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Full text of "Abhandlungen aus der Neurologie Psychiatrie Psychologie und ihren Grenzgebieten 20.1923- 26.1924"

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SAN FRANCISCO MEDICAL CENTER 
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ABHANDLUNGEN AUS DER NEUROLOGIE, 
PSYCHIATRIE, PSYCHOLOGIE UND IHREN 
GRENZGEBIETEN 

BEIHEFTE ZUR MONATSSCHRIFT FÜR PSYCHIATRIE UND NEUROLOGIE 
HERAUSGEGEBEN VON K. BONHOEFFER 

"hEFT20 


[Aus der Psychiatrischen und Nervenklinik zu Frankfurt a. M. (Prof. K. Kleist) 
und der Deutschen Psychiatrischen Universitätsklinik in Prag (Prof. O. Poetzl).] 


Dementia praecox, 
intermediäre psychische Schicht 

und Kleinhirn-Basalganglien-Stirnhirnsysteme 

Von 

Dr. Max Loewy (Marienbad) 

Privatdozent für Psychiatrie und Neurologie an der Deutschen Universität in Prag. 





BERLIN 1923 

VERLAG VON S. KARGER 

KARLSTRASSE x 5 . 























Medizinischer Verlag von S. Karger in Berlin NW. 6 


In den 

Abhandlungen aus der Neurologie, Psychiatrie, 
Psychologie und ihren Grenzgebieten 

Beihefte z. Monatsschrift für Psychiatrie u. Neurologie, sind bisher erschienen: 

Heft 1: Typhus und Nervensystem, Von Prof. Dr. Georg Stertz in 
Breslau. (Vergriffen.) 

Heft 2: Ueber die Bedeutung von Erblichkeit und Vorgeschichte 
für das klinische Bild der progressiven Paralyse. Von Dr. 

J. Pernet in Zürich. (Vergriffen.) 

Heft 3: Kindersprache und Aphasie. Gedanken zur Aphasielehre auf 
Grund von Beobachtungen der kindlichen Sprachentwickelung und 
ihrer Anomalie. Von Priv.-Doz. Dr. Emil Fröschels in Wien. Mk.5.50 
Heft 4: Epilepsie und Dementia praecox. Von Professor Dr. W. 

Vorkastner in Greifswald. Mk. ö.— 

Heft 5: Forensisch-psychiatrische Erfahrungen im Kriege« Von Priv.- 
Doz. Dr. W. Schmidt in Heidelberg. Mk. 8.— 

Heft 6: Verbindung endogener und exogener Faktoren in dem 
Symptomenbilde und der Pathogenese von Psychosen. Von 
Priv.-Doz. Dr. Hans Seelert in Berlin. Mk. 3.50 

Heft 7: Zur Klinik und Anatomie der reinen Worttaubheit, der 
Heilungsaphasie und der Tontaubheit. Von Priv.-Doz. Dr. Otto 
Pötzl in Wien. Mit zwei Tafeln. Mk. 4.— 

Heft 8: Die Spielbreite der Symptome beim manisch-depressiven 
' Irresein. Von Prof. Dr. P. Schröder in Greifswald. Mk. 3.— 
Heft 9: Die symptomatischen Psychosen und ihre Differential¬ 
diagnose. Von Priv.-Doz. Dr. Hans Krisch in Greifswald. Mk 2.25 
Heft 10: Die Abderhaldensche Reaktion mit bes.Berücksichtigung ihrer Er¬ 
gebnisse i.d. Psychiatrie. Von Priv.-Doz. Dr. G.E wa 1 d in Erlangen. Mk. 9.— 
Heft 11: Der extrapyramidale Symptomenkomplex (das dystonische 
Syndrom) und seine Bedeutung in der Neurologie. Von Prof. 
Dr. G. Stertz in München. (Vergriffen.) Mk. 6.— 

Heft 12: Der anethische Symptomenkomplex. Eine Studie zur Psycho¬ 
pathologie d. Handlung. Von Priv.-Doz. Dr. 0. Albrecht in Wien. Mk. 4.— 
Heft 13: Die neurologische Forschungsrichtung in der Psychopatho¬ 
logie und andere Aufsätze. Von Prof. Dr. A.Pick in Prag. Mk. 8.— 
Heft 14: Ueber die Entstehung der Negrischen Körperchen. Von 
Prof. Dr. L. Benedek und Dr. F. O. Porsche in Kolozsvar. Mit 
10 Tafeln. Mk. 8.- 

Heft 15: Ueber die Bedeutung und Entstehung der Stereotypien. 

Von Priv.-Doz. Dr. Jakob Kläsi in Zürich. Mk. 1.50 

Heft 16: Ueber Psychoanalyse. Von Dozent Dr.R.A Ilers in Wien. Mk. 2.— 
Heft 17: Die Zergliederung des psychischen Krankheitsbildes bei 
Arteriosklerosis-cerebrl. Von Nervenarzt Dr. S. J. R. de Monchy 
in Rotterdam. Mk. 2.— 

Heft 18: Epilepsie und manisch-depressives Irresein. Von Dr. Hans 
Krisch in Greifswald. Mk. 2.— 

Heft 19: Ueber die paranoiden Reaktionen in der Haft. Von Dr. 

W. Försterling in Landsberg a. d. W. Mk..—.— 

Heft 20: Dementia praecox, intermediäre psychische Schicht und 
Kleinhirn - Basalganglien - Stirnhirnsysteme. Von Priv.-Doz. 
Dr. Max Loewy in Prag-Marienbad. Mk. —.— 

Heft 21: Metaphysik und Schizophrenie. Eine vergleichende psycho¬ 
logische Studie. Von Dr. G. Bychowski in Warschau. Mk. — 
Heft 22: Der Selbstihord. Von Priv.-Doz. Dr. med. R. Weichbrodt in 
Frankfurt a. M. Mk. —.— 

Die Abonnenten der „Monatsschrift für Psychiatrie und Neurologie“ 
erhalten diese Abhandlungen zu einem um 20°/o ermäßigten Preise. 


