenden
Sonderproblems. Um diese in ihrer Gesamtheit darzustellen, muß die
14
Knappheit des früheren Rahmens überschritten werden. Sie würde
heute Magerkeit bedeuten. Die Vereinfachung der Betrachtungs¬
weise muß dort aufgegeben werden, wo die Erfahrung'uns verwickel-
tere Verhältnisse in der Wirklichkeit kennen lehrt. Wir wollen nicht
künstlich scheinen, wo die Natur einfach zu uns spricht. Aber es
liegt im Wesen jeder biologischen Forschung, daß ihre Gegenstände
nicht so einfach sind, wie man wohl manchmal wünschen möchte, und
die Psychiatrie ist und bleibt nun einmal ein Teilgebiet biologisch-
naturwissenschaftlicher Forschung, so wenig die Vertiefung seelen-
kundlicher Beobachtung in ihrem Wert verkannt werden soll. So
muß man sich also entschließen, den Tatsachen und der Erfahrung
folgend, auch dort, wo es notwendig ist, Verwickeltheit statt Einfach¬
heit darzustellen, und den Versuch wagen, Verkettungen und Ver¬
zahnungen durchsichtig zu machen, Wechselwirkungen und Bezie¬
hungen klar zu legen und mit Offenheit die Punkte aufzuzeigen, an
denen wir nicht weiter kommen.
Die rein kardiogenen psychischen Störungen.
Die Herzkranken zeigen angeblich schon charakterologisch ge¬
wisse besondere Merkmale. Man schildert sie als launenhaft, reizbar
und unzufrieden (d’Astros, Kirchhoff). Ferner findet man
unter ihnen mürrische und grämliche Menschen, daneben aber auch,
wie jeder Gang durch die Abteilungen einer medizinischen Klinik
zeigt, ruhige und frohe, unbekümmerte und zufriedene Herzkranke.
Ist es nun gestattet, die Änderung der Persönlichkeit im Sinne der
Herabgestimmtheit und des Mangels an Disziplin ursächlich mit der
Herzkrankheit in Beziehung zu setzen? Erstens sind dabei die
immerhin zahlreichen Ausnahmen zu bedenken, zweitens der Umstand
zu beachten, daß chronische Krankheit, die vom Lebensgenuß in
mannigfaltiger Form iabschneidet, wohl überhaupt leicht zur Herab¬
setzung der Stimmung, zu Reizbarkeit, zu Äußerungsabneigung, zu
Mangel an Disziplin und an Zielbewußtsein führen muß. Nun sind
uns freilich andere chronische Erkrankungen bekannt, wir erinnern
z. B. an die Tuberkulose, wo eine solche Wandlung nicht statthat,
wenn wir auch gerade hier geneigt sind, eine besondere Wirkung der
Tuberkulotoxine anzunehmen. Es muß einer besonderen Untersuchung
an geeignetem Material Vorbehalten bleiben, in dieser Frage Klarheit
zu schaffen. Vorläufig sind ja auch die Grundlagen der wissenschaft¬
lichen Charakterologie trotz der tiefschürfenden Arbeiten L. K1 a g e s ’
noch zu schwankend, um hier zu weiteren Ergebnissen zu gelangen.
Auch scheint es mir im Rahmen dieser Arbeit zu weit zu führen,
ad hoc eine besondere Diskussion anzuschneiden oder gar eine eigene
Theorie zu entwickeln, wie es seinerzeit E. Kretschmer in seiner
glänzenden Darstellung des sensitiven Beziehungswahns getan hat. Es
besteht die Absicht, diesen ganzen Fragenkomplex entsprechend seiner
Wichtigkeit und seinem Umfang später einmal zusammenhängend zu
bearbeiten. Hier sei nur die allgemeine Bemerkung hervorgehoben, daß
die Abweichungen, die sich bei Herzkranken finden, weder die Materie
noch die Qualität des Charakters zu betreffen scheinen, sondern
ausschließlich seine Struktur, daß also weder die Vorstellungskapazi¬
täten und die Auffassungsdispositionen, noch die Art der Triebfedern
eine Abänderung erfahren, sondern nur die Elemente, die der Stim¬
mung, dem Ausdruckswillen und der Affizierbarkeit entsprechen.
16
Diese grundsätzliche Stellungnahme wird einer späteren Wiederauf¬
nahme des Problems dienlich sein.
Dabei muß aber ferner noch auf die geringe Rolle hingewiesen
werden, welche Herzsensationen bei schwer organisch Herzkranken
spielen. Man ist fast versucht, den Satz aufzustellen, daß die Schwere
der Herzkrankheit im umgekehrten Verhältnis steht zu der Aufdring¬
lichkeit der Klagen und der Deutlichkeit von kardialen Mißempfin¬
dungen. Gerade die eigentlichen Herzneurotiker mit ihrem Heer von
Herzbeschwerden bieten fast nie einen organischen Befund. Diese
Beobachtung mahnt zur Vorsicht bei der Deutung der pathoplasti-
schen Wirksamkeit der Herzerkrankungen, vor allem aber, soweit
eine psychisch durch diese Empfindungen vermittelte Genese in Frage
kommt. Im Gegensatz hierzu stehen allerdings die Beobachtungen
bei der Coronarsklerose; die sthenokardischen Anfälle gehen großen¬
teils mit schwerer Herzbeklemmung und Angstempfindung einher.
Wir werden später an der Hand eines Falles näher darauf eingehen.
Was nun die psychotischen Störungen bei reiner Herzkrankheit
anlangt, so wären etwa die Erscheinungen bei akuter Endokarditis
zu trennen von jenen bei den Reslzuständen derselben, den Herz¬
fehlern. Über die Endokarditis stehen uns keine eigenen Fälle zur
Verfügung. Aber auch bei eingehender Prüfung der Literatur fanden
sich keine Fälle, in denen bei reiner unkomplizierter Endokarditis psy¬
chische Störungen geschildert werden. Dabei ist abzusehen von
jenen Fällen von Endokarditis, in denen außerdem noch Gelenk¬
rheumatismus oder Chorea bestanden. Diese sind an anderer Stelle
zu betrachten. Es ist gewiß auffällig, hier vor einem völlig negativen
Ergebnis zu stehen. Trotzdem gebietet die Vorsicht, hieraus vor¬
läufig keine weittragenden Schlüsse zu ziehen, denn leicht können
Zufälligkeiten der Berichterstattung über einen solchen Punkt Un¬
klarheit schaffen. Deswegen sei hier ausdrücklich die Frage aus¬
gesprochen, ob es Psychosen bei reinen Fällen von Endokarditis gibt;
von der Erfahrung langer Beobachtungszeit hängt ihre Beantwortung
ab, und damit auch jede theoretische Schlußfolgerung. Allerdings
ist wohl mit einer großen Seltenheit solcher Störungen zu rechnen.
Häufiger sind psychische Störungen infolge Herzfehler ohne
anderweitige Komplikation. Einer statistischen Erfassung der
Häufigkeit ihres Auftretens stehen allerdings recht beträchtliche
Schwierigkeiten entgegen. Vom Standpunkt des Psychiaters aus ist
es besonders unliebsam, daß ihm leichte Störungen nicht zu Gesicht
kommen. Herzspezialisten urteilen verschieden darüber, man möchte
glauben, je nach ihrer Einstellung. Schwerere Störungen, die An-
17
staltsbehandlung erfordern, sind sicher selten. Für die Gießener
und Frankfurter Klinik kommen nicht nur die Herzkranken der Stadt
und der inneren Klinik in Betracht, sondern auch die sehr große Zahl
derer, die im nahen Bad Nauheim Heilung suchen. Dieser sicherlich
nach Zehntausenden zählenden Menge gegenüber ist die Anzahl der
psychotisch Erkrankten verschwindend gering. Selbst wenn man an¬
nimmt, daß nur ein kleiner Bruchteil der Erkrankenden gerade diese
Kliniken aufsucht, bleibt die außerordentliche Kleinheit dieser Zahl
bestehen. Es fragt sich freilich überhaupt, in welcher Häufigkeit
symptomatische Psychosen bei inneren Erkrankungen auftreten. Dar¬
über bestehen vorläufig keinerlei Unterlagen; sie müßten in einer
medizinalstatistischen Arbeit erst geschaffen werden. Von diesen
ausgehend wird man erst weiter gelangen als zu allgemeinen Ein¬
drücken und Ansichten. K1 e i s t (1. c.) hat in dieser Richtung wich¬
tige Beiträge auf dem Gebiet der Infektionspsychosen geliefert, indem
er betonte, daß z. B. bei der Influenzaepidemie 1918/19 trotz ihrer
großen Ausbreitung nur etwa 100 Psychosen bekannt geworden sind,
während bei der Chorea von 154 Kranken 133 (d. h. 86,4 Proz.) ner¬
vöse bezw. psychische Störungen boten und die Zahl der nervösen
Störungen beim Typhus von Bergmann mit 38 Proz. angegeben
wird. Man wird sich der Auffassung nicht verschließen können, daß
eine letzteren Krankheiten ähnliche Häufigkeit von psychisch-nervö¬
sen Störungen bei Vitium cordis nicht annähernd erreicht wird, daß
aber auch ein Vergleich mit der Influenza nur unter Vorbehalt zu
ziehen ist. Es müssen eben, wie schon betont, erst zahlenmäßige
Untersuchungen angestellt werden über das Auftreten psychisch-
nervöser Störungen im Gefolge der Erkrankung anderer innerer
Organe, um Vergleichspunkte zu gewinnen. Im allgemeinen haben
die Autoren stets nur über 2—4 eigene Fälle zu berichten gewußt.
Jacob hat allerdings 9 Fälle vereinigt; aber diese sind verschieden
zu bewerten, wie sich zeigen wird. Ferner hat Bonhöffer in
seiner letzten Veröffentlichung (1. c.) 12 Fälle aufgeführt; leider ist
aus der summarischen Übersicht nicht zu entnehmen, ob diese Fälle
sämtlich rein und unkompliziert gelagert waren. Sonst sind jeden¬
falls die Fälle von psychischer Störung bei Herzerkrankung so selten,
daß der einzelne Beobachter auch bei äußerlich günstigen Verhält¬
nissen immer nur sehr wenig zu sehen bekommt.
Unsere nächste Aufgabe besteht darin, die Zustandsbilder der
psychischen Störungen, die sich allein infolge eines Herzfehlers ent¬
wickeln, näher zu zeichnen. Wir gehen darum zunächst zur Schilde¬
rung folgenden Falles über.
L « y i e r, Herzkrankheiten und Psychosen. (Abhandl. H. 250
2
18
1. F a 11. 0 b w a 1 d A., 48 J. alt, Gastwirt, stammt aus gesunder Familie,
ist in der Welt herumgekommen, ruhiger, bestimmter, ehrgeiziger Mensch von
gemessenen Formen, hat vor 4 Jahren geheiratet, Frau gesund, ebenso drei¬
jähriges Kind.
Pat. ist seit Jahren herzkrank, sucht regelmäßig Bad Nauheim auf, war
auch dieses Jahr dort in Behandlung wegen hochgradiger Ödeme. Unter Digi¬
talisbehandlung schwanden diese; währenddessen wurde Pat unruhig, schrieb
viel, schlief schlecht, glaubte sich nachts verfolgt und wurde deshalb am
29. 5. 28 in die Gießener Klinik aufgenommen.
Er ist bei der Aufnahme etwas aufgeregt, redet sehr viel, drängt sich an
den schreibenden Arzt und sucht mitzulesen, tut häufig geheimnisvoll, fordert
den Arzt auf, ihn offen anzusehen. Verlangt auf der Abteilung allerhand Klei¬
nigkeiten, will Blumen im Zimmer haben, will mehrere Kannen voll Milch,
bittet um Wasser. Verlangt nach einem Klystier, da er einen Bolzen habe.
Nach Einlauf erfolgt reichlich Stuhlgang. Gegen abend ist Pat. sehr vergnügt,
hat allerhand Wünsche, fügt sich aber den Anordnungen.
Am 30. 5. steht Pat. sehr früh auf, zieht sich an und bleibt nicht im
Zimmer, sondern geht umher, sieht dabei mürrisch vor sich hin, gibt kaum Ant¬
wort. Bei der Visite spricht er undeutlich vor sich hin, geht auf Fragen nicht
ein. Halluziniert anscheinend. Auf Aufforderung geht er in sein Zimmer.
Plötzlich sieht Pat nach rechts oben, sagt abwehrend: „Nee, nee!“, winkt mit
den Händen ab, fällt dann zurück, zuckt links zusammen, liegt einige Sekun¬
den steif; dann stellen sich Zuckungen im rechten Facialis, im rechten Arm
und im rechten Bein ein. Dabei besteht Deviation conjug^e der Augen nach
rechts. Hochgradige Zyanose. Haut der Brust wachsbleich und mit kaltem
Schweiß bedeckt, Puls klein, unregelmäßig, kaum zu fühlen. Linke Pupille
enorm erweitert. Dauer des Anfalls etwa 1 Minute.
Nach kurzer Zeit kommt Pat. wieder zu sich. Keine Lähmung, keine
Parese. Pat. spricht verwirrt vor sich hin, glaubt Ref. zu kennen, geht auf
Fragen nur selten ein. örtlich orientiert, blickt sich um, will die Mitkranken
kennen lernen. Geburts- und Hochzeitsdatum richtig angegeben. Wiederholt
immer wieder, was vor 48 Jahren war, brauche er nicht zu wissen.
Körperlich: Ziemlich großer, abgemagerter Mann. Hautfarbe etwas zya¬
notisch. Keine Ödeme. Enorme Erweiterung der Herzgrenzen nach rechts.
Schwirrender, bebender Spitzenstoß in 6. I.-C.-Raum, außerhalb der Brust¬
warzenlinie. Herztöne sämtlich unrein; lautes sausendes systolisches Geräusch
an der Herzspitze. Puls unregelmäßig, ziemlich klein. Urin frei von Eiweiß
und Zucker. Starke Schweißsekretion. Linke Pupille weiter als rechte. Licht¬
reaktion prompt. Konvergenzreaktion nicht zu prüfen. Bauchdeckenreflexe
links schwach, rechts nicht auslösbar. Kremasterreflex links schwächer als
rechts. Patellarsehnenreflex wegen aktiver Spannung der Muskeln nicht zu
prüfen. Keine spastischen Reflexe. Keine Kloni. Sensibilität nicht zu prü¬
fen. Liquor fließt unter etwas erhöhtem Druck klar ab, Pandy schwach +,
Nonne-Apelt Phase I negativ, Zellzahl 8/8 Fuchs-Rosenthal. Wassermannsche
Reaktion im Blut und Liquor negativ.
Nachmittags liegt Pat. steif und regungslos da, antwortet nicht, reagiert
auf keinerlei Reize.
Am 81. 5. den ganzen Tag über negativistisch, spannt jeden Muskel, so¬
bald man ihn anfaßt, gibt keine Antwort, nimmt kein Essen, läßt Urin unter
19
sich. Abends ausgesprochenes Beschäftigungsdelir. Pat. läuft umher, trifft
allerlei Anordnungen, glaubt in seinem Hause zu sein.
1. 6. Heute etwas freier, gibt Auskunft. Ist örtlich und zeitlich desorien¬
tiert. Fühlt sich krank, will zur Kur, will den Fahrplan haben. Beim Besuch
der Frau, die er sofort erkennt, starke ängstliche Erregung. Glaubt, die Fran¬
zosen kämen, um ihn zu erschießen. Jammert stereotyp, rauft sich das Haar,
drängt aus dem Bett.
3. 6. Im allgemeinen besteht die ängstliche Verwirrtheit fort; tagsüber
ist Pat. ruhiger, abends erregter. Geht fortwährend aus dem Bett, starrt öfter
nach einer Richtung. Spricht unverständliche Worte vor sich hin.
5. 6. Bewußtsein klar, zeitlich und örtlich orientiert. Unterhält sich
ruhig mit seiner zu Besuch weilenden Frau. Schläft gut, wünscht in ein
Einzelzimmer verlegt zu werden. Puls noch unregelmäßig, Herzdämpfung hat
sich bedeutend verkleinert, Spitzenstoß weniger hebend im 6. J.-C.-R. Urin¬
menge vermehrt. Noch zyanotisches Aussehen. Linke Pupille weiter als
rechte. Lichtreaktion +. Konvergenzreaktion beiderseits vorhanden, etwas
träge. Patellarsehnenreflexe nicht auszulösen, ebenso Achillessehnenreflexe
und Bauchdeckenreflexe.
8. 6. Pat. ist meist besonnen. Stimmung mürrisch, unzufrieden, Pat.
nörgelt viel. Hat allerhand Wünsche, gibt an, weder Stimmen noch Gestalten
wahrzunehmen. Dann wieder spricht er mit angstvoller Miene und in abgeris¬
senen Sätzen von den Franzosen, die unter seinem Bett steckten und ihn
erschießen wollten.
10. 6. Pat. ist zuweilen noch ängstlich: die Franzosen verfolgen ihn, die
Kugeln sausen um seinen Kopf. Bisweilen recht ruhig und besonnen, unter¬
hält sich frei und ungezwungen, will bald wieder zur Kur nach Bad Nau¬
heim gehen.
13. 6. Pat. verhält sich meist ruhig. Die Helle des Bewußtseins schwankt
wiederholt im Laufe weniger Stunden. Im allgemeinen ist die Stimmung ab¬
lehnend, mürrisch und gereizt. Auf seine Verfolgungsideen geht Pat. nicht
mehr ein, davon wisse er nichts mehr. Pat. wird von seiner Frau abgeholt.
24. 7. Pat. wird in Bad Nauheim allein umherspazierend angetroffen,
grüßt höflich, teilt mit, daß er einen Rückfall „mit dem Wasser“ gehabt habe.
Im Wesen sehr zurückhaltend.
Die Abhängigkeit der geschilderten Psychose von der Herz¬
erkrankung steht fest; sie setzt ein nach oder bei der Resorption der
Ödeme, jedenfalls in einem Zeitpunkt, in dem diese schon äußerlich
geschwunden sind. Eichhorsts Beobachtung des Einsetzens
psychischer Störungen gerade bei der Resorption von Ödemen unter
Digitaliswirkung wurde bereits oben erwähnt (S. 10). Fügt sich nun
unser Fall symptomatologisch in das Bild, das Eichhorst entwirft,
erst Apathie, dann Hyperkinese und traumhafte Verwirrtheit? Diese
Frage ist zu verneinen. Im Beginn steht vielmehr eine deutliche
manische Verstimmung des Pat.; dahin weisen seine Vielschreiberei,
seine Redelust, seine Ungeniertheit, die vielen Wünsche, die zeit¬
weise gehobene und vergnügte Stimmung. Freilich finden sich be¬
reits eine gewisse mißtrauische Gereiztheit und bisweilen auftretende
2 *
20
Verfolgungsideen. Aber rasch ändert sich das Bild. Mürrisch-gereizt
geht der Pat. umher und halluziniert anscheinend. Nach einer Em¬
bolie gerät Pat. bald in einen tiefen Stupor mit Nahrungs- und Ant¬
wortverweigerung, mit negativistischen Muskelspannungen und mit
Unreinheit. Aber auch dieser Zustand hat keinen Bestand; es folgt
ein delirantes Stadium mit Verkennung der Umgebung, Beschäfti¬
gungsdrang und Sinnestäuschungen. Dieses schlägt in eine schwere
ängstliche Erregung um. Von da geht es unter Schwankungen zur
Genesung. Stundenweise, namentlich morgens, ist der Pat. freier,
ruhiger und besonnener; gegen Abend wird er verwirrt, ängstlich,
erregt. In diesem Zustand wurde er entlassen. Einen Monat später
finden wir ihn genesen, höflich und etwas zugeknöpft.
Die Gesamtdauer der Erkrankung beträgt etwa 3 Wochen. Sie
unter einen einheitlichen Symptomenkomplex zu subsumieren, ge¬
lingt nicht; die einzelnen sich aneinanderreihenden Zustandsbilder
sind in K1 e i s t schem Sinne teils heteronom, teils homonom, gehören
aber alle zu den exogenen Reaktionstypen Bonhöffers. Der Pat.
bot keinerlei manisch-depressive Antezedentien, er zeigte sicherlich
keinen pyknischen Körperbau, war groß, hager, schlank, hatte ein
schmales eiförmiges Gesicht, war von Charakter ruhig, gemessen,
ehrgeizig. Trotzdem fand sich ein deutliches manisches Vorstadium.
Die weitere Auswertung dieser Beobachtung kann natürlich nur
im Zusammenhang mit der Vergleichung an anderem Material er¬
folgen. Aber grundsatzgemäß kommen nur Fälle in Betracht, bei
denen außer der Herzerkrankung keine weitere Komplikation vor¬
liegt. Eigene Beobachtungen müssen darum an dieser Stelle vor¬
läufig zurückgestellt werden. In der Literatur dagegen stehen ver¬
schiedene Fälle zur Verfügung, bei denen die Psychosen nach der
Resorption die Ödeme einsetzen. So beschreibt Krisch eine 44jähr.
Kranke, die zwar stets erregbar, aber immer gesund war und nun mit
Dekompensationserscheinungen infolge Herzmuskelerkrankung Auf¬
nahme in die medizinische Klinik fand. In wenigen Tagen schwanden
die Ödeme. Etwa eine Woche später plötzlich erregt, beklagt sie sich
über Verspottung durch die Umgebung; tags darauf läuft sie umher,
singt, schreit, spuckt, schleudert alles umher, macht Verbeugungen,
bekreuzigt sich, klatscht in die Hände, schimpft, hat ein vages Krank¬
heitsgefühl. Nach zwei Tagen ist sie ruhiger, etwas desorientiert,
verkennt Personen. Nach weiteren zwei Tagen ist sie völlig geord¬
net, kann sich an die Psychose nicht erinnern. Auch hier traten also
die psychotischen Erscheinungen erst auf, nachdem die Ödeme ge¬
schwunden waren. Die ganze, viel kürzer dauernde Erkrankung verlief
21
unter dem Bild einer hyperkinetischen Erregung mit Ratlosigkeit,
Gereiztheit und einer gewissen Krankheitseinsicht, daran schloß sich
ein Dämmerzustand mit Desorientiertheit und Personenverkennun¬
gen; es blieb eine retrograde Amnesie zurück.
Aber nicht immer beginnen die psychischen Störungen erst beim .
Schwinden der Ödeme; das beweisen die Beobachtungen J. Fischers,
besonders der dritte Fall, den er anführt. Ein 62jähriger Amtsdiener
mit Mitralinsuffizienz, die zu hochgradigen Ödemen und Ascites ge¬
führt hatte, erkrankt mit Unruhe, Desorientiertheit, Halluzinationen
und Verkennung der Umgebung. Nach dreitägiger Diurese fallen die
Ödeme, das Bewußtsein klärt sich, die Halluzinationen schwinden.
Der Patient kann sich nur dunkel des Zustandes entsinnen und bleibt
von da an klar und geordnet. Es handelt sich also hier um ein kurz
dauerndes Delir, das mit den Ödemen verschwand. Ähnlich begann
die Erkrankung eines 52jährigen Asthmatikers, der an Herzklappen¬
fehler und Ödemen litt, mit einem Delir, das sich aus Desorientiert¬
heit, Herabsetzung der Merkfähigkeit und Halluzinationen zusam¬
mensetzte, nur gestaltete sich der Verlauf anders, indem sich
ein apathisch-stuporöser Zustand entwickelte, der fünf Monate
bis zum Tode anhielt. Das Delir war dadurch ausgezeichnet, daß es
stundenweisen Schwankungen unterworfen war, ähnlich wie es oben
beim Falle Oswald A. beschrieben ist; tagsüber war der Kranke leid¬
lich klar, nachts nahmen die Verwirrtheit und die „Hlusionen“ zu.
Ein solches Verhalten, auf das auch Jacob hinweist, fand sich auch
bei dem dritten Kranken J. Fischers, einem 48jährigen Herz¬
leidenden mit Herzklopfen, Atemnot und Ödemen. Dieser sang und
lärmte nachts in schwerer Erregung, tagsüber war er klar und konnte
sich’an die Vorkommnisse der Nacht nicht erinnern. Nach Kompen¬
sation des Herzfehlers trat Besserung ein; als sich aber nach vier
Wochen wieder eine Kompensation einstellte, entwickelte sich von
neuem eine Geistesstörung, zwar etwas anderer Symptomatik, aber
von demselben Rhythmus betreffs ihrer Intensität. Tagsüber war das
Bewußtsein klar, die Stimmung war gedrückt und mißmutig; gegen
Abend steigerte sich die Dyspnoe, der Kranke halluzinierte, ver¬
kannte die Personen, sprang auf, lief verwirrt im Zimmer umher, bat
um sein Leben. Nach einigen Tagen wurde er sehr ruhig, sprach
wenig, war sehr verstimmt und sentimental, doch blieb sein Bewußt¬
sein klar bis zwei Tage vor seinem Tode. Bezeichnend sind an diesem
Fall das Schwanken der psychischen Störung mit der Tageszeit, ihr
Einsetzen bei Dekompensationserscheinungen und ihr depressives
Nachstadium, während das psychotische Zustandsbild daB erste Mal
22
wohl eher einer psychomotorischen Erregung und das zweite Mal
einem Delir entsprach.
Der folgende Fall eigener Beobachtung hat den Nachteil, daß
er sehr rasch letal endete. Trotzdem findet sich ein kennzeichnendes
Symptomenbild mit den der Tageszeit synchromen Schwankungen;
freilich beginnt die Erkrankung nicht auf der Höhe der Ödeme, son¬
dern vermutlich im Beginn ihres Rückganges.
2. F a 11. L i n a 54 J. alt, in Behandlung der Frankfurter Klinik vom
1. 2. bis 7. 2. 1922.
Kommt aus dem Marienkrankenhause, weil sie dort erregt war, liegt
ruhig da, Puls klein, gespannt, unregelmäßig. Herz vergrößert. Starke Ödeme
und Aszites. Stauungsbronchitis. Antwortet mit lauter Stimme, ist nicht
orientiert, weiß ihr Alter nicht.
Anamnese: Seit 16 Jahren allmählich zunehmende Herzbeschwerden.
Bei körperlicher Anstrengung Atemnot und Beklemmung. In den letzten
Wochen Verstärkung der Dyspnoe, Verminderung der Urinsekretion und Be¬
einträchtigung des Schlafes. Bei der Aufnahme in das Krankenhaus war das
Nervensystem und der Augenhintergrund ohne krankhaften Befund. Über der
Lunge vereinzeltes Knisterrasseln. Die Herzdämpfung war etwas verbreitert,
der Spitzenstoß hebend. Der 1. Ton über der Mitralis unrein. Über der Pul-
monalis leises systolisches Geräusch. Puls inäqual, arythmisch. Leber¬
gegend durckschmerzhaft, Leber vergrößert. Im Urin 2°/oo Eiweiß; im Sedi¬
ment einzelne hyaline Zylinder. Auf Digitalis und Diuretin bessert sich die
Diurese, ebenso die Atemnot. Bald treten nächtliche Erregungen auf mit ver¬
worrenen Reden, wofür am Tage Amnesie bestand. Die letzten Tage tagsüber
ruhig, abends allmählich zunehmende Erregungszustände, wird aggressiv gegen
die anderen Kranken, dabei war die Temperatur etwas erhöht.
Am 1. 2. sprach Pat. tagsüber vernünftig, nachts stöhnte und jammerte
sie viel, verlangte öfters nach dem Arzt.
Am 2. 2. liegt Pat. kurzatmig im Bett, richtet sich röchelnd auf, spricht
klagend und leise in einförmigem Tonfall. Hält die anderen Pat. für Kranke,
die während des Krieges heruntergekommen seien. Der Krieg habe 1914
angefangen und sei 1918 oder 20 geendet. Halluzinationen gibt sie zahlreich
an. Es habe nach Tapeten gerochen, verschiedene Sachen seien um das Bett
gestanden, Kinder, Kleider, Schuhe, Leute, eine ganze Ausstattung, atemlose
Menschen, die werden eingenäht, doch dürfen sie nichts darüber sagen, sie
sollen doch nicht so laut sein, eine Gestalt wie ein Licht stehe dort, die
Tapeten rutschen.
Man müsse Geduld mit ihr haben, sie sei so krank. Viele Angstzustände,
habe sich immer nach dem letzten Augenblick gesehnt, in der Angst habe sie
um Hilfe geschrieen.
Leichte Rechenaufgaben löst sie richtig, kann sie aber nach geringer
Störung nicht mehr wiederholen. 6— 7 Ziffern spricht sie nach. Schwerere
Rechenaufgaben wie 17X5 oder 12X4 gelingen nicht. Sprichwörter erklärt sie
meist richtig, manchmal verworren, z. B. „Wenn man etwas haben will, so muß
man eben keine Rosen ohne Dornen“. Unterschiedsfragen beantwortet sie
richtig. Beim Erklären von Bildern haftet sie an Einzelheiten, erkennt den
Zusammenhang nicht.
23
Am 3. 2. Abends euphorisch, benommen, reichliche Verkennungen.
Körperlicher Befund: Atmet schwer, 32 Atemzüge in der Minute,
über den hinteren Partien der Lunge feuchte Rasselgeräusche. Herzgrenzen
beiderseits erweitert. Töne leise, über der Spitze, der Aorta und der Basis
lautes diastolisches Geräusch, Puls 120, klein, unregelmäßig, starke Ödeme im
Rücken und an beiden Beinen, Pupillen eng, Li.-Re. +. Bauchd. u. Pat.-S.-R.
nicht auszulösen, Ach.-S.-R. +. Sensibilität für spitz intakt. Urin fließt spon¬
tan ab, „weil sie nicht so rasch aufkönne“.
4. 2. In der Atmung freier, Puls noch unregelmäßig. An den Beinen
Erosionen mit entzündlich geröteter Umgebung.
5. 2. Sensorium frei, erinnert sich ihrer Halluzinationen, ist munter, jetzt
sehe sie nichts mehr. Gegen abend Temperaturanstieg, wird erregt, spricht
verworren vor sich hin.
6. 2. Liegt tief benommen im Bett, Atmung beschleunigt, Puls klein,
kaum zu fühlen.
7. 2. Exitus.
In diesem Falle entwickelt sich anschließend an nächtliche Er¬
regungszustände mit Herzangst und Beklemmungsgefühl eine Hallu-
zinose, aber ohne ängstliche Färbung und mit relativer Besonnenheit.
Die Halluzinationen treten bald zurück; die Erinnerung bleibt er¬
halten, es besteht ein euphorischer leichter Benommenheitszustand,
der rasch verworren wird und in den agonalen Sopor übergeht. Auch
hier handelt es sich um heteronome Zustandsbilder. Die Psychose
tritt erst nach recht langem Bestand der Ödeme auf.
Daß aber auch homonome Zustandsbilder bei diesen die Ödeme
begleitenden Psychosen Vorkommen, bezeugt folgende Beobachtung
Bonhöffers. Ein 37jähriger Herzkranker mit Ödemen und Kopf¬
schmerzen wird allmählich reizbar und hört Stimmen befehlenden
und beschimpfenden Inhalts; unter Steigerung der Stauungserschei¬
nungen gestaltet sich die Stimmung gehoben, es besteht Rede- und
Schreibdrang, Ideenflucht, Ablenkbarkeit, Gereiztheit und Rücksichts¬
losigkeit. Nur gegen Abend treten zuweilen bei Verstärkung der
Kopfschmerzen und bei auftretendem Erbrechen Gehörhalluzinatio¬
nen hervor. Das Bewußtsein bleibt immer klar. Dieser Zustand
bleibt unverändert gleich bis zum drei Monate später erfolgenden
Tode. Das der Tageszeit synchrone Schwanken findet sich hier nur
im abendlichen Auftreten der Halluzinationen angedeutet. Die Eigen¬
art und Stabilität des Zustandsbildes lassen Bonhöffer an eine
durch die Herzerkrankung nur ausgelöste manische Attacke aus dem
Gebiet des manisch-depressiven Irreseins denken. Späterhin soll dar¬
auf näher eingegangen werden.
Weiterhin kommen, wie Bonhöffer, Rosenfeld und
Jacob betonen, auch schon vor dem Auftreten von Stauungserschei-
24
nungen in Form von Ödemen psychische Störungen zustande. Diese
Tatsache erfordert sorgfältige Beachtung gegenüber der naheliegen¬
den Anschauung von der Entstehung autotoxischer Vorgänge beim
Auftreten oder bei der Resorption von Ödemen als Ursache der psy¬
chischen Alteration.
Vielmehr scheint die Zirkulationsstörung schon als solche ge¬
nügend zu sein, um Psychosen hervorzurufen, eine Tatsache, die
Jacob veranlaßt hat, die Bezeichnung „Kreislaufpsychose“ zu prä¬
gen. Seine theoretischen Anschauungen werden später im Zusam¬
menhang mit dem aus dem Gesamtmaterial sich ergebenden Schlu߬
folgerungen erörtert werden. An dieser Stelle wird zunächst ein Bei¬
spiel gebracht für das Auftreten einer kardialen Psychose vor der
Bildung von Ödemen«
8. Fall. Betty K., 64 Jahre alt, in der Frankfurter Klinik vom
25. 7. bis 2. 8. 1922 in Behandlung.
Wird aus der Wohnung gebracht, liegt ruhig da, gibt keine Antwort.
Puls sehr frequent, Pupillen eng.
Vorgeschichte: Die Pat. war früher außer einem Herzfehler stets
gesund, hat .4 gesunde Kinder. Wegen Atem- und Herzbeschwerden in der
letzten Zeit nicht mehr recht arbeitsfähig, klagte öfters über Kopfschmerzen.
Gedächnis bis vor kurzer Zeit gut. Vorgestern sprach sie verwirrt, verkannte
die Umgebung, lachte auffallend viel und beziehungslos, richtet sich im Bett
auf, lacht und läßt sich wieder zurückfallen, drängt aus dem Bett, behält die
Decke nicht im Bett, sieht die Stube brennen, fährt bei Geräuschen erschreckt
zusammen. Äußert nichts über Stimmen. Gibt seit heute verkehrte Antworten
und nimmt keine Nahrung zu sich.
Körperlicher Befund: Ältere, mittelgroße, mäßig genährte Frau. Ge¬
sicht zyanotisch. Pupillen eng. Lichtreaktion träge, rechts links Konver¬
genzreaktion +.
Lungengrenzen tiefstehend, rechts hinten unten handbreite Dämpfung.
Atemgeräusche vesikulär, im Bereich der Dämpfung abgeschwächt. Atmung
oberflächlich, 24 L d. Min.
Herz: nach links verbreitert, Spitzenstoß in der Axillarlinie fühlbar. Über
allen Ostien lautes blasendes systolisches Geräusch, leises diastolisches Ge¬
räusch besonders über der Aorta. Puls klein, schnellend, unregelmäßig, etwa
68 i. d. Min. Kapillarpuls.
Leber vergrößert. Urin reichlich Eiweiß. Im Sediment Plattenepithelien
und Leukozyten. Keine Ödeme.
Armreflexe vorhanden. Pat.-S.-R. nicht auslösbar. Ach.-S.-R. +, Sensi¬
bilität nicht zu prüfen.
Psychisch: Liegt ruhig im Bett, hält die Augen geschlossen. Auf Anruf
öffnet Pat. langsam die Augen, sieht erstaunt fragend um sich, gibt Namen
und Alter richtig an. Ist zeitlich und örtlich völlig desorientiert, hält den Arzt
für einen evangelischen Pfarrer. Auf die Frage, wo sie sei, antwortet sie
mehrere Male hintereinander: „Konservatorium“. (Was ißt das für ein Haus?)
„Künzerode, Künzerode“. Ratlose Handbewegungen, greift in die Luft, als
wenn sie etwas suche.
25
(Haben Sie Kinder?) „Nein, ich will doch, nein, Sie wollen, was wollen
Sie, wüßte nicht, wer’s war. Die Nachbarschaft (plötzlich erregt) he, wer ist
denn da? Da wollen wir mal so sprechen, das hat doch keinen Zweck. Das
dreht sich ja heute, bleib’ drüben, drüben mehr. Wer, weiß ich nicht. Laßt
mir meine Ruh’“.
(Welches Jahr?) „Wer kann das wissen, das ist doch ganz egal.“
Nestelt an den Hemdenknöpfen, dreht sich im Bett.
(Haben Sie Schmerzen?) Sieht ratlos um sich: „Ja, ja, ja.“
(Wo haben Sie Schmerzen?) „Ja, ja, das ist doch alles egal.“ (Freund¬
lich lächelnd): „Alles egal, ich will schlafen.“
Pat. ist nicht zu fixieren, faßt die Fragen anscheinend nicht auf, greift
nach den glänzenden Knöpfen an den Mänteln der Ärzte. Vorgehaltene Gegen¬
stände erkennt sie nicht. Uhr: „Das ist Ihre Mutter.“ Notizbuch: „Ja, ja,
das ist sie, die Mutter.“ Worte nachsprechen: Heute +. Haus +. Haus¬
tür +. Garten +. Selterswasserflasche — „Seltersflasche“. Dampfschiff¬
fahrtsgesellschaft — „Dampfschiffahrt“. Artilleriebrigade — „Allerie“.
26. 7. Pat. war die ganze Nacht schlaflos, saß meist aufrecht, sprach un¬
zusammenhängend vor sich hin. Wa.-Re. im Blut und im Liquor negativ.
Zellzahl im Liquor 13/3. Keine Eiweißvermehrung.
27. 7. Zeitlich und örtlich desorientiert. Spricht dauernd zusammen¬
hanglos vor sich hin, macht Handbewegungen in der Luft, bezeichnet heute
vorgehaltene Gegenstände meist richtig.
Während der nächsten beiden Tage blieb der Zustand unverändert, schläft
wenig, spricht inkohärent vor sich hin.
30. 7. Heute vollkommen klar, zeitlich und örtlich genau orientiert.
Erzählt dem Arzte lächelnd, daß sie ihn für einen evangelischen Pfarrer gehal¬
ten habe. „Ich war ja ganz verwirrt, wußte gar nicht mehr, wo ich war.
Das kommt alles von dem kranken Herzen.“ Puls jetzt regelmäßig, kräftig.
Herzbefund unverändert. Pupillen reagieren prompt auf Li. und Co. Nah¬
rungsaufnahme gut. Schläft die ganze Nacht ruhig.
2. 8. Nett, freundlich, ruhig, wird nach Hause entlassen.
Es handelt sich hier um ein akut einsetzendes Bild von Verwirrt¬
heit, indem zuerst der halluzinatorische, später der inkohärente Cha¬
rakter überwog, auftretend bei einer seit langer Zeit an einem schwe¬
ren Herzfehler Leidenden, ohne dafi Ödeme bestanden. Der Zustand
dauerte in fast unveränderter Ausprägung 7 Tage lang und schlug
näch Besserung der Herztätigkeit plötzlich in Beruhigung mit Krank¬
heitseinsicht und relativ guter Erinnerung um. Eine ängstliche Fär¬
bung trat nicht besonders hervor.
Anders verhielt es sich damit in einem Falle Bonhöffers, bei
dem sich die psychotischen Erscheinungen gleichfalls vor der Bildung
von Ödemen entwickelten. Eine 35jährige Herzleidende suchte wegen
zunehmender Herzbeschwerden und Angst das Krankenhaus auf. Als
körperlicher Befund ließen sich eine schwere Vitium cordis, unregel¬
mäßige Herztätigkeit und Zyanose erheben, dagegen bestanden keine
Ödeme. Die Kranke war ängstlich und hatte Gehörshalluzinationen.
Bald trat eine manische Phase hervor mit Euphorie, Rededrang,
Ideenflucht, Grobheit und lautem Lachen, während die Orieritiertheit
erhalten blieb. Am folgenden Tage nach schlechtem Schlaf unzu¬
gänglich und grob, wurde sie gegen Abend delirant, war desorientiert,
hatte optische und olfaktorische Halluzinationen; die Stimmung blieb
manisch, es bestand Rededrang, Vorlautheit und Neigung zu Tätlich¬
keiten. Allmählich ging die Erregung zurück, die Kranke mißdeutete
aber die Umgebung und wehrte ängstlich-ärgerlich die Untersuchung
ab. Nach 6 Tagen zeigte sich die Kranke bei völliger Beruhigung
und großem Schlafbedürfnis unter Besserung der Herztätigkeit wie¬
der freundlich und bescheiden. Auch Bonhöffer vermag hier
keine manisch-depressive Belastung oder Vorgeschichte festzustellen.
Der Verlauf entspricht etwa dem unseres Falles Oswald A., nur in
viel rascherer Zeitfolge und unter Auslassung des Stupors.
Eine besondere Stellung nehmen diejenigen Fälle ein, bei denen
es erst kurz vor dem Tod zu psychischen Veränderungen kommt. Der
Todeskampf ist an sich oft mit einer Bewußtseinstrübung verbunden,
am häufigsten sind diese agonalen Störungen vom Typus des Komas
oder Sopors. Ferner sind von Jacob „subfinale Delirien“, heftige
Erregungszustände mit Desorientiertheit, kurz vor dem Tode be¬
schrieben worden. Das Verhältnis dieser Delirien in ihrer Häufigkeit
zu den komatösen Agonien ist unbekannt. Ihre Symptomatologie ist
aus leicht verständlichen Gründen viel einfacher als die der übrigen
psychischen Störungen bei Herzfehlern. Jacob hat ihnen eine üble
prognostische Bedeutung zusprechen wollen. Es ist nicht recht er¬
kennbar, inwiefern die psychopathologische Eigenart des einsetzen¬
den Delirs unterschieden werden soll von anderen Delirien, wenn
nicht andere allgemeine Gesichtspunkte, wie die Beurteilung der
Prostration, der Herzkraft u. a., herangezogen werden sollen. Anders
steht es mit einer Schlußfolgerung, die sich aus dem Umstande ergibt,
daß kurz vor dem Tode auch bei solchen Individuen psychische Stö¬
rungen auftreten, bei denen die vorangehende Krankheit nicht dazu
ausgereicht hat. Es wirkt die allgemeine Herabsetzung des Kräfte¬
zustandes ceteris paribus im Sinne der Erleichterung und Auslösung
in dieser Richtung. Hiermit ist freilich nur die Bestätigung einer
Binsenwahrheit gewonnen.
Wir fassen zusammen: Den Psychosen bei reinen Herzfehlern
ist also anscheinend eine relative Seltenheit eigen. Sie beginnen teil¬
weise mit oder nach der Resorption von Ödemen, teilweise mit deren
Auftreten, teilweise aber auch, bevor es zur Ausbildung derselben
kommt. Sie zeigen eine sehr wechselnde Dauer von wenigen Tagen
27
bis zu mehreren Monaten. Die bei ihnen auftretenden Zustandsbilder
sind teils heteronom, teils homonom; unter erstere sind zu zählen
Halluzinose, Stupor, Verwirrtheit, Delir, Dämmerzustand, hyperkine¬
tische Erregung, unter letzteren die manischen und die depressiv
gefärbten Stadien. Dazu ist zu bemerken, daß meistens, namentlich
bei längerer Krankheitsdauer, die Einzelerkrankung aus mehreren
aufeinander folgenden Zustandsbildern zusammengesetzt ist, so z.B.
im Fall Oswald A. aus manischer Verstimmung, Stupor und Delir.
Die Besserung des psychischen Zustandes erfolgt meist gleichzeitig
mit Behebung der Herzstörung, ja mitunter führt ein Rückfall in die¬
ser Richtung auch zu einer erneuten Störung in jener. Dabei werden
die Dekompensationserscheinungen selbst bei demselben Individuum
nicht immer mit demselben psychischen Zustandsbild beantwortet,
wie der eine der Fischer sehen Fälle zeigt. Dagegen scheint eine
Besonderheit, die in fast allen Fällen wiedergefunden wird, das mit
der Tageszeit synchrone Schwanken der Schwere der psychischen Er¬
krankung zu sein. Ein Überwiegen ängstlich gefärbter Zustands¬
bilder tritt im Gesamtverlauf kaum hervor, wenn auch fast nie ein
solches Stadium, wenigstens zeitweise, vermißt wird. Der Ausgang
der psychischen Störungen ist überwiegend günstig, wenn der Tod
nicht vorzeitig dem Verlauf ein Ende macht, doch entwickelt sich
einmal ein apathisch-stuporöser Zustand, ein anderes Mal eine depres¬
sive Phase als Restzustand von der Dauer einiger Monate. Es bleibt
bei der kurzen Schilderung Fischers fraglich, ob es sich hier um
ähnliche Zustände gehandelt hat, wie sie Bonhöffer als emotio¬
nell-hyperästhetische Schwächezustände schildert. Die Entstehung
eines Korsakowsehen amnestischen Zustandsbildes wurde nicht
beobachtet.
Dieses Ergebnis erlaubt nur sehr vorsichtige Schlußfolgerungen
über die Natur der wirksamen Noxe; ihr Auftreten hängt wohl mit
einer, sei es qualitativen, sei es quantitativen Veränderung in der
Blutversorgung des Gehirns zusammen, worauf uns auch das rhyth¬
mische Schwanken der Intensität der psychotischen Erscheinungen
hinzuweisen scheint. Die Wichtigkeit der Anlage tritt besonders her¬
vor, wenn man sich die Seltenheit dieser Störungen vor Augen hält.
Eine genauere Erörterung dieses wichtigen Punktes wird erst im
Schlußkapitel erfolgen, nachdem die weiteren Erfahrungen an ver-
wickelteren Fällen vorgetragen und analysiert sind. Besondere Auf¬
merksamkeit verdient der Umstand, daß die psychischen Störungen
gewöhnlich aus mehreren aufeinanderfolgenden und ineinanderüber-
gehenden Zustandsbildem bestanden. Dabei ist die Reihenfolge die-
28
8er Bilder in keiner Weise festgelegt, wenn auch die homonomen
Bilder häufiger im Anfang oder am Ende des Gesamtverlaufs stehen.
Daraus den Schluß zu ziehen, es träten zu Anfang und zu Beginn die
Anlagetypen stärker hervor, wäre wohl zu voreilig, denn gerade
dafür bedarf es noch der soeben angekündigten Beschäftigung mit
der Anlage, um die Voraussetzung zu klären, ob und inwiefern homo-
nome Symptomenkomplexe auf eine entsprechende Prädisposition
schließen lassen. Weiter scheint die Frage der Prüfung wert, ob
sämtliche exogenen Reaktionstypen im gleichen Rang als Hirnschä¬
digungssyndrome zu betrachten sind, oder ob sie Ausdruck verschie¬
dener Grade an Intensität darstellen. Auch dieses allgemeine Pro¬
blem soll erst später eingehend behandelt werden. Diese Verknüpft-
heit darf aber den Blick nicht ablenken vom Hauptthema der Unter¬
suchung der psychischen Störungen bei Herzkrankheiten.
Außer den mehr oder minder akut entstehenden Psychosen bei
Dekompensation der Herzfehler ist der ursächliche Zusammenhang
chronischer Psychosen mit Herzstörungen zu untersuchen. Als Leit¬
linie auf diesem schwierigen Boden dienen die folgenden Überlegun¬
gen, wie sie bereits von Stransky u. a. angestellt worden sind.
Herzerkrankungen erzeugen einerseits zuweilen besondere Sensatio¬
nen, die in der Klinik der inneren Krankheiten als Herzangst bekannt
sind. Andererseits kann es auf der Grundlage abnormer Körper¬
gefühle zu einer krankhaften Verarbeitung im psychischen Leben
kommen, wie z. B. beim Beeinträchtigungswahn Schwerhöriger. Auch
die Herzangst erfährt zuweilen eine weitere Verarbeitung; dafür lie¬
fert der folgende Fall den Beweis, bei dem diese Entwicklung klar zu
beobachten ist, wenn auch das hohe Alter des Betroffenen Bedenken
hinsichtlich der Reinheit des Falles zu erwecken geeignet ist.
4. F a 11. G e o r g B., 79 Jahre alt, aufgenommen in die Gießener Klinik
am 27. 11. 1922. War früher immer gesund, passionierter Jäger und Tourist»
Seit längerer Zeit Atemnot und Herzbeklemmungen. Seit 4 Wochen schlechter
Schlaf, gerät bei sthenokardischen Anfällen in ängstliche Erregung, kann nicht
allein bleiben, bittet den Arzt um Gift, den Sohn um Waffen, damit er erlöst
werde, bekommt Todesgedanken. Schläft seit 5 Tagen nur noch nach Mor-
phiuminjfcktion und auch dann nur kurze Zeit.
Bei der Aufnahme weigert sich Pat., auf eine geschlossene Abteilung zu
gehen, weist Bad und Abendessen zurück, wird dabei sehr erregt, glaubt sich
gewaltsam zurückgehalten, läßt sich nur schwer beruhigen. Starke Dyspnoe.
Puls langsam und unregelmäßig; schläft auf 0,01 Morph, nur sehr wenig.
In der Nacht dämmert er meist mit geöffneten Augen und heftig nach
Atem ringend vor sich hin, scheint laut dabei zu träumen, ruft laut den Namen
seiner Bedienerin, auf Anruf sofort orientiert, äußert Todesgedanken, läßt sich
umbetten und versucht wieder zu schlafen.
29
28. 11. Am Tag über alles orientiert, er habe schlecht geschlafen und
geträumt. Was, weiß er nicht genau. Fühlt sich trotz der Atemnot
relativ wohl.
Schläft die Nacht über auf Schlafmittel gut.
29. 11. Körperlich: stark abgemagerter, großer, hagerer Mann. Herz:
Spitzenstoß außerhalb der Mammillarlinie im 5. S.-C.-R.; Herzgrenzen nach
links erweitert. Töne rein. Zeitweise typische Extrasystolen. Thorax starr.
Altersemphysem der Lungen. Leberrand derb, palpabel, beginnende Stauungs¬
leber. Keine Ödeme. Sämtliche Reflexe nur sehr schwach auslösbar. Keine
pathologischen Reflexe.
Wird mit Digipurat und Papaverin hydrochlor. behandelt.
Pat. ist tagsüber klar, leidet sehr an Lufthunger. Gegen Abend stheno-
kardischer Anfall, gerät in einen förmlichen Angstparoxysmus, glaubt, sofort
sterben zu müssen, in den nächsten Stunden trete der Tod ein, seine Kinder
kämen nicht zu ihm, bestreitet, diese heute gesehen zu haben, obwohl sie* ihn
am Vormittag besucht haben, bittet um Erlösung, will Gift, ruft laut um Hilfe,
spricht den Pfleger mit falschem Namen an, korrigiert sich aber sofort, als der
Anfall unter Papaverin vorübergeht.
Nachts schläft Pat. auf Schlafmittel gut.
I. 12. Verschlechterung im körperlichen Befinden. Häufige Extrasysto¬
len. Große Atemnot, Pat. läßt Urin unter sich gehen, ist aber vollkommen
klar, erkennt die Umgebung, ist zeitlich und örtlich orientiert. Sehr schlechte
Nachtruhe, liegt meist wach, ringt nach Luft. Zuweilen dabei ängstlich erregt,
ruft nach seinen Kindern und Hausgenossen.
8. 12. Weitere Verschlechterung auf körperlichem Gebiet, schlechte
Herztätigkeit, schwacher, kaum fühlbarer, unregelmäßiger Puls. Pat. ist sehr
matt, kann kaum sprechen und auswerfen, läßt Urin unter sich, ist aber
besonnen und klar. Nachts schläft Pat. auf Schlafmittel gut.
4. 12. Pat. fühlt sich kräftiger. Puls bessert sich, Völlig orientiert;
schläft nachts gut.
5. 12. Pat. ißt mit gutem Appetit, unterhält sich, fühlt sich besser. In
der Nacht im Anschluß an sthenokardische Anfälle ängstlich erregt, schläft
gegen Morgen ein.
8. 12. Pat. macht weitere Fortschritte. Appetit und Schlaf gut. Herz¬
tätigkeit regelmäßiger. Steht einige Stunden am Tage auf.
II. 12. Gutes Allgemeinbefinden. Wesentliche Besserung des Pulses.
Kaum noch Extrasystolen. Dyspnoe fast geschwunden. Immer wohl orien¬
tiert. Keine Herabsetzung der Merkfähigkeit. Liest und unterhält sich mit
frischem Interesse. Ist zuversichtlicher und guter Stimmung.
12. 12. Weiter Wohlbefinden. Schläft ohne Schlafmittel gut. Psychisch
völlig frei. Wird nach Hause entlassen.
In diesem Falle sehen wir direkt aus der die sthenokardischen
Anfälle begleitenden Herzangst und aus den dem Lufthunger ent¬
stammenden Gefühlen der Beklemmung Erregungszustände heraus¬
wachsen, in denen Todesahnungen, Erinnerungstäuschungen, leichte
Bewußtseinstrübung und starke Selbstmordneigung auftreten. Die
Abhängigkeit dieser Erregungen von den genannten Sensationen
wird besonders dadurch klar, daß es bei der Verschlechterung des
30
Allgemeinbefindens trotz hochgradiger Hinfälligkeit und Schwäche
wegen des Fehlens sthenokardischer Anfälle nicht nur zu keiner Ver¬
stärkung des psychotischen Bildes kommt, sondern im Gegenteil der
Pat. klar, besonnen und ruhig ist. Es wäre darum falsch, hier Zirku¬
lationsstörungen anzuschuldigen als Ursache der Erregungszustände.
Vielmehr wird die Entstehung dieser Zustände aus den die körper¬
liche Erkrankung begleitenden Sensationen psychisch vermittelt.
Das Primäre stellt hier die Angstempfindung dar, das atembeklem¬
mende Gefühl der Bedrohung. Aus ihr entwickelt sich dann die
ängstliche Gemütsbewegung, der Angstaffekt, der seinerseits die
Todesgedanken und die Selbstmordneigung hervorruft 1 ). Ferner ver¬
ursacht er auf seiner Höhe wie jede andere starke Affekt leichte Be¬
wußtseinstrübung und Erinnerungstäuschung. Mit dem Zurücktreten
des Affektes flaut auch die Erregung ab. Der Typus psychopatholo-
gischen Geschehens, der hier vorliegt, ist allerdings ein grundsätzlich
anderer als der bei der Kompensationsstörung vorwaltende. Die
pathogenetische Noxe stellt die abnorme Empfindungsqualität dar, die
direkt psychisch einwirkt.
Es erhebt sich die Frage, ob dieser pathogenetische Modus auch
zu länger dauernden psychischen Anomalien als zu den beschriebe¬
nen kurzen Erregungszuständen führen kann. Vorstellbar wäre eine
Fixierung des Angstaffektes über längere Zeiträume unter der Ein¬
wirkung häufiger Wiederholung der bei Störung und Beeinträchti¬
gung der Herzfunktion entstehenden Angstgefühle. Eigene Erfahrun¬
gen in dieser Richtung stehen nicht zur Verfügung. Dagegen sind
Weiterbildungen solcher aus Einwirkungen von Angstgefühlen ent¬
stehenden Störungen, die über diese kurzdauernden Erregungen hin¬
ausgehen, von anderen Autoren beschrieben worden. Wernicke
erwähnt, daß die Angstpsychose besonders bei gestörter Kompen¬
sation der Herzfunktion nicht selten vorkommt. Ziehen vertritt
gleichfalls die Anschauung, daß die abnormen Organgefühle bei
Herzkrankheiten für die Entstehung von Angstpsychosen einen ge¬
eigneten Boden abgeben. Stransky berichtet die beiden folgenden
einschlägigen Fälle. Ein 33jähriger Mann mit einem Vitium cordis,
seit Jahren an paroxystischen kardialen Anfällen mit Herzangst lei¬
dend, gerät in eine dauernd ängstliche Stimmungslage mit Selbst¬
vorwürfen, pessimistischen Befürchtungen und Beziehungsideen; die¬
ser Zustand steigert sich allmählich in 2 Jahren bis zu Selbstmord-
l ) In der Literatur ist mehrfach die starke Selbstmordneigung psychoti¬
scher Herzkranker erwähnt, wie Jacob betont.
81
versuchen und tritt dann in etwa einem halben Jahr langsam zurück.
Eine 44jährige Frau, seit drei Jahren herzleidend, erkrankt mit
schmerzhaften Sensationen in der Herzgegend und zunehmender de¬
pressiver Verstimmung, mit Selbstanklagen und Versündigungsideen,
fühlt die Angst vom Herzen aufsteigen, schreit im Angstparoxysmus
durchdringend auf. Nach % Jahr tritt völlige Beruhigung ein. Als
das Hervorstechendste an diesen beiden Fällen bezeichnet Stransky
den fließenden Übergang von der mit den vorausgegangenen kardia¬
len Störungen verbundenen organischen Angst in die Angst der
Psychose. Doch hat sich Stransky vorsichtig dahin ausgespro¬
chen, daß die durch die Herzaffektion bedingte erhöhte Erregbarkeit
der sensiblen Herznerven nicht die alleinige Ursache seiner „Angst-
halluzinose“ ist, sondern daß auch noch ein disponiertes Gehirn dazu
gehört. In der modernen Formulierung K. Birnbaums bedeutet
dies, daß die kardialen Angstempfindungen wohl eine pathoplastische
Komponente im Sinne psychischer Determinierung darstellen.
Heute wird man wohl kaum geneigt sein, die Angstpsychose als
nosologische Einheit anzuerkennen, man wird vielmehr die soeben
kurz referierten Fälle eher als endogene Depressionen auffassen,
deren ängstliche Färbung im Zusammenhang steht mit der patho-
plastischen Wirksamkeit der Präkordialangst. Vorläufig besteht noch
der ernsteste Zweifel, ob chronische Psychosen pathogenetisch durch
Herzerkrankungen hervorgerufen werden.
In der neueren Literatur findet sich eine solche Auffassung zu¬
meist nicht mehr; Bonhöffer ist ihr gleichfalls entgegengetreten.
So sind wohl auch schwere Bedenken gerechtfertigt gegen die Dar¬
stellung Brauns, der paranoide Zustände mit Verfolgungs-, Beein-
trächtigungs- und Kleinheitsideen nach mehrfach wiederholten An¬
fällen von Angina pectoris beschrieb. Verfolgungsideen mit Selbst¬
vorwürfen, hypochondrische Wahnideen traten dann im weiteren
Verlauf in den Vordergrund. Schließlich pflegt ein depressiver, wei¬
nerlich-verängstigter psychischer Schwächezustand Zurückbleiben.
Hört man dann weiter, daß Braun .periodisch auf tretende Verstim¬
mungszustände mit gleichzeitig auftretender anfallsweiser Tachy¬
kardie, gefolgt von einer kurzdauernden manischen Nachschwankung
als „Herzpsychose“ deutet, so muß man doch fragen, wie Braun
diese „Herzpsychose“ vom manisch-depressiven Irresein zu unter¬
scheiden gedenkt. Bei der Neigung des Autors, die ätiologische Be¬
deutung des Herzens für das Seelenleben so weit auszudehnen, wird
man auch skeptisch gegenüber seiner Schilderung paranoider Zu¬
stände hinsichtlich ihres Zusammenhangs mit der Angina pectoris.
32
Man wird jedenfalls gut tun, eine Bestätigung ähnlicher Beobachtun¬
gen von anderer Seite abzuwarten, bevor Brauns „Status angino-
sus“ zum sicheren Wissensbestand gerechnet wird.
Aus eigener Anschauung bestätigt sich aber das Vorkommen
kurzdauernder ängstlicher Erregungszustände, entstanden aus der
Herzangst und dem Beklemmungsgefühl bei sthenokardischen Anfäl¬
len und zwar, wie der Fall Georg B. lehrt, ohne daß die betroffene
Persönlichkeit von Haus aus furchtsam und ängstlich zu sein braucht.
Was schließlich das Alter der an psychischen Störungen infolge
von Herzkrankheit Erkrankenden anlangt, so fällt auf, daß jugend¬
liche Fälle unter 30 Jahren nicht zur Beobachtung kamen. Vielleicht
ist mit dieser Tatsache auch das Fehlen von psychischen Erkrankun¬
gen bei Endokarditis zu erklären. Daß das Gehirn im jugendlichen
Alter seine besonderen Reaktionsformen besitzt, hat ja besonders auch
die Erfahrung am Material der Encephalitis epidemica gezeigt. Ob
es sich aber bei unserem Gegenstand nicht um Gehirne handelt, bei
denen gewisse regressive Prozesse im Sinne des Alterns bereits wenig¬
stens eingeleitet sind, bedarf noch weiterer Prüfung.
In diesem Zusammenhang verdienen diejenigen Fälle erhöhtes
Interesse, bei denen Gehimveränderungen durch eine gleichzeitig be¬
stehende Arteriosklerose gesetzt sind. Diese werden im folgenden
Abschnitt behandelt.
9
Die kardiogenen Psychosen bei Arteriosklerose.
Die Arteriosklerose erzeugt zuweilen geistige Störungen, aber sie
erzeugt sie nicht immer. Die Schwere der arteriosklerotischen Ver¬
änderungen im Gehirn, solange nicht grobe Zerstörungen gesetzt sind,
entscheidet nicht über die Intensität der geistigen Verödung. Die
Hilfsursachen für die Entstehung des arteriosklerotischen Irreseins
sind unbekannt; wir wissen nichts über ihre Natur, vor allem nicht
Über einen möglicherweise bestehenden Zusammenhang mit der An¬
lage der Erkrankten. Untersuchungen hierüber gehören zu den wich¬
tigsten Aufgaben einer wahrhaft biologischen Konstitutionsforschung,
deren Ergebnisse mehr sein sollen als blasse konstruierte Schemen ab¬
strakter Begrifflichkeit. Trotz mannigfacher Versuche sind nur wenige
lebensfrische, fest umschriebene Typen bis jetzt herausgeschält wor¬
den. Auch diese sind aber in ihrem Zusammenhang mit dem arterio¬
sklerotischen Irresein nicht untersucht. Andererseits ist auch nichts
Uber die auslösenden Ursachen dieser Krankheitsform bekannt. In
diesem Zusammenhang verdienen besondere Aufmerksamkeit diejeni¬
gen psychischen Störungen, die bei Dekompensation der Herztätig¬
keit der Arteriosklerotiker entstehen, ein Thema, das seinerseits eng
zusammengehört mit dem Gegenstand des vorigen Kapitels. Zu
entscheiden ist, ob diese Störungen etwa genau den oben beschriebe¬
nen Fällen ohne Komplikation mit Arteriosklerose entsprechen, inwie¬
fern sich die Arteriosklerose als abändernde Kraft erweist in bezug
auf Häufigkeit, Beginn, Verlauf und Ausgang. Schließlich muß die
Frage erörtert werden, ob in gewissen Fällen eine Kompensations¬
störung des Herzens ein echt arteriosklerotisches Irresein auslöst, wo¬
bei noch die Möglichkeit vorliegt, daß sie diesem eine bestimmte Fär¬
bung erteilt.
Rasch vorübergehende Attacken psychotischer Art bei Arterio-
sklerotikem, bedingt durch Dekompensation des Herzens, lassen von
vornherein einen recht engen Zusammenhang mit der Herzerkrankung
vermuten, ohne daß das Moment der arteriosklerotischen Komplika¬
tion stärker zur Geltung kommt. Diese Mutmaßung wird durch fol¬
genden Fall einer Probe unterworfen.
Leyier, Henkrankhelten und P.ycho.cn, (AbhandL H. J5).
3
34
5. Fall. Konrad H., 62 Jahre alt, in Behandlung der Frankfurter
Klinik vom 13. 5. bis 81. 5. 1922.
Wird aus dem Siechenhaus eingeliefert, weil er nachts im Garten umher-
geirrt ist; atmet beschleunigt und mühsam. Er sei oft zu aufgeregt, das komme
aus dem Magen, der verdaue nicht. Er habe saures Aufstoßen, er leide an
Asthma, auch die Blase sei nicht in der Reihe, er müsse alle Viertelstunden
pissen. Am Tage sei es nicht so schlimm. Es sei alles kaputt.
Zur Vorgeschichte gibt er an: Sein Vater sei mit 40 Jahren an unbekann¬
ter Ursache gestorben, Mutter mit 38 Jahren an Schlaganfall gest., eine Schwe¬
ster früh gest. Pat. selbst normale Entwicklung, mit 14 Jahren Ruhr, war
Bierbrauer. Aktiv gedient, einmal Tripper, keine Lues. Hat dann über
20 Jahre in Hamburg am Hafen gearbeitet. Ließ sich öfter wegen Bronchial¬
katarrh behandeln. Nicht viel getrunken, kein Schnaps. Viel geraucht, immer
vergnügt gewesen. Sein Leiden habe 1916 mit Herzbeschwerden und Auf¬
geregtheit begonnen, später hätten sich Kurzatmigkeit und Blasenbeschwerden
eingestellt. Nie Rheumatismus. Seit 2 Jahren auch Magenbeschwerden, an
Stärke allmählich zunehmend. Dumpfes Gefühl in der Magengegend, saures
Aufstoßen, zuweilen Erbrechen. Nachts Heißhunger. Deswegen voriges Jahr
in Krankenhausbehandlung. Rasche Besserung, doch jetzt wieder wie vorher.
Hat sich nach Aufzehrung seiner Ersparnisse vom Bettel ernährt. Vor
3 Wochen wegen Kurzatmigkeit in das Siechenhaus gekommen. Habe letzte
Nacht nicht schlafen können, habe sich leise angezogen und sei im Garten
spazieren gegangen. Das wisse er ganz genau. Deswegen sei er dann hierher
gebracht worden.
Körperlich: Großer Mann in mittlerem Ernährungszustand; eingefallene
Wangen. Sitzt keuchend im Bett, kann sich nicht richtig hinlegen. Neuro¬
logisch o. B. Faßförmiger Thorax. Emphysem der Lungen. Atemgeräusch
hinten unter den Schulterblättern, bronchial mit lautem Expirium. Schleimig-
eitriger Auswurf. Herz nach links verbreitert. 1. Spitzenton paukend.
2. Aortenton verstärkt. Blutdruck 145 mm Hg. Leib weich, schlaff. Leber
vergrößert, druckschmerzhaft, ferner Druckempfindlichkeit unter dem Schwert¬
fortsatz. Kein Tumor. Keine Anzeichen von Magengeschwür. Urin o. B.
Keine Ödeme.
Psychisch: örtlich und zeitlich wohl orientiert. Leichte Herabsetzung
der Merkfähigkeit. Keine Störung beim Bildererklären und Sprichwörter-
deuten. Keine Halluzinationen, keine Wahnideen. Ist im Wesen sehr erreg-
lich, grob und unverträglich, hat allerhand W T ünsche, will sofort wieder ent¬
lassen werden, der Kopf sei Gott sei Dank klar; erzählt trotz der Dyspnoe
frisch und lebhaft. Klagt über Angstgefühle am Herzen, das würge ihm seinen
Hals zu.
Der Patient erholte sich rasch, war immer sehr gesprächig, erzählte von
allem möglichen, was er noch vorhabe, will da- und dorthin reisen.
In diesem Falle ist eine Einwirkung der Arteriosklerose auf die
Gestaltung des psychischen Bildes nicht zu erkennen. An eine trieb¬
artige Erregung, die in einer Nacht abklingt, schließt sich ein Zu¬
stand gereizter Stimmung mit leicht manischer Färbung, mit Rede¬
drang, gehobenem Selbstbewußtsein und gesteigerten Ansprüchen an.
35
Die psychische Alteration setzt ein vor der Bildung von Ödemen
bei leichter Stauung der inneren Organe und bei starker Atemnot mit
Herzangst. Sie restituiert sich wieder zu einem Habitualzust^nd, der
auch nicht als arteriosklerotische Demenz bezeichnet werden kann.
Auch in anderen Fällen ist die Beeinflussung des psychischen
Zustandes durch die Arteriosklerose fraglich. Wo der Ausgang zu
einer völligen Wiederherstellung führt, darf man unbedenklich die
überwiegende Bedeutung des pathogenetischen Moments der Dekom¬
pensation annehmen. Anders verhält es sich bei jenen Fällen, in
denen der Ausgang durch einen Schwächezustand gebildet wird.
Hier wird schwieriger die Beantwortung der Frage, wie groß der
Anteil der Kompensationsstörung und der der Arteriosklerose an der
Gestaltung des Krankheitsbildes ist. Ein besonders bemerkenswertes
Beispiel dieser Art bildet der folgende Fall.
6. F a 11. A n n a J., 56 Jahre alt, vom 21. 5. bis 12. 7. 1923 in Behand¬
lung der Frankfurter Klinik.
Kommt aus dem Krankenhaus, weil sie sich nicht mehr im Bett halten
ließ, schrie und herumtobte.
Anamnese: Seit 32 Jahren verheiratet. 2 gesunde Kinder. Keine Mi߬
fälle. Mutter an Hirnschlag, Vater früh gestorben. Pat. war immer aufgeregt
und reizbar, hatte während des Krieges sehr viel zu tun. Seit 1 Jahr herz¬
krank, war 4 Wochen in Nauheim, stetige Verschlimmerung, bekommt nachts
keine Luft. Seit 4 Wochen geistig verändert, redete irr, Hammeldiebe hätten
das ganze Land gestohlen, sie sei sehr reich geworden; sah Gestalten an der
Decke, verkannte die Umgebung, wollte verreisen. 8 Tage lang soll sie nichts
gesehen haben.
22. 5. Sehr adipöse Frau mit schlaffer Muskulatur. Starke Zyanose der
Lippen und der Akra. Hirnnerven frei. Pup.: Licht-Reaktion träge und wenig
ausgiebig. Nystagmus beim Seitwärtsblicken in den Endstellungen. Visus
nicht herabgesetzt Fundus normal. Rechts beginnender Katarakt.
Herz: Grenzen nach links verbreitert. 2. Aortenton akzentuiert. Aryth-
mia perpetuna.
Leib: Starker Meteorismus.
Starke Ödeme beider Beine. Knochenhautsehnenreflexe nicht auszulösen.
Im Urin Eiweiß und hyaline Zylinder.
Diagnose: Myodegeneratio cordis mit Dekompensation.
Psychisch: Sie sei hier auf dein Hauptbahnhof oder auf dem Güterbahn¬
hof in Frankfurt; Ref. sei hier der Vorsteher, der das eingeleitet habe. Sie
sei hier vernommen worden. Sie solle doch zum Postdienst genommen werden.
Zeitlich völlig desorientiert, weiß den Tag nicht, behauptet, es sei jetzt
1867, der Monat Mittwoch oder Donnerstag. Sagt statt der Monate die
Wochentage auf, dann nach Einhelfen richtig. Name und Wohnung werden
richtig angegeben, das Geburtsdatum mit 1821. (Alter?) ,,19. 9. 20, 21...“
(Verheiratet?) „Ja“. (Wie lange?) „Seit 20/21“. (Kinder?) „Ein Bub und ein
Mädchen“. (Wie alt?) „21 und 22“. (Selbst erst 21?) „23“. Sieht den Wider¬
spruch nicht ein. Warum solle man nicht mit einem Jahr ein Kind bekommen.
3 *
36
(Seit wann krank?) „Im Sommer krank geworden“. (Waß?) „Etwas am
Magen, das muß geschnitten werden; der Pfarrer, der hat uns die Augen ver¬
dorben — die Frau dahinten muß den Kindern etwas eingestreut haben in die
Pupillen.“
(7x9?) „49“. Spricht 6 Zahlen nach, weiß danach die Aufgabe nicht
mehr, gibt selbst an, das Gedächtnis habe sehr nachgelassen.
Erklärt Sprichwörter ganz gut, Unterschiedsfragen leidlich. (Wann war
der Krieg?) „1900 — nein 19..., da war ich ja selber drin, da hab’ icn ja
mitgeholfen“. (Mit wem?) „Mit wem denn jetzt?“ (Führer?) „Nun etwa
Hindenburg, und wie heißen sie doch alle“. (Krieg zu Ende?) „Ja, schon im
September, jetzt im September“. Alle Bewegungen, wie Kußhand, wischen,
klopfen, nähen, drohen, Kaffeemühle usw., werden richtig ausgeführt.
Sehr euphorisch, fühlt sich nicht krank. Konfabuliert viel, z. B. gestern
habe sie ihre Schwester besucht usw.
Abends wird Pat. unruhig, ruft dauernd, unterhält sich mit ihren Kin¬
dern, die sie anscheinend hört.
In den nächsten Tagen unter Digitalisbehandlung wenig verändert, tags¬
über ruhig, nachts laut und erregt.
29. 5. Herzschwäche, sehr starke Ödeme, vollkommene Areflexie. Keine
Druckempfindlichkeit der Nervenstämme.
Stimmung ganz heiter, Pat. ist völlig desorientiert, verkennt die Um¬
gebung, glaubt Bekannte vor sich zu haben, konfabuliert sehr viel von Besuch,
Tätigkeit, verflossenen Ereignissen usw. Dabei sind auch Anzeichen von
Wortfindungsstörung und Perseveration zu bemerken.
Nachts .stöhnt und jammert Pat. laut.
30. 5. Trotz Digitalis und Coffein noch keine Steigerung der Diurese.
Psychisch unverändert.
1. 6. Glaubt in Rostock zu sein, weiß aber, daß sie in einer Klinik ist,
erkennt den Arzt. Perseveriert sehr stark bei Fragen nach Zeitangaben.