Die obigen Preise sind Grundpreise, die nach dem jeweiligen Umrechnungsschlüssel verviel¬ 
facht, die jeweiligen Verkaufspreise ergeben. Flir das Ausland gelten obige Preise in 
Schweizer Franken als Verkaufspreise, ohne jeden Aufschlag; mit Ausnahme des Portos. 






ABHANDLUNGEN AUS DER NEUROLOGIE, 
PSYCHIATRIE, PSYCHOLOGIE UND IHREN 
GRENZGEBIETEN 

BEIHEFTE ZUR MONATSSCHRIFT FÜR PSYCHIATRIE UND NEUROLOGIE 
HERAUSGEGEBEN VON K. BONHOEFFER 

HEFT 20 


[Aus der Psychiatrischen und Nervenklinik zu Frankfurt a. M. (Prof. K. Kleist) 
und der Deutschen Psychiatrischen Universitätsklinik in Prag (Prof. O. Poetzl).] 

Dementia praecox, 
intermediäre psychische Schicht 

und Kleinhirn- Basalganglien-StirnhirnSysteme 

Von 

Dr. Max Loewy (Marienbad) 

Privatdozent für Psychiatrie und Neurologie an der Deutschen Universität in Prag 



BERLIN 1923 

VERLAG VON S. KARGER 

KARI.STRASSE 13. 


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Alle Rechte Vorbehalten 



Druck von Ernst Klöppel in Quedlinburg 








Inhalt. 

Seite 

I. Ueber eine intermediäre psychische Schicht. 4 

II. Die Verschiedenartigkeit der pathogenetischen Erklärungen der 

Dementia praecox.39 

III. Ein Grand für die Vielgestaltigkeit in Symptomatologie, Zustands- 

bildero, Verlauf, Ausgang und pathogenetischen Erklärungen 
der Dementia praecox (intermediäre psychische Schicht und 
Basalganglienerkrankung).74 

IV. Schlussätze und Zusammenfassung.114 






* » 

1. lieber eine intermediäre psychische Schicht. 

:.V- Nach einem Vorträge gehalten im „Lotos“ zu Prag, 28. II. 1922. 

• . • 

Psvchopathologische Fragestellungen „ und psychiatrische Er- 
fahrungen sind es. auf denen das hier wiederzugebende eigene 
Psychologische aufgebaut wurde. Es werden daher vor allem auch 
psychopathologisch gerichtete Arbeiten und Autoren neben Fach- 
psvchologen zum Belege oder Vergleiche herangezogen. 

Nun haben aber neuere Autoren, sowohl Psychopathologen als 
Psychologen Spezialuntersuchungen psychologischer Art als teils irre¬ 
führend, teils überflüssig abgelehnt, im Hinweise auf die Unfruchtbar¬ 
keit der psychologischen Systematik. Die Psychopathologen betonen 
dieser gegenüber besonders die Bedeutung der Vulgärpsychologie des 
normalen Sprachgebrauchs als für die psychopathologischen Fragen 
wie überhaupt für das Verständnis normalen und gestörten Erlebens 
wichtiger. 

Es wurde auf die Gefahren der systematischen und konstruktiven 
Psychologie hingewiesen, die in ihrer Mosaikbildung liegen: in der 
Zerlegung des Erlebten und seiner Wiederzusammensetzung, beides- 
mal unter Zerstörung des Stromes des Denkens. 

Trotzdem mir dieser Verzicht unberechtigt erscheint, kann nicht, 
geleugnet werden, daß zum Zwecke des psychologischen Studiums 
fixierende Einstellungen auf psychische Akte erfolgen müssen, wo¬ 
durch diese Veränderungen erleiden, und nicht nur die Akte, sondern 
auch konsekutiv die Inhalte verändert werden können. Auch durch 

V 

Festhaltung der Inhalte entstehen Störungen des Ablaufs und der Zu¬ 
sammenhänge: sagen wir „der psychischen Koordination“, in der 
psychologischen Untersuchung, und damit geht es ähnlich wie bei der 
Beachtung einer koordinierten Bewegung, auf deren Störung durch 
die Hinlenkung der Aufmerksamkeit insbesondere A. Pick hin¬ 
gewiesen hat. Ein hübsches Bild dafür gibt ein alter Simplizissimus- 
scherz vom Tausendfuß und der Schnecke: Die Schnecke beneidet 
den Tausendfuß um seinen schönen Gang und fragt: „Lieber Tausend¬ 
fuß, wie machst du das, daß du so schön schreitest? Mit welchem 
Bein trittst du zuerst aus, mit dem ersten, dem neunundneunzigsten, 
dem einhundertundfünfunddreißigsten?“ Der Tausendfuß dachte nach 



und konnte nickt mehr gehen. Nun müssen wir aber Inhalte und Akte 
zum Zwecke ihres Studiums beachten und fixieren, durch diese Fest¬ 
haltung entsteht sozusagen ein gehärtetes psychisches Präparat. Das 
ist aber etwas anderes als eine Erscheinung im Flusse des psychischen 
Geschehens. Auch die experimentelle Psychologie, welche wechselnde 
Erscheinungen produziert, arbeitet mit künstlicher Vereinfachung und 
künstlicher Komplizierung und vor allem schaltet sie beim 
Studium von Empfindungen, Vorstellungen, Begriffen, Urteilen, Ge¬ 
fühlen, Relationen usw. deren normales Ziel, „den bio¬ 
logischen Zw ec k“, aus, schafft also ein Kunstprodukt: 
denn „ihre Aufgaben“ sind zwar Zielsetzungen, aber n i c h t die 
biologischen, sie arbeitet also mit Zielverlust. 