Namen gibt sie richtig an, Alter mit 50 Jahren. Dann entspinnt sich folgende
Unterhaltung: (Geboren?) „23... na, wie denn: August 52“. (Falsch.) (Wie
alt?) „52 Jahre“. (Wohnung?) „Ich hab 1 gewohnt... bis jetzt in Frank¬
furt a. M., ich will in Schwerin wohnen mit meiner Familie“. (Wie lange
hier?) „Vielleicht 3 Jahre... doch“. (Krank?) „Ich bin verrückt gewesen
hier“. (Körperlich?) „Ganz gesund, nur mit dem Herzen ist da was. Das
hat mein Onkel verschuldet, der hat erst das größte Herz genommen, dann das
schlechte Herz. Der hat 8 Herzen gehabt, 2 oder 8. Die hat er nach Marien¬
burg gebracht. Mir zugunsten hat er das beste genommen. Da hat er mir
das Herz gegeben für mein Herz. Das war ein Doppelherz“. (Vorhalt*) „Er
hat es aber doch gehabt“. — Verworrene Wahnbildung.
Merkfähigkeit herabgesetzt.
Erzählt, heute nacht sei jemand dagewesen, so Menschenfresser oder so
was. Das war wie ein Hexensabbath die Nacht. Mindestens 5—6 Personen
seien in ihrem Einzelzimmer gewesen, 2 oder 3 kleine Hunde hätten sie gehabt.
Einen furchtbaren Krach hätten die gemacht.
Schreit plötzlich jammernd auf, ruft nach ihren Kindern: „Wo seid ihr
denn? Kommt doch rein!“
Puls etwas regelmäßiger, 4x17 i. d. Min., klein, weich. Leberschwellung
und Aszites haben zugenommen.
37
2. 6. Urinausscheidung geht rascher vor sich. Pat. sieht schlecht« Be¬
nennt viele Bilder richtig; wenn sie sie nicht erkennt, perseveriert sie die
vorherige Benennung. Gebrauchsgegenstände werden richtig erkannt.
4. 6. Hatte laut Wachbericht einen Anfall von kurzer Dauer. Zuckte
mit dem Körper, ließ die Arme schlaff hängen, hatte Schaum vor dem Mund.
9. 6. Psychisch unverändert. Diurese besser.
12. 6. Zustand immer der gleiche. Aszites und Ödeme nehmen zu.
15. 6. Auf Strophantin und Navasurol gute Diurese.
19. 6. Psychisch unverändert, erschwerte Wortfindung tritt mehr hervor.
23. 6. Ist sichtlich freier, jammert nicht mehr so viel. Amnestischer
Symptomenkomplex besteht fort.
28. 6. Im ganzen besser, Ödeme gehen zurttck. örtlich orientiert, viele
Erinnerungsfälschungen.
12. 7. Noch bestehen die Ödeme an den Beinen und in leichterem Grad
an den Armen. Kein Aszites. Leber etwas vergrößert, örtlich dürftig,
zeitlich nicht orientiert. Merkfähigkeit herabgesetzt. Erschwerte Wortfin¬
dung. Keine deliranten und halluzinatorischen Erscheinungen mehr, schläft
nachts ruhig. Wird nach Hause entlassen.
Der Überblick über diesen Fall läßt folgenden Verlauf erkennen:
Infolge Arteriosklerose entwickelt sich bei einer 55jährigen Frau
eine Myodegeneratio cordis, die nach etwa einem Jahr zur Kompen¬
sationsstörung führt. Nun treten psychische Störungen auf, zuerst
nächtliche Erregung mit vorworrener Wahnbildung und Halluzinatio¬
nen, sich steigernd zu einem nächtlichen „Tobsuchtsanfall“. Tags¬
über besteht hierauf ein amnestischer Symptomenkomplex mit Des¬
orientiertheit und Konfabulationen, nachts Verwirrtheitszustände,
teils halluzinatorischen, teils inkohärenten Charakters. Die Stimmung
bleibt vorwiegend heiter. Eine ängstliche Färbung tritt nicht beson¬
ders hervor. In den freieren Zeiten sind Perseveration, Merkfähig¬
keitsherabsetzung und Wortfindungsstörung erkennbar. Einmal wird
ein epileptiformer Anfall verzeichnet. Als nach mehrwöchigem Be¬
stand die Amentiazustände schwinden, bleibt der amnestische Sympto¬
menkomplex zurück, zugleich aber auch Merkfähigkeits- und Wort¬
findungsstörung.
Es findet sich hier eine innige Verflechtung zweier Symptom¬
reihen, beide exogen verursacht, die eine im Zusammenhang stehend
mit der Kompensationsstörung des Herzens, die andere mit der
Arteriosklerose des Gehirns. Fraglos sind kardial bedingt die nächt¬
lichen Erregungszustände vom Amentiatypus, die einmal hyperkine¬
tisch, öfters halluzinatorisch oder mit Wahnbildung verworren inko¬
härent gefärbt erscheinen. Es zeigt sich das typische Schwanken mit
den Tageszeiten. Andererseits sind die Merkfähigkeitsherabsetzung,
die Wortfindungsstörung und der epileptiforme Anfall, wohl auch die
38
Perseverationsneigung auf Rechnung der destruktiven Wirkung der
Arteriosklerose des Gehirns zu setzen.
Einer besonderen Besprechung bedarf der Umstand, daß sich
hier ein Korsakowscher Symptomenkomplex vorfand. Im vorigen
Kapitel wurde gesagt, daß ein solcher bisher als Folge einer unkom¬
plizierten Herzschädigung nicht beschrieben worden ist. Hier ist der
Vorbehalt gerechtfertigt, daß auch bei künftig speziell auf diesen
Punkt gerichteter Aufmerksamkeit kein solcher Fall zur Beobachtung
kommt. Vorläufig aber kann auf Grund der bisherigen Erfahrungen
vermutungsweise der Satz ausgesprochen werden, daß erst bei der
Komplikation mit Arteriosklerose die Noxe der Herzdekompensation
einen chronischen reversiblen Schwächezustand wie den amnestischen
Symptomenkomplex hervorzurufen in der Lage ist. Freilich ist auch
eine andere Möglichkeit ins Auge zu fassen. Dieser Symptomen¬
komplex zeigt sich häufig, wie bekannt, als Folge chronischen Alko¬
holmißbrauchs und bei Presbyophrenen, dagegen seltener bei Arterio¬
sklerose; am ehesten trifft man ihn hier nach Apoplexie, wie Schrö¬
der hervorhebt. Die Apoplexie könnte gewissermaßen in einer
Linie stehen mit der Himschädigung, wie sie in unserm Fall durch
den langen Bestand der Herzdekompensation und der damit in Zu¬
sammenhang stehenden Ernährungsstörung des Gehirns verursacht
ist. Dann wäre es also richtig, auch den amnestischen Symptomen¬
komplex als arteriosklerotisch bedingt aufzufassen. Wie dem nun
auch sei, die Betrachtung dieser Erscheinungsform zeigt, daß sich
über die Verflechtung der einzelnen exogenen Faktoren im Sympto-
menbild hinaus auch eine enge Verkettung der somatischen Grund¬
lage in der Pathogenese vorfindet.
Es soll an dieser Stelle nicht übergangen werden, daß wir in den
beiden Gliedern der Herzdekompensation und der zerebralen Arterio¬
sklerose bei weitem noch nicht etwa die sämtlichen Hilfsmomente in
der Hand haben, die notwendig zu der Herbeiführung eines amnesti¬
schen Symptomenkomplexes sind. Dessen sind Zeugen die übrigen
in diesem Kapitel beschriebenen Fälle. Das Problem der Pathogenese
eines solchen Zustandes liegt viel verwickelter und tiefer; hier ist nur
eine an der Oberfläche liegende Seite derselben gestreift worden.
Erleichtert bei den am Leben bleibenden Fällen der Ausgang der
psychischen Störung die Analyse, so gestaltet ein tödlicher Verlauf
die Beurteilung des Krankheitsbildes um so schwieriger, inwieweit
vorwiegend die Herzstörung resp. die Arteriosklerose als ursächlicher
Faktor im Symptomenbild und in der Pathogenese zu betrachten ist.
Das Verhältnis kann, wie oben bereits an Beispielen klargelegt wor-
89
den ist, ein wechselndes sein. Trotz anatomisch nachweisbarer
Arteriosklerose des Gehirns braucht die Symptomengestaltung nur
wenige dafür charakteristische Züge aufzuweisen. Es kann vielmehr
das Krankheitsbild so beschaffen sein, daß es sich von den im vori¬
gen Kapitel beschriebenen kardialen psychischen Störungen selbst bei
längerer Dauer nur in geringfügiger Weise unterscheidet. Als Beleg
für diesen Satz wird angeführt der folgende Fall Jacobs. Ein
64jähriger Arteriosklerotiker mit Myodegeneratio cordis und De¬
kompensation erkrankt nach jahrelangem Bestand von Atembeschwer¬
den, Angst und Beklemmungsgefühlen und schlechtem Schlaf und
plötzlichen Erregungszuständen bei allgemeiner Vergeßlichkeit und
gesteigerter Ermüdbarkeit. Nachts äußerte er öfter paranoide Ideen
und hatte Halluzinationen, tagsüber bestand Schwerbesinnlichkeit.
Unter Zunahme der Ödeme liegt er tags gleichgültig und regungslos
da, zeigt Perseveration und Echolalie, nachts hat er heftige Er¬
regungszustände mit völliger Desorientierung, Verkennung der Um¬
gebung und Halluzinationen. Nach 7 Wochen unter Zurücktreten der
Ödeme regsamer, freier, äußert aber spärliche Verarmungsideen und
Beeinträchtigungsideen, ist desorientiert, konfabuliert auch zuweilen.
Es folgt ein kurzer Rückfall im körperlichen Befinden mit Desorien¬
tierung, Halluzinationen, Größen-, Verfolgungs- und Beeinträchti¬
gungsideen, motorischer Erregung, allmählich immer stärker werden¬
dem inkohärenten Rededrang. Es stellt sich Erbrechen und Cheyne-
Stokessches Atmen ein. Doch erholt sich Pat. wieder mit Besserung
der Herzkraft, zeigt noch eine Herabsetzung der Merkfähigkeit und
vereinzelte Sinnestäuschungen, ist aber sonst völlig normal. Doch
hält die Herzkraft nicht stand, nach einem delirösen Stadium verfällt
Pat. in Benommenheit mit Cheyne-Stokesschen Atmen und stirbt nach
wiederholtem Wechsel deliröser Zustände mit freien Intervallen.
Die nächtlichen Erregungszustände bald mehr halluzinose- und
amentiaartigen, bald mehr deliranten Gepräges, wechselnd mit rela¬
tiver Besonnenheit am Tage und das Schwanken dieser Erscheinun¬
gen entsprechend der Intensität der Herzstörung sind kennzeichnend
für den ursächlichen Zusammenhang mit der Dekompensation des
Herzens, wie ein Vergleich mit den im vorigen Kapitel geschilderten
Fällen lehrt. Die tagsüber auftretenden Zustände wie Schwerbesinn¬
lichkeit und Apathie mit Perseveration und Echolalie können eben¬
falls mit der Herzkrankheit erklärt werden, dagegen verrät der rasch
vorübergehende an einen amnestischen Symptomenkomplex erinnernde
Zustand gemäß unsern obigen Darlegungen bereits den Einfluß der
Arteriosklerose, ebenso wie die Herabsetzung der Merkfähigkeit in
40
den freien Intervallen und das Cheyne-Stokessche Atmen wahrschein¬
lich von arteriosklerotischen Hirnschädigungen abhängen. Der
Hauptsache nach handelt es sich also doch um ein kardiogenes Irre¬
sein; hiermit finden wir uns in Übereinstimmung mit Jacob. Frei¬
lich vermag der von ihm mitgeteilte Obduktionsbefund nicht völlig zu
überzeugen. Es bestand außer der schwieligen Myokarditis und den
Stauungserscheinungen eine Atheromatose auch der basalen Gehim-
artcrien, an der Großhirnrinde fanden sich Randgliose, Degeneration
von Ganglienzellen bis zur Schattenbildung und Trabantzellenvermeh-
rung. Hiermit ist wohl eine eigentliche arteriosklerotische Rin¬
denerkrankung nicht wahrscheinlich; aber ohne Untersuchung des
Markes und der subkortikalen Ganglien kann man nicht viel Ent¬
scheidendes sagen. Jedenfalls scheinen die angestellten klinischen
Erwägungen dafür zu sprechen, daß ein gewisser Grad von Arterio¬
sklerose auch das Himgewebe beeinträchtigt hat.
Aus den vorstehenden Beobachtungen geht das eine klar hervor,
daß bei dem Eintreten kardiogener Störungen bei Arteriosklerose das
Mischungsverhältnis der Symptome ein wechselndes sein kann. Es
gelingt auf dem Wege klinischer Analyse bis zu einem gewissen
Grad die einzelnen Züge des Krankheitsbildes je der einen oder
anderen der beiden Grundstörungen zuzuordnen. Dabei überwiegen
entweder die Zeichen kardiogener Störung völlig, so daß aus dem
Krankheitsbild garnicht die zugleich bestehende Arteriosklerose er¬
kannt werden kann, oder der Restzustand, der nach Abklingen der
akuten Phase zurückbleibt, läßt den Einfluß der Arteriosklerose deut¬
lich werden. Wenn durch das Studium dieser Art Fälle der Blick
geschärft ist, so kann auch die Durchforschung letal endender Fälle
in ihrer Symptomatik Hinweise auf die Natur der jeweils ausschlag¬
gebenden Störung ergeben. Man wird die schwereren enzephalopathi-
schen Störungen mit Herdsymptomen zuordnen der tieferen Zerstö¬
rung des Hirngewebes durch die Arteriosklerose, während diejenigen
Züge, die der im vorigen Kapitel geschilderten Dekompensations¬
psychose entsprechen, auch hier mit der Herzstörung in einen patno-
genetischen Zusammenhang gebracht werden. Hierbei handelt es
sich zumeist um psychopathologische Phänomene mit ausgesproche¬
ner restituierender Tendenz, mit flüchtigem Charakter, wie sie auch
bei den sogenannten funktionellen Psychosen gefunden werden.
Des weiteren ergibt sich, daß eine bestimmte Verlaufsform dieser
Störungen durch das Zusammenvorkommen von Herzstörung und
Arteriosklerose bedingt erscheint, nämlich das Auftreten eines am¬
nestischen Symptomenkomplexes. Mindestens ist vorläufig ein sol-
41
eher bei rein kardiogenem Irresein noch nicht beobachtet worden.
Bei dieser Sachlage ist zu erwägen, ob nicht die kardiogene Noxe bei
Arteriosklerose in ähnlichem Sinne wirkt, wie das Vorkommnis eines
apoplektischen Insultes. Auch nach diesem sehen wir gelegentlich
bei der Arteriosklerose das Zustandekommen eines Korsakow. An¬
dererseits besteht die Möglichkeit, daß das durch die Arteriosklerose
geschädigte Hirn die kardiogene Noxe nicht vollständig überwinden
kann, so daß es infolgedessen zur Herausbildung eines Korsakow-
schen Symptomenkomplexes kommt.
Mit diesen Erörterungen ist bereits der Boden, lediglich sympto¬
matischer Betrachtung verlassen und derjenige pathogenetischer Un¬
tersuchung betreten. Die erste hierbei auftretende Frage ist freilich
zur Zeit nicht mit Sicherheit zu beantworten; die beiden obigen Er¬
klärungsmöglichkeiten bieten den gleichen Grad von Wahrscheinlich¬
keit und gestatten keine Entscheidung. Bei der eingehenderen Be¬
schäftigung mit den pathogenetischen Grundlagen sind ferner fol¬
gende Gesichtspunkte zu beachten. Die Häufigkeit kardiogener Stö¬
rungen scheint durch eine zugleich bestehende Arteriosklerose nicht
vermehrt; sonst müßte wohl die Durchsicht der Literatur und auch
die eigene Beoachtung zahlreichere Fälle zutage gefördert haben,
zumal Herzerkrankungen bei Arteriosklerose ja durchaus nicht zu
den Seltenheiten gehören. Ferner ist hier wohl auch kein Unterschied
zu bemerken in der Richtung, als die Störungen im Zusammenhang
stehen vorzugsweise mit dem Auftreten oder der Resorption von
Ödemen. Eine besondere konstante Färbung der Zustandsbilder im
Sinne der Angst zeigt, sich nicht. Die Zustandsbilder selbst sind
meist heteronom, also exogene Reaktionstypen.
Eine Abänderung der kardiogenen Noxe in pathogenetischer
Hinsicht findet also durch die Arteriosklerose zunächst nicht statt,
nur erscheint der Verlauf beeinflußt, wie das Auftreten des amnesti¬
schen Symptomenkomplexes lehrt. Auf die symptomatologische
Mischung im Krankheitsbild ist bereits oben hingewiesen worden.
Im scheinbaren Gegensatz zu den hier vorgetragenen Anschau¬
ungen steht die bereits in der Einleitung erwähnte Feststellung
de Monchys, daß bei herzkranken Arteriosklerotikem eine ängst¬
liche Färbung des Zustandsbildes besonders häufig sei. Bei der Un¬
tersuchung dieses Umstandes ist hervorzuheben, daß de Monchy
dieses Ergebnis gewonnen hat aus der Prüfung des psychischen Zu¬
standsbildes bei der Arteriosclerosis cerebri überhaupt. Diese Frage¬
stellung der Beeinflussung eines Zustandsbildes einer psychischen Er¬
krankung durch eine zugleich bestehende Herzkrankheit greift über
42
den Rahmen des vorliegenden Problems ja eigentlich hinaus; ein¬
gehender werden wir uns damit erst im 5. Abschnitt beschäftigen.
Allerdings gibt hier diese Beobachtung Veranlassung zu der
Frage, wie sich der andere Typ kardiogener psychischer Störung, wie
wie wir ihn im Fall Georg B. beschrieben haben, beim gleichzeitigen
Bestehen einer Arteriosklerose verhält. Die Erwägung des Um¬
standes, daß in diesem Fall die paroxysmalen Angstanfälle das Kenn¬
zeichnende bilden, bietet von vornherein die Aussicht, zugleich einen
weiteren Einblick in den Mechanismus des psychopathologischen Ge¬
schehens im arteriosklerotischen Seelenleben gewinnen. Es wird da¬
bei ausgegangen von dem folgenden Fall, der leider den Nachteil hat,
daß er sehr rasch tödlich endete.
7. Fall. HenriquedeM.,56 Jahre alt, in Behandlung der Gießener
Klinik vom 15. 7. bis 21. 7. 1899.
Anamnese: Früher nie krank, von Jugend auf sehr intelligent, war bei
verschiedenen Regierungen als Gesandter tätig, erkrankte vor einem halben
Jahr mit Atemnot; es zeigten sich eine hochgradige Arteriosklerose, eine Myo-
degeneratio cordis mit Hypertrophie des linken Ventrikels und eine Stauungs¬
nephritis. Hatte in der letzten Zeit die schwersten Atembeschwerden, konnte
nur mit Morphin schlafen und war sehr niedergeschlagen, hatte Heimweh,
glaubte sterben zu müssen, war sehr schwach und hinfällig.
Am Montag, den 10. 7. 99, abends, klagte Pat. über Schwäche im linken
Arm, ohne daß mit Sicherheit eine Parese gefunden werden konnte. Am
Dienstag früh war nach seinen Angaben das Sehvermögen vermindert; er
erblickte Feuerräder vor den Augen. Rechts fand sich eine blasse Papille mit
Excavation. Dabei bestand Ungleichheit der Pupillen. Finger wurden durch
die ganze Stube gezählt, kleiner Druck gelesen. Pilokarpineinträufelungen.
Zum ersten Male die Behauptung, daß die Schwester ihn vergiften wolle; daher
Wechsel mit derselben.
Am 12. 7. waren die vorher etwas geröteten Augen blaß, die Pupillen
gleichweit, aber der linke Arm paretisch.
Am 13. 7. war auch der linke Fuß etwas schwächer, aber die Erscheinun¬
gen des Glaukoms auf dem linken Auge schwanden. Dagegen mehrte sich die
Angst vor Vergiftung durch die Umgebung, rief nach der Polizei.
Am 14. 7. steigerte sich die Angst. Pat. verweigerte die Nahrung, wollte
mehr Arzte sehen; kam einer, so meinte er sofort, es wäre ein Feind usw.;
Einspritzungen lehnte er ab, durch diese würde er getötet. Dabei schrie und
lärmte er, schlug auf die Umgebung los, versuchte unbekleidet aus dem Zim¬
mer zu laufen. Nachts blieb er nicht im Bett, blieb schlaflos. Trank nur
Milch, wenn die Schwester mittrank. Man habe ihm Gift in die Speisen getan.
Dehnt sein Mißtrauen von dem behandelnden Arzt auf alle Deutschen aus.
Beschwert sich über unwürdige Behandlung. Wenn seine Regierung das er¬
fahre, würde es Krieg geben. Hält sich für blind, schreibt undeutlich, gewöhn¬
lich nur den ersten Buchstaben richtig, dann unklare Schriftzeichen. Die
Merkfähigkeit ist schlecht, vergißt sofort den Namen des Untersuchenden.
Sprache langsam, Gang flott.
43
Am 15. 7. früh um 10 Uhr schwerer Angstzustand. Pat. lief auf den Hof
und rief um Hilfe, beruhigte sich auf Zureden; wurde darauf in die Klinik
gebracht.
Macht einen sehr schwachen Eindruck, muß sich tragen lassen. Schwitzt
stark an Stirn und Wangen. Als er vom behandelnden Arzt in französischer
Sprache angesprochen wird, beruhigt er sich und berichtet, was er für eine
Angst in Nauheim ausgestanden habe, da er von deutschen Mördern und Ver¬
brechern umgeben gewesen sei. Kommt immer wieder darauf zurück, daß ihn
die Deutschen vergiften wollten. Fragt, wo er hier sei. Meint, in Gießen sei
seine Mutter früher in Behandlung gewesen und gestorben.
Körperlich: Halsvenen verbreitert. Lungen o. B. Herz in normalen
Grenzen. Töne rein, 4umpf. Puls klein, hart, beschleunigt. Leber ver¬
größert. Kein Aszites, ödem der Beine.
Läßt sich ruhig untersuchen, fragt nur ab und zu den Arzt, ob er ein
Deutscher sei.
16. 7. In der vergangenen Nacht schlaflos, wirft sich herum, schwitzt
stark, stöhnt und jammert, hat öfters Anfälle von Dyspnoe, hält die Augen
geschlossen, spricht leise und unverständlich vor sich hin.
Temp. 36,5. Puls regelmäßig, 110—120 i. d. Min. Bisweilen rasch vor¬
übergehende Verziehungen des rechten Mundwinkels und vereinzelte Sto߬
bewegungen des rechten Armes; linke Pupille weiter als die rechte. Der Urin
enthält 3 °/®o Eiweiß, keinen Zucker.
Verlangt ein Notizbuch, um chronologische Aufzeichnungen über seine
Person zu machen, ist öfters noch sehr ängstlich, klammert sich an den einen
Arzt, den er als Freund bezeichnet. Meint gelegentlich, es sei nicht alles ernst
zu nehmen, was er in Nauheim gesagt habe, will Aufzeichnungen hierüber
machen. Klagt über Sehschwäche, versucht seinen Namen zu schreiben, was
ihm trotz der Gläser nicht gelingt. Bittet, man möge ihm Tropfen ins Auge
tun. Hat beständig Durst. Nimmt außer Zitronenlimonade keine Nahrung.
Nachmittags 4 Uhr: Stöhnt und jammert fortwährend, schwitzt stark:
„Bitte, bitte, es ist so warm; ich muß sterben!“, fleht den Arzt an, um Gottes
willen ihm die Hitze zu nehmen, seinem Leben ein Ende zu machen. Klagt
über Schwäche, vermag sich nicht von selbst aufzurichten. Versichert wieder¬
holt, daß er Gesandter sei, daß es eine Schande sei, daß man ihn in Deutsch¬
land sterben lasse, beschwört, daß die Deutachen die Absicht haben, ihn zu
töten. Fleht den Arzt an: „Retten Sie mich, retten Sie mich, retten Sie einen
Mann, ich liege hier wie ein Hund und bin Gesandter eines großen Staates. —
25 Jahre, 25 Jahre...“ Spricht ziemlich laut und pathetisch. Glaubt, man
hätte ihn mit der Morphiuminjektion töten wollen. Erzählt in großen Zügen
seine Lebensgeschichte; betont stets von neuem, daß er ein angesehener Mann
und Gesandter sei. Verspricht dem Arzt reiche Belohnung, wenn er ihn zu
retten vermöchte. Besinnt sich auffällig schwer auf die einzelnen Namen, muß
fortwährend im Lauf des Gespräches an Bad Nauheim und den dortigen Arzt
erinnert werden. Hat sich auch hier trotz wiederholten Nennens keinen
Namen gemerkt. Hält an der Idee fest, daß Dr. M. und namentlich dessen
Frau gegen ihn intrigiert hätten und ihm feindlich gesinnt seien. Seine Er¬
blindung und seine Lähmung sieht er als das Werk seiner Feinde an. Diktiert
dem Arzt mehrere gleichlautende Telegramme: Gouvernement B., R. de J. Pa¬
ralyse, aveugie ici par le docteur M. de Nauheim, je suis par des circonstances
44
que j’expliquerai apr£s; je demands protection gouvernement b. et aüemand.
de M.“ Bietet als Entgelt dafür seine Uhr an. Läßt den Arzt fünfmal hinter¬
einander rufen, will stets von neuem das Telegramm vorgelesen haben.
Gibt an, doppelter Dr. zu sein, schreibt seinen Namen und den des Dr. M.
ohne Brille, schreibt einzelne Buchstaben doppelt.
Gegen abend ganz unvermittelt einsetzende starke Erregung von kurzer
Dauer. Springt plötzlich aus dem Bett, läuft durch den Saal auf den
Korridor, sucht ein Fenster einzuschlagen, schimpft und schreit, stößt den
nacheilenden Pfleger zur Seite, stampft mit den Füßen auf, sagt, man
hintergehe ihn, weil er auf die von ihm abgesandten Depeschen noch
keine Antwort habe. Meint, sein Zutrauen zu den Gießener Ärzten sei
nun auch untergraben. Auch hier sei er von Mördern umgeben, droht
dem Arzt, daß seine Regierung sich eine solche Behandlung ihres Ge¬
sandten nie gefallen ließe, schwört in pathetischer Weise, daß der Arzt, seine
Familie, das ganze Deutsche Reich dem Untergang geweiht seien. Läßt sich
durch Zureden relativ rasch beruhigen.
Verlangt ein Beefsteak, Kakao und heiße Milch, ißt das Fleisch zur Hälfte,
läßt sich den Kakao und die Milch vom Pfleger vortrinken. Erhält Digitalis
und Diuretin.
Gegen 10 Uhr abends heftige Erregungsszene gelegentlich einer Morphin¬
injektion. Sehr rasche Beruhigung; günstige Wirkung.
17. 7. Nachts nur wenige Stunden Schlaf. Gegen 4 Uhr morgens Kollaps.
Starker Schweißausbruch. Puls flatternd, kaum zu fühlen. Temperatur
39° C. Auf Fragen gibt Pat. leidlich korrekte Antworten.
Erkundigt sich morgens, ob er schon gestorben sei. Als ihm wider¬
sprochen wird: „Das glaube ich doch nicht, ich bin schon gestorben. 44 Be¬
hauptet stets von neuem, er sei von Mördern umgeben, man wolle ihn töten.
Geht zuweilen aus dem Bett und ans Fenster, um auf der Straße die Polizei
zu rufen.
Temperatur schwankt zwischen 37,9 0 und 39 0 C.
Der Harn enthält hyaline und granulierte Zylinder, viel rote Blutkörper¬
chen und Epithelzellen. Die Ausscheidung ist gering.
18. 7. Schlief nachts sehr wenig, stöhnte fortwährend. Puls 130 bis 140
i. d. Min., zuweilen dikrot. Cheyne-Stokesscher Atemtypus, heftige Schwei߬
ausbrüche. Kurzdauernde Kollapszustände, in denen Kampher verabreicht
wird. Temperatur zwischen 37,7° und 38,7° C. Urinmenge in 24 Stunden
300 ccm.
Meint, die Luft wäre voll Gift, bittet, man möge sein Trinkglas bedecken.
Klagt, er sehe so schlecht, es fliege ihm fortwährend etwas vor den Augen, wie
eine flimmernde Bewegung. Verlangt, daß man die Speisen vorkoste.
19. 7. Nachts Behr mangelhafter Schlaf, heftige Schweißausbrüche. Un-
gemein beschleunigter Puls, 140—160 i. d. Min. Zustand von Somnolenz.
Deutlicher Verfall der Kräfte. Klagt selbst über Schwäche, verlangt starken
Wein und kräftige Bouillon. Nimmt sehr wenig Nahrung. Temp. zwischen
36,8° und 37,5° C. Fürchtet sich vor jedem Unbekannten, öfters treten
Zuckungen in den unteren und oberen Extremitäten auf.
20. 7. Urin wenig getrübt, enthält 1 Eiweiß. Temp. 36,3° C. Pro¬
fuser Schweißausbruch. Große Schwäche und Prostration. Beständiges Stöh¬
nen. Flatternder Puls,
45
21. 7. Zunehmender Verfall der Kräfte. Gegen 8 Uhr abends Kollaps
mit Cheyne-Stokesschem Atmen und kleinen, dikroten, zuweilen aussetzendem
Puls. Nach Kochsalzinfusion leichte Besserung. Sehnenreflexe erloschen.
9 Uhr abends Exitus letalis.
Zusammenfassend läßt sich über diesen Fall folgendes sagen:
Ein hochintelligenter Diplomat, der seit einem halben Jahr an einer
arteriosklerotisch bedingten Herzaffektion leidet, wird zuerst nieder¬
geschlagen und hat Todesahnungen, dann erkrankt er, während sich
ein Glaukom und eine leichte linksseitige Parese entwickeln, an einer
reizbar mißtrauischen Verstimmung, glaubt sich Nachstellungen und
Vergiftungen ausgesetzt. Dabei treten paroxysmale Angstanfälle auf,
in denen Pat. um Hilfe schreit und sich mit dem Ausdruck schwerster
Angst an einzelnen Personen festklammert. Der Schlaf ist sehr un¬
ruhig. Halluzinationen und Desorientiertheit sind nicht nachweis¬
bar. In den Anfällen von Dyspnoe äußert er Todesahnungen, bittet
um Erlösung; in den Zwischenzeiten sucht er durch Versprechungen
und Drohungen seine Rettung vor der vermeintlichen Vergiftungs¬
gefahr zu bewirken, zeigt sich dabei etwas schwer besinnlich. Dann
setzt ganz unvermittelt eine starke zornige Erregung ein, weil er sich
hintergangen glaubt, stößt allerlei Drohungen aus. Ferner wehrt er
sich mißtrauisch gegen eine Injektion. Nach Schlaf und nach einem
Kollaps wird er schwächer, glaubt, er sei schon gestorben, versucht
noch zuweilen die Polizei zu rufen. Auch am folgenden Tage ent¬
wickelt er Vergiftungsideen; die Schwäche nimmt zu. Unter den
Zeichen der Herzschwäche stirbt Pat. in wenigen Tagen, nachdem
noch Zuckungen in der rechten Körperseite aufgetreten sind.
Die symptomatologische Betrachtung enthüllt auch hier wieder
ein Mischbild. Durch die Arteriosklerose erscheinen die Herd¬
symptome von seiten des Gehirns bedingt, die wechselnden Paresen,
die Klonismen, das Cheyne-Stokessche Atmen. Dagegen sind die
paroxysmalen Steigerungen der Angst abhängig von den durch die
Herzerkrankung hervorgerufenen Anfällen von Dyspnoe. Dabei fin¬
den sich auch die charakteristischen Todesahnungen, die Erstickungs¬
furcht und die suizidalen Neigungen, um erlöst zu werden, Erschei¬
nungen, wie sie ganz ähnlich auch im Fall Georg B. beobachtet
wurden.
Entsprechend dieser symptomatologischen Mischung deckte der
Obduktionsbefund neben einer Myokarditis mit Erweiterung des rech¬
ten Ventrikels eine Atheromatose an den basalen Arterien und eine
frische Blutung im linken Hinterhauptlappen auf. Außerdem be¬
stand noch eine interstitielle Nephritis. Auf diese Komplikation
wird später an der Hand eines anderen Falles eingegangen werden.
46
Der Vergleich des vorliegenden Falles mit dem Fall Georg B.
lehrt nun weiterhin, daß noch ein drittes Element in dem klinischen
Bild enthalten ist außer den paroxysmalen Angstanfällen und den
sicher arteriosklerotisch verursachten grob organischen Störungen,
und zwar bezieht sich dies auf die reizbar paranoische Verstimmung.
Hier findet sich die Auslösung eines im Kleistschen Sinne homo-
nomen Symptomenkomplexes; es erscheint nur ungewiß, ob die Ar¬
teriosklerose oder die Herzstörung das provozierende Agens bilden.
Eine Entscheidung in dieser Frage muß ins Belieben des Lesers ge¬
stellt werden. Bemerkenswert ist aber, wie diese paranoische Stim¬
mungslage, ohne zu gröberen Verkennungen oder Sinnestäuschungen
zu führen, die durch die Dyspnoe veranlaßte affektive Steigerung
von der ursprünglichen Angtsentladung in eine zornig-gereizte Er¬
regung umwandelt, bei der sich das Selbstgefühl des Kranken in wil¬
den Drohungen kundtut. Dabei soll noch besonders das Fehlen auch
optischer Halluzinationen betont werden, obgleich das beginnende
Glaukom erleichternd auf ihr Zustandekommen einwirken sollte.
Im allgemeinen Zusammenhang scheint dieser Fall deswegen
interessant, weil hier die Wirkung der von dem kranken Herzen
stammenden Mißempfindungen im Sinne der Angst auf die Gestaltung
des psychischen Krankheitsbildes studiert werden kann. Die mi߬
trauisch-gereizte Stimmungslage läßt aus den Angstgefühlen ver¬
meintliche Bedrohungen entstehen. Die Vergiftungsideen sind inhalt¬
lich bestimmt durch die Stimmungslage und als Objektivierung durch
Organgefühle bedingter Wahrnehmungen, ebenso wie ein Erklärungs¬
wahn psychisch determiniert ist. Dieser Umstand der inhaltlichen
Beeinflussung des Seelenlebens durch Organgefühle ist in diesem Fall
mit seinen paroxysmalen Angstanfällen zwar besonders deutlich, aber
sein Vorhandensein ist auch dort nicht zu bestreiten, wo der Zu¬
sammenhang nicht so durchsichtig ist. Es ist sonach anzunehmen,
daß die ängstliche Färbung des psychischen Krankheitsbildes bei
herzkranken Arteriosklerotikern inhaltlich bestimmt ist durch ab¬
norme Organempfindungen im Sinne der Beklemmung, auch wenn
eine klar bewußte Verarbeitung nicht erfolgt. Allerdings scheint ein
gewisser Grad von Besonnenheit erforderlich zu sein, damit eine Ver¬
knüpfung der Angstempfindung mit andern psychischen Elementen
stattfinden kann, sei es im Hinblick auf die Umwandlung einer de¬
pressiven Stimmungslage in eine ängstliche, sei es inbezug auf die
Weiterbildung von Wahnideen zu solchen der Beeinträchtigung und
Bedrohung.
47
Hieraus geht hervor, daß die beiden Typen kardialer Einflu߬
nahme auf die Psyche in ganz verschiedenen Ebenen der Persön¬
lichkeit liegen; der eine Typus, das eigentliche kardiogene Irresein,
wirkt durch eine noch unbekannte Noxe vor allem auf den formalen
Ablauf des Seelenlebens, erzeugt zumeist exogene Reaktionstypen im
Sinne Bonhöffers, der andere Typus beeinflußt das Seelenleben
inhaltlich nach der Richtung der Angst, sie stellt eine psychische De¬
terminante im pathogenetischen Geschehen dar. Dieser zweite Typus
der von einer Herzerkrankung ausgehenden psychischen Störungs¬
form tritt bei der Arteriosclerosis cerebri klarer hervor, als bei un¬
komplizierten Fällen; das liegt daran, daß erst bei einer anderweiti¬
gen Störung des Seelenlebens die pathologische Wirkungsmöglichkeit
eines auch im Normalen vorhandenen psychischen Elements sichtbar
wird. Birnbaum würde hier von Pathoplastik sprechen, aber u. E.
wird durch eine solche Schematisierung die lebensvolle Klarheit des
wirklichen Vorganges eher verdunkelt als beleuchtet; denn patho-
plastisch wirken ja auch viele andere Faktoren, die Lebenserfahrung,
das Wissen, die Anschauungen des Kranken, die man kaum geneigt
sein wird, in eine Reihe mit Empfindungen zu setzen, die durch patho¬
logische Veränderung eines Organs erzeugt werden. Die patholo¬
gische Angst des herzkranken Arteriosklerotikers entsteht dadurch,
daß die normale Angstempfindung des Herzleidenden auf einen patho¬
logisch veränderten Grundzustand der Seele stößt; die pathologische
Angst in der Psychose, wie sie sich sonst häufig findet, kann direkt
aus der pathologischen Veränderung der Psyche erwachsen, sei es,
daß diese Wahnvorstellungen, sei es, daß sie Sinnestäuschungen her¬
vorbringt.
Die schärfere Formulierung der beiden kardiogenen Erkran¬
kungsformen ergibt sich aus den Beobachtungen an Arterioskleroti-
kern mit genügender Klarheit. Das Verhältnis dieser beiden zuein¬
ander bedarf aber noch einiger erläuternder Worte. Daß ein kardio¬
genes Irresein ausgeht in eine durch kardiale Mißempftndungen ängst¬
lich gefärbte arteriosklerotische Demenz, dafür stehen uns weder
fremde noch eigene Erfahrungen zur Verfügung. Dagegen ist uns
ein Beispiel bekannt, das zur Entscheidung der Frage geeignet ist, wie
sich durch Herzerkrankung ängstlich gefärbtes Zustandsbild beim
Auftreten einer Herzdekompensation verhält. Da diese Fragestel¬
lung zu dem Thema des Verlaufs von Psychosen bei Herzstörungen
im engeren Sinne als hierher gehört, soll dieser Fall im Eingang des
fünften Kapitels seine Darstellung erfahren. Hier wird nur kurz be¬
merkt, daß ein Übergang des einen Krankheitstypus in den andern
48
wegen der Verschiedenheit in ihrer Struktur nicht wahrscheinlich ist,
ja selbst bei seinem Vorkommen als mehr oder minder zufällig impo¬
nieren würde.
Zum Schluß sei noch die Frage kurz gestreift, ob Herzerkran¬
kung bezw. -dekompensation als auslösend für das arteriosklerotische
Irresein anzusehen ist. Die Erfahrung der Klinik läßt uns dies ver¬
neinen, besonders entschieden aber muß in Abrede gestellt werden,
daß die Herzstörungen in dieser Beziehung bei der Arteriosklerose
eine irgend erhebliche Bedeutung besitzen. In dieser Hinsicht führen
unsere Beobachtungen zu einem negativen Ergebnis, wenn auch zu¬
gegeben werden mag, daß ab und zu das erste Auftreten von Ödemen
oder anderen Insuffizienzerscheinungen in den Beginn eines arterio¬
sklerotischen Demenzprozesses fallen mag. Der einzige Fall, der so
gelagert schien, ist doch noch etwas verwickelter, so daß wir auf
ihn erst im Laufe des 5. Abschnitts zu sprechen kommen werden.
Die kardiogenen psychischen Störungen
bei weiteren Komplikationen.
Die Untersuchung des Einflusses kardialer Störungen bei gleich¬
zeitig bestehender Arteriosklerose stellt einen Ausschnitt aus dem
umfassenden Thema der Wirkung solcher Störungen bei organischen
Veränderungen des Gehirns, ja bei andersartigen organischen Ver¬
änderungen des Körpers überhaupt dar. Dieses Thema bildet den
Gegenstand des vorliegenden Abschnitts; es kann seiner Reichhaltig¬
keit und seinem Umfang entsprechend nur kursorisch behandelt werden,
indem an Hand einschlägiger Fälle die betreffenden Fragen kurz ge¬
streift werden. Der einzuschlagende Weg wird wohl etwas willkür¬
lich und verschlungen erscheinen; aber eine systematische Darstel¬
lung würde den Rahmen dieser Arbeit bei weitem übersteigen und
außerdem wohl auch die Kraft und die Erfahrungen des Einzelnen.
Schon bei der hier vorgesehenen Behandlung muß Verwertung des in
der Literatur niedergelegten Materials vielfach den Mangel eigener
Beobachtung ersetzen.
So ergeht es gleich im Beginn bei der Frage nach dem Einfluß
des Herzens im Krankheitsbild der progressiven Paralyse. Im all¬
gemeinen ist es ja bemerkenswert, wie wenig die so häufige Aorten¬
lues bei der Paralyse und Tabes klinisch in die Erscheinung tritt.
Um so begrüßenswerter ist folgende Mitteilung Ewalds, die auf
einer Beobachtung Kleists in der Erlanger Klinik beruht.
Ein 65jähriger Tabiker, der schon seit 8 Jahren arbeitsunfähig
ist, allmählich reizbar, später teilnahmslos wurde, bekam Ödeme und
wurde nachts unruhig und furchtsam, glaubte sich von Einbrechern
bedroht; erlitt einige Anfälle, war sehr mißtrauisch und feindselig
gegen die Angehörigen. In der medizinischen Klinik zeigten sich
enorme Ödeme, erhöhter Blutdruck, geringe Albuminurie, schwacher
Puls, deutliche Zeichen einer Aorteninsuffizienz bei Lichtstarre der
Pupillen, fehlenden Sehnenreflexen und beginnender artikulatorischer
Sprachstörung. Nachts wird er unruhig, schimpft und lärmt, ver¬
läßt dauernd das Bett. Tagsüber zeigt er sich desorientiert und ideen¬
flüchtig, verkennt die Umgebung. Die Merkfähigkeit ist herabgesetzt,
die Stimmung ist meist heiter, zuweilen zornig oder ängstlich. Auch
Leyeer, Herzkrankheiten und Psychosen. (Abhandl. H. 25 .) 4
50
in der psychiatrischen Klinik euphorisch, redet viel, verkennt Um¬
gebung und Gegenstände; besonders nachts ist er sehr unruhig,
schreit und schimpft. Stirbt nach kurzer Zeit plötzlich. Wassermann-
sche Reaktion im Blute negativ, im Liquor positiv. In diesem
Eiweiß- und Zellvermehrung.
Da sich in diesem Fall histopathologisch die Anzeichen einer
wenn auch geringfügigen progressiven Paralyse fanden, ist gewiß
Vorsicht in der Beurteilung vonnöten. Aber in Übereinstimmung mit
Kleist und Ewald muß es für wahrscheinlich erachtet werden,
daß das Zusammentreffen der schweren Herzdekompensation mit dem
deliranten Zustand nicht zufällig, sondern ursächlich verknüpft ist.
Dafür spricht auch die Symptomatologie der Störung mit ihren
nächtlichen Exazerbationen, während die euphorische Grundstim¬
mung sehr wohl mit der paralytischen Veränderung des Gehirns Zu¬
sammenhängen kann. Es findet sich hier die Überlagerung zweier
exogener Schädlichkeiten, wie wir ein solches Verhalten auch im
vorigen Kapitel wiederholt getroffen haben. Ob dabei freilich die
Paralyse auslösend auf das Auftreten der kardiogenen Psychose ge¬
wirkt hat, muß sehr in Zweifel gezogen werden; denn solche Vor¬
kommnisse sind viel seltener, als es bei dem Auftreten der beiden
Grundstörungen möglich wäre. Hier sei zugleich erwähnt, daß der
obige Fall außerdem noch durch eine Arteriosklerose kompliziert war.
Des Weiteren ist zu bemerken, daß die Dekompensationsstörung
des Herzens nicht auslösend wirkt auf den Ausbruch der progressiven
Paralyse. Dagegen läßt sich noch wenig sagen über die Beeinflussung
der Stimmungslage und die weitere Gestaltung der Paralyse durch das
Bestehen stärkerer kardialer Beschwerden. Zuvorderst könnte man
hier einwenden, ob nicht die Stumpfheit und Unempfindlichkeit des
Paralytikers die Wahrnehmung und die Verarbeitung dieser Be¬
schwerden aufheben. Aber entscheiden kann in dieser Frage nur eine
statistische Bearbeitung in ähnlicher Weise, wie sie von de Monchy
für die Arteriosklerose inanguriert worden ist. Es muß untersucht
werden, ob die ängstliche Färbung der Paralyse der Stärke der Herz¬
erkrankung parallel geht oder wenigstens mit ihr häufiger wird. Vom
Ergebnis dieser Untersuchung muß die Beantwortung der Frage nach
dem Einfluß kardialer Mißempfindungen auf die Gestaltung des Krank¬
heitsbildes bei progressiver Paralyse abhängig gemacht werden.
Häufiger als bei der Paralyse finden sich psychische Störungen
infolge von Herzleiden bei der Lues überhaupt. Hier stehen uns
vielfache Erfahrungen aus der Literatur zu Gebote. Saathoff hat
diesen Störungen, wie bereits in der Einleitung vermerkt, eine be-
51
sondere Rolle hinsichtlich der Pathogenese und der Symptomatologie
zusprechen wollen. Darum muß an dieser Stelle auf diese Frage mit
kurzen Worten eingegangen werden, und zwar geschieht dies am
besten an der Hand eines Falles, den Jacob berichtet. Ein (^jäh¬
riger Luetiker, der seit Jahren an Aorteninsuffizienz mit Atemnot
leidet, bekommt Ödeme und schläft sehr schlecht. Tagsüber ist er
ruhig, gut orientiert, gibt richtig Bescheid und verhält sich natür¬
lich. Nachts treten Erregungszustände auf, in denen er aus dem
Bett springt, halluziniert, ängstlich um Hilfe ruft, die Umgebung ver¬
kennt. Dieses stets wechselnde Bild hält bis zu dem nach 7 Tagen
erfolgenden Tode an. Der Blutdruck betrug 165 mm Hg, die Wa.-Re.
war positiv. Hier liegt ein Typ der Erkrankung vor, wie er gewisser¬
maßen klassisch ist für Dekompensationspsychosen, kurzdauernde,
nächtliche, halluzinatoseartige Erregungszustände mit freien Inter¬
vallen am Tage. Vergleicht man dies Bild mit dem, das Saathoff
entwirft, angstvolle Verwirrtheit, Halluzinationen mit großer motori¬
scher Erregung, so ergibt sich eine gute Übereinstimmung. Dagegen
kann nicht behauptet werden, daß ein grundlegender Unterschied
besteht zu den psychischen Störungen bei Herzleiden ohne Lues. Die
genauere Beachtung des fraglichen Gebietes wird ohne Zweifel noch
andere psychische Reaktionstypen zu Tage fördern, wie sie bei den
sonstigen Herzpsychosen Vorkommen. Besonders aber muß die An¬
sicht Saathoffs bezweifelt werden, daß die anatomische Schädi¬
gung des Gehirns durch die Lues dasjenige Bindeglied sei, durch das
das Auftreten der Psychosen in solchen Fällen bedingt wird. Da¬
gegen spricht schon die Seltenheit solcher Psychosen im Gegensatz
zu der großen Verbreitung der Lues mit Herzkomplikation, sowie ihr
Auftreten auch ohne syphilitische Hirnveränderungen. Mindestens
ist bei derlei Schlüssen noch größte Vorsicht vonnöten.
Eine Besprechung von psychisch-nervösen Folgezuständen der
Herzerkrankungen bei weiteren Gehirnschädigungen, wie Tumoren,
multiple Sklerose u. ä., erübrigt sich deswegen, weil einschlägige Fälle
noch nicht berichtet worden sind. Das läßt immerhin darauf schlie¬
ßen, daß das Auftreten von kardiogenen Psychosen durch Schädigung
des Gehirns nicht begünstigt wird. Dies steht in befriedigendem Ein¬
klang mit den Ergebnissen aus unseren Erfahrungen hinsichtlich der
Arteriosklerose, der Paralyse und der Lues. Unter den Faktoren,
die die Entstehung kardiogener Psychosen erleichtern, spielen jeden¬
falls die organischen Zerstörungsprozesse des Gehirns keine Rolle,
wie umgekehrt auch Herzleiden nicht auslösend oder beschleunigend
auf den Ausbruch der psychotischen Symptome dieser Himerkran-
4*
52
kungen wirken. Das Nebeneinandervorkommen beider Störungen in
einzelnen Fällen deckt immer wieder auf eine Überkreuzung, eine
Summierung und Modifizierung der Symptome, also eine Mischung
im Grunde von einander unabhängiger Störungen, wobei allerdings
mitunter eigenartige Verlaufsformen, wie z. B. der Korsakowsche
Symptomenkomplex, hervorgerufen werden.
Damit ist die erste Gruppe der Komplikationen der kardiogenen
Psychosen abgehandelt; nun sind zu betrachten die Verwicklungen
der kardiogenen Störungen durch gleichzeitige Erkrankung anderer
innerer Organe. Schon verschiedentlich wurde bei den Fällen von
Arteriosklerose die Albuminurie erwähnt, also eine Beeinträchtigung
der Nierenfunktion; doch war nirgends Veranlassung, deswegen an
eine ursächliche Beeinflussung des Krankheitsbildes zu denken. Daß
auch eine solche möglich ist, steht außer Zweifel. Leider ist kein
dementsprechender Fall zu berichten; im folgenden Kapitel soll auf
die hier angeschnittene Frage noch einmal Bezug genommen wer¬
den. Vorläufig muß die Behandlung der Nierenkomplikation zurück-
gestellt werden, bis die Gunst des Zufalls den erwünschten Fall zu
Gesicht bringt.
Dagegen findet sich eine Psychose infolge Herzdekompensation,
die durch eine Leberstörung kompliziert ist. Auf die wichtige und
problematische Rolle der Leber bei Geistes- und Nervenkrankheiten
bin ich andernorts ausführlicher eingegangen. Die dabei entwickel¬
ten Gesichtspunkte sollen bei der Analyse unseres Falles herangezo¬
gen werden.
8. Fall. Johannes M., 53 Jahre alt, in Behandlung der Frankfurter
Klinik vom 26. 12 1922 bis 3. 2. 1923.
Seit 24. 7. 1922 wegen Leberzirrhose in klinischer Behandlung. Wieder¬
holte Punktionen des Aszites. In den letzten Tagen Nachlässen der Herzkraft
und akute Psychose mit Halluzinationen.
Pat. stammt aus gesunder Familie, hat sich normal entwickelt, war
4 Jahre im Feld, dort sehr gealtert. Trank wenig, war sparsam. 11 gesunde
Kinder. Seit dem Tode eines Sohnes im Felde wehmütig. Glaubte im Spital,
er müsse sterben, weil er in ein Zimmer für sich gelegt wurde.
Bei der Aufnahme schwerfällig, geht am Stock. Leib geschwollen. Gibt
Personalien richtig an, ermüdet anscheinend rasch, gibt schließlich keine Ant¬
wort mehr, er sei schon zu lange krank.
25. 12. Körperlicher Befund: Hochgradige Zyanose des Gesichts und
der Akra. Schwacher, kleiner, unregelmäßiger Puls. Über dem Herzen zu¬
weilen weiches systolisches Geräusch an der Spitze. Lungen o. B. Enormer
Aszites. Leber in Kantenstellung, nicht palpabel. Geringe Ödeme der Füße.
Psychisch schwerbesinnlich, apathisch, macht erschöpften Eindruck, däm¬
mert vor sich hin.
Nachts war er laut und ängstlich erregt, verkannte die Umgebung.
53
27. 12. Etwas ratlos, fühlt, daß sein Geist benebelt sei, weiß sich das
dicht zu erklären. Name und Alter gibt Pat. richtig an. (Welches Jahr?)
„Wie man hört und sieht, 1922, wenn das stimmt; heute stimmt ja die ganze
Welt nicht.“ (Monat?) „Weihnachten, wenn das stimmt; ja, ich habe neulich
gesehen, di waren Kinder da. Den Tag vor der Benebelung, wie ich da unten
war. Wie ich die Feiertage fort bin mit meinem Freund, da waren Weih¬
nachtskinder da: die haben mir eine kleine Dose gebracht. — Wo ich hier
gegenwärtig bin, das weiß ich nicht, sonst wüßte ich ja alles. Ehe ich hierher
kam, war ich im Spital — im Heiligegeistspital in der Langestraße. Ich bin
nicht richtig klar, ich gebe keine richtige Aufklärung, was ich mache. Ich
weiß nicht, durch den Krieg habe ich meine ganze Kraft verloren. Jetzt sitze
ich hier, es schmeckt mir nichts; ich simuliere wo ich bin. Ich weiß nicht,
nachts ist einer zu mir gekommen, — ich hatte ja keine Ahnung, der hat mir
eine Spritze gegeben. Da sagte ich, was das ist Da sagte er, ich wäre den
ganzen Samstag durcheinander gewesen. Die Schwester hatte sich beschwert.
Ich sagte, ich wüßte in Wirklichkeit von nichts. Meine Frau ist da, meine
Kinder. Dann ist alles nichts, ich habe nichts.“ (Beruf?) „Ja, ich war bei
der Eisenbahn als Güterbodenarbeiter und war zuhause bis im Mai.“ (Beginn
der Krankheit?) „Rheumatismus im Winter, wie ich in Rußland war, sonst
möchte ich wirklich nicht klagen. — Ja, wie ich hierher gekommen bin...
Früher war ich nicht krank.“ (Getrunken?) „Ich trinke nichts, das stimmt
alles nicht. Ich tue nur die Decke betrachten und das Rohr, und da meine
ich, es wäre Fußboden und ein Wasserrohr.“
Bilder, selbst seltene, benennt Pat. richtig, nur bezeichnet er eine Koralle
als roten Ast und meint beim Salamander, das sei kein Salamander.
Nachts ist er stets laut, verwirrt und trägt das Bettzeug umher.
30. 12. Nachts ruhig) klagt zuweilen über Atemnot und Durchfälle*
13. 1. örtlich und zeitlich orientiert. Psychisch bis auf eine gewisse
Ängstlichkeit unauffällig.
24. 1. Das Allgemeinbefinden hat sich etwas gehoben, die Atmung ist
freier geworden, die Zyanose des Gesichts ist zurückgegangen. Puls mittel¬
kräftig, regelmäßig. Gibt an, nicht mehr so ängstlich zu sein und wesentlich
besser zu schlafen. Die nächtliche Unruhe ist ganz geschwunden.
3. 2. 23. Nach dem Heiligegeistspital zurückverlegt.
Hier entwickelt sich im Laufe einer Leberzirrhose eine Herz¬
schwäche und damit zugleich eine akute Psychose von delirantem
Charakter, die nach kurzem Bestand übergeht in einen Zustand von
Schwerbesinnlichkeit, Ratlosigkeit und Ungewißheit, während nachts
noch delirante Phasen auftreten. Auch diese schwinden, und es
bleibt nur noch eine allgemeine ängstliche Stimmungsfärbung zurück.
Nach 4 Wochen ist Pat. wieder psychisch frei. Dieser Verlauf ent¬
spricht in seinem akuten deliranten Beginn, mit seinen nächtlichen
Exazerbationen und der langsamen Rückbildung dem Bild einer De¬
kompensationspsychose, wie wir es auch sonst zu sehen gewöhnt
sind. Die Einwirkung der Leberkrankheit ist nicht zu erkennen. Nun
sind, wie ich schon 1. c. betonte, überhaupt psychische Störungen bei
Leberzirrhose selten, vermutlich wegen des chronischen Verlaufs die-
54
ses Leidens. Allerdings soll die Leberzirrhose nach B o s t r ö m zum
Delirium tremens disponieren. Es kann aber hier in dem Auftreten
eines deliranten Zustandes keine Bestätigung dieser Ansicht erblickt
werden; denn ein solcher ist auch ohne Leberstörung sehr häufig.
Weiter sind die nervösen Folgeerscheinungen nach Leberschädigung
recht verschiedenartig, beim Ikterus morose Stimmung oder katalep-
tische Symptome, beim Zerfall des Lebergewebes toxische Delirien.
Eine in bestimmter Richtung abgeänderte psychische Reaktionsweise
findet sich zumal bei der Leberzirrhose nicht, und so kann es nicht
wundernehmen, daß auch im obigen Fall ein Einfluß derselben nicht
bemerkbar wird.
Was die Bedeutung anderer Erkrankungen innerer Organe für
die Gestaltung des kardiogenen Irreseins anlangt, so kann mit kur¬
zen Worten darauf hingewiesen werden, daß weder Lungen- noch
Darm- noch Stoffwechselleiden irgendwie erheblich sind in dieser Hin¬
sicht. Die kardiogenen Psychosen laufen ebenso ab wie ohne diese
Verwicklungen, genau wie sich dies auch bei Nieren- und Leber¬
erkrankungen zeigte. Die große Seltenheit solcher Vorkommnisse
beweist auch, daß durch ein solches Zusammentreffen die Entstehung
kardiogener Psychosen nicht erleichtert wird. Ebensowenig findet
sich bei den Erkrankungen innersekretorischer Drüsen ein häufiges
Auftreten kardiogener Psychosen. Was dieses negative Ergebnis für
die Bonhöffersehe Therorie von den ätiologischen Zwischenglie¬
dern bedeutet, soll im Schlußabschnitt des näheren erörtert werden.
Als dritte Art von Komplikation von kardiogenen psychischen
Störungen ist das gleichzeitige Auftreten von Infektionskrankheiten
zu betrachten. Auch hier ist das Material, das vir unsern Anführun¬
gen zu Grunde legen können, recht spärlich, und nur der Wunsch
nach systematischer Vollständigkeit ist die Veranlassung, auf diese
noch so wenig beachtete und geklärte Frage einzugehen. Weder hat
Bonhöffer diese Frage in seiner Darstellung der Infektionspsycho¬
sen erörtert, noch finden sich, wo man noch am ehesten dergleichen
vermuten könnte, darauf bezügliche Beobachtungen in der Arbeit
Kleists über die Choreapsychosen und in den Untersuchungen
Knauers über die Rheumatismuspsychosen. Der einzige hierher
gehörige Fall entstammt einer älteren Arbeit L. W. Webers über
die Beziehungen zwischen körperlicher Erkrankung und Geistes¬
störung. Es handelt sich um ein Kind eines Trinkers, das mit 10 Jah¬
ren an Rheumatismus und Endokarditis erkrankt, seitdem an Zuckun¬
gen im Gesicht, in den Armen und Beinen leidet und in seiner geisti¬
gen Entwicklung zurückgeblieben ist. Seit dem 17. Lebensjahr treten
55
häufig Angstzustände mit Weglaufen auf. Im 20. Lebensjahr erneute
Gelenkschmerzen, verbunden mit lebhafter Angst und starken Zuckun¬
gen in den Beinen und choreatischen Bewegungen in den Fingern, zu¬
gleich mit Verstärkung des Herzgeräusches, Verbreiterung der Herz¬
dämpfung und Zyanose. Krampfanfälle wurden nie beobachtet, da¬
gegen wiederholte sich das obige Syndrom mehrere Male. Ein Jahr
später starb der Pat. an einem Rezidiv der Endokarditis, die mit
hochgradigen Angstattacken einherging. Es zeigt sich hier jener
Typus kardial bedingter Störungen, den wir in den Fällen Georg B.
und Henrique de M. auf die Verarbeitung kardialer Mißempfindungen
zurückgeführt haben. Bemerkenswert ist besonders das jugendliche
Alter des Pat., eine Beobachtung, die im Gegensatz zu unseren bis¬
herigen Ergebnissen steht. Es liegt nahe, in diesem Falle die gleich¬
zeitig bestehende Chorea als Erklärung für diese Abweichung von der
Regel heranzuziehen, ohne daß wir mit dieser Feststellung eine wei¬
tere Einsicht in den Sachverhalt gewinnen können.
Des weiteren verdient in diesem Zusammenhang vielleicht noch
folgende Beobachtung Stertz’ Interesse, die freilich die Rekon-
valenszenz von einer Infektionskrankheit betrifft. Ein 20jähriger
Soldat, von einer nervösen Mutter stammend, der an einem kompen¬
sierten Herzfehler leidet, bekommt anschließend einen Typhus, Herz¬
beschwerden und Angstgefühl, schläft schlecht ein und hat unruhige
Träume, klagt über Druckgefühl im Kopf und Genick. 5 Monate
später zeigt er verstimmtes Wesen ohne Hemmung, Tremor der
Hände und lebhafte Reflexe. Er klagt über die Mißstimmung und
die vielen Sorgen, die er sich macht, fühlt sich arbeitsunlustig, trägt
sich mit Selbstmordgedanken. Er gibt an, die Verstimmung habe
sich erst in der Rekonvaleszenz entwickelt, früher habe er einen ähn¬
lichen Zustand nicht gehabt. Stertz denkt hier an die Möglichkeit,
daß es sich um den ersten Anfall eines manisch depressiven Irreseins
handelt, der durch den Typhus ausgelöst wurde. Da Stertz zu¬
gleich zwei ähnliche Fälle ohne Herzkomplikation anführt, ist die
Bedeutung des zugleich bestehenden Herzfehlers für die Gestaltung
des Krankheitsbildes nicht im Sinne eines ursächlichen Faktors zu
betrachten. Wenn auch späterhin kardiale Mißempfindungen und
davon ausgehende Angstgefühle nicht im Vordergrund stehen, muß
vielleicht doch das Vitium cordis als pathoplastisches Moment be¬
rücksichtigt werden, insofern sein Bestehen die Auslösung der depres¬
siven Verstimmung erleichterte. Jedenfalls kann, das geht mit aller
Deutlichkeit hervor, der Herzfehler hier nur die Rolle eines sehr
nebensächlichen Faktors beanspruchen, etwa in derselben Bedeutung,
56
die ihm für die Beeinflussung des Verlaufes von anderweitig beding¬
ten Psychosen zukommt, ein Gegenstand, dessen Besprechung das
folgende Kapitel gewidmet werden soll. An dieser Stelle reiht sich
der Fall mit allem Vorbehalt deshalb ein, weil es sich um das Zu¬
sammentreffen eines Herzleidens mit einer durch eine Infektions¬
krankheit bedingten Psychose handelt. Dies ist die andere Art der
Verbindung zwischen Infektionskrankheit, Herzfehler und Psychose,
während der Fall Webers die Beeinflussung resp. Auslösung einer
kardial bedingten psychischen Störung durch die Rezidive einer In¬
fektionskrankheit vor Augen führt, die jeweilen zu einer Exazerbation
der psychopathologischen Erscheinungen Veranlassung geben. Nur
diese Form der Verbindung steht aber hier eigentlich zur Diskussion.
Im großen und ganzen läßt sich sagen, daß auch das Auftreten
von Infektionskrankheiten, insonderheit von Rheumatismus und Cho¬
rea, die Entstehungen kardiogener Störungen nicht begünstigt. In
einem Falle konnte aber nachgewiesen werden, daß wenigstens jener
Typus kardiogener Störung, die inhaltlich bestimmt im Sinne der
Angst ist, hier auch in einem so jugendlichen Alter auftreten kann,
wie sie sonst nicht gefunden wird. Gerade aber die psychische De-
terminierung im Sinne der Angst ist, das beweisen auch die Beobach¬
tungen des folgenden Kapitels, nicht so eng begrenzt hinsichtlich
des Lebensalters, wie das eigentlich kardiogene Irresein, das vor dem
30. Lebensjahre nicht auftritt. Ebenso zeigt sich diese mehr patho-
plastische Wirkung des Herzleidens bei einer durch eine Infektions¬
krankheit bedingten Psychose.
Mit dieser letzten Beobachtung wird bereits das nächste Pro¬
blem angeschnitten, das im folgenden Abschnitt behandelt wird, der
Einfluß von Herzleiden auf den Verlauf und die Gestaltung von
Psychosen.
Der Verlauf und die Gestaltung der Psychosen
beim Auftreten von Herzstörungen.
An verschiedenen Stellen unserer Arbeit begegnete uns bereits
die Frage, welchen Einfluß die Störung der Funktion des Herzens hat
auf den Ausbruch, die Gestaltung, den Verlauf und den Ausgang einer
durch anderweitige Ursachen erzeugten Psychose, wie aus verschie¬
denen Hinweisen hervorgeht; hier soll sie im Zusammenhang behan¬
delt werden. Die Bedeutung der Herzkomplikation« muß dabei nach
verschiedenen Richtungen geprüft werden, wie hinsichtlich der Aus¬
lösung, der Präformierung, der Färbung, der Inhaltsgebung usw.
Dabei bildet den Eingang die Erörterung der durch organische Hirn-
Prozesse hervorgerufenen Geistesstörungen in ihrem Zusammentreffen
mit Herzleiden. Schon im 3. Kapitel ist ein Ausgangspunkte hierfür
geschaffen worden in der Analyse der kardialen Störungen bei Ar¬
teriosklerose; umgekehrt handelt es sich hier um die Beeinflussung
des arteriosklerotischen Irreseins durch ein Herzleiden, ob es nun zu
Dekompensationserscheinungen führe oder nicht. Nach den Unter¬
suchungen de Monchys soll diese Verwicklung häufig zu einer
ängstlichen Färbung des psychischen Krankheitsbildes bei Gehim-
arteriosklerose beitragen. Schon oben ist die Vermutung ausgespro¬
chen worden, daß es sich hierbei um einen entsprechenden Vorgang
handelt wie bei jenen Fällen, in denen kardiale Mißempfindungen un¬
mittelbar zur Auslösung von Angstanfällen führen, und daß ferner
ein gewisser Grad von Besonnenheit zu einem solchen Wirkungs¬
modus erforderlich ist. Ist diese Annahme richtig, so wird sich an¬
dererseits die ängstliche Färbung eines arteriosklerotischen Irreseins
nicht steigern, entsprechend der Schwere der Störung der Herzfunk¬
tion, namentlich wenn es infolge Dekompensationserscheinungen zu
Trübungen des Bewußtseins kommt. Der Nachweis hierfür ist schwie¬
rig zu liefern; vielleicht kann der folgende Fall in dieser Richtung
einiges beitragen.
9. Fall. Friedrich St., 57 Jahre alt, in Behandlung der Gießener
Klinik vom 24. 5. 1922 bis 4. 11. 1923.
Uneheliches Kind, Mutter soll in den letzten Jahren kindisch gewesen
sein. Pat. selbst normal entwickelt, heiratete mit 25 Jahren, infizierte sich bei
seiner Frau mit Tripper, ließ sich nach einem Jahr scheiden. Mit 36 Jahren
58
2. Ehe, blieb kinderlos. P. war sehr gesellig, sang viel in Vereinen, war dabei
von jeher sehr hypochondrisch, glaubte lungenkrank zu sein. Hatte Ende der
vierziger Jahre eine mehrjährige Enochenhautentzündung. Mit 51 Jahren
erster Schlaganfall, die rechte Körperseite betreffend, der sich noch zweimal
wiederholte, zuletzt 1921. Seit der letzten Apoplexie bildet er sich alle mög¬
lichen Krankheiten ein, ißt wenig und schläft sehr schlecht. Wurde vom
Febr. 1922 an in einer Nervenheilanstalt behandelt, klagte über Erschwerung
der Sprache, Atembeschwerden beim Treppensteigen und Schlaffheit, hegte
allerhand hypochondrische Befürchtungen über seine Körperfunktionen, ent¬
wickelte zuweilen Vergiftungsideen, war zeitweise verwirrt und halluzinierte.
Am 22. 4. 1922 brachte er sich mit dem Rasiermesser mehrere Schnitte am
Hals und an der Schläfe bei, war unruhig und ängstlich, führte Selbstgespräche,
hatte Sinnestäuschungen und .Versündigungsideen. In diesem Zustande wurde
er in die Klinik eingeliefert.
Körperlicher Befund. Großer, schwerer Mann mit ergrautem
Haar und mit trockener schlaffer Haut.
Herz: Dämpfung etwas von der Lunge überlagert, nicht verbreitert,
Spitzenstoß innerhalb der Mammillarlinie. An der Spitze leises systolisches
Geräusch, das auch an der Basis hörbar ist. Tätigkeit regelmäßig, nicht be¬
schleunigt Puls 60 i. d. Min., Blutdruck 195/160 mm Hg.
Lunge: etwas emphysematos, sonst o. B., Leber o. B. Urin: kein Alb.,
kein Sachar. Keine Spasmen, keine Paresen. Gang unsicher und schwan¬
kend. Romberg +. Sprache etwas verlangsamt, aber deutlich artikuliert
Pupillen gleichweit, reagieren auf Lichteinfall und Blick in die Nähe.
Haut- und Knochenhautsehnenreflexe regelrecht. Keine Kloni. Keine patho¬
logischen Reflexe.
Psychisch: örtlich orientiert, zeitlich nicht. Weiß nichts von den früheren
Schlaganfällen. Hochgradig schwer besinnlich. Glaubt, daß alles Essen im
Körper bleibt. Äußert Versündigungsideen, namentlich auf sexuellem Gebiet.
In den nächsten Monaten ist Pat ruhig; er klagt viel über schlechten
^ Stuhlgang. Sinnestäuschungen bestehen nicht Die Stimmung ist gedrückt
Äußert, er sei unheilbar krank und verarmt. Allmählich treten die paranoiden
Ideen zurück. Im Winter wird Pat etwas frischer, geht mit steifen Schritten
im Zimmer spazieren, sitzt meist untätig vor seinem Bett und brütet stumpf
vor sich hin. Jedem Vorschlag einer Veränderung gegenüber verhält er sich
ablehnend.
Im Februar 1923 treten zuerst Ödeme an den Beinen auf, die auf Bettruhe
schwinden. Eine Änderung des psychischen Zustandes ist nicht zu bemerken,
nur erscheint die Stimmung mehr gedrückt.
Im April treten die Ödeme wieder auf, schwinden aber nach Digalen-
behandlung und Bettruhe. Von Mai bis September ist Pat. lebhafter, geht im
Garten spazieren, unterhält sich mit anderen Kranken, kennt alle bei Namen.
Nachts schläft er wenig.
23. 9. 1923. Pat. ist heute verschiedene Male hingesttirzt. Bewegungen
im ganzen zittrig und unsicher, keine deutliche Parese. Sprache etwas
stockend. Keine Wortfindungsschwierigkeiten. Außerordentlich starke Atem¬
not. Pulsarythmie. Bekommt Digalen.
24. 9. Pat. liegt schweratmend im Bett. Leichte Ödeme der Beine.
Starke Arythmie des Pulses. Digitalis-Coffeinpulver.
59
28. 9. Pak hat sich im ganzen etwas erholt. Der Puls ist etwas voller
geworden, aber noch sehr unregelmäßig. Die Atemnot ifet zurück gegangen.
Gegen Abend deliranter Zustand, glaubt sich zuhause, unterhält sich mit Be¬
kannten, tastet suchend umher. Eine besondere ängstliche Färbung tritt
nicht hervor.
30. 9. Delirante Unruhe geringer. Herzdämpfung nach rechts verbrei¬
tert. Puls qualitativ unregelmäßig. Leber vergrößert Geringe Ödeme an
den Beinen. Etwas Stauungsbronchitis. Im Urin Spur von Alb. Erhält
weiter Digitalis.
5. 10. Herzbefund unverändert. Pat. liegt meist teilnahmslos da, hält
sich sauber, nimmt sein Essen.
12. 10. Wesentliche Besserung. Die Dyspnoe ist sehr zurttckgegangen.
Pul8 noch inäqual. Psychisch ist Pat. regsamer, nimmt an seiner Umgebung
Anteil, beklagt sich über einen anderen Pak, der viel hustet. Keinerlei ängst¬
liche Verstimmung.
25. 10. Pak ist seit gestern sehr kurzatmig. Puls klein, unregelmäßig
aussetzend. Pak liegt stöhnend in den Kissen, schluckt kaum. Urinausschei¬
dung sehr gering.
26. 10. In der Nacht sehr unruhig, spricht verwirrt. Läßt Kot und Urin
unter sich. Keine Reflexdifferenzen. Pat. stöhnt den ganzen Tag, atmet
mühsam.
27. 10. Auf Novasurol Urinausscbeidung gesteigert. Allgemeinbefinden
nicht verändert, hochgradige Prostration.
29. 10. War nachts sehr unruhig und störend, hört Stimmen, verkennt
die Umgebung, will aufstehen.
3. 11. In den letzten Tagen psychisch etwas freier. In der Nacht wird
Pat. sehr unruhig, völlig desorientiert, deliriert, läßt Kot und Urin unter sich.
4. 11. Am Vormittag Exitus letalis.
Bei diesem 56jährigen Arteriosklerotiker bestand seit Jahren
eine hochgradige Myokarditis, die auch schließlich das Ende herbei¬
führte. Der Verlauf des psychopathologischen Erlebens ist dabei
sehr bemerkenswert. Nach wiederholten Schlaganfällen entsteht eine
hypochondrisch und ängstlich gefärbte Depression, die sich bis zu
einem ernsten Selbstmordversuch steigert. Nach einer kurzen deli-
ranten Phase wird die Depression immer stumpfer und farbloser und
macht schließlich einer leicht euphorischen Demenz Platz, die auch
durch das Auftreten von Stauungserscheinungen nicht sehr beein¬
flußt wird. Erst nach einem erneuten (apoplektischen?) Insult stei¬
gert sich die Herzstörung zur Dekompensation mit Pulsarythmie und
Dyspnoe. Es entwickeln sich kurzdauernde nächtliche Delirien und
Benommenheitszustände ohne ausgesprochene ängstliche Färbung,
dabei schieben sich öfters freiere Intervalle dazwischen, bis der Herz¬
tod eintritt. Aus diesem Verlauf läßt sich etwa folgendes entnehmen.