Die Erlebnis- und Wertpsychologie, welche zwar das Leben und 
Erleben in seinen Zusammenhängen und Beziehungen, in seiner 
Relativität und Subjektivität zu erfassen sucht, ist ihrerseits wieder 
eben deswegen zu einer gewissen Verschwommenheit der fixierenden 
Einstellungen genötigt, um die Weite ihres Blickfeldes nicht zu 
verlieren. 

Über diesen Punkt und die Unterschiede der Anschauungen 
mögen uns herausgegrilTene Ausführungen verschiedener Autoren 
instruieren. 

Im Kapitel Psychologie seiner „Philosophie, ihr Problem und 
ihre Probleme, Einführung in den kritischen Idealismus“ (Göttingen 
1 *• > 11). weist Paul Natorp (Marburg) auf Ähnliches hin: 

Zwar braucht die Wissenschaft Abstraktionen, gerade um des Konkreten 
Herr zu werden. Aber diese wollen nicht Trennungen bedeuten, sondern bloße 
Abgrenzungen für ein Denken, das gerade darauf ausgeht, das letzte ungetrennt 
Konkrete Schritt um Schritt der Erkenntnis zu erobern und damit dem Be¬ 
wußtsein zu erhalten und zu sichern. Freilich kommt sie mit dieser Aufgabe 
nie zu Ende. Sie gibt als solche nur Gesetze, aUo Allgemeines zu er¬ 
kennen und wenigstens nicht das letzte Einzelne; Abstraktes, und 
nicht das letzte Konkrete; in ihren so sicheren Feststellungen kommt der 
Fluß des Werdens gleichsam zur Erstarrung. In dieser dreifachen Beziehung 
scheint die letzte Wahrheit des Wirklichen unerfaßt zu bleiben, verflacht, um 
schließlich verschoben zu werden. Der Grund, aus welchem die Wissenschaft 
so vorgeht, ist klar; sie gewinnt auf diesem Wege ein Wissen, welches, 
genau so weit als es reicht, gesichert ist. Nur scheint, was wir mit solcher 
Sicherheit erkennen, nicht das zu sein, was wir zuletzt erkennen wollten: das 
Wirkliche, in seiner vollen Lebenswahrheit; sondern ein mehr oder weniger 
erMarrtes, also totes Bild desselben (8. 139). 

S. 140: Für die Wissenschaft i s t geradezu der Gegenstand das Gesetz, 
das Gesetz der Gegenstand. Aber mit dieser einzigen, uns erreichbaren gegen¬ 
ständlichen Erkenntnis würden wir freilich betrogen sein, wenn wir in ihr die 
endgültige Darstellung des Gegenstandes (als des zu Erkennenden) sehen wiir- 



1. Ueber eine intermediäre psychische Schicht. 

Nach einem Vorträge gehalten im „Lotos“ zu Prag, 28. II. 1922. 

Psychopathologische Fragestellungen^ und psychiatrische Er¬ 
fahrungen sind es. auf denen das hier wiederzugebende eigene 
Psychologische aufgebaut wurde. Es werden daher vor allem auch 
psychopathologisch gerichtete Arbeiten und Autoren neben Fach¬ 
psychologen zutn Belege oder Vergleiche herangezogen. 

Nun haben aber neuere Autoren, sowohl Psychopathologen als 
Psychologen Spezialuntersuchungen psychologischer Art als teils irre¬ 
führend. teils überflüssig abgelehnt, im Hinweise auf die Unfruchtbar¬ 
keit der psychologischen Systematik. Die Psychopathologen betonen 
dieser gegenüber besonders die Bedeutung der Vulgärpsychologie des 
normalen Sprachgebrauchs als für die psychopathologisehen Fragen 
wie überhaupt für das Verständnis normalen und gestörten Erlebens 
wichtiger. 

Es wurde auf die Gefahren der systematischen und konstruktiven 
Psychologie hingewiesen, die in ihrer Mosaikbildung liegen: in der 
Zerlegung des Erlebten und seiner Wiederzusammensetzung, beides- 
mal unter Zerstörung des Stromes des Denkens. 

Trotzdem mir dieser Verzicht unberechtigt erscheint, kann nicht 
geleugnet werden, daß zum Zwecke des psychologischen Studiums 
fixierende Einstellungen auf psychische Akte erfolgen müssen, wo¬ 
durch diese Veränderungen erleiden, und nicht nur die Akte, sondern 
auch konsekutiv die Inhalte verändert werden können. Auch durch 
Festhaltung der Inhalte entstehen Störungen des Ablaufs und der Zu¬ 
sammenhänge: sagen wir „der psychischen Koordination“, in der 
psychologischen Untersuchung, und damit geht es ähnlich wie bei der 
Beachtung einer koordinierten Bewegung, auf deren Störung durch 
die Hinlenkung der Aufmerksamkeit insbesondere A. Pick hin¬ 
gewiesen hat. Ein hübsches Bild dafür gibt ein alter Simplizissimus- 
sclierz vom Tausendfuß und der Schnecke: Die Schnecke beneidet 
den Tausendfuß um seinen schönen Gang und fragt: „Lieber Tausend¬ 
fuß. wie machst du das, daß du so schön schreitest? Mit welchem 
Bein trittst du zuerst aus, mit dem ersten, dem neunundneunzigsten, 
dem einhundertundfünfunddreißigsten?“ Der Tausendfuß dachte nach 



.) 


und konnte nickt mehr gehen. Nun müssen wir aber Inhalte und Akte 
zum Zwecke ihres Studiums beachten und fixieren, durch diese Fest¬ 
haltung entsteht sozusagen ein gehärtetes psychisches Präparat. Das 
Dt aber etwas anderes als eine Erscheinung im Flusse des psychischen 
«Geschehens. Auch die experimentelle Psychologie, welche wechselnde 
Erscheinungen produziert, arbeitet mit künstlicher Vereinfachung und 
künstlicher Komplizierung und vor allem schaltet sie beim 
.Studium von Empfindungen, Vorstellungen, Begriffen, Urteilen, Ge¬ 
fühlen, Relationen usw. deren normales Ziel, ,.d e n bio¬ 
logischen Zweck“, aus, schafft also ein Kunstprodukt; 
denn ,.ihre Aufgaben“ sind zwar Zielsetzungen, aber n i e h t die 
biologischen, sie arbeitet also mit Zielverlust. 

Die Erlebnis- und Wertpsychologie, welche zwar das Leben und 
Erleben in seinen Zusammenhängen und Beziehungen, in seiner 
Relativität und Subjektivität zu erfassen sucht, ist ihrerseits wieder 
«dien deswegen zu einer gewissen Verschwommenheit der fixierenden 
Einstellungen genötigt, um die Weite ihres Blickfeldes 1 nicht zu 
verlieren. 

Uber diesen Punkt und die Unterschiede der Anschauungen 
mögen uns herausgegriffene Ausführungen verschiedener Autoren 
instruieren. 

int Kapitel Psychologie seiner „Philosophie, ihr Problem und 
ihre Probleme, Einführung in den kritischen Idealismus“ (Göttingen 
l'.tllj. weist Paul Natorp (Marburg) auf Ähnliches hin: 

Zwar braucht die Wissenschaft Abstraktionen, gerade um des Konkreten 
Herr zu werden. Aber diese wollen nicht Trennungen bedeuten, sondern bloße 
Abgrenzungen für ein Denken, das gerade darauf ausgeht, das letzte ungetrennt 
Konkrete Schritt um Schritt der Erkenntnis zu erobern und damit dem Be¬ 
wußtsein zu erhalten und zu sichern. Freilich kommt sie mit dieser Aufgabe 
nie zu Ende. Sie gibt als solche nur Gesetze, al 3 o Allgemeines zu er¬ 
kennen und wenigstens nicht das letzte Einzelne; Abstraktes, und 
nicht das letzte Konkrete; in ihren so sicheren Feststellungen kommt der 
Fluß des Werdens gleichsam zur Erstarrung. In dieser dreifachen Beziehung 
scheint die letzte Wahrheit des Wirklichen unerfaßt zu bleiben, verflacht, um 
schließlich verschoben zu werden. Der Grund, aus welchem die Wissenschaft 
so vorgeht, ist klar; sie gewinnt auf diesem Wege ein Wissen, welches, 
genau so weit als es reicht, gesichert ist. Nur scheint, was wir mit solcher 
Sicherheit erkennen, nicht das zu sein, was wir zuletzt erkennen wollten: das 
Wirkliche, in seiner vollen Lebenswahrheit; sondern ein mehr oder weniger 
erstarrtes, also totes Bild desselben (S. 139). 

S. 140: Für die Wissenschaft i s t geradezu der Gegenstand das Gesetz, 
das Gesetz der Gegenstand. Aber mit dieser einzigen, uns erreichbaren gegen¬ 
ständlichen Erkenntnis würden wir freilich betrogen sein, wenn wir in ihr die 
endgültige Darstellung des Gegenstandes (als des zu Erkennenden) sehen wiir- 



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den. Also bleibt, auch aller noch so weit durchgeftihrten Objektivie¬ 
rung gegenüber, immer die Frage nach der letzten, erfüllten Wirklichkeit, die 
man mit dem Worte „Lebe n“ eigentlich meint. Auch durch irgendeine bloß 
äußere Zusammennehmung der theoretischen, der ethischen und ästhetischen 
Objektivierung würde diese Frage nicht erledigt sein (S. 141). 

S. 144: Die Hartnäckigkeit der im Grunde seltsamen Täuschung des 
DualismusvonAußen-undlnnenwelt hat aber in der Tat einen 
sehr tiefliegenden Grund: Man fühlt, daß dem Subjektiven irgendein Eigenwert 
doch bleiben muß. Es ist in der Tat das Subjektive, das man untersucht: Das 
Meinen, der Schein, gerade alles das, was die Naturwissenschaft als für ihre 
Aufgabe der Objektivierung unbrauchbar auf Seite stellt; die Sinnestäuschung, 
die ganze Überkleidung der Dinge mit Farbe, Ton, überhaupt Empfindungs¬ 
qualität; das Logisch-Irrationale; der Widerspruch selbst; vollends das dunkle, 
dumpfe Fühlen in Lust und Schmerz und das ganz eigenartige, allem Natur¬ 
wissenschaftlichen seitab liegende Phänomen des Strebens. Man befragt direkt 
das Subjekt, läßt es ganz aus seiner Subjektivität heraus, fern jedem Objektivi¬ 
tätsanspruch, nur sich aussprechen und macht dann allen solchen subjektiv¬ 
sten Befund zum Problem einer neuen Wissenschaft, die demnach wohl mit 
Fug die „Wissenschaft des Subjektiven“, also, da man dieses das Psychische 
nennt, „Psychologie“ wird genannt werden dürfen. 

S. 145. Aber um die Aussage kommt man keinesfalls herum. Auch 
wenn man sein eigenes, unmittelbares Erleben, z. B. Farbenempfindung, Schmerz¬ 
gefühl. wie auf der Tat betreffen möchte, um es an der Gerichtsstelle der Wis¬ 
senschaft zur Anzeige zu bringen, so wird man, um es anzuzeigen, es doch 
irgendwie aussprechen müssen. . . . Jede solche Aussage, solche Bestimmung, 
ist aber schon Objektivierung; also ist es nicht mehr das Subjektive in seiner 
Reinheit, was man zur Anzeige bringt, sondern allenfalls ein Hinweis auf 
es. . . . Die Täuschung hierüber war möglich und fast unentrinnbar, weil und 
solange man auf den Unterschied der Stufen der Objektivierung 
nicht achtete. Man glaubt leicht, das Subjektive schon erreicht, wenn man in 
der Tat nur von irgendeiner gegebenen, auf eine niedere Stufe der Objektivie¬ 
rung zurückgetreten ist. 