Auslösend wirkte auf das ängstlich hypochondrische Zustandsbild der
Depression der voraufgegangene Schlaganfall, Dabei müssen die
60
depressiven Komponente und”die hypochondrische Einstellung als
konstitutionell bedingt angesehen werden, während die ängstliche
Färbung vielleicht mit den von dem kranken Herzen ausgehenden
Sensationen im Zusammenhang steht. Schließlich entladet sich die
ängstliche Spannung in einem Selbstmordversuch, von da an tritt
mehr der dementive Verlauf in den Vordergrund. Dabei schwindet
nun auch infolge der allgemeinen Stumpfheit die Verarbeitung der
Herzsensationen, die ängstliche Färbung tritt zurück. Bei den nun¬
mehr sich geltend machenden Dekompensationserscheinungen des
Herzens kommt es zu kurzdauernden nächtlichen Delirien ohne Angst.
Somit bestätigt dieser Fall in gewisser Beziehung, daß eine ängst¬
liche Färbung des Zustandsbildes durch die Sensationen von seiten
des Herzleidens nur stattfindet, wenn diese durch Besonnenheit und
relative Intaktheit der übrigen Himfunktionen innerpsychologisch
weiter verarbeitet werden. Fernerhin zeigt sich, daß die ängstliche
Spannung sich nicht mit der Schwere der Herzerkrankung zu steigern
braucht, wobei hier das Weiterschreiten des arteriosklerotischen Pro¬
zesses der intrapsychischen Verwertung von kardialen Mißempfindun¬
gen den Boden entzieht. Es kann nun dieses Verhalten als typisch
für die Demenzpsychosen in ihrer Wechselbeziehung zu Herzleiden
betrachtet werden. Im Beginn der organischen Psychosen wie Arterio¬
sklerose, Paralyse, senile Demenz, wenn noch ein ausreichender Grad
von Besonnenheit erhalten ist und wenn die Gesamtfunktion des
Gehirns noch nicht zu weit im Sinne der Abstumpfung herabgesetzt
ist, führen die durch das Herzleiden bedingten Mißempfindungen zu
einer ängstlichen Färbung des Gesamtbildes. Tritt eine schwere
Dekompensationsstörung des Herzens schon in so frühem Stadium
auf, so folgt eine eventuell auftretende psychische Störung dem
Typus, der auch beim kardiogenen Irresein gefunden wird. Tritt
diese Störung der Herzfunktion aber erst gegen Ende des Leidens
resp. in einem fortgeschritteneren Stadium auf, so ist die ängstliche
Phase durch ein stumpf-ruhiges dementes Intervall von den agonalen
Delirien getrennt. Mit andern Worten, je weiter der Zerfall im Ver¬
lauf einer Demenzpsychose fortschreitet, desto mehr verliert eine
Herzkomplikation an Wert hinsichtlich der Determinierung der psy¬
chischen Inhalte, desto ausschließlicher kommt sie nur in Betracht
als Quelle einer zusätzlichen Noxe pathogenetischer Wirksamkeit.
Des weiteren ist anzunehmen, daß die ängstliche Färbung des
Zustandsbildes ceteris paribus das Zustandekommen einer depressi¬
ven Stimmungsanomalie mehr erleichtert als das Gegenteil. Die Herz¬
störung würde also über diesen Mechanismus präformierend auf de-
pressive Zustandsbilder bei Demenzpsychosen wirken. Einen Beweis
hierfür zu erbringen, ist zur Zeit unmöglich. Auch hierüber können
erst statistische Untersuchungen Klarheit bringen, deren ausgiebige
Anwendung auf psychiatrischem Gebiet überhaupt viel Nutzen ver¬
spricht. Freilich ist in der Frage besonders noch der Umstand zu
berücksichtigen, daß ein depressives Zustandsbild bei einer organi¬
schen Psychose auch das Zeichen einer manisch-depressiven Ver¬
anlagung sein kann.
Im folgenden wird über einen Fall berichtet, bei dem der melan¬
cholische Gesamtzustand von konstitutionellen Momenten abhängig
war, wie das Auftreten eines Suizids seines Sohnes wahrscheinlich
macht, bei dem die Beeinträchtigung der Herzfunktion aber sichtlich
eine andere Rolle, die des auslösenden Agens, übernahm.
10. Fall. Carl F., 56 Jahre alt, in Beobachtung der Gießener Klinik
seit 21. 1. 1924.
Ein Sohn hat sich vor 2 Jahren erschossen, er war vorher „nervös“. Sonst
in der Familie nichts Besonderes.
Pat. selbst normal entwickelt, von Kind an Sprache etwas stammelnd
und leichtes Schielen. Mit 14 Jahren Knochenhautentzündung am rechten
Bein. Seitdem nicht mehr krank gewesen. iBt seit 33 Jahren verheiratet und
hat 2 gesunde Kinder.
Im Herbst vorigen Jahres zugleich mit Anschwellung des rechten Fußes
traurige Verstimmung mit ängstlichem Gefühl auf der Brust, mit Todesahnun¬
gen und Lebensüberdruß. Dabei war er zuerst leicht erregbar und jähzornig.
Der Arzt habe damals von Herzerweiterung gesprochen. Das Gedächtnis ließ
nach. Allmählich wurde er ruhiger, blieb sehr ängstlich und niedergedrückt,
hatte an nichts mehr Freude, öfters litt er an 1—2 Minuten dauerndem Er-
stickungs- und Beklemmungsgefühl. Fühlte sich der Arbeit nicht mehr ge¬
wachsen, hat aber noch bis zum Tag vor der Aufnahme geschafft.
Körperlicher Status: Kleiner, untersetzter Mann mit rundem Gesicht und
großer Glatze in mäßigem Ernährungszustand. Zahlreiche Operationsnarben
am rechten Bein.
Herz: Grenzen nach rechts und links oben erweitert. Lautes systolisches
Geräusch über dem ganzen Herzen, besonders laut über der Basis. Puls mäßig
gefüllt, regelmäßig, 80 i. d. Min. Blutdruck 150/110 mm Hg. nach Riva-Rocci.
Im Urin 1 '/•• Eiweiß, kein Zucker; im Sediment hyaline Zylinder, weiße
und rote Blutkörperchen.
Die übrigen inneren Organe o. B.
Leichtes ödem deB rechtes Fußes.
Strabismus divergens des linken Auges mit konsekutiver Hemiamblyopie.
Pupillen mittelweit, rund, meist gleich, zuweüen anisokor, Lichtreaktion +.
Konvergenzreaktion nicht zu prüfen. Übrige Reflexe mit Ausnahme einer
leichten Abschwächung des rechten Kniephänomens regelrecht.
Psychischer Status: Zeitlich und örtlich gut orientiert. Lebhaftes Krank¬
heitsgefühl. Beginnt sofort zu weinen. Muß sich öfter lange besinnen, gibt
aber ganz gute Auskunft. Klagt über Beklemmungsgefühle, allgemeine
G2
Schlaffheit und Unlust. Wird erregt, als er auf den Tod des Sohnes zu spre¬
chen kommt, schluchzt. Bewegt sich sehr wenig, sieht meist still vor sich hin.
Die Merkfähigkeit war, namentlich für das Wiederholen von 6 Ziffern,
herabgesetzt.
30. 1. Nach einigen Tagen Bettruhe ist das ödem des rechten Fußes
geschwunden. Die Stimmung ist entschieden besser; Pat. fühlt sich zuversicht¬
licher, ist nicht mehr so weinerlich. Klagt noch zuweilen über Beklemmungs-
gefühl.
7. 2. Pak ist ruhig und gleichmütig, spricht auch, ohne ins Weinen zu
geraten, von dem Selbstmord seines Sohnes, ist sehr zurückhaltend, wenn er
nach den Gründen gefragt wird. Keine Herzbeschwerden mehr. Der Eiwei߬
gehalt des Urins ist trotz der Diät gestiegen (2%■'/••).
Hier wird bei allgemeiner Arteriosklerose die konstitutionell prä-
formierte Depression durch die Störung der Herzfunktion ausgelöst
und tritt auch mit Besserung der Herztätigkeit wieder zurück. Die
Rolle der Nephritis ist sicher nicht ausschlaggebend; denn trotz Stei¬
gerung der Eiweißausscheidung im Harn hält die Besserung an.
Schwer ist es vorläufig, die Bedeutung der Arteriosklerose abzu¬
schätzen, aber manche Züge, wie die Affektlabilität, die leichte Merk¬
schwäche, die Schwerbesinnlichkeit, scheinen darauf hinzuweisen, daß
ein Abbau von Hirngewebe durch arteriosklerotische Veränderung
eingeleitet ist. Die allgemeine Ängstlichkeit und die Beklemmungs¬
gefühle stehen deutlich in Abhängigkeit von der Herzerkrankung.
Vielleicht kann man hier von einer Auslösung des arteriosklerotischen
Symptomenkomplexes durch die Herzstörung sprechen; aber dies
bleibt ungewiß, so daß die auf Seite 48 dargelegte Auffassung be¬
stehen bleibt.
Nachdem zuerst der allgemeine Typus der Verlaufsform der De¬
menzpsychose bei einer Komplikation mit Herzkrankheit an Hand
des Falles Friedrich St. dargestellt wurde, ergaben sich bestimmte
Regeln in der Verknüpfung und Aufeinanderfolge der psychopatho-
logischen Symptome. Aus dem zuletzt geschilderten Fall ist weiter
zu schließen, daß das Herzleiden auch als auslösender Faktor in die¬
ser Richtung wirken kann. Bezüglich der präformierenden Wirkung
der vom Herzen ausgehenden Angstempfindung, auf eine Herabstim¬
mung der Affektlage zur depressiven konnte kein endgültiges Urteil
gefällt werden.
Die normalpsychologische Rolle der Angst im Stimmungsleben
ist bei weitem noch nicht geklärt. Die Angst bedeutet ja im Grunde
eine Gesamteinstellung der Psyche, die über den Charakter einer
einfachen Stimmungslage weit hinausgeht, wie der Vergleich mit
einer gewöhnlichen traurigen Verstimmung lehrt. Die Angst ist un-
63
trennbar verbunden mit dem Vorstellungsinhalt drohender Gefahr,
mit der Haltung der Fluchtbereitschaft, des Ausweichenwollens, mit
dem Gefühl der Gedrücktheit bei eigener Wehrlosigkeit und Minder¬
wertigkeit. Nur dieses letztere Gefühl kann als ein Stimmungselement
im eigentlichen Sinne betrachtet werden. Aus dieser analytischen
Auffassung des komplexen Phänomens der Angst geht die teilweise
innerpsychologische Verwandtschaft mit der Depression hervor. Die
Depression selbst betrifft nur die Herabgestimmtheit des psychischen
Lebens, empfängt freilich Farbe und Fülle durch ihre Verbindung mit
den verschiedenen Graden der Reagibilität, des Äußerungswillens usf.
Die Übereinstimmung mit der Angst beruht auf dem Gefühl der Ge¬
drücktheit und der Minderwertigkeit. Es zeigen diese Überlegungen,
daß die Beziehungen von Angstzuständen infolge kardialer Mi߬
empfindungen zu depressiven Phasen in gewissem Sinne engere sind,
als zu sonstigen psychopathologischen Abweichungen. Deswegen ist
es bedauerlich, daß der Mangel an statistischen Unterlagen kein Ur¬
teil über den Zusammenhang von ängstlichen Organgefühlen und de¬
pressiven Zustandsbildem bei den organischen Demenzpsychosen mit
Herzkomplikation erlaubt. Um so wichtiger sind Beobachtungen über
den Einfluß von Herzleiden a,uf das manisch-depressive Irresein.
Zuerst sei folgender Fall Jacobs herangezogen, in dessen Deu¬
tung wir freilich von diesem Autor abweichen. Eine 31jährige Pat.
ohne hereditäre Belastung, von Jugend auf mit einem von einem Ge¬
lenkrheumatismus herrührenden Herzfehler behaftet, erkrankt vor län¬
gerer Zeit an einer Depression mit Schlaflosigkeit. Sie ist vollkommen
orientiert, hat keinerlei Wahnideen, ist aber stark verstimmt und
weinerlich. Plötzlich setzen wiederholt ängstliche Erregungszustände
ein mit motorischer Unruhe und starker Suizidneigung. In der Ruhe
bedauert sie ihre Selbstmordversuche. Schließlich gelingt ihr ein sol¬
cher in einem erneuten Anfall von ängstlicher Erregung. Hier ver¬
bindet sich mit der endogenen Depression das kardial vermittelte
anfallweise Auftreten von ängstlichen Erregungen mit suizidaler
Tendenz, es setzt sich die eine Störung auf die andere auf. Dabei
ist zu beachten, daß die suizidalen Triebe eher impulsiven Handlun¬
gen ähnlich sehen, als daß sie direkt der Grundstimmung entwachsen.
Ferner findet kein Übergreifen von diesen ängstlichen Erregungs¬
phasen auf die Gesamtgestaltung der allgemeinen depressiven Stim¬
mungslage statt. Die Komplikation der endogenen Depression mit
einem Herzleiden schafft keine neue Einheit, keine ängstliche De¬
pression, sondern ohne Übergang pfropfen sich die Angstanfälle auf
das zugrunde liegende Bild der Melancholie auf.
64
Ohne aus dieser Beobachtung allzu weittragende Schlüsse zu
ziehen, muß man in ihr doch eine Warnung erblicken, aus theoreti¬
schen Gründen die biologische Verwandtschaft und klinische Gemein¬
schaftlichkeit von Verstimmung und Angst nicht zu überschätzen.
Des weiteren ergibt sich hieraus, daß auch da, wo Herzleiden zu aus¬
gesprochenen Angstanfällen führen, deren Verbindung zu einer trau¬
rigen Verstimmung nur eine rein akzidentelle bleiben kann, eine
innere Verschmelzung also nicht eintritt. Daß es solche Verschmel¬
zungen aber doch gibt, beweisen wohl die Fälle Stranskys, auf
die oben (Seite 30) schon eingegangen wurde. Bei ihnen findet sich
ein fließender Übergang von abgesetzten, mit Herzangst einhergehen¬
den Anfällen in eine angstvolle Depression. Vielleicht ist eine Vor¬
aussetzung für diesen Vorgang, daß die kardialen Mißempfindungen
schon längere Zeit vor dem Ausbruch der Depression bestanden und
wiederholt zu Angstanfällen führten.
Auf andere‘Arten der Beeinflussung des manisch-depressiven
Irreseins durch eine Herzerkrankung weist die folgende Beobachtung
Bonhöffers hin. Eine manisch-depressive Herzkranke, die frü¬
her öfters rein manische Attacken hatte, erkrankt beim Eintritt
schwerer Stauungserscheinungen neben den nur noch andeutungs¬
weise vorhandenen Symptomen der Ideenflucht, der Ablenkbarkeit,
des gesteigerten Interesses und der gehobenen Stimmung mit leichter
Benommenheit und zahlreichen Akoasmen, so daß ein Bild entstand,
das etwa zwischen Amentia und Halluzinose einzureihen war. Hier
zeigt sich erstens ein heteronomes Zustandsbild, ein exogener Re¬
aktionstyp im Gefolge der Dekompensationserscheinungen von seiten
des Herzens, zweitens aber auch, obgleich nur angedeutet und teil¬
weise verdeckt, eine zugrundeliegende manische Phase, die ihrerseits
wohl eben von dieser Kompensationsstörung ausgelöst worden ist.
Auf eine eigenartige Weise sind hier die weiteren beiden Möglich¬
keiten verknüpft, die für die Einwirkung von Störungen der HeTZ-
funktion auf das manisch-depressive Irresein vorhanden sind. Es
können nämlich erneute akute Phasen dieser Erkrankung durch eine
solche Störung ausgelöst werden. Dabei ist es von Interesse, daß
in dem soeben erwähnten Falle eine manische Attacke auftritt; diese
Tatsache ist zugleich geeignet, ein Streiflicht fallen zu lassen auf
die Frage der Krankheitseinheit des manisch-depressiven Irreseins.
Bekanntlich hat Kleist dasselbe in der Gruppe der autochthonen
Degenerationspsychosen aufgehen lassen, von dem Grundgedanken
ausgehend, daß hier verschiedene Krankheiten von ähnlicher Ver¬
laufsart vorliegen. Man muß gestehen, daß das Auftreten einer mani-
65
sehen Phase bei Herzdekompensation recht geeignet ist, Zweifel
daran zu erwecken, daß hier eine nosologische Einheit mit einer voll¬
kommen gleichartigen Konstitutionsanomalie vorliegt, bei der auch
die Auslösung einer Melancholie möglich wäre. Vielmehr scheint
dies, in Übereinstimmung mit Kleist, dafür zu sprechen, daß es
ebensowohl rein manische als rein depressive oder rein paranoi¬
sche Konstitutionen gibt. Kehren wir von dieser Abschweifung zu
unserem Thema zurück, so ist hier eine Auslösung einer manischen
Attacke durch eine Herzerkrankung zu erblicken, ähnlich wie bei dem
weiter oben geschilderten Fall Carl F. die Auslösung einer depres¬
siven Phase bei entsprechender konstitutioneller Grundlage.
Fernerhin vermögen Störungen der Herzfunktion bei Manisch-
Depressiven alle jenen Symptomenkomplexe hervorzurufen, die wir
von dem gewöhnlichen kardiogenen Irresein kennen, also exogene
Reaktionstypen im Sinne Bonhöffers, die dann in gewöhnlicher
Weise ablaufen, sei es, daß sie in eine mehr oder minder akute, viel¬
leicht sogar zugleich ausgelöste psychotische Periode oder in ein
freies Intervall fallen. Bei dieser Sachlage verdient folgende Er¬
wägung einige Beachtung. Wenn tatsächlich, wie manche meinen,
bei exogener Schädigung des Gehirns zuerst die Anlagetypen und
erst später die spezifischen exogenen Reaktionsformen auftreten wür¬
den, so müßte es möglich sein, wo notorisch Manisch-Depressive an
doch einer sicherlich allmählich anwachsenden und wirksam werden¬
den Dekompensation einer Herzerkrankung leiden, zwei aufeinander¬
folgende Phasen zu beobachten, zuerst ein homonomes, später ein
heteronoraes Syndrom im Sinne Kleists. Der obige Fall Bon¬
höffers beweist aber, daß dem nicht so ist; auch sonstige dahin¬
gehende Berichte liegen darüber nicht vor. Die vermeintliche Regel
muß also wohl viele Ausnahmen gestatten. Aber auch die Frage der
sog. symptomatisch-labilen Konstitution Kleists bedarf an diesem
Material einer erneuten Prüfung. Die vorgelegten Fälle beweisen
doch, daß sich bei manchen Individuen neben dieser noch eine
autochthon-labile Konstitution findet, so daß also eine Mischung bei¬
der Konstitutionsformen anzunehmen wäre. Es will mir scheinen,
als sei die symptomatisch-labile Konstitution nichts so Einheitliches;
es macht einen Unterschied aus, ob eine individuelle Disposition ein
wiederholtes Ausbrechen symptomatischer Psychosen bei verschiede¬
nen Gelegenheiten in Erscheinung treten läßt, ob gar eine solche Dis¬
position sich familiär bei mehreren Geschwistern vorfindet, oder ob
lediglich auf einen bestimmten toxischen oder sonstigen Anlaß das
Gehirn mit einer symptomatischen Psychose reagiert. Nur die beiden
L e y ■ e r, Henkrankbeiten und Ptychoaen. (AbhancU. H. * 5 .) 5
G6
ersten Formen müssen als eine besonders konstitutionelle Abart be¬
trachtet werden; der letztere Fall, der gewöhnliche, ist wohl kaum
ebenso zu bewerten. Darum muß u. E. das Auftreten einer sympto¬
matischen Geistesstörung infolge Herzerkrankung bei einer autoch-
thon-labilen Persönlichkeit noch nicht bedeuten die Mischung zweier
Konstitutionen.
Der autöchthon-labilen Konstitution stellt Kleist die Anlage
zu reaktiven (psychogenen bezw. hysterischen) Psychosen gegen¬
über. Es ist von großem Interesse, nun weiter den Einfluß von Herz¬
erkrankungen auch bei Störungen aus diesem Konstitutionskreis zu
erforschen. Von vornherein sollte man vermuten, daß bei diesen
reaktiv-labilen Individuen die Empfindungen infolge eines Herzleidens
einen besonders fruchtbaren Boden abgeben zu seelischer Weiter¬
verarbeitung; man sollte annehmen, daß sich bei dieser Konstitutions¬
anomalie jedesmal oder wenigstens sehr häufig eine Herzneurose ent¬
wickelte. Dem ist nicht so. Wir hatten bereits im 2. Abschnitt (S. 16)
hervorgehoben, daß Herzneurotiker selten eine organische Herzerkran¬
kung aufweisen. Aber auch Hysteriker, selbst wenn sie herzkrank
sind, werden deswegen noch keine Herzneurotiker. Hier entscheiden
vor allem die negativen Fälle. Ein solcher sei hier kurz berichtet.
11. Fall. Heinrich R., 25 Jahre alt, in Beobachtung der Gießener
Klinik vom 28. 11. bis 1. 12. 1923.
Kommt mit einem Einweisungsschein des Wohlfahrtsamtes, räsonniert so¬
fort vom „Dank des Vaterlandes 41 , er sei Ruhrflüchtling und beziehe 100
Proz. Rente.
Die Vorgeschichte ist von ihm selbst gegeben, widerspricht in verschie¬
denen Punkten späteren Erhebungen. Gesunde Familie; ein Bruder hat infolge
Kopfschußverletzung Tobsuchtsanfälle. Normale Entwicklung, war etwa
4 Wochen im Felde (spricht selbst von einem Jahr), wurde verschüttet. Über
die Folgezeit keine genauen Angaben, will lange in nervenärztlicher Behand¬
lung gewesen sein und Morphiumspritzen (!) bekommen haben. Wegen Meu¬
terei und tätlichem Angriff zu 6% Jahren Festung verurteilt, später auf Grund
des § 51 freigesprochen. Leidet seit 1919 an Anfällen mit Bewußtlosigkeit,
Krämpfen und Einnässen, dagegen ohne Zungenbiß. War 3 Jahre in einer
Anstalt, wurde dann von den Eltern herausgenommen. Litt öfters an Schwin¬
del und Kopfschmerzen. Wurde wiederholt wegen Tätlichkeiten in seiner
Rentenangelegenheit interniert, zeigte sich dann zwar mitunter aufsässig und
frech, arbeitete aber und hatte keine Anfälle, entwich mehrmals. Berichtet
von einer Schlägerei mit den Franzosen, die sich an seiner Schwester vergriffen
hätten. Will nach Verurteilung durch ein französisches Kriegsgericht aus dem
Gefängnis ausgebrochen sein. War den Sommer bei einem Bauern, geriet in
Streitigkeiten. Seitdem in verschiedenen Krankenhäusern; zuletzt infolge Auf¬
regung wieder mehrere Anfälle.
67
Körperlich: Mitralinsuffizienz. Sonstige innere Organe o. B. Reflexe
regelrecht. Beim Rombergschen Versuch deutlich gemachtes Taumeln nach
hinten. Keine Ataxie.
Psychisch: Gut orientiert, besonnen. Anspruchsvoll und anmaßend,
droht, alles kurz und klein zu schlagen. Gekränkte Pose. Wird ausfallend,
wenn man Zweifel an seinen renommistischen Erzählungen merken läßt. Keine
Angst, keine Beklemmung, keine Mißempfindungen von Seiten des Herzens.
Pat. wird nach kurzer Beobachtung, während deren sich nichts weiteres
ereignete, entlassen.
Es handelt sich hier um eine schwere Entartungshysterie mit An¬
fällen, mit Pseudologie und Erregungszuständen, bei der zugleich ein
Herzfehler bestand. Ein Einfluß dieser organischen Erkr ankung auf
das psychische Krankheitsbild ist nicht zu erkennen; von einer Herz¬
neurose kann keine Rede sein. Dieses Verhalten ist das gewöhnliche,
auch wenn die Entstehung des Herzleidens zeitlich später liegt als
die vollentwickelte neurotische Störung. So berichtet Friedmann
von einem schweren Neurastheniker, der aus reaktivem Anlaß mehr¬
fach hypochondrische Attacken und Anfälle von Zwangsdenken hatte,
daß er später einen schweren Herzfehler ruhig ertrug und sich bei
immer stärker werdenden Beschwerden stoisch verhielt. Diese nega¬
tiven Fälle aus dem Kreis der reaktiv-labilen Konstitution beweisen,
daß körperliche Sensationen gewöhnlich nicht die Grundlage für
psychogene Weiterverarbeitung bilden.
Im Gegensatz hierzu steht folgender Fall Jacobs. Eine 23jähr.
Patientin, die seit 7 Jahren an einem Herzfehler mit zeitweise auf¬
tretendem Herzklopfen leidet, erkrankt im Anschluß an die Abtrei¬
bung einer unehelichen Frucht mit einer reaktiven Depression. Die
Orientierung war gut, die Stimmung weinerlich, die Angaben ge¬
schahen sehr zurückhaltend; wiederholt wurden Selbstmordgedanken
geäußert. In unregelmäßigen Zeitabständen zeigten sich Zustände
plötzlicher ängstlicher Erregung mit motorischer Unruhe von einer
Minute Dauer. Innerhalb der nächsten drei Wochen steigerte sich
die Herzschwäche, es trat allmählich eine gewisse Apathie ein; dann
erfolgte der Tod. Man wird nicht umhin können, anzuerkennen, daß
sich auf die gewöhnliche reaktive Depression hier kurzdauernde ängst¬
liche Erregungszustände aufgepfropft haben. Das Bild, das entsteht, ist
aber ein deutlich kombiniertes und weit entfernt von der Herzneurose.
Doch zeigt diese Beobachtung, daß die reaktiv-labile Konstitutions¬
grundlage die intrapsychische Aufnahme und Verwertung paroxysti-
scher Anfälle von Herzangst gestattet. Für die Beantwortung der
weiteren Frage, ob eine solche Konstitution auch den Boden abgeben
kann für ein echt kardiogenes Irresein, steht bedauerlicher Weise
5 *
68
kein Material zur Verfügung. In Analogie mit der autochthon-labilen
Konstitution soll diese Möglichkeit nicht bestritten werden.
Als nächster Konstitutionskreis unter den Psychosen wäre heran¬
zuziehen das Verhalten der Epileptiker gegenüber Herzfehlern. Uns
selbst ist in dieser Hinsicht nur ein negativer Fall bekannt, dessen
Wiedergabe hier natürlich nicht annähernd von so großem Interesse
ist als bei der reaktiv-labilen Konstitution. Deswegen sei-auch dar¬
auf verzichtet. Die Durchsicht der Literatur lehrt, daß über psychi¬
sche Störungen infolge Herzerkrankung bei Epileptikern nichts be¬
kannt ist. Es wäre auch begrüßenswert, wenn einmal einer der
Ärzte, die an großen Epileptikeranstalten wirken, darüber berichten
würde, ob ein Einfluß von Herzerkrankungen auf den Ausbruch, den
Verlauf und den Ausgang der Epilepsie besteht. Vorläufig ist ein
solcher noch nicht besonders bemerkt worden, ja es scheint, als ob
dieser Konstitutionskreis überhaupt keine geeignete Grundlage ist
für die Beeinflussung des seelischen Lebens durch Herzleiden. Doch
ist diese Ansicht nur unter Vorbehalt aufzunehmen, bis eine speziell
darauf gerichtete Untersuchung ihre Gültigkeit erweist. Nach den
Forschungen H. Fischers steht der Eunuchoidismus der epilepti¬
schen Konstitutionsanomalie sehr nahe; deswegen sei hier anhangs¬
weise erwähnt, daß bei einem Eunuchoiden mit Herzfehler, der seit
längerer Zeit in der Gießener Klinik in Behandlung steht, und über
den H. Fischer und H. Hofmann in kurzer Zeit ausführlich be¬
richten werden, gleichfalls keine Beeinflussung des psychischen Ge¬
schehens durch diese Verwicklung nachzuweisen ist.
Schließlich ist noch der Einfluß von Herzleiden auf die große
Gruppe der Defektpsychosen, der Dementia praecox oder der Schizo¬
phrenie zu untersuchen. Hierbei ist zuerst an die Ausgestaltung kar¬
dialer Mißempfindungen zu denken. Namentlich in Zuständen schwe¬
rer affektiver Verblödung, vollständiger Verworrenheit, oder lang¬
dauernder Spannungszustände ist von vornherein die Aussicht hier¬
auf sehr gering. Es besteht dabei eine gewisse Analogie zu den orga¬
nischen Zerstörungsprozessen des Gehirns, wo gleichfalls in den fort¬
geschritteneren Stadien der Einfluß der von Herzleiden ausgehenden
Sensationen erlischt. Freilich ist es auch im Beginn schizophrener
Erkrankungen sehr schwer, wenn zugleich ein Herzfehler besteht,
etwas über die dadurch begründete psychopathologische Variante aus¬
zusagen. Dafür wird als Beweis folgender Fall Jacobs angeführt.
Eine 18jähr. Pat., die seit 10 Jahren an einem Herzfehler leidet, ver¬
ändert sich im Wesen, wird reizbar und ängstlich, spricht verwirrt
und begeht unsinnige Handlungen. Es bestehen Zeichen einer Mitral-
G9
Stenose und einer Lungenstauung. Die Orientierung ist gut, die
Stimmung im allgemeinen ablehnend und mißmutig. Die Pat. ist
zuweilen psychomotorisch stark erregt und drängt nach Hause, hat
dann anscheinend ängstliche Halluzinationen. Mitunter bringt sie
einige erotische Beziehungsideen vor. Nach etwa 7 Wochen stirbt sie
plötzlich in einem Anfall heftigster Atemnot. Auch Jacob hat in
diesem Fall an die Möglichkeit einer Dementia praecox gedacht, glaubte
aber, sie ablehnen zu müssen wegen des Fehlens von ethischen und
intellektuellen Defekten und von Negativismus, Katalepsie oder Ste¬
reotypie. Auch ohne diese Kennzeichen wird man heute eine begin¬
nende Schizophrenie diagnostizieren. Es fragt sich nun, ob die anfalls¬
weise auftretenden ängstlichen Erregungszustände mit dem Herzfehler
Zusammenhängen. Ohne Zweifel werden nicht selten auch bei intaktem
Herzen derartige Phasen beobachtet, so daß die Beurteilung schwierig
wird. Es ist aber doch anzunehmen, daß die periodisch infolge^ler
Herzerkrankung sich steigernde Dyspnoe zum mindesten provozie¬
rend auf das Auftreten dieser Erregungszustände einwirkte. Über¬
haupt muß man wohl im Verlauf der Dementia praecox öfter an eine
Provokation irgendwelcher akuter Erscheinungen denken, als daß
man berechtigt wäre, eine intrapsychische Verarbeitung von Körper¬
sensationen zu vermuten. Die Eigentümlichkeit des schizophrenen
Innenlebens nimmt alles Äußere nur zum Anlaß neuer Manifestationen
seiner selbst; von außen Einwirkendes kann nicht seiner gewöhn¬
lichen • assoziativen Verknüpftheit gemäß das psychische Leben in
bestimmter Richtung umgestalten. Ebenso verhält es sich mit dem
Herzleiden und den ihm entspringenden Mißempfindungen. Es braucht
sich beim Schizophrenen durchaus nicht an die ängstliche Empfin¬
dungsqualität der Beklemmung und der Atemnot die Idee der
Bedrohung anzuschließen, sondern die intrapsychische Ataxie
(Stransky) erlaubt Verbindungen, die uns normalpsychologisch
nicht verständlich sind. Aus diesem Grunde ist es u. E. richtiger, von
einer Provokation neuer schizophrener psychischer Inhalte zu spre¬
chen als von deren Verursachung oder gar Determinierung. Des wei¬
teren geht hieraus hervor, wie verkehrt es wäre, zu glauben, das
jahrelange Bestehen von Herzbeschwerden könne eine Prädisposition
für die Dementia praecox schaffen. Abgesehen von diesem dedukti¬
ven Verfahren läßt sich dieser Satz auch induktiv bestätigen; denn
unter der großen Zahl der Defektpsychosen sieht man nur höchst
selten Herzerkrankungen. Die Bedeutung der Herzleiden, soweit es
sich gründet auf die dabei entstehenden Sensationen, ist also für die
Dementia praecox eine sehr geringe, eine noch weniger als bei den
organischen Demenzpsychosen in Betracht zu ziehende.
70
Andererseits ist bei der Dementia praecox noch jene Form der
Einwirkung auf das psychische Leben vom Herzen aus zu beleuchten,
die bei dessen Funktionsstörung als kardiogenes Irresein in Form
exogener Reaktionstypen auftritt. Es entspräche diese dann der
Kombination des Grundleidens mit dem darüber liegenden Bild der
von der Herzstörung abzuleitenden Störung, ähnlich wie dies bei der
Arteriosclerosis cerebri usf. gefunden wird. In Wirklichkeit scheinen
diese Vorkommnisse extrem selten zu sein.
In der. Literatur sind keine sicheren Beobachtungen niedergelegt,
die eine Überlagerung einer Dementia praecox z. B. durch ein kardio¬
genes Delir zeigen. Es ist darum hier ein Fall heranzuziehen, der in
der Gießener Klinik, freilich vor langer Zeit und von anderer Seite,
aber recht eingehend und so plastisch aufgezeichnet worden ist, daß
man sich wohl heute noch ein Bild von dem psychopathologischen
Geschehen machen kann.
F a 11 12. M a r i e F., 20 J. alt, in Behandlung vom 24. 2. bis 4. 3. 1898.
Anamnese: Keine hereditäre Belastung. Normale Jugendentwicklung. In
der Kindheit Masern, Röteln und zweimal Lungenentzündung, erholte sich
stets rasch. In der Schule mäßig gelernt. Mit 15 Jahren Menarche. Stets
munter, tätig und gesund. Herbst 1897 starke Erkältung. Menopause von
6 Wochen. War gleichmäßig heiter und unauffällig. Seit Anfang Februar
1898 ruhiger, arbeitete langsamer und mit Widerwillen, klagte über Müdigkeit,
saß oft untätig herum und aß schlecht. Nach einiger Zeit traten Beziehungs¬
ideen auf. Man rede über sie, sie wäre närrisch, man lausche ihre Gpdanken
ab, man wolle sie holen. Dabei beständig große Furcht, öfters auch nachts
ängstliche Erregungszustände. Seit drei Tagen weinerlich, glaubt, man rede
schlecht über sie, starrt manchmal in eine Ecke des Zimmers, springt zur Mut¬
ter und schreit vbr Angst: „Sie holen mich, sie holen mich!“ In der folgenden
Nacht schläft sie vor Angst nicht. Am nächsten Morgen geht sie ruhelos
durchs Haus, macht eigentümliche Handbewegungen, Verbeugungen mit dem
Kopfe. Die ängstliche Stimmung nimmt rasch zu. Die Pat. ißt und trinkt
nichts mehr, äußert Vergiftungsideen, betet viel, gibt Antwort, anscheinend auf
Stimmen. Schließlich beginnt sie sich auch vor den Angehörigen zu fürchten,
sieht Gestalten vor den Fenstern, die sie holen wollen, kennt sich aber in
ihrer Umgebung aus.
24. 2. Die Pat. kramt ruhelos, weinerlich vor sich hinstöhnend, in ihrem
Bett, rutscht hin und her, faltet und ringt die Hände, gibt keine Antwort auf
Fragen, sondern wehrt angstvoll ab. Nach einer Weile läuft sie unschlüssig
im Krankensaal hin und her, umarmt schließlich eine andere Patientin, blickt
sie starr an und klagt: „Mein Heinrich, mein Heinrich!“ Sie läßt sich ohne
Widerstreben in ihr Bett zurückbringen, steht aber bald wieder auf, geht ans
Fenster und klagt: „Ich muß sterben, ach, mein Heinrich, armer Konrad, warum
kommst du nicht? Ach, Anna, wo ist mein Engelchen? Ich bin nicht wert,
daß mich die Sonne bescheint.“ Ergeht sich in klagendem Murmeln, anschei¬
nend betenden Inhalts.
71
Es besteht leichte Pupillendifferenz, rechts weiter als links, ferner ein
Herpes an Mund, Nase und Wangen.
In der Nacht schlaflos, wimmert leise vor sich hin, nimmt keine Nahrung.
25. 2. Den ganzen Tag über ängstlich erregt, wühlt und kramt umher,
bleibt nicht einen Augenblick ruhig liegen. Dabei große Ratlosigkeit und Un¬
schlüssigkeit Redeprobe: Ach, ach, meinen Mann und meine Kinder sehe ich
nicht mehr! Gott behüte mich! Ich verzage. Ach, Heinrich! Heute Morgen
war er hier. Soll ich weinen, soll ich lachen oder soll ich zum Fenster
hinausschauen? Ach Gott, ach Gott, schieß mich nicht tot!“ Sie ist dabei
nicht zu fixieren, klagt immer in eintöniger Weise fort, scheint aber die Situa¬
tion zu erkennen, da sie den Arzt als Doktor anspricht. Zuweilen eigentüm¬
liche Redewendungen: „Meine Zunge sieht mich nicht, die Krone liegt nicht
mehr auf ihr, soll ich sinken, soll ich lahmen?“
Pat. nimmt auch heute keine Nahrung zu sich. Läßt sich körperlich nicht
untersuchen. Nachts wird sie etwas ruhiger, starrt zuweilen regungslos vor
sich hin, schläft gegen 3 Uhr ein.
26. 2. Beständig in Bewegung, zögernd und unschlüssig, greift nach
allem, tastet umher, knüpft Betteile zusammen. Das Ganze geschieht unter
monotonem ängstlichem Wimmern und Stöhnen ohne Motiv und Zweck. Son-
denftitterung. In der Nacht schläft sie.
27. 2. Dieselbe ratlose triebhafte Unruhe wie an den Vortagen. Gibt
keine Auskunft, schaut halb weinend, halb lachend ihr Gegenüber an, sucht
sich oft festzuklammern, widerstrebt jedem Versuch der körperlichen Unter¬
suchung. Temperatur nie über 37° C. In der Nacht sehr unruhig, zerstört
Matratzenteile, zieht die Leibwäsche aus, steht dann unschlüssig nackt in¬
mitten eines Haufens von Wäsche und Bettstücken.
28. 2. Bewegungsunruhe unverändert. Versuch der Sondenftitterung muß
wegen heftigsten Widerstrebens und lauten ängstlichen Schreiens abgebrochen
werden. Pat. wird immer unruhiger, zerstört das Bettzeug.
Am Spätnachmittag komatöser Zustand. Pat. liegt regungslos und blaß
mit kleinem aussetzendem Puls da, atmet oberflächlich, reagiert auf nichts. Auf
Kampfer Besserung. Von 2 Uhr nachts an wieder unruhig in gewöhnlicher
Weise.
1. 3. Pat. wühlt sinnlos in den Betten, starrt bald lachend, bald ängstlich
vor sich hin, zerreißt, trinkt etwas Wasser, ißt aber nichts, spricht nichts mehr,
schläft gegen Mitternacht ein.
2. 3. Nunmehr besteht ein ausgesprochener Mutismus neben einer mäßigen
Hyperkinese. Dabei immer noch ratlos und unschlüssig, befolgt keine Auf¬
forderungen, läßt 8ich aber untersuchen.
Blasses Mädchen in herabgesetztem Ernährungszustand. Atmung ruhig.
Temperatur 37,1 0 C. Puls sehr schwach, 98 i. d. Min. Am Nervensystem
nichts Besonderes nachzuweisen.
Nach der Untersuchung wieder in spielender Unruhe, schiebt die Gegen¬
stände hin und her, dreht am Lichtschalter herum, betastet die Reagenzgläser
und läuft ratlos umher.
3. 3. Hyperkinese unverändert. Jammert manchmal laut vor Angst:
„Ach Gott, ach Gott, die schießen mich! Vater! Mutter! gebt mir ein Messer!
Laßt mir das Wasser!“ Dann lächelt sie die Frager wieder eigentümlich an
und flüstert unverständlich. Körperlich sehr mitgenommen. Puls sehr schwach.
In der Nacht Cheyne-Stokessches Atmen. Temperatur subnormal.
72
4. 3. Völlige Prostration. Zuweilen leichter Strabismus. Beide Patellar-
reflexe sehr schwach. Pupillen r = l, Lichtreaktion i-{-. Die Pat. liegt völlig
teilnahmslos im Bett, wird nachmittags in die medizinische Klinik verlegt, wo
sie am 5. 3. nachmittags verstirbt.
Nach dem Obduktionsprotokoll fand sich ein broncho-pneunomischer Herd
im Unterlappen der rechten Lunge. Die Dura war prall gespannt, die Gehirn¬
furchen klafften stark, es fand sich reichlich Flüssigkeit in den weichen
Häuten. Die Gehirnsubstanz bot normalen Befund. Am Schließungsrand der
Klappen des linken Herzens flache, sulzige, gelblich-rote, endokarditische
Wucherungen, die Klappen selbst geschwollen und ihre Gefäße stark gefüllt.
Im übrigen fand sich nichts Besonderes.
Es handelt sich also hier um eine bei einer frischen Endokarditis
sich entwickelnde Psychose, die zuerst mit ihren Beziehungsideen,
ihren Halluzinationen und ihren Pseudospontanbewegungen den Ein¬
druck einer beginnenden Dementia praecox hervorruft. Im weiteren
Verlauf zeigt sich unter Zunahme der ängstlichen Erregung eine
schwere Amentia mit Bewegungsunruhe, mit Konzentrationsunfähigkeit
und mit Ratlosigkeit. Dabei bestehen negativistische Nahrungs¬
verweigerung und später auch Mutismus. Den tödlichen Ausgang
leiten komatöse Zustände mit Cheyne-Stokesschem Atmen und ver¬
waschene neurologische Symptome ein. Das Zusammentreffen der
Endokarditis mit dem Beginn des schizophrenen Schubes legt den
Gedanken nahe, daß es sich um eine Provokationswirkung handele.
Gegen Ende des Verlaufes bewirkt aber die körperliche Erkrankung
den Übergang in ein schweres Amentiabild von exogenem Charakter,
so daß wir hier das Beispiel einer Summationswirkung der kardioge¬
nen Noxe vor uns haben, indem diese zuerst provozierend auf den bereit¬
liegenden Mechanismus des schizophrenen Prozesses und dann patho¬
genetisch auslösend auf den exogenen Reaktionstyp der Amentia wirkt.
Freilich bleibt es ungewiß, ob diese Deutung zwingend ist. Aber
selbst dieses eine Beispiel würde doch nur wieder beweisen, daß Herz¬
störungen für die Dementia praecox nur eine sehr geringfügige Be¬
deutung besitzen und zwar sowohl in Bezug auf die intrapsychische
Verwertung hieraus entspringender Sensationen als auch auf die
direkte Einwirkung der hierbei entstehenden Noxe auf das Gehirn.
Zum mindesten ist festzustellen, daß die Ansprechbarkeit des Gehirns
auf diese Noxe durch das gleichzeitige Bestehen einer Dementia
praecox eher herabgesetzt als erhöht scheint.
Anhangsweise soll hier ein Fall Jacobs Erwähnung finden,
dessen Einordnung unsicher ist. Eine 38jähr. Pat., seit Kindesbeinen
herzleidend, die bereits vor 20 Jahren eine Geisteskrankheit mit
„Gedrücktheit und Starre“ durchgemacht hat und seitdem erreglich,
eigensinnig und absonderlich blieb, erkrankt unter Zeichen der De-
73
kompensation des Herzens mit starker Erregung, Desorientiertheit,
Halluzinationen und Illusionen. Dabei wechseln plötzlich einsetzende
ängstliche Erregungszustände mit freien Intervallen, in denen die
Pat. zugänglich ist. Interkurrent erkrankt die Pat. an kruppöser
Pneumonie; dabei ist sie sehr abgespannt und weniger erregt. Dann
treten wieder Angstzustände auf, zuweilen auch impulsive Hand¬
lungen. Die Orientierung bleibt schlecht, die Sprechweise ist ver¬
schroben und klebend, zuweilen stereotyper Rededrang. Massen¬
haft Halluzinationen. Nach 4 Wochen ist die Pat. etwas freier,
spricht aber noch geziert. Dann zeigen sich flüchtige Paresen. In
den nächsten Wochen ist die Pat. noch desorientiert, spricht gewählt
und absonderlich, zuweilen verworren und beziehungslos, hat viele
Halluzinationen. Nachdem sich unter Digitalis dann die Herzkraft
bessert, hebt sich das Befinden; die Pat. ist klar und besonnen, ohne
Halluzinationen mit Krankheitseinsicht und Erinnerung, dabei leicht
euphorische Stimmung. Doch nach weiteren 4 Wochen wird die Herz¬
kraft geringer; es treten wieder Halluzinationen und Erregungsphasen
auf, die schließlich in eine deliröse Verwirrtheit übergehen. Nach im
ganzen 5 Monaten stirbt die Patientin. An diesem gewiß interessan¬
ten Fall spricht manches für das Bestehen einer alten Dementia prae¬
cox, auf die zuerst ein Amentiabild, später ein deliranter Zustand in¬
folge des Versagens der Herzfunktion auf lagern. Freilich ist dies
nur eine Wahrscheinlichkeitsannahme, die noch dazu im Gegensatz
steht zu dem Beobachter selbst, der eine Dementia praecox ablehnte.
Die Entscheidung muß dem Leser überlassen bleiben.
Ergebnis und Ausblick.
Wenn man die Einordnung des in vorstehenden Blättern Nieder¬
gelegten in allgemeinere Zusammenhänge vollziehen will, so bedarf
es zuerst einer rückblickenden Zusammenfassung der Erfahrungen,
die sich ergeben haben aus der Beobachtung der Wechselwirkung
zwischen Herzkrankheit und Psychosen. Hierbei leistet allerdings
nicht eine kurze Rekapitulation allein Genüge; die Tatsachen, die
als erwiesen gelten können oder wahrscheinlich gemacht worden
sind, sind unter andern Gesichtspunkten neu zu gruppieren, als es
die induktive Methode der vorausgegangenen Untersuchungen erfor¬
derte. Es wird sich dann um so leichter der Anschluß vollziehen
lassen an die allgemeineren Probleme, die wir bereits in der Ein¬
leitung angedeutet haben. Schließlich verdient ja die Beschäftigung
mit einem so kleinen und so eng umschriebenen Forschungsgebiet,
wie es unser Thema umgreift, nur dann die Beachtung eines größeren
Kreises von Fachgenossen, wenn es gelingt, das Einzelne ins Typische
zu verallgemeinern und die großen Probleme der Psychiatrie in ihrer
Wechselbeziehung zu dem schmalen Ausschnitt, der hier möglichst
wirklichkeitsgetreu geschildert werden sollte, zu untersuchen, zu
messen und zu prüfen.
Zweierlei Art ist die Wirkungsweise auf das Seelenleben, die
ausgeht von der Störung der Funktion des Herzens. Die eine besteht
darin, daß sich im Verlauf der Herzkrankheit eine unbekannte Noxe
bildet, die ihrerseits verschiedene psychopathologische Syndrome
hervorruft. Als solche wurden festgestellt manische und depressive
Verstimmung, Stupor, Delirium, Hyperkinese, Dämmerzustand, Hallu-
zinose und Verwirrtheit, also überwiegend heteronome Symptomen-
komplexe, sämtlich exogene Reaktionstypen im Sinne Bonhöffers
bis auf die fraglichen depressiven Phasen. Die Dauer der Psychosen
war sehr wechselnd, ihre Tendenz deutlich restitutiv. Häufig fanden
sich die Einzelerkrankungen aus mehreren Zustandsbildern zusam¬
mengesetzt. Steigerungen bis zum Delirium acutum oder zum Menin¬
gismus kamen nicht zur Beobachtung. Ob hyperästhetisch-emotio¬
nelle Schwächezustände bei der Rückbildung Vorkommen, ist nicht
sichergestellt. Ein Korsakowscher amnestischer Symptomen-
75
komplex ergab sich nur bei dem gleichzeitigen Bestehen einer Gehim-
arteriosklerose, ein Umstand, dessen Würdigung bereits angebahnt
wurde. Prüft man die Reihe der Zustandsbilder, so zeigt sich, daß,
wenn homonome und heteronome Syndrome zusammen Vorkommen,
die homonomen zumeist die Einleitung oder den Ausgang der Psy¬
chose in ihrem Gesamtverlauf bilden, während die heteronomen die
dazwischenliegende Zeit ausfüllen. Es liegt nahe, die einleitenden
homonomen psychotischen Zustandsbilder auf ein Hervortreten vor¬
gebildeter Konstitutionstypen zurückzuführen, die Berechtigung dazu
erscheint aber noch zweifelhaft. Specht hat ähnliche Gedanken¬
gänge formuliert und darauf hingewiesen, daß die heteronomen Bilder
Steigerungen des Krankheitsvorganges, Zerebrationsstufen im Sinne
Schüles, sein könnten. Hiergegen hat Bonhöffer Bedenken
geäußert, denen wir uns anschließen möchten, und zwar ausgehend
von der Tatsache, daß es im Verlauf des manisch-depressiven Irre¬
seins nie zur Ausbildung echter heteronomer Zustandsbilder komme.
Des weiteren wird, wie wir bereits erwähnten, das kardiogene Irre¬
sein nur in der Minderzahl der Fälle durch homonome Bilder einge¬
leitet, zuweilen ist es sogar umgekehrt; verwiesen sei hier auf den
Fall Bonhöffers (S. 25), bei dem eine Halluzinose der manischen
Phase voraufging.
Weiter bedarf der näheren Untersuchung das Schwanken des
Bewußtseins in den verschiedenen Zustandsbildern und im Gesamt¬
verlauf. An und für sich unterscheiden sich ja Delirium und Dämmer¬
zustand einerseits, Halluzinose und Amentia andererseits schon durch
den Grad der Bewußtseinshelle. Über die Bewußtseinslage des Stu¬
pors und der hyperkinetischen Erregung ist nur weniges bekannt.
In den von uns geschilderten Fällen ergibt sich vor allem auch ein
Schwanken des Bewußtseins mit der Tageszeit. Im Hinblick auf den
physiologischen Wechsel von Wachen und Schlaf liegt es nahe, an
Einflüsse des Regulationszentrums dieser Funktionen auf das abartige
Seelenleben der kardiogen Psychotischen zu denken» An anderer
Stelle bin ich auf diesen Mechanismus vom himphysiologischen
Standpunkt aus näher eingegangen; es lassen sich spezielle Apparate
im Gehirn für den Schlaf wahrscheinlich machen, die ihrerseits in
engen Beziehungen zur Spontaneität und zum Sensorium commune
stehen. Vermutlich handelt es sich beim normalen Schlaf um Schal¬
tungsvorgänge im Gehirn, so daß sie ohne weiteres ausgleichbar sind.
Eben diese Schaltungsvorgänge wirken sich auch im psychopatholo-
gischen Geschehen aus, nur daß die Wirkung der Umschaltung der
in krankhafter Erregung oder Lähmung oder Dissoziation befindlichen
76
Himapparate eine gänzlich andere wird. Der tagsüber besonnene
Kranke gerät in eine hyperkinetische Erregung, oder der amnestische
Symptomenkomplex ergänzt sich durch Auftreten von Bewußtseins¬
trübung und Sinnestäuschungen zum regelrechten Delir.
Durch diese Überlegungen zeigt sich zugleich, daß es fehlerhaft
wäre, ohne weiteres anzunehmen, daß die Trübung des Bewußtseins
eine Steigerung des Krankheitsvorganges bedeutete; vielmehr ist dar¬
aus nur auf eine Umschaltung oder Umgruppierung seelischer Appa¬
rate zu schließen, die begreiflicherweise auch ihrerseits krankhaft be¬
dingt sein kann. Im ganzen läßt sich aber sagen, daß vermutlich die
Ausbreitung des pathologischen Prozesses im Gehirn maßgebend sein
muß für das Auftreten von Bewußtseinstrübungen und nicht etwa eine
Anlageanomalie. Die Differenz der einzelnen heteronomen Zustands¬
bilder, die ja auch insofern einer Erklärung bedarf, als sie sich nicht
auf die Verschiedenheit der Bewußtseinslage bezieht, scheint eher mit
dem Betrolfensein bestimmter Himgebiete zusammenzuhängen, als
mit einer konstitutionellen Eigenart des Individuums. Dafür spricht
erstens der Umstand, daß verschiedene Zustandsbilder im Rahmen
einer Erkrankung auftreten, zweitens ist nur so erklärbar die Tat¬
sache, daß ein und derselbe Organismus auf dieselbe Schädlichkeit
wie das Erlahmen der Herzkraft mit zwei verschiedenen Zustands¬
bildern reagieren kann, wie oben nachgewiesen wurde. Weitere
Hypothesen aufzustellen über die Gründe, weswegen die Ausbreitung
des krankhaften Vorgangs im Gehirn im Einzelfall verschieden ist
und sich während des Krankheitsverlaufs ändert, würde zu weit
führen und ohne Nutzen sein.
Über die Natur der pathogenetisch wirksam werdenden Noxen
bei den soeben geschilderten Formen kardiogenen Irreseins läßt sich
zur Zeit nur weniges aussagen. Jacob hat sie erblicken wollen in
den chemischen Wirkungen der Beeinträchtigung des Stoffwechsels
im Nervengewebe als Folge des schlechten Ernährungszustandes der
Großhirnrinde, der sich durch mangelnde arterielle Zufuhr und durch
venöse Hyperämie ausbildet. Ohne Zweifel leidet diese These trotz
ihrer Richtigkeit an ihrer allzugroßen Allgemeinheit. Beeinträchti¬
gungen im Stoffwechsel der Nervenzellen kommen sicherlich unter
den allerverschiedensten Umständen zustande. Auf Grund unserer
Beobachtungen ist vor allem die Unabhängigkeit der fraglichen Noxe
von der Ausbildung oder vom Rückgang irgendwelcher Ödeme im
Bereich des übrigen Körpers festzustellen. Des weiteren gehört sie
hinsichtlich ihrer psychopathologischen Folgen in eine Klasse mit
den Stoffen, die auch bei Infektionskrankheiten und bei Erkrankung
77
anderer innerer Organe gebildet werden. Es ist anzunehmen, daß
diese Noxe in einer Veränderung der Blutbeschaffenheit besteht, frei¬
lich nicht der gleichen Art, wie bei den obengenannten Erkrankun¬
gen, aber doch einer ähnlichen. Dabei ist zu bemerken, daß diese
Noxe vermutlich viel häufiger vorhanden ist, als sie psychopatho-
logisch wirksam wird. Sie braucht zur Entfaltung ihrer pathogene¬
tischen Kraft eine geeignete Grundlage. Auch Jacob hebt die auf¬
fallende Tatsache hervor, daß nur in relativ wenigen Fällen die
schlechte Blutversorgung zu psychischen Alterationen führt. Als Er¬
klärung nimmt er an, daß das Gehirn in diesen Fällen eben in seiner
Funktionstüchtigkeit geschwächt sei entweder durch hereditäre Ein¬
flüsse oder durch andere schädigende Momente. Gerade an diesem
Punkte mußte die weitere Forschung einsetzen und sich richten auf
die Aufdeckung oder wenigstens genauere Festlegung der Grundlage,
auf der die Wirkungsmöglichkeit der kardiogenen Noxe erwächst.
Um diesem vagen Begriff der Grundlage näher zu kommen, wurde
zuerst der Einfluß anderer Erkrankungen auf das Zustandekommen
kardiogener Psychosen untersucht. So stellt sich heraus, daß die
Arteriosklerose des Gehirns nicht erleichternd und begünstigend auf
das Eintreten des kardiogenen Irreseins wirkt, ja daß überhaupt De¬
struktionsprozesse des Gehirns in dieser Richtung nicht von Belang
sind. Dabei ist das konstitutionelle Moment vorläufig in den Hinter¬
grund gestellt; es werden zuerst nur ganz allgemein die Neben¬
bedingungen und Komplikationen in ihrer Bedeutung geprüft, ohne
zwischen konstitutionell oder akzidentell bedingten Leiden zu schei¬
den. Auch von Erkrankungen der inneren Organe und Infektions¬
krankheiten ist das Auftreten des kardiogenen Irreseins nicht ab¬
hängig. Des weiteren zeigt sich auch kein Zusammenhang mit Intoxi¬
kationen. Diese Fragestellung wurde im 4. Kapitel aus Mangel an
Material übergangen. An dieser Stelle ist aber dieses negative Er¬
gebnis ausdrücklich hervorzuheben. Es erweist sich also, daß die
Grundlage, deren die bei Herzleidenden sich bildende Noxe benötigt,
um psychische Folgeerscheinungen hervorzurufen, jedenfalls nicht
bestehen kann in Veränderungen, die bei Erkrankungen des Gehirns
und innerer Organe, bei Infektionen und Intoxikationen entstehen.
Setzt man die Untersuchung dieser fraglichen Grundlage fort, so
führt-dies zu den Problemen der Konstitutionsforschung.
Dabei geht man am besten zunächst von einigen hierhin deuten¬
den Gesichtspunkten aus, die freilich in recht spärlicher Zahl bei der
Durchmusterung unseres Materials zur Verfügung stehen. Eine be¬
sondere Bevorzugung eines Geschlechts findet sich nicht; die Alters-
78
stufen sind sehr ungleichmäßig vertreten, im besonderen fehlen die¬
selben bis zum 30. Lebensjahr, weiter sind sehr wichtig die Beobach¬
tungen über die Beziehungen des kardiogenen Irreseins zu ganz be¬
stimmten Konstitutionskreisen, z. B. zu der autochthon-labilen und
zu der reaktiv-labilen Konstitution. Es zeigt sich, daß durch eine
Herzstörung einerseits eine akute Phase einer autochthonen Degene¬
rationspsychose ausgelöst werden kann, andererseits die gewöhn¬
lichen Bilder des kardiogenen Irreseins erzeugt werden können.
Fernerhin ergeben die Beobachtungen an Fällen mit reaktiv-labiler
Konstitution, daß hierbei keine Störungen entsprechender Art durch
Herzanomalie zustande kommen. Unbekannt ist weiter bisher das
Auftreten von kardiogenen Psychosen bei Epileptikern. Bei den
Defektpsychosen, denen nach verbreiteter Anschauung ja au«h eine
einheitliche Anlage, die sogenannte schizoide Konstitution, zugrunde
liegt, zeigte sicli das Verhalten gegenüber den Störungen der Herz¬
funktion ähnlich wie bei organischen Demenzprozessen. Dieser
Punkt' muß später noch näher erläutert werden. Vorläufig läßt sich
sagen, daß eine bestimmte Konstitutionsform, die autöchthon-labile,
nicht selten psychotisch auf Herzerkrankungen reagiert sowohl im
Sinne einer Auslösung akuter Attacken als auch im Hervortreten
eigentlich kardiogenen Irreseins. Eine nähere Beziehung ähnlicher
Art von seiten der reaktiv-labilen und epileptischen Konstitution
wurde nicht festgestellt.
Wir brechen hier ab und gehen über zu der zweiten Art der Ein¬
wirkung der Herzkrankheit auf das Seelenleben. Die Erkrankung
des Herzens kann zu Empfindungen von Beklemmung und Lufthunger
führen, die sich ihrerseits anfallsartig steigern können. In diesen
Anfällen entsteht das eigenartige Gefühl der sog. Herzangst. Diese
setzt sich wieder um in einen Angstzustand der gesamten betroffenen
Persönlichkeit. Dabei kommt es unter Umständen zu wilden Jakta¬
tionen, zu rasender Erregung, zu Todesahnungen, zu Verkennung der
Umgebung und zu leichter Trübung des Bewußtseins, so daß plötz¬
liche impulsive Handlungen vorgenommen werden, entweder um sich
zu retten, oder aber, wenn die Unerträglichkeit der Situation zu groß
wird und den Wunsch nach Erlösung durch den Tod hervorbringt,
um diesen zu verwirklichen. In verschiedenen Fällen konnte dieser
dramatische Typus festgestellt werden; er ist einerseits somatogen, da
er von der Empfindung eines organischen Leidens herrührt, anderer¬
seits zugleich aber auch „psychogen“, indem er den psychischen In¬
halt determiniert. Diese Psychogenität ist freilich eine ganz andere als
die der Sprachgewohnheit gemäße bei hysterischen Reaktionen. Im
79
Interesse der Ausschaltung dieser Doppelsinnigkeit ist es vielleicht
richtiger, den Ausdruck „t h y m o g e n“ anzuwenden; denn der Angst¬
zustand erfaßt zuerst die Thymopsyche und wirkt sich erst von hier
aus weiter in der Gesamtpersönlichkeit aus. Die pathogenetischen
Kräfte, die diese Form der Beeinflussung des Seelenlebens durch das
Herzleiden erwirken, sind weder rein innersomatische Faktoren wie
z. B. endokrine Störungen, noch rein psychologische Momente, wie
z. B. Erlebnisse; sie liegen vielmehr auf einem Mittelgebiet, durch
einen somatischen Vorgang, das Herzleiden, werden psychologische
Tatbestände, Organgefühle, hervorgebracht, die sich fortentwickelnd
und steigernd, das seelische Gefühlsleben erfüllen, die Thymopsyche
ergreifen und von ihr aus eine allgemeine Störung erzeugen. Die
psychische Störung in Form anfallsartig sich steigernder Angst ist
also somatogen-thymogener Natur und steht damit im Gegensatz zu
der erst beschriebenen Form des kardiogenen Irreseins als rein soma-
togener Störung.
Es gibt aber auch eine gewissermaßen abgeschwächte Form der
Angstanfälle, die nur bemerkbar wird bei dem Bestehen schon ander¬
weitiger Störungen, nämlich eine dauernde Einstellung auf Ängst¬
lichkeit mit seltenen oder ganz fehlenden paroxysmalen Steigerungen.
Diese Dauereinstellung verleiht den zugleich vorhandenen Psychosen,
etwa der Gehirnarteriosklerose, eine ängstliche Färbung; sie wirkt
somatogen- thymoplastisch, da sie im wesentlichen die Angst¬
gestaltung des Krankheitsbildes betrifft. Diese Komponente schiebt
sich auch ein in einzelne Phasen des Beginns andersartiger Störungen
auf kardialer Grundlage, so wird zuweilen vor der Entwicklung einer
Psychose von exogenem Reaktionstypus eine kurze ängstliche Ver¬
stimmung mit anfallsartigen Paroxysmen bemerkt. Hier ist weiter
hervorzuheben, daß zu den Voraussetzungen somatogen-thymogener
resp. thymoplastischer Einwirkung eine gewisse Besonnenheit und
ein relatives Erhaltensein des Gesamtzusammenhangs der Persönlich¬
keit gehören. Infolgedessen ergibt sich der durch die Erfahrung be¬
stätigte Satz, daß bei den organischen Demenzprozessen, die zum
Verlust der Besonnenheit und zum völligen Zerfall der Persönlichkeit
führen, der somatogen-thymogene resp. thymoplastische Einfluß der
Herzkrankheit nur im Anfang der Psychose wirksam werden kann,
und es läßt sich beobachten, daß sich zwischen diese Phase und eine
ja auch im späteren Stadium mögliche Erkrankung am rein exogenen
Typus kardiogenen Irreseins dann eine längere oder kürzere Periode
unbeeinflußten, stumpf-dementiven Verlaufs einschiebt. Zu diesem
Verhalten zeigen eine interessante Parallele die Defektpsychosen, die
80
schizophrenen Erkrankungen, wenigstens insofern, als bei stärkerem
Zerfall die thymoplastische Kraft der kardialen Mißempfindungen
verloren geht, während die Möglichkeit rein somatogener Einwirkung
infolge einer zusätzlichen, durch die Herzstörung entstehenden Noxe
bestehen bleibt. Freilich ist die intrapsychische Verwertung und
Verarbeitung von Empfindungen bei schizophrenen Prozessen ver¬
möge der Dissoziation ihres Innenlebens von vornherein beeinträch¬
tigt. Diese Empfindungen wirken zumeist nur provozierend auf die
Äußerungen des zugrunde liegenden Prozesses überhaupt.
Des weiteren ist nachgewiesen, daß bei der reaktiv-labilen Kon¬
stitution dieser somatogen-thymogene Modus kardialer Einflußnahme
verhältnismäßig selten vorkommt und dabei außerdem nicht zur
Verschmelzung in das eigentliche Bild der reaktiven Erkrankungs¬
form gelangt, womit sich wieder die vorwiegend ideelle Natur der für
diese wirksamen Anlässe bestätigt. Die Psychogenie der reaktiv¬
labilen Konstitution ist eine Ideogenie, wobei gewiß die tiefe affektive
Beladenheit der krankheitserzeugenden Vorstellungen nicht verkannt
werden soll. Das Erlebnis muß, um für diese Individuen pathogen
zu sein, in das Vorstellungsleben eingegangen und verschmolzen, muß
gedanklich verarbeitet sein; besteht es aus rein empfindungsartigen
Elementen, wie in unserem Falle aus Organgefühlen, so hat es keine
Bedeutung für die Schaffung einer Neurose. Diese Feststellung ist
wichtig durch ihre Beziehung zur Lehre A. Adlers von der Bedeu¬
tung der Organminderwertigkeit für die Entstehung des nervösen
Charakters. Ohne auf dieses Autors geistreiche und psychologisch
interessante Ausführungen über das System der Sicherungen gegen¬
über solcher Minderwertigkeit als Grundlage der neuropathischen
Entwicklung näher einzugehen, kann nach unserm Ergebnis die obige
Prämisse nicht als erwiesen betrachtet werden, ja, sie muß sogar in
Frage gestellt werden.
Bei der autochthon-labilen Konstitution kommt es gleichfalls in
manchen Fällen nicht zu einer Verschmelzung der kardiogen-thymo-
genen Angstanfälle mit einer zugleich bestehenden Melancholie. Bei
andern Fällen wieder wandeln sich die Angstanfälle allmählich in
eine zusammenhängende ängstliche Depression, eine „Angstpsychose“,
um. Wann das eine oder das andere eintritt, ist vorläufig nicht zu
sagen. Oben wurde die Vermutung ausgesprochen, daß vielleicht das
mehr oder minder lange Bestehen kardialer Mißempfindungen und
davon abhängiger Angstparoxysmen das entscheidende Moment hier¬
bei sei. Wie dem auch sei, die Möglichkeit dieser Einwirkungen
zeigt jedenfalls, daß thymogene Komponenten bei der autochthon-
81
labilen Konstitution eine ganz andere Rolle spielen als bei der reak¬
tiv-labilen Konstitution. Damit wird zugleich auf den zentralen An¬
teil der Thymopsyche in den autochthonen Degenerationspsychosen
hingewiesen; es sind „Thymopsychosen“, im Gegensatz zu den ideo-
genen Neurosen und Psychosen der Reaktiven.
Kehren wir nunmehr zu dem Konstitutionsproblem zurück, so
muß bekannt werden, daß es nicht gelungen ist, eine spezifische Kon¬
stitution festzustellen als Grundlage für die Tatsache, daß die einen
Individuen an den Folgen eines Herzleidens psychisch erkranken und
die andern nicht. Dabei bestätigte sich in ihrem Verhalten gegenüber
diesem Zusammenhang die Einheitlichkeit gewisser Konstitutions¬
kreise. Sowohl bei der autochthon-labilen als auch bei der reaktiv¬
labilen Konstitution fand sich jeweils eine typische Reaktionsart, ja
auch beim epileptischen Konstitutionskreis darf das negative Ergeb¬
nis ebenso gewertet werden. Andererseits zeigte sich eine teilweise
Übereinstimmung bei den organischen Demenzpsychosen und den
schizophrenen Prozessen. Sollte es wohl gestattet sein, hieraus auf
den organischen Charakter der Defektpsychosen Rückschlüsse zu
machen? Diese wichtige Frage auf Grund dieser Analogie zu beant¬
worten, wäre zu gewagt. Es gibt freilich noch genug andere Gründe,
die für die Richtigkeit dieser Schlußfolgerung sprechen, ohne daß
hier darauf eingegangen werden könnte'). Wie dabei allerdings die
Annahme einer einheitlichen Grundlage der schizoiden Konstitution
wegkommt, bleibt fraglich. Ewald hat sich kürzlich recht skep¬
tisch hierüber ausgesprochen.
Des weiteren steht hier nochmals Kleists symptomatisch-labile
Konstitution zur Diskussion. Schon oben hatten wir die Fälle ab¬
getrennt, die mehrmals auf verschiedene äußere Anlässe psychotisch
erkranken resp. bei denen diese Eigentümlichkeit familiär ist. Für
diese Individuen hatten wir das Vorhandensein einer besonderen ein¬
heitlichen und eigenartigen Konstitutionsanomalie anerkannt. Wie
steht es aber mit dem übrigen, mit dem überwiegenden Teil der an
symptomatischen Psychosen Erkrankenden? Aus der Betrachtung
unserer Erfahrungen an Herzkranken geht sichtlich hervor, daß An¬
gehörige recht verschiedener Konstitutionskreise symptomatisch¬
psychotisch werden können. Das würde also bedeuten, daß ein
Überschneiden der symptomatisch-labilen Konstitution mit fast allen
andern, bis jetzt fester umschriebenen Konstitutionstypen stattfindet.
’) Verwiesen sei an dieser Stelle auf die zusammenfasscnde Darstellung
B u m k e s.
Leyier, Herzkrankheiten und Psychosen. (Abh&ndL H. 25.) 6
82
Es ist zuzugestehen, daß dieser Umstand einigen Zweifel erweckt, ob
mit der Annahme einer einheitlichen symptomatisch-labilen Konsti¬
tution für alle Fälle von exogenen Psychosen nicht nur eine Schein¬
lösung gegeben sei. Auch deshalb fällt es schwer, für diese Erklä¬
rung einzutreten, weil der Labilitätsgrad außerdem noch abhängig
ist von der Art der Schädigung, und für die Chorea und den Typhus
oft eine symptomatisch-labile Konstitution schon da angenommen
werden müßte, wo bei Herzleiden z. B. davon noch keine Rede sein
könnte. Nur für die Fälle, die auf verschiedenartige Schädlichkeiten
wiederholt mit symptomatischen Psychosen reagieren, oder wo diese
Eigentümlichkeit familiär ist, darf u. E. ein gesonderter Konstitu¬
tionstypus im Sinne Kleists angenommen werden.
Unsere Untersuchungen, soviel interessante und bemerkenswerte
Einzelbeobachtungen sie auch gebracht haben, konnten doch nicht zu
der Beantwortung der beiden Grundfragen führen, welches die psy-
chopathologische bedeutsame Noxe ist, die sich bei Herzleiden bildet,
und unter welchen Umständen sie wirksam wird. Weder das Stu¬
dium der anderweitigen Verwicklungen noch das der konstitutionel¬
len Grundlage ergab für die Beantwortung der letzteren Frage geeig¬
nete Gesichtspunkte. Vielleicht ist die Erforschung dieser Probleme
auf klinischem Wege überhaupt nicht möglich, und es bedarf dazu
chemischer, serologischer oder noch gänzlich unbekannter Methoden.
Tiefer sind wir eingedrungen in den Mechanismus der mit den kardia¬
len Mißempfindungen zusammenhängenden Störungen. Ihre über die
Thymopsyche verlaufende Einwirkung erweist sich als abhängig von
einer gewissen Aufnahmefähigkeit des Innenlebens, die durch De¬
komposition infolge schizophrener Zerfahrenheit oder organischer
Demenz aufgehoben wird.
Zum Schluß ist es angemessen, die Beziehungen und Hinweise
zu erörtern, die sich aus der Beobachtung der Psychosen bei Herz¬
krankheiten ergeben zu jener in der Einleitung erwähnten Hypothese
Bonhöffers von den ätiologischen Zwischengliedern bei der
Pathogenese exogener Reaktionstypen. Bilden etwa das Herz und
seine Funktionsstörung ein solches Zwischenglied? Man kann u. E.
nur von der ängstlichen Färbung einzelner Zustandsbilder als ein¬
ziger Folgeerscheinung vereinheitlichender Wirkung der Erkrankung
dieses Organes sprechen, und gerade dieser Wirkungsmechanismus
ist nachgewiesenermaßen kein rein somatogener, sondern ein soma-
togen-thymogener. Man muß deshalb die obige Frage verneinen; das
Herz bedeutet keinen Mittler der Umwandlung differenter Noxen in
einheitlich wirkende Faktoren auf psychopathologischem Gebiet.
83
Unsere Beobachtungen können sonach nicht zur Klärung.dieses Pro¬
blems beitragen; sie können nur per exclusionem den künftigen For¬
schungskreis verengern, der sich mit der Frage nach dem Wesen der
Faktoren, die die vereinheitlichende Wirkung im Organismus ver¬
mitteln, zu beschäftigen hat. Es kann hier freilich die Vermutung
nicht ganz unterdrückt werden, ob diese Faktoren gar etwa in den
physiologischen Einrichtungen des Gehirns selbst zu suchen sind.
Die Begründung und der Beweis der Richtigkeit dieser Anschauung
stehen allerdings noch aus.
6 *
Literatur,
A. Adler, Über den nervösen Charakter. Wiesbaden 1912. — D e r s.,
Ztschr. f. d. ges. Neurol. u. Psych. Orig.-Bd. 18, 1912. — K. Birnbaum,
Der Aufbau der Psychose. Berlin 1923. — Bonhöffer, Die Psychosen im
Gefolge innerer Erkrankungen. Aschaffenburgs Handbuch 1912. — Ders n
Arch. f. Psych., Bd. 58, 1917. — Boström, Ztschr. f. d. ges. NeuroL u.