S. 147: Aber eben in der Tatsache jener Stufenreihe der Objek¬ 
tivierung liegt nun der Hinweis auf das wahre und ganz eigenartige Pro¬ 
blem einer Darstellung der Subjektivität selbst und als 
solcher, und damit auch etwas, w r ie eine neue Problemdimension 
der Wissenschaft. 

S. 152: Indessen bleibt die Erkenntnis der Subjektivität doch immer a b - 
h ä n g i g von den Objektivierungen jeder Art und Stufe; sie kann allein ge¬ 
wonnen werden im Rückgang von einer gegebenen Stufe der Objektivie¬ 
rung zu den dieser gegenüber niederen Stufen. 

S. 153: Man hat zwar vielfach vom „inneren Sinn“, von Selbstbeobachtung, 
Selbstanschauung gesprochen, als ob es ein direktes Anschauen des eigenen 
Innenlebens sei. Aber schon seit Langem wird bestritten, daß es ein solches 
Organ oder eine solche Funktion der inneren Selbstschau überhaupt gebe. 
Unsere vorausgeschickten Erwägungen verneinen es bestimmt. Es sind über¬ 
haupt nicht zwei gesonderte Reihen von Erscheinungen: 
Erscheinungen des Bewußtseins und Erscheinungen der äußeren Natur. Etwas 
erscheint, das heißt schon, es ist Einem bewußt. Also ist alle Erscheinung 



7 


Erscheinung für ein oder in einem Bewußtsein. Aber „es erscheint“ heißt 
zugleich „es stellt sich mir als Gegenstand“ (auf irgendeiner Stufe der Ver- 
gegenständlichung) dar. 

Hören wir nun hierzu noch eine extreme Vertreterin der Er¬ 
lebnis-, Beziehungs- und Wertpsychologie: Vera Strasser in 
ihrem Buche „Psychologie der Zusammenhänge und Beziehungen“ 
(1921, Berlin, Springer), im Kapitel: Das Seelische, S. 65: 

Die menschliche Seele ist an sich weder ein Sicherungs-, noch 
nur ein Orientierungs- und Selbsterhaltungsorgan. Eine derartige Auffassung 
würde es sich leisten, die menschliche Seele viel zu sehr zu vereinfachen und 
zu verflachen, sie viel zu stark ins rein Praktische, in das Zweckmäßige der 
momentanen Weltordnung hineinzuversetzen und hätte das Geheimnis, welches 
das reine Leben ausmacht, das Leben an sich, das des Praktischen Grundlage 
und Kitt ist, das aber die menschliche Seele durchwirkt und umwebt, nicht ge¬ 
nügend eingeschätzt und erfaßt. . . . Die menschliche Seele ist einmal ein 
Verbindungsmaschenwerk, das fest verzweigt und verwoben, ein andermal 
kaum sichtbar, kaum fühlbar, wie die # Verbindung der Ursprungswelle und 
Uferwelle, sein kann. Die menschliche Seele enthält die Vorstellung von sämt¬ 
lichen Gefühlen und das Gefühl von sämtlichen Vorstellungen und dazu noch 
ein unfaßbares Etwas, das nie durch die Wechselwirkungen mit der Außenwelt 
in Bewegung gesetzt wurde. Wille ist die Dynamik der Seele, 
wie er die Dynamik der Persönlichkeit ist. 

S. 66: Die Seele ist ein Ich-Sein, das aus dem, was wir erkennen und nicht 
erkennen können, besteht; ist aber auch ein Orientierungs-, ein Erkennungs-, 
ein Vorbereitungs-, ein Sicherungs-, ein Selbsterhaltungsorgan, Persön¬ 
lich k e i t ist Körper und Seele. 

S. 66: Aufspeichern der Erfahrungen des äußeren und inneren Lebens, An* 
sammeln der Bilder über den Körper und über die äußeren und inneren Vor¬ 
gänge, all’ das zusammen bildet das Gesamtbewußtsein. . . . 

S. 69: Das im Vordergründe stehende „registrierende Be¬ 
wußtsein“ ist das Produkt des Nichtbewußten und der momentanen 
Wechselwirkung und der Beziehungen zwischen Außen- und Innenwelt. Wie 
die Staatsorganisation eine ungefähre Ordnung im Chaos der Vielen ist, so ist 
auch das wirkliche Bewußtsein eine Ordnungsrichtung im Chaos der 
Vorstellungen des Ichs und der Umwelt, im Ich. Das Gesamtbewußtsein ist 
ül>erhaupt alles das, was in mir an Vorstellungen, Gefühls- und Erlebniserfah¬ 
rungen enthalten sich vorfindet: im Vergleich zur Seele, die außer dem immer 
erneuten Bewußtsein, also dem Gesamtbewußtsein, ein Etwas enthält, das bis 
dahin sich noch durch keinerlei Erfahrung in Funktion gesetzt hat. Im Dienste 
des Gesamtbewußtseins stehen Sinnesorgane, Interessen, Aufmerk¬ 
samkeit, Gedächtnis, Wille, Beziehungen. Die Fähigkeit des Gesamt¬ 
bewußtseins an sich ist eine größere als das, was das Bewußtsein 
von ihr in Funktion setzt und verwendet. Damit soll gesagt sein, daß im Ge¬ 
samtbewußtsein mehr als nur der empirische Teil oder einmal empirisch ge¬ 
wesene Teil enthalten sein kann. 

S. 69. Im Traum kommt das Bewußte und Nichtbewußte zum Vorschein. 
Das heißt, der Traum ist chaotisch, weil ihm der Regulator des wirklichen Be¬ 
wußtseins fehlt. Im Traum tritt das Gesamtbewußtsein in Funktion. 



8 


S. 82. I n den Funktionen des l>e n kens lind F ii h 1 e n s 
äußert sich der ganze Ban unseres Körpers mit seinen ursprünglichen Funktio¬ 
nen. den Trieben, das stets wandelbare Material unseres Gesamtbewußtseins, 
die Fähigkeit der Wiederholung bis zur Mechanisierung unserer Gedächtnis¬ 
funktionen, kurz alle unsere psychischen Phänomene. . . . Jede lokalisierte 
Sensation, jede Empfindung teilt sich dem ganzen Körper mit und versetzt 
ihn in eine gewisse Bewegung, die wir nicht immer als solche bemessen können. 
An komplizierten Empfindungen diffuser, nicht unbedingt an einer einzigen 
Stelle lokalisierter Natur, wie z. B. der Schmerzempfindung von einem inneren 
Organ aus, kann man den Übergang von E m p f i n d u n g zu m G e f ii h 1 
deutlich sehen. 

Das Gefühl ist eigentlich ein Mitmachen des Körpers an einer Empfin¬ 
dung oder an einem geistigen Erleben. Darin ist die Denkfähigkeit schon ein¬ 
geschlossen. Das Denken ist die Fähigkeit, zwischen den Sinnesempfindun¬ 
gen der äußeren und inneren Beziehungswelt Kombinationen zu schaffen. Das 
Denken ist auch begleitet von den Bewegungen, den ,.Schwingungen“ des ge¬ 
samten Körpers und bildet auf diese Weise das Gefühl, das schon deswegen 
mit dem Denken unauflöslich verbunden ist. Beim ..Gefühlsmenschen“ ist die 
Quantität der körperlichen Mitschwingungen (Zusammenspiel des zentralen und 
sympathischen Nervensystems) größer, die körperliche Mitarbeit eine ausgiebi¬ 
gere als beim ..nüchternen“ Verstandesmenschen. Aber wirklich trennbar ist 
keines vom anderen. Wir können uns an dem erfreuen, dasjenige erfühlen, 
was unser Denken und Erfassen versteht. Bei dieser Freude schlägt das Herz 
stärker, der ganze Körper ist in Schwingung versetzt, die Motilität ist inten¬ 
siver. alles zusammen bildet das begleitende Gefühl einer erlebten, das heißt 
erdachten, aus den Beziehungen entstandenen Denkfunktion. 

(Anm. M a x L ö w y: Heißt wirklich erlebt so viel wie erdacht? Ich 
glaube, erlebt ist viel mehr und auch viel weniger als erdacht. 8. u.) 

Lust und Unlust sind schon Bewertungen des Denkens und Fühlen». nicht 
aber etwas Primäres. Jedes Denken, jedes Handeln, jedes Empfinden ist be¬ 
gleitet vom gesamten körperlichen Mitmachen und bildet dieses berühmte Ge¬ 
fühl, das man im gewöhnlichen und im wissenschaftlichen Alltagsgebrauch vom 
Denken abzusondern beliebt. 

S. 86. Wenn wir uns irgendwie in der Welt, in unserem Leben orientieren 
wollen, so sind wir nicht allein vom Denken, sondern auch vom Fühlen geleitet. 
Da unser Ich nicht lediglich Begriffs-, wohl aber auch ein Aufnahme- und ein Hin¬ 
gabesubjekt ist, so bleibt das ganze Denken und Fühlen nicht nur darauf ge¬ 
richtet, anzugreifen, unsere Triebe zu befriedigen, sondern dient uns vielmehr 
direkt dazu, daß wir uns über uns in der Welt zu orientieren und die Welt 
über uns ergehen zu lassen vermögen. 

S. 86. Schon das Kind beginnt zu abstrahieren. Das Anfangs- und das 
schwachsinnige Denken gelangen nicht zur Abstraktion. Mit der Entwicklung 
des Denkens bildet sich auch die A b s t r a k t i o n s f ä h i g k e i t. Sie ist, 
eine Entkonkretisierungs- und damit eine Objektivierungsfähigkeit, die uns 
unter anderem dazu verhilft. uns auch im Konkreten nicht zu verlieren. Sie 
ermöglicht uns von der greifbaren Materie uns zu emanzipieren, das große 
Ganze zu ordnen. Abstraktionsfähigkeit verschafft uns in diesem Sinne auch 
ein Sicherheitsgefühl inmitten der Gesellschaft von Gegenständen, in der Um¬ 
gebung von Handlungen, von Tatbeständen usw. 



S. !H>. Die Vorstellungsmasse ..Persönlichkeit 1 ' ist, wenn man sie in der 
Wandlung und nicht geronnen starr sich denkt, im Momente der Betrachtung 
eine somatische Anlage, samt dem psychischen Ballast (Erlebnisse, Erlebnis¬ 
fähigkeiten, wobei ich mir jegliche »Sinneseindrücke als Erlebnisse denke, für 
die wir nur verschiedene Intensitäten zu registrieren verstehen). Ein psy¬ 
chischer Gesamtballast, der jedoch nicht in der Form eines aufgespeicherten 
Materials zu verstehen ist, sondern durch die Lebensschwungkraft, durch den 
fortwährenden Regulator, den Willen bewegt wird, was das Nämliche bedeutet 
wie in Funktion, in Bewegung gesetzt werden. Der Wille ist die Dy¬ 
namik. die Aktion, die Bewegung unserer Persönlichkeit, in der wir vor¬ 
wärts schreiten (sc. leben). Die Persönlichkeit schließt also die G e - 
s a m t h e i t des psychischen Materiales eines Individuums in 
sich, während der Wille die Funktion d e r g e s a m t e n Persön¬ 
lichkeitist. 