Psych., Bd. 68. 1921. — L. Braun, Herz und Psyche. Wien 1920. Zit. nach
Wexberg, Zentralbl. f. d. ges. Neurol. u. Psych. Bd. XXXV, 1924. —
Bumke, Klin. Wochenschr. Jahrg. 3, Hr 11, 1924. — Eichhorst, Dtsch.
med. Wochenschr. 1898. — Ewald, Monatsschr. f. Psych. u. Neurol., Bd. 44,
1918. — Ders., Monatsschr. f. Psych. u. Neurol., Bd. 55, 1924. — H. Fischer,
Zentralbl. f. d. ges. Neurol. u. Psych., Bd. 34, 1924. — D e r s., Monatsschr. f.
Psych. u. Neurol., Bd. 55, 1924. — J. Fischer, Allgcm. Zeitschr. f. Psych.,
Bd. 54, 1896. — Friedmann, Zeitschr. f. d. ges. Neurol. u. Psych., Orig.-Bd.
21, 1914. — Jacob, Journ. f. Psych. u. Neurol., Bd. 14 u. 15, 1909/10. —
L. K1 a g e s, Die Probleme der Charakterologie, Leipzig 1910. — K. Kleist,
Allgem. Zeitschr. f. Psych., Bd. 64, 1907. — D e r s., Postoperative Psychosen,
Berlin 1917. — D e r s., Influenzapsychosen u. d. Anlage zu Infektionspsychosen,
Berlin 1920. — D e r s., Zeitschr. f. d. ges. Neurol. u. Psych., Bd. 69, 1921. —
Knauer, Zeitschr. f. d. ges. Neurol. u. Psych., Bd. 21, 1914. — E. Kretsch¬
mer, Körperbau und Charakter, 2. Aufl., Berlin 1923. — D e r s., Der sensitive
Beziehungswahn, Berlin 1917. — H. Krisch, Symptomatische Psychosen und
ihre Differentialdiagnose, Berlin 1920. — E. Leyser, Arch. f. Psychiatrie,
Bd. 68, 1923. — D e r s., Journ. f. Psych. u. Neurol., Bd. 30, 1924. —
de Monchy, Die Zergliederung des psychischen Krankheitsbildes bei Ar-
teriosclero8is cerebri, Berlin 1922. — J. Pernet, Über die Bedeutung von
Erblichkeit und Vorgeschichte für das klinische Bild der progressiven Para¬
lyse. Berlin 1917. — Saathoff, Münch. Med. Wochenschr., 1910, Seite 509.
— P. Schröder, Intoxikationspsychosen, Aschaffenburgs Handbuch, Leip¬
zig und Wien 1912. — H. Seel^rt, Verbindung endogener und exogener
Faktoren in dem Symptomenbild und der Pathogenese von Psychosen, Berlin
1919. — G. Specht, Zeitschr. f. d. ges. Neurol. u. Psych., Bd. 19, 1914. —
S t e r t z , Typhus und Nervensystem, Berlin 1917. — Stransky, Monatsschr.
f. Psych. u. Neurol., Bd. 14, 1903. — Ders., Wiener med. Wochenschr., 1905.
— L. W. Weber, Die Beziehungen zwischen körperlichen Erkrankungen und
Geistesstörungen, Halle 1902. — Wernicke, Grundriß der Psychiatrie, Leip¬
zig 1906. — Witkowsky, Allg. Zeitschr. f. Psych., Bd. 32. 1875. — Zie¬
hen, Psychiatrie, Leipzig 1902.
T) t * '• ■ > ( •
ABHANDLUNGEN AUS DER NEUROLOGIE,
PSYCHIATRIE, PSYCHOLOGIE UND IHREN
GRENZGEBIETEN
BEIHEFTE ZUR MONATSSCHRIFT FÜR PSYCHIATRIE UND NEUROLOGIE
HERAUSGEGEBEN VON K. BONHOEFFER
HEFT 26
Die Kreuzung der Nervenbahnen
und die bilaterale Symmetrie des
tierischen Körpers
Von
Prof. Dr. L. Jacobsohn-Lask
in Berlin
Mit 45 Abbildungen
BERLIN 1924
VERLAG VON S. KARGER
KARI.STKASSE 15
Preis Mk. 5.40,
für Abonnenten der „Monatsschrift für Psychiatrie und Neurologie“ Mk. 4.60
Medizinischer Verlag von S. Karger in Berlin NW. 6.
In den
Abhandlungen aus der Neurologie, Psychiatrie,
Psychologie und ihren Grenzgebieten
Beihefte z. Monatsschrift für Psychiatrie u. Neurologie, sind bisher erschienen:
Heft 1: Typhus and Nervensystem. Von Prof. Dr. Georg Stertz in
Marburg. (Vergri ffen.)
Heft 2: lieber die Bedentang toh Erblichkeit und Vorgeschichte für das
klinische Bild der progressiven Paralyse. Von Dr. J. Pernet in
Zürich. (Vergriffen.)
Heft 3 : Kindersprache und Aphasie. Gedanken zur Aphasieiehre auf
Grund von Beobachtungen der kindlichen Sprachentwickelung und
ihrer Anomalie. Von Priv.-Doz. Dr. Emil Frösch eis in Wien. Mk. 5.50
Heft 4: Epilepsie und Dementia praecox. Von Prof. Dr. W. Vorkastner
in Greifswald. 4 Mk. 5.—
Heft 5: Forensisch-psychiatrischc Erfahrungen im Kriege. Von Priv.-Doz.
Dr. W. Schmidt in Heidelberg. Mk. 8.—
Heft 6: Verbindung endogener und exogener Faktoren in dem Symptomen-
bilde und der^Pathogenese von Psychosen. Von Priv.-Doz. Dr. Hans
Seelert in Berlin. Mk. 4.—
Heft 7: Zur Kiinik and Anatomie der reinen Worttaubheit, der Hellnngs-
aphasie und der Tontaubheit. Von Prof. Dr. Otto Pötzl in Prag.
Mit zwei Tafeln. Mk. 6.—
Heft 8: Die Spielbreite der Symptome beim manisch-depressiven Irresein.
Von Prof. Dr. P. Schröder in Greifswald. Mk. 3.—
Heft 9: Die symptomatischen Psychosen und ihre Differentialdiagnose.
Von Priv.-Doz. Dr. Hans Krisch in Greifswald. Mk. 2.25
Heft 10: Die Abderhaldensehe Reaktion mit bes. Berücksichtigung ihrer Er¬
gebnisse i.d. Psychiatrie. Von Priv.-Doz. Dr. G.E wa 1 d in Erlangen. Mk.9.—
Heft 11: Der extrapyramidale Sympto menkomplex (das dystonische Syn¬
drom) and seine Bedeutung in der Neurologie. Von Prof. Dr.*G.
Stertz in Marburg. (Vergriffen.)
left 12: Der anethisehe Symptomenkomplex. Eine Studie zur Psychopatho¬
logie d. Handlung. Von Priv.-Doz. Dr. O. Al brecht in Wien. Mk. 4.- -
Heft 13: Die neurologische Forschungsrlchtnng in der Psychopathologie
und andere Aufsütze. Von Prof. Dr. A. Pick in Prag. ' Mk. 8.—
Heft 14: Ucber die Entstehung der Negrischeu Körperchen. Von Prof. Dr.
L. Benedek u. Dr. F.O. Porsche in Debreczen. Mit lOTafeln. Mk. 15.—
Heft 15: Ueber die Bedeutung und Entstehung der Stereotypien. Von Priv.-
Doz. Dr. Jakob Kläsi in Basel. Mk. 3.—
Heft 16: Ueber Psychoanalyse. Von Dozent Dr. R. Alle rs in Wien. Mk. 3.60
Heft 17: Die Zergliederung des psychischen Krankheitsbildes bei Arterlo-
sklerosis-cerebrl. Von Nervenarzt Dr. S. J. R. de Monchy in
Rotterdam. Mk. 3.—
Heft 18: Epilepsie u. manisch-depressives Irresein. Von Dr. Hans Krisch
in Greifswald. Mk. 3.—
Heft 19: Ueber die paranoiden Reaktionen ln der Haft. Von Dr. W. För¬
stern ng in Landsberg a. d. W. Mk. 3.60
Heft 20: Dementia praecox, intermediäre psychische Schicht und Kleiuhlrn-
Basalganglien-Stirnhirusystcme. Von Prof. Dr. Max Loewy in
Prng-Marienbad. Mk. 4 20
Heft 21: Metaphysik und Schizophrenie. Eine vergleichende psychologische
Studie. Von Dr. G. Bychowski in Warschau. Mk. 5.—
Heft 22: Der Selbstmord. Von Priv.-Doz. Dr. R. Weichbrodt in Frank¬
furt a. M. Mk. 1.50
Heft 23: Ueber die Stellung der Psychologie im Stammbaum der Wissen¬
schaften und die Dimension ihrer Grundbegriffe. Von Dr. Heinz
Ahlenstiel in Berlin. Mk. 1.80
Heft 24: Zur Klinik der nichtparalytischen Lues-Psychosen. Von Dozent
Dr. H. Fabritius in Helsingfors. Mk. 4.—
Heft 25: Herzkrankheiten und Psychosen. Eine klinische Studie. Von
Dr. E.* Leyser in Giessen. Mk. 4 —
Heft 26: Die Kreuzung der Nervenbahnen und die bilaterale Symmetrie des
tierischen Körpers. Von Prof. Dr. L. Jacobsohn-Lask in Berlin.
___ Mk. 5.40
Die Abonnenten der „Monatsschrift für Psychiatrie und Neurologie 41
erhalten diese Abhandlungen zu einem ermäßigten Preise.
Obige Preise sind Goldpreise, eine Goldmark gleich 10 /4* Dollar.
ABHANDLUNGEN AUS DER NEUROLOGIE,
PSYCHIATRIE, PSYCHOLOGIE UND IHREN
GRENZGEBIETEN
BEIHEFTE ZUR MONATSSCHRIFT FÜR PSYCHIATRIE UND NEUROLOGIE
HERAUSGEGEBEN VON K. BONHOEFFER
HEFT 26
Die Kreuzung der Nervenbahnen
und die bilaterale Symmetrie des
tierischen Körpers
Von
Prof. Dr. L. Jacobsohn-Lask
in Berlin
Mit 45 Abbildungen
BERLIN 1924
VI RI.AG VON S. KAIiül : R
KARL.STRASSE 15
Alle Rechte Vorbehalten.
Gedruckt bei Ernst Klöppel in Quedlinburg.
Seinem lieben Freunde und Kollegen
Herrn Prof. L. Minor-Moskau
zur Feier seines
40 jährigen Dozenten jubiläums
in herzlicher Zuneigung gewidmet
\
#
Jedem, der sieh mit dem feineren Bau des Zentralnervensystems
der Tiere und des Menschen beschäftigt, fällt sehr schnell die Er¬
scheinung auf, daß die Leitungsbahnen im Zentralnervensystem sich
zum überwiegenden Teil kreuzen. Dabei beobachtet er, daß es
teils geschlossene Systeme sind, die in kompakter Masse an einer eng
begrenzten Stelle des Zentralorgans kreuzen, daß andrerseits die
Kreuzung in lockerer Form stattfindet. Und solcher lockeren
Kreuzungen von kleineren Bündeln und selbst einzelner Fasern be¬
gegnet man auf Schritt und Tritt im ganzen Verlaufe der Hirn-
Rückenmarksachse. Bei näherem Zusehen gewahrt man, daß die
Fasern, welche zu einem gesamten motorischen oder sensiblen
Systeme gehören, mit wenigen Ausnahmen nur teilweise kreuzen,
aber doch so, daß der Hauptteil der Fasern in die Kreuzung eingeht,
während der kleinere Teil ungekreuzt verläuft. Mit dieser Erschei¬
nung muß der Arzt vollkommen vertraut sein, da er ohne diese
Kenntnis zu ganz falschen Lokalisationen der Krankheitsprozesse
kommen würde. Dem Anfänger bereitet das zunächst einige
Schwierigkeiten, da er so ziemlich das meiste, was er an Krankheits¬
erscheinungen auf der rechten Körperhälfte beobachtet, auf die linke
Hälfte des Zentralnervensystems als dem Sitze des Krankheits¬
prozesses projizieren muß und ebenso das. was er an der linken
Körperhälfte beobachtet, auf die rechte Hälfte des Gehirns und
Rückenmarks.
Es ist klar, daß jeder sich einer Erscheinung gegen übersieht, die
ihm höchst merkwürdig vorkommt, und daß er nach einer Erklärung*
sucht, die ihm dies merkwürdige Verhalten deutet. Die einfachste
und natürlichste Erklärung, die er sich gibt, ist wohl die, daß der
Körper und seine Hauptabschnitte funktionell etwas Einheitliches
sind, daß, so sehr auch die einzelnen Teile getrennt für sich funk¬
tionieren können, diese Sonderfunktionen doch zu einem Ganzen
zusammengefaßt werden müssen, und daß für diese Gesamtfunktionen
von der obersten bzw. von weiter darunter gelegenen Zentrainerven¬
stationen eine doppelte Leitung nach der rechten und linken Körper¬
hälfte bestehen müsse. Diese Anschauung ist natürlich sehr ein¬
leuchtend, aber sie ist. kausal wenig befriedigend, da sie eine rein
teleologische ist. Da der tierische Körper nach der allgemeinen
Jacobftoh n-La sk, Di« Kreuzung der Nervenbahnen usw. (Abhdl. H. 20 ) 1
Vorstellung ein bilateraler Organismus ist. so könnte dieses Be¬
herrscht werden und Zusammenfunktionieren der beiden Körper¬
hälften doch auch dadurch bewirkt werden, daß alle Zentren des
Zentralorganes nur durch Kommissuren verbunden sind. In der
Tat bildet man im Zentralnervensystem außer den kreuzenden
Bahnen noch die Kommissuren als Verbindungsbahnen der beiden
Seiten. Indessen hat. die bessere Kenntnis vom Faserverlauf im
Nervensystem gelehrt, daß man mit der Bezeichnung Kommissur
recht vorsichtig sein muß. insofern viele, besonders kompakte
Systeme, die makroskopisch als Kommissuren imponieren und von
den älteren Autoren mit entsprechenden Namen belegt und als solche
auch aufgefaßt wurden, in Wirklichkeit nicht Kommissuren, sondern
Kreuzungen von Fasern darstellen. Aber auch heutzutage, obwohl
man über viel bessere und feinere Untersuchungsmethoden verfügt
als ehemals, ist es doch nicht so einfach, überall, wo man Verbin¬
dungsfasern der beiden Hälften des Zentralnervensystems begegnet,
zu unterscheiden, ob man es mit einer Kreuzung oder mit einer
Kommissur zu tun hat. Als erstere gilt diejenige Faser, welche eine
mehr hirnwärts gelegene Station der einen Hälfte mit einer mehr
kauilalwärts gelegenen der anderen Hälfte verbindet, und als letztere
diejenige Faser, welche zwei im gleichen Niveau gelegene homologe
.Stationen in Verbindung setzt. Würden unsere Kenntnisse von den
Beziehungen der einzelnen Stationen zueinander ausreichend sein, so
wäre die Feststellung von dem, was als kreuzende und dem. was
als Kommissurenfaser zu gelten hat, sehr einfach und leicht. Leider
sind aber unsere Kenntnisse in dieser Hinsicht noch sehr lückenhaft.
Immerhin hat derjenige, der den Bau des Nervensystems eingehend
studiert, doch wohl die Empfindung, daß, wenn man von dem mäch¬
tigen Kommissurensystem des Vorderhirns, dem Balken, absieht, die
Anzahl der kreuzenden Fasern diejenige der Kommissuren und auch
diejenige der homolateral verlaufenden bei weitem überwiegt.
Aus dem Gesagten geht hervor, daß der Bauplan des Nerven¬
systems sich so ausgestaltet hat, daß die beiden Hälften des Zentral¬
organs sowohl durch kreuzende als auch durch Kommissurenfasem
in Verbindung gesetzt worden sind, und es erhebt sich nun wiederuni
die Frage, warum die Verbindung in so reichem Maße durch
kreuzende Bahnen zustande gekommen ist. Der vorhin erwähnte
Nützlichkeitszweck reicht zur Erklärung nicht aus, denn in dieser
Weise könnte man jede andere Organisation, wenn sie den gleichen
Effekt, erzielte, auch erklären. Diese teleologische Erklärung befrie¬
digt den wissenschaftlichen Forscher nicht und es muß demgemäß
3
A’ersucht werden, die Ursache dieser merkwürdigen Erscheinung
zu finden.
So sehr nun wohl auch eine große Reihe von Forschem über
dieses interessante Problem nachgedacht hat, so findet man in der
zugänglichen Literatur doch nur wenige diesbezügliche Arbeiten. In
den gangbaren Lehrbüchern über die Anatomie des Nervensystems
von Schwalbe, Edinger, Obersteiner, Koelliker,
van Gehuchten, Dejerine, Bechterew’, Barke v
und ebenso in den Lehrbüchern über die vergleichende Ana¬
tomie von G eg e n b a u r, Ariens Kappers etc., findet sich
nichts darüber gesagt. Obersteiner z. B. verbreitet sich
in der letzten Auflage seines Lehrbuches (p. 281) des län¬
geren über das Vorhandensein der kreuzenden Fasern im
Zentralnervensystem, er sagt aber selbst nichts darüber aus.
wie dieses Phänomen zu deuten sei, noch führt er andere
Autoren an, die darüber Erklärungen abgegeben resp. Hypothesen
aufgestellt haben. Das ist in der Tat sehr merkwürdig, obwohl ein
Schüler von ihm, A. Spitzer, eine sehr bedeutsame Arbeit zwei
Jahre vor Erscheinen der letzten Auflage des genannten Lehrbuches
veröffentlicht hat. Dies merkwürdige Verhalten ist wohl nur dadurch
zu erklären, daß Obersteiner die bisher gegebenen Deutungen über
das Kreuzungsproblem noch für so zweifelhaft und ungenügend hielt,
daß auf diesen Gegenstand näher einzugehen, ihm verfrüht erschien.
Vielleicht haben sich die anderen Verfasser von Lehrbüchern das
Gleiche eingestanden und deshalb von der Aufwerfung der Frage
und eigener Meinungsäußerung Abstand genommen.
Diejenigen Autoren, welche die Tatsache der kreuzenden Nerven¬
bahnen zu erklären versucht haben, sind mit Ausnahme von Radi
in der erwähnten Arbeit von Spitzer aufgezählt. Spitzer referiert
recht eingehend die einzelnen Auffassungen, beleuchtet sie in sehr
kritischer Weise, lehnt die gegebenen Deutungen als unzureichend ab
und versucht dann selbst eine Lösung des Problems zu geben. Wir
werden uns weiter unten mit dem Spitzer sehen Lösungsversuch
eingehend zu beschäftigen haben. Andere Arbeiten über diesen Gegen¬
stand als die von Spitzer angeführten und die R ädl sehe sind auch
mir nicht begegnet. Jedenfalls scheinen keine ausführlichen Ab¬
handlungen noch nach dem Jahre 1912, in welchem die Rädlsche
Arbeit erschien, publiziert worden zu sein. Es ist natürlich nicht
ausgeschlossen, daß noch einzelne Autoren sich gelegentlich über
dieses Problem an irgendeiner Stelle geäußert haben, aber jeder
wird zugeben, daß man nur zufällig einer solchen Stelle begegnen
1 *
4
kann, und solche kurzen Erklärungen können auch unmöglich der
Bedeutung dieser Erscheinung gerecht werden.
Der Wundtsche (erste) Lösungsversuch.
Der erste, welcher sich mit dem Problem der Faserkreuzung be¬
schäftigt hat. ist wohl Wundt gewesen. Die Erklärung, welche
Wundt in den ersten Auflagen seines Lehrbuches über physiologische
Psychologie gibt, ist eine andere als in den letzten Auflagen, nach¬
dem die C a j a 1 sehe Hypothese auf ihn eingewirkt hat. Der Autor
sprach sich zuerst dahin aus, daß die Säugetiere in ihrem Lebens¬
kämpfe instinktmäßig die rechte Körperhälfte in stärkerem Maße
benutzt und dadurch kräftiger ausgebildet hätten als die linke. Sie
hätten dies getan, um das links gelagerte Herz zu schützen. Durch
die Linkslagerung des Herzens sei der Blutstrom direkter zur linken
Hirnhälfte geflossen, diese sei damit besser mit Blut versorgt
worden und hätte sich demzufolge stärker ausgebildet als die rechte
Himhälfte. Wäre nun die besser ausgebildete linke Himhälfte mit
der schwächeren linken Körperhälfte und umgekehrt die schwächere
rechte Hirnhälfte mit der stärkeren rechten Körperhälfte in Verbin¬
dung geblieben, so wäre ein großes Mißverhältnis eingetreten. Um
dem zu begegnen, hätte der Organismus in der Weise einen Ausgleich
zu schaffen versucht, daß er allmählich die stärkere Himhälfte mit
der stärkeren Körperhälfte und umgekehrt verbunden hätte. Aus
der anfänglich totalen Kreuzung der Bahnen sei dann später in An¬
passung an assoziative Verknüpfung sensorischer und motorischer
Gebietsteile die partielle Kreuzung hervorgegangen.
Daß dieser Erklärungsversuch von Wundt ein nicht befriedigen¬
der ist, liegt auf der Hand. Spitzer führt mit Recht an, daß nur der
Mensch im Kampfe die rechte Körperhälfte nach vorne wendet und
stärker betätigt, bei den Säugetieren*) und den anderen Vertebraten
sei eine solche Ungleichheit nicht zu beobachten. Die Kreuzung
der zentralen Nervenbahnen komme aber allen Vertebraten zu. Auch
die linksseitige Lagerung des Herzens bewirke wohl kaum eine
bessere Ernährung der gleichseitigen Himhälfte; das Blutgefä߬
system des Gehirns sei durch Anastomosen so reichlich versehen, daß
zu jeder Himhälfte gleiche Blutmengen strömen können. Es sei
auch nicht beobachtet, daß bei den Vertebraten die eine Himhälfte
stärker entwickelt sei als die andere. Es sei schwer vorstellbar,
daß die Bahnen, die vorher homolateral verlaufen seien, sich nun so
*) < >1) bei den Anthropoiden sieh schon Anfänge von Rechtshändigkeit
finden, ist unsicher.
5
umlagerten, daß sie ihre frühere Verbindung lösten, um mit Zentren
der anderen Hälfte in Verbindung zu treten, bloß weil die betreffende
Körperhälfte sich stärker (bzw. schwächer) entwickelt hätte.
Man kann hinzufügen, daß die Natur bei ursprünglich nicht be¬
stehender Kreuzung der Faserbahnen sich der von Wundt ange¬
nommenen Veränderung des Funktionszustandes beider Körper¬
hälften in der Art angepaßt hätte, daß sie die Hirnzentren der
rechten Himhälfte und die Bahnen, welche diese Hälfte mit der
rechten Körperseite verknüpften, stärker ausgebildet haben würde,
während linksseitig es zu einer gewissen Abschwächung gekommen
wäre. Eine derartige natürliche Anpassung würde einen Kreuzungs¬
vorgang vollkommen unnötig machen.
In den späteren Auflagen seines Lehrbuches benutzt Wundt die
eben erläuterte Theorie weniger dazu, um die Kreuzungen der
Nervenbahnen zu erklären, als um das funktionelle Überwiegen der
rechten Körperhälfte und die einseitige stärkere Ausbildung der
linken Großhirnhemisphäre, speziell der in dieser Hemisphäre be¬
findlichen Zentren, wie Sprachzentrum, abzuleiten. Wie er sich zur
Cajal sehen Deutung der Kreuzungen stellt, ist weiter unten aus¬
führlich angegeben.
Der Flechsigsche Lösungsversuch.
Der zweite Autor, welcher das Problem anzupacken versuchte,
war P. F1 e c li s i g. Er ist sich von vornherein des hypothetischen
Charakters seiner Darstellung bewußt. Er nimmt an. daß die
Pyramidenbahnen von oben nach abwärts sicti bilden, und führt dann
S. 202 folgendes aus:
„Hiermit ist aber offenbar das Zustandekommen der
Pyramidenkreuzung überhaupt nicht, ihre Variabilität nur
zum Teil erklärt. Auch für erstere gewinnen wir eine befriedigende
ätiologische Deutung. Sobald die Pyramiden an der gewöhnlichen
Kreuzungsstelle angekommen, für ihr weiteres Vordringen in der
alten Richtung keine besonderen Widerstände finden, ist es am
natürlichsten, daß eine jede Pyramide in ihrer Richtung fortwächst.
— Anders, wenn, wie dies wohl als Regel zu betrachten, die nach
unten wachsenden Pyramiden an der gewöhnlichen Kreuzungsstelle
Widerstände vorfinden, welche ein Weiterziehen ohne Richtungs¬
änderung nicht gestatten. Solcher Widerstände lassen sich nun ge¬
rade an dieser Stelle mehrere naehweisen. Es verengt sich gerade
hier einerseits der vordere Längsspalt des Medullarrohrs plötzlich
und vertieft sich dabei, andrerseits aber zeigt das Medullär-
r o h r liier eine stumpfwinkelige Knickung, so dali in der
Mitte der vorderen Fläche eine nach oben offene, nach unten mehr
geschlossene Bucht entsteht. Erwägt man, daß sich in der ganzen
Länge der oblongata und des Rückenmarks außer an der ange¬
gebenen Stelle einer an der Vorderfläche des Medullarrohrs von
oben nach unten wachsenden Fasermasse nirgends ähnliche
Widerstände entgegenstellen, so erscheint es wohl gerechtfertigt, den
Umstand, daß die Pyramidenbündel gerade hier Richtung und
Lage zu ändern pflegen — mit diesen lokalen Verhältnissen in Be¬
ziehung zu bringen.“
„Sofern man nur die Möglichkeit geringer Differenzen in der
Gestaltung der Bucht einerseits, der von oben herabkommenden
Bündel andrerseits zugibt, w'ird man sehr leicht den verschiedenen
Anteil der sich kreuzenden und ungekreuzt bleibenden Bündel in
verschiedenen Fällen begreifen, ja es muß bei diesem. Sachverhalt
geradezu als ein Zufall betrachtet werden, wenn bei verschiedenen
Individuen die Verteilungsweise völlig übereinstimmt, die Varia¬
bilität muß als das N aturgemäße erscheinen.“ — „Es mün¬
den ferner gerade in der Gegend der mehrerwähnten Bucht die
bereits lange vor den „Pyramiden“ vorhandenen Bündel der „oberen
Pyramidenkreuzung“ an der Vorderfläche aus. Die Pyramiden legen
sich, falls sie sich kreuzen, jenen dicht an; es dient vielleicht die
obere Pyramidenkreuzung der unteren geradezu als Leitband.“
„Die Richtigkeit der soeben angestellten Erörterungen voraus¬
gesetzt. würde sich uns eine einfache Erklärung des Zustande-
ko mm ens und der Bedeutung der Kreuzungen im zen•
tralen Nervensystem überhaupt ergeben. Man hat bisher bei ihrer
Deutung auf die Entwicklungsgeschichte noch so gut wie gar nicht
Rücksicht genommen. Wir halten indes diesen Weg für denjenigen,
welcher am ehesten zum Ziele führen kann und der jedenfalls
weniger Gefahren bietet, als der jüngst von Wundt eingeschlagene
(siehe dessen Ausführungen Physiol. Psychol. S. 171). Sofern die
Entstehung der Nervenfasern als Ausläufer einzelner Zellen sich
sichern ließe, würde die Auffassung der Kreuzungen als Resultierende
aus den mechanischen Entwicklungsbedingungen als die natur-
gemüßeste erscheinen. Ja, man kann wohl sagen, daß alle die
scheinbar so barocken Verschlingungen der zentralen Fasersysteme
durch die konsequente Durchführung jener Theorie eine befriedi-*
gende Erklärung linden würden.“
Zu dieser F 1 e c h s i g scheu Hypothese nimmt Spitzer folgen¬
dermaßen Stellung. Es wäre durch Klechsigs Erklärung wohl die
7
Lokalisation und Variabilität der aus anderen Gründen notwendigen
Kreuzung begreiflich, nicht aber die Kreuzung selbst. Gerade die
Konstanz der Kreuzung setze einen invariablen Faktor, eine ein¬
sinnig wirksame Ursache voraus. Die Pyramidenkreuzung sei nur
ein Beispiel der allgemeinen Kreuzung der zentralen Nervenbahnen,
diese könne also nur von einer allgemeinen Ursache abgeleitet wer¬
den, welche im ganzen Nervensystem wirksam ist. Bei diesen Loka¬
lisationen könne es sich auch nicht um ablenkende Widerstände
gegen die Wachstumsrichtung des sich vorschiebenden Faserendes
handeln, sondern nur um Hindernisse, welchen die bereits fertige
Kreuzung bei ihren phylogenetischen Verschiebungen in der Längs¬
richtung des Nervenrohres an bestimmter Stelle begegnet, wo infolge¬
dessen eine Art Stauung der Kreuzungsfasern stattfindet. Die
Fasern würden so zunächst passiv an das Hindernis gewissermaßen
wie an einem Stauwerk angeschwemmt. Sobald aber die Ansamm¬
lung zur Bildung von Bündeln geführt hat, wirken diese ihrerseits
als Kondensationsachsen, um welche sich immer neue Fasern herum¬
lagern. Die Flechsig sehe Deutung sei deshalb ganz unzu¬
reichend, denn eine Arteigenschaft müsse in einer artgeschichtUchen,
allen Individuen gemeinsamen Grundursache ihre Quelle haben. Die
Kreuzung der zentralen Nervenbahnen sei aber nicht bloß eine Art¬
eigenschaft, sondern eine Eigenschaft des ganzen Wirbeltier¬
stammes.
Diese Kritik von Spitzer ist voll berechtigt. Auch ich meine,
daß Flechsig einen Nebenumstand, der erst nachträglich viel¬
leicht für die Lagerung und Verteilung der Kreuzungen eine gewisse
Bedeutung haben kann, irrtümlich als die Ursache der Kreuzungen
selbst ansieht. Die Wirkung dieses Faktors ist überhaupt reche
schwer einzuschätzen. Was z. B. die Pyramidenbalm anbetrifft, so
begegnet sie in ihrem Verlaufe nach abwärts verschiedenen ähnlichem
Hindernissen, so am Übergang zwischen Pons und Medulla oblon-
gata, wo sie dem Foramen coecum posterius ausweiehen muß. Sie
tut es hier, ohne irgendwie in ihrem geraden Laufe abzuweichen, und
es wäre auch viel einfacher und natürlicher, wenn die Pyramiden¬
balm, ebenso wie sie es hier oben tut. weiter unten am Übergang ins
Rückenmark ein wenig nach lateral dem vermeintlichen Hindernis
ausweiehen würde, anstatt gleichsam in das Hindernis hineinzu¬
rennen. Man sieht also, wie mißlich es ist. etwas unebene Stellen,
die man als Hindernisse“ deutet, als Ursachen für das Zustande¬
kommen von Kreuzungen anzunehmen.
8
Der Cajalsche Lösungsversuch.
Der Dritte, welcher dem Problem «1er Faserkreuzung eine sehr
eingehende .Studie gewidmet hat. war S. Ramoi) v Cajal. Er
sagt darüber folgemies:
]*. 4. „Häutige Betrachtungen, welche wir über die Ursache der
Kreuzungen der Nervenbahnen angestellt haben, führten uns schlie߬
lich zu der Ansicht, d a U a 11 e o d e r f a s t alle totalen oder
v o t w i e g <> n <1 e n D ekussati o n e n n u r Anpass u n ge n a n
j e ne u r s p r ii n g 1 i c he, i n W a h r h e i t funda m e n t a 1 e
K r e u z ti n g r e p r ii s e n t i e r e n , welche die Ne r v i optici
<1 e r niederen Wirbeltiere biete n.“
Es folgt nun in der Ca j a 1 sehen Abhandlung eine Darstellung
des Faserverlaufes im Chiasma opticum bei den Wirbeltieren bis
zum Menschen herauf. Die Untersuchung ergibt, daß sieh bei den
Fischen, Batrachiern, Reptilien und Vögeln eine totale Kreuzung
findet, und daß bei den Säugetieren eine partielle Kreuzung vorhan¬
den ist, wobei die Zahl der nicht gekreuzten Fasern von den
niederen Klassen der Säugetiere zu den höheren an Zahl ständig zu¬
nimmt, bis das Verhältnis schließlich beim Menschen so ist. «laß die
ungekreuzten etwa V.i der gekreuzten betragen.
p. 18. „Ein vergleichendes Studium der Nervenzentren der
Wirbeltiere zeigt, daß in den zentralen Bahnen die totale Kreuzung
eine «•ntwickltingsgeschichtliche Phase darstellt, die der partiellen
vorausgegangen ist, welche letztere nur bei den relativ höher ent¬
wickelten Tieren auftritt, und daß ferner die totale Kreuzung gleich¬
zeitig mit der Bildung «*iiu‘s Enzephalons, daher mit der Zcntralisa-
tion der sensorischen Eindrücke und der motorischen Impulse sich
geltend macht.
In <l«*r Tat. beim Amphioxus. bei den Würmern, bei denjenigen
Heren, bei welchen keine genügende sensorische Zentralisation
existiert und die Medtilla oder die sie vertretende Ganglienkette
fast ausschließlich «l«*r Aufnahme der zentripetalen Impulse dient,
gibt es keim* zentral«“!« Bahnen im eigentlichen Sinne des Wortes,
sondern nur intraganglionäre Weg«“, din'kte und gekreuzte Reflexe,
und zwar vorwiegend «lirekte, wegen des bei weitem häufigeren Vor-
kommens der homolatf'ralen motorischen Reaktionen.“
]». lt>. Es handelt sich hier nicht darum, die wirkende Ursache,
die geh«“im«“n Ressorts physikalisch-chemischer Kräfte zu erforschen,
welche diese Anlag«“ geschallen haben, sondern nur den Nutzen be¬
greifen zu lernen, den si<“ dem Organismus bringt, das Motiv, nach
welchem die natürliche Auswahl oder andere noch unbestimmte
9
Bedingungen die gekreuzten Nervenbahnen eingerichtet, befestigt und
progressiv vermehrt haben.“
..Inmitten dieser Zweifel scheint uns eins der Diskussion nicht
weiter zu bedürfen, nämlich daß die Dekussation zuerst in
den sensorischen Bahnen geschaffen worden ist
(optische, sensible etc., sämtlich bei den niederen Wirbeltieren);
mit notwendiger Konset|uenz ergab sich daraus die Kreuzung im
entgegengesetzten Sinne bei den motorischen Bahnen.“
Das Sehbild, welches die niederen Wirbeltiere haben, nennt
O a j a 1 ein panoramisches. Diese Tiere sehen ohne Relief,
sie setzen nur gleichsam die Bilder beider Seiten wie zwei Photo¬
graphien zusammen.
p. 23. Fig. 1 (Fig. 7 bei Cajal) ..zeigt Gestalt und Richtung
des geistigen optischen Bildes unter der Voraussetzung, daß es keine
Fig. 1. Schema zur Darstellung der Projek¬
tion des Objektbildes auf Retina und Lohus
opticus bei homolaterralem Verlaufe der Op¬
ticusfasern.
Nach S. Ramiin y (J aj a 1.
Kreuzung der Sehnerven gäbe.
Die Inkongruenz beider Bil¬
der tritt deutlich zutage —
es wäre unmöglich, daß das
Tier beide Bilder zu einer zu¬
sammenhängenden Vorstellung
vereinigen könnte“. Fig. 2*)
„zeigt mit größter Beweiskraft,
daß, dank der Kreuzung beide
Bilder, das rechte und das
linke, miteinander korrespon¬
dieren und ein zusammenhän¬
gendes Ganzes bilden“.
p. 24. „1. Bei den niede¬
ren Wirbeltieren übermittelt
jedes Auge, und wir könnten
sogar sagen, jeder Raumsinn,
dem Gehirn die auf dieser
Seite gesammelten Eindrücke
der Objekte, und vermöge der
Kreuzungen besteht die senso¬
rische Hirnrinde aus zwei
Flächen, einer rechten, welche dem linken Raum, und einer linken.
*) Fig. 2 ist nicht der Arbeit, Ca j als. sondern der Darstellung
Wundts aus der sechsten Aullage seines Lehrbuches entnommen. Sie
entspricht aber der von Ca jal gegebenen Figur, was Sehfaserkreuzung und
die dadurch angeblich bewirkte Bildeinstellung betrifft.
10
welche dem rechten entspricht. 2. Das geistige Bild ist immer ein
einheitliches und entsteht aus der kontinuierlichen Nebeneinander¬
stellung der beiden Sinnesprojektionen, so daß das Gehirn eine
Art zentraler Retina wird, die Summe der beiden peripheren Netz¬
häute. jedoch verteilt auf zwei symmetrische und einseitige Flächen,
tf. Die Kreuzung der Sehnerven ist begründet durch die Notwendig¬
keit. die seitliche Inversion der beiden Bilder, welche durch die
Wirkung der Linsen veranlaßt ist. zu rektifizieren. 4. Es existiert
im Gehirn keine funktionelle Duplizität oder, mit anderen Worten,
die symmetrischen Punkte jedes Lobulus opticus oder jeder He¬
misphäre. auch wenn sie dieselbe Sinneswahrnehmung empfangen,
haben nicht die gleiche Bedeutung.“
„Die vorstehenden Erwägungen lassen sich vielleicht auch auf
die Funktion des zerebroiden Ganglions der wirbellosen Tiere an¬
wenden, besonders der Insekten. Spinnen und Mollusken, Tieren,
die mit wohlentwickelten Augen ausgestattet sind; leider sind die
positiven Beobachtungen, welche wir über den Verlauf der Opticus¬
fasern besitzen, zu dürftig, um darauf bestimmte physiologische
Schlüsse aufzubauen. — Weshalb es nicht möglich, zu erfahren, ob
bei ihnen eine totale Kreuzung besteht, wie bei den niederen Wirbel¬
tieren. — Zieht man indes die Art des Sehens bei den wirbellosen
Tieren und die Grundsätze, welche wir formuliert haben, in Be¬
tracht. so ergibt sich mit Wahrscheinlichkeit, daß bei den mit Linsen¬
augen ausgestatteten Tieren, d. h. solchen, welchen die Gegenstände
auf der Netzhaut umgekehrt erscheinen (Mollusken, gewissen Arach-
niden) der Sehnen’ total gekreuzt ist, und daß es bei Tieren mit
Mosaiksehen, wie den Insekten und Cmstaceen. keine Dekussatie-
nen gibt.“
p. 2<>. ..Das gemeinsame Sehfeld, welches durch den Parallelis¬
mus der Augenachsen entsteht, ist das Charakteristische des Seh¬
vorgangs bei den höheren Säugetieren (Mensch, Affe, Hund etc.).
Dieser Parallelismus erzeugte als begleitendes anatomisches Phä¬
nomen das direkte Bündel. — Es ist sehr wahrscheinlich, daß zwi¬
schen dem Sehen mit gemeinsamen Sehfeld beim' Menschen und
dem panoramisehen Sehen beim Kaninchen Übergänge existieren."
p. 27. „In der Tat funktionieren mittelst des Parallelismus der
Augenachsen die beiden Augen wie ein einziges, vorausgesetzt, daß
sie gleichzeitig dasselbe Objekt kopieren: jedoch wurde diese Reduk¬
tion des Sehfeldes von einem neuen Objekt- begleitet, von der Per¬
zeption der Tiefe oder der dritten Dimension, eine Wahrnehmung,
welche bei den unteren (Miedern der Tierwelt und selbst bei der
11
Mehrzahl der Säugetiere noch unbekannt ist. Außerdem wächst zum
Ersatz für diesen Verlust die Beweglichkeit der Augen, des Kopfes
und Rumpfes ganz beträchtlich.“
In einer weiteren Skizze stellt C a j a 1 die Form der optischen
Projektion im Gehirn bei der Semidekussation dar. Das Bild ist in
Beziehung auf das Objekt seitlich invertiert, jedoch bildet jede Hälfte
desselben, auf eine Hemisphäre projiziert, ein kontinuierliches
Ganzes, wie es auch bei den niederen Wirbeltieren bei der totalen
Kreuzung war. Cajal sagt dann weiter auf:
p. 30. .,Der größeren Klarheit wegen zeigt das Schema das
Bild geradlinig, und wie wenn es von oben betrachtet würde. Es
versteht sich von selbst, daß, da die Rinde gefaltet und außerdem
die Sehregion durch den Hemisphärenspalt geteilt ist, die wirkliche
Projektion des geistigen Bildes viel komplizierter sein und ebenso
viel Krümmungen haben muß, wie die Windungen der entsprechen¬
den Hemisphäre. Für den Effekt des deutlichen Sehens und einer
naturgetreuen Projektion machen diese Unregelmäßigkeiten und
Fehler der Kontinuität wenig aus, da das, was dieser Projektion oder
der Verlegung des optischen Eindrucks nach außen Form gibt, nicht
die Gestalt des zerebralen Feldes ist, sondern die der Zapfen- und
Stabschicht der Retina. Wir glauben indes, daß sich im geistigen
Bilde alle Punkte des Objekts in derselben Reihenfolge dargestellt
finden, in welcher sie auf die Retina projiziert sind: die zerebrale
Retina läßt sich in dieser Beziehung mit einer wohlgelungenen Pho¬
tographie vergleichen, deren Papier oder Überzug gerunzelt ist.“
„Die Duplizität der Empfindung, welche a priori bei dem Vor¬
handensein eines gemeinsamen Sehfeldes unvermeidlich scheint, ist
in sinnreicher Weise umgangen worden, dadurch, daß die homolate¬
ralen und von entgegengesetzter Seite kommenden optischen Fasern,
welche gemeinsamen Punkten der Retina entsprechen und deshalb
Träger desselben Stückes des Bildes sind, in derselben (truppe von
Pyramidenzellen zusammenlaufen.“
p. 31. „Deshalb setzt das Auftreten des direkten Bündels
keinen Verzicht auf die Vorteile der Kreuzung voraus. Diese be¬
stehen fort, weil nach Kreuzung der Hauptbahn des Sehnerven immer
das in das rechte Gehirn projizierte Bild sich in das linke gezeich¬
nete fortsetzt.“
p. 33. „Aus allem diesem geht hervor, daß die Natur bei der
Anlage der optischen Projektion vor allem zwei Dinge vorweg
genommen hat: 1. Dem Prinzip der k o n z e n t r i s e h e n S y m m e -
12
t r i e treu zu Weilten, welche <lie Lage und Verbindung - aller Xerven-
zentren beherrscht. So entspricht in dem Rückenmark jede vertikale
Hälfte einer vertikalen Hälfte auch der sensiblen <überdachen, was
uns nicht befremdet, wenn wir uns erinnern, daß phylogenetisch und
ontogenetisch betrachtet, die Zerebrospinalachse nichts weiter ist als
eine fortgewanderte und in einem engen Futteral konzentrierte
Hautfläche. In diesem Futteral, das von einer ektodermatischen
Einstülpung gebildet wird, entsteht die rechte Wand aus dem
rechten Ektoderm, die linke aus dem linken. 2. Das zweite Prinzip,
welchem die Natur huldigt, ist die Einheit der Empfindung: um
diese zu erzielen, hat sie das direkte Bündel geschaffen und hat sie
außerdem einen großen Teil des (Jehirns in eine riesige Retina ver ;
wandelt, die in zwei auf je eine Hemisphäre lokalisierte Hälften
geteilt, ist. deren eine die zu unserer Rechten gesehenen Objekte, die
andere die zur linken repräsentiert.“
p. 4.‘k „Da nämlich die fundamentale Kreuzung der Sehnerven
und das Vorwiegen der der Seite der Erregung entsprechenden
Muskelreflexe eine gegebene Tatsache ist. so war zu erwarten, daß
die optische Reflexbahn der entgegengesetzten Seite die homolaterale
an Bedeutung übertreffen würde, und eben dies ist wirklich der Fall.
Die Theorie verlangt auch, daß bei den Vertebraten mit panorami-
schen Sehen, bei welchen jedes Auge unabhängig funktioniert
fmonolaterale Pupillenreaktion, Mangel an Konvergenz etc.) die
gleichseitigen optischen Reflexfasern sehr spärlich seien und diese
aus der Theorie gewonnene Deduktion stimmt vollkommen mit den
Tatsachen überein. Denn Edinger, der diesen Punkt bei den
Fischen, Reptilien und Batrachiern sehr genau studiert hat, beschreibt
und zeichnet als gekreuzt die große Mehrzahl der absteigenden im
Lobulus opticus entspringenden Bündel (Traetus teeto-spinales und
tecto-bulbares) nicht zu gedenken der dorsalen Kreuzung des Tec-
tums, welche vielleicht den absteigenden in der ventralen Region
dieses Organs nicht gekreuzten Fasern entsprechen könnte. Wir
glauben trotzdem nicht, daß selbst bei den niederen Wirbeltieren
die homolateralen Fasern ganz fehlen, da das Zusammenwirken ge¬
wisser Augenhowegungon — die bilaterale Kontraktion einiger
Augenmuskel erfordern.“
Beim Oehör. Oeschmack und Geruch ist zwar nach Ca jal eine
doppelte Leitung vorhanden, aber in die eine Hemisphäre gelangen
nur die Eindrücke hoher Töne und entsprechender Geruchs- und
Geschmacksempfindung, in die andere tieferer Töne etc., wodurch
jede Hemisphäre eine einheitliche Empfindung hat und durch Ver-
13
bindung beider Hemisphären die Einheitlichkeit der Gesamtempfin¬
dung gewahrt wird.
Der Wundtsche (zweite) Lösungsversuch.
Spitzer und W u n d t erheben gegen die C a j a 1 sehe Hypo¬
these gewichtige Einwendungen. Während aber Spitzer nur eine
sehr scharfe Kritik übt, um dann seine eigene ganz andersartige
Hypothese zu entwickeln (s. darüber weiter unten), sucht W u n d t
aus der C a j a 1 sehen Hypothese einen gewissen Kern als brauch¬
bar herauszuschälen und diesen Kern in einer Weise umzugestalten,
daß wenigstens die totale und partielle Sehnervenkreuzung funk¬
tionell erklärt werden kann. Er sagt darüber in der sechsten Auf¬
lage seines Lehrbuches folgendes:
,,— diese sinnreiche Hypothese läßt sich doch, so wahrschein¬
lich es ist, daß zwischen Sehnervenkreuzung und binokularer Syner¬
gie ein Zusammenhang besteht, in dieser Form unmöglich durch¬
führen, weil sie schon anatomisch auf Schwierigkeiten stößt, außer¬
dem aber auf Voraussetzungen über die Natur des Sehaktes beruht,
die mit unserer sonstigen Kenntnis desselben, und die im Grunde
auch mit allem dem. was wir über die Beschaffenheit und den
Verlauf der Leitungsbahnen und ihre Endigungen in der Hirnrinde
wissen, in Widerspruch stehen.“
Der C a j a 1 sehen Hypothese liegt nach W u n d t und Spitzer
die Vorstellung zugrunde, daß das Bewußtsein selbst in der Hirn¬
rinde residiere und dort gleichsam ein genaues photographisches
Abbild der Wirklichkeit wahmchme. das eben durch die Einrichtung
der totalen resp. partiellen Kreuzung dort projiziert werde. Diese
Anschauung wird von W u n d t und besonders Von Spitzer als
ganz unhaltbar zurückgewiesen. Man müßte dann, meint W u n d t,
sich mit der Annahme helfen, daß in jedem individuellen Gehirn die
durch die Rindenfaltungen entstehenden Desorientierungen der
Bilder durch eine merkwürdig genaue Adaption der Verteilung der
Kreuzungsfasem wieder ausgeglichen würden. Dazu komme noch
der Umstand, daß beim Linsenauge das Bild des Objekts nicht nur
horizontal, sondern auch vertikal invertiert werde. Es müßten also,
wenn die Kreuzung nach C a j a 1 dazu da sei, um die horizontale
Invertierung zu beseitigen, die Seilfasern auch in vertikaler Rich¬
tung kreuzen. Eine solche Kreuzung bestehe aber nicht. Es gäbe
für die Auffassung der Gegenstände in aufrechter Lage trotz der
optischen Umkehrung ihrer Bilder eine sehr viel einfachere und
14
plausiblere Erklärung, Überall, wo das Sehorgan zu einem mit Bild¬
umdrehung verbundenen dioptrisehen Apparat geworden ist, liegt
aueh der Drehpunkt des Auges nicht mehr, wie bei den gestielten
Augen der Wirbellosen, hinter dem Auge im Innern des Tierkörpers,
sondern in einem Punkte im Auge selbst. Durch diese Verlegung
des Drehpunktes in das Innere des Auges sei die Umkehrung des
Bildes ohne weiteres kompensiert, „denn nach den vor dem Dreh¬
punkt gelegenen .Stellungen und Bewegungen der Fixierlinie fassen
wir die Lageverhältnisse der Gegenstände auf, nicht nach den hinter
ihm gelegenen oder nach dem Netzhautbilde, dessen Lage uns an
und für sich ebenso unbekannt ist, wie das Lageverhältnis des hypo¬
thetischen Bildes im Sehzentrum, von dem wir nicht einmal wissen,
ob es wirklich existiert. An sich ist es in der Tat viel wahrschein¬
licher, daß an Stelle desselben vielmehr ein System von Erregungen
anzunehmen ist. das den verschiedenen gleichzeitig beim Sehen be¬
teiligten sensorischen, motorischen und assoziativen Funktionen
entspricht.“ 4
Ebenso wie durch den Bewegungsmechanismus des Auges beim
monokularen Sehen das umgekehrte Bild kompensiert wird, so
werden durch den gleichen Mechanismus nach Wundt beim bino¬
kularen Sehen das rechte und linke Netzhautbild zueinander orien¬
tiert. Die richtige Orientierung zweier Hälften eines panoramischen
Bildes, wie sie Tiere mit seitlich gestellten Augen haben, beruhe
darauf, daß ein kontinuierlich aus der einen in die andere Hälfte
des Gesichtsfeldes übertretender Gegenstand in seiner Bewegung
keine Diskontinuität erleidet. Diese Bedingung ist dann erfüllt,
wenn gleich gelegene Augenmuskeln bei der Fortsetzung der
Bewegung symmetrisch innerviert werden. „Ist das Objekt von
der Blicklinie des rechten Auges in Fig. 2 (Fig. 97 von Wundt)
von a bis b verfolgt worden, so muß sich — nun von b bis c die
Innervation der Blicklinie des linken Auges kontinuierlich an¬
schließen, d. h. es muß der Innervation des rechten Rectus internus,
dessen Zugrichtung durch die unterbrochene Linie U angedeutet ist,
die des linken Rectus internus i 2 derart zugeordnet sein, daß sie
unmittelbar dieselbe ablöst, um dann in die Innervation des linken
Extemus c 2 überzugehen. Nun fehlt es zwar an jedem Anlaß, im
Sehzentrum irgendwie eine Bildentwerfung, die der auf der Netz¬
haut auch nur entfernt ähnlich wäre, anzunehmen. Dagegen ist es
nicht unwahrscheinlich, daß die Auslösungseinrichtungen für die
Übertragungen sensorischer in motorische Impulse hier in einer ge¬
wissen Symmetrie angeordnet sind.“ Wundt setzt nun ausein-
15
ander, daß, wenn keine Sehfaserkreuzung existierte, die Innervation
zuerst rechts von innen nach außen wandern würde, um dann, auf
das linke Sehzentrum überspringend, plötzlich sich von außen nach
innen, also im entgegengesetzten Sinne zu bewegen. Die Kreuzungs¬
erscheinung ist daher nach Wundt als eine von vornherein beide
Gebiete (sensorisches sowohl wie motorisches) umfassende, ihr Zu¬
sammenwirken vermittelnde Einrichtung anzusehen.
Fig. 2. Schema des binokularen Sebaktes bei einem Wirbel¬
tier mit seitlich gestellten Aagen und totaler Sehnerven-
kreoznng. Nach W. Wandt.
Wie bei diesem Mechanismus die totale Kreuzung der Seh¬
fasern für das panoramische Sehen notwendig sei, so sei die partielle
Kreuzung für das stereoskopische erforderlich. Auch das wird von
Wundt des näheren erläutert. Dann fährt er fort: ,,In keinem der
zahlreichen anderen Fälle jener vom Rückenmark an fortwährend
sich wiederholenden Kreuzungen von Leitungsbahnen sind die funk¬
tionellen Beziehungen dieser Erscheinung so augenfällig wie bei der
Optikuskreuzung. Dennoch wird man daraus noch nicht schließen
10
dürfen, alle anderen seien erst Wirkungen der Optikuskreuzungeil.
Vielmehr wird die gleiche »Synergie, die auch für die aridem übrigen
Sinnes- und Bewegungsorgane und namentlich für die Beziehungen
zwischen Sinneserregungen und motorischen Erregungen besteht,
überall selbständig analoge Wirkungen herbeiführen können, die sich
dann allerdings wieder wechselseitig unterstützen mögen.“
.Mit der Kreuzung der Bahnen scheint es Wundt auch im Zu¬
sammenhang zu stehen, daß bestimmte Zentren zwar in beiden Hirn-
hälften angelegt sind, aber in der einen Hälfte vorwiegend zur Aus¬
bildung gekommen sind. Dies gälte speziell für das Sprach¬
zentrum in der linken Hemisphäre, in der auch wegen der kreuzen¬
den Bahnen das Zentrum für die motorischen Innervationen der
rechten Körperseite ihren Sitz haben.
Den Einwendungen von Wundt und Spitzer gegen die
C a j a 1 sehe Theorie kann man wohl im ganzen zustimmen. Außer¬
dem läßt sich noch folgendes anführen: Nach Cajal soll die Augen¬
linse die Urheberin einer Umwälzung im Aufbau des zentralen
Nervensystems sein, wie sie allgemeiner und durchgreifender in
keiner anderen Art stattgefunden hat. Wäre die Linse am Auge
nicht aufgetreten, so gäbe es wahrscheinlich auch keine kreuzenden
Bahnen. Man muß sich dies vergegenwärtigen, daß eine kleine
Bildung am Tierauge eine solche Umwälzung im Aufbau und in der
Beherrschung der körperlichen Funktionen herbeigeführt haben soll,
um die Kühnheit einer solchen Hypothese anzustaunen. Aber ich
glaube, Cajal s Hypothese steht auf recht schwachen Füßen. Ob¬
wohl der Autor anführt, daß man über den Verlauf der Sehbahnen
bei den Wirbellosen noch keine genauen Kenntnisse hat, so nimmt
er an, daß bei denjenigen Wirbellosen, die Linsenaugen haben, eine
totale Kreuzung der Sehfasem stattfindet. Das muß er notgedrun¬
gen tun, weil sonst seine Hypothese keine allgemeine Geltung hätte.
Auf der anderen Seite aber betont er ausdrücklich, daß bei den
Wirbellosen, also auch bei denjenigen mit Linsenaugen, diese Seh¬
faserkreuzung nicht eine Kreuzung der anderen Bahnen herbeigeführt
hat: solche existieren nach ihm bei den Wirbellosen nicht, wie über¬
haupt bei ihnen keine zentralen Bahnen im eigentlichen Sinne des
Wortes existieren. Hier stimmt also seine Theorie nicht, denn es ist
gar nicht einzusehen, warum die Natur bei den Wirbellosen diejenige
Folge, welche C a j a 1 als natürliche und konsequente annimmt, nicht
hat eintreten lassen, während sie das bei den Wirbeltieren durch-
gehends bewirkt hat. 0 a j a 1 s Hypothese scheitert vollständig, weil
er das Nervensystem der Wirbellosen nicht berücksichtigt hat, weil
I
17
er ohne genaue Kenntnisse der Verhältnisse der Nervenbahnen bei
diesen Tieren von ganz irrigen Voraussetzungen ausging. Auch
Rädl rügt diesen Fehler Cajals, indem er p. 62 ausführt:
„R. y Ca jal geht in seiner Theorie der Nervenkreuzungen von dem
Zusammenhang zwischen dem Bau und der Lage des Auges und dem
Verlauf des zugehörigen Sehnerven aus; weil es nun unter den
Wirbellosen mannigfache Formen der Sehorgane gibt (während die
Augen der Wirbeltiere verhältnismäßig gleichförmig sind), so wäre
es natürlich gewesen, wenn er seine Theorie vorwiegend auf die
Analyse des Nervensystems der Wirbellosen gegründet hätte. C a j al
hat aber kein Bedürfnis gefühlt, sich mit dem Nervensystem der
Wirbellosen zu befassen.“
Ca jal nimmt ferner an, daß bei niederen Tieren die optischen
Empfindungen alle übrigen Sinneseindrücke überwiegen und fast
ganz das geistige Leben des Tieres beherrschen. Das ist wohl auch
nicht richtig. Denn bei den niederen Tieren, sowohl bei den Wirbel¬
losen. wie bei den Wirbeltieren, treten die lokalisierte Sehempfindung
und die Sehorgane mit ihren entsprechenden Zentren gegenüber den
Tast- und Riechempfindungen und deren Organe weit zurück. Man
nehme hier nur die Beobachtungen, die z. B. an den Bienen gemacht
sind, oder diejenigen, die an niederen Wirbeltieren mit ihren gewal¬
tigen Riechorganen zur Erscheinung kommen. Die niederen Tiere
sind wesentlich mit Sinnesorganen ausgestattet, welche für die un¬
mittelbare Nähe eingerichtet sind und darin eine sehr hohe Aus¬
bildung erlangen. Die Sehorgane sind wohl anfänglich auch nicht
für Sinneseindrücke aus der Nähe eingerichtet und vervollkommnen
sich erst im Laufe der Entwicklung für Sinneseindrücke aus der
Ferne.*) Die Einrichtung der kreuzenden Bahnen ist aber phylo¬
genetisch eine viel frühere Errungenschaft, und daraus ist zu ent¬
nehmen, daß diese Einrichtung nicht vom Linsenauge geschallen
sein kann.
Gegen die Ca jal sehe Annahme, daß die Sehfunktion die pri¬
märste und bedeutendste im Hinblick auf die Ausgestaltung der
tierischen Organisation und speziell des Faserverlaufes im Zentral¬
nervensystem gewesen ist, sprechen auch noch die Erfahrungen der
Myelogenese. In einer erst kürzlich erschienenen Arbeit von T i 1 n e y
und C a s a in a j o r über die Markentwicklung bei der Katze heißt es:
„Anditory sense is the onlv special sense, which at birth is provided
with a completely myelinized systern of fibrös. 1t is probable, that
*) Von dieser speziellen Sollfälligkeit ist natürlich die allgemeine
Empfindsamkeit des tierischen Körpers auf Lichteinwirkungen zu trennen.
Jacobs ohn-Lask, Die Kreuzung der Nervenbahnen usw. (Ablull. H. 26 .) 2
18
tliis is the only one of the special senses whioh eontributes to the
directive influcnce guiding the early movements of tiie animal. The
must important source of tliis dircctive in'iuence however is the
trigeminal innervation.“ -— ,,On the second day alter hirtli the optic
nerve and tract are entirely devoid of myelin sheaths: the eyes are
then closed. On the sixth day the optic tract is myelinized up to the
superior colliculus, the pulvinar and the lateral geniculate bodv.
(•n the seventh day the animal opens its eyes.“
Was die zweite W undt sehe Hypothese anbetrifft, so ist sie
eine Modifikation der Cajalschen. Man sollte eigentlich an¬
nehmen, daß nach seiner Anschauung, wonach der Drehpunkt des
Linsenauges innerhalb des Bulbus liege, die Kreuzung gar nicht
nötig wäre. Trotzdem nimmt er an, daß die Zentren für sensorische
und motorische Impulse in einer gewissen Symmetrie in der Rinde
angeordnet sind, und daß die Sehkreuzung notwendig wäre, damit
die symmetrische Innervation der Augenmuskeln in Aktion treten
könne, um die Blicklinie kontinuierlich von einer Seite zur anderen
zu verschieben. Das wäre indessen einleuchtender, wenn auch die
motorischen Augenhahnen sich symmetrisch zu den sensorischen
Sehnervenbahnen verhielten. Das ist aber nicht der Fall. Die
(Grundlage also, auf der W u n d t seine Hypothese aufbaut, scheint
mir etwas bedenklich zu sein. Indessen mag dem sein, wie ihm
wolle, so bleibt die W undt sehe Hypothese eine rein funktionelle
von ganz allgemeiner und unbestimmter Natur, von der man sagen
kann, daß sie vielleicht zutreiTen mag, aber ebenso, daß die Funk¬
tion sich auch ganz anders abspielen kann. Daß die Funktion auf
den Aufbau und die Ausgestaltung des tierischen Körpers einen
bestimmenden Einfluß ausgeübt hat, ist selbstverständlich, aber man
muß verlangen, um befriedigt zu sein, daß man diesen Zusammen¬
hang klarer durchschauen kann. Man wird der Lösung des Problems
nur näher kommen, wenn man Aufbau und Funktion des Nerven¬
systems vom Beginn der tierischen Organisation verfolgt.
Der Spitzersche Lösungsversuch.
Auf diesem Wege finden wir schon Spitzer bei seinem
Lösungsversuch. Leider macht er auf halbem Wege halt. Der Autor
geht, um das Problem zu lösen, auf die Entwicklung des Verte¬
bratenkörpers aus dem der Avertebraten zurück. Nach seiner An¬
sicht. stammen Anneliden, Enteropneusten, Tunikaten und Verte¬
braten von einer gemeinsamen Ahnenform her. Bei der Ver¬
gleichung der phyletisehen Entwicklung dieser vier Gruppen aus
19
einer gemeinsamen Ahnenform gellt Spitzer von einem der
Gastrula nahestehenden Stadium aus und führt diese Entwicklung
in der Formgestaltung für alle vier Gruppen vergleichend durch,
ln diesem Entwicklungsversuch interessiert für das vorliegende
Problem diejenige Phase, wo es zur Bildung der Chorda kommt.
Spitzer ist, wie andere Autoren auch (s. weiter unten), der An¬
sicht, daß ein Teil des ursprünglichen Darmkanals der Wirbellosen
sich im Laufe der Phylogenese zum Zentralkanal umgewandelt hat,
aber nicht der ursprünglich dorsal, sondern der ursprünglich ventral
gelegene Teil. Letzterer sei durch eine Drehung des Körpers in der
Längsachse um 180 Grad dorsal gelagert worden, während der
ursprünglich dorsale Teil ventral gerückt sei. (Fig. 3 und 4.) Die
Drehung hätte sich vollzogen, weil der dorsale Teil als der von
Nahrungsmassen schwerer erfüllte der Schwere folgend nach und
nach herabgesunken sei, und weil die Lage der Chorda dorsalis als
Schwebeapparat dies begünstigt hätte. Da nun die Chorda sich mit
ihrer vorderen Spitze nur bis zur Infundibulargegend erstreckte, so
sei die Drehung an diesem Punkte erfolgt. Der vor ihr gelegene
Körperabschnitt, sowohl der ventrale wie dorsale, hätte sich an der
Drehung nicht beteiligt, sondern sei in der früheren Lage geblieben.
Kiemenspalten Chorda Darm
Fig. H —6. Vier Stadien ans der Phylogenese des Chordatenstammes
schematisch dargestellt nach A. Spitzer.
Fig. 3. Vor der Torsion; Nenrostoniallöffel nnd -rinne noch offen
(im hinteren Abschnitt geschlossen). Die Chorda beginnt sich vom
Darm abzuschnüren, reicht aber nur bis zum Beginn des Neurosto-
mallöffels; Kiemendarm vorne blind geschlossen, nur mit seitlichen
Kiemenspnlten.
Der vordere ventrale Teil, der Mundtriehter (Stoniadciim) hat ur¬
sprünglich mit dem hinteren ventralen Darmabschnitt in breiter Kom¬
munikation gestanden. (Fig. 8.) Durch die Drehung des im Bereich der
Chorda liegenden Abschnittes sei diese Kommunikation eingeschnürt
worden und beide Abschnitte hätten sieh dann gelöst. Fs sei da-
2 *
20
Neurale Hypophyse
Neuralrohr biw.
Deuteroneuraxon
Chorda
Darm
Fig. 4. Nach der Torsion. Neoralrohr geschlossen, Nenrostomaltrichter
gebildet; an der Grenze beider, d. h. an der Kreuzungsstelle von Neurosto-
mal- und Darmkanal beide Rohre eingeschnürt.
durch ferner ein dorsaler und ventraler Reeessus entstanden. Der
dorsale sei am Vertebratengehim des Recessus infundibuli (resp.
die neurale Hypophyse), der ventrale wäre die embryonal nach¬
weisbare Rathkesche Tasche (resp. die spätere orale Hypophyse).
Proloneuraxon
Recessus terminalis infundibuli
Praeoraler
Darm
fobliteriert)
Mundbucht
Rathkesche primitive Sesselsche
Tasche Rachenhaut Tasche
Fig. 5. Nenrostomaltrichter in die Vorderwand des dorsalwärts aufgebogenen
Darmes durchbrechend (primitive Rachenhaut). Die Verbindung zwischen
Mundbucht und Neuralrohr aufgehoben. Beginnende Vorwölbung der
Vorderwand des Deuteroneuraxonrobres, Loslösung der Protoneuraxonplatte
von der Dorsalwand des ehemaligen Neurostonaltrichters, der praeinfundi-
buläre Teil des praeoralen Darmes obliteriert.
Fig. 5. Ebenso hätte aber ursprünglich auch der vordere dorsale
Abschnitt mit dem hinteren dorsalen in breiter Verbindung gestanden.
Fig. 3. Durcii die Drehung sei auch zwischen diesen Abschnitten
eine Einschnürung entstanden, die sich allmählich ebenso gelöst
21
Protoneuraxon
Neuralrohr bzw
Deuteroneuraxon
Chorda
Darm
Fig. 6. Die Protoneuraxonplatte hat sich kapuzenartig über die vordere
Wölbung des Deuteroneuraxonrohres hinübergeschlagen; die Nasengrube ist
in die dorsale Wand der Mundbucht einbezogen.
hätte. Der vordere dorsale Abschnitt sei allmählich verkümmert (Fig. 5)
und schließlich verschwunden; der hintere, welcher durch die
Drehung nach ventral gerückt sei, bildete an der Abschnürungs¬
stelle auch einenRecessus, die sog. Sesselsche Tasche. Fig.O. Dieser
hintere Teil übte in seinem vorderen Bezirk respiratorische Funktio¬
nen aus, und diese Funktion hätte er auch weiter beibehalten, auch
als in notwendiger Folge, das ventrale Stomadeum Anschluß an ihn
gesucht, sich zuerst an ihn angelegt und schließlich mit ihm durch
Durchbruch der beiden gegenseitig aneinander liegenden Wände
(Rachenwand) in Kommunikation gekommen wäre. Dadurch sei ein
neuer Darmtraktus entstanden, der in seinem vorderen, hinter dem
Stomadeum gelegenen Abschnitt Respirationsfunktionen ausübe
(Kiemendarm), wie es auch noch gegenwärtig der Vertebratentypus
zeige. Am Grunde des Stomadeum kreuzten sich also Respirations¬
und Digestionstraktus, und ersterer stände außer durch den Mund¬
trichter noch durch einen neu über dem Stomadeum entstandenen
Kanal, dem Nasenrachengang, mit der Außenwelt in Verbindung.
Auch die hinteren Abschnitte der beiden Teile des alten Digestions-
traktus, die ursprünglich ein gemeinsames Rohr bildeten, trennten
sich, indem der embryonal noch vorhandene Canalis neurentericus
(Fig. 3) im Laufe der Ontogenese obliteriere und verschwinde.
Die anchestrale Neuralplatte besteht nach Spitzer aus zwei
Längsbändem oder Strängen, von denen jeder ursprünglich haupt¬
sächlich der homolateralen Seite angehört. Beide Stränge reichten
vorne bis in den Hypophysentrichter hinein. Das Zentralnerven¬
system zerfiel gleich dem Körper in zwei Hauptabteilungen, in den
im Protosoma (Kopfteil) gelegenen Protoneuraxon und in den
dem Deuterosoma zugehörigen Deuteroneuraxon. (Fig. 4.) . Die
Protoneuraxonhälften schwollen sogar am Trichter mächtig an. da die
Trichter- und Kopfregion besonders reich an Sinnesorganen ausge¬
stattet war. Diese vorderen Ganglionmassen entwickelten sich des¬
halb schon früh zu höheren Zentralorganen gegenüber dem gesamten
hinten nachfolgenden Markrohr. Bei der Torsion blieben die beiden
Hälften des l'rotoneuraxons in ihrer früheren Lage, während die
rechte und linke Hälfte des Deuteroneuraxons durch die Drehung des
Deuterosoma um 180° ihre Lage vertauschten. Gleichzeitig ge¬
langten letztere auf die Dorsalseite des Deuterosoma, während das
mächtige l’rotoneuraxon schon infolge der Umbildung des Neurosto-
mallölTels zu einem Trichter eine dorsalere Lage erhielt. Vollendet
wird die dorsale Lage des l’rotoneuraxons dadurch, daß der
vegetative Teil des inneren Löffels- oder Trichterepithels sich
wegen der später rein vegetativen Funktion des Trichters
über dessen ganzer unterer Fläche ausbreitet und so das Zentral¬
nervensystem von dieser Seite ausschaltet. Später dringt dann
Bindegewebe zwischen die nutritorische und neurale Platte und
vervollständigt die Trennung. Die sich kreuzenden Verbindungs¬
stücke des Proto- und Deuteroneuraxons aber umgreifen als
Folge der Torsion, das eine dorsal, das andere ventral, den engen
Trichterhals, und erst, wenn dieser durchschnürt ist, wozu vielleicht
auch die Strangulation der sich kreuzenden Nervenstränge beiträgt,
gelangt auch der von unten umgreifende Nervenstrang mit dem
dorsalen in eine Ebene. Der ganze Neuraxon bietet jetzt, von der
Dorsalseite aus betrachtet und das Rohr geschlitzt gedacht, schema¬
tisch das Bild zweier median verklebter Bänder, die man dicht
hinter einer vorderen Anschwellung übers Kreuz gelegt und ihrer
ganzen übrigen Länge parallel nebeneinander gelagert hat. Das
Nervenrohr kann natürlich nur bis zur primären Kreuzungsstelle,
dem Infundibularfortsatz, reichen, und es muß sich, wie vorher aus¬
einandergesetzt wurde, beim weiteren Längenwachstum in einen dor¬
salen und vorne konvexen Bogen legen, der sich mit dem nach vorne
gekehrten Teil seiner dorsalen Wand in die mehr kompakte Masse
des Protoneuraxons hineingräbt. So lagert sich die Hauptmasse des
Protoneuraxons (Großhirn, Teetum optieum) vorne und dorsal der
dorsalen Wand des vorderen Hirnrohrstückes auf (Fig. 6), wenngleich
einTeil auch seitwärts (Thalamus) und sogar ventral das Hirnrohrende
umgreift. Der Protoneuraxon ist gewissermaßen handschuhförmig
oder haubenförmig über das vordere Hirnrohrende gestülpt, dorsal
aber viel weiter als ventral. So erklärt es sich, warum die mäch¬
tigsten Hirnteile, die vor der Kreuzung liegen (Großhirn, Teetum
optieum) als dorsale Bildungen des Hirnrohres angelegt werden. Die
23
ventrikulären Höhlen dieser Teile gehören aber ganz zum Deutero-
neuraxon, dessen Rohr mit sekundären Ausstülpungen sich in die
Masse des Protoneuraxons hineingräbt. (Seitenventrikel.) Die
Wandung der Holden und die daraus sich bildenden grauen Massen
gehören also überall dem Deuteroneuraxon an.
Vielleicht, sagt Spitzer, ist dieses Verhältnis des Proto¬
neuraxons zum Hirnrohr geeignet, auf einen merkwürdigen Gegensatz
im Bau des Großhirns und des Rückenmarks einiges Licht zu werfen.
Die graue Substanz des Medullarrohres entwickelt sich aus den den
Zentralkanal begrenzenden Zellen, während die weiße Substanz an
den nach außen gewendeten Fortsätzen der Ganglienzellen entsteht
und zur Verbindung der mehr innen entstehenden Ganglienzellen
mit äußeren Organen oder entfernten Hirnteilen dient. Daraus er¬
klärt es sich, daß die graue Substanz des Rückenmarks ihrer Matrix,
der Innenfläche des Zentralkanals näher gelagert ist. als die weiße.
Auf die offene Medullarplatte bezogen, liegt die graue Substanz
oben« die weiße unten. Das vor der Kreuzungsstelle gelegene Stück
des Zentralnervensystems hat aber eine umgekehrte Lage. Hier ist
das Grau gegen die Höhle des Löffels also ventral, das Markweiß
dorsal gerichtet, und so bleibt es auch nach der Ausschaltung der
Nervenmasse von der inneren Bekleidung des Mundtrichters durch
zwischengeschobene Schleimhaut und Bindesubstanz. Indem nun
das sich vorwölbende Hirnrohr mit seiner dorsalen Wand über diesen
Teil des Zentralnervensystems hinüberrollt, oder der Protoneuraxon
nach oben und rückwärts wie ein Mantel über das Hirnrohr hinüber¬
geschlagen wird, der Protoneuraxon also mit seiner freien dorsalen
Fläche sich an das Hirnrohr anlagert und eine zweite Außenhülle
um die sekundären Ausbuchtungen des Rohres bildet, kommt die
ursprünglich dorsale weiße Fläche dieses Mantels nach innen auf die
Ventrikelwand, die graue aber nach außen zu liegen. So erklärt es
sich, warum am Großhirn umgekehrt« wie am Rückenmark das.