Manches in den Ausführungen Vera »Strassers erinnert 
mich an S e nt o n s Lehre von der „Mneme“, von den ,.Engrammen", 
vielleicht auch an Bergsons „Gedächtnis“ und „Erinnerung“, 
wenn ich Gedächtnis mit Remanenzen und Erinnerung mit apper- 
•/.cptiver Wahrnehmung, mit Auffassung übersetzen darf. Auch 
manchen meiner eigenen Anschauungen über die Genese gewisser 
psychischer Phänomene und ihrer Beziehungen, welche ich in ver¬ 
schiedenen psychiatrischen und psycho-pathologischen Arbeiten aus¬ 
gesprochen habe. s. u„ nähert sich Vera Strassers Lehre, und 
doch mag ich nicht verschweigen, daß Vera Strassers mit 
beneidenswerter Frische und unangekränkelt von blasser Skepsis 
vorgetragene Auffassung des Psychischen aus einem einheitlichen 
Gesichtspunkte in der Vereinfachung zu weit geht, so weit, daß der 
Schlüssel für die psychopathologische Beobachtung von Einzel- 
symptomen öfters darin nicht mehr enthalten ist und uns daher 
entglitte. Es scheinen mir überhaupt gröbere Gebietsabgren¬ 
zungen. wie sie in W e r n i c k e s Schema zusammen mit der hier 
von mir auszuführenden Konzeption „einer gebietsverbindenden, 
intermediären psychischen Schicht“ sich darbieten, für psychopatho- 
logisehe Fntersuchungen günstiger. Dies deswegen, weil sie ein Ver¬ 
gleichen und Abgrenzen und Wiederverbinden von Funktionen und 
Funktionsstörungen, auf welches Vergleichen und Abgrenzen es uns 
in der Psychopathologie überhaupt und hier besonders ankommt, 
besser zu gestatten scheinen. 

Hören wir weiter vergleichend einen Denkpsychologen schärferer 
Richtung. Ich folge hier dem Absätze: „Denkpsychologie“ aus der 
„Psychologie der frühesten Kindheit“ von William Stern. 
2. Aufl., 1921 (Leipzig, bei Quelle & Meyer). 

S. 240: Die Denkpsychologie hat die Verschiedenartigkeit des Anschau¬ 
lich-Vorstellungsmäßigen und des Abstrakt-Begrifflichen fcstgestellt. S. 2.‘58: 



10 


Der „Gedanke“ ist als Bewußtseinsinhalt betrachtet nicht eine vernickelte Vor¬ 
stellungverflechtung oder ein hochwertiger Vorstellungextrakt, sondern etwas 
Neues, was zum Vorstellungsinhalt hinzutritt. Das Bewußtsein erschöpft sich 
nämlich nicht in konkreten Erlebnissen anschauungsmäßiger Art, sondern es 
bezieht diese Inhalte auf Gegenstände, die außerhalb seines Erlebens 
selbst liegen. Das Kind hat von seiner Puppe die verschiedensten Wahr¬ 
nehmungen gehabt, optisch und taktil, in verschiedener Größe, je nach der 
Entfernung in verschiedenen Beleuchtungen, von verschiedenen Seiten. Diese 
Wahrnehmungen leben in mannigfachen mehr oder minder deutlichen Vorstel¬ 
lungen fort — aber nicht die Wahrnehmungen und Vorstellungen seines Innern 
benennt das Kind, wenn es von seiner Puppe erzählt, sondern den iden¬ 
tischen Gegenstand da draußen, der als solcher nicht konkret erlebt 
wird, dennoch aber gewußt wird, als der gemeinsame und identisch blei¬ 
bende Beziehungspunkt vieler Erlebnisse. Im Bewußtsein vorhanden ist also 
jetzt neben dem vorstellungsmäßigen Inhalt noch die Bezugnahme auf etwas 
Objektives: — die moderne Denkpsychologie nennt diesen für alles eigentliche 
Denken entscheidenden abstrakten Bewußtseinsinhalt im Anschluß an Hus- 
s e r 1 die „intentionale Bezieh un g“. 

Im obigen Beispiel erstreckt sich die Intention auf einen Einzel¬ 
gegenstand und führte uns zum Individualbegriff. Aber wir sind auch 
imstande, allgemeine Gegenstände („die Menschheit“, „das Tier“), 
ebenso Relationen zwischen Gegenständen („Zweck“, „Ort“, „Kau¬ 
salität“, „Zahl“), zu denken. Und so gewiß alle diese Gedanken der 
konkreten Vorstellungen als ihrer Materialien bedürfen, so gewiß sind 
sie doch selbst abstrakte, unanschauliche — trotzdem durchaus ein¬ 
deutige — Bewußtseinsinhalte. Das gleiche gilt von den Urteilen: 