Rindengrau nach außen, das Markweiß nach innen dem Ventrikel
zugewandt ist. Auch im Tectum opticum liegt der motorische
Tractus tecto-bulbaris und -spinalis als tiefes Mark in unmittelbarer
Nachbarschaft des deuteraxialen Zentralorgans also tiefer als das
Ursprungsgrau dieser Bahnen. Und dasselbe zeigt sich beim dritten
epenzephalen Gebilde, dem Kleinhirn.
Eine Schwierigkeit findet der Autor allerdings l>cim Kleinhirn.
Läßt er es als ein Bestandteil des Deuteraxons gelten, so sind zwar
die Verbindungen mit dom Rückenmark homolateral und mit den
zerebraleren Teilen gekreuzt (Bindearme), aber das Lageverhältnis
24
von Rindengrau uml Markweiß ist der sonstigen Lagerung dieser
beiden Bestandteile entgegengesetzt. Diese Lagerung wird aber
erklärlieh, wenn man das Kleinhirn als Protoneuraxonteil auffaßt.
Tut man letzteres, so muß man nach Spitzer zur Erklärung seiner
Verbindungen eine nachträgliche Vertauschung seiner beiden Seiten
annehmen, und diese sei vielleicht erfolgt als eine Anpassung an die
benachbarten Deuteroneuraxonteile, deren Einwirkung es als
weitest vorgeschobener Protoneuraxonteil am meisten ausgesetzt
war. Durch die Drehung des Kleinhirns um die Vertikalachse seien
auch die Troehlcariswurzeln gekreuzt worden, die ursprünglich als
dorsale motorische Wurzeln (wie die Faziales) am hinteren Rande
des Cerebellum dorsal und seitlich ausgetreten wären. Die
Selbständigkeit dieser aufgestülpten dorsalen Teile des Proto-
neuraxons ist nach Spitzer auch ontogenetisch angedeutet.
Sie sind pilzartig dem übrigen Rohre aufgesetzt und auch
am entwickelten Gehirn läßt sich die Grenze . stellenweise
ziemlich scharf bezeichnen. So grenzt sich am Mittel-
him das zum Protoneuraxon gehörige Tectum opticum, das mit
dem Großhirn direkte, mit den tieferen Zentralgebieten gekreuzte
Verbindungen eingeht, ziemlich scharf ab vom Zentralgrau um den
Aquaeductus, das bereits peripher von der Kreuzung der zentralen
Bahnen gelagert ist, da aus ihm die peripheren Nerven (Oculomo-
torius, Trochlearis, Quintus mesencephali) entspringen. Nicht über¬
all bleibt aber die genetische Abgrenzung so gut erhalten. Die
Eingrabungen der deuteroaxialen Ventrikelhöhlen in die Proto-
neuraxonmasse bzw. die Ausstülpungen der letzteren auf die erstere
bringt die verschiedenen Teile beider Hauptabteilungen in nähere
Beziehungen.
Um die anderen nicht an der Torsionsstelle gelegenen Kreu¬
zungen und die in der Phylogenese sich überhaupt zeigenden weite¬
ren Ausgestaltungen der kreuzenden Systeme zu erklären, stellt
Spitzer drei wichtige, den feineren Bau der Neuraxe beherr¬
schende Bauprinzipien auf:
1. Das Prinzip der Kondensation des funktionell Zusammen¬
wirkenden. Es bewirkt, daß wie die funktionell gleich¬
artigen, so auch die zu einer höheren funktionellen Einheit
zusammenwirkenden Elemente (graue wie weiße Substanz)
sich im Laufe der Phylogenese zu einer anatomischen Einheit kon¬
densieren und sich von dem Fremdartigen immer mehr abgrenzen.
2. Das Prinzip der Dissemination oder Dissoziation des Indif¬
ferenten und ungleich Differenzierten. Es drückt aus, daß das noch
— 25 —
Undifferenzierte, Indifferente zum Teil passiv über ein möglichst
großes Gebiet zerstreut wird, um das Material für lokalisierte, durch
örtliche Faktoren bewirkte Differenzierungen zu liefern, und daß
sich auch das ungleichartig Differenzierte, dessen einzelne Produkte
auseinander streben, anatomisch von der unifizierenden Wirksam¬
keit der elterlichen Funktion zu befreien trachtet.
3. Das Prinzip der kleinsten Strecke. Es besagt, daß die
Natur bei der Herstellung irgendeiner Verbindung oder beim Auf¬
bau eines Organs den möglichst kürzesten Weg zur Erreichung
ihres Zieles einschlägt.
Alle drei Prinzipien wirken in dem Sinne, daß sich Teile des
Protoneuraxons wie des Deuteroneuraxons aneinander vorbei in das
Gebiet der anderen Hauptabteilung vorschieben und so die Grenzen
beider Gebiete verwischen. Sie wirken analog auch auf die Loka¬
lisation der Kreuzung. Ursprünglich liegt die Kreuzung am Vor¬
derende des Hirnrohres in der Nachbarschaft des Infundibulum.
Ihre noch indifferenten oder funktionell auseinanderstrebenden
Elemente werden aber bald nach dem Prinzip der Dissoziation
über die ganze Hirnraphe zerstreut, um dann nach dem Prinzip
der Kondensation an verschiedenen Punkten zu funktionell gleich¬
artigen oder gleichzieligen Gruppen vereinigt zu werden. An wel¬
chen Punkten sich die einzelnen Kreuzungen kondensieren, dafür
können physiologische, systematisch-anatomische und auch mecha¬
nische Momente (Flechsig) in Betracht kommen. Für die Lage
der Optikuskreuzung war die Lage der Augen wahrscheinlich an
der Grenze von Proto- und Deuterosoma. für die Schleifenkreuzung
vielleicht die Lage der Hinterstrangskerne maßgebend, für die
Pyramidenbahn vielleicht die funktionelle Zusammengehörigkeit
mit der Schleife. Die Kreuzung als ganzes Phänomen erfordert aber
zu ihrem Zustandekommen eine universelle und einheitliche Ur¬
sache, während die spezielle Lokalisation der Einzelkreuzungen
eine lokalisierte und fallweise verschiedene Teilursache voraussetzt.
Ein weiterer Effekt der vorher erwähnten drei Prinzipien besteht
darin, daß zwei sich kreuzende Stränge, die sowohl bei der Ur-
kreuzung als auch bei den speziellen Kreuzungen anfangs einfach
übereinander gelagert waren, im Laufe der Phylogenese in immer
kleinere und zahlreichere Einzelbündel zerfallen, die sich verflech¬
ten, bis eine vollständige gegenseitige Durchdringung der Kreuzungs¬
bündel zustande kommt (z. B. die sich verändernde Optikuskreuzung,
einmal aus zwei übereinander liegenden Bündeln bei niederen Wirbel¬
tieren und aus ihrer Verflechtung bei höheren).
Auch Spitzer ist der Ansicht, daß sich die partielle Kreuzung
erst aus der totalen herausgebildet hat. Dabei hätten funktionelle
Faktoren eine große Holle gespielt, wobei der Hauptfaktor da*
Prinzip der Kondensation des funktionell Zusammenwirkenden ge¬
wesen sei. Das Vertebratenauge stellt nach Ansicht des Autors viel¬
leicht das Kondensationsprodukt segmentaler, oder doch in mehr¬
facher Zahl auftretender Organe dar. Da der Protoneuraxon mit den
deuterosomatischen Sinnesorganen in gekreuzter, mit den prosomati¬
schen jedoch in ungekreuzter Verbindung steht, so muß ein Organ,
das aus der Konzentration von Elementen entstanden ist, die zwar
alle derselben Seite, aber zum Teil dem Proto-, zum Teil dem Deutero¬
soma angehört halten, sowohl mit dem gleichseitigen als auch mit dem
gekreuzten Protoneuraxon (Dachhirn) verbunden sein. Die weitere
Zu- und Abnahme der ungekreuzten Fasern mag dann vom Gebrauch
oder Nichtgebrauch abhüngeu. woraus sich die Übereinstimmung der
anatomischen Ausbildung mit der funktionellen Verwertung der
partiellen Kreuzung erklärt.
Wahrscheinlich dünkt es dem Autor, daß die homolaterale Be¬
ziehung überhaupt erst sekundär entsteht. Auch hier spielt das
Prinzip der Kondensation die Hauptrolle. Dabei können einzelne
Sinnesorgane von Haus aus einheitlich sein, da sich die hier in
Betracht kommende Kondensation hauptsächlich im Zentralnerven¬
system abspielen dürfte, indem die zentralen Bahnstücke derjenigen
Fasern, die in enge funktionelle Beziehungen zu Faserenden der ande¬
ren Seite treten, zu diesen hinüberwandern. Dieses Hinüberwandcm
geschieht aber nicht in der Weise, daß die Fasern ihre ursprüng¬
lichen Verbindungen aufgeben und neue in der homolateralen Hirn¬
hälfte anknüpfen, sondern das zentrale Faserstitck wandert samt
seiner End- oder Ursprungszelle zu den Synergiden der anderen
Seite, wobei eine Verbindung mit den Elementen der ehemals gleich¬
seitigen Hirnhälfte lang ausgezogen wird, um zu der nunmehr
kontralateralen Hälfte hinüber zu ziehen. Das späte Auftreten des
Balkens hängt vielleicht zum Teil hiermit zusammen.
Indem so das Prinzip der Kondensation die totale Kreuzung in
eine partielle umzugestalten sucht, wirkt es nach Spitzers An¬
sicht zum Teil auch der Symmetrietendenz des Körpers entgegen,
da es bestehende Asymmetrien zu verstärken trachtet (z. B. Sprach¬
zentrum). Die asymmetrischen Bildungen im Zentralorgan wären
dann Zeichen einer höheren Entwicklungsstufe.
Ich habe die Arbeit Spitzers so ausführlich wie möglich
referiert, viele Stellen sind sogar fast wörtlich zitiert; und zwar ge-
27
schall das, weil ich manches aus der Arbeit für recht wertvoll halte,
wenn ich auch glaube, daß auch Spitzers Lösungsversuch ge¬
scheitert ist.
Spitzers Arbeit zerfällt in drei Abschnitte. Es sind gleich
sam drei Truppenabteilungen, die zu einem Ziele angesetzt werden.
Einmal glaubt er auf Grund seiner Forschungen über die Phylo¬
genese des tierischen Körpers den Aufbau dieses Körpers so kon¬
struieren zu können, daß es zur Torsion des Neurostomairohres
kommt. Die dadurch bedingten Überlagerungen der beiden Hälften
der Neuralplatte vor der Spitze der Chorda dienen ihm dann als
Hauptbasis zur Begründung seiner Hypothese über das Zustande¬
kommen der Kreuzungen im Zentralnervensystem, und drittens
braucht er verschiedene Hilfstruppen in Gestalt seiner drei Bau¬
prinzipien, um die ganze Ausgestaltung der Faserkreuzungen erklären
zu können.
Ob sich der Vertebratenkörper aus seinem wirbellosen Verfahren
so entwickelt hat, wie Spitzer es darlegt, ist nicht zu beweisen.
Man muß anerkennen, daß der Autor sich große Mühe gegeben hat,
für das schwer zu lösende Problem eine Lösung zu finden. Aber
man darf nicht aus dem Auge verlieren, daß es eine künstliche
Konstruktion ist. Andere Forscher, wie z. B. v. Kupffer, Gas-
kell,Delsmanu. a. haben das Problem zu lösen versucht, ohne zu
dem Mittel der Torsion zu greifen. v.K u p f f e r und G a s k e 11 haben
besonders den Larvenzustand von Petroinyzon zur Grundlage ihres
Studiums gemacht, weil dieses niedere Wirbeltier in seinem längere
Fig. 7. Ammocoetes Planeri. 4 mm lang, Kopf median durchschnitten; die Durch¬
bohrung der Rachenhant leitet sich ein. Nach C. v. Kupffer.
28
Zeit sich erhaltenden Larvenzustande noch am ehesten anchestrale
Bildungen erkennen läßt. Wie sich das Zentralnervensystem, speziell
das Gehirn und die ganze Kopf- und vordere Intestinalregion all¬
mählich ausbilden, zeigen die von C. v. Kupffer gegebenen
Figuren 7 und 8. Ich stelle diese Figuren hier zum Vergleich mit
den Spitzer sehen hin und will nur erwähnen, daß hier von einer
Torsion nichts angedeutet ist, und daß die letzte Ablösungsstelle des
Neuralrohres von dem Ektoderm ganz vorne an der Riechplatte ist.
v. Kupffer, der zunächst auch das Ende der Himachse in die
Infundibularregion verlegt hatte, ist später davon zurückgekommen
und sieht das Ende der Achse nunmehr am vorderen Neuroporus.
Es ist ferner bemerkenswert, daß sich nach v. Kupffer das Neural¬
rohr im frühesten Bildungsstadium als ein durchgehends kompakter
Strang erweist.
Welche Bedeutung G a s k e 11 gerade dem Ammocoetes in der
phylogenetischen Entwicklungsreihe zuweist, soll weiter unten aus¬
führlich erläutert werden.
Es ist, soviel ich sehen kann, bei allen Forschern, die sich mit
der Bildung des Wirbeltierkörpers aus dem der Wirbellosen beschäf¬
tigt haben, von einer Torsionserscheinung in der Weise, wie sie
Spitzer darstellt, nichts zu finden.
%i*chj>laitg
Oesophagus
Hypopk.Ardagt
MuncL
Fig. 8. Kombination zweier Medianschnitte durch Kopf und Hirn von
Ammocoetes Planeri (6 mm bis 9 cm lang). Nach C. v. Kupffer.
29 —
Indessen nehmen wir nun einmal an, es hätte sich im Laufe der
Entwicklung alles so abgespielt, wie Spitzer auf Grund seiner
Erwägungen glaubt, daß es tatsächlich geschehen ist. Findet bei
dieser Annahme und in diesem Vorgänge das Phänomen der Kreu¬
zung der zentralen Nervenbahnen seine Erklärung? Spitzer geht
von der Neuralplatte aus, die nach ihm aus zwei Längsbändern oder
Strängen besteht, von denen jeder ursprünglich hauptsächlich der
homolateralen Seite angehört. Das kann doch nur so zu verstehen
sein, daß die Nervenzellen und Nervenfasern, aus denen diese Bänder
bestanden, ganz wesentlich Stationen und Leitungswege zur nervösen
Versorgung der homolateralen Körperhälfte waren; möglicherweise
sind auch ein paar kreuzende Fasern vorhanden gewesen, die gar
keine Rolle spielten. Näheres sagt er darüber nicht, man muß es
nur aus dem Worte „hauptsächlich“ schließen. Aber nehmen wir an,
Spitzer hätte auch darin Recht (wir werden weiter unten darauf
noch näher eingehen), daß die Fasern fast sämtlich der homolateralen
Hälfte angehören. Nun erfolgt also die Torsion in der Infundibular-
region, und dadurch legen sich die homolateralen Stränge über Kreuz.
Die vor dem Drehungspunkt gelegenen beiderseitigen Anteile des
Zentralnervensystems werden dabei in ihrer Lage nicht verändert,
sie bleiben also, wie man natürlich annehmen muß, auch weiter
homolateral orientiert. Bloß, meint der Autor, sind sie entsprechend
der reichlichen Anlage von Sinnesorganen am vorderen Körperende
weit voluminöser als die hinteren Abschnitte des Zentralnerven¬
systems und legen sich im Laufe der weiteren Entwicklung dem
vorderen Teil des Deuteroneuraxon haubenartig auf. (Fig. (>.) Sieht
man zunächst davon ab, daß durch die Drehung nicht nur der rechte
Strang links und der linke rechts zu liegen kommt, sondern daß
auch das, was dorsal war, nunmehr ventral gelagert wird, so kann
man nur feststellen, daß der vor der Drehung bestehende Zustand
durch die Torsion zwar an einer Stelle geändert ist. indem an der
Einschnürungsstelle eine kompakte Kreuzung der diese Stelle pas¬
sierenden Nervenbahnen eingetreten ist, im übrigen aber der Zustand
des Faserverlaufs der übrigen Bahnstrecken ganz unverändert bleibt,
indem alle Fasern, die nicht die Torsionsstelle passieren, wie vorher
homolateral verlaufen, nur daß die ehemals links gelegenen Zentral¬
stationen kaudal von der Kreuzungsstelle nun rechts liegen und um
gekehrt. Da ja aber auch eine Drehung des ganzen entsprechenden
Körperteiles stattgefunden hat, so versorgt jede Nervenstation doch
wieder die gleiche homolaterale Körperregion und eine weitere
Kreuzung findet durch den Vorgang doch unmittelbar nicht statt.
30
Ls sind bei den Wirbellosen. besondere lx?i der weiteren Ent¬
wicklung aus dem La ne nzu stände Verschiebungen und Umlagerun-
gen von Organen mit ihren zugehörigen Nerven mehrfach beobachtet
worden und unter dem Namen der h i a s t o neurie bekannt. In
den Figg. 0 und 10 sind diese Vorgänge dargestellt.
Linker
Kieme
Visceral
schlinge
Rechter
Kieme
Fig. 9 zeigt schematisch
den Larvenzustand eines
Gasteropoden. bei welchem
jeder Viszeralstrang zu dem
homolateral gelegenen Kie¬
men verläuft. Fig. 10 zeigt
die eingetretene Verlage¬
rung und die dadurch ein¬
getretene Kreuzung der
Viszeralschlingen. Niemals
aber ist beobachtet worden,
daß solche durch Organver¬
lagerungen eingetretene
Nervenkreuzung weitere
Nervenkreuzungen im Ge¬
folge gehabt hat.
Fig. 9. Schema des homolateralen Verlaufes Konzediert man also
der Visceralscblingen des Nervensysteme bei dem Autor auch den Tor-
Gastropodenlarven (Schnecken) sionsvorgang in der Infun-
Nach Claus-Orobben. . . . , ,
dibularregion, so wird da¬
durch nur eine kompakte lokale Kreuzung hervorgerufen, nicht aber
ist dadurch die Allgcmeinerscheinung, daß sich im gesamten Zentral¬
nervensystem die Faserbahnen zum überwiegenden Teil kreuzen,
erklärt. Das hat der Autor auch wohl herausgefühlt, und deshalb
muß er nun zu Hilfsmitteln greifen, um das Entstehen der allge¬
meinen Kreuzung verständlich zu machen. Trotzdem darf man nicht
verkennen, daß auch er die allgemeine Kreuzung von einer primären
lokalen ableitet. Damit folgt er nun doch der gleichen Linie wie
Flechsig und Hamon y C a j a 1. Obwohl er die Deutungsver¬
suche der genannten Autoren energisch ablehnt, da sie kein all¬
gemeines Prinzip kausal zu erklären versucht hätten, verfällt er dem¬
selben Fehler, ohne sich dessen recht bewußt zu sein. Wie gesagt.
Spitzer tut auch nichts anderes, wie die genannten Autoren. Denn
um nun von seiner durch die Torsion zustande gekommenen lokalen
Kreuzung die allgemeine zu erklären, stellt er seine drei die Neuraxe
beherrschenden Hauprinzipien der Kondensation, der Dissemination
31
und der kleinsten Strecke auf. Diese Faktoren spielen in der Ent¬
wicklung des Nervensystems zweifellos eine große Rolle, aber so
allgemein verwendet sind sie ein bequemes und sehr gefährliches
Mittel, mit dem man einen vermeintlichen Vorgang leicht beweisen
kann; aber ebenso könnte ein anderer durch dieselben Hilfsmittel
auch das Gegenteil beweisen.
Die kompakte Kreuzung
in der Infundibularregion wird
nach Spitzer zunächst durch
Dissemination zersplittert, sie
löst sich in zahlreiche Bündel
auf. Diese rücken nun kaudal-
wärts und deren Fasern über¬
schreiten in der ganzen Aus¬
dehnung desDeuteroneuraxons
die Mittellinie. Das ist natür¬
lich leicht möglich. Indessen,
wenn es geschehen ist, so muß
es in der Entwicklung etwas
schnell vor sich gegangen
sein, denn sonst müßte man
doch bei den niedersten
Vertebraten in der Infundibu-
largegend die Hauptkreuzung
und in den anderen Re¬
gionen gar keine oder nur
ganz spärliche sehen. Das
Fig. 10. Sebema der Kreuzung der Visceral¬
schlingen des Nervensystems (Chi&stoneurie)
bei Oastropodenlarven.
Nach Claus-Grobben.
ist. aber absolut nicht der Fall. Man findet gleich bei den
niederen Vertebraten überall ziemlich dieselben Verhältnisse, bald
diffuse Kreuzungeu, wie gerade in der Infundibularregion. bald
kompakte Kreuzungen, wie Optikus. Schleifenkreuzung etc. Diese
Eigentümlichkeit läßt also doch wohl Zweifel aufkommen. ob die
Entwicklung sich so zugetragen hat, wie Spitzer es annimmt.
Aber sehen wir einmal davon ab, daß man die kompakte Kreu¬
zung in der Infundibulargegend selbst bei den niedersten Vertebraten
nicht mehr findet. Nehmen wir an. daß die ursprünglich zusammen¬
liegenden kreuzenden Bündel sich zersplittert und auf die Neural¬
achse verteilt haben. Dann können es aber doch nur diejenigen
gewesen sein, welche ursprünglich in dieser kompakten Kreuzung
zusammengelegen haben, die also Zentren der beiden Protoneuraxon-
hälften mit Zentren der Deuteroneuraxonhälften in Verbindung
32
setzten. Dewil# k<iijn<-ii dic-e Fahrbahnen im Laufe der Entwicklung“
zugenommen haben. aber doch immer nur soweit sie zu den Systemen
gehören, die ursprünglich durch den Torsi«ui^vorgang in die Kreu¬
zung gekommen sind. Uder glaubt der Autor, daß sich nun auch
alle anderen Systeme, sowohl <lie schon vorhandenen, als auch die in
der weiteren phylogenetischen Entwicklung entstandenen sich dieser
primären Kreuzung angeschlossen haben und ihrem Verlaufe gefolgt
sind, wie eine Herde einfach seinem Führer folgt? Es ist das von
S p i t z e r kaum zu glauben, da er >o energisch gegen diese Vor¬
stellung bei Kam on y Cajal protestiert hat. Im übrigen Bereich
der Xeuralach>e brauchten also keine anderen Kreuzungen mehr
stattzufinden, da sich ja bei der Torsion nicht nur die Xeuralachse.
sondern mit Aufnahme der Chorda auch die Teile des Deuterosnina
mitgedreht hatten. Ersteres wäre ja ohne das letztere auch gar
nicht, möglich gewesen. Die kaudal von der Infundibularregion
liegenden Zentren standen zwar nach der Torsion mit Zentren des
Protoneiiraxon in gekreuzter Verbindung, unter sich aber und mit
der ihnen zugehörigen, auch durch die Torsion nicht veränderten
Körperhälfte in ungekreuzter. Warum sollte sich nun auch hei
ihnen eine Kreuzung vollzogen haben? End doch bestehen natürlich
Kreuzungen kaudal von der Infundibulargegend genug, die zu Zentren
Beziehungen haben, welche weit ab von der Torsionsstelle liegen.
»Spitzer kann also durch seine Torsionshypothese zwar die lokale
Infundibularkreuzung und deren eventuelle Zersplitterungen und
Lagerungen kaudalwärts erklären, nicht aber die zahlreichen anderen
resp. die allgemeine Kreuzung der Nervenfasern, welche das ge¬
samte* Zentralnervensystem beherrscht.
Pie* ganze* Sache wird abe*r ne>ch merkwürdiger, wenn wir «las
prüfen, was Spitzer iibe*r das ITotemeiiraxon sagt. Dieses Proto-
netiraxon ist also <li<> vor de*m Iiifundibiilum dorsal vom Mundtrichter
gelegene* zentrale Xervenmasse, die infolge der in der Kopfregion ge¬
lagerten zahln*iche*n kondensierten Sinnesorgane eine besondere
Mächtigke*it erlangt hat. Die*se* Xe*rve*nmasse, bilateral symmetrisch
wie* elmjenige* ele*s De*ule*roneuraxons, soll sich allmählich über den
veuitrikclartig aufge‘blä!ite*n ve>relcrst(*n Teil des dem Deuteroneu-
raxon zugehörigen Neuralrohivs haubenartig hinübergelegt haben,
so daß sie gleichsam die* Himlenschiclit des vorderen Abschnittes des
Neuralrohrcs bildete. Diese Schicht reicht vom Infundibuluni nach
vorn, aufwärts und dann nach hinten bis event. zum Kleinhirn.
Xe*hme*n wir einmal wiede*r an. daß der Entwicklungsvorgang
sich so abgespiedt hat, wie* Spitzer es angibt. Was ergibt sich
33
daraus für das Problem der Kreuzungen der Nervenbahnen? Aueli
liier können keine anderen Kreuzungen bestehen als diejenigen,
welche mit der Torsionskreuzung am Infundibulum in Verbindung
sind, denn bezüglich der Lagerung der Protoneuraxonteile hat sieh
mit Ausnahme, daß sie sich auf die vordere Wand der Neuralachse
aufgestülpt haben, nichts verändert. Was vorher auf der rechten
»Seite lag, liegt nachher ebenso rechts und umgekehrt mit links.
.Jedenfalls ist nach der Spitzer sehen Hypothese die Sehnerven¬
kreuzung nicht zu erklären. Im Gegenteil bestände seine Annahme
zu Recht, so müßten die Sehfasern eigentlich vollkommen ungekreuzt
verlaufen. Denn die Sehfasern, welche Ganglienmassen mit den
homolateral gelegenen seitlichen Augen verbinden, gehören doch dem
Protoneuraxon an und liegen zunächst wenigstens, bevor das Proto-
neuraxon sich über den vorderen Teil des Deuteroneuraxon über-
stiilpte. weit vor der Infundibular-, also vor der Torsionsgegend. Sie
haben also an der Drehung keinen direkten Anteil. Dadurch, daß
nun diese Ganglienmasse, wie Spitzer annimmt, sich über das
Dach des Neuralrohres schiebt, und sich im Laufe der Phylogenese
zum Dach des Mittelhirns entwickelt, wird doch an dem homolate¬
ralen Verhältnis zwischen Ganglienmasse, Sehfasern und Auge nichts
geändert.- Nun könnte man annehmen, daß die .Sehfasern indirekt
bei dem Torsionsvorgang in der Infundibularregion mitbeteiligt wer¬
den und als Nachbarfaserung gleichfalls gekreuzt werden. Das
könnte geschehen, wenn ihre Ganglienmassen gleichfalls verschoben
würden, d. h. die links gelegene nach rechts und die rechts gelegene
nach links gerückt würde. Man müßte also annehmen, daß die den
< >ptici zugehörigen Ganglionmassen zur Zeit der Torsion unmittelbar
in der Nachbarschaft der Torsionsstelle gelegen halten. Das ist aber
nach dem Vorgang der überstiilpung. wie ihn Spitzer schildert,
und auch sonst nicht sehr wahrscheinlich. Bei dem Versuch, die
Chiasmakreuzung zu erklären, verwickelt sich der Autor noch
weiter in unlösbare Widersprüche. Obwohl er der Ansicht ist. daß
allgemein die partielle Kreuzung erst aus der totalen hervorgegangen
ist, postuliert er doch für die Optikuskreuzung von vornherein eine
partielle (vergl. S. 2<>).
Schließlich, kann man sagen, artet die Arbeit Spitzers in
vollkommene Willkür aus. In der Überstiilpung des vorderen Teiles
des Neuralrohres mit den Ganglienmassen des Protoneuraxons glaubt
Spitzer auch die Ursache gefunden zu haben, warum die weißen
Fasennassen des Großhirns und der Vierhügel nach innen vom Grau
gelagert sind, während beim Rückenmark das umgekehrte \ erhältuis
Jacobsohn-Lusk, Die Kreuzung der Nervenbahnen usw. ( Abhdl. H. 8
bestellt. Diese Schwierigkeit wäre gelöst, wenn das Verhältnis der
grauen Masse zur Fasennasse beim Kleinhirn sich so verhielte wie
beim Rückenmark. Leider verhält es sich nicht so. Was also tun?
Spitzer ist nicht verlegen. Paßt die Sache zum Rückenmark nicht,
dann nimmt man eben das Kleinhirn noch mit zum Protoneuraxon.
Aber da begegnet er einer neuen Schwierigkeit, die er bei der
Optikuskreuzung, wie vorher erläutert wurde, ganz übersehen hatte.
Das Kleinhirn hat nämlich eine gekreuzte Verbindung durch die
Bindearme, während es als Protoneuraxonteil eine ungekreuzte haben
müßte. Wieder eine Verlegenheit! Was nun tun? Spitzer weiß
sich schnell zu helfen. Das Kleinhirn hat im Laufe seiner Entwick¬
lung seine rechte Hälfte mit der linken und umgekehrt vertauscht,
d. h. es hat sich nach Ansicht des Autors um seine vertikale Achse
gedreht. Dadurch sind auch gleichzeitig die Troehleariswurzeln
gekreuzt worden. Wie herrlich! Zwei Schwierigkeiten sind mit
einem Male überwunden und damit ist die Hypothese auf der ganzen
Linie zum Siege geführt. Indessen mit solcher Willkür kann man
alles beweisen, nur daß von diesem Beweise vielleicht nur einer
überzeugt ist. nämlich der Autor und dieser wahrscheinlich auch
nicht ganz.
Andere Autoren leiten die nervöse Substanz des Palliums aus
der primitiven membranösen Wand der Gehirnanlage selbst ab. So
sagt Johnston diesbezüglich: „Es erübrigt, noch die Spur zu
erwähnen, die wir hinsichtlich des Schicksals des Palliums der
Ganoiden und Teleostier haben. In dem Epitheldach des Vorderhirns
von Acipenser finden sich weit weg von einer massiven nervösen
Wandung einige Nervenzellen und -fasern, welche nach der Golgi -
sehen Methode imprägniert worden sind. Die Fasein bilden ein
kleines Bündel, welches über die zephalische Fläche des Palliums
hinal)geht und ins Corpus Striatum eintritt. Hier ist der Beweis,
daß das membranüse Pallium der Ganoiden nervöse Substanz enthält,
welche die Anlage der dorsalen Rinde der höheren Formen bildet.
< »bwohl eine größere laterale Rinde im oberflächlichen Teile des
Corpus Striatum vorhanden war. müssen die obigen Resultate als
Beweis gelten, daß wenigstens ein großer Teil der Rinde der höheren
Wirbeltiere in situ von dem Material des membranösen Palliums des
Fischvorderhirns sich entwickelt hat.“
Der Rädlsche Lösungsversuch.
Indem ich nun noch zur Besprechung der Rä dl sehen Hypo-
t lies e übergehe, erwähne ich zunächst, daß der Autor die Spitzer-
35
sehe Hypothese verwirft, indem er anführt, daß an dem Vorhanden¬
sein der gekreuzten Nervenbahnen bei den Arthropoden und Wür¬
mern die ganze von Spitzer gegebene Erklärung scheitert.
Radi gibt eine außerordentlich genaue Beschreibung der histo¬
logischen Verhältnisse der optischen Ganglien bei den Wirbellosen.
Die Nervenbahnen, welche diese optischen Ganglien einer Seite unter
sich und mit dem Gehirn verbinden, sind bei vielen Vertretern ge¬
kreuzt, bei einzelnen ungekreuzt. Der Autor fand nun, daß die
Stellung dieser einzelnen Ganglien, die in Schichten gelagert sind,
bei denjenigen Wirbeltieren, bei denen sich die unilateralen Kreu¬
zungen finden, eine andere ist als bei denjenigen, bei denen keine.
Kreuzungen bestehen. Während in dem einen Falle die Schichten
gleichmäßig konzentrisch zueinander gelagert sind, sind sie im ande¬
ren Falle so gelagert, daß z. B. das folgende (proximale) wie um
180° gedreht zu sein scheint, so daß es nun der distalen Schicht
seine Kehrseite zuw'endet. Es kann aber auch der umgekehrte
Zustand Vorkommen, d. h. bei Inversion eines Ganglion kann Nicht¬
kreuzung der Bahnen bestehen. Der Autor konstatiert nur diese Kor¬
relation zwischen der Lagerung der Schichten und der unilateralen
Kreuzung resp.Nichtkreuzung,ohne behaupten zu wollen,daß wirklich
eine Drehung um 180" stattgefunden hat. Um eine klare Vorstellung des
Verhältnisses zu geben, braucht er folgendes anschauliche Bild: „Man
stelle sich die Ganglien als eine Reihe von hintereinander stehenden
Männern vor; alle Männer sehen nach vorne und jeder nachfolgende
hält seine Arme auf den Schultern des vorausstehenden; einige halten
ihre Arme parallel, andere gekreuzt. Die Männer stellen Ganglien,
ihre Hände die Leitungsbahnen dar. Es kommen nun Abweichungen
von dieser normalen Struktur vor. welche sich so veranschaulichen
lassen, daß sich ein Mann in jener Reihe nach hinten dreht, ohne
die Hände von den Schultern des Vordermannes wegzuziehen; hielt
er ursprünglich seine Hände gekreuzt, so überführt er sie jetzt in
die parallele Lage und umgekehrt.“ Daraus ergibt sich, daß bei
einer solchen Inversionsstellung sowohl eine Kreuzung bestehen, als
auch in anderen Fällen, verschwinden kann. Zum Unterschiede von
diesen unilateralen Kreuzungen,“ so fährt Rädl fort, „stellt die
Chiastoneurie eine bilaterale Nervenkreuzung dar und erlaubt uns
unsere Deutung der Nervenkreuzungen auch aufFälle von bilateralem
Chiasma zu erweitern.“ — „Wird ein Ganglion um eine im Ganglion
selbst liegende Achse um 180° gedreht, so entsteht ein unilaterales
Ghiasma (oder es wird dieses Chiasma. wenn früher vorhanden, auf¬
gelöst); werden dagegen zwei symmetrisch zur Mittellinie des Kör-
3 *
pers liegende. analoge Laiiglien um eine auf <ler Mittellinie senkrecht
stehende Achse um 1 Hl” gedreht, so entsteht ein bilaterales (. hiasma."
— ..Jedenfalls steht fest, «laß im organischen Reich Fälle Vorkom¬
men. wo die ursprünglich rechtsseitigen Organe nach der linken Seite
und umgekehrt verschoben sind, und wo damit die Xervenkreiizung
in Korrelation steht."
R ä d 1 sagt weiter bezüglich der S e li n e r v e n k r e u z u n g:
..1 de Sehnervenkreuzung: kommt hei allen Wirbeltieren vor. und nur
in Ledanken können wir uns ein Wirbeltier konstruieren, welches
ungekreuzte Sehnerven besitzen würde. Wir wissen bereits, daß mit
der Auflösung- des (’hiasma in ungekreuzte Nervenstränge eine
Drehung beider Netzhäute um ISO" in der Horizontalebene verbunden
sein müßte: wie würden die Augen dieses hypothetischen Organismus
beschaffen sein? Denken wir uns beide Netzhäute mit einer festen
in ihrem Mittelpunkte drehbaren Achse verbunden und drehen wir
dieselbe um ISO 0 ; die linke und die rechte Netzhaut winden ihre
Lage am Kopfe miteinander wechseln und ihre Rückseite dem Licht
zuwenden: die jetzt vom Licht abgewendeten Stäbchen würden dem
Lichte zugokehrt sein und an den Liaskörper stoßen: der Seltner*
würde nicht mehr die Netzhaut durchzubohren brauchen, denn er
würde sich auf der Innenfläche der Netzhaut verbreiten: das Auge
w ii r d e n o r in a 1 g e g e n d a s Li c h t orientiert sein: ein Wirbel¬
tier ohne Sehnervenkreuzung würde Sehorgane besitzen, welche den
Kophalopoden- oder den Alciopeaugen ähnlich sehen würden. Es ist
aber noch eine andere Eventualität denkbar; bei der Auflösung des
Lhiasmas brauchten die invertierten Augen an der Bewegung nicht
teilzunehmen, dagegen die optischen Zentren im Lehirn. in welchen
der Sehnerv endigt, sich um ISO" drehen: das rechte Mittelhirndach
würde dann auf der linken Lehirnseite. das linke auf der rechten
liegen und beide würden invertiert sein. d. h. die aus denselben
zentral wärt s führenden fort schreitenden Bahnen müßten aus der
äußeren Oberllüche des Mittelhirndaches austreten und nicht aus der
inneren, wie sic* es tatsächlich tun."
..Fnsere Kegel von der Korrelation der Nervenkreuzungen mit
der Inversion der Langlien führt uns zu dem Schlüsse, daß die Seh¬
nerven der Wirbeltiere sich deshalb untereinander kreuzen, weil die
Netzhaut nach dem invertierten Typus gebaut ist."
..Eine» analoge Betrachtung,“ sagt Rädl weiter, ,.läßt sich auch
auf die übrigen bilateralen Nervenkreuzungen anwenden, auch diese
könnte man durch Einkehr der Langlien, welchen die gekreuzten
Nervenfasern entstammen, oder in welche sie führen, in parallel ver¬
laufende Nervenbündel überführen."
Radi verwahrt sich immer dagegen, daß er eigentlich nicht
drehen will. ..Unsere Theorie, sagt er, ist nicht so zu verstehen, daß
das ursprünglich rechte Auge der Wirbeltiere auf der linken Kopf¬
seite zu suchen wäre, sie behauptet gar nichts über wirklich statt-
iindende Verschiebungen und Drehungen, sie hat vielmehr nur die
Pläne im Sinne, nach welchen die Augen gebaut sind.“ < »bwohl er
dies sagt, dreht er in Gedanken doch fortdauernd, denn nur durch
solche in Gedanken ausgeführte Drehungen kann er seine Hypothese
erklären. Seine Worte: ..werden dagegen zwei symmetrisch zur
Mittellinie des Körpers liegende analoge Ganglien um eine auf der
Mittellinie senkrecht stehende Achse um 180" gedieht, so entsteht
ein bilaterales Chiasma,“ oder: ..bei anderen Insektentypen (z. B.
bei den Fliegen) spaltet sich ein Teil des dritten Ganglions ab und
dreht sich in der Horizontalebene um 180“,“ oder „mit der Drehung
des Ganglions muß eine Veränderung in der Verlaufsweise der Lei¬
tungsbahnen desselben verknüpft sein“ usw.. können gar nicht anders
gedeutet werden.
Will Radi das nicht, so stellt er nur eine Korrelation fest
und weicht der Frage nach der Ursache der Kreuzungen aus.
Olt die Inversionsverhältnisse an den Sehganglien der Wirbel¬
losen so beschaffen sind, wie R ;i d 1 sie darstellt, entzieht sich meiner
Kontrolle. Seine Darlegungen bezüglich der Inversionsstellungen
der Ganglien im Zentralnervensystem sind ganz schematisch und
willkürlich. Aber auch seine Drehungsversuche ergeben absolut
nicht das Resultat, das sie nach Ansicht des Autors halten sollen.
Zum Belege wähle ich das von ihm selbst gewählte Beispiel von den
Männern, die gleichgerichtet hintereinander stehen, wobei immer ein
Hintermann seine Arme, sei es parallel, sei es gekreuzt, auf die
Schultern seines Vordermannes gelegt hat. und nun der eine oder
andere eine Drehung um 180" macht. Man braucht das Experiment
nur nachzumachen, um zu erkennen, daß der von Rädl voraus¬
gesetzte Effekt nicht eintritt. Zwar in der Weise, wie Radi das
Experiment auszuführen angibt, ist es aus physischen Gründen nicht
ausführbar, aber man kann ja die Männer durch eine Anzahl gleich¬
gerichteter Stühle und die Arme durch Schnüre ersetzen, welche diese
Stühle miteinander verbinden. Wird jetzt ein Stuhl um 180 0 horizon¬
tal gedreht, ohne daß eine Drehung in einer zweiten Ebene erfolgt,
und war er durch parallel gerichtete Schnüre mit seinem Vorder¬
stuhl verbunden, so tritt gar keine Uberkreuzung ein. und umgekehrt
erfolgt keine Entkreuzung. wenn ein Stuhl gedreht wird, der mit
seinem Nachbar durch kreuzende Schnüre verbunden war. Solche
Kreuzung bzw. Entkreuzung tritt aber ein. wenn in dem von Radi
38
gewählten Beispiel sieh ein Hintermann oder ein Vordermann so um
180 0 dreht, daß er auf den Kopf zu stehen kommt. Dann erfolgt
aber keine Inversion, denn was vorher nach vorne gerichtet war, das
bleibt auch bei dieser Drehung so gerichtet. Wie hier bei unilate¬
raler Drehung eines Ganglions der Effekt nicht eiritritt, so ist es
auch nicht der Fall, wenn man die bilaterale Drehung so gestaltet,
wie Radi sie auszuführen angibt. Eine Überkreuzung resp. Ent-
kreuzung in der Medianlinie tritt nur dann ein, wenn man den linken
Bulbus über die Mittellinie nach rechts und umgekehrt den rechten
nach links verlagert, oder wenn man mit den beiderseitigen zentralen
optischen Ganglien eine ähnliche Verlagerung vornimmt. Bei diesen
Verlagerungen braucht aber keine Spur von Inversion einzutreten.
Ebenso anfechtbar ist Rädls Erklärung für die partielle
Kreuzung der Sehfasem bei den Säugetieren. Er sagt: „entspricht
das Pulvinar nicht einem um 180° gedrehten Teil des Mittelhirn¬
daches? — Mit der Drehung des Ganglions muß eine Veränderung
in der Verlaufsweise der Leitungsbahnen verknüpft sein — nun ist
es auffallend, daß Hand in Hand mit der Entwicklung des Pulvinars
der Säugetiere die Entwicklung eines ungekreuzten Sehnerven-
bündels geht. Ebenso w'ie wir uns die Entstehung der Sehnerven¬
kreuzung durch Drehung der beiden Netzhäute erklären konnten,
könnten wir uns die partielle Aufhebung der Sehnervenkreuzung
durch eine im entgegengesetzten Sinne statthabende Drehung der
Mittelhimteile erklären.“ Dabei kommt Rädl aber doch auf eine
Tatsache, die durch seinen Drehungsversuch nicht erklärbar ist.
denn er fügt hinzu: „Dabei wäre anzunehmen, daß die ungekreuzten
Nervenfasern im Pulvinar endigen, was wohl den bestehenden Lehren
zu widersprechen scheint, denn nach diesen endigen gekreuzte wie
ungekreuzte Sehnervenfasern in allen Teilen des dritten Ganglions.
Diesen Widerspruch müssen wir unaufgelöst lassen.“
Rddls Versuch hat eine gewisse Ähnlichkeit mit dem
Spitzer sehen. Beide greifen auf Verlagerungen zurück, die im
Laufe der Entwicklung vielleicht stattgefunden haben. Da aber
auf dieser Grundlage die Kreuzungen der Nervenbahnen sich nicht
restlos erklären lassen, so machen sie künstliche Drehungsversuche,
wobei sie natürlich ganz willkürlich bald so. bald anders drehen,
damit, sie ihren Zweck erreichen.
Überblicke ich noch einmal die bisher aufgestellten Theorien
über die Ursachen der Faserkreuzungen im Zentralnervensystem, so
gehen die meisten Autoren bei ihren Lösungsversuchen von einer
lokalen, teils wirklich vorhandenen, teils willkürlich vorausgesetzten
Faserkreuzungsstelle aus und sind der Ansicht, daß diese lokale
zuerst aufgetretene Kreuzung die anderen veranlaßt hat, oder daß
die Ursache, welche an dieser einen Stelle eingewirkt hat, um hier
die Kreuzung hervorzurufen, auch in gleicher oder ähnlicher Weise
auf andere Stellen gewirkt und den gleichen Effekt erzielt hat.
Aber sind schon die Lösungsversuche für die Kreuzung an der pri¬
mären lokalen Stelle, von der die Autoren ausgehen, von sehr
zweifelhaftem Wert, so lassen sich gegen die Verallgemeinerungs¬
versuche so viel stichhaltige Einwendungen erheben, daß man die
bisherigen Lösungsversuche entweder als gänzlich gescheitert, oder
wenigstens als wenig befriedigend bewerten muß. Wenn es nicht
gelingt, eine allgemeine Grundlage für das Zustandekommen der
Kreuzungen zu finden und auf diese die einzelnen lokalen zurückzu¬
führen, so besteht meiner Ansicht nach wenig Hoffnung, für das
schwierige Problem eine befriedigende Lösung zu finden. Obwohl
Rädl versucht hat, eine solche allgemeine Grundlage zu ermitteln,
so ist auch sein Versuch, wie ich glaube, nicht geglückt. Auch er
leitet einseitig von Verhältnissen, die er an den Augenzentren der
Wirbellosen gefunden haben will, alles weitere ab.
Eigene Untersuchungen.
Wenn Spitzer das Problem auch nicht gelöst hat, da er ein
zu künstliches Gebäude aufgerichtet hat, so muß man doch aner¬
kennen, daß er tiefer als seine Vorgänger einzudringen sich bemüht
hat. Er hat sehr gründlich die phyletisehe Entwicklung der Verte¬
braten verfolgt, da er sich richtig gesagt hat, daß nur die schritt¬
weise Verfolgung dieses Entwicklungsvorganges das Rätsel viel¬
leicht lösen oder wenigstens mit hoher Wahrscheinlichkeit offenbaren
könne, was man als Ursache des uns beschäftigenden Phänomens
ansehen müsse. Leider hat er zu früh halt gemacht. Und das ist
sehr merkwürdig. Er hat sich redliche Mühe gegeben, den Wirbel¬
tierkörper aus dem der Wirbellosen abzuleiten. Ob ihm das gelungen
ist, wage ich nicht zu entscheiden. Es gehört wohl mehr als eine
Lebensarbeit eingehendsten Studiums und Beobachten* der niederen
Tierwelt und ihrer Entwicklung dazu« um den Versuch zu wagen, den
mit so zahllosen Lücken versehenen Bau wieder so zu rekonstruieren,
wie er sich vielleicht im Werdegang des tierischen Lebens ausgestaltet
hat. Aber Spitzer, der diesen Aufbau nur als Mittel zum Zweck, d. h.
zur Lösung des uns angehenden Problems benutzt, ist auf halbem
Wege stellen geblieben, da er den feineren Bau des Zentralnerven¬
systems der Wirbellosen b<>i seinem Versuch zur Lösung des Problems
gar nicht in Rücksicht gezogen hat. Er sowohl wie C a j a 1 haben
40
sich den Weg. der vielleicht zum Ziele führt, von vornherein ver¬
sperrt, indem sie in der allgemeinen Annahme, daß bei den Wirbel¬
losen kreuzende Fasern nicht Vorkommen, ihre Untersuchungen ganz
wesentlich auf die Wirbeltiere konzentrierten. Radi berücksichtigt
zwar die Wirbellosen in eingehender Weise, aber er packt die Sache
an der kompliziertesten Stelle an und gerat dabei auf Abwege.
Ich sagte mir folgendes: Wenn sich nachweiscn oder wenigstens
wahrscheinlich machen läßt, daß das Zentralnervensystem der
Wirbeltiere sich aus dem der Wirbellosen herausgebildet hat, oder
daß es sich in ähnlicher Weise aus einfachsten Bildungen aufgebaut
hat, wenu sich ferner nachweiscn läßt, daß die Leitungsbahnen im
Zentralnervensystem auch schon bei den Wirbellosen sich in erheb¬
lichem Maße kreuzen, so muß der (»rund dieser Kreuzungen in der
Organisation und Funktion des tierischen Körpers und des Nerven¬
systems. wie sie sich von Anfang an entfaltet halten, liegen. Und
dieser Grund muß sich linden lassen, wenn man das Nervensystem
ganz niederer Tiere bis zu demjenigen Stadium der phylogeneti¬
schen Entwicklung verfolgt, wo sich an höher organisierten Tieren
die ersten Kreuzungserseheinungen aufzeigen, und von wo aus diese
Kreuzungen bei immer vorwärts schreitender Organisation einen
immer höheren Grad erreichen. Demnach war der Gang der Unter¬
suchungen gegeben.
1. Hat sich das Zentralnervensystem
der Wirbeltiere aus demjenigen der Wirbellosen
herausgebildet ?
Die einfachste Form des Nervensystems ist bisher bei den
Zölenteraten, d. h. denjenigen Tieren, die auf dem Gastrulastadium
verharren, beobachtet worden. Hier treten zuerst Sinneszellen und
.Muskelgewebe in Erscheinung. Während aber bei den Spongien
noch direkte Irritabilität und Kontraktilität der Zellen die Lebens¬
betätigungen bewirken, also kein Nervensystem die Übertragung
übernimmt, finden sich Nervenzellen, Nervenfasern, Sinneszellen und
Muskelfasern, als der zusammengehörige Komplex zuerst bei den
K n i d a r i e r n (Nesseltieren) und Anthozoen (Aktinien und
Korallentiere). Das Nervensystem findet sich hier wesentlich diffus
im Körper zerstreut (Fig. 11). es zeigt allerdings auch schon leichte
Konzentrationen, wie z. B. im Nervenring der Medusen. ..Die
ganze Einrichtung steht, wie Oegenbaur richtig bemerkt, noch
nicht auf der Stufe eines gesonderten Organs, sie stellt nur ein Ge¬
webe vor und zugleich eine Schicht der Körperwand.“ Die nähere
— 41 —
Beschreibung des feineren Baues erfolgt weiter unten bei Betrachtung
der mikroskopischen Verhältnisse.
Diese auf der niedersten Stufe des metazoischen Tierreiches an
vereinzelter Stelle bemerkbare winzige Konzentration nimmt nun bei
etwas höherer Organisation, d. h. bei den .untersten Vertretern der
zeigt die Nervenschicht init den darunter liegenden Muskelfasern, zum Teil auch
das Epithel (nur in seinen Konturen angedeutet) mit Sinneszellen von der Fläche.
Osmiumpräparat nach M. Wolff.
Cölomata (also bei denjenigen Wirbellosen, bei denen sich außer
dem Ektoderm und Entoderm nun auch ein Mesoderm mit seinen
Höhlen auszubilden beginnt) stärkere Formen an. Und zwar zeigt
sich diese Konzentration in zweierlei Art, einmal in einer stärkeren
Ansammlung von Nervenzellen und Nervenfasern an bestimmter
Stelle und zweitens in einer Zusammenballung von Nervenfasern zu
stärkeren Nervensträngen. Mitunter zeigt sich beides gemischt.
Die?e Verhältnisse findet man z. B. bei den Scoliziden (den
niederen Würmern).
So beschreibt z. 1». H. Sabussow das Nervensystem der Tricla-
d i n e :i . die zu den Turbellarien (Strudelwürmer j gehn reu. folgender¬
maßen: Das Nervensystem von allen untersuchten Formen besteht 1. aus einem
Gehirn.*; 2. zwei ventralen Längsstämmen, die vom Gehirn zum Hinterende
hinziehen und 3. einem Nervenplexus. welcher sich in innigem Zusammenhänge
mit dem Hautniuskelschlaurh befindet und auf der Bauchseite besonders stark
entwickelt ist. Die ventralen Längsstämme sind miteinander durch zahlreiche
Kommissuren verbunden. Diese liegen unregelmäßig und sind mittels dünner
Anastomosen vereinigt. Zu den Körperrändern gehen von den ventralen
Längsstämmen Seitennerven ab. welche nicht immer den Kommissuren ent¬
sprechen: sie stellen mit dem Hautnervenplexus in einem innigen Zusammen¬
hang. ohne einen Randnerv zu bilden. Hinter den peripherischen Teilen des
Gescldeclitsapparat.es im Gebiete der Enden der hinteren Darmäste gehen die
Längsstämme ineinander über, indem sie einen breiten Bogen darstellen.
<Cber den feineren Bau s. weiter unten.)
Die Beschreibung, welche
Mesostoma ehr e n b e r g i
geben, ist folgende (Fig. 12):
Breslau und von V o ß von
(gleichfalls einem Strudelwurm)
Das Nervensystem
besteht aus einem
meist in zwei Seiten¬
lappen geteilten Ze¬
rebralganglion. das in
der Nähe des vorde¬
ren Körperendes ge-
lagei t erscheint. Das
selbe entsendet nach
vorn zahlreiche Ner¬
ven. nach hinten sechs
Längsnervenstämme,
zwei stärkere ven¬
trale. ferner zwei
schwächere dorsale
und laterale. Zwi¬
schen den Nerven-
stäinmen treten meist
Querkommissuren auf,
sowie auch ein
reicher peripherer
Nervenplexus zur Aus¬
bildung kommt. Ge¬
hirn, Längsstämnio
und Nervenplexus ent¬
halten Nervenzellen.
Kommissur „
Cerebral¬
ganglion
Dorsaler
Längsatrang
Ventraler
Längsatrang
Fg. 12. Nervensystem von Mesostoma ehrenbergi (sche¬
matisch) Nach Breslau und v. Voss.
*) Das vorderste Ganglion, welches gewöhnlich dorsal vom Ösophagus
liegt, hat die Bezeichnungen: G e h i r n oder Z e r e b r a 1 g a n gl i o n oder
S u p r a ö s o p h a g e a 1 g a n g 1 i o n.
43
Bei den Nematoden (Fadenwürmer), z. B. bei Ascaris
megalocephala (Spulwurm), ist das Nervensystem nach Be¬
schreibungen von Daneika und Claus-G robben folgender¬
maßen gebaut (Fig. 13):
Es besteht aus einem in der Um¬
gebung des Ösophagus liegenden
Schlundring, der aus Nerven¬
zellen und Nervenfasern zusammen¬
gesetzt ist. Von diesem Schlund¬
ring erstrecken sich in der Richtung
zum Schwanz einige Nervenstämme.
von denen der dorsale und der ven¬
trale die konstantesten sind. In
diesen Nervenstämmen sind auch
Nervenzellen vorhanden. Der dorsale
und der ventrale Stamm sind auf
ihrem gesamten Verlaufe durch un*
paare Verbindungen miteinander ver¬
einigt. Von dem Schlundring ziehen
aimh in der Richtung nach oben zu
den Lippen (Saugnäpfen) einige
Nervenstämmchen, welche den vorde¬
ren Körperabschnitt und hauptsäch¬
lich die Lippen innervieren. Vor der
Kloake liegt im Bauchnerv ein Anal
ganglion. von welchem beim Männ¬
chen ein die Kloake umgebender
Nervenring ausgeht. Alle Längs¬
nerven stehen am hinteren Ende mit
einander in Verbindung.
Vom Nervensystem der N e -
mertini (Schnurwürmer) ist
bei Claus-0 robben gesagt:
Fig. 13. Schema des Nervensystems einer
männlichen Ascaris megalocephala (nach
Brandes) aus Claus-Grobben.
Das Zerehralganglion erlangt eine bedeutende Entwicklung; seine beiden
Hälften lassen eine dorsale und ventrale Ganglienmasse unterscheiden und sind
durch eine Querkommissur über dem Schlunde, zu der noch eine dorsale, den
Rüssel umgreifende Kommissur hinzukommt, verbunden. Die zwei ventralen
Ganglien setzen sich in die seitlichen Nervenstämme fort, welche sich in der
Nähe des Afters vereinigen. Seltener verlaufen die Sei teilst äimne an der
Bauchseite einander genähert. Die Nervenstämme enthalten eine zentrale
Fasersubstanz und einen Belag von Nervenzellen. Gehirn und Seitenstüinme
liegen entweder außerhalb, oder inmitten oder innerhalb des Hautmuskel-
sclüauches. Vom Gehirn entspringen die Nerven für die am vorderen Körper¬
ende gelegenen Sinnesorgane, sowie die Schlund- und Rüsselneiven, ferner eia
unpaarer, durch den ganzen Rumpf sich erstreckender Rückennerv. Die
Seitennerven, welche die Nerven des Rumpfes allgeben, stehen mit dem Rücken-
44
nerv und untereinander durch regelmäßig ungeordnete Kommissuren oder
einen tiefen Xervenplexus in Verbindung.
Wesentlich weiter als bisher schreitet die Konzentration des
Nervensystems bei den Anneliden (Gliederwürmer) vorwärts.
Es nimmt hier diejenige Form an, welche es nunmehr durch die
ganze weitere Reihe diu* Wirbellosen innehält. Da die Anneliden
aus einer Kette von meist liomonom metamerischen (Gliedern be-
stehen, von denen jedes (Ried eine gewisse Selbständigkeit hat. so
sammelt sich diese Selbständigkeit für jedes Glied in der Konzen¬
tration von bisher im Rauchstrang zerstreuten Ganglienzellen zu
Ganglienknoten, von denen jedes Metamer ein Paar enthält. Das
Zentralnervensystem besteht demnach aus der Zentralstation für
den gesamten Körper, dem Zerebralganglion, und aus den Zentral¬
stationen für die einzelnen Metameren, der strickleiterartigen Gang¬
lienkette, die sic*h ventral vom Darmschlauch durch den ganzen
Körper hinzieht. So ist es wenigstens zuerst bei den Archi-
anneliden. welche den homonom-metamerischen Rau am reinsten
zeigen. Diese Ganglienkette kommt auch schon frühzeitig als
embryonale Anlage zur Erscheinung, zu einer Zeit, wo des Tier erst
wesentlich den vorderen Körperteil ausgebildet hat.
Indessen die Gkuehmäßigkeit der Ganglienknoten ist nur vor¬
handen, wo eine homonomo Metamerio besteht: verändert sich diese
durch Konzentration mehrerer Glieder zu einem gemeinsamen Körper¬
abschnitt. so spiegeln die den Gliedern entsprechenden Ganglien-
knoten das Bild wider, indem zwei oder mehrere zu einem ver¬
schmelzen (Fig. 14). Diesen Verschmelzungsvorgang beobachtet
man zunächst am vordersten und hintersten Leibesabschnitt.
Nach G r o b b e n bestellt das Nervensystem von 11 i r u d o (Blutegel*
aus einem Zerebralganglion, sowie einer ventralen Ganglien kette, an welcher
das vorderste und letzte große Ganglion aus der Verschmelzung mehrerer
Ganglien hervorgegangen sind. Ein unpaarer mittlerer Längsstrang, welcher
zwischen den beiden Hälften des Bauehstraiiges von Ganglion zu Ganglion
zieht, entspricht höchstwahrscheinlich dem unpaaren. zwischen zwei Ganglien
verlaufenden Nervenstumme. welchen Newport bei den Insekten entdeckte.
Daneben kennt inan ein von Brandt entdecktes Eingeweidenervensystem,
welches aus einem über und neben der Ganglienkette verlaufenden Magen¬
darmnerven besteht, der vom Gehirn entspringt und mit seinen Ästen die
Bliudsäcke des Magendarms vorsorgt. (Näheres über dieses System findet
man in der Arbeit von A s c o 1 i.) Drei Ganglienknötchen, welche bei dem
gemeinen Blutegel vor dem Gehirn liegen und ihre Xervenplexus an Kiefer-
muskeln und Schlund senden, werden von L e y d i g als Anschwellungen von
Hirn nerven aufgefaßt und stehen vielleicht der Schlundbewegung vor.
In der aufsteigenden Reihe der Wirbellosen, bei den Arthro-
p o d e n (Gliederfüßer). E c h i n o d e r m e n (Stachelhäuter), Ente-
Cerebralgangl.
rop neusten (Sehlundatmer) und Chaetognathen (Borsten¬
kiefer) schreitet die Konzentration und Verschmelzung der Ganglien¬
massen weiter vorwärts. Aber die Art und der Grad der Konzen¬
tration ist bei den einzelnen Gattungen außerordentlich verschieden,
so daß man den wechselvollsten Verhältnissen begegnet. Neben ein¬
fachen Formen, wie sie dem Annelidentypus, ja evtl, noch einem
niedrigeren Typus entsprechen, trifft man Formen, bei welchen fast
das ganze Zentralnervensystem eine einheitliche, kontinuierlich zu¬
sammenhängende Masse darstellt. Die nachfolgenden kurzen Be¬
schreibungen und Figuren illustrieren das besser als lange Einzel¬
beschreibungen. die man in speziellen Arbeiten findet.
Vom Nervensystem der Arthropoden heißt es da im Lehr¬
buch von Claus-Grobben:
Das Zentralnervensystem bestellt aus Gehirn, Schlundkommissur und
Bauchmark, welches letztere meist in Form einer Ganglienkette unter dem
Darme verläuft. Die Gliederung der Ganglienkette entspricht der hetero-
nomen Segmentierung des Körpers, indem in den größeren, durch Ver¬
schmelzung von Segmenten entstandenen Abschnitten auch eine Annäherung
oder Verschmelzung der entsprechenden Ganglien erfolgt.
Ein anschauliches Bibi davon bietet z. B. das Zentralnervensystem von
Astaeus f 1 u v i a t i 1 i s (Flußkrebs), wie es in vorzüglicher Weise von
K ei m dargestellt ist (Fig. 14).
Kopfmagen Darm
Die Ci rri ped ien (Rankenfüßer) besitzen ein paariges Gehirnganglion
und eine meist aus sechs Ganglienpaaren gebildete, zuweilen aber auch zu
einer gemeinsamen Ganglienmasse verschmolzene Bauchganglienkette.
Das Nervensystem der S c h a 1 e n k r e b s e zeichnet sich durch die
Größe des weit nach vorne gerückten Gehirns aus. von welchem die Augen-
und Antennennerven entspringen. Das durch sehr lange Kommissuren mit
dem oberen Schlundganglion (Gehirn) verbundene Bauchmark zeigt eine sehr
46
verschiedene Konzentration, welche hei den kurz sch \vänzi gen Dekapoden
ihre höchste Stufe erreicht, indem alle Ganglien zu einem großen Brustknoten
verschmolzen sind. Khenso ist das System der Eingeweidenerven sehr hoch
entwickelt.
Am Nervensystem der G i g a n t o s t ra e a (Riesenkrebse) unterscheidet
man einen breiten Schlund ring, dessen vordere Partie als Gehirn die Augen-
nerven entsendet, während aus den seitlichen Teilen des ersteren die sechs
Nerven paare der Cheliceren und Beine entspringen, ferner eine untere Schlund-
ganglienmasse mit drei Querkommissuren und einem gangliösen Doppelstrang,
welcher Äste an die Bauchfüßer ahgiht und mit einem Doppelganglion am
Abdomen endet.
Das Nervensystem der Skorpione (B. Haller) besteht aus einem
zweilappigen Gehirn, einer großen ovalen Brustganglienmasse und sieben bis
acht kleineren Ganglienanschwellungen des Abdomens, von welchen die vier
letzten dem Postabdomen zugehören.
Am Nervensystem der Spinnen unterscheidet man außer dein die
Augennerven abgebenden Gehirn eine gemeinsame gewöhnlich sternförmige
Bi ustganglienmasse (Fig. 18). Auch wurden Eingew r eidenerven am Nahnmgs-
kanal nachgewiesen.
Viel einfacher erscheint wiederum das Nervensystem dei wurinfenniiren
Arthropoden, z. B. der Peripatiden. 8ie bilden eine die Anneliden und Arthro¬
poden verbindende Gruppe, daher ihr Nervensystem dem der Anneliden sehr
nahekommt. Das Gehirnganglion entsendet zwei mit Ganglienzellen belegte
Nervenstränge, welche bis zum Hinterleibsende weit voneinander getrennt ver¬
laufen. Ebenso zeigen die Chilopoden ein Nervensystem, welches aus
dem Gehirn und einer dem Körperbau entsprechenden homonom gegliederten
Bauchganglienkette besteht, die sich durch den ganzen Rumpf erstreckt.
Das Nervensystem der Insekten zeigt im allgemeinen eine hohe Ent¬
wicklung (besonders des Gehirns), aber eine recht wechselvolle Gestaltung.
Es finden sich alle Übergänge von einer langgestreckten, etwa zwölf Ganglien¬
paare enthaltenden Bauchkette bis zu einem einheitlichen Brustknoten. Das
im Kopfe gelegene Gehirn (obere Schlundganglion > erlangt einen bedeutenden
Umfang und bildet mehrere Gruppen von Anschwellungen, die sich vornehm¬
lich stark bei den psychisch am höchsten stehenden Hymenopteren ausprägen.
Dasselbe entsendet die Sinnesnerven, wie es auch als Sitz des Willens und
der psychischen Tätigkeiten erscheint. Das untere Schlundganglion versorgt
die Mundteile mit Nerven und entspricht den verschmolzenen Ganglien der
droi Kiefersegmente. Die Bauchkette Gewährt die ursprüngliche gleichmäßige
Gliederung bei den meisten Larven und ist am wenigsten verändert- bei den
Insekten mit freiem Prothorax und langgestrecktem Hinterleibe. Hier bleiben
nicht nur die drei größeren Thorakalganglien, welche die Beine und Flügel
mit Nerven versehen und oft noch durch die vorderen Abdominalganglien ver¬
stärkt. werdeji. sondern auch noch eine größere Zahl von Abdominalganglien
gesondert. (Fig. lt>.) Von diesen Abdominalganglien zeichnet sich stets das
letzte, welches aus der Verschmelzung mehrerer Ganglien entstanden ist und
zahlreiche Nerven an den Ausführungsgang des Geschleehtsapparates und an
den Mastdarm entsendet, durch eine bedeutende Größe aus. Die allmählich
fortschreitende, auch während der Entwicklung der Larve und Puppe zu ver¬
folgende Konzentrierung der Bauchkette ergibt sich sowohl aus der Zu-
Fuß Mund
47
sammenziehung der Abdominalganglien, als aus der Verschmelzung der Brust¬
ganglien, von denen zuerst die des Meso- und Metathorax zu einem hinteren
größeren Brustknoten und dann auch mit dem Ganglion des Prothorax zu
einer gemeinsamen Brustganglienmasse zusammentreten. Vereinigt sich end¬
lich mit dieser auch noch die verschmolzene Masse der Hinterleibsganglien,
so ist die höchste Stufe der Konzentration, wie sie sich bei Dipteren und
Hemipteren findet, erreicht.
Das Nervensystem der Mollusken (Weichtiere) besteht aus einem
dorsal vom Darm gelegenen Zerebralganglion (bzw. einem mit kontinuier¬
lichem Ganglienbelag versehenen Zerebralstrang) mit den Nerven für den Kopf
und besonderen Ganglien (Buccalganglien) für den Vorderdarm. Mit dem¬
selben stehen im Zusammenhang zwei ventrale durch Querkommissuren ver¬
bundene Pedalstränge oder Pedalganglien mit den Nerven für den Fuß.
Dazu kommen bei den Amphineuren zwei laterale Visceropallialstränge
(Pleuralstränge), welche mit den Pedalsträngen durch Kommissuren verbunden
sind und dorsal über den Enddarm miteinander Zusammenhängen. Sie liefern
die Nerven für den Mantel und die meisten Eingeweide. (Fig. 15.)
Cerebralganglion Magen Herz Visceral- After
ganglion
Pedalganglion Darm Kieme Mandelhöhle
Fig. 15. Anatomie von Unio margaretifera (Flussperlmuschel) nach Leukart
und N i 18 c h e aus Lang-Mollusca.
«- t Ein- und Austritt des Atemwassers.
Das Nervensystem der Conchif eren (Schnecken [Fig. 17]) besteht
aus einem Paar von Zerebralganglien, Pleuralganglien, sowie Pedalganglien,
welche durch Kommissuren miteinander verbunden sind. Statt der Pedal-
ganglien treten bei den Aspidobranchien und einigen Ctenobranchien durch
mehrfache Kommissuren untereinander verbundene Pedalstränge auf. Von
den Pleuralganglien geht die Visceralschlinge ab, welche jederseits ein sog.
Parietalganglion, sowie ein drittes hinteres Abdominal- oder Visceralganglion
aufweist. Die Visceralschlinge ist bei zahlreichen Gastropoden infolge der
Drehung des Pallialkomplexes achterförmig gedreht, indem der rechte Teil
der Visceralschlinge mit dem rechten Parietalganglion (dann Supraintestinal¬
ganglion genannt) nach links dorsal über den Darm, der linke Teil mit stinem
Parietalganglion (Subintestinalganglion) nach rechts unterhalb des Darmes
48
verzogen erscheint. Chiastoneurie (Fig. 10). Die Zerebralganglien
versorgen den Kopf: mit denselben hängen auch durch eine besondere Kom¬
missur die Bucealganglien zusammen, deren Nerven zum Schlund und Darm
Fig. 16. Ganglienkette von Dytiscus marginalis (Schwimmkäfer).
Nach G. Holste.
Fig. 17. C evebralganglion mit Optikus und Augen von Pterotrachea coronata
(Gastropoden) von unten. Nach L. Brüel.
treten. Die Pedalganglien innenieren den Fuß. die Pleuralnerven entsenden
die Mantel nerven. Die Parietalganglien versorgen die Kieme, die Geruchs¬
organe, aber auch einen Teil des Mantels, während das Abdominalganglion
die übrigen Kingeweidenerven entsendet.
Das Nervensystem der C e p h a 1 o p o d e n (Kopffüßer) zeichnet
sich durch große Konzentration aus. Es besteht mit Ausnahme von
49
Nautilus aus dicht uni den Schlund zusammengedrängten und
in dem Kopfknorpel vollständig eingeschlossenen Zerebral-, Pedal- und
Stirnaugen Darm
Fig. 18. Zentralnervensystem einer Spinne.
Nach 0. Steche.
Visceralganglien. Mit dem Zerebralganglion hängt ein kleines vor demselben
über dem Schlund gelegenes Ganglion zusammen, von welchem die Buccal-
kommissur mit ihren Ganglien sowie eine Kommissur zum Braohialganglion
ausgeht. Vom Pedalganglion entspringt das große Brachialganglion mit den
Nerven für die Arme. Die äußerlich nicht abgesetzten Pleuralganglien
(Pleuralzentren) entsenden die Mantelnerven, in deren Verlauf das Ganglion
stellatum auftritt. sowie die Visceralnerven mit eingelagerten besonderen
Kiemenganglien.
Das Nervensystem der Bryozoen (Moostierchen) besteht nach Ger-
werzhagen, welcher das Nervensystem von Crista teil a nt u c e d o
O u v. untersucht hat. aus einem supraösophagealen Ganglion, den durch
Ausstülpungen desselben entstandenen Ganglienhörnern. einer lteihe von
Nervenstämmen und typischen Gangliennetzen (Fig. 19). Das supraösophageale
Ganglion entsteht embryonal durch Invagmation und liegt heim erwachsenen
Tier als querovale Blase dicht analwärts vom Ursprung des Epistoms der
Dorsahvand des Ösophagus an. Der Hohlraum der Blase ist zum 'Feil reduziert
infolge der mächtigen Entwicklung der dorsalen und basalen Wand, wo ein
ringförmiger Willst, nach innen vorspringt. Der dem Ösophagus anliegende Teil
der Ganglienwand ist sehr dünn. Auf der Analseite sitzen dem Ganglion
apikalwärts zwei mächtige Arme auf, die Ganglienhörner. Sie entstehen
embryonal als Auswüchse des Ganglions und lassen im Innern einen Kanal
erkennen, der mit der Hirnhühle kommuniziert. Demnach sind sie morpholo¬
gisch zum Zentralnervensystem zu rechnen. Sie ziehen sich bis zum Ende
des hufeisenförmigen Lophophors hin mul geben zahlreiche Aste zu den Ten¬
takeln ab.
Das Zentralnervensystem der E c h i n o d e r m e n (Stachelhäuter) besteht
aus einem den Mund oder Schlund umgebenden, aus Ganglienzellen und
Nervenfasern bestehenden Nervenring und von diesem in die Radien ausstrah¬
lenden Hauptstämmen, welche bei den Crinoideen (Haarsternen) und Asteroiden
(Seesternen) epithelial in der Ambulakralrinne verlaufen, bei den übrigen
Echinodermen in die Cutis oder unter das Hautskelett gerückt sind und die
Haut sowie ihre Anhänge innervieren. Dazu kommen tiefer liegende, an der
Jacobsohn-Lask, Die Kreuzung der Nervenbahnen usw. (Abh. H 20.) 4
50
oralen Seite des Körpers verlaufende Nervenstamme. sowie ein besonders stark
bei Orinoideen ausgebildetes apikales System von Nerven, das nur bei den
Holothurien vermißt wird.
EdisJo
St nlahelhrone
77V
Fig. 19. Das Nervensystem von Cristatella mncedo Cuv. (Moostierchen).
Nach ßerwerzhagen.
Das Nervensystem der Chaetognathen (Borstenkiefer) besteht aus
einem im Kopfe gelegenen Zerebralganglion, das durch eine Kommissur mit
einem großen im Rumpfabsehnitt gelegenen Ventralganglion in Verbindung
steht. Dazu kommen noch zwei nel en dem Munde gelegene Ganglien, welche
durch eine Schlundkommissur untereinander und mit dem Kopfganglion ver¬
bunden sind. Während vom Zerebralganglion der Kopf innerviert wird, gehen
vom Ventrulganglion die Nerven für Rumpf und Sch>vanz ab und enden in
einem Nervenplexus. Fast alle Teile des Nervensystems liegen im Epithel
der Haut.
Das Zentralnervensystem der Tunikaten (Manteltiere [Fig. 20’) be¬
schränkt sich entweder auf ein einfaches dorsal vom Pharynx ge
legenes Ganglion, welches bei den Salpen eine ansehnliche Größe
erreicht, oder es besteht, wie bei den Appendieularien aus einem in
Größe erreicht, (der es besteht, wie bei den Appendieularien aus einem in
drei Partien eingeschnürten Gehirnganglion und verlängert sich in einen
51
ansehnlichen Nervenstrang, welcher in (len Schwanz eintritt. an der Basis des¬
selben in ein Ganglion anschwillt und im weiteren Verlaufe unter Abgabe von
Seitennerven mehrere kleinere Ganglien bildet. In dem Rudersehwanze liegt
ventral vom Nervenstrang die Chorda dorsalis. welche die ganze Länge des
Schwanzes durchzieht, und der seitlich die Schwanzmuskulatur aniiegt. (Fig. 44.)
Nervenrohr
i
I
Chorda
Schwanz
Darm
Fig. 20. Medianschnitt einer Ascidienlarve (Tunicafa) sehe-
raatisch dargestellt. Nach R. H e r t w i g.
Kim* ausführliche: Schilderung tles Nervensystems der Wirbellosen gibt
(lege n bau r in seinem bekannten Lehrbuche der vergleichenden Ana¬
tomie der Wirbeltiere. I p. 705—722.
überblickt man das Ganze, so bietet sich das Nervensystem der
Wirbellosen in seiner einfachsten Form als ein diffuser suüepithelial,
zwischen Epithel und Muskelschlauch gelegener Nervenfaser- und
Nervenzellplexus dar. Dieser Plexus fängt an derjenigen Stelle, wo
sich die Sinnesorgane anhäufen und Mundhilfsorgane sich ausbilden,
an, sielt zu konzentrieren. Es bildet sich dort ein mit gedrängter
liegenden Nervenzellen versehener Nervenring aus. Nervenzellen
und Nervenfasern kondensieren sich am King zu Haufen und zu ring¬
förmig gelagerten Strängen, und letztere verbinden die konzentrier¬
ten Zellager mit dem peripherischen Nervenplexus. Indem nun die
Zellhaufen am Schlundringe sich immer mehr vergrößern, nehmen sie
entweder die ringförmigen Stränge in sich auf resp. umscheiden sic.
d. h. es bilden sich zwei symmetrisch nahe beieinander liegende
Ganglien oder es bleibt der Schlundring wie vorher bestehen. Die
beiden zur Seite des Schlundes gelegenen Ganglien verschmelzen
dann zu einem einheitlichen Organ, dem S u p r a ö s o p h a ge a 1-
ganglion (bzw. Zerebralganglion resp. Gehirn). Die Entwicklung
des Zentralnervensystems gestaltet sieh dann weiter in der Weise,
daß die Verbindungsbahnen zwischen dieser ersten Zentralstelle
und dem Nervenplexus sich auch zu Strängen kondensieren. Bald
erreichen diese Stränge eine solche Ausdehnung, daß sie den ganzen
Körper axial durchziehen. Die Zahl dieser Stränge und ihre Lage-
4*
rung ist verschieden; am stärksten sind gewöhnlich die Ventral¬
stränge, während die Lateral- und Dorsalstränge viel dünner sind.
Diese Stränge enthalten in ihrem Verlaufe außer Nervenfasern auch
mehr oder weniger zahlreiche Nervenzellen; sie sind durch Kom¬
missuren miteinander verbunden und gehen am Körperende häufig
schlingenförmig ineinander über. (Fig. 13.)
Mit der Ausbildung der Körpermetamerie, der homonomen wie
heteronomen, sammeln sich die bisher in den Strängen zerstreut
liegenden Nervenzellen zu einzelnen isoliert lagernden Haufen an
und bilden im Verlaufe der Stränge getrennt voneinander liegende
paarige oder unpaare Ganglien, welche an Zahl zumeist der Zahl
der Metameren entsprechen. Während die vorderste Zentralstation,
das Gehirn, dorsal vom Schlunde gelegen ist, liegen die anderen
ventral vom Darm und bilden mit ihren sie verbindenden Strängen
den sog. Bauchstrang. (Fig. 14 und 16.) Vom Gehirn gehen
Nervenbahnen zu den im Kopf liegenden Sinnesorganen und zu den
am Munde gelegenen Anhängen aus, von den übrigen Ganglien
Nervenbahnen, die das Zentralnervensystem mit dem peripher ge¬
legenen Nervenplexus verbinden.
Je nach der Organisation des tierischen Körpers, besonders je
nach der Verschmelzung der einzelnen Metameren zu größeren ge¬
meinsamen Körperabschnitten, je nach der Ausbildung von Bewe¬
gungsanhängeapparaten bald mehr im vordersten oder mittleren
oder hinteren Körperabschnitt, je nach der Entwicklung von be¬
sonders kondensierten Sinnesapparaten, je nach der Langgestreckt-
heit oder Gedrungenheit des ganzen Körpers etc. variiert die
spezielle Ausbildung und Konzentration des Zentralnervensystems.
Dies zeigt sich darin, daß einzelne oder viele Bauchganglien mit¬
einander zu wenigen verschmelzen (Fig. 16), ferner darin, daß sich
im Kopfbezirk eine größere Anzahl von Ganglien ausbildet., die ent¬
weder getrennt, nur durch Kommissuren miteinander verbunden,
liegen (Fig. 17) oder sich zu einer einzigen großen kompakten Gang¬
lienmasse vereinigen (Fig. 18), welche bei den Hymenopteren ihren
höchsten Grad erreicht. Die Zentralisation kann schließlich so weit
gehen, daß sämtliche Ganglien, sowohl Zerebral- wie Ventralganglien,
zu einer einheitlichen Masse verschmolzen sind. Zu erwähnen ist
schließlich noch, daß das Zentralnervensystem bei den Chordaten
(also Tunikaten unter den Wirbellosen) sich wenigstens im Schwanz¬
teil dorsal vom Dann und von der Chorda gelagert hat (Fig. 20)
und daß es bei den Bryozoen einen Holdraum aufw'eist, der sich
durch seine ganze Länge hinzieht. (Fig. 19.)
53
Einen ähnlichen Aufbau des Nervensystems schildert kurz
Rädl p. 222:
„Auf niedrigeren Organisationsstufen bleiben die universalen
Ganglien ziemlich selbständig und treten als untereinander gleich¬
wertige Einheiten zum Aufbau des Zentralnervensystems zusammen;
wo aber die Organisation mehr vorgeschritten ist, dort tritt eine
Zentralisation des Nervensystems ein, indem sich mehrere
Ganglien zu höheren Einheiten verbinden. Dieser Fortschritt im
Aufbau des Nervensystems läßt sich besonders an der Bauch¬
ganglienkette der Arthropoden Schritt für Schritt verfolgen. Bei
den Tausendfüßern liegt in jedem Körpersegment ein Ganglion; bei
den Insekten und Krustazeen fließen aber die Bauch- und Thorakal¬
ganglien mehr oder weniger enge zusammen, bis bei einigen, wie
z. B. bei der Fleischfliege (Sarcophaga) oder bei der gemeinen Krabbe
(Carcinus) alle Ganglien des Bauchstranges zu einem Zentrum zu¬
sammentreten, wobei allerdings die Grenzen der einzelnen Ganglien
mehr oder weniger sichtbar erhalten bleiben.“
Nach diesen tatsächlichen Verhältnissen, wie sie sich in den
einzelnen Abteilungen der Wirbellosen zeigen, ist nun die Frage zu
beantworten, ob das Zentralnervensystem der Wirbeltiere aus dem¬
jenigen der Wirbellosen abgeleitet werden kann. Die Mehrzahl der
Forscher dürfte die Frage wohl bejahen, nur über das Wie des Ent¬
wicklungsvorganges sind die Ansichten sehr geteilt. Wenn man das
Zentralnervensystem der Wirbellosen neben dasjenige der Wirbeltiere
stellt, so fällt der Unterschied zwischen beiden sofort ins Auge.
Gegenüber der Mannigfaltigkeit der Gestaltung bei den Wirbellosen
steht die Gleichartigkeit des Grundbaues bei den Wirbeltieren. Ähn¬
lichkeiten zwischen beiden zeigen sich genügende. So geht, wie ge¬
schildert wurde, die Konzentration der Nervensubstanz bei einzelnen
Wirbellosen so weit, daß sich eine kontinuierliche einheitliche Masse
bildet, so ist das Zentralnervensystem bei anderen Wirbellosen auch
dorsal vom Intestinalkanal und von der Chorda gelagert, so enthält
es bei einzelnen schließlich auch einen durch die ganze Länge der
zentralen Masse durchgehenden kanalartigen Ilohlraum. Aber bei
keiner der Gruppen summieren sich die Ähnlichkeiten so zusammen,
daß dadurch ein unmittelbarer Übergang von der einen Art zur
anderen hergestellt werden kann. Gegenüber mancher Ähnlichkeit
sind bei jeder Gruppe der Wirbellosen die Unterschiede im Bau des
Zentralnervensystems im Vergleich zu dem der Wirbeltiere so große,
daß sich eine lückenlose Kontinuität nicht erkennen läßt. Aus
diesem Grunde kamen die Forscher, wie schon hei Besprechung der
54
»S p i t ze r sehen Arbeit erwähnt wurde, zu der Überzeugung. daß sieh
der Vertebratentypus aus keinem der zur Zeit Itbenden Typen der
Wirbellosen gebildet hat. sondern daß sieh die verschiedenen Klassen
der Wirbellosen und die Vertebratenklasse. jede für sieh, aus einem
allen gemeinsamen Vorfahren abgezweigt haben. Hierbei hätte nun
jede Klasse sieh nach besonderen, von den Lebensverhältnissen ab¬
hängigen Einflüssen eigens differenziert, so daß jede mit der anderen,
weil aus dem gleichen Vorfahren stammend, gewisse Ähnlichkeit
aufweist, alter sonst doch wesentlich verschieden ausgestaltet wäre.
( her die Art nun, wie sich der Vertebratentypus aus diesem
gemeinsamen Vorfahren entwickelt hat. gehen die Ansichten sehr
auseinander. Es würde zu weit führen, alles, was darüber erforscht
ist, und wie das Erforschte gedeutet worden ist. hier anzuführen.
Ich will nur neben der schon gegoltenen Auffassung von Spitzer
die kurze Darstellung, die H. E. Ziegler zusammenfassend in
seinem Lehrbuch der Entwicklungsgeschichte der niederen Wirbel¬
tiere gibt, anführen, ferner eine Hypothese von Gaskeil ausführ¬
licher erläutern, und schließlich noch eine von Delsman aufge¬
stellte Hypothese erwähnen.
Ziegler sagt darüber folgendes: „Zur Zeit, als der Blasto-
porus (Drmund des Gastrulastadiums) Mund war, stellte die Medullar-
platte eine Flimmerrinne dar. welche zu dem Munde führte,ähnliehdem
Flimmerstreifen, welcher an der Ventralseite der Troehophora (Lar¬
venzustand) von Anneliden und Mollusken verläuft. Die Ernährung
fand also in der Weise statt, daß feine Nahrungsteilchen durch die
Flimmerung der Medullarplatte in den Blastoporus geführt wurden.
Als dann die Medullarplatte rinnenförmig wurde und an ihrem Teile
vom Ektoderm überdeckt war.ging der Wasserstrom durch den vorde¬
ren Neuroporus ein und gelangte durch den Canalis neurentericus in
den eigentlichen Darmkanal. Aus diesem mußte das Wasser durch
periodische Umkehrung der Strömungsbewegung wieder ausgeleert
werden oder durch die Körperwandung hindurch diffundieren. Das
eine wie das andere war ein unvorteilhafter Umstand, welcher be¬
hoben wurde, indem an dem eigentlichen Darm andere Öffnungen
entstunden, der After, die Kiemenspalten und der Mund. Vielleicht
ist der After die älteste dieser Öffnungen und hatte ursprünglich nur
die Funktion, das durch den Neuralkanal einströmende Wasser
periodisch aus dem Darmkanal abzulassen. Als dann der Mund und
die Kiemenspalten entstanden, war die Nahrungszufuhr durch den
Neuralkanal nicht mehr nötig und folgte die Olditeration des Canalis
neurentericus. Nachdem der Neuralkanal seine Verbindung mit deut
oo
Darm verloren hatte, hatte vielleicht das Epithel des Zentralkanales
noch lange Zeit die Funktion eines Sinnesepithels, bis im weiteren
Gange der Stammesentwicklung auch der Verschluß des vorderen
Neuroporus erfolgte.“
G a s k e 11 ist der Ansicht, daß das Zentralnervensystem der
Wirbeltiere sich aus demjenigen der wirbellosen Appendikulaten,
speziell der Limulusart (Molukkenkrebs) entwickelt hat. Ein Hinder¬
nis bildete bisher der Gegensatz, daß das Nervensystem der Wirbel¬
losen segmentiert ist, während das der Wirbeltiere einen durch¬
laufenden unsegmentierten Zentralkanal besitzt. Wenn nun, wie aus
den Untersuchungen von G a s k e 11 hervorgehen soll, der Zentral¬
kanal der Wirbeltiere nichts anderes ist, als der epitheliale Digestions¬
kanal der Wirbellosen, so war diese Schwierigkeit gehoben und die
Ableitung des einen Zentralnervensystems aus dem anderen möglich.
Dazu war dann noch der weitere Nachweis zu erbringen, daß sich
bei den Vertebraten ein neuer Digestionskanal gebildet hat, der nun
ventral vom Zentralnervensystem lag, während der primäre der
Invertebraten bis auf das supraösophagcale Ganglion dorsal von
ihm lag.
Es ergab sich G a s ke 11 bei diesem Vergleich, daß die Gehim-
hemisphären mit den Seh- und Riechnerven genau mit den supra-
ösophagealen Ganglien korrespondieren, daß die Crura cerebri mit
dem zwischen ihnen gelegenen epithelialen Infundibularkanal, mit
welchem sie die ventrale Oberfläche des Gehirns erreichen, genau
den ösophagealen Kommissuren entsprechen, und daß sich die Pineal¬
augen harmonisch einfügten als Überreste der Medianaugen von den
wirbellosen Vorfahren. Der letztere Umstand läßt den Autor an¬
nehmen, daß der wirbellose Vorfahre eher den Arthropoden, speziell
dem Limulustypus (Molukkenkrebs), angehören müsse, als den
Anneliden.
Die Hypothese von G a s k e 11 begreift es in sich, daß das
Vertebratengehirn durch Konzentration und ständige Vergrößerung
der Supra- und Infraösophagealganglien. und zwar zusammen mit den
sie verbindenden Ösophaguskommissuren, bis zu solchem (trade ge¬
wachsen ist, daß der Ösophagus immer weiter eingeschnürt und
schließlich funktionslos wurde, und die Wände des Kopfmagens zum
Teil das auskleidende Epithel der Ventrikelhöhlen, zum Teil das
membranöse Dach oder der Plexus chorioideus wurden. In den niede¬
ren Gruppen der Arthropoden findet man daher den Anfang dieser
Konzentration, welche bei höheren Arten weiter fortschritt und zur
Zusammenballung solcher llirnmasse führt«*, die dann vergleichbar
56
ist mit dem Gehirn niederer Vertebraten, wie es Ammocoetes
darstellt.
Das Nervensystem der Arthropoden kann man nach G a s k e 11
in einen preoralen und in einen infraoralen Abschnitt teilen. Letzteren
kann man wieder teilen in einen prosomatischen, mesosomatischen
und metasomatischen. Das infraösophageale Ganglion kann bei den
meisten Arthropoden als eine Ganglienmasse betrachtet werden,
welche durch Verschmelzung der prosomatischen oder Mundganglien
entstanden ist, während die mesosomatischen und metasomatischen
noch einzeln und getrennt bleiben. Die Zahl der Ganglien, welche
verschmolzen sind, erkennt man am Embryo, an welchem man
Markierungen der einzelnen Ganglien oder der Neuromeren noch
sieht, während diese am erwachsenen Tier nicht mehr sichtbar zu
sein brauchen. So kann man nachweisen, daß das infraösophageale
Ganglion des Craifisches aus sechs prosomatischen Ganglien zu¬
sammengesetzt ist. Die von G a s k e 11 gegebenen Figuren 21, 22, 23
veranschaulichen die auf¬
steigende Konzentration
und Verschmelzung der
Ganglien und dieHomologie
mit Ammocoetes.
Zuerst sind die vor¬
dersten Ganglien zu einer
Masse, dem supraösopha-
gealen Ganglion verschmol¬
zen. In ihm liegen die
Zentren für Optikus, 01-
factorius und I. Antenne.
Dann verschmelzen die pro¬
somatischen Ganglien zum
Unterschlundganglion. In
ihm liegen die Zentren für
die Nerven der Mundteile
und der II. Antenne und zu¬
letzt verschmelzen nach
und nach die mesosomati¬
schen Ganglien, welche die
Zentren für die respira¬
torischen Apparate enthalten. Gleichzeitig verschmelzen Ober¬
schlund — Unterschlund — und die weiteren Ganglien zu einer
tische Darstellung
des vorderen Ab- Fig. 22. Schematische
Schnittes desZentral- Darstellung des vorderen
nervensystems von Abschnittes des Zentral-
Astacns (Flusskrebs). nervensystems von
NachW. H. Gaskeil. Scorpio.
Nach W. H. Gaskell.
57
zusammenhängenden Zentralnervenmasse,
während die metasomatischen Ganglien in
der Kaudalregion sich vereinigen. Mit der
Verschmelzung der mesosomatischen
Ganglienmasse mit der prosomatischen
geht einher, daß die Lokomotionsfunktion
der bisherigen mesosomatischen Apparate
verloren geht und diese Zentren ganz in
den Dienst der Respiration treten.
Ein so verschmolzenes Gehirn, wie es
Thelvphonus (Fadenskorpion) zeigt, ist
nach G a s k e 11 vollständig homolog dem
Vertebratengehirn, welches auch aus drei
Teilen aufgebaut ist, nämlich 1. dem
prächordalen Gehirn oder den Gehirn-
hemisphären im Verein mit den basalen
und optischen Ganglien. Es korrespon¬
diert mit dem supraösophagealen Gang¬
lion mit seinem olfaktorischen und
optischen Teilen, die vor dem Infundibu-
larkanal oder dem alten Ösophagus liegen,
2. dem epichordalen Gehirn, welches wie¬
derum teilbar ist in eine trigeminale und
eine Vagusabteilung. Von diesen Abtei¬
lungen entspricht die trigeminale genau
der verschmolzenen prosomatischen Gang¬
liengruppe und die Vagusgruppe der ver¬
schmolzenen mesosomatischen.
r
Fig. 23. Schematische Dar¬
stellung des vorderen Abschnit¬
tes des Zentralnervensystems
von Ammocoetes.
Nach W. H. G a s k e 11.
I Olfactorius.
II Optikus.
II’ Nerv des Medianauges.
A Nerven aus dem Unter-
Mit der Massenzunahme und Ver¬
schmelzung der Ganglien besonders zu¬
nächst der beiden vordersten, des Supra-
und Infraösophagealen, wurde, wie schon
schlundganglion.
B Nerven aus den Thorakal¬
ganglien.
(Vgl. hierzu die Fig. 21 u. 22.
erwähnt, der Ösophagus immer stärker komprimiert, bis es schließlich
zu einer Obliteration desselben an der Grenze zwischen den beiden
Ganglien kam, wobei ein blindsackartiger Fortsatz, das Infundibulum,
bestehen blieb, der für das Zentralnervensystem der Vertebraten als
typischer Rest des ehemaligen vorderen Teils des Digestionskanals
bestehen blieb. Durch diese Abtrennung des ehemaligen Digestions¬
kanales und Einbeziehung in das Zentralnervensystem als zentrale
Röhre war dem Wachstum des Nervensystems freie Bahn geschaffen,
indem es nicht, mehr in Kollision mit dem Digestionskanal kam, weil
58
letzterer nun einen neuen Weg sich gebahnt hatte, der unabhängig
und nun ventral vom Zentralkanal (dem ehemaligen Digestions-
traktus) seinen Verlauf nahm. (Fig. 7 und 8.)
Vergleicht man nun den Bau des Gehirns von Ammocoetes
zunächst mit dem von Petromyzon, so wird die ganze Decke
des Gehirns von Ammocoetes in der epichordalen Region von
einer aus vielen Falten bestehenden epithelialen Membran gebildet,
die nur an einer Stelle von dem Verlauf des 4. Hirnnerven einge-
schnürt und unterbrochen wird, wo auch die ersten Anfänge des
Cerebellum sich zeigen. (Fig. 8.) Bei Petromyzon ist nervöses
Material von ventral nach dorsal aufgestiegen und hat noch zur Bil¬
dung der Corpora quadrigemina post, geführt. Hierdurch ist dann
der Aquaeductus Sylvii entstanden. Bei den Amphibien wird dieser
dorsale Kleinhirnstreifen schon etwas größer, vermehrt sich bei den
Fischen noch mehr und es kommt zur Bildung der Kleinhirn¬
hemisphären, deren Ausbildung bei den Mammaliern immer weiter
fortschreitet.
Ebenso, meint G a s k e 11, könne man verfolgen, daß die vorde¬
ren Gehirnhemisphären des Menschen sich aus den Hirnlappen von
Ammocoetes durch Wachstum der Nervenmasse über dem ur¬
sprünglich membranösen Mantel gebildet haben, und daß bei allen
\ r ertebraten die übrigen Dachpartien bestehen bleiben als einfache
epitheliale Bildungen, die Plexus chorioidei, das Dach des 4. Ventri¬
kels und die Lamina terminalis. (Nach Johnston zeigen die Ver¬
hältnisse bei Petromyzon, daß das primitive Vertebratenhirn ein in
seiner ganzen Länge chorioidales Dach besitzt, welches nur durch
Kommissuren Verdickungen hat.)
In der ganzen Gruppe der Arachniden und bei Limulus, bei den
alten ausgestorbenen Seeskorpionen Eurypteros. Ptervgotus etc.
existierten zwei oder mehrere Medianaugen, welche von gut abge¬
grenzten Optikusganglien innerviert werden. Bei Limulus haben diese
Augen angefangen, ihre Funktion zu verlieren (Lancester). In
gleicher Lage findet man bei Ammocoetes ein Paar Medianaugen,
von welchen eins deutlich und wohl ausgebildet ist. Es besitzt einen
Sehnerv, der aus einem gut abgegrenzten Hirnteil, dem Ganglion
habenulae, entspringt. Dieses Auge besitzt Arthropodentypus und
hat wahrscheinlich dieselbe Funktion wie bei Limulus. In der
weiteren Vertebratenentwicklung verliert das Pinealauge an Deut¬
lichkeit des Ursprungs. Seine optischen Ganglien (Ganglia habenulae)
geraten mehr und mehr in den Hintergrund, bis das Ganglion habe¬
nulae nur noch als ein kümmerlicher Rest übrig bleibt mit wenigen
59
Zellen, die im Thalamus opticus liegen. Aus dem Medianauge ent¬
steht die Glandula pinealis mit ihrem Pigment und Gehimsand als
ein Teil des ursprünglichen Ösophagus. Nach Gaskell ist das
Pinealauge von allen Merkmalen das deutlichste, welches die Natur
stehen gelassen hat, um den Entwicklungspfad aufzuweisen. (Auch
nach Johnston funktioniert der Pinealapparat bei Petromyzon
als ein lichtperzipierendes Organ und steht in Beziehung zum Gang¬
lion habenulae.)
Nach Gaskell sind nicht Amphioxus und die larvalen Tuni-
katen zum Ausgangspunkt für die Entwicklung des Vertebraten-
gehims zu nehmen, weil Amphioxus und die Tunikaten degenerierte
Formen eines Ammocoetes ähnlichen Wirbeltieres sind.*) Ammo-
coetes zeigt aber diese Degeneration nicht. Er ist auch kein Parasit
und deshalb degeneriert, sondern er ist freilebend; er saugt sich mit
seinem Munde nur an Steinen an, um sich gegen die Strömung zu
sichern, nicht aber an Fischen, um von deren Nahrung zu leben (wie
Dohrn meint). Er ist kein Abkömmling der gnathostomen Fische
und keine Rückbildung von diesen. Die Tunikaten dagegen seien
degenerierte Vertebraten, weil sie nur im larvalen Zustande Verte¬
bratencharaktere zeigen, während diese Charaktere in der erwachse¬
nen Form schwinden und das Tier aus höherer Organisationsform in
eine niedere sinkt. Beim Ammocoetes aber ist es umgekehrt. Der
Larvenzustand (Ammocoetes) zeigt niedere Formung und das er¬
wachsene Tier (Petromyzon) stellt den höheren Vertebratentypus dar.
Das zeige sich an der Ausbildung des Kopfschädels, des Zentral¬
nervensystems, des neuen Digestionsapparates und an der Ab¬
streifung von Organen, welche in Struktur und Funktion dem Arthro-
podentypus angehören. Petromyzon ist also der elementare Verte-
brate, von dem einerseits höhere Vertebraten aufsteigen, andererseits
Amphioxus und die Tunikaten absteigen.
Die Einwürfe der Embryologen, daß das Nervensystem vom
Ektoderm, der Digestionskanal vom Entoderm gebildet wird, läßt
Gaskell nicht gelten. Sie münden beide ineinander, und was an
der Einmündungsstelle aus dem einen oder anderen Keimblatt sich
ausbildet, läßt sich schwer feststellen. Seine Hypothese von der
Bildung des Zentralnervensystems erklärt die Bildung besser als die
*) In der neuesten Arbeit, über den Amphioxus von Victor Franz
kommt der Autor zu dem Ergebnis, daß der Lanzettfisch in keinem Punkte
rückgebildet ist. sondern daß er bis zu bestimmtem Grade in eigener Art Uber
die Ausgangsform der Kranioten hinaus entwickelt ist. Andere Autoren,
wie z. B. Arie n s K a p p e r s, scheinen doch mehr der Ansicht Gas¬
kell» zu sein.
60
dogmatische Keimblätterlehre, die von verschiedenen Seiten schon
starke Anfechtungen erfahren hat.
Diese letztere Ansicht von G a s k e 11 scheint mir eine gewisse
Berechtigung zu haben. Ich habe auch den Eindruck, daß die An¬
sicht, das Zentralnervensystem entstehe ausschließlich aus dem
äußeren Keimblatt, eine zu starr dogmatische ist. Man braucht sich
nur Querschnitte von Hühnerembryonen aus den ersten Tagen anzu¬
sehen, um in bezug auf diese Lehre zu Zweifeln zu kommen. Man
beobachtet in diesen ersten Entwicklungsphasen, daß in der dorsalen
Medianlinie die drei Keimblätter noch nicht getrennt sind, daß viel¬
mehr die massenhaften gleichartigen Keimzellen hier einen großen
aneinander geballten Haufen bilden, der sich kontinuierlich ohne jede
Unterbrechung und ohne jede mögliche Unterscheidung einzelner
Elemente von anderen von der nach außen gerichteten Peripherie
bis zu der nach innen gerichteten des Embryo hinzieht. Dieser Zu¬
sammenhang aller gleichartig aussehenden Keimzellen besteht auch
in Gegenden, wo sich die Medullarrinne schon in beträchtlicher Tiefe
gebildet hat. (Fig. 23a.)
Erst in den oraleren
Gegenden des ca. 3 Tage
alten Embryos, wo die
Medullarrinne schon nahe
der Schließung zum Rohr
ist. haben sich auch in
der dorsalen Medianlinie die Keimblätter so isoliert, daß sie als
solche klar voneinander zu scheiden sind. In der intermediären Zeit
zwischen dem Ursprungs- und diesem letzterwähnten Stadium, sind
sie aber in der dorsalen Mittellinie so miteinander verschmolzen, daß
es unmöglich ist, zu sagen, welche von all diesen Keimzellen dem
äußeren, dem mittleren und dem inneren Keimblatte angehören.
Höchstens von den ganz an der äußeren oder inneren Peripherie
gelegenen Zellen läßt sich dies mit Wahrscheinlichkeit bestimmen.
Es gehen aber aus dem gemeinsamen Zellhaufen der drei Keimblätter
viel mehr Keimzellen in die Medullarrinne über als gerade an der
äußeren Peripherie gelegen sind. Nach diesen Verhältnissen, wie sic
sich dem Beschauer darbieten, komme auch ich zu der Ansicht, daß zur
Bildung des Medullarrohrs nicht nur Elemente des Ektoderms, son¬
dern zu mindestens auch des Mesoderms, vielleicht auch des Ento-
derms beitragen.
Gaskeil bemüht, sich seldießlUh gegenüber Einwürfen von
Fürbringe r zu erweisen, daß die Kranialregion älter wäre als
Fig. 23a.
01
die spinale, daß ferner der nahe Vorfahre der Vertebraten segmentiert
gewesen ist. und daß in der Entwicklung der Tiere das Zentral¬
nervensystem ein ungleich bedeutsamerer Faktor gewesen ist als der
Ernährungskanal. Der dominierende Faktor des Entwicklungs¬
prozesses, w T obei höhere Formen aus niederen entstehen, sei die
ständige Zunahme von Hirnkraft, unmaßgeblich von dem Umstande,
ob sich der Ernährungskanal dabei mit verändert. Die Geschichte
der Entwicklung zeige deutlich, daß das Ego des Individuums im
Gehirn liegt und nicht im Ernährungskanal. Welche Veränderungen
auch immer in anderen Organen vor sich gehen, die Frage, ob eine
höhere oder niedere Tierform entsteht, sei abhängig von der Um¬
bildung des Gehirns. Es sei daher klar, daß der wirbellose Vorfahre
der Wirbeltiere ein etwas winzigeres Gehirn gehabt haben muß, als
das niederste Wirbeltier, während das für den Digestionskanal nicht
zu sein braucht.
Auch in funktioneller Hinsicht bewiesen die experimentellen
Beobachtungen von W a r d und M a x w e 11 am Erdwurm, Flu߬
krebs und an Nereis, ferner von B e t h e am Flußkrebs und anderen
Arthropoden und von Celesia an Astacus, daß
1. die supraösophagealen oder preoralen Ganglien der höheren
Arthropoden genau vergleichbar mit der prechoi'dalen oder
Vorderhirnregion der Vertebraten seien nicht nur wegen ihrer
Verbindung mit dem speziellen Olfaktorius- und Optikusorgan,
sondern auch in ihrer führenden Rolle und in ihrem hemmen¬
den Einflüsse auf tiefer gelegene Ganglienzentren;
2. die verschmolzenen prosomatischen oder Mundganglien, welche
mit den supraösophagealen durch die Schlundkommissuren
verbunden sind, genau vergleichbar mit dem trigeminalen oder
präotitischen Teil der epichordalen Himregion der Vertebraten
wären. Die Ähnlichkeit bestände nicht nur darin, daß dieser
Hirnteil mit den Nerven der prosomatischen Gliedmaßen und
Segmenten Verbindungen hat. sondern auch darin, daß dieser
Himabschnitt als großes koordinatorisches und Gleichgewichts-
zentrum funktioniert, ein Zentrum, welches, obgleich subordi¬
niert dem Supraösophagealganglion. es dem Tiere doch er¬
möglicht. koordinierte Gehbewegungen auszuführen und sein
Gleichgewicht, wenn es gestört ist. zu erlangen, wenn dieses
supraösophageale Ganglion entfernt worden ist. ln der kor¬
respondierenden Hirnregion der Vertebraten lande man auch
bei Ammocoetes. daß die Trigeminusgruppe nicht nur die
Reste der prosomatisohen Anhänge versorgt, sondern daß von
62
dieser Gegend aus sieh auch das Kleinhirn und die hinteren
Vierhügel entwickeln. Man könne also einen deutlichen koor-
dinatorischen und equilibrierenden Mechanismus verfolgen von
der beginnenden Konzentration der prosomatischen oder Mund-
ganglien bei den Würmern bis herauf zu der mächtigen Klein-
hirnmasse und den Corpora quadrigemina beim Menschen.
Die mesosomatischen oder thorazischen Ganglien, welche ur¬
sprünglich getrennt waren, versorgen bei einer großen Anzahl von
Arthropoden Organe, welche zum Gehen und Schwimmen dienen.
In vielen Fällen tragen diese Organe den respiratorischen Branchial-
apparat. So sind bei Limulus die mesosomatischen Anhänge in
weitem Umfange branchial, wenn sie auch noch Schwimmfunktion
beibehalten. Beim Skorpion dagegen sind alle Andeutungen zur Be¬
wegungsfunktion geschwunden und nur die respiratorische Funktion
ist geblieben.
Die Beobachtungen von II y d e (Journ. of Morphol. 1894) hätten
gezeigt, daß jedes Paar der mesosomatischen Ganglien bei Limulus
als ein unabhängiges respiratorisches Zentrum für ihren eigenen
Branehialapparat funktionieren kann, und daß die mesosomatischen
Ganglien zusammen als ein automatisches Respirationszentrum, unab¬
hängig von den prosomatischen wie supraösophagealen Ganglien
funktionsfähig sind. Da sich durch Konzentration von immer mehr
dieser Ganglien und durch Verschmelzung mit den prosomatischen
bei Thelyphonus die Medulla oblongata bildet, so könne man nun
verstehen, daß ein automatisches respiratorisches Zentrum in dieser
Oblongata liege, welches unabhängig sowohl von den prosomatischen
wie supraösophagealen Ganglien funktionieren kann. In völliger
Übereinstimmung damit besitze auch bei Ammocoetes und bei
allen Vertebraten die Medulla oblongata das automatische Respira¬
tionszentrum.
Auch bei den Wirbellosen übten allgemein die oraler gelegenen
Ganglien einen inhibitorisehen Einfluß auf die kandaleren aus. in¬
dem nach Abtrennung der oraleren die Reflexerregbarkeit der kanda¬
leren erhöht sei. Das stimme ganz mit dem Verhalten der Verte¬
braten überein.
Vergleicht man diese recht bestechend wirkende G a s k e 11 sehe
Anschauung von der Entwicklung des Zentralnervensystems der
Vertebraten mit den Anschauungen, welche Ziegler, Spitzer
u. a. vertreten, so ist zunächst festzustellen, daß alle Autoren von
einem phvletischen Zusammenhang überzeugt sind. Nur über den
Weg. den die Phylogenese eingeschlagen hat. sind sieh die Autoren
63
uneinig. Auch darin stimmen sie noch überein, daß ein Teil des
ursprünglichen Digestionstraktus der Wirbellosen in den Bau des
Zentralnervensystems der Wirbeltiere mit einbezogen worden ist.
Bei den einen, welche den ektodermalen Teil, die Neurostomalrinne
oder Wimperrinne, als den in das Nervensystem ein bezogenen Teil
betrachten, bleibt die Schwierigkeit noch ungelöst, daß bei dieser
Entwicklungsart das Zentralnervensystem ebenso ventral vom
Digestionskanal gelagert bleibt, wie es bei den Wirbellosen gewesen,
während in Wirklichkeit bei den Vertebraten das Zentralnerven¬
system dorsal vom Digestionstraktus liegt. Bei den anderen, wie
z. B. Gas keil, welche den entodermalen Teil des Digestions¬
traktus zum Zentralkanal der Wirbeltiere werden lassen, erhebt sich
die Schwierigkeit, daß in der Ontogenese die Neuralrinne der Verte¬
braten doch zum wesentlichsten Teil wenigstens aus dem Ektoderm
entsteht. Spitzer glaubte nun beide Schwierigkeiten durch die An¬
nahme einer Torsion der im Bereich der Chorda gelegenen Abschnitte
des Digestionskanales zu überwinden; — ein immerhin glücklicher
Gedanke. Denn hätte sich die Entwicklung so abgespielt, dann wäre
die Neurostomalrinne, also der ektodermale Abschnitt, der Vorläufer
des Zentralkanales (der Vorgang wäre also embryologisch einwand¬
frei), und ferner würde diese ektodermale Ursprungsstätte des Nerven¬
systems durch die Drehung auf die dorsale Seite kommen, und damit
auch die morphologische Lagerung der Teile einwandfrei sein. Das
wäre gewiß sehr schön, wenn sich die Torsion nur wirklich voll¬
zogen hätte, was eben nicht nachweisbar ist.
Glücklicher als der Spitzer sehe Versuch scheint mir der¬
jenige von Del sman zu sein, der durch eine kühne Hypothese das
Dilemma zu überwinden sucht. Dieser Autor nimmt an, daß die
Vertebraten von den Protostomiern, speziell von den Anne¬
liden abstammen, indem der Ösophagus dieser Vorfahren sich zum
Medullarohr der Vertebraten umgewandelt und der übrige Darm-
traktus, ebenso wie er eine Öffnung nach hinten (Anus) gefunden, so
auch eine neue Mundöffnung nach vorne sich gebahnt hätte, so daß
es nach Del sman eigentlich richtig wäre, die Vertebraten als
Tritostomier zu kennzeichnen. Die Homologie beider Bildun¬
gen, des alten Ösophagus und des Mcdullarrohres, springe in die
Augen. Beide stellen ein langes, englumeniges, kleinzelliges, e k t o -
dermales Rohr dar, welches an dem einen Ende (Mundöffnung—
Neuroporus) mit der Außenwelt, am anderen Ende (Blastoporus—
Canalis ncurentericus) mit dem Darmtraktus in Verbindung stellt.
Beide Bildungen sind mit Wimpern bekleidet, die auch bei Amphioxus
G4
und auch bei den höheren Chordaten in gleicher Richtung funktio¬
nieren wie bei den I'rotostoniiern. Der Schlund war zu der Meta¬
morphose besonders geeignet, weil er als ektodermales Gebilde von
anfang an ein Sinnesorgan gewesen ist und als solches zunächst zur
Perzeption des entströmenden Wassers und der in letzterem enthal¬
tenen Nahrungsitestandteile diente und noch heute bei den Wirbel¬
losen diese Funktion erfüllt. Del s man nimmt ferner an, daß die
Gehimplatte der Vertebraten der Scheitelplatte der Troehophora
(Larvenzustand der Anneliden) homolog ist. und daß der zum Nerven¬
rohr gewordene Ösophagus sich noch eine Strecke weit nach vorne
verlängert und die Scheitelplatte gleichsam annektiert hat. so daß
diese, sich einkrümmend, zum vorderen Abschnitt des Hirnbläschens
wurde. Der hintere Abschnitt des Gehirns, das Deuterencephalon.
stellt nach Delsman den vorderen Abschnitt des ehemaligen
Ösophagus dar, die Hirnenge entspricht dem ursprünglichen Munde
und das Arehenecphalon ist die als Fortsetzung des Ösophagus ein¬
gerollte Scheitelplatte. Bei dieser Annahme läßt sich nach Ansicht des
Autors eine vollständige Homologie in dem Entstehen und der Lokali¬
sation aller Sinnesapparate (Auge,Ohrbläschen,Geruchsorgan. Seiten¬
linienorgane) bei Evertebraten und Vertebraten erweisen. Der alte
Ösophagus kommt bei der Metamorphose in ganzer Länge gegen die
Bauchganglienkette zu liegen, ja er wird so dicht gegen letztere
gedrängt, daß er das rechte und linke Ganglion jedes Paares vonein¬
ander trennt. Dadurch können die Kommissuren zwischen den beider¬
seitigen Ganglien nicht mehr gebildet werden, und infolgedessen
wachsen die Nervenfasern in den Ösophagus, der in das Nerven¬
system als Medullarrohr aufgenommen wird, während die Bauch¬
ganglien der Würmer zu Spinalganglien der Vertebraten werden.
Wie ehemals bei niederen Evertebraten die Nervenzellen sich wahr¬
scheinlich aus Sinneszellen des Ektoderms gebildet haben, so bilden
sich die Nervenzellen des Zentralorganes der niedersten Vertebraten
aus den Sinneszellen des zum Zentralkanal umgewandelten
Ösophagus. Dies ist ungefähr in Kürze der Inhalt der Delsman sehen
Hypothese. Danach kann man die erste Frage etwa folgendermaßen
beantworten:
So schwer es auch immer bleiben wird, einen ganz lückenlosen
Zusammenhang resp. Cbergang des Zentralnervensystems von den
Wirbellosen zu den Wirbeltieren festzustellen, so sind doch die Annä¬
herungen zwischen den Nervensystemen der Avertebraten und denjeni¬
gen der Vertebraten so starke, wie aus den Darlegungen Gaskeils
und Del sm ans unzweifelhaft hervorgeht, daß zumindest ein hoher
65
Grad vonWahrscheinlichkeit besteht.daß beide aus einer gemeinsamen
Stammform herrühren, aus der sich die Formen der Wirbellosen in
mannigfaltigster Art mit der Tendenz zu steigender Konzentration,
die Vertebratenform nach Erlangring einer einheitlichen kontinuier¬
lichen Basis zu immer reicherer Entfaltung besonders des kranialen
Abschnittes entwickelten.
Auf alle Fälle beweist die Embryologie, daß auch der Wirbeltier-
körper sich in einer unendlich langen Entwicklungsreihe aus jenen
einfachen Stadien allmählich aufgebaut haben muß, wie es die
Wirbellosen zeigen. Denn in seiner ontologischen Entwicklung
passiert er in schneller Reihenfolge diese Stadien von seiner ersten
Anlage bis zu seiner vollen Entwicklung. Und was für den ge¬
samten Tierkörper gilt, das zeigt sich ebenso in der Entwicklung des
Nervensystems.
2. Kreuzen sich die Bahnen im Zentralnervensystem
auch schon bei den Wirbellosen in erheblichem Maße?
Viele Forscher sind der Ansicht, daß sich die Bahnen im Zentral¬
nervensystem der Wirbellosen nicht kreuzen, oder daß die kreuzenden
Fasern an Zahl so gering sind, daß sie ganz unberücksichtigt bleiben
können. So sagt Wundt sogar p. 175: ..Nach dem Eintritt in das
Leitungssystem der Großhirnrinde sind die bei den niederen Wirbel¬
tieren fast ganz fehlenden, bei den höheren immer voll¬
ständiger werdenden Kreuzungen der Leitungsbahnen vollendet.“
Ferner p. 281: „Wie nun bei den Wirbellosen überhaupt die meisten
Nervenbahnen auf der gleichen Körperseite bleiben.“ — Ca j a l sagt
in seiner Abhandlung p. 18: „In der Tat, beim Amphioxus, bei den
Würmern, bei denjenigen Tieren, bei welchen keine genügende senso¬
rische Zentralisation existiert und die Medulla oder die sie ver¬
tretende Ganglienkctte fast ausschließlich der Aufnahme der zentri¬
petalen Impulse dient, gibt es keine zentralen Bahnen im eigentlichen
Sinne des Wortes, sondern nur intraganglionäre Wege, direkte und
gekreuzte Reflexe, und zwar vorwiegend direkte wegen
des bei weitem häufigeren Vorkorn m e n s der h o m o -
lateralen motorischen Reaktionen.“*) Auch Spitzer
spricht sich in ähnlichem Sinne aus. indem er sagt: ..Die Neuralplatte
besteht aus zwei Längsbändern oder Strängen, von denen jeder ur¬
sprünglich h a u p t s ä c h 1 i c h d e r li o m o lateralen Seite
a n g e h ö r t.“ **) Das ist wohl nicht anders zu deuten, als daß die
*) Bei Cajal nicht gesperrt- gedruckt.
**) (deichialls von mir durch Sperrdruck hervorgehoben.
G6
in die-en Neuralphitten gelegenen Nervenzellen ihre Leitungsbahnen
hauptsächlich nach der homolateralen .Seite aussenden und ebenso
von ihr empfangen.
Wenn diese Ansicht zu Hecht bestände, so wäre allerdings das
Auftreten von kreuzenden Bahnen eine Erscheinung, die erst bei den
Wirbeltieren bemerklieh wird und es erübrigte sich, zur Erklärung
dieser Erscheinung auch die Wirbellosen mit heranzuziehen. Es
dürfte aber wohl angebracht sein, die Verhältnisse einmal eingehend
nachzuprüfen, um über diesen Punkt größere Sicherheit zu erlangen.
Ich glaube, daß man wohl gegenwärtig auf Grund zahlreicher exakter
Einzeluntersuchungen über den feineren Bau des Nervensystems der
Wirbellosen, die mit den besten Methoden von vertrauenswürdigen
Forschern angestellt wurden, ein unzweideutiges Urteil ab¬
geben kann.*)
Im folgenden will ich daher eine Anzahl solcher Forschungs¬
ergebnisse anführen, aus welchen man eine Darstellung dieses Baues
erhält, soweit er bisher aufgeklärt werden konnte. Dabei dürfte
es für den Zweck, den wir verfolgen, am besten sein, wenn wir von
den einfachen Gestaltungen allmählich zu höheren und komplizier¬
teren aufsteigen.
Während bei den Protozoen und bei den niederen Metazoen, den
Spongien, eine Differenzierung von Nervengewebe noch nicht einge¬
treten ist, vielmehr jede einzelne Zelle reizleitend und kontraktil ist.
ist ein differenziertes Nervengewebe zuerst bei den Kuidfrien (Nessel¬
tieren) beobachtet und von den verschiedensten Autoren (Haeckel,
K o o 11 i k e r . G e b r. H e r t w i g, S c h n e i d e r, W o 1 f f u. a.)
beschrieben worden. Klei neu borg konnte zwar bei Hydra
keine Ganglienzellen und Nerven¬
fasern nachweisen, aber er ist der
Entdecker der sog. Epithelmus¬
kel z e 11 e n resp. der Neuroinus-
k e 1 z e 11 e n (Fig. 24), jener merkwür¬
digen Sinneszellen des Ektoderms,
welche kontraktile Fortsätze besitzen.
Er betrachtete diese Bildungen ..als
den niedrigsten Entwicklungszustand
Fig. 24. Epithelmnskelzclle einer
Aktinie. Nach Hertwig.
des Norvenmuskelsvstoms, in welchem eine anatomische Sonderung
*1 l>ic Untersuchungen von K ä ü 1 beleuchten zwar diese Verhältnisse
bei den Wirbellosen schon rocht stark, aber der Autor berücksichtigt eingehend
nur die Verhältnisse am Auge, und zwar hier auch nur vorwiegend die uni¬
lateralen K reuzungen.
67
der beiden Systeme in der Weise, wie sie bei allen höheren Tieren
verkommt, noch nicht stattgefunden hat, sondern jede einzelne Zelle
die Trägerin jener doppelten Funktion ist, indem die Teile derselben,
die als lange Fortsätze in der Mitte der Körperwandung verlaufen,
kontraktil sind und als Muskel funktionieren, während der Zell¬
körper, von welchem sie ausgehen, der in unmittelbarer Berührung
mit dem umgebenden Medium steht, Reize leitet und durch Über¬
tragung derselben auf die Fortsätze die Kontraktion dieser auslöst“.
Ob es Tierformen gegeben hat, die allein auf diesen primitiven intra¬
zellulären (M. Wolff) Reilexbogen beschränkt blieben, läßt sich
nicht feststellen.*) Das von Kleinenberg nicht gesehene Nerven¬
gewebe ist dann von den Gebr. Hertwig bei verschiedenen
Ak ti nie na r t en gesehen und beschrieben worden. Ich folge bei
der Beschreibung den neuesten Untersuchungen von Max Wo 1 f f:
Das Ektoderm der Mtmdscheibe und der Tentakel zeigt schon auf ein¬
fachen dünnen Querschnitten sehr deutlich einen dreischichtigen Bau. Nach
außen liegt die Epithelschicht, nach innen die Muskelfasei schiebt, zwischen
beiden, und ihre Elemente als ein dichtes Netz durchflechtend, eine verschieden
stark ausgebildete Nervenfaserschicht (Fig. 1J u. 25). W o 1 f f konnte diese Ner-
venfaserschicht nun am ganzen Körper der untersuchten Tiere feststellen, d. h.
am Mauerblatt, Entoderm etc. Er bestätigt die Angaben der Gebr. Hertwig,
• SlxilzzeU.cn.
••■SinnesieUen
-Nervenplexas
StütLlamtlle
Fig. 25. Längsschnitt durch den Ringnerven einer Szyphome-
duse (Charybden). Nach C 1 a u s.
welche die Nervenfaserschicht besonders reichlich an der Mundscheibe aus-
gebildet fanden und er stimmt II a e c k e 1 darin bei, daß hier schon damit
eine ringförmige Zentralisation angebahnt ist, die dem an gleicher
Stelle hei höheren Tierformen sich hier findenden Nervenringe analog ist.
Dieses Verhalten, sagt er. findet auch seinen Ausdruck in der Giöße der
Nervenzellen, welche mit ihren Verästelungen die Nervenfaserschicht bilden.
Die Mundscheibe enthält nicht nur die größten, sondern aucli die zahlreichsten
Nervenzellen. Es gelang Wolff auch der Nachweis besonderer motorischer
Nervenfasern; sie treten in die Tiefe zwischen die Muskelfasern, auf denen
*) Nach experimentellen Untersuchungen an den Schwämmen kam
G. H. Parker zu der Ansicht, daß diese niederen Tiere eine Muskulatur,
aber keine Nerven besitzen, (eit. bei R ä d 1 p. 124 .)
Jucobsohn-La.sk, Die Kreuzung der Nervenbahnen usw. (Abhdl. H. 26.) 5
«ie ii.it relativ I1r;i«*hr]i< h*-r Ausbreitung ihr*-- X»>ur"pla-ii:a> er*«iigen. Fig. 11.
Mir der U--* •leb-nm Anhäufung von Nervenzellen un«! Nervenfasern an d»*r
Mund-«h»dbe. die \V o 1 f f direkt al- X e r v e n r i n g l^z-iehnet. da-
ektoderrn.de X» r\‘ii->'t»in der Tentakel. < 1 * - ekt**dermale Nerven-vstem de-
Mauerblarte-. da> ektodennale Nerven>\>teru de> >« hluiihr«»hre> und des
1 >r>i'»*ii>tr*if»!i- der >1 -«*rit**ria 1 ri I ;* iipmiT^. sowie da- ent.-dermale Nerven-
.-y-tom in Verbindung. Jedes Tentakelba-i-zentrum i-t mit ^amtlichen Ten¬
takeln dunh Bahnen verbunden. Die Keiz-«hwelle «lie-^r Hahnen ist für jede
Region in be-timmter \Vei>e abge-tuft. wodureh i-«*lierte H^aktionen zustande
kommen könnten. Da- ektodennale Xerven>\>tem der Tentakel wird von
einem Plexu- mit >pärlieh«*n einge-treut**n Nervenzellen gebildet. Ähnlich
verhält >i«üi da> ektodennale Mauerblatt-vstem in seinen ad*»ralen Partien,
während e- in den ahoralen Teilen, mit Aufnahme der rei< blich innervierten
FuU-«heibe. fa>t ausschließlich von den langen Xervenf« ?T>ätzen der in den
Zentren «Telegenen Zellen gebildet wird. Vom Sohlenrande verlaufen hier
vielfach Hahnen zu den adoralen Teilen des Mauc-iblattes und zum ’ientakel-
kranze. Da- N«*rven>y.-tem des Schhii'drohrektodeims ist sehr arm an
Nervenzellen, aber >ehr reich an Nervenfasern. Die-e sind Fortsätze von
Nervenzellen, die im Nervenringe lieir**n und ziehen in dichten Bündeln unter
den I>ni>enstreifen der Me-enterialtilamente der vollständigen Septen zum
entoderinalen Xervenplexus der Septen. der wieder in den fiitodermalen
Nerven pie\u> des Mauerl »lat tes sich fort setzt. Mit dem entoderinalen Septen-
nerven System steht das Nervensystem der Akontien (mit Xesselkapsoln dicht
besetzte Fäden, in Verbindung. Die entoderinalen Xervensy>teme der Ten¬
takel stehen entweder isoliert da oder sind durch «las entodmmale Nerven¬
system des Mauerb]atO*s mit dem übrigen Nervensystem veibumlen. Siunes-
zellen finden sieh besonders reichlich auf den Tniversalsinnesorg^nen der
Aktinien. auf «len Tentakeln. Sie kommen aber au«*h auf der Mumlscheibe.
auf den Septen- uml «len Akontien vor. Die motorischen Nervenfasern emli-
gen an «len kontraktilen Fortsätzen der Xcuromuskrlzellen mit einer moto¬
rischen Kmlplatte. Die sekretorischen Nervenfasern endigen an «len Drüsen-
lind Nes>el kapselzellen mit perizellulären Geflechten. l>er primitiv** Zustaml
des Nervensystems, wie er sich hier z«*igt. hat sich nach W o 1 f f am
Nervensystem d«^r höheren Tiere noch erhalten im A u erba c h sehen und
M e i ß n e r sehen Plexus der Dnrm<ubmueosa und im L e o n t o w i s c h sehen
Plexus des Kpidermis.
Über <len Bau des Nervensystmns der T u r b e 11 a r i e n
(Strudelwürmer; berichtet H. S a b u s s o w außerdem, was schon
S. 42 erwähnt wurde, noch folgendes (vergl. dazu Fig. 26):
Auf Querschnitten zeigt der ventrale Längsstamm einen spongiösen,
netzartigen o«l«*r maschigen Hau. Bas Netz besteht aus Fasern von un¬
gleicher Dicke. welche sich gegenseitig durchflechten und verschieden weite
Maschen bihlcn. Je«le der größeren Maschen ist meist von einer Menge feiner
(jiicrgcschnittener Fasern erfüllt. Nur diese Fasern sind von nervöser Natur,
imlem die erwälmt«*n n«*tzartigen Bildungen ein gliöses Gerüst (mit Gliazellen)
«les Stammes darstellen. Zwischen den feinen Nervenfasern der Längs
stämme liegen Nervenzellen. Die meisten Nervenzellen sind bipolar und ihre
Fortsätze zi«*l:«*n parallel der Achse des Stammes. Die multipolaren Zellen
— 69 —
sind weniger zahlreich und liefen vorzugsweise an den Stellen, wo die Seiten-
nerven oder die Kommissuren abgehen.
Den einfachsten Bau hat das Gehirn bei P1 a n a r i,a angarensis.
Auf Frontalschnitten erscheinen von unten zuerst zwei gesonderte Ganglien,
welche nach den Seiten des Kopfendes ziemlich zahlreiche Nerven absenden.
Wie die Ganglien selbst, so sind auch die Nerven an. der Oberfläche von
zahlreichen Nervenzellen bedeckt Die Zellen sind bipolar oder multipolar.
Auf folgenden Schnitten erscheinen zahlreiche, dünne, die Ganglien verbin¬
dende Kommissuren. Die Ganglien wachsen in die Breite, gehen weiter
nach hinten und setzen sich in die ventralen Längsstämme fort. Weiter nach
oben nähern sich die Kommissuren einander und bilden eine einzige bogen¬
förmige Kommissur. Dem Abnehinen der Gehirnkommissur nach oben ent¬
sprechend werden dort auch die Gehirnganglien kleiner. Im Gehirn von
Planaria besteht kein scharfer Unterschied zwischen den motorischen und
sensorischen Ganglien.
Fig. 26. Feinerer Bau des Nervenrings und der Längsstränge der niederen Würmer.
Schematische Skizze nach Beschreibungen von Sabussow und Goldschmidt
entworfen.
5 *
70
Bei den Gattungen JSorocelis und Rimacephalus ist daä
(Jeliirn aus zwei Ganglien paaren zusammengesetzt. Das unteie Ganglienpaar
kann als ein motorisches bezeichnet werden. Diese Ganglien sind durch
eine sehr starke oder mehrere dünne Kommissuren verbunden. Die senso¬
rische Kommissur befindet sich über und vor der motorischen. Von den
oberen sensorischen Ganglien gehen zahlreiche Sinnesnerven, darunter die
optischen, aus, während der motorische Gehirnteil die beiden ventralen
Längsstämme nach hinten entsendet. Das gliöse Gerüst im Gehirn ist von
feinen Fasern und Gliazcllen gebildet. Die Nervenelemente befinden sich
in den Hohlräumen des Gerüstes und an der Oberfläche des Gehirns. Auf
der Oberfläche des Gehirns liegen die Zellen vorzugsweise in den sensori¬
schen Teilen.
Der Nervenplexus gelangt meist zu keiner besonders starken Ausbildung
mit Ausnahme von Sorocelis tigrina, wo er eine ziemlich mächtige Entfaltung
erreicht. Bei Sorocelis nigra fasciata besteht der Nervenplexus aus einem
Geflecht von dünnen, zwischen den Ring- und Längsfasern des Hautmuskel¬
schlauches hinziehenden Nerven. Diese Nerven gehen entweder direkt von
den ventralen Längsstämmen oder von den Kommissuren und den Seiten¬
nerven aus. Als histologische Elemente des Nervenplexus erscheinen
bipolare oder seltener multipolare Zellen, die von letzteren abgehenden
Fasern und ein giiöses Stützgewebe.
Bei den nicht segmentie r t e n W ü r in ern, sagt R ä d 1 . er¬
scheint zum ersten Male in der Tierreihe der Gegensatz zwischen zentialem
und peripherem Nervensystem, obwohl nur in grober Ausführung: das ersten*
tritt als ein Gehirnganglion auf. d. h. als eine Anhäufung von Ganglienzellen
und von Nervennetz, die letzteren als Nervenstränge, welche vom Gehirn zu
verschiedenen Organen führen: doch stellen diese Stränge noch keine eigent¬
lichen „Nerven“, wie wir sie von den W irbeltieren kennen, dar. keine parallel
verlaufenden Faserbündel, sondern sie sind mehr einem in die Länge ge¬
zogenen Gehirnganglion vergleichbar: sie enthalten nämlich dieselben Be¬
standteile wie dieses, Ganglienzellen und ein feines Nervenreiz.
Eine recht eingehende Schilderung vom Nerven rin g hei
Ascaris m e g a 1 o c e p h a 1 a gibt R. G o 1 d s e h m i d t:
Der Nervenring ist ausgefüllt von einer großen Zahl von Fasern ver¬
schiedenster Größe, Form und Struktur. Zwischen den Fasern findet sich
keinerlei Bindegewebe außer einer sehr dünnen Gliascheide. Im allgemeinen
lassen sich enger zusammengehörige Fasergruppen von ähnlicher Struktur
unterscheiden. Was die Lage der Nervenfasern innerhalb des Ringes an-
betrifTt, so ist sie oft auf große Strecken hin festgelegt. So findet sich z. B.
in der ventralen Region eine Gruppe kleinerer Fasern, die von der rechten
Suite nach der linken imverästelt. durchlaufen und dabei stets dicht zusammen¬
gedrängt den vordersten Rand des Ringes einnehmen.
Bekanntlich nimmt auch der Nervenring bei den Nematoden an der
Muskelinnervierung Anteil, indem die ihm zunächst liegenden Muskelzellen
ihre Innervierungsfortsätze zum Ring schicken und sich ihm in Gruppen
zwischen den Abgangsstellen des Nerven anlegen. Bei den Nematoden,
meint G o 1 d s c h m i d t, k o m m t d e r Muskel z u m Nerv und nicht
umgekehrt. Dieser Ansicht huldigen andere Autoren auch is. die Arbeit von
71
M. W o 1 f f). An diesen Stellen treten dann einzelne Fasern des Ringes zu
seinem Hinterrand, und indem dort die den Ring umhüllende Scheide unter¬
brochen ist, kann die Vereinigung mit den Muskel fortsätzen stattfinden.
Charakteristisch für die Fasern des Ringes ist, daß sie durch feine
Seitenäste miteinander verbunden sind. Es sind unter den verfolgbaren
Fasern kaum solche zu treffen, die auf größere Strecke glatt verlaufen, ohne
irgendwelche Brücken zu zeigen. Diese Querverbindungen sind nicht regel¬
mäßig über den Ring verteilt, sondern sie treten stets stellenweise dicht
gedrängt in großer Zahl auf. Eine zweite Art von Verbindungen zwischen
den Komponenten des Nervenringes stellen die feinen Verästelungen dar, dib
der Punktsubstanz entsprechen. Teils spalten sich die Fasern
dichotomisch, teils vereinigen sie sich zu einer dicken
Masse, die nach allen Seiten Fasern und Verbindungen
entsendet, um sich dann wieder in verschiedene Fasern
aufzusplittern. Es handelt sich hier nicht um eingeschaltete Zellen,
sondern ausschließlich um eine stark verdichtete Kommunikationsstelle vieler
Fasern, um eine Art Umschaltungsstation. Der Nervenring hat demnach
den Charakter eines Plexus, insofern das Wesen eines
Netzes, das alles in letzter Linie mit allem zusammen¬
hängt, gegeben ist. Der Plexus ist aber weder regellos noch diffus,
sondern es treten ganz bestimmte nach Länge, Volumen, Herkunft und Loka¬
lisation festgelegte Bestandteile miteinander in bestimmte Verbindungen, aus
denen sich an bestimmten Stellen bestimmte Einzelfasern zum Austritt ab-
lösen oder von außen eintreten.
Die Sinneszellen (resp. Sinnesganglienzellen), also alle sensiblen Ele¬
mente senden ihren zentralen Fortsatz direkt oder auf Umwegen in den
Nervenring. Die Assoziationselemente sind der Maßstab für die Höhe eines
Nervensystems, dessen reichere Reflexmöglichkeiten hauptsächlich auf ihrer
Anwesenheit beruhen. Ein Blick auf den Bauplan des Ascaris-Nervensystems
und der Muskulatur zeigt, daß hier nur so wenige Koordinationen in Betracht
kommen, daß ihnen auch keine komplizierte morphologische Grundlage not¬
tut. Sechs motorische Längsnerven des Hautmuskelsehlauches müssen Zu¬
sammenarbeiten und maximal mit 19 Paar symmetrischer »Sinneszellen in
Reflexverbindung stehen. Dazu kommt noch die Verbindung mit dem durch
eigene Gangliensysteme relativ selbständigen Hintertier, vermittelt durch im
ganzen zehn Fasern. Wenn man dazu noch die charakteristische Eigenschaft
der Nematoden, kleine Zahl bei bedeutender Größe der Zellen, nimmt, so wird
man nicht weiter erstaunt sein, nur wenige Elemente zu finden, die mit
Sicherheit als Assoziationszellen angesprochen werden können.
Die Assoziationsbedürfnisse sind nach Ansicht des Autors folgende:
1. Die sensiblen Zentren des Hinterendes, die im wesentlichen im Dienste des
Begattungsaktes (beim ) stehen, bedürfen einer Verbindung mit den Zentral¬
organen des Kopfes. 2. Auch die motorischen Zentren des Hintorendes be¬
dürfen einer derartigen Möglichkeit der Koordination mit den Kopfganglien.
3. Die sechs motorischen Hauptlängsnerven, deren Tätigkeit die Längs-
muskulatur zu Kontraktionen veranlaßt, die die typischen Wurmbew r egungcn
bewirken, benötigen eine die Koordination ihrer Tätigkeit gewährleistende
Einrichtung. Sie muß aber eine mehrfache sein, nämlich Koordination des
ganzen Innervierungsgehietes (Schlängeln), Koordination bestimmter Ab-
72
schnitt«* i lYn<l«'lb«*wegung«*n «*ines K<>rp«*rahs«hnitt«*s>. Koonlinaiion eines <>d«*r
mrlin'm* Querschnitte (Bohrbewegung).
lan»' bestimmte A^soziationszel!«*. <l<*r«*n zentrale Faseln von einer Seit*
in «len Hin*: tritt, ii 1» e r schreitet «l i e M i t t e 1 1 i n i e n n <1 1> e g i n n t
erst «lau n e i n i «r e Seit e n ii s t e a I» z u «re I» e n. Diese Assoziations¬
zelle >t«11t also «lie Y«*rbin«lung zwischen «len sensihlen Z«*ntren «les llinter-
en«h s «les Tieres nii«i «hm «lorsah*n Teilen «les Zent rahn‘raues «1er ge-
kreuzten Seite «lar. Di«* wichtigsten Assoziationszellen liefen innerhalb
<h*s X«*rvenring« , s und r«*präs«*ntieren die Elemente für die zweite um] den
Hauptteil der «Iritten Funktion, soweit sie vom Zentralorgan geleitet wer«len.
Sie g«*hor«*n tunktiomdl paarweise zusammen, indem die beiden lateralen ihr
Y«*rzw<*igungsg«*biet vollständig auf das Innere «l«*s Nervenringes beschränken,
während die «lorsale wie die ventrale je eine kräftige Nervenfaser in «hui
Kiick»*n- bzw. Hauchnerv nach hinten schicken. G o 1 d s c h m i «1 t glaubt,
daß «li«s«» Fasern «lie Yerbindung zu den wichtigen motorischen Zentren des
Hint«*rti«*res hersteilen. Die dorsale und ventrale vermitteln nur relativ
wenige Yerbindungen, während die lateralen ein »ranz außerordentliches Maß
vim Ycrästelunir «*rreich«*n und allein die Yerbindung zwischen so vi<d«*n
Eh*in«*nten herstell«*n. daß man ann«*hm«*n «larf. daß sie schließlich «*ine
rnischaltestation darstellen, durch deren Yerinittlung je«lcr Punkt «les ge-
samten Netzes von jedem amleren angesprochen wenien kann. Hei der Art
<h*r Inn«*rvi«*rung der Ascaris-Muskulatur, indem die einzelnen «len Lüngs-
nerv zusammensetzeinlen Fasern in verschiedenen Querschnittsebenen ihre
lnnervierungspunkte haben, läßt es sich sehr wohl vorstellen. daß die Koor¬
dination l)«‘stimmter Abschnitte für «lie Pendelbewegungen. eb«*nso wie die
innerhalb eines Querschnittes für die Bohrbewegung. allein «luich die Yer¬
bindungen «l«*s zentral«*!! Assoziationssystems erreicht wird. Es scheint aber,
«laß Mir «li«*se Funktion«*n noch lx*son«l«*re Assoziationsel«*mente vorhanden
sin« 1. Als solches faßt der Autor «liejeni<r<*n auf. welche dem Hauchnerv in
s«*in«T »ranzen Länge eingelagert sind.
Im Nervenring herrscht zwischen sämtlichen Elementen auch ohne Ver¬
mittlung des Neuropils direkt oder imlirekt vollständige (plasmatische) Kon¬
tinuität. Im Zentraln«*rvensyst«*m von Ascaris sind genau H>2 Ganglienzellen
vorhan«l«*n. Ascaris ist «*in Tier, das si«*h dadurch auszeichnet. daß sein
Wachstum im wesentlichen nicht durch Zell Vermehrung, sondern Zellwachs¬
tum «»rfolgt. so daß das ausgewachsen«* Ti«*r in seinen meisten Geweben genau
eb«»nsoviel Z«*llen besitzt wie <l«*r reif«* Embryo.
Während die Arbeit von Goldschmidt einen gewissen Ein¬
blick in den Bau des Nervenringes gewährt, ermöglicht eine Arbeit
von Deineka einen solchen in die Verbindungen der sensiblen
und motorischen Nerven bei Ascaris (s. Fig. 27):
An sämtlich« 1 Sinn«*spapill«*n d*‘s g«*samt«*n Körpers von Ascaris treten
zw«*i verschi«*d(*ne N«‘rvenfas«*rn, von zwei v«*rschiedenen Nervenzellen ub-
stainnmnd, heran. Daneika unterseh«*id(*t sie als solche erster und zweiter
Art. Die Nervenzellen erster Art stellen bi- oder multipolare Nervenzellen
mit zw«»i langen Nervenfortsätzen. einem peripherischen und einem zentralen,
«lar. Der p«*riph«*riseln' Fortsatz verläuft zu ein«*m der sensiblen Endapparat«*
«hi Haut «Papille), in w«*lchem «*r sich in «*in Netz feinster Nervenfasern
73
verzweigt, und mit seinem Endabschnitt in Gemeinschaft mit der Faser zweiter
Art in den Bestand eines feinen Stiftes, in dem jede Papille endigt, eingeht.
Auf seinem Gesamtverlauf weist der peripherische Fortsatz verzweigte und
unverzweigte, verhältnismäßig kurze Seitenverästelungen auf, welche in
kleinen Nervenplättchen teilweise zwischen den Muskelzellen, teilweise auf
letzteren an der Berührungsstelle derselben mit der Subcuticula, teilweise in
letzterer endigen. Der zentrale Fortsatz ist etwas länger und dicker als der
peripherische: derselbe verläuft entweder zum Schlundring oder zum Bauch¬
nervenstrang oder zum Analganglion, je nach der Lagerung der sensiblen
Nervenzellen erster Art, im Körper des Tieres. In allen drei Fällen
vereinigen sich die zentralen Fortsätze vieler Nerven¬
zellen erster Art miteinander und bilden ein dichtes
n e t z f ö r m i g e s G e f 1 e c h t, ein K o p f g e f 1 e c h t im Gebiete
des Schl und ring es, ein Bauchgeflecht im Gebiete des
Bauchstranges und ein Analgeflecht im Analganglion.
Die feinsten Ästchen dieser Geflechte anastomosieren miteinander. Häufig
anastomosieren die zentralen Fortsätze verschiedener sensibler Zellen erster
Art miteinander noch vor deren Eintritt in das netzförmige Geflecht. Auf
74
<W*m Gesamtverlauf, hauptsächlich jedoch näher zur Nervenzelle, gibt der
zentrale Fortsatz kurze verzweigte und unverzweigte Seitenäste ab, welche
in kleinen Plättchen auf den Muskeln und zwischen den Muskelzellen endigen.
Von dein zentralen Fortsatz gellt häufig ein langer Seitenast ab, welcher zu
einer Papille verläuft und dort sich wie ein peripherischer Fortsatz verhält,
d. h. ein Netz bildet, in den Bestand des Stiftes eingeht usw. Der zentrale
Fortsatz entspringt bald von der Zelle selbst^ bald von dem peripherischen
Fortsatz in beträchtlicher Entfernung von der Zelle, bald von einem kurzen
Fortsatz der Zelle. Außer einem peripherischen und einem zentralen Fortsatz
hat die sensible Zelle erster Art häutig noch viele andere Fortsätze, welche
jedoch stets kurz sind, sieli selten verzweigen und in unmittelbarer Nähe der
Zelle in recht, großen keulenförmigen Verbreiterungen, bald in der Sub¬
cuticula-, bald in den Muskeln endigen. Einige sensible Zellen erster Art
anastomosieren häutig vermittels eines der kurzen Fortsätze. Längs dieser
Anastomosen verlaufen die Neurofibrillen einer Zelle in eine andere. In allen
Fortsätzen der sensiblen Zellen erster Art treten sehr deutlich die Neuro¬
fibrillen hervor, welche in Gestalt eines Bündels feiner wellenförmiger, durch
eine dünne Schicht perifibrillärer Substanz voneinander getrennter Fäden
verlaufen. In der Zelle verzweigen sich die Neurofibrillen und bilden ein
dichtes in allen Teilen der Zelle gleichmäßiges Netz, in dessen Mitte der
Kern liegt.
Die sensiblen Zellen zweiter Art weisen gewöhnlich einen langen Nerven¬
fortsatz und eine große Zahl kurzer, in nächster Nähe der Zelle stark ver¬
ästelter Dendriten auf. Der Nervenfortsatz verläuft zu einem sensiblen
Kndnpparat der Haut (Papille) und stellt somit den peripherischen Fortsatz
der Zelle dar. An der Basis der Papille gibt er keulenförmige Sprossen ab
und bildet in der Papille selbst ein mächtiges Netz feinster Nervenästchen,
welche die Hauptmasse der Papille bildet. Der Endabschnitt des Fortsatzes
beteiligt sich zusammen mit der Faser erster Art an der Bildung des feinen
Stiltes. Die Dendriten entspringen entweder unmittelbar aus der Zelle oder
beginnen in einem gemeinsamen Stamm, welcher sich alsbald in eine große
Zahl von Ästchen verzweigt, von denen jedes in einer kleinen Anschwellung
entweder auf den Muskeln oder in der Subcuticula endigt. Die Mehrzahl der
sensiblen Zellen zweiter Art ist durch ihre Dendriten miteinander verbunden,
welche sich hierbei mit ihren feinsten Verzweigungen untereinander verflech¬
ten. Sowohl in dem Nervenfortsatz als auch in den Dendriten verlaufen
bündelartig Neurofibrillen. In der Zelle selbst bilden sie ein intrazelluläres
Netz, ein anderer Teil der Fibrillen zieht durch die Zelle hindurch.
Die motorischen Zellen von Ascaris sind nur mit den zentralen Fort¬
sätzen der sensiblen Zellen erster Art verbunden. Der zentrale Fortsatz einer
jeden sensiblen Zelle erster Art verschmilzt zunächst mit seinen Endver¬
zweigungen mit ebensolchen Verzweigungen der zentralen Fortsätze anderer
sensibler Zellen erster Art. Das Produkt, dieser Vereinigung tritt nun in
Verbindung mit verschiedenen Teilern der motorischen Zellen, und zwar nicht
einer, sondern mehrerer. Das Produkt der Verschmelzung der Endabschnitte
der zentralen Fortsätze der sensiblen Zellen erster Art stellt sieh, wie /be¬
schrieben wurde, als ein dichtes netzförmiges Nervengeflecht dar (Kopf-,
Bauch- und Analgellecht). Diese Geflechte stellen iie V er-
b i n d 11 n g i w i s c h c n d en vers c h i e d e n e n Gruppe n d e r
75
sensiblen und motorischen Zellen dar. Andrerseits ist auch
jede motorische Zelle nicht mit einer, sondern gewöhnlich mit mehreren
Muskelzellen verbunden, welchen sie die reichlichen in Endapparaten endigen¬
den Verzweigungen ihrer Fortsätze zusendet. Die Kette des Nerven-Muskel-
apparates von Ascaris schließt somit ganze Abschnitte des Nervensystems
in sich ein. Ihrer Größe nach verdienen. die motorischen Zellen von Ascaris
vollkommen die Bezeichnung ..Riesenzelle n“, da sie nicht nur um das
Mehrfache die sensiblen Zellen beider Art an Größe tibertreffen, sondern
überhaupt den größten Nervenzellen der Wirbellosen zugerechnet werden
müssen. Ungemein dick sind auch die motorischen Nervenendigungen. Die
Dendritenverzweigungen endigen bald in keulenförmigen Anschwellungen,
welche von den Ästchen der sensiblen Geflechte umsponnen werden, bald in
feinsten Verzweigungen, welche sich sowohl untereinander als auch mit den
sensiblen Geflechten verflechten. Auch in den motoiischen Zellen ist ein
rechtes dichtes Fibrillennetz vorhanden. D a n e i k a unterscheidet vier
Typen von motorischen Zellen je nach der Zahl und dem Charakter der
Fortsätze. Sie sind im Analganglion, im Schlundringe, im Bauch-, Rücken-
und in den Seitensträngen gelegen.
Aus den zahlreichen Untersuchungen über den Bau des Zentral¬
nervensystems der Anneliden wähle ich diejenige von Kra-
w a n y heraus, weil es sich um eine neuere sehr eingehende exakte
Studie handelt. Er beschreibt das Zentralnervensystem des Regen-
w u r m s folgendermaßen:
In jedem Ganglion des Bauchmarks sind zwei mächtige seitliche Faser¬
säulen und eine schwache mittlere zu unterscheiden. Eistcre werden lateral,
ventral und medial von Ganglienzellen umgehen, welche hi- oder multipolar
sind. Die seitlichen Fasersäulen, in welchen sowohl die stark verästelten
Dendriten der Ganglienzellen als auch deren Axone mit den zahlreichen
Kollateralen und schließlich die sensiblen Fasern verlaufen, sind daher inner¬
halb eines Ganglions als die Region des Neuropils aufzufassen. Die Ganglien¬
zellen der beiden Seiten verhalten sich in bezug auf ihre Lage und den
Verlauf ihrer Fortsätze streng symmetrisch. Es kommen sowohl motorische
als auch Schaltzellen vor. Von den motorischen fand Krawany nur
solche, deren Axon durch einen Nerven desselben Ganglion austritt. Unter
beiden Zellarten gibt es solche, welche mit ihrem Axon auf derselben Seite
des Ganglions bleiben, und solche, welche mit den Axonen tiberkreuzen
und dadurch die beiden Hälften zueinander in Beziehung bringen (Fig. 28).
Der mittlere Faserstrang enthält Axone lateraler {'vielleicht auch medialer)
Zellen und ist dadurch mit der übrigen Fasermasse verbunden. Die Kolossal¬
fasern, über welche nur spärliche Beobachtungen zu machen waren, bilden in
jedem Ganglion Anastomosen und geben Äste ab. Die sensiblen Fasern resp.
deren zwei Äste geben in der Hegel wiederholt Äste ab. Unter der Hülle
des Bauehmarkes befindet, sich ein dichter Plexus von feinen Fasern, welche
sich oft untereinander verbinden, zu Zellen resp. deren Fortsätze und zu
sensiblen Fasern in Beziehung stehen und teilweise drrrch Nerven austreten.
Ein Vergleich mit den Verhältnissen bei Polycbäten. Hivndiiieen und
Krustazeen. wie sie von R e t z i u s , R o h d e . A p athy. Bet he fest-
gestellt. wurden, läßt nach Ansicht des Autors eine r.hereinstiinmung in den
76
Hauptpunkten erkennen. Um eine Fasermasse liegen die Ganglienzellen, deren
Fortsätze zum Teil im Bauchmark verbleiben (SchaJtzellen), zum Teil aus
demselben austreten (motorische Zellen). Unter beiden gibt es solche, welche
überkreuzen. Die Ganglien sind überall symmetrisch gebaut. Von
der Peripherie treten sensible Fasern ein, welche sich Y-förmig aufteilen und
deren Äste sich mehr oder minder stark verästeln. Die Verschiedenheiten
Fig. 28. Symmetrische Lagerung der Binnenzellen und Verlauf
ihrer FortsM» in einem Ganglion des Regenwurmes.
Nach J. K r a w a n y.
beziehen sich auf die Anordnung der Ganglien, Zahl und Verteilung der ab-
gehenden Nerven und der damit zusammenhängenden speziellen Gruppierung
der Ganglienzellen, ferner auf Durchschnittsgröße und Form der Zellen.
Es gelang dem Autor, eine große Zahl derjenigen Elemente, welche in
den Bauchmarkganglien gefunden, im Unterschlundganglion in einer Anord¬
nung nachzuweisen, so daß man mit Sicherheit die Verschmelzung des
Subösophagealganglions aus zwei Bauchganglien annehmen kann. Es gehen
vom Unterschlundganglion sechs Nervenpaare ab, von welchen das 2. und 3.
und das 5. und 6. einander sehr genähert sind und daher dem Doppelnerven
entsprechen, während das 1. und 4. Paar dem einfachen Nerven gleichzustellen
77
ist. Demgemäß ist auch die Ganglienmasse in einen voi deren und einen
hinteren Teil gegliedert. Beide Teile entsprechen je einem Ganglion. Be¬
sonders das hintere Teilganglion zeigt den typischen Bau, während in der
vordersten Region des ersten Teilganglions Elemente hinzutreten, welche
Krawany für Eigentümlichkeiten des Unterschlundganglions hält. Darunter
sind Elemente, welche die Verbindung zwischen Bauchmark und Gehirn her-
steilen. Ganz vorn im Unterschlundganglion erhielt Krawany von der
großen Masse der daselbst ventral gelegenen Zellen in der Mitte 4 gefärbt,
deren Axone aufsteigen und überkreuzen, jedoch nicht weiter zu ver¬
folgen waren. Da der Autor an anderen Präparaten zahlreiche Fasern aus
der Schlundkommissur eintreten und in dieser Region überkreuzen sah.
vermutet er, daß die vorliegenden Fortsätze einen ähnlichen Verlauf
haben. Die motorischen Fasern des vom Gejiirn an die Körperspitze abgehen¬
den Doppelnerven ziehen, ohne mit dem Zerebralganglion in Beziehung zu
treten, in die Schlundkommissur gegen das Unterschlundganglion. Dieses
erweist sich also als das motorische Zentrum der vordersten Segmente.
Durch die Gehirnnerven treten zahllose sensible Fasern, durch die
Schlundkommissur Axone von »SchaltzeUeu des Bauchmarks in das Gehirn ein.
Dieselben lösen sich entweder auf der Eintrittsseite oder nach Gabelung der
eintretenden Fasern in 2 Äste auf beiden Seiten in Endverästelungen
auf. Die kleinen Zerebralzellen, deren Axone alle in der hintere n
Q u e r k o m in i s s u r überkreuzen, um dann in das Neuropil einzu¬
treten, stellen wahrscheinlich den eigentlichen Zentralapparat dar. Von den
großen Zellen verbinden die Binnenzöllen im engeren Sinne bestimmte Be¬
zirke des Gehirns miteinander. Andere senden ihre Fortsätze durch den
Schlundring in das Unterschlundganglion und verbinden so im Vereine mit
den Schaltzellen des Bauchmarkes dieses mit dem Gehirne. Motorische Zellen
hat Krawany im Gehirn nicht gefunden.
Indem der Autor die moiphologisehen Verhältnisse mit Rücksicht auf
die wahrscheinliche physiologische Leistung zusammenfaßt. kommt er zu
folgendem Ergebnis: Das Bauchmark einer Seite entsendet sowohl nach
rechts wie nach links effektorische Axone. Die sensiblen, zentri¬
petalen Nervenfasern scheinen auf derselben Seite zu verbleiben m l t Aus¬
nahme jener des oberflächlich e n P 1 e x u s. Die Schaltzellen
setzen die aufeinander folgenden Segment" des Bauchmarks miteinander in
Beziehung, und zwar sowohl die Elemente der gleichen durch nicht über¬
kreuzende, als auch die der G e g e n s e i t e durch ü be rk re u z e n d e
Axone. Im sehr dichten Neuropil des t »berschlundgauglions endigen Längs¬
bahnen, welche vom Bauchmarke kommen und wahrscheinlich von Axonen
von Schaltzellen und vielleicht auch aus solchen von sensiblen Zellen, be¬
stehen. die auf zentripetalem Woge das Gehirn erreicht haben. ln diesem
Neuropil endigen auch jene sensiblen lasein. welche direkt von der
Peripherie in das Gehirn eintreten. Dieses Neuropil steht ferner noch in
Verbindung mit dem zentralen Ganglienapparat des Gehirns, der vor allein
aus der sehr großen Zahl der kleinen Rindenzellen besteht, deren I aseru
merkwürdigerweise d u r e li w e g s ii 1> e r k r e u z e n (I ig. -b>. bevor sie in
das Neuropil eintreten. Eine sekundäre Rolle scheinen die großen Be¬
ziehungszellen des Gehirnes zu spielen.
78
i
Vordere Querkommisaur.
Fig. 29. Durchschnitt durch das Zerebralganglion des Regenwurms. Lagerung
der Binnenzellen und Verlauf ihrer Fortsätze. Nach J. Krawany.
Zur Illustration der kreuzenden Fasern in den Ganglien der
Anneliden gebe ich noch Abbildungen von v. Lenhossek (Fig. 30)
und von Boule (Fig. 31) aus den Bauchganglien vom Regen-
w u rm.
R e t z i u 8 fand bei Lumbricinen, daß die Fortsätze der moto
rischen Zellen entweder in dem nämlichen Ganglion, in welchem die Zelle
liegt, und zw f ar entweder auf derselben wie die Zelle oder auf der ande¬
ren, oder aber erst im nächstfolgenden Ganglion durch einen Nerven aus¬
treten. Ferner fand er, daß sich die sensiblen Fasern oft dichotomisch ver¬
zweigen und daß die Verzweigungen die Mittellinie überschreiten.
Fig. 30. Unipolare Zelle aus einem Ganglion von Lumbricus.
Nach v. Lenhossek.
79
Mauthnersche Kolossalfaser
/
/
Fig. 31. Querschnitt aus dem Hauchstrang von Lumbricus. Nach Boule.
Über den Faserverlauf im Zentralnervensystem der Arthro¬
poden besitzen wir Arbeiten von Ketzins, B e t h e , Kenyon,
H aller,Bretsc h neider u. a. Ich führe hier nur die Ergebnisse
von Haller und Bretsc h neider an. Letzterer Autor fußt
stark auf den Untersuchungsresultaten der bedeutsamen Arbeit von
Kenyon.
B. Haller, der das Zentralnervensystem des Skorpions und der
Spinnen beschrieben hat, äußert sich darüber folgendei maßen: Der Bau
des Bauchmarks der Spinne, sowie auch des Skorpions entspricht im wesent¬
lichen dem Verhalten am Bauchmark des Käfers und auch des Regenwurms,
d. h. ventralwärts liegt eine hohe Ganglienzeilage, dorsal liegen aber nur
spärliche Ganglienzellen. In der Ganglienzellage des Bauchmarks befinden
sich kleine bis sehr große Nervenzellen. Die großen Zellen fallen auch durch
ihre blasse Färbung auf. Die größten Zellen liegen in jedem Ganglion in
einer medianen und lateralen Gruppe und dienen peripheren Fasern zum
Ursprung. Aus der lateralen Gruppe treten Fasern direkt in die Nerven¬
wurzel. es sind also ungekreuzte. Doch kann diese Zellgruppe auch ge¬
kreuzte Fasern für die andere Körperhälfte abgeben. Die innere Gruppe
der großen Ganglienzellen gibt nur gekreuzte Fasern ab, gleichgültig,
ob diese zuvor zu Längsfasern werden oder nicht. Im dorsalen Teil des
Ganglions lösen sich die Fasern der Nervenwurzeln auf, weshalb diese Teile
als sensorische betrachtet werden können. Diese Auflösung geschieht sowohl
auf derselben, wie nach Passieren der dorsalen Kommissur
auf dergekre uzten Seite. Haller fand Längsfasern aus dem (vorde¬
ren) Ganglion der Clielizercn entspringend, welche das genannte Bauchmark
durchsetzen und in jedes Ganglion einen Nervenfortsatz abgeben. Hier
handelt es sich um lange Bahnen, die alle Ganglien mit dem ersten in Zu¬
sammenhang setzen. Solche Verbindungen können aus allen Ganglien ab¬
gehen.
Die Spinne besitzt wie die anderen Arthropoden in jeder Zerebral
ganglionhälfte je zwei Globuli, einen vorderen und einen hinteren (Fig. 32).
Infolge ihrer viel mächtigeren Entfaltung als bei dem Skorpion nehmen diese
Intelligenzsphären mehr Platz ein als dort und sind in die vordere bzw. hintere
80
Fig. 32. Querschnitt durch Ober- und Unterschlundganglion von Epeira
diadema (Kreuzspinne). Nach B. Haller.
Ecke des Ganglions verschoben. Alles dies sind die Folgen höherer Ent¬
faltung als bei dem Skorpion. Denn erreichen die Globuli der Spinne auch
lange nicht jenen hohen Grad als bei den Hvmenopteren, geschweige denn
bei Limulus, so stehen sie doch etwa auf jener Stufe der Orthopteren und
haben sich somit von der niederen Stufe der Entfaltung der Mvriapoden und -
Skorpione entfernt.
Aus dem Stiel, d. h. der Fasermasse des Globulus treten Fasern in das
Schlundkommissurbündel, die entweder auf derselben Seitenhälfte im Bauch¬
mark oder durch die Bauchkommissur hindurchziehend
an gleicher Stelle der anderen Seite enden. Andrerseits
kommen kollaterale Äste sensibler peripherer Nervenfasern bis in den gleich¬
seitigen Stiel und geraten mit diesem entweder in den gleichseitigen Globulus
oder treten durch eine dorsalwärtige sehr geringe Kommissur unter der
(ranglienzellschicht der dorsalen Zerebralganglienseite hinüber in den
andersseitigen Globulus. Durch diese Kommissur treten aber
auch Fasern aus dem andersseitigen Globulus in den betreffenden Globulus.
Die pilzförmigen Körper (Globuli) im Gehirn der Insekten entwickeln
sich nach Haller und Bretschneider aus kleinen Anfängen zu großer
Entfaltung. Sie können sogar, wie aus Untersuchungen von Jonescu
hervorgeht, bei einer und derselben Spezies verschieden sein (Arbeitsbiene,
81
Drohne, Königin). Sie werden als der wichtigste Teil des Gehirns angesehen.
Schon Dujardin, der Entdecker dieser Körper, sprach sie als „Organe
der Intelligenz“ an, weil er ihren gewundenen Bau mit den Windungen des
Großhirns der Wirbeltiere verglich. Ihre genauere Untersuchung durch zahl¬
reiche Forscher, besonders durch Haller, hat diese Ansicht gefestigt. In
den Zentralkörpern des Gehirns sammeln sich eine große Masse von Fasern.
F. Bretschneider hält den Zentralkörper für ein primäres Reflexzentruin
oder ein Assoziationszentrum erster Stufe. Diesem stehen die pilzförmigen
Körper als Assoziationszentrum zweiter Stufe gegenüber. Sie sind der Sitz
der komplizierten und der geistigen Fähigkeiten, vor allem des Gedächtnisses.
Eine allgemeine Eigenschaft der Verbindungsfasern im Gehirn der In¬
sekten ist nach Untersuchungen von Bretschn eider, daß sie sich
mit Vorliebe kreuzen, und daß meistens der Neurit von einer
Hemisphäre in die andere übergeht.
Das sind in kurzen Auszügen die Verhältnisse des Faserver¬
laufes bei den Wirbellosen, soweit sie bisher festgestellt werden
konnten. Zum Vergleich füge ich noch einiges über die Faserverhält¬
nisse bei den niedersten Wirbeltieren hinzu, denn nur diese können
als Übergangsbeispiele von der einen zur anderen Klasse herange¬
zogen werden. Ergibt sich ein solcher natürlicher Übergang, dann
bietet die Weiterentwicklung keine so großen Schwierigkeiten mehr.
Vom feineren Bau des Amphioxusrückenmarks besitzen wir
einzelne Arbeiten von Heyman und van der Stricht, Ketzins,
Rhode, M. W o l f f, v. F r a n z*) u. a.
Eine zusammenfassende Darstellung der Zell- und Faserverhältnisse im
Amphioxusrückenmark findet sich in den großen Lehrbüchern von Gegen-
b a u r und AriensKappers.
Das Rückenmark des Amphioxus besteht nach der Darstellung Ge gen -
baurs aus einem Faserstrang, welcher eine dünne Lage zentrale Apparate
vorstellende Zellgebilde umschließt, und diese Schicht ist eine Obertlächen-
bildung, einem einschichtigen Epithel vergleichbar. Außer der Reihe der den
Zentralkanal begrenzenden Nervenzellen finden sich bedeutend umfänglichere,
welche wohl durch die Erlangung eines außerordentlichen Umfanges in den
Zentralkanal selbst gerückt sind und denselben durchsetzen. Diese kolossalen
oder Riesenzellen sind multipolar, ihr Nervenfortsatz geht in eine Riesenfaser
über. Die Riesenfasern kreuzen sich auf ihrem Wege, wobei sie je in eine
seitliche Hälfte des Rückenmarks gelangen.
Ariens Kappers erwähnt, daß es neben diesen gekreuzten
Reflexbahnen bipolare Zellen gibt, welche nach vorn und hinten einen Aus¬
läufer aussenden, und als kurze homolaterale Sehaltneuronen (Strang¬
zellen) zu deuten sind.
Nach Heyman und van der Stricht ist die Zellenanlage der
dorsalen Würzelchen beim Amphioxus nicht ganglionür und es läßt sich keine
Spur von Dorsalganglien an den Hirn- oder Spinalnerven finden. Die Homo-
loga der Ganglienzellen erscheinen an Embryonen von 5 mm Länge im dor¬
salen Teile des Rückenmarks. Dieses Verhältnis erhält sich zeitlebens.
*) Es war mir leider nicht möglich, vor Abschluß vorliegender Arbeit die
OriginaJarbeit von Franz zu erlangen.
82
Auf der anderen Seite hat Retzius spinalganglienähnliche Bildungen
bei Daphniden beschrieben, die mehr peripherwärts gelagert sind.
M. W o 1 f f fand im Rückenmark von Amphioxus einmal Anastomosen
zwischen Ganglienzellen, die dicht am Zentralkanal gelegen, ihre Anasto-
mosenbrücken sogar durch den Kanal von einer Hälfte zur anderen hinüber¬
schicken und er fand außerdem kreuzende Verbindungen zwischen
den eintretenden Hinterwurzelfasern einer Seite und den vorderen Wurzel¬
fasern der anderen Seite.
über das Rückenmark von Ammocoetes haben wir eine ausführ¬
liche Mitteilung von Kolm er. Er schildert die Verhältnisse folgender¬
maßen (s. Fig. 33): „Man findet auf der Ventralseite eine große Anzahl
V-förmiger Faserteilungen in allen möglichen Dickendimensionen, darunter
Fig. 33 ä Schema der Lagerangs- und Formverhaltnisse der Nerven¬
zellen und ihrer Fortsätze im Rückenmarke von Ammocoetes. Kom¬
bination aus verschiedenen Präparaten. Nach W. Kolmer.
83
nach einzelne sehr dicke. Die ungeteilte Faser verläuft transversal ziemlich
oberflächlich und folgt auf ihrem Wege der ventralen schwachen Obertlächen-
krüminung des Hückenmarks. Sie verjüngt sich eineiseits gegen den Rand
zu einem feinen, kaum mehr unterscheidbaren Faden, den ich einige Male
in den Fortsatz einer Randzelle verfolgen konnte; auf der anderen Seite
geht sie — nachdem sie die Mittellinie überschritten hat — in
die V förmige Teilung über“ — — „Da sich häutig viele Fasern dieses Typus
zugleich färben und daher ihre Bogen sich gegenseitig über kreuzen,
entsteht eine recht charakteristische Figur.“
An der Peripherie des Rückenmarks liegt ein Netzwerk, in welchem
sich anscheinend Fortsätze der verschiedensten Zellen und Endigungen von
Fasern vereinigen. Ein ähnliches Netzwerk ist möglicherweise auch im
Innern des Markes vorhanden. Das oberflächliche Netzwerk würde vielleicht
einem Teil jener grauen Substanz entsprechen (Punktsubstanz oder Neuropil).
welche man bei den Avertebraten findet.
Aus der Darstellung, die A r i e n s Kappers vom feineren Bau des
Zvklostomenrückenmarks gibt, erwähne ich Folgendes: In dem peripheren
(sog. marginalen) Geflechte des Rückenmarks findet also ein Übergang der
sensiblen Reize auf die Dendriten der Schaltzellen und der motorischen Zellen
statt. Der direkte Übergang von sensiblen Reizen auf den motorischen Zell¬
körper ist eine Ausnahme. Außerdem liegen auch hier meistens gekreuzt
und ungekreuzt verlaufende sog. endogene Neurone zwischen den ein¬
tretenden und austretenden Reizen. Von diesen endogenen Fasern ist an
erster Stelle eine Bahn zu erwähnen, welche wir bereits bei Amphioxus vor¬
fanden, und welche wir hier und bei höheren Wirbeltieren als einen der
erstentstehenden Bestandteile des Rückenmarks wiederfinden
werden: das System der ventralen Bogenfasern, deren Ursprungs¬
zellen wir als Homologon der Kolossalzellen von Amphioxus betrachten
müssen. Die Neuriten dieser Zellen kreuzen die ventrale Raphe und
bilden dann T-förmige frontale und kaudale Teilungen. Diese Teilungen ver¬
laufen in den Vorderseitenstrang und enden nach kürzerem oder längerem
Verlaufe mit Kollateralen in dem peripheren Dendritennetz, teilweise um
motorische oder Schaltzellen in den seitlichen Abschnitten der grauen Sub¬
stanz. Eine Anzahl dieser Zellen dehnt aber ihr Dendritennetz noch hinter
dem Zentralkanal entlang in die andere Hälfte des Markes aus, (■ o m in i s -
Mira protoplasmat-ica posterior, und kann auch kontralaterale.
Reize aufnehmen. Wie weit die Fasern dieser gekreuzten sekundär sensiblen
Bahn sich frontalwärts ausdehnen können, ist unbekannt. Größtenteils lösen
sie sich wahrscheinlich im Rückenmark selber auf. Es ist aber nicht ausge¬
schlossen, daß neben diesen auch schon solche auftreten, welche sich bis in
die Oblongata ausdehnen und sensible Reflexe auf die retikulären Zentren
derselben übertragen. Wir finden in diesem Bogenfasersystem die primi¬
tivste s e k u n dar s e n s i b 1 e L e i t u n g des Rückenmarks, welche die
ersten s o g. vitale n G e f ü h 1 s e i n d r ii e k e der freien Haut Verästelung,
die grobe Berührung, den Schmerz, starke Temperaturempfindimgen find den
chemischen Sinn leitet. Außer diesen gekreuzten Fasern kommen in dem
Rückenmark von Petromyzon u n g e k r e u z t e S t r a n g f a s e r n vor.
welche sich vermutlich mehr in die dorsalen und dorsolateralon Stränge be¬
geben und als intersegmentale Solialtneurone zu betrachten sind.
Ja cobsohn-Lask, Die Kreuzung der Nervenbahnen. (Abhdl. H. 21».) ft
84
In einer ausgezeichneten Arbeit van Gebuchtens über das Rücken-
mark der Batrachierlarven (Salamandra Maculosa) sagt er von den
cellules heteromeres: „Oes cellules en voient leurs axones ä travers la com-
missure anterieure jusque dans le cordon anterolateral du c ö t 6 oppose.
Elles occupent toutes les regions de la substance grise et principalement la
corne posterieure ou dorsale. Leurs axones traversent d’arrtere en avant la
zone marginale avant de s'incliner vers la commissure anterieure. En
Fig. 34. Querschnitt aus dem Rückenmark von Salamandra
Maculosa (Golgi-Präparat) nach van Gebuchten; aus
mehreren Abbildungen zusammengestellt.
longeant la base interne du cordon lateral de la moiti6 correspondante de la
inoelle, l'axone de ces cellules presente frequemment une bifurcation et
donne ainsi naissance a deux cylindres-axes dont Tun penetie dans le cordon
lateral tandisque l’autre seul traverse 1 a commissure. La
cellule des cordons heteromeres devient ainsi a la fois une celiule pluri-
cordonale de Cajal“ — (Fig. 34).
Im Batrachierrückenmark existiert nach van Gehuchtens Beob¬
achtungen ein perimedullärer Nervenplexus, in den eine große Anzahl von
Dendriten eingeht.
Auch in allen Abschnitten des Gehirns niederer Vertebraten findet man
neben zahlreichen kreuzenden Fasern auch eine nicht unerhebliche Zahl von
nicht kreuzenden.
Was die Ableitung der grauen Substanz anbetrifft so ist die Anschauung
von .J ohnst-o n beachtenswert, daß alle sensiblen Zentren (Haut Zentren'
bei Petromyzon sich aus einer gemeinsamen Anlage entwickelt haben. Dazu
gehören auch das Akustikum und das Kleinhirn. Das Gehirn von Petromyzon
zeige deutlich primitiven Charakter in manchen Zentren und besonders in
der Morphologie und Verteilung der Zellelemente: es besitze keine Rinde.
Radi faßt als Ganglion jedes nervöse Zentrum auf. Es besitzt einen
Nervenfilz und Ganglienzellen. Nachdem Rädl die optischen Ganglien eines
Schmetterlings (Sphinx pinastri) beschrieben hat, kommt er auf die Be-
85
deutung des Faserfilzes gegenüber den Ganglienzellen zu sprechen. Er ist
der Ansicht, daß die Struktur dieser Ganglien durch ihren Nervenfilz und nur
durch diesen bestimmt wird. Der Nervenfilz und nicht die Ganglienzellen sei
das Wesentliche eines Ganglions. Er vergleicht dann ein solches Ganglion
der Wirbellosen mit einem Ganglion aus dem Sehzentrum der Fische (Lota
vulgaris) und sagt von diesem: „Wieder umgeben die meisten Ganglienzellen
den Nervenfilz, in welchem nur sporadisch Zellen Vorkommen; an der An¬
ordnung der Ganglienzellen ist nichts Auffallendes zu finden; der Nerven tik
al>er hat scharfe Grenzen, eine bestimmte innere Struktur, in ihn münden die
Nervenfasern ein. Auch hier ist es der Nervenfilz, der das Ganglion aufbaut,
während den Ganglienzellen nur eine sekundäre Rolle zukommt.“ Weiter
führt Radi aus: „In fast allen Ganglien der Wirbellosen liegen die Nerven¬
zellen entweder zerstreut oder traubenförmig gruppiert außerhalb des Nerven-
tilzes; jede Zelle sendet einen sich in zwei Äste spaltenden Ausläufer aus,
meistens in der Weise wie die Spinalganglienzellen des Menschen: neben diesen
„unipolaren“ kommen auch „bipolare“ und „multipolare“ Zellen vor. — Es
gibt Ganglien bei den Wirbellosen, welche ebenfalls Ganglienzellen ein¬
schließen, so z. B. das erste optische Ganglion bei manchen Insekten (bei den
Libellen, einigen Insekten und Krustazeen); in den tieferen Schichten des
sog. Lobus opticus der Cophalopodcn (des Tintenfisches) liegen zahlreiche
Ganglienzellennester und hier und da findet man auch sonst in dem Faserfilz
eingesprengte Zellen. Nichtsdestoweniger liegen die Ganglienzellen in den
meisten Fällen bei den Wirbellosen außerhalb des Nervenfilzes. Sehr oft, viel
öfter als man sich dessen bewußt ist, nehmen aber die Ganglienzellen dieselbe
Lage auch bei den Wirbeltieren ein und nur eine unrichtige Deutung der
Ganglien verführte die Forscher zu der Annahme, daß die graue Substanz der
Wirbeltiere immer Ganglienzellen einschließen muß.“
„Der schichtenartige Aufbau des Nervenfilzes. sagt er weiter, ist weit
verbreitet: er kommt in den optischen Zentren aller Tieitypen von den
Würmern bis zu den Wirbeltieren hinauf vor: auch der „Zentralkörper“ des
Insektengehirns, die Kleinliirnrinde und die Großhirnrinde der Wirbeltiere
sind nach diesem Typus gebaut. Die Schichtung scheint nur die Eigentüm¬
lichkeit der höchsten Zentren zu bilden, sie fehlt vollständig im Rückenmark
und in der Bauchganglienkette.“
Packender kann wohl die große Ähnlichkeit im Verhallen der
grauen Substanz und seiner Zelleleinente sowie des allgemeinen Faser¬
verlaufes im Zentralnervensystem der Wirbellosen und Wirbeltiere
nicht geschildert und demonstriert, werden, als es von den Forschern
auf Grund ihrer Studien in ziemlicher Einheitlichkeit geschieht. Der
Übergang von der einen Klasse zur anderen erscheint hier viel kon¬
tinuierlicher. als er sieh an den gröberen äußeren Formverhältnissen
aufzeigen läßt. Auch darin findet Übereinstimmung statt, daß die
Nervenfasern der niedersten Wirbeltiere zum großen Teil mark¬
los sind.
D a n a c h k a n n d i e zweite a u f g e w orfene F r a g e
d a h i n b e a n t w o r t e t w e r d e n . d a ß sich d i e B a h n e n i in
Z e n t r a 1 n e r v e n s y s t e m a u c h s c h o n b e i d e n W i r b e 1 *
losen in g a n z e r h e b lieh e m M a ß e k r e u z e n.
G*
3. Über die bilaterale Symmetrie des tierischen Körpers.
Die Ursache dieser Kreuzungen kann, wenn man das Gesamte, was
auf den vorangehenden Seiten dargelegt wurde, überschaut, nicht in'
einer lokalen Veränderung liegen, die der Körper oder das Nerven¬
system in irgendeiner Entwicklungsepoche erlitten hat; es kann auch,
nicht so sein, daß eine Leitungsbahn aus irgendwelchen Gründen zu¬
nächst allein in die Kreuzung eingetreten ist, und daß durch sie beein¬
flußt alle anderen Bahnen ihr dann gefolgt sind. Sondern die Allgemein¬
erscheinung der kreuzenden Bahnen im gesamten Zentralnervensystem,
die sich von der niedersten Entwicklungsstufe des Tierreiches bis zur
höchsten in immer ausgeprägtererForm zeigt, muß auch seinen Grund
in der allgemeinen Beschaffenheit,d.h. Formgestalt des tierischen Kör¬
pers und in seinen Grundfunktionen haben. Von derGestalt des tieri¬
schen Körpers, wie sie auf niederster Stufe anhebt und sich in den
höheren Stufen immer weiter ausbaut, können wir uns ein genügend
klares Bild verschaffen, von den Funktionen des tierischen Körpers
aber können wir nur gröbere Vorstellungen gewinnen. Das Meiste in
dieser Hinsicht unterliegt unserer Deutung, und hier können die An¬
sichten über den gleichen Vorgang, über die vielen Faktoren, die
dalwü eine Holle spielen, die ineinander greifen, und wie sie inein¬
ander greifen, sehr verschieden sein. Aus diesem Grunde kann man
wohl eine Ursache für die Kreuzungen finden, die in der Gestalt des
tierischen Körpers begründet sein muß. nicht aber mit gleicher
Sicherheit eine solche, die aus den Funktionen zu erschließen ist. denn
letztere, wie gesagt, sind uns nur zum Teil bekannt und sind uns in
ihren feineren Schwingungen noch ziemlich verschlossen.
Sehen wir uns die Gestalt des tierischen Körpers an und stellen
zu dieser Gestalt den Bau des Nervensystems in Parallele. Denn daß
hier (‘ine Parallele in bezug auf gegenseitige Ausgestaltung besteht,
wird ja wohl von niemanden bezweifelt werden. Hä dl schießt über
das Ziel hinaus, wenn er behauptet, daß sich das Nervensystem den
Bau des tierischen Körpers geschaffen hat. Da< ist schon deshalb
unmöglich, weil auf den niedersten Stufen tierischer Organisation ein
Nervensystem gar nicht vorhanden ist. Man darf nun hei dieser
Parallelstellung natürlich auch wieder nicht vom Wirbelti'okörper
ausgehen, sondern muß von dem der Wirbellosen beginnen und hier¬
bei ist auf eine Ausgestaltung näher einzugehen, die mir für unser
Problem von Bedeutung zu sein scheint.
Es ist nämlich den Forschern eine ausgemachte Sache, daß der
Tierkürper ein bilateral symmetrisch gebauter ist. Wenn ich das
Verhältnis der symmetrischen Bilatcralität im folgenden auf das
87
richtige Maß zuriickzuftihren versuche, so meine ich nicht etwa die
zahllosen Asymmetrien, die am tierischen Körper Vorkommen und
die vielleicht beim Menschen ihren höchsten Ausdruck in der Rechts¬
händigkeit und in der Prävalenz der linken Großhirnhemisphäre
finden. Das ist ja allgemein bekannt, und daß solche Asymmetrien
sich ausbilden müssen, dürfte nicht verwunderlich sein, denn der
tierische Körper ist keine starre symmetrisch angelegte und symme¬
trisch siel) betätigende Maschine, sondern die im Tiere wirksamen
Lebenskräfte formen sich das schon genetisch bestimmt gerichtete
plastische Material ständig nach inneren Bedürfnissen in Anpassung
an die wechselnde Umgebung weiter, bald symmetrisch, bald aber
auch unsymmetrisch.
Was hier noch besprochen werden soll, ist das Verhältnis der
grob sichtbaren bilateral symmetrischen Organe zum Gesamtkörper.
Um darüber Klarheit zu gewinnen, ist es wiederum nötig, daß man
die Gestalt des tierischen Körpers von seinen einfachen Anfängen
bis zu seiner höchsten Ausgestaltung verfolgt. Das soll nunmehr in
einem kurzen Überblick geschehen.
Der Körper der Prot o z o e n ist von
rundlicher oder ovaler oder von fadenförmiger
oder trichterförmiger Gestalt und trägt an
seiner Oberfläche ziemlich regellos eine Anzahl
von Wimpern oder Geißeln (Pig. 35).
Der Körper der niederen Metazoen
wird von zwei ineinander gefalteten Säcken
gebildet, dem Ektoderm und dem Entoderm.
Diese haben bei einfachen Formen nur eine
Öffnung, den Urmund (Blastoporus) an der
Stelle, wo der nutritive Teil der Blastula sich
Fig. 35. Balantidium
coli (Protozoon.)
Nach Stein.
in den animalen Teil eingefaltet hat. Bei
anderen Formen bilden sich später entweder
noch eine Ausgangsöffnung am apikalen Pole,
der After, oder an den Seitenwandungen des Sackes in Gestalt von
mehr oder minder zahlreichen Poren. Der Urmund und der After
brauchen nicht gerade direkt am oralen und apikalen Pole zu liegen,
sondern sie können durch Krümmungen des Körpers oder andere
Umstände veranlaßt, sich auch an die Seitenwandungen verschieben.
Sie können entweder an der gleichen Seite nahe beieinander oder
entfernter voneinander zu liegen kommen oder die eine Öffnung
kann an der einen, die andere an der anderen Seite des
Körpers ausmünden. Auch kann sich der äußere Sack durch
88
chitinige Hinge segmentartig gestalten
(Fig. 36) oder der innere Sack kann
sich radienartig aussacken etc. Mag
dieses sich nun so mannigfach wie
immer gestalten, an der Form des Kör¬
pers als Ganzes wird dadurch nichts
Wesentliches geändert; siebleibt immer
eine solche, daß sie einen ineinander
gefalteten Sack darstellt.
Eine gewisse Veränderung tritt
erst durch zwei Umstände ein, die die
Form einerseits nach außen, anderer¬
seits nach innen verändern. Dies be¬
ginnt bei den Anneliden und setzt
sich von hier in immer stärkerem
Maße bei den höheren Formen fort.
Der eine äußere Umstand besteht
darin, daß vom Körper die mannigfach¬
sten Auswüchse entstehen. Dies be¬
gann schon auf einer niederen Stufe,
gestaltet sich nun aber immer weiter
aus, nachdem der Körper sich metamer
gegliedert hat. Auf diesen Umstand
will ich weiter unten noch zu sprechen kommen.
Der andere Umstand, der den Körper nach innen verändert, ist
durch das Auftreten des dritten Keimblattes, des Mesoderms, bedingt.
Dieses Mesoderm entsteht durch eine nochmalige Einfaltung des
Entoderms, aber zum Unterschiede gegenüber der ersten Einfaltung,
welche den Sack als Ganzes einstülpte, geschieht die Einstülpung des
Mesoderms doppelseitig auf jeder Hälfte des Entodermschlauches,
so daß zwei symmetrische Mesodermsäcke, ein linker und ein rech¬
ter, entstehen. Diese beiden Einfaltungen, die man plastisch am
besten als zwei Taschen begreift, schieben sich zwischen den Ekto¬
derm- und Entodermsack, umfassen den letzteren und bilden die
Leibeshöhle (Coelom) oder -höhlen, in welchen der Entodermsack
und vieles, was aus letzterem entsteht, liegt (Fig. 39). Der tierische
Körper besteht also jetzt aus vier Säcken, die ineinander ge¬
schachtelt sind, einem Ektoderm-, einem Entoderm- und einem rech¬
ten und einem linken Mesodermsack. Diese Doppelseitigkeit des
Mesodermsackes und alles, was aus ihm entsteht, bedingt die innere
bilaterale Symmetrie des tierischen Körpers. Aus ihm entsteht nach
innen der doppelseitige Urogenitalapparat und nach außen vor allem
89
Urmund
Coelomsäcke ...
Entoderm
Mesenchym
die Doppelseitigkeit der Muskulatur nebst dem harten Skelett, an
welches sich die Mus¬
kulatur ansetzt. Diese
innere Doppelseitigkeit
ist aber nicht gleich am
ganzen Tierleibe ausge¬
prägt, sondern beginnt
bei den Anneliden erst
an ganz beschränkter
Stelle, insofern sie bei
diesen nur winzige Teile,
gewöhnlich die Genital-
orgaue allein umfaßt
Ektoderm
Fig. 37. Schematisches Darchschnittsbild eines
platyhelminthen Scoliciden. Nach Grobben.
(Fig. 37). Allmählich breitet sie sich weiter auf die Leibeshöhle aus und
kann dann entweder je zwei
durch den ganzen Leib
genoude, einheitliche Halb¬
säcke, oder segmentartig, der
Quergliederung des Leibes ent¬
sprechend, zahlreiche segmen¬
tierte bilden (Fig. 38). Die
anderen beiden Säcke aber,
der Ektoderm- und Entoderm-
sack, bleiben auch weiter ein¬
heitliche Säcke, ebenso bleiben
einheitlich alle Drüsenorgane,
die aus dem Entoderm ent¬
stehen, wie Leber, Milz, Pan¬
kreas etc. Einzelne aus dem
Entoderm entstehende Organe,
welche bei ihrer Entstehung
zunächst auch eine einheitliche
Ausstülpung des Entoderms
sind, passen sich bei ihrer
weiteren Ausbildung der bila¬
teralen Symmetrie des Meso¬
derms an, wie z. B. die Lun¬
gen, welche aus der Trachea¬
röhre sich dichotomisch teilen
und nun in ihrem Ausbau in
die beiden Pleurahöhlen sich
einsenken. Ebenso ist das
Definitiver Mund
After
(Urmund)
Fig. 38.
Darm
Mittlerer
der drei
Coelomsäcke
Schema von Sagitta (Pfeilwurm).
Nach Grobben.
90
<b-fäß>\>teni zunächst ein iin>ymmctri>«*hes Röhren>\>tem mit einer
an einer Stelle betindlh-hen ampullären Erweiterung, «lern Herzen.
I)ie> Verhältnis zeigt sieh auch hei allen höheren Formen bis zun:
Mensehen herauf. Auch seihst bei diesem ist das Gefäßsystem in
seiner Anlage zunächst ein einfacher in sich geschlossener Schlauch
mit einer in der Kopfgegend gelegenen Erweiterung, dem Herzen,
und erst später geschieht die weitere Ausbildung in der Wei>e. daß
es sich nicht ganz und gleichmäßig bilateral teilt, sondern daß es
>ich nur der inneren bilateralen Symmetrie annähert. Aus dein Er¬
läuterten geht hervor, daß der tierische Körper auch in seiner weite¬
ren phylogenetischen Entfaltung doch die alte Grundform der ^ack-
resp. schlauchförmigen Gestalt beihehält. und daß sich in die>e
Grundform etwas Bilateral-Symmetrisches einbaut, welches dann
allerdings auch auf die Grundform richtunggebenden Einfluß gewinnt.
Der andere Entstand, welcher die ursprüngliche Körnerform
umgestaltet. bet rillt die Veränderungen, welche in der Entwicklung
am Ektoderm vor sich gehen. Sie sind der der Außenwelt direkt
zugekehrten < iberfläche des Ektoderms entsprechend naturgemäß
nach außen gerichtet. Sie betreffen die Bildung von Sinneswerk¬
zeugen. die sich vom Körper in die Außenwelt vorstrecken, um mit
ihnen ans mehr oder entfernter liegenden Quellen das aufzunehmen,
was dem Körper nützlich, und das abzuwehren, was ihm schädlich
ist. Diese Werkzeuge bilden sich als Aussackungen oder Einstülpun¬
gen des Ektoderms in ähnlicher Weise wie die Ein- und Aussackungen
am Entoderm entstehen. Bei den niederen Tierformen beteiligt siel:
auch noch «las Entoderm daran, indem z. B. die Aussackungen des
Digestionstraktus vielfach in diese Auswüchse hineingehen. Bei den
höheren Formen tritt das Entoderm mehr zurück, dafür treten aber
mehr Bildungen, die vom Mesoderm herrühren, in sie hinein, wie
Muskeln und Knochen. Diese Auswüchse mul Einstülpungen sind
bei niederen Formen ganz unregelmäßig und ganz asymmetrisch,
und erst allmählich gewinnt auch die innere bilaterale Symmetrie
auf sie Einfluß. Aber der äußere Sack bleibt als solcher bestellen,
ganz gleich wieviel Aus- und Einstülpungen an ihm entstehen. Gleich
wie ein Topf, dem man zwei Henkel ansetzt, nicht deshalb bilateral
symmetrisch wird — denn die llenkcl sind es zwar, nicht aber der
Topf —, so wird auch der Ektodermsack des Tierkörpers nicht da¬
durch bilateral symmetrisch, daß er auf beiden Seiten die gleiche
Anzahl von Auswüchsen erhält.
Zur Vollständigkeit und zur genaueren Erkenntnis der tieri¬
schen Körpergestalt ist es nötig, sich die inneren und äußeren
91
sekundären Bildungen, welche die bilaterale Symmetrie bedingen,
noch einmal genauer anzusehen und einzuschätzen.
Von den inneren Bildungen kommen, wie erwähnt, wesentlich
das Muskel- und Knorpel-Knochengewebe des Rumpfes in Betracht,
denn die Epithelhäute des Mesoderms wirken zwar richtunggebend
auf die entstehende bilaterale Symmetrie, sie sind aber dauernd nur
zarte Häute und können als solche selbst das Nervensystem wenig
beeinflussen. Das Knochengerüst dagegen wächst zu einer starken
Masse aus und noch mehr das Muskelgewebe.
Das Knochengewebe wächst zunächst als indifferente Zellmasse
wesentlich aus dem Mesoderm (vielleicht auch noch etwas aus dem Ek¬
toderm) bezw. aus dem Mesenchym und bildet zwei Hohlräume, einen
engen, langen, aber ringsum geschlossenen, als feste Umhüllung des
Zentralnervensystems—dies gilt allerdings nur für die Wirbeltiere —,
und einen breiteren und kürzeren, vorne und hinten offenen als Stütze
und Umhüllung derRumpforgane. Beide, besonders die Wirbel, sind die
bleibenden Reste der Mentamerie des Wirbeltierkörpers. Die Wirbel
sind geschlossene, aneinander passende Ringe; sie zeigen in ihrer
ersten Entstehung nichts von bilateraler Symmetrie, sondern ring¬
förmige Zellhaufen, aus denen sich später das Knorpelgewebe ent¬
wickelt, legen sich um das Medullarrohr herum und umfassen es als
ein durch den Rumpf von oben bis unten durchgehender weicher
Schlauch. Erst später nach Konsolidierungder Masse kommt durch seit¬
liche Auswüchse,die wohl derZugwirkung der Muskeln ihre Entstehung
verdanken, die bilaterale Symmetrie zustande. Der breitere Hohl¬
raum, welcher durch die Viszeral bögen und Rippen und den Becken¬
gürtel gebildet wird, ist sowohl vorne als auch hinten gespalten und
hat vorne eine klaffende Öffnung. Außerdem sind seine festen metame-
ren Abschnitte durch breite Zwischenräume getrennt, so daß er mehr
einen aus reifenförmigen und getrennt voneinander liegenden Spangen
gebildeten Hohlraum repräsentiert. Aber einen solchen, wenn auch
unvollständig umschlossenen Hohlraum stellt er als Ganzes betrachtet
dar. Bei den Wirbellosen kommen dafür chitinartige Panzergebilde
in Betracht, die sich aus dem Ektoderm bilden, die auch in einzelnen
Platten und Ringen den Körper umgeben und als Ganzes gleichfalls
eine feste, sackförmige Schicht darstellen.
Auch das Muskelgewebe, aus Ring-. Schräg- und Längsmuskeln
bestellend, bildet sich zum größten Teil aus dem Mesoderm, zum
geringeren aus dem Ektoderm. Letzteres entspricht dem Epithel¬
muskelgewebe und behält mit dem Ektoderm als Ganzes die Sack¬
gestalt bei. Die große Masse der Rumpfmuskulatur bei den Wirbel-
92
deren bildet sich zunächst in metameren Schichten (Myotonien) und
bilateral symmetrisch. Als solche bilaterale Schicht ohne besondere
Differenzierung bleibt sie bei den niederen Wirbeltieren bestehen.
(Fig. 39.) Bei den höheren Wirbeltieren tritt zwar eine mannigfache
Fig. 39. Schematischer Querschnitt durch die Kiemenregion
von Branchiostoma (Amphioxus).
Nach Korschelt und Heider.
Differenzierung ein. aber als Ganzes umschließt, sie das reifenförmige
Knochengerüst resp. füllt die Lücken zwischen den Reifen aus.
Sie bildet auf jeder Hälfte quer oder schräg verlaufende kontraktile
Halbringe, die beiderseits als Ganzes vereint wieder einen vollkomme¬
nen Muskelsack darstellen.
Und nun schließlich die aus dem Ektoderm ausgewachsenen
Anhänge! Sie entstehen zuerst, wenn man von den Geißeln und
Wimpern der Protozoen absieht, bei den Coelenteraten im Umkreise
der Mundöffnung und bilden hier einen Kranz von verschieden lan¬
gen und breiten Fühlern. Dasselbe Verhältnis zeigt sich auch bei den
niederen Würmern. (Fig. 30.) Sie sind hier schon etwas mehr differen¬
ziert, verschieden lang, dick und breit. Sie bilden hier einen Teil des
Mundtrichters, gleichsam als ob letzterer in seinem vorderen Ab¬
schnitt der Längsrichtung nach sich in zahlreiche verschieden lange
93
Zipfel gespalten hätte. Würden die Lücken zwischen ihnen angefüllt
sein, so hätte man einen ganzen, sich vors t reckenden Schlauch. Die
Cephalopoden zeigen dies Ver¬
hältnis besonders anschaulich.
(Fig. 40.) Bei den Anneliden
sind diese Fühler ebenfalls vor¬
handen; außerdem treten jetzt
bei einzelnen Vertretern auch
noch an den seitlichen Körper¬
teilen Auswüchse auf, welche
paarig und an beiden Seiten
gleich an Zahl den Metameren
entsprechen. Bei den Arthro¬
poden ist dies Verhältnis das¬
selbe, nur sind die Anhänge
an Zahl sehr wechselnd, kön¬
nen in gleichmäßigen Ab¬
ständen stehen oder auch
nicht. Häufig verschmelzen
sie zu umfangreichen Ge¬
bilden und sind stark ge¬
gliedert. Bei den höheren
Formen der Wirbellosen, mit
Ausnahme der sternförmig ge¬
bauten, wechselt das Verhält¬
nis an Zahl und Umfang dieser
Auswüchse. Wo sie aber vor¬
handen sind, zeigen sie mit
Ausnahme des Medianauges
stets die bilaterale Symmetrie.
(Fig. 41.) Bei den Vertebra¬
ten schrumpfen die vorderen
an der Mundöffnung befind¬
lichen Anhänge zusammen;
Fig. 40.
Abraliopsis morisi (Kopffüsser).
Nach Chun.
es finden sich dort nur noch Reste, während die seitlichen Anhänge,
Extremitäten, wenigstens bei den höheren Formen, sich auf vier
beschränken, ein vorderes und ein hinteres Paar. (Fig. 42 und 43.)
Aber ebenso wie die Auswüchse, welche an der Mundscheibe
der niederen und höheren Würmer entstanden sind, als Ganzes nur
gleichsam einen gespaltenen Schlauch darstellen, so stellen auch die
seitlichen Auswüchse, ganz gleich, ob sie ungegliedert oder ge-
94
gliedert, sind, bewegliche Halbringe dar. die. wenn sie geschlossen
werden, Voll ringe bilden, sobald man den Körper selbst als hinten
sie verbindendes Mittelstück dazu nimmt. Ebenso wie die Hippen
innen vom Ektoderm solche eingeschlossenen festen Hinge bilden,
so sind die Anhänge äußere lose bewegliche Reifen, die die Tonnen¬
form des Körpers umgreifen und sich ihr anlegen können. Um Mi߬
verständnissen vorzubeugen, sei gesagt, daß zu diesen Auswüchsen
nicht Haare, oder Borsten, Stacheln und dergleichen zu rechnen
sind, welche ja nur aus dem Ektoderm abstammen, während die
Anhänge sich aus Gebilden zusammensetzen, die aus Ektoderm.
Mesoderm und zum Teil wohl auch aus dem Entoderm entstehen.
Wenn man nun die Stellung und Bewegung dieser Anhänge
genau betrachtet, so erkennt man, daß sie alle eine nach dem
Körper zu gerichtete Konkavität zeigen, so daß, wenn sie sich an
ihn anlegen, sie diesen reifenförmig umfassen. Sowohl als Ganzes
zeigen sie eine nach einwärts gerichtete Biegung, als auch sind ihre
einzelnen Glieder so zueinander gestellt, daß sie sich wesentlich
nach innen biegen
und die Gradstel¬
lung der einzelnen
Glieder resp. die
Auswärtsbewegung
der ganzen Extre¬
mität nur bis zu
Fig. 41. Myssistadiurn des Hammers. einer gewissen Ex-
Nach G. 0. Sars. tension möglich ist.
Die Einwärtsbewegung zum Körper hin ist die Hauptaktion, während
die Abduktion resp. Extension nur auxiliärer Natur ist. Das Be¬
wegungsbild erinnert vollkommen an dasjenige einer Zange, deren
Fig. 4?. Sphenodon punctatum.
(Nach Gadow) aus Claus-Grobben.
vordere kürzere Hebel auch nach einwärts ge¬
bogen sind, so daß, wenn die Zange geschlossen
ist, ihre Spitzen aneinanderstoßen. Auch hier
ist die Hauptbewegung, um den Zweck des
Werkzeuges zu erfüllen, um einen Gegenstand
zwischen die Zinken zu fassen, die Adduktion,
und die Abduktion ist eine zwar notwendige,
aber auxiliäre, um die Hauptaktion zu ermög¬
lichen. Alle beweglichen Anhänge des tieri¬
schen Körpers mitsamt den sie tragenden
Sinneswerkzeugen sind in ihrer bilateralen An¬
ordnung solche zangenartigen Werkzeuge,
welche den Zweck haben, das, was aus der
Außenwelt für den Organismus nötig ist, zu
umklammern, festzuhalten und dem Körper zu¬
zuführen. Diese Hilfseinrichtung hat sich der Gesamtkonfiguration
lies Körpers sinngemäß angefügt und hat auf den Aufbau des Ner¬
vensystems gleichfalls seinen entsprechenden Einfluß ausgeübt.
Der tierische Körper bewahrt also trotz seines Ein- und Aus¬
baues an bilateralen Gebilden im ganzen seine sackförmige Ur-
gestalt und funktioniert als ein einheitlicher Organismus.
Auch das Nervensystem, speziell das Zentralnervensystem, zeigt
keineswegs in seinem Bau eine absolute bilaterale Symmetrie, wie
es auf den ersten Blick erscheinen mag. Dies würde vielleicht deut¬
licher zum Ausdruck kommen, wenn der Tierkörper statt der seitlich
verschmälerten langgestreckten Form eine Kugelgestalt angenommen
hätte. Aber er hat sich langgestreckt, weil der ständig nach vor¬
wärts strebende, nach Nahrung suchende vordere Pol ihn allmäh¬
lich in die Streckung und Längsausdehnung gebracht hat. Dadurch
wurden die Außen- und Innenhüllen mehr und mehr zu sack- oder
röhrenförmigen Gebilden und dadurch wurde auch der gleichmäßige
sphärische Nervenplexus längsgestreckt. Bei der Verdichtung und
Konzentration des Plexus bildeten sich entsprechend nervöse Längs¬
bänder, die am vorderen und hinteren Pol konvergierten und sich
vereinigten. Es entstand durch solche Längsstreckung eine Bilatera-
lität, die zunächst eine scheinbare ist, indem sie nur durch die Längs¬
streckung vorgetäuscht, in Wirklichkeit eine langausgezogene ge¬
schlossene Kette darstellt. Diese langgezogene ringförmige Bildung
gewinnt dann mehr den Ausdruck der bilateralen Symmetrie, durch
Spaltung des Körpers in metamere Abschnitte und entsprechende
Bildung von metameren isolierten nervösen Ganglien in den Längs-
Fig. 43.
Menschlicher Fötus.
96
strängen. Aber die Kette bleibt trotz der beiderseitigen lokalen
Einbauten von Ganglienzellmassen immer eine geschlossene. Dieser
Zustand bleibt auch der gleiche, ja er wird nach beiden Richtungen
noch sinnfälliger nach Einbau des Zentralkanals in die Nervenmasse
bei den Wirbeltieren. Wenn man die Entwicklung des Nerven¬
systems bei den Wirbeltieren verfolgt, so sieht man, daß es zunächst
ein einfaches gleichmäßiges Xervenrohr bildet, welches sich nur am
vorderen Abschnitt bläschenförmig erweitert. Von einer bilateralen
Symmetrie ist nichts zu erkennen. Die Wand des Rohres ist überall,
soweit sich das mit den gegebenen Untersuchungsmitteln fcststellen
läßt, vollkommen gleichmäßig gebaut. Die ganze Matrix, aus der
alles weitere sich bildet, ist ein geschlossener schmaler langgestreck¬
ter Ring, und ein solcher bleibt er auch als Ganzes in seiner weiteren
Ausbildung bis zum endgültigen fertigen Bau von den niedersten
Vertebraten bis zum Menschen. Die bilateralen zentralen Bildungen,
die man bei Verfolgung der Entwicklung des Zentralnervensystems
immer mehr auftauchen sieht, sind späterer Erwerb und entsprechen
vollkommen dem bilateralen Ein- resp. Ausbau am Körper. Sic sind
daher auch je nach der tierischen Organisation variabel, während
der Grundstock überall gleich bleibt. Während die Matrix die alte
gleiche Form des geschlossenen Ringes beibehält, nur daß sie durch
Abgabe von Xeuroblasten an die Außenzonen des Nervenrohres sich
verschmälert, entwickeln sich in der von TI i s sog. Mantelschicht die
einzelnen nervösen Zentren in ähnlicher Weise, wie sich bei den
Wirbellosen in den zunächst gleichmäßigen nervösen Längssträngen
die Ganglienknoten als lokale Zentren für die einzelnen Metamercn
ausbildeten. Aus beiden gehen dann auch auf beiden Seiten die
Xervonfasersysteme. sowohl peripherische wie zentrale, hervor. Im
fertigen Zentralnervensystem der Wirbeltiere ist die sog. graue
Bodenmasse die zentrale gleichmäßig das ganze Nervenrohr durch¬
ziehende Schicht, die rein als solche, d. h. abgesehen von Nerven-
kemen. welche sich in sie einlagern, den ursprünglichen, gleich¬
mäßigen Ring repräsentiert, aus dem das Nervensystem in seiner
einfachem Gestaltung bestand, und welches die asymmetrische Ge¬
schlossenheit des Ganzen am sinnfälligsten zur Anschauung bringt.
Aber auch die eingelagerten Schichten des Zentralnervensystems,
wenn sie auch entsprechend der sich am Körper einbauenden bilate¬
ralen Gebilde, bilateral gelagerte nervöse Zentren erhalten, formen
und runden sich zu geschlossenen einheitlichen Ringen ab, indem sie
in ihrem langgestreckten Verlaufe durch Kommissuren oder durch
die .Mittellinie überschreitende kreuzende Bahnen sich vereinigen.
97
Neben den einzelnen Zentren, die sich in die graue Grundsubstanz
einlagern und von denen isolierende Bahnen ausgehen bzw. in sie
einströmen, enthält diese Substanz noch den feinen Nervenlilz (bei
den Wirbellosen die sog. Punktsubstanz), der sieh diffus durch ihre
ganze Länge hinzieht. Diese graue Grundsubstanz mit ihrem Nerven¬
lilz repräsentiert wohl die Zentralisation der Einheitlichkeit des
Körpers. Die einzelnen Zentren mit ihren Bahnen dienen, wie ich
glaube, ausschließlich isolierenden Betätigungen, während in der
grauen Grundsubstanz jener leise flutende Lebensstrom dahinfließt,
wie er vielleicht bei einem ruhig schlafenden Menschen auf- und ab¬
wallend den Funktionszusammenhalt des Ganzen, d. h. aller zellu¬
lären Elemente, bewirkt.
4. Wie sind die Kreuzungen der Nervenbahnen
entstanden.
Diesen Verhältnissen ist bei der Parallele, die nun zwischen der
Ausgestaltung des Nervensystems und des Körpers gezogen werden
soll, vollauf Rechnung zu tragen. Freilich rein ohne die entsprechen¬
den Funktionsleistungen mit zu berücksichtigen, läßt sich die Pa¬
rallele schwer durchführen, weil Gestalt und Funktion so mitein¬
ander verkettet sind, daß eine Scheidung schwer möglich ist. Doch
bezieht sich das Funktionelle nur auf allgemeine und einfach ver¬
ständliche Reaktionen.
Die einfachste Form des tierischen Körpers, in welchem sich
zuerst ein Nervensystem gebildet hat, ist ein einfacher ineinander
gestülpter Sack, und das Nervensystem ist ein in den beiden Lagen
des Sackes liegendes und in seinem ganzen Umfange gleichmäßig
sich ausbreitendes Netz von interzellulär verbundenen Nervenzellen.
Dieses Netz von Nervenzellen und Nervenfasern entspricht nicht nur
der einfachen sackförmigen Körperform, sondern auch den gleich¬
mäßig verteilten Sinneszellen, welche die Reize von der Außenwelt
aufnehmen, sowie dem gleichmäßigen Muskelschlauche, welcher die
einfachen Bewegungen des Gesamtkörpers bewirkt. Denn die ge¬
ringen Bewegungen, die diese niederen Tiere ausführen, sind wohl
im wesentlichen solche, welche leicht wellenartig den gesamten Kör¬
per durchfluten und ein leichtes Vorstrecken und Zurückziehen des
Körpers bei in Stöcken festsitzenden Tieren oder ein Auspressen und
Wiedcraufnehmen von Wassermengen z. B. aus dem Glockeninhalt
von Medusen bewirken, wodurch eine langsame Ortsbewegung erfolgt.
Dieses Nervennetz bildet den Grundstock der Nervenanlage des
gesamten Tierreiches, soweit es überhaupt Nerven besitzt, und von
98
diesem Netze aus muß alle weitere Ausbildung des Nervensystems
abgeleitet werden. Wenn man sieh ein solches Netz plastisch vor
Augen hält, so ist es ein .System von kontinuierlich verbundenen und
sich ii be r k r e u z e n d e n Bahnen, und bei den nun in höheren
Entwicklungsformen sich einstellenden Konzentrationen und Iso¬
lierungen mußte daraus ein System von teils ungekreuzten, teils ge¬
kreuzt verlaufenden Bahnen entstehen.
Die erste Zentralisation und zugleich auch die erste Isolierung
bildet sich um die MundöiTmtng des Tieres, und hier hat diese Kon¬
zentration und Zentralisation sich dauernd gehalten und hat allmäh¬
lich in der weiteren Entwicklung immer höhere Grade erreicht. Hier
setzte sich (sit venia verbo) die Seele fest. Durch die vordere Ein¬
gangspforte muß dasjenige hindurchgehen, was das Tier am Leben
erhält, und mit dieser Eingangspforte muß es nach dem streben, was
es zur Lebenserhaltung lrenötigt. Der Lebensdurst konzentriert sich
hier und muß hier notgedrungen immer mehr an Schöpferkraft zu¬
nehmen.
Der primitive Mund, die einfache Mundscheibe, reicht bald
nicht mehr aus, um das Bedürfnis zu befriedigen. Das Werkzeug
muß sich vergrößern und vervollkommnen, es muß weiter in die
Außenwelt ausgreifen können. Es bilden sich demzufolge um die
MundölTnung herum zahlreiche Fühler und Fangarme, welche die
Nahrung aufspüren und in die Mundöffnung einstrudeln. Die Fühler
tasten einzeln das umgebende Medium nach allen Seiten, besonders
im horizontalen Umkreis, ab, sie bewegen sich dann gemeinsam nach
innen, nach der MundölTnung zu. sie kreisen das an Nahrung Not¬
wendige zwischen sich ein und schieben es der MundölTnung zu.
Hier gestaltet sich sowohl etwas Isolierendes, indem der ein¬
zelne Fühler aufspürt, als auch etwas allgemein Sammelndes, indem
mehrere oder alle Fangarme sich zu einer gemeinsamen Aktion zu¬
sammentun: denn diese am Munde befindlichen Fangarme kann man.
wie schon erwähnt, als eine gespaltene rüsselartige Vorstülpung
des Mundtrichters betrachten, welche in ihrer Konfiguration zum Teil
isoliert, im wesentlichen aber wie der Mundtrichter selbst als gemein¬
sames tömzes sich betätigen können. Dieser Isolations- und Sammel-
apparat hängt nun als Auswuchsapparat mit dem übrigen sack¬
förmigen Körper zusammen. Letzterer wird von einem Nerven¬
apparat geleitet, der aus einem netzförmigen Plexus besteht. Dieser
netzförmige Apparat geht, wie die Untersuchungen ergeben, auch
in den Auswuchsapparat über. Beide, der Nervenplexus des eigent¬
lichen Körpers und derjenige dos Auswuchsapparates, müssen mit-
99
einander in Beziehung treten, der eine muß in seiner Betätigung und
Struktur sich dem anderen anpassen, es muß ein nervöser Wechsel¬
strom hin- und herfluten. Das geschieht durch eine ringförmige
Kondensation der nervösen Elemente an der Grenze zwischen beiden,
in der Vermehrung von Nervenzellen und in der Ausprägung
isolierender Bahnstrecken. Da die Grundform des Baues des Nerven¬
systems des Tierkörpers der Nervenplexus ist, und aus diesem sich
die Weiterentwicklung vollzieht, so können sich die für die Fühler
und Fangarme nötigen Nervenbahnen aus diesem in dem ring¬
förmigen Netze sich überkreuzenden Bahnen doch
nur so isolieren, daß sie ihrem bisherigen Verlaufe
entsprechend sich nach vorhergehender Über¬
kreuzung in die einzelnen Abteilungen begeben.
Diese Überkreuzung braucht naturgemäß keine vollständige zu sein,
und es wird von besonderen Umständen, die sich im einzelnen
schwer enthüllen lassen, abhängen, ob bald mehr überkreuzende,
bald nicht kreuzende Bahnen sich in die einzelnen Anhänge ergießen.
Die Isolierung greift nun mit der weiteren Entwicklung des
Tierkörpers weiter um sich, und zwar in doppelter Weise, einmal
indem der bisher ganz kontinuierliche und einheitliche Körper sich
gliedert, und zweitens indem jedes Metamer nun auch seine beson¬
deren Anhänge erhält, die es in besonderen isolierten Kontakt mit
der Außenwelt setzt. Angebahnt wird diese ‘Isolierung durch die
Bildung der Längsstränge mit ihren Kommissuren und ihren ab¬
gebenden Seitenästen. Die Längsstränge sind der Längest reck ung
des Körpers folgende linienartige Kondensationen des Nervenplexus
und die Kommissuren und Seitenäste sind quere linienartige Konden¬
sationen als erste Spuren, die sich eingraben, um die weitere Meta-
inerie auszugestalten. Wie der Körper zunächst seine erste scharf
abgegrenzte Konzentrierung in Form eines Nerventinges oder
Ganglions an der Grenze zwischen Ösophagus und Mundanhängen
erhielt, so erhält jetzt jedes Körperglied seine eigene Nervenkonzen-
trierung in gleicher Weise, d. h. es sammeln sich in ihm Nervenzellen
lokalisiert an und ebenso verdichtet sich in ihm der Nervenplexus.
Beide vereint ballen sich zu einem Ganglion zusammen, und so zieht
durch den ganzen Körper eine Kette von Ganglien hin. deren Zahl
der Anzahl der Metameren entspricht. Verschmelzen mehrere honto-
nome Glieder zu einem größeren einheitlichen Gliedabschnitt, so ver¬
schmelzen auch mehrere kleine Ganglien zu größeren, und diese Ver¬
schmelzung schreitet allmählich so weit fort, bis bei den Vertebraten
alle zu einer einheitlichen Masse verschmolzen sind.
J acobsohn-Lask, Die Kreuzung der Nervenbahnen. ( AbhdJ. H. 20)
7
— 100
Neben der Konzentrierung' und Verschmelzung geht aber immer
die Isolierung von Nervenbahnen einher, weil der Körper wesentlich
durch Isolierungen zur Vervollkommnung gelangen kann. Zunächst
sind zwar die Metameren noch ziemlich gleichartig organisiert, aber
sie reihen sich als selbständige Teile doch hintereinander an. Der
Körper agiert nicht wie früher in seiner Gesamtmasse, sondern mehr
in der Aufeinanderfolge dieser einzelnen Glieder; jedes hat sein
Aktionszentrum, das in Beziehung zu anderen steht. Ein Reiz, der
das eine trifft-, pflanzt sich bei genügender Stärke auf das andere
fort. Hierbei hat das vorderste Zentrum am Schlunde die Führung,
d. h. alles flutet zu ihm hin und flutet wieder auf alle zurück, denn
von ihm gehen die Hauptregungen, anregende und hemmende, aus.
So müssen sich also isolierte Bahnstrecken bilden, welche die einzel¬
nen Ganglien miteinander in Verbindung setzen. Diese Bahnen sind
teils alter Besitz, d. h. sie haben sieh schon früher aus der ersten
Konzentration am Schlunde und aus dem allgemeinen Nervenplexus
gebildet (Ventral-Dorsal-Lateralstränge mit ihren Kommissuren), teils
bilden sie sich bei jedem Ganglion neu, indem neue Nervenzellen ent¬
stehen und sich lokal anhäufen und diese Nervenzellen Anschluß
nach zentral und nach der Peripherie erstreben. Da jedes Ganglion
aus Nervenzellen und einem Nervennetz besteht, so mußte sich bei
der Isolierung der Bahnen aus dem Netz auch hier wie bei dem
oralsten Ganglion ergeben, daß sich diese Bahnen teils über-
kreuz e n , teils ungekreuzt verlaufen.
Es konnte sich nach Bildung der Ganglien die Überkreuzung der
sich isolierenden Bahnen in der Medianlinie naturgemäß nur inner¬
halb der (Janglien vollziehen, wie es vorher die Kommissuren gewesen
sind, an denen der Übergang der Fasern von einer Seite auf die
andere sich vollzogen hatte. Die Kommissuren waren zunächst die
sinnfällige Ausprägung der Kreuzungen und später die Ganglien, die
an ihre Stelle traten. Die Kommissuren resp. Ganglien sind also die
Vorläufer der eigentlichen Kreuzungen, welche alle ihre eigenste
Wurzel im primitiven Nervenplexus haben, der ringförmig die
Körpersehlüuehe umfaßt.
Auf die Konzentrierung und Isolierung haben dann in zweiter
Reihe auch die äußeren Anhänge, d. h. die Sinnes- und Bewegungs¬
apparate eingewirkt, welche die Körperabschnitte in der weiteren
Entwicklung erhielten. Diese Anhänge bildeten sich, wie vorher
geschildert wurde, als reifen- bzw. zangenförmig gestaltete und funk¬
tionierende Werkzeuge aus. Diese Form und Funktion mußte auf
den Verlauf der sich aus dem Netze isolierenden Bahnen gleichfalls
101
einen grüßen Einfluß ausüben. Hierbei ist natürlich schwer zu sagen,
ob der Einfluß des sich ausbauenden Nervensystems mehr auf die
Gestaltung der Anhänge oder umgekehrt die durch die Funktion be¬
dingte Ausgestaltung der Anhänge auf die Ausgestaltung des Nerven¬
systems eingewirkt hat. Es greifen hier die Faktoren so ineinander,
daß das Primäre vom Sekundären schwer zu trennen ist. Die Reize,
welche in diese halbringförmigen Anhänge eindrangen, konnten nur
in ringförmigem Laufe in das Innere des Körpers und in das Zentral¬
nervensystem hineingelangen, und denselben Weg mußten auch die
Impulse nehmen, die, im Zentralnervensystem geweckt, auf die
Muskulatur der Anhänge ausstrahlten, um jene Grundaktion der
Anhänge, nämlich ihren Zusammenschluß, sei es zum Fassen der
Nahrung, zum Festhalten des Körpers auf einer Unterlage, sei es
zum Umklammern beim Geschlechtsakt, zu bewirken. Der Weg an
der ganzen Körperperipherie, der zum Zentralorgan hin und von ihm
zur Peripherie führt, sei es am geschlossenen Körper, sei es an den
losen Anhängen, ist ein ringförmiger. Diese Wege führen nun in
eine Nervenmasse, die ringförmig um einen Schlauch liegt, oder die,
wie bei den Wirbeltieren, den Schlauch, d. h. den Zentralkanal, in
sich hat. So ist es begreiflich, daß die peripheren Nervenbahnen,
wenn sie von links und rechts in diese schlauchförmige zentrale
Nervenmasse eintraten, bzw. aus ihr auszutreten im Begriffe waren,
wie zwei sich entgegenkommende Ströme sich zum erheblichen Teile
überqueren mußten.
Der weitere Fortschritt vollzog sich nun ständig in der gleichen
Linie. Den zunehmenden Isolierungserscheinungen am Körper mußte
sich ständig das Nervensystem unpassen. Es sammelten sich immer
mehr Nervenzellen im Zentralnervensystem an und lokalisierten sich
zu kleinen oder größeren Zentralstationen und aus dem diffusen,
zentralen Nervennetz isolierten sich dementsprechend immer mehr
einzelne Bahnen, welche diese Zentren miteinander und mit der
Peripherie verbanden.
Trotzdem sich der tierische Körper immer mehr in einzelne
strukturelle und funktionelle .Sonderabteilungen isoliert hatte, so
konnte er doch andererseits seine Einheitlichkeit dadurch bewahren,
daß sich die Sonderabteilungen den einheitlichen Grundmauern des
Körpers einfügten. Das fand auch seinen entsprechenden Ausdruck
im Bau des Zentralnervensystems, indem sich einerseits für einheit¬
liche Sonderfunktionen zusammenfassende Zentralstationen ausbil
deten, von denen aus diese Funktionen geleitet wurden, und indem
andererseits die einheitliche nervöse Grundsubstanz in Form des
feinen durch das ganze Zentralnervensystem hindurchziehenden
— 102
Nerven nutzes resp. Nervenfilzes zum großen Teil erhalten blieb, durch
welche die Nervenenergie in gleichmäßigem Strome durchfließend die
funktionelle Tätigkeit und den Zusammenhang aller zellulären Ele¬
mente des Körpers erhielt.
Überblickt man das Gesagte, so ergibt sich, daß die allgemeine
Erscheinung der gekreuzten und ungekreuzten Nervenbahnen aus
dem Gefüge des primitiv gebauten Nervensystems mit seinen späte¬
ren Konzentrationen und Isolierungen sowohl strukturell wie funk¬
tionell seine volle Erklärung findet.
Die Kreuzung der Nervenbahnen an sich hat also seine Ursache:
1. In der Grundgestalt des primitiven Nerven
Systems, dem Nerve n plexu s.
2. In der Grundgestalt des tierischen Körpers,
der schlauchförmig a n g e 1 e g t ist. und der
diese G rund g o s t a 11 a u e h ständig weiter
b e h ä 11.
fl. I n der funk t i o n e 11 e n u n d strukturelle n A n -
passung des Nervensystems an diese tierische
G r u n d g e s t a 11 und an alle die bilateralen E i n -
un d Ausb auton. w eiche der tierische lv ö r p er
in seiner weiteren E ti t w i e k 1 u n g erb ä 1t.
Die Tatsache, daß im Zentralnervensystem vielleicht schon der
Wirbellosen, sicher alter der Wirbeltiere, die Zahl der kreuzenden
Fasern diejenige der nichtkreuzenden überwiegt, findet wohl auch
schon aus der Gestalt des primitiven Nervengewebes seine Erklä¬
rung. Mag das Nervennetz nun ein anastomosierendes sein, wie die
einen Forscher es deuten, mag es eine Durchflechtung von Fasern
sein, wie die anderen es annehmen, das ist für unser Problem ganz
gleichgültig. In beiden Fällen überkreuzen sich die Fasern entweder
locker oder netzförmig. Es ist wohl ganz natürlich, wenn man an-
nimntt, daß die aus diesem Netze sich erst isolierenden und sich dann
zu kleinen Bahnstrecken zusammenballenden, oder die im Geflechte
schon isolierten und also sich gleich zu kleinen Einheiten zusammen¬
ballenden Fasern der vorliegenden und ererbten Richtungstendenz
ihres Verlaufes der Mehrzahl nach weiter folgen, d. h. daß sie sich
in ihrem isolierten Verlaufe zum großen Teil weiterkreuzen. Bei
dieser Isolierung werden sich Nervcnfibrillen zu stärkeren Fasern
zusammensehweißen. Die stärkeren können sich wieder Y-artig
teilen, wobei der eine Ast homolateral, der andere heterolateral
weiterzieht und so Kreuzungen überall zustande kommen.
Alter außerdem war zur Erzeugung der vielen Kreuzungen noch
der Umstand so wichtig, daß das Zentralnervensystem einen röhren-
103
förmigen Kanal (den alten Digestiemstraktus) umlagert und sieh
mit ihm konsolidiert hatte. Wie in den ersten Anfängen der Zentra¬
lisation bei den niederen Würmern die Nervenbahnen einen Ring um
den oralen Ausgangsteil des Digestionstraktus bilden und aus diesem
Ring naturgemäß auch immer viele von der Regenseile kommende
Fasern in die Mundanhänge gehen, so müssen später, wo das ganze
Zentralnervensystem das zentrale Rohr ringförmig umgibt, die
isolierenden Nervenbahnen konzentrisch ringförmig um diesen Kanal
laufen und müssen, wenn sie sich von beiden Seiten begegnen, an
der Begegnungsstelle überkreuzen. Solche bogenförmig verlaufenden
Fasern sieht man dementsprechend in ganz charakteristischer Weise,
wenn sie aus einer Station herausgekommen sind, in verschieden
weiten Abständen um den Kanal herumlaubm und zumeist im ven¬
tralen Teil der Nervenmasse sich in der Mittellinie überqueren. Von
solcher Cberkreuzungsstelle gehen die Bahnen dann entweder im
gleichen Niveau zur Peripherie oder sie laufen eine kürzere oder
längere Strecke 4 — und zwar eine um so längen», je weiter sich das
Zentralnervensystem entfaltet hat — in der Achse entlang zu ihnen
sich anreihende und funktionell zugehörige Stationen. Daß dio
Bahnen sich mehr in der ventralen Region üherkreuzen, liegt daran,
daß diese Region die Hauptmasse 4 der nervösen Substanz enthält,
während die dorsale Region dünn, stellenweise epithelartig bleibt.
Der Übergang der Bahnen über die Mittellinie in verschieden
schräger Richtung ist. wie man sieht, erst möglich geworden, als die
einzelnen isolierten Ranglien zu einer einheitlichen (Gesamtmasse sich
verschmolzen hatteil. Der Fnterschied zwischen Kommissur und
Kreuzung ist demnach kein prinzipieller, sondern nur ein distan-
zieller. Beide haben das (Gemeinsame, daß es Fasern sind, die von
einer Seite über die Mittellinie 4 zur anderen Seite 4 hiniil>erg<diem. wobei
die Kommissuremfasern den kürzesten Weg einschlagem. um die kon-
tralaterale* Seite 4 zu erreichen! und eiort unmittelbarem Anschluß zu
gewinnen. Es ist nur in wemigem Fällen auf histologischem We i ge
möglich, die sog. Kommissuremfasern von dem Dekussationsfasern zu
trenmm und man kann da sehr willkürlich verfahren. Ma i stützt
sich bei eleu* rnten'scheddung der bohlen Fasewarten auf ein funktio¬
nelles Momemt. Diejenigen Faseun. wedeln 4 zwei bilatewale homologe
Zentren mite 4 inaneh 4 r ve 4 rbindem. ne 4 nnt man Kommissuremtase tu. und
diejenigen, wededie* zwe 4 i lmtewologe ve 4 rednigen. nennt man Kreuzun¬
gen. Dabei entstedit aber die Schwierigk( 4 it. was als einheitliches
homologes Zentrum zu gedtem hat. de kleinen* elie‘se 4 s Zemtrum g<»-
nommem wird. <1. h. je medir größere 4 Zemtralgebiete in kle 4 ine 4 re 4 zer-
104
spalten werden, um so geringer wird die Zahl der Kommissuren —
und um so größer die Zahl der Dekussationsfasern werden und um¬
gekehrt, und im Extrem kann das dazu führen, daß man entweder
nur Kommissuren- oder nur Dekussationsfasern gehen läßt. Das
beste Beispiel dafür ist das Balkensystem. Nimmt man jede
Hemisphäre als ein abgeschlossenes einheitliches Ganzes, so sind
natürlich die beide Hemisphären miteinander verbindenden Fasern
Kommissurenfasern. Nimmt man aber in jeder Hemisphäre getrennt
gelagerte einzelne Zentren an, die selbstverständlich zu einer größe¬
ren Einheit zusammengefaßt sind, und berücksichtigt man, daß die
von einer Hemisphäre zur anderen hinübergehenden Balkenfasern
nicht nur die genau sich entsprechenden einzelnen Zentren der beiden
Hemisphären miteinander verbinden, sondern daß durch diese Fasern
ein einzelnes Zentrum der einen Hemisphäre mit verschiedenen, weit
voneinander entfernt liegenden Einzelzentren der anderen Hemi¬
sphäre verbunden ist (Cajalj, so kann man das Balkensystem als
ein gemischtes System von Kommissuren- und Kreuzungsfasern auf¬
fassen, wobei naturgemäß wieder die kreuzenden die kommissuralen
an Zahl ganz bedeutend überwiegen. Denke ich mir nun die ganze
übrige Hirnachse gewissermaßen anatomisch und funktionell als ein
Gegenstück zu den Hemisphären, so habe ich dasselbe Verhältnis,
d. h. auch zwei im Gegensatz zu den Hemisphären zu einer, sagen
wir. niederen Einheit zusammengefaßten zentralen Nervenmasse mit
wer weiß wie vielen Einzelzentren. Diese sind jederseits in der
ganzen Medianlinie zwar nicht durch eine so kompakte Lage von
querlaufenden Fasern, wie es der Balken ist. sondern durch ver¬
schieden zersplitterte und einzeln lagernde kommissurale und kreu¬
zende Faserbündel verbunden. Vergleicht man die Verhältnisse so.
dann ist der Enterschied zwischen Kommissurenfasern und kreuzen¬
den Fasern ein rein äußerlicher. Daß beide Faserarten von der einen
auf die andere Seite übergehen, entspringt aus der gleichen Ursache.
Beide nehmen ihren Ursprung aus der netz- resp. getleehtartigen Ver¬
bindung der Nervemdemente bei den niederen Formen der Wirbel¬
losem.
Es ist zuletzt noch die Frage zu beantworten, welches die
Ursache ist. daß im Zentralnervensystem neben unvollständig kreu¬
zenden Bahnen auch vollkommen kreuzende existieren.
Man muß sieh freilich darüber klar sein, daß die Zahl der total
kreuzenden Bahnen im Zentralnervensystem, wenigstens soweit sie
ein einheitliches funktionelles System darstellen, bei den höheren
Tieren und heim Menschen eint* recht beschränkte ist. Wie das
— 10Ö —
Verhältnis bei den niederen Wirbeltieren ist. darüber herrschen recht
verschiedene Ansichten. Aber ebenso wie es unrichtig ist, daß die
Leitungsfasern bei den Wirbellosen fast ausschließlich homolateral
verlaufen, so ist es auch nicht richtig, daß die Bahnen bei den
niederen Wirbeltieren ausschließlich heterolatcral, also gekreuzt,
verlaufen, daß. wie (’ajal anführt, die totale Kreuzung das Pri¬
märe und die teilweise Kreuzung erst sekundär aus der totalen ent¬
standen ist. C a j a 1 ist zu dieser falschen Einstellung gekommen,
weil er die Sehnervenkreuzung zum Ausgangspunkt seines Lösungs¬
versuches des Problems gemacht hat, und weil er der Ansicht ist,
daß diese Kreuzung auch alle anderen verursacht hat. Daß diese
Annahme ganz unhaltbar ist, glaube ich durch die voranstehenden
Darlegungen erwiesen zu haben. Wo totale Kreuzungen vorhanden
sind, da sind sie entweder aus partiellen hervorgegangen oder es
liegen wahrscheinlich vereinzelte besondere Bildungen vor. deren
Zustandekommen noch umstritten ist. Cajal beruft sich für seine
Annahme auch auf Untersuchungen von Edinger an niederen
Wirbeltieren. Indessen, wenn sich Edinger im C a j a 1 sehen Sinne
geäußert haben sollte, so ist er wohl auch einem Irrtum unterlegen.
Ich habe schon vorher (S. 82) die Verhältnisse dargestellt, wie sie
am Rückenmark vom Ammocoetes von Kolm er und Arie ns
Kappers und an der Froschlarve von v a n 0 e h u c h t e n geschil¬
dert wurden, und ich möchte zum weiteren Gegenbeweis hier nur
noch einiges aus der zusammenfassenden Schilderung anführen, die
.lohnst o n über das Gehirn der A n a m n i e r gibt. Aus dieser
Zusammenstellung greife ich nur das heraus, was der Autor über
den Faserverlauf im Zwischen- und Mittelhirn anführt, wobei die
Ausdrücke ..gekreuzt“ und ..nichtgekreuzt“ und sinnentsprechende
Angaben durch Sperrdruck von mir hervorgehoben sind:
1. M i 11 e 1 h i r n. ..Die Wuizelfasern von III k r e u z c n wahrscheinlich
immer teilweise. Diese Kreuzung ist gröber bei Petiomvzon als bei
höheren Formen. Die IV Nerven verlaufen immer dorsal durch die Seifen¬
wände des Mittelhirns und kreuzen bei ihrem Austritt an der Dorsal-
tläelie zwischen dem Tectum und (’erebellum. Der grüble Teil der Hus.nl-
region besteht ans kreuzenden Länusfaserbahnen. welche denen in der
Hasis der Medulla oblongata entsprechen. — Die aufsteigenden Trakte zum
Tectum sind aus inneren Hogenfasern von den somatisch-sensorischen Zentren
der Medulla und des Kückemnarks zusammengesetzt, welche entweder un¬
mittelbar nach dem Austritt aus ihren Kernen kreuzen, oder nachdem sie
nach vorn zur Basis des Mittelhirns gelangt sind. Fasern vom Vorderende
des Acusticums oder Cerehellmns kreuzen direkt in der Basis des Mittel¬
hirns. Die alisteigenden Trakte sind für die motorischen Kerne der Medulla
und des Rückenmarks bestimmt. Die kreuzenden Bahnen bilden in der Basis
des Mittelhirns eine besondere Schwellung der ventralen Kommissur des
— km;
Markts und der Medulla, die unter dem Namen der Oommissura ansulata
bekannt ist.
Das sekundäre somatisch-sensible Zentrum bildet den größten Teil des
Teetums. Es besteht aus großen Zellen von sehr verschiedener Form. Die
Fasern, welche von diesen Zellen ausgehen, bilden den Traetus teeto-lobaris.
den Traetus teeto bulbaris und den Traetus teeto-cerebellaris. Diese Rahnen
entspringen alle von der tiefen und der oberflächlichen Fasersehieht. Der
Traetus teeto-lobaris entsteht teilweise oder ganz in der Form von Kollateral-
ästen von den Fasern des Traetus tecto-bulbaris. Er geht zu den Wänden
der Lobi inferiores. wobei ein g r o ß e r Teil d e s s e 1 b e n in der post-
optischen Kreuzung und in der Kornmissura ansulata auf die gegen-
ii b erlieg e n d e S eite ii b e r t r i 11. Der Traetus tecto-bulbaris geld
nach der latero-ventralen Seite der Medulla und entsendet Kollateralen und
End Verzweigungen zu den motorischen Zentren der Medulla und des Rücken¬
marks. E r kreuz t t e i 1 \v e i s e in der Kornmissura ansulata. Der Traetus
teeto-eerebellaris geht z u alle n T e 1 1 e n des Cerebellums. Außer den er¬
wähnten Faserbahnen muß die große dorsale Kreuzung genannt
werden, welche die beiden Hälften des Teetums auf seiner ganzen Länge ver¬
bindet. Diese Kreuzung enthält wahrscheinlich echte Konmiissuralfaseru
zwischen den beiden Seiten des Teetums. aber es ist nicht bestimmt bekannt,
ob die Fasern alle von dieser Art sind, oder ob sie teilweise kreuzende Fasern
sind, bestimmt für andere Teile des Gehirns.“
2. Z w i s e h e n h i r n. ..Die Xticlei hahenulae empfangen den Traetus
olfaeto-hahenularis von den olfaktorischen Kernen des Vorderhirns, dessen
Fasern m e h r o d e r w e n i g e r voll« t ä n d i g in der oberen Kommissur
k r e u z e n. Allein Anschein nach k r e u z t ein 1) e t r ä e h t 1 i c h e r
T eil des r e c h t e n I» ii n d e 1 s nicht, s o n d e r n endet a u f d e r -
seihen Seite, und so erklärt sich die größere Ausdehnung des rechten
Kernes. Der Hypothalamus empfängt Fasern von den olfaktorischen Kernen
des Vorderhirns, den Traetus olfaeto-loharis, welche in jeder Weise denen des
Traetus olfaeto-hahenularis ähnlich sind. Sie verteilen sieh zu allen
Teil e n des Hypothalamus. Der Hypothalamus besteht aus zwei Kernen, den
Lohi inferiores und dem Korpus mammillare. — Die Neunten der Zellen der
unteren Lappen verlaufen zum Teile nach vorne und aufwärts und kreuzen
hinter dem Khiasma. zum Teil aufwärts und rückwärts ohne Kreuzung.
Die direkt e n und ge k re u zt e n Bahnen verlaufen durch das Mittelhirn
nah» 1 beieinander und enden im (Vrebellum und der Medulla oblongata.
Traetus lohc-bulharis et cerebellaris. Die Neuriten vom Korpus mammillare
gehen teilweise zur Medulla: Traetus mammillo-hulbaris. teilweise zum Epi-
striatmn: Traetus lobo-epistriatieus. E i n T eil dieser Bahne n k l* e u z t
in der vorderen Kommissur, außer hei Petminyzon. wo die Kreuzung hinter
dem ('hinsinn. stattflndet. Ä h ii 1 i e h e K r e ti z u n g e n eines Teiles
il c s basalen Bündels hinter dein Khiasma sind in anderen Formen
beschrieben worden. — Die Lobi inferiores empfangen auch groß* 1 Bahnen
vom 'rectum *1 i r e k t e ii n d ge k r e u z t e. — Die optischen Trakte treten
in die Baris *les Zwisehenhirns ein. erleiden eine v o 1 1 s t ä n d i g e K r e u
z u ii g uml emlen in versehieilenen Kernen »ler gegenüberliegenden Seite.“
Diese phylogenetisch alten Rahnen zeigen also teils Kreuzung,
teils liomolateralen Verlauf. Diesen doppelseitigen Verlauf zeigen
107
diese phylogenetisch alten Bahnen nicht nur bei den niederen Wirbel*
tieren, sondern auch bei den höheren wohl bis herauf zum Menschen.
Dafür spricht der Gegensatz des mehr doppeUeitigen Symptomen-
bildes bei Betroffensein der zum extrapyramidalen System gehörigen
Faseranteile gegenüber dem mehr einseitigen bei BetroiTensein des
pyramidalen Systems. Dafür sprechen die experimentellen Unter¬
suchungsergebnisse von G r a h a m B r o w n und K i n n i e r Wil¬
son, über welche letzterer Autor in einer erst ganz kürzlich er¬
schienenen ausgezeichneten Arbeit folgendermaßen berichtet: ..In
respeet to the meseneephalon. note worthy motor reactions arc
obtainable in the decerebrate animal. VVe owe largely to the work
of Graham Brown nur knowledge of this part of 11so subjeet. Uni¬
polar Stimulation of the cross section of the midbrain obtained by
decerebration at the level of the anterior colliculi (anterior corpora
quadrigemina), at a point entirely dorsal to the corticospinal tract in
the crus. constantly produces a definite, specific postural motor
reaction on the part of the animal experimented on. Thc area from
which this result is invariably obtained is dorsal in the tegmentum
and includes the region of the red nuclous. the part. of the superior
cerebellar peduucle running to it (tractus cerebellotegmentalisj and
the posterior longitudinal fasciculus. The attitude is as follows: the
head is tilted back and also twisted so that the face looks to the
side stimulated; the homolateral arm is tlexed and the opposite one
extended: the leg of the same side, on the v'ontrary. is extended and
the opposite one tlexed (as a rule): tht» tail eiccts and is beut to
the stimulated side. r Ulic back is usnally sliglitly convex to the
opposite side. When Stimulation has ceased. the posture may con-
tinue unchanged for many seeonds. even minutes. From the appro-
priate area on the opposite side the postnre is obtained reversedA
Alle diese Ergebnisse sind nur zu erklären durch den doppel¬
seitigen Faserverlauf, wobei die kreuzenden Fasern überwiegen.
Die meisten Leituiigsbahnen sind also nicht einheitlich. d. h.
entweder gekreuzt oder nicht gekreuzt, sondern sie sind gemischter
Natur. Zu diesen gemischten Systemen gehören sowohl phylogene¬
tisch alte wie auch junge Bahnen, z. B. das Hintere Lüngs-
b ü n d e 1 einerseits und die S c h 1 ei f e n - V y r a m i d e n b a h n
andererseits.
Das Hintere Längsbündel ist wohl das älteste Faser¬
system im Zentralnervensystem der Wirbeltiere. Ed in gor sagt
von ihm (7. Aufl. des Lehrb. p. 24S): ..Es muß ein sehr wichtiges
Bündel sein, zum Grundapparate des ganzen Mechanismus gehören.
108
denn es ist von den Neunaugen an Ins hinauf zum Menschen immer
an gleicher Stelle vorhanden. Daß es ein uraltes System ist. geht
auch daraus hervor, daß es in der Fötalperiode zuerst markreif
wird (Hösel. Monatssehr. f. I'sych. und Neurol., Bd. VII, 1890).“
Die Vermutung drängt sieh auf, daß es aus den Längssträngen,
resp. aus den Faserbündeln, welche die einzelnen Ganglien hei den
Wirbellosen zu einer gemeinsamen Kette verbinden, entstanden ist.
Auch bei den Wirbeltieren ist es eine gemeinsame Wegstraße, welche
in der ganzen Hirn-Rückenmarksachsc dicht ventral von der grauen
Bodenmasse entlang zieht. Auf dieser Strecke verlaufen in seinem
Bereich verschiedene Faserzüge eine kürzere oder längere Strecke
teils auf-, teils abwärts, welche die einfachen niederen Lebenszentren
miteinander in Verbindung setzen. Der Verlauf dieser Fasern ist ein
teils gekreuzter, teils ungekreuzter. Dieser Verlauf ergibt sich aus
der Ilerleitung des Systems von den Wirbellosen ganz von selbst.
Die Pyramidenbahn und die S c h 1 e i f e n b a h n (Rin¬
de n s e h 1 c i f e) sind wohl die jüngsten unter den Projektions¬
systemen. Ebenso wie sie in der Hemisphäre ein gemeinsames senso-
motorisehes Zentrum besitzen, so bilden sie gemeinsam mit ihren
subkortikalen Kernen ein funktionell zusammengehöriges Faser¬
system. und man geht wohl nicht fehl, wenn man annimmt, daß sie
sich gemeinsam aus dem mehr allgemeinen sensibel-motorischen
Systeme herausgebildet haben. Die Isolierung ist bei beiden Syste¬
men. vielleicht selbst beim Menschen, noch keine absolut vollstän¬
dige geworden, weshalb auch noch keine vollständige, aber eine sehr
hochgradige Kreuzung besteht. Die beiden Bahnen haben sich mit
den wachsenden Hemisphären nach und nach vergrößert, und ihre
Wegstrecke hat sich allmählich verlängert. Bei Vergleich der niede¬
ren Säugetiere mit den höheren und dem Menschen kann man die
Zunahme ihrer Faserareale und das Hinabsteigen der Pyramidenbahn
in das Rückenmark gut verfolgen. Beim Igel und bei der Fledermaus
z. B. existieren nur ganz winzige Ilinterstrangskerne, und es ist dem¬
gemäß bei diesen Tieren nur eine ganz mäßige Schleifenkieuzung
vorhanden. Die Ilinterstrangskerne entstanden an der unteren
Grenze der Medulla oblongata wahrscheinlich wegen der Beziehun¬
gen. die sie auch zum Kleinhirn haben, und blieben hier ständig
liegen. Von diesen Kernen gingen wie überall Bogenfasem um den
Kanal, um sich ventral im gleichen Niveau zu kreuzen. Eine Pyra-
niidenkreuzung ist aber bei diesen Tieren kaum zu beobachten. Das
erkennt man schon ziemlich deutlich an normalen Weigert-
P a 1 - Präparaten. Es ist aber das Fehlen der Pyramidenkreuzung
beim Igel uml bei der Fledermaus auch noch experimentell von
meinem Schüler van d e r V 1 o e t festgestellt worden, indem dieser
Autor nach Exstirpation einer Hemisphäre die Pyramidenbahn mit¬
telst der Marc hi sehen Methode nur bis zum unteren Ende der
Medulla oblongata verfolgen konnte. Für die mehr differenzierten
Gesichts- und Zungenbewegungen hat sich bei den genannten Tieren
schon das Schleifen-Pyrainidensystem aus dem allgemeinen sensibel-
motorischen System heraus isoliert, für die Rumpf- und Extremitäten¬
region aber noch nicht. Irn Laufe der Phylogenese entwickelte sich
nun auch dies besondere System für die Extremitäten in dem Maße,
als sie feinere Tastempfindungen und feinere intendierte Bewegungs¬
aktionen erwarben. Die Hinterstrangsfasern vermehrten sich nach
und nach, und die Pyramidenfasern, bisher bis an die untere Grenze
des verlängerten Marks angekommen, stiegen in letzteres herunter.
Da sich an dieser Grenze die Schleifenkreuzung schon angelegt hatte,
so paßte sieh das entsprechende motorische System dieser Kreuzung
an (s. Flechsig S. G), d. h. seine Fasern gingen hier gleichfalls
eine kompakte Kreuzung ein. wobei sie nun gleichfalls bogenförmig
um den Zentralkanal laufen. Mit der wachsenden Zahl der Fasern
aus beiden Systemen nahmen diese Kreuzungen immer mehr an Masse
zu. Die absteigenden Pyramidenfasern waren mit den sensiblen zu¬
nächst so eng verbunden, daß sie zuerst auch in die Hinterstränge
hinabstiegen. Man kann ihre Lagerung in der Kuppe der Hinter¬
stränge noch bei verschiedenen niederen Säugetieren (z. B. bei der
Ratte) beobachten. Mit der Vermehrung der Hinterstrangsfasen*
nahmen diese den Raum der Hinterst rängt* immer mehr ein und
drängten naturgemäß die sieh gleichfalls vermehrenden Pyramiden¬
fasern in die Nachbarschaft, also in den angrenzenden Teil der
Seitenstränge hinein.
Betrachtet man dieses zerebrale sensibel-motorische System
noch etwas näher, so läßt sich vielleicht feststellen, warum
die Kreuzung der Pyramidenfasern eine so wechselnde ist. indem sie
einmal in kompakter Masse, an einer lokalen Stellt*, das andere Mal
in kleinen Bündeln in der ganzen Ausdehnung des Hirnstammes und
Rückenmarks kreuzen. Das wird nur verständlich, wenn man sie
gleichsam als Zwillingsbruder der Rindenschleife betrachtet. Beide
Systeme laufen von der Hirnrinde immer dicht beieinander. Das tritt
bei niederen Säugetieren noch deutlicher in Erscheinung als bei höhe¬
ren und beim Menschen. Unterhalb des Hirnschenkelfußes ist die Ver¬
gesellschaftung ihrer zum Kopfe gehörigen Anteile so stark, daß der
motorische Teil vom sensiblen sich schwer abgrenzen läßt, und im
110 —
Rückenmark liegen bei niederen Säugetieren die Pyramidenfasern im
Hinterstrang in dichter Nachbarschaft mit den sensiblen Bahnen.
.Man kann die Pyramidenbaiin somit in drei Abschnitte teilen: a) der
zu den motorischen Ilirnnervenkernen gehörige Abschnitt, b) der zur
Oblongataschleife gehörige Teil, c) der auf die feineren sensiblen
Erregungen speziell der Hand reagierende Abschnitt.
a) Der zur Muskulatur des Kopfes gehörige Pyramidenteil kreuzt
sich in einzelnen Bündeln, weil es sein zugehöriger sensibler Bruder
auch tut. Der sensible Kern desTtigeminusdehnt sich als schmale graue
Säule durch die ganze Medulla oblongata und die kaudale Ponshälfte
aus, und von dieser langen Säule entspringen außer Redoxfasern xere-
bralwärts strebende sensible Fasern einzeln resp. in kleinen Bündeln
und kreuzen die Mittellinie. Diesen einzeln kreuzenden Thalamus-
schleifenfasern haben sich die entsprechenden Pyramidenbahnen voll¬
kommen in ihrem Verlaufe angepaßt.*) Am Kopf sind aber noch die
speziellen zentralen sensorischen Bahnen zu berücksichtigen (Optikus-
Akustikusleitungen etc.), mit denen wiederum speziell zentrale moto¬
rische Bahnen vergesellschaftet sind (Augenmuskelbahnen, zentrale
Bahnen für Ohrbewegungen etc.). Auch diese Brüderpaare sind wahr¬
scheinlich in ihrem Verlaufe und in ihren Kreuzungen gleichartig auf¬
einander eingestellt. So entspringt wahrscheinlich vom Okzipital¬
lappen eine motorische Bahn, welche eine Strecke lang mit der
Seilbahn verläuft, um sieh dann von ihr zu trennen und zu den Augen¬
muskelkernen zu laufen. Das geht wohl unzweifelhaft daraus her¬
vor, daß sich bei Reizungen des vorderen Abschnittes des Okzipital¬
lappens (Hund. Alle) Seit wärtsbewegungen der Augen nach der ge¬
kreuztem Seite erzielen lassen, l ud ähnlich wird es mit der moto¬
rischen Bahn senil, die speziell anspringt, wenn Reizungen am Tem¬
pora Happen ausgeführt werden.
b) Der zur Oblongataschleife gehörige Pyramidenteil hat sich
der kompakten Kreuzung der Schleife an der unteren Orenze der
Medulla oblongata angepaßt und kreuzt dicht kaudal von ihr. Die
Kreuzung der Schleife an dieser Stelle ist wiederum bedingt durch
die lokale Lagerung der Hinterstrangskerne an der genannten Stelle.
Pud die Hinterst rangskerne haben sich wahrscheinlich an dieser Stelle
aimgehihlet. weil sie auch Beziehungen zum Kleinhirn und event. zu
anderen Oblongatakernen haben. Zwischen beiden unter b) zusam¬
mengefaßten Faserarealen besteht wahrscheinlich eine enge funktio-
*) Ich halte die Ansicht A r i e n s K a p p e r s , daß nur die vom Haupt-
kern des V. raun Thalamus ziehenden Fasern die Leiter der höheren Sensi¬
bilität aus der Knpfreginn sind, für nic ht genügend gestützt.
111
nelle Korrelation, die sie in ihrer Lagerung und in ihrem Verlaufe
so nahe zusammengcbraeht hat. Beide Systeme gehen bei der Kreu¬
zung immer bogenförmig um den Hohlraum der Hirnachse herum.
e) Der auf die feineren sensiblen Erregungen speziell der Hand
reagierende Abschnitt der Pyramidenbahn ist wahrscheinlich im
Vorderstranganteil vertreten. Diese Vermutung drängt sich unwill¬
kürlich auf durch die Tatsache, daß man diesen Anteil nur bei
den Affen und beim Menschen findet, und zwar so, daß er beim Men¬
schen ungleich stärker ist und auch tiefer ins Rückenmark hinab¬
steigt als bei den Alfen. Die Fasern dieses Abschnittes kreuzen wie¬
derum in einzelnen kleinen Bündeln, indem sie durch die sog. vordere
Kommissur bogenförmig ins Vorderhorn der anderen Seite ziehen.
Warum tun sie «las in dieser Weise? Nun wahrscheinlich deshalb,
weil sie Beziehungen zu sensiblen Fasern haben, die nicht mit den
Hinterstrangskernen, sondern mit der sich lang hinziehenden grauen
Substanz der dorsalen Rückenmarkssäule in Verbindung stehen.
Beachtenswert ist noch die Tatsache, daß der Pyramidenvorderstrang
beim Menschen sowohl in seiner Stärke wie in seiner Lagerung (bald
mehr rechts, bald mehr links) Schwankungen unterliegt. Es wäre
vielleicht lohnenswert, zu untersuchen, ob sich in der verschieden
starken Ausprägung dieses Pyramidenanteils nicht nähere Beziehun¬
gen zur Rechts- resp. Linkshändigkeit aufiinden ließen.
Bei der soeben vorgenommenen Analyse der verschiedenen
Kreuzungsarten der einzelnen Pyramidenanteile wird deren Verlauf
ohne weiteres verständlich. Die speziellen Verhältnisse passen sich
dem Vorgänge und dem Werden der allgemeinen Kreuzungen im
Zentralnervensystem vollkommen an.
Daß die Pyramidenbahn noch kein vollständig kreuzendes Faser¬
system ist. beweisen die klinischen und pathologir-eh-anatomischen
Erfahrungen. Man findet bei einseitiger Apoplexie auch immer eine,
wenn auch nur geringe. Mitbeteiligung der homolateralen Körper¬
hälfte.
So konnte ich erst kürzlich folgenden Fall beobachten: Bei
einem ca. 02 .Iahte alten Manne, der vorher vollkommen gesund war.
und der keine Lues gehabt hatte, ent wickelte sich langsam bei vollem
Bewußtsein im Verlaufe von 2—d Wochen eine immer stärker wer¬
dende Hemiplegie der linken Körperhälfte, (ielähmt waren linke
untere Gesichtshälfte, linke Zungenhälfte. linker Arm und linkes
Bein. Links fehlten die Bauchretlexe. während die Sehnenrellexe an
der linken Körperhälfte noch keine nennenswerten Veränderungen
zeigten. Am rechten Bein war der Patellar- und Fußsohlenreflex nicht
— 112
auslü>bar. Dioes Bild zeigte sich also in einem ganz fri>chen Falle.
Aber auch in älteren Fällen findet man gewöhnlich leichte homo-
laterale Veränderungen. >o eine erhebliche Steigerung der Sehnen-
rellexe am hninolateralen Dein.
Auch bei einseitiger Degeneration der Pyramidenbaiin findet man
gewöhnlich eine leichte Aufhellung, d. h. einen geringen Verlöst von
mark halt igen Fasern, im gleichseitigen Pyramiden seit eilst rang als
Beweis dafür, daß ein kleiner Teil der Pyramidenfasern homolateral
verläuft.
leinen experimentellen Beitrag für das Bestehen ge kreuzter und
ungekreuzter Pyramidenfasern erbrachte erst kürzlich wieder Min
gazzini. imlein er bei Affen die Nervi hypoglossi und die
glossoinotoriscluMi Kindenzen treu exstirpierte. Nach seinen Unter¬
suchungen enden sowohl gekreuzte wie ungekreuzte P\ ramidenfasern
im lIypoglos>uskern. die ungekreuzten an der dorsalen Zellgruppe
des mittleren Drittels des Kerns, die gekreuzten an der lateralen
Zellgruppe des mittleren Drittels, an der ventralen Gruppe des
distalen und an der medialen Gruppe des proximalen Drittels.
Zu den noch nicht total kreuzenden Systemen gehört wohl auch
die Faserung der Bindearme, deren Hauptmasse sich im Mesen-
zephalon kreuzt. Dieses gewaltige System hat sich, auch erst mit
der Zunahme d**s Kleinhirns und dem Auftreten des nueleus ruber
kondensiert und isoliert. Das Kleinhirn der Teleostier muß nach
S c h a p e r als eine bilateral symmetrische Anlage betrachtet werden,
die vom Boden und den Seitenwänden des vierten Ventrikels entsteht
und sekundär das Dach einschließt und so den falschen Eindruck
eines medianen Ursprungs des Organs gehen kann. Nach J o h n ston
besteht das primitive Akustikum aus großen Zellen, aus denen sich
wohl später die Purkinjesrhen Zellen entwickeln, ferner aus
Körnern und aus kleineren Zellen. Vor dem chorioidalen Dach des
IV. Ventrikels bildete sich eine starke Kommissur, welche die
Akustika der beiden Seiten miteinander verband. Diese dorsale
Kommissur bildete die erste Anlage des Zerebollum. Indem einige
Zellen aus dem Akustikum zur Kommissur hinwanderten. entstand
das Zerobellum von der Art. wie man es bei Protopterus (Lurchfisch)
und den Urodelen findet. Auch das Kleinhirn von Petromyzon be¬
steht aus einer kleinen dorsalen lauste, welche die Akustika der
beiden Seiten verbindet, und sein Bau ist dem des Akustikums
wesentlich ähnlich. Es nimmt die Wurzelfasern der somatisch-sen¬
siblen Nerven wie bei Acipenser auf und nur ein anderes kleines
Bündel (von den Lobi inferiores) tritt ein. Die Neuriten lassen sich
— 1Ü5
deutlich latero-ventralwärts durch das Akustikuin oder weiter vor¬
wärts zusammen mit den Neuriten von Zellen des Akustikums ver¬
folgen. Man nimmt an, daß die Neuriten der Purkinje- Zellen
ebenso wie die des Akustikums als innere Bogenfasern zum Tectum
optieum gehen.
Aus der grauen Masse, aus welcher Dorsalhorn und die akusti¬
sche Region sich bildete, entwickelt sich also auch zunächst das
winzige Kleinhirn, das Beziehungen zu den sensiblen und sensori¬
schen Sphären gewinnt, und das um so größer wird, je größer diese
sensiblen Gebiete allmählich werden. Die Verbindungsfasern mit
diesen Gebieten kreisen zunächst um den Hohlraum, hier also um
den IV. Ventrikel bogenförmig herum, kreuzen sich dabei, um sich
dann in die Längsrichtung zu begeben und Anschluß an verschiedene
graue Massen zu gewinnen. Durch Größerwerdeu dieser grauen
Massen, durch Auftreten neuer kondensieren sich Fasern zu Bündeln,
und es tritt naturgemäß auch eine Verschiebung der ursprünglich
mehr im Niveau des primitiven Kleinhirns gelegenen Kreuzungen
der Bogenfasem nach vorwärts oder rückwärts, nach dorsal oder
ventral ein. Da das Kleinhirn eine allgemeine Funktionsbedeutung
erlangt, so gewinnt es außerordentlich vielseitige Verbindungen mit
der ganzen Hirnachse, über diese zahlreichen Verbindungen bei
niederen Vertebraten werden wir z. B. durch bedeutsame Arbeiten
von E d i n g e r unterrichtet. Unter allen älteren Verbindungen kon¬
solidiert sich in der aufsteigenden Tierreihe am mächtigsten die¬
jenige der Bindearme, und ihre Kreuzung ist in die Nähe desjenigen
Kerns gerückt, in den sich die Hauptmasse ihrer Fasern ergießt.
Wenn nun die Pyramidenbahn und der vordere Kleinhirn-
Schenkel auch noch nicht zu den total kreuzenden Bahnen gehören,
so gibt es im Zentralnervensystem doch sicher solche total kreu¬
zenden Fasersysteme. Wie ist deren Verlauf zustande gekommen?
Eine Andeutung findet sich schon in dem, was soeben über die
Schleifen-Pyramidenbahn gesagt worden ist. Bei einzelnen dieser
Bahnen haben Isolierungsvorgänge stattgefunden, die mit einer all¬
mählich sich verändernden und verfeinernden Funktion verbunden
waren, genau so wie umgekehrt durch Funktionsänderungen eine
total kreuzende Bahn sich in eine partiell kreuzende verwandeln
kann (Optikuskreuzung). Man darf wohl annehmen, daß bei den
niederen Tieren sowohl die Sinneseindrücke von mehr allgemeiner,
verschwommener Natur sind, die von einem locker zusammenhän¬
genden Gesamtsystem von Nervenfasern zum Zenfralorgan hingeleitet
werden, und daß auch die Muskelbewegungen mehr znsammenfassen-
114
der allgemeiner Natur .sind, die ebenso von mehr lockeren Faser-
massen aus dem Zentralorgan heraus angeregt werden. Diese Ge¬
samtsysteme kreuzten sich nun zum Teil, zum anderen Teil blieben
sie ungekreuzt. Die kreuzenden Fasern waren wohl von an fang an
aus Gründen, die vorher auseinandergesetzt sind, in der Mehrzahl
und wurden es im Laufe der Phylogenese noch immer mehr. Sobald
nun die allgemeine Funktion eines solchen Fasersystems auf der
niederen noch undifferenzierten Stufe blieb, änderte sich an der
Konfiguration der Fasersysteme nur das, daß sie vielleicht ent¬
sprechend einem sich vergrößernden Körperumfange an Masse Zu¬
nahmen. Sobald aber die allgemeine Funktion sich höher und schär¬
fer entwickelte und sich dabei in bestimmte Abarten differenzierte,
bildeten sich speziellere Zentren und spalteten sich besonders von den
viel zahlreicheren kreuzenden Fasern Ibindel in Sonderzügen ab. die
nun ganz auf der gekreuzten Seite verliefen, während die anderen
Fasern des Gesamtsystems die Semidekussation leibehielten. Belege
hierfür bieten ja die sensiblen Systeme zahlreich genug. Solche Ab¬
spaltungen können sieh nun ganz verschiedenartig vollziehen, teils
in einzelnen zerstreutem Fasern, teils in stärkeren Bündeln. Letztere
können sich, wenn die spezielle Funktion sich vergrößert, zu einem
starken System herausbilden. Bei diesen langsamen Umwandlungen
werden wahrscheinlich alle die Faktoren, die von Flechsig,
Cajal. W u n d t und von Spitzer angeführt sind, eine gewisse
Rolle spielen, die man nur vermuten, aber nicht restlos in ihrer
Wirkung einschätzen kann. Sie sind aber zweifellos sekundärer
Natur, indem ne nur allmählich modifizierend gewirkt haben und
noch immer weiter wirken, nachdem die allgemeine Ursache für die
Kreuzung der Nervenfasern schon das ganze Gefüge nach dem be¬
stimmten Flaue eingerichtet hatte.
Unsere Kenntnisse darüber, ob ein Fasersystem wirklich total
oder nur teilweise gekreuzt ist. sind bei der Mehrzahl der uns als
total gekreuzt erseheinenden Systeme noch unsicher. Bei einer
kleinen Anzahl von Fasersystemen können wir indes die totale
Kreuzung wohl mit Bestimmtheit aiinehmen. Zu diesen gehört die
0 p t i k u s k r e u z u n g bei vielen niederen Wirbeltieren und die
T r o c h 1 e a r i s k r e u z u n g. 1 >as Zustandekommen der Kreu¬
zungen dieser beiden Fasersysteme soll im folgenden noch be¬
sprochen werden.
Das Auge hat sich im Laufe der Phylogenese, wie auch die an¬
deren komplexen Sinnesorgane vermutlich durch Umwandlungen
und Verschmelzungen von Sinneszellen ganz allgemeiner Art ge-
115
bildet. Wie die Gesamtentwicklung des tierischen Körpers von den
niederen zu den höheren Stufen nicht in gleichmäßiger gerader Linie
erfolgt ist, sondern wie sich von gewissen Stammformen verschie¬
dene Seitenlinien abzweigten, die sich verschiedenartig “weiter fort¬
bildeten, so geschah es auch mit den einzelnen Sinnesorganen. Das
Auge zeigt daher in der Phylogenese auch nicht eine gleichmäßige,
in seinem Aufbau fortschreitende Entwicklung, sondern mannigfache
Variationen. Unter den vielen Typen lassen sich nun zwei allge¬
meinere herausheben, die man als F a z e 11 e n t y p u s und Linsen-
t y p u s unterscheiden kann.
Das Fazettenauge stellt ein Konglomerat von zahllosen fest an¬
einander liegenden Einzelaugen dar, deren Einzelglieder miteinander
verschmolzen, aber doch wieder durch eine das Licht gar nicht oder
wenig durchlassende Schicht, Pigmentschicht, getrennt sind. Dib
einzelnen Fazetten lassen, jede für sich, kleine Ausschnitte der
Außenwelt eindringen, und durch solche zahlreichen Ausschnitte,
die bis über 100Ü an Zahl sein können, kommt dann ein ganzes,
vielleicht mosaikartig zusammengesetztes Bild zur Perzeption. Da
die Strahlen beim Fazettenauge nur gesammelt, nicht aber abgelenkt
werden, so fallen auf die einzelnen Retinulae die Bildabschnitte wohl
so, wie sie auch in der Außenwelt gestellt sind.
Bei dem Linsenauge, das sich wohl aus dem eiufaohen Napfauge
gebildet hat, wird das Licht durch die Linse nicht nur gesammelt,
sondern auch al)gelenkt, so daß ein umgekehrtes Bild entsteht.
Bei den wirbellosen Tieren linden sich nun alle möglichen Augen¬
arten vertreten, das Fazettenauge z. B. bei den Insekten, das Napf-
äuge bei den Arachniden, das Blasenauge bei den in der Meerestiefe
lebenden Alciopiden u. a., und das Linsenauge bei den Cephalopoden.
(Fig. 40.)
Was nun den Verlauf der intrazerebralen Sehfasern bei den
Wirbellosen anbetrifft, so sind die Verhältnisse darüber noch nicht
so genügend geklärt, daß man ein sicheres Urteil gewinnen kann!
Die aus dem Fazettenauge kommenden Sehfasem machen zwar nach
Eintritt in ihren Lohns opticus auf jeder Seite drei Stationen und
drei unilaterale Überkreuzungen durch., aber ob Kreuzungen in der
Medianlinie des Gehirns zwischen den beiderseitigen aus den Lobi
optici herauskommenden und im Gehirn weiterziehenden Fasern statt¬
finden, darüber ist nichts Sicheres bekannt. Gewöhnlich heißt es in
den einzelnen Untersuchungen, daß beide Lobi optici durch Kom¬
missuren miteinander verbunden sind. Anders scheint es sich bei
den median gelegenen Augen zu verhalten, deren Sehfasern im Ge¬
hirn vielleicht eine Kreuzung erleiden.
• Jacobßohn-Lask, Di© Kreuzung der Nervenbahnen usw. (Abhdl. H. *J6) 8
110
Während nun bei den Wirbellosen der Sehnen* ein peripherer,
gewöhnlich aus vielen kleinen separaten Bündeln bestehender Nerv
ist, vergleichbar mit den Olfaktoriusbündein der Wirbeltiere, ist der
Optikus bei den letzteren ein intrazerebraler Faserzug. Bei den
Wirbeltieren bestellt genetisch zunächst eine vollständige Trennung
des lichtaufnehinenden uud lichtbrechenden Augenapparates. Ersterer
ist ganz im Beginn der Entwicklung mit der vorderen Gehirnblase
zu einer Einheit verschmolzen und aus dieser Einheit wächst dann
der untere seitliche Teil blasenartig heraus und vereinigt sich peri¬
pherisch mit letzterem.
Das Wirbeltierauge hat sich wahrscheinlich aus einfachem Sch¬
und Pigment zellen allmählich aufgebaut. Jedenfalls müssen die
Ketinazellen im Laufe der Phylogenese zunächst von der Peripherie
zentralwärts gewandert und mit dem Zentralorgan verschmolzen sein,
genau so. wie die allgemein sensiblen Zellen, die zunächst peripher
lagen, immer mehr zentralwärts gewandert und schließlich ein Be¬
standteil des Zentralnervensystems geworden sind, aus dem dann
wieder ein Teil ausgewandert und zum Spinalgangdion geworden ist.
Damit traten die Retinazellen in den Verband des Zentralorgans
selbst und damit in den Verband des hier liegenden Nervengeflechtes.
Zur Aufhellung der Verhältnisse wäre es natürlich sehr er¬
wünscht, wenn wir über den intrazerebralen Verlauf der Sehfasern
bei den Wirbellosen genauere Kenntnisse hätten. Leider ist das
nicht der Fall. Ergäbe sich z. B.. daß die intrazerebralen Optikus¬
fasern bei den Wirbellosen einen teils gekreuzten, teils ungekreuzten
Verlauf haben und daß auch bei den niedersten Wirbeltieren nur
eine partielle Kreuzung besteht*), dann wäre eine Brücke zu dem
Verhalten der Optikuskreuzung bei den anderen Wirbeltieren ge¬
schlagen. Denn dann wäre aus der ursprünglich partiellen Kreuzung
nach dem Gesetze der Isolierung zuerst die totale Kreuzung der Seh¬
fasen» entstanden und aus dieser würde sich bei höheren Wirbel¬
tieren die immer weiter sich ausdehnende partielle Kreuzung den ver¬
änderten Funktionsverhältnissen nach herausgebildet haben.
Es muß aber auch die Möglichkeit in Betracht gezogen werden,
daß bei der Verschmelzung der zunächst peripher gelegenen Retinae
mit dem Zentralnervensystem, wie sie vorher angedeutet wurde,
vielleicht Verlagerungen stattgefunden haben, wodurch dann auch
*1 K ä (1 1 bemerkt in seinem buche ]>. 447: „Es ist nickt festgestellt, (laß
sich die Sehnerven bei allen einfacheren Wirbeltieren total kreuzen: gerate
für einige einfach organisierte Wirbeltiere (für die Cyclostomen. Bipnoer.
S-larhieri fehlt noch der einschlägige Beweis.
117
Überlagerungen der beiden Optici stattgefunden haben können. Dafür
spricht der Umstand, daß die Optici bei niederen Tieren, z. B. bei
den Fischen, einfach als ganze einheitliche Nervenstränge kreuzweise
übereinander liegen, und daß sich erst nach und nach eine Durch¬
mischung der Fasern herausgebildet hat. Das deutet mehr auf eine
mechanische Ursache, die hier eingewirkt haben kann.
Einige Forscher, die sich eingehend mit der Entwicklung des
Wirbeltierauges beschäftigt haben (s. darüber die Monographie von
A. Froriep), nehmen an, daß das Wirbeltierauge als ganz primi¬
tives Sehorgan an der Körperperipherie gelegen und dort der direk¬
ten Einwirkung des Lichtes ausgesetzt war. Dieses primitive Organ
sei dann bei der Einfaltung der Medullarplatte an der vordersten
Stelle der Neuralplatte, an deren Seite es lag, mit in die sich zu¬
nächst. bildende Rinne einbezogen worden und bildete dort eine
Grube. Diese Augengrube ist. wie Froriep es veranschaulicht, an
ganz jungen Embryonen, bei denen die Medullarrinne am vorderen
Pol noch nicht geschlossen ist, in der seitlichen Wand sichtbar. Eine
solche Wanderung der Sehschicht in die Medullarrinne würde es auch
verständlich machen, warum die Stäbchen- und Zapfenschicht, die
bei einzelnen Vertretern der Wirbellosen dem Lichte direkt zugekehrt
liegt, im Auge der Wirbeltiere ihm abgewendet gelagert ist (siehe
R ä d 1 p. 30). Die Rinne hat sich dann geschlossen, und so wurde
die Augengrube ein Bestandteil des vordersten Gehirnbläschens. Ein
ähnliches Verhalten zeigt
das Gehirn der Ascidien-
larve, die in ihrem Hirn¬
ventrikel. der sog. Sinnes¬
blase. das Sehorgan enthält
(Fig. 44). Die Sehgrube
wölbt sich dann, wie be¬
kannt, als Augenblase
jederseits seitlich aus der
Gehirnblase heraus und
sucht Anschluß an das
Ektoderm. Sie nimmt bei
dieser Wanderung nach der
Peripherie retortenartige
Gestalt an, d. h. sie besteht
aus einem peripheren ballon¬
artigen Teil, der durch
einen schmalen. röhren-
Mund
Sinnesblnse
Auge *
Anlage des -
Nervenrohres
* Chorda
Fig. 44. Entwicklung von Phalliißiopsis mam-
millata (Tunicata). Nach A. Kowalevski.
8'
118
förmigen Abschnitt, dem Augenstiel; mit dem Zentralorgan verbun¬
den ist. (Fig. 45.) Es geschieht nun. wie weiter bekannt ist, eine In-
vagination am basalen Teil dieses ganzen Gebildes, so daß eine
Kapuzenform entsteht, wobei Kopf- und Halsteil dieser Kapuze aus
je zwei Blättern bestehen, die sich aneinander legen. Das einge¬
stülpte Blatt des Kopfteiles wird zur Retina und der Halsteil dient
den aus den Retinazellen kommenden Sehfasern als Leitbahn, auf
welcher diese dem Gehirn zustreben. Indem dann der Kopfteil der
Kapuzenform sich, um bei dem Bilde zu bleiben, auch unter dem
Kinn zusammenschließt und der Halsteil ebenso an der Vorderseite
des Halses, ist die Gestalt des hinteren Bulbusteiles fertig und es
wird begreiflich, warum die Sehfasern die innerste Schicht der
Netzhaut bilden müssen, warum sie die Netzhaut durchbohren und
dann gemeinsam im Stiel des Optikus verlaufen. Da die rinnen¬
artigen Optikusstiele aus dem Vorderhirn seitlich ausgewachsen sind,
Fig. 45. Querschnitt durch Auge, Augenstiel und Angenblasenrest eines
ca. 6 Wochen alten menschlichen Embryos.
so stoßen sie von beiden Seiten fast in querer Richtung aufeinander,
und da sie als Leitwege den nach dem Gehirn strebenden Optikus¬
fasern dienen, so begegnen sich die beiderseitigen Optici gleichfalls in
fast querem Verlaufe. (Fig. 45.) So erscheint es wohl ganz natürlich,
daß ihre Fasern sich an dieser Begegnungsstelle überqueren. Verfolgt
110
inan die Fasern bis zum Tectum opticum, so kreisen auch sie um den
Hohlraum des Mittelhims herum. Diese Froriepsche Erklärung
paßt in meine Deutung des Zustandekommens der Faserkreuzungen
vollkommen hinein. Ob auch schon bei den niedersten Wirbeltieren
eine totale Kreuzung der Optikusfasern besteht, ist noch nicht sicher
entschieden. Daß sich aus einer totalen Kreuzung im Laufe der
Phylogenese aus mechanischen und funktionellen Gründen eine
Semidekussation allmählich herausbilden kann, ist ebenso begreiflich,
wie auch das Umgekehrte, daß aus einem partiell gekreuzten Faser¬
system ein Teil der gekreuzten Fasern sich von der Gesamtfaserung
so isolieren kann, daß es dann als ein total gekreuztes Bündel oder
System verläuft.
Ebenso wie die totale Optikuskreuzung ist auch die vollständige
Trochleariskreuzung eine Besonderheit. Auch über sie und
überhaupt über den dorsalen Ursprung dieser Wurzel herrschen ver¬
schiedene Meinungen.
Uber die Ursache des abweichenden dorsalen Verlaufes der
Trochleariswurzeln, der sich durch die ganze Wirbeltierreihe verfolgen
läßt, sind die verschiedensten Ansichten geäußert worden. Über diese
Ansichten erhält man Aufschluß aus Arbeiten von Fürbringer
und Dohm, F r o r i e p , Hof fmann. van W i j h e u. a.
Fürbringer sagt in seiner Arbeit p. 081 folgendes:
,,Ganz abweichend nicht allein von den anderen ventralen, son¬
dern überhaupt von allen Nerven des Körpers verhält sich der
Trochlearis, der unter kompleter Kreuzung mit seinem antimeren
Partner in ultra-dorsalem Verlaufe auf die andere Seite Übertritt und
erst dort zu seinem Muskel (Oblk|uus superior) geht. Von den — Er¬
klärungsversuchen für diesen abweichenden Verlauf — halte ich —
den eine sukzessive Umbildung aus einem sensiblen in einen moto¬
rischen Nerven postulierenden, weder für die Erklärung ausreichend,
noch überhaupt annehmbar. — Ich bin geneigt, den M. obliquus
superior von einem alten dorsalen Muskel abzuleiten, der ursprüng¬
lich mit dem ihm benachbarten Muskel der Gegenseite für die Be¬
wegung des Parietalauges bestimmt war und mit der sekundären
Rückbildung desselben und der höheren Ausbildung der paarigen
Augen neue aberrative Muskelelemente (bei gleichzeitigem sukzessi¬
ven Schwund der alten, dem parietalen Auge zugehörigen) hervor¬
gehen ließ, welche unter Kreuzung und dorsaler antimerer Über¬
wanderung sich ganz in den Dienst der bleibenden Augen der Gegen¬
seite stellten, somit eine Muskelwanderung zu statuieren, welche
noch jetzt aus der als peripher zu beurteilenden Kreuzung der beiden
Nn. trochleares abgelesen werden kann. — Selbstverständlich will
dieser Versuch der Erklärung nur eine Idee, ein Programm für
künftige Fntersuchungen sein."
Nach Dohm kann von Fürbringers Doktrin des „Fher-
wandenis aus einem Antimer in das andere und von der peripheri¬
schen" Kreuzung des Trochlearis keine Hede sein. Er meint, daß
Fürbringers Versuch, hier einen ebenso unmöglichen wie völlig
überflüssigen ..cünogenetischen Vorgang" zu konstruieren, gänzlich
verunglückt ist. Dehrn Inhalt sich eine eingehende Darlegung der
über den Trochlearis neu gewonnenen Resultate vor. Er fährt dann
fort: „Hier sei nur so viel angegeUm. daß ich im wesentlichen
Frorieps Angaben über das Hervorgehen des Trochlearis aus iso¬
lierten Elementen der Hanglienleiste durchaus bestätigen kann: er
wächst von der Peripherie her dorsal in das Medullarrohr in horizon¬
taler Richtung hinein und greift dabei in die Zellen des anderen
Antimers hinüber, wodurch eben — eine zentrale Kreuzung seiner
Fasern entsteht.* 1 Nach dieser Darstellung würde also die Trochlearis-
kreuzung in gleicher Weise zustande kommen, wie sie von F roriep
für die Optikuskreuzung angenommen wird. Während aber das
Ilineinwachsen sensibler Fasern aus ihren ausgesprengten Zellen in
das Zentralorgan eine erklärliche und allgemein zu beobachtende Er¬
scheinung ist, wäre die gleiche Erscheinung bei motorischen Fasern
etwas ganz Fngewühnliches und widerspräche vollkommen der An¬
nahme von H is. daß der Achsenzylinderfortsatz aus der ihm zuge¬
hörigen Zelle auswächst.
Zunächst läßt sich sagen, daß Oeuloinotorius, Trochlearis und
Abduzens einen funktionell zusammengehörigen Innervatioiw-
komplex bilden. Von ihren motorischen Zentren bilden wenig¬
stens bei den höheren Wirbeltieren Oculomotorius und Trochlea¬
ris eine einheitliche zusammenhängende Zellmasse, deren hinterer
kleinerer Teil das Zentrum für den Trochlearis ist, während das
Zentrum für den Abduzens etwas mehr kaudal liegt. Die zu diesen
drei Zentren gehörigen Wurzelfasern zeigen etwas verschiedene Ver¬
hältnisse. Viele aus dem < h-ulomotoriuskern austretende Fasern
kreuzen sich in der Medianlinie unmittelbar nach Austritt aus dem
Kern mit denjenigen der Hegenseite. und zwar entsenden diejenigen
Kernabschnitte die gekreuzten Fasern, welche unmittelbar vor dem
Trochleariskern liegen. Die Wurzelfasern des Troehleariskerns haben
als wahrscheinlich viscero-motorische Fasern (denn Muskel und Nerv
sollen trigeminaler Herkunft sein) in ähnlicher Weise, wie es die
spinalen viseoro-motori sehen Wurzeln bei niederen Vertebraten
121
zeigen, einen dorsalen Verlauf genommen resp. sie sind von dorsal
eingedrungen und haben sich mit dem Oculomotoriusgebiet vereinigt.
Sie kreuzen sich nicht wie die Oculomotoriuswnrzeln direkt am Kern,
sondern in einiger Entfernung von ihm im Velum medulläre anterius.
Sie nehmen, ohne sensible Fasern zu sein, aber vielleicht, weil sie
ehedem mit viscero-sensiblen Fasern reichlich vermischt waren, einen
gleichen bogenförmigen Verlauf um den Ausgang des Aquaeductus,
wie es sonst nur zentrale sensible Bahnen tun, treffen sich dabei in
der Medianlinie, und zwar ihrem zentrifugalen Verlaufe entsprechend,
am Velum und kreuzen sich. Man muß aber mit Gegenbaur be¬
kennen, daß das Dunkel doch nicht ganz erhellt ist, welches die
Eigentümlichkeit des Austrittes der Trochleariswurzeln umgibt.
An diesen beiden Beispielen, der Optikus- und Trochleariskreu-
zung, sieht man, wie ungeheuer schwierig es ist, für ein einzelnes
Fasersystem zu bestimmen, warum es sich z. B. total kreuzt und
warum es an der bestimmten Stelle in die Kreuzung eintritt. Unsere
Kenntnisse von der Entstehung der einzelnen Faserzüge, ihrer gegen¬
seitigen Verknüpfung und Funktion müßten weit vollkommener sein,
als es zur Zeit ist, um eine befriedigende Aufklärung für diese Be¬
sonderheiten zu gewinnen. Man muß sich darüber klar sein, daß hier
neben ganz allgemeinen Bildungsfaktoren noch spezielle für jedes
System in Betracht kommen. Zu letzteren gehören speziell mecha¬
nische und funktionelle, auch solche, wie sie z. B. A r i e n s Kap¬
pers in seiner Neurohiotaxislehre zusammengefaßt hat, und wahr¬
scheinlich noch viele andere uns unbekannte. Diese vielen Faktoren
so zu enthüllen, daß der Verlauf einer bestimmten Bahn gleichsam als
Resultante hervorgeht, ist zur Zeit einfach unmöglich, und ob das
überhaupt jemals möglich sein wird, läßt sich bezweifeln.
Es läßt sich daher nur für die allgemeine Erscheinung der Kreu¬
zungen der Nervenbahnen eine Ursache ausfindig machen. Diese Ur¬
sache resp. Anlage scheint mir in dem Heftige des primitiven Nerven¬
systems zu liegen, aus dem sich die späteren höheren Stadien ent¬
wickelt haben, und naturgemäß in Korrelation zur Gestalt des tie¬
rischen Körpers und seinen Funktionen so entwickeln mußten, wie sie
es taten. Der von mir gegebene Lösungsversuch ist kein gekünstelter,
kein willkürlicher, sondern ein einfacher und natürlicher, er ergibt
sieh nach den Grundlagen eigentlich ganz von selbst.
Wenn ich nun auch meine, daß mit der Herleitung eines recht
komplizierten Gefüges aus einem verhältnismäßig einfachen ein ur¬
sächliches Moment für die Entstehung dieses komplizierten Gefüges,
speziell der kreuzenden Bahnen, gefunden ist. so bin ich mir natiir-
122
lieh klar bewußt, daß die letzte Ursache für das Zustandekommen
der Kreuzungen auch bei diesem Versuche uns verschlossen bleibt,
t'ajal hat wohl auch dasselbe im Sinne gehabt, als er sagte: ,.Es
handelt sich hier nicht darum, die wirkende Ursache, die geheimen
Ressorts physikalisch-chemischer Kräfte zu erforschen, welche diese
Anlage geschaffen haben.“ In der Tat wird jedermann einsehen, daß
es unmöglich ist, die feinen biologischen Faktoren aufzudecken,
welche hierbei wirksam gewiesen sind. Man müßte zunächst zu er¬
forschen suchen, warum die erste Bildung des Nervensystems in
jener netzförmigen Form geschehen ist. Man kann da nur Ver¬
mutungen hegen. Man kann annehmen, daß die Natur bestrebt w r ar,
bei größter Sparsamkeit des Raumes den höchstmöglichen Zweck der
allgemeinen Innervation des einfachen tierischen Körpers zu erreichen,
in ähnlicher Weise, wie sie das netzförmige Knochengebälk schuf, und
so bei größter Leichtigkeit des Knochens die höchste Festigkeit er¬
reicht hat. Da die erste Netzbildung des Nervensystems in Korrela¬
tion zu dem einfachen Bau des tierischen Körpers steht, so müßte
man auch sagen können, warum sich dieser einfache Körper zu¬
nächst so als Doppelschlauch gestaltet hat und sich bei allen Tier¬
formen immer wieder auf dieser Grundlage aufbaut. Dies aber ur¬
sächlich festzustellen, ist unmöglich. Das Tor zur letzten Erkenntnis
bleibt uns verschlossen. Auf diesem Tore steht die Dante sehe
Inschrift: „Lasciate ogni speranza.“ Aber das ist uns kein Tor zur
Hölle, vor dem wir zurückschrecken. Mutig und unentwegt schlagen
wir auch an dieses Tor, olnvohl wir genau wissen, daß, selbst w r enn
es uns gelänge, dieses Tor zu öffnen, gleich hinter ihm ein neues
verschlossenes sich befinden würde. Die mächtige Seelenkraft in
dem groß ausgebauten nervösen Zentralisationsapparat des Menschen
strebt unermüdlich vorwärts, wie es schon die kleine Seeienkraft in
dem winzigen Zentralisationsapparat des niederen wirbellosen Tieres
getan hat. Und in diesem Streben wird Nervensystem und Körper¬
form sich weiter ausgestalten. Aber alles Streben und alle weitere
Ausgestaltung wird die letzten Rätsel nicht enthüllen. Und es ist
gut so, denn das andere wäre der geistige Tod des Menschen.
Literatur-Verzeichnis,
A r i e n s Kappers, C. U., Die vergleichende Anatomie des Nerven¬
systems der Wirbeltiere und des Menschen. Haarlem 1920/21. — Derselbe,
Phenomena of neurobiotaxis in the optic System. Festsehr. f. S. Ramon y Cajal.
Bd. I. 1922. Ref. Zentralbl. f. d. ges. Neurol. u. Psych. Bd. 35 p. 64. — Der s.,
Phenomena of neurobiotaxis in the central nervous System. XVIth International
Congress of Medicine. London 1913. Section I. Anatomy and Embryology. —
A s c o 1 i, G., Zur Neurologie der Hirudineen. Zool. Jahrbücher. Bd. XXXT.
— Bethe, A., Allgemeine Anatomie und Physiologie des Nervensystems.
Leipzig 1903.— Boule, L., Recherches sur le systöine nerveux central normal
du lombric. LeNevraxe Vol.X.—B reslau, H. u. von Voß,ll., Das Nerven¬
system von Mesostoma ehrenbergi (Focke). Zool. Anzeiger. Bd.XLIII. — Bret-
Schneider, F., Die Zentralkörper und die pilzförmigen Körper im Gehirn
der Insekten. Zool. Anzeiger. Bd. 41. — Brüel, L., Über das Nerven¬
system der Heteropoden. 1. Pterotrachea. Zool. Anzeiger. Bd, XLV.
1915. — Cajal, S. Ramon y, Die Struktur des Chiasma opticum
nebst einer allgemeinen Theorie der Kreuzung der Nervenbahnen. Übersetzt
von J. Bresler. 1899. — Claus, C. und Grobben, K., Lehrbuch der
Zoologie. 2. Aufl. 1910. — Daneika, D., Das Nervensystem von Ascaris.
Ztschr. f. wiss. Zoolog. Bd. LXXXIX. — D e 1 s m a n, H. C., Der Ursprung
der Vertebraten. Eine neue Theorie. Mitt. a. d. Zool. Stat. z. Neapel. Bd. 20. —
Dohm, A., Studien zur Urgeschichte des Wirbeltierkörpers. Nr. 18—21. Mitt.
a. d. Zool. Stat. zu Neapel. 15. Bd. 1. u. 2. H. 1901. — Edin ger, L., Das
Cerebellum von Scyllium canicula. Arch. f. mikr. Anat. Bd. 58. 1901. —
D e r s., Untersuchungen über die vergleichende Anatomie des Gehirns. Ab¬
handlungen d. Senkenberg. Naturf.-Gesellsch. 1888, 1892, 1899. — D e r s.,
Vorlesungen über den Bau der nervösen Zentralorgane etc. 7. Aull. 1896. —
Flechsig, P., Die Leitungsbahnen im Gehirn und Rückenmark. Leipzig
1876. — Franz, Victor, Haut, Sinnesorgane und Nervensystem der Akranier.
(Fauna et Anatomia ceylanica, Nr. 13 [Bd. II, Nr. 5].) Jenaische Zeitschr.
f. Naturwiss. Bd. 59. H. 3. 1923. Ref. im Zentralbl. f. d. ges. Neurol. und
Psych. Bd. 36. H. 7/8. p. 393. — Froriep, A., Die Entwicklung des
Auges. Aus dem Handbuch der vergleichenden und experimentellen Entwick¬
lungsgeschichte der Wirbeltiere. Herausgegeben von Oscar Hertwig. Bd. IX. —
D e r s., Über den Ursprung des Wirbeltierauges. Münch, med. Woch. 1906.
Nr. 35. — Fürbringer, M., Über die spino-occipitalen Nerven der
Selachier und Holocephalen und ihre vergleichende Morphologie. Festschr.
zum 70. Geburtstage von O. Gegenbauer. Bd. 3. 1897. — Ga s k el 1, W. H.,
On the origin of Vertebrates deduced from the study of Ammocoetes. Journ.
of Anat. and Physiol. Vol. XXXII and XXXIII. — Gegenbaur,
C.. Vergleichende Anatomie der Wirbeltiere mit Berücksichtigung
124
der Wirbellosen. Leipzig 1898/1901. — van Gehuchten, A., La
Moelie Epiniere des larves des Batraeiens (Salamandra Maculosa). Arch.
de Biol. Tora. XV. 1897. — Gerwerzhagen, A^ Beiträge zur Kenntnis der
Bryozoen I. Das Nervensystem von Cristatella mucedo Cuv. Ztscbr. f. wiss.
Zool. Bd. CV1I. — Goldschmidt, R., Das Nervensystem von Ascaris
lumbrieoides und niegalocephala etc. 2. Teil. Ztschr. f. wiss. Zoolog. Bd. 92.
— Haller. B.. Über das Zentralnervensystem des Skorpions und der
Spinnen. Ein zweiter Beitrag zur Stammesgeschichte der Arachnoiden. Arch.
f. mikr. AnaL Bd. 79. — Ders^ Die Intelligenzsphären des Mollusken-
gehirns. Ein Beitrag zur stufenweisen Entfaltung dieser bei den Achordaten.
Arch. f. mikr. Anat. Bd. 81. — Hertwig, 0., Lehrbuch der Ent-
wieklungsgesehiehte des Menschen und der Wirbeltiere. 3. AufL Jena 1890.
— Hertwig, 0. und R., Die Actinien, anatomisch und histolo-
gisch mit besonderer Berücksichtigung des Neuromuskelsystems unter¬
sucht. Jenaisehe Zeitschrift für Naturwiss. Bd. 13. N. F. Bd. 6 und
Bd. 14. X. F. Bd. 7. 1879 und 1880. — Hey man et van der Stricht,
Sur le Systeme nerveux de FAmphioxus et en particulier sur la Constitution
et la genese des racines sensibles. Memoires couronnees. Acad. Roy. des
Sciences de Belgique. 1890. — H i s , W.. Die Entwicklung des menschlichen
Gehirns während der ersten Monate. Leipzig 1904. — Holste, G., Das
Nervensystem von Dytiscus marginalis L. Ein Beitrag zur Morphologie des
Insektenkörpers. Zeitschr. f. wiss. Zool. Bd. XGVI. — Ho ff mann, H.
C„ Morphoi. Jahrb. Bd. XXIV. cit. bei Gegenbaur. — Jone sc u. C. N..
Vergleichende Untersuchungen über das Gehirn der Honigbiene. Jenaisehe
Ztschr. f. Naturw. Bd. 45. 1909. — Johns ton, J. B.. The brain of
lVtromyzon. Journ. of compar. Neurol. Vol. XU. — Der s.. The brain of
Acipenser. A contribution to the morphology of vertebrate brain. Zoolog.
Jahrb. Abt. f. Anat. und Ontog. Bd. 15. 1901. — D e r s~ Das Gehirn und
die Kranialnerven der Anamnier. (Deutsche Übersetzung von Karl W. Genthe.»
Ergehn, d. Anat. und Entwicklungsgesch. von Merkel und Bonnet. Bd. XI.
1901. — Keim. W.. Das Nervensystem von Astacus Üuviatilis fPotamobius
astacus LA Ein Beitrag zur Morphologie der Deeapoden. Ztschr. f. wiss.
Zoologie. Bd. 0X111. — Kenyon, F. C., The brain of the Bee. A preli-
minarv contribution to the morphology of the nervous System of the Arthro-
poda. Journ. of compar. Neurol. Vol. VI. 189(5. — Kinnier Wilson.
8. A., The old motor System and the new. Arch. of Neurol. and Psychiatry.
Vol. 11. April 1924. — Kleinenberg. N., Hydra. Eine anatomiseh-
entwicklungsgeschichtliche Untersuchung. Leipzig 1872. — Kolm er. W..
Zur Kenntnis des Rückenmarks von Ammoeoetes. Anat Hefte. Bd. 21h 19o5.
— Krawany. J.. Untersuchungen über das Zentralnervensystem des
Regenwurms. Arb. a. d. Zool. Inst. Wien. Tom. XV. 1905. — v. Kupffer.
C., Studien zur vergleichenden Entwicklungsgeschichte des Kopfes der Kra-
nioten. 2. Heft. Die Entwicklung des Kopfes von Ammoeoetes Planen. 1894.
— Lenhossek. M.. Der feinere Bau des Nervensystems im Lichte
neuester Forschungen. Berlin 1895. — Mingazzini, G.. Über die
zentrale Hypoglossusbahn. Experimentelle und anatomische For¬
schungen. Journ. für Psychol. und Neurol. Bd. 29. — Obersteiner.
H., Anleitung beim Studium des Baues der nervösen Zentral orgune
im gesunden und kranken Zustande. 5. Aull. 1912. — Radi, Em^
125
Neue Lehre vom zentralen Nervensystem. Leipzig 1912. — Retzius,
G., Das Nervensystem der Lumbricinen. Biol. Untersuchungen. Bd. UI. 1892.
— Ders^ Zur Kenntnis des Zentralnervensystems von Amphioxus lanceola-
tus. Biol. Unters. N. F. 3. 1892. — Ders., Zur Kenntnis des Nerven¬
systems der Daphniden. Biol. Unters. N. F. Bd. XUI. 1906. — Rhode, Histo¬
logische Untersuchungen üb. d. Nervensystem von Amphioxus. Zool. Beitr. Bd.2.
1888. — Sabussow, H., Über den Bau d. Nervensystems von Tricladiden aus
dem Baikalsee. Zool. Anz. Bd. XXVUI. — Schaper, A., Die morphologische
und histologische Entwicklung des Kleinhirns der Teleostier. Anatom. An¬
zeiger. Bd. 9. 1894. — Spitzer, A., Über die Kreuzung der zentralen
Nervenbahnen und ihre Beziehungen zur Phylogenese des Wirbeltierkörpers.
1910. — Steche, Otto, Grundriß der Zoologie. Berlin-Leipzig 1922. —
van der Yloet, Über den Verlauf der Pyramidenbahn bei niederen Säuge¬
tieren. Anat. Anzeiger. XXIX. 1906. — Wolff, M., Das Nervensystem
der polypoiden Hydrozoa und Scyphozoa. Ein vergleichend physiologischer
und anatomischer Beitrag zur Neuronlehre. Ztschr. f. allg. Physiol. Bd. in.
1903. — Ders., Bemerkungen zur Morphologie und zur Genese des Amphioxus-
Rückenmarkes. Biol. Zentralbl. Bd. XXVU. 1907. — W u n d t, W., Grund¬
züge der Physiologischen Psychologie. 6. Aufl. 1908. — Ziegler, H. E.,
Lehrbuch der vergleichenden Entwicklungsgeschichte der niedeien Wirbeltiere.
Jena 1902.
Was die Zeichnungen anbetrifft, die in der vorliegenden Ab¬
handlung gegeben sind, so habe ich sie mit einigen Ausnahmen aus den
einzelnen Schriften oder aus Lehrbüchern entnommen und so gut, wie ich
es vermochte, wiederzugeben versucht. Dabei habe ich bei einzelnen Skizzen
mitunter manches weggelassen, was für die Darstellung von keiner Bedeutung
war, Auf der anderen Seite habe ich mitunter einzelne Faserzüge, die in den
Abbildungen schwach ausgeprägt waren, etwas stärker hervorgehoben, damit
sie deutlich zum Ausdruck kommen. Zuweilen habe ich auch mehrere Skizzen
in eine einzige zusammengezogen, weil die Zahl der Zeichnungen aus äußeren
Gründen auf das möglichste beschränkt werden mußte.