Sie entstehen erst, wenn ich zu den Vorstellungen oder Vorstel¬ 
lungsverflechtungen die positive oder negative Intention, die Überzeugung von 
Existenz oder Nichtexistenz des Gedachten füge. Aber der Unterschied zwi¬ 
schen Vorstellen und Denken liegt nicht nur auf dem Gebiete der Bewußt¬ 
seinsphänomene als solchen, auch die Tätigkeit, welche die Psyche hier 
und dort vollführt, ist ganz verschiedener Natur. Die Verknüpfungen und 
Abläufe des Vorstellungslebens sind wesentlich passiv: Eindrücke wirken nach. 
Vorstellungen treten zusammen zu Komplexen, diese Verbindungen festigen 
sich durch häufige Wiederholung — alles Vorgänge, die gleichsam von selber 
ablaufen, denen das Ich mehr als Zuschauer gegenübersteht. Nun gibt es*aber 
ein ganz anderes Verhalten: über jenem Vorstellungsgetriebe steht eine aktive 
Energie, welche zwischen den Vorstellungen wählt, um an diese oder jene die 
intentionale Beziehung anzuheften, welche ferner im Hinblicke auf ein erst zu 
erreichendes Ziel (die „Aufgabe“) unter den unzähligen möglichen Assoziatio¬ 
nen eine bestimmte in Wirksamkeit treten läßt und andere zurückdrängt, 
welch** endlich nicht nur vorhandene Verknüpfungen verwertet, sondern nie 
zusammen dagewesene Bewußtseinselemente erstmalig synthetisch vereinigt zu 
einem Gedanken. Alle diese aktiven Leistungen: Wahl, Determination, Hem¬ 
mung, Synthese sind uns ja auch schon anderwärts begegnet, (z. B. bei der 
konstruktiven Phantasie): sie aber führen dann zur „Denk“tätigkeit, wenn die 
Intention auf objektive Gültigkeit des Ergebnisses den Prozeß begleitet und 



11 


bestimmt. Hierbei ist wichtig, daß das Ergebnis erst ein zu erzielendes, also 
gegenüber den vorhandenen Gedanken und Vorstellungen des Individuums 
neu ist; alles Denken ist ein Hinausgehen über das Gegebene. Sobald die 
Bewußtseinsbewegung lediglich Wiederholung früherer Bewußtseinsprozesse ist, 
liegt nicht Denken, sondern reproduktives Vorstellen vor; daher kommt es, 
daß ähnliche Prozesse in ihrer Äußerungsweise die logische Form von Denk¬ 
akten zeigen können, ohne psychologisch solche zu sein. Hierin liegt eine 
große, meist nicht genügend beachtete Schwierigkeit der psychologischen 
Analyse. 

Der (auf Gegenstandserstellung resp. auf objektive Gültigkeit des Denk¬ 
ergebnisses gerichtete Gedanke, also) „intentionale“ Gedanke als Bewußtseins¬ 
element und das Beherrschen der Bewußtseinsbewegung durch aktives Hin¬ 
streben auf neue Intentionen — das sind die beiden psychologischen Grund¬ 
merkmale alles Denkens. 

S. 270/271: In allem Fühlen und Wollen bekundet sich — weit entschie¬ 
dener als im Vorstellen und im Denken — das Ich in seiner Ganzheit; 
Gemütsbewegung und Willensakt sind Verhaltungsweisen der lebendigen Ich- 
einheit gegenüber einem Objekt, das zu ihr in Beziehung tritt. Diese Tätigkeit 
des Ich aber ist „alternativ“, d. h. bewegt sich zwischen den zwei entgegen¬ 
gesetzten Polen der Zuwendung oder Abwendung: sie ist daher am besten als 
„Stellungnahme“ zu bezeichnen; die Stellungnahme des Erlebens führt zu den 
beiden Gefühlsrichtungen der Lust und der Unlust; die Stellungnahme des Han- • 
delns führt zu den beiden Wlllensrichtungen des Hinstrebens (Begehrens) und 
Widerstrebens (Abwehrens). Auch das Urteil gehört mit seinem Bejahen und 
Verneinen, Billigen und Mißbilligen in die Kategorie der Stellungnahme. Das 
einheitliche Individuum ist nicht nur psychisch, sondern auch phy¬ 
sisch. In der Tat erstreckt sich das Stellungnehmen ungeschieden auf diese 
beiden Seiten der Persönlichkeit; die Beschränkung der Betrachtung auf das 
„nur Psychische“ wäre eine künstliche Isolation. So gehört zum Gemütsaffekt 
der Furcht die körperliche Bewegung des Zurückweichens, Schreiens, Er¬ 
blassens. ebenso wie das Bewußtseinsphänomen des „Furchtgefühls“; zu irgend¬ 
einer Willenshandlung gehört die äußere Tat, eine bestimmte Innervation (oder 
Hemmung) der Gliedmaßen, ebenso wesentlich wie das Bewußtseinsphänomen 
der Entscheidung. Der Form nach haben wir zu trennen: Reaktive und 
spontane Stellungnahme. Das Stellungnehmen tritt auf als Reaktion, wenn 
ein äußeres Objekt erst den Anreiz dazu gibt, daß das Individuum sich positiv 
(lustvoll, begehrend) oder negativ (unlustvoll, abwehrend) verhält. Spontan ist 
dagegen die Aktion, wenn sie aus dem Innern des Individuums quellend ihr 
Objekt erst selber sucht. Beim Reagieren ist der Mensch gebunden an die 
seiner Machtsphäre entzogene Wirklichkeit der äußeren Verhältnisse; in der 
Spontaneität ist sein Stellungnehmen frei, d. h. nicht ursachlos, sondern be¬ 
stimmt durch die immanente Zielstrebigkeit seiner eigenen Persönlichkeit. 

In dieser Schärfe ist nun freilich die Gegenstellung von Reaktion und Spon¬ 
taneität, in der Wirklichkeit nie vorhanden; denn jede Stellungnahme, die der 
Mensch vollzieht, ist sowohl von äußeren wie von inneren Bedingungen ab¬ 
hängig. Die Reaktion ist um so reiner, je mehr die augenblickliche 
Konstellation der Lebensbedingungen die Stellungnahme bestimmt; die 
Spontaneität ist um so reiner, je mehr eine über den Augenblick hinausgehende 
innere Beschaffenheit des Individuums der Stellungnahme das ent- 



12 


scheidende Gepräge aufdrückt. Die seelische Entwicklung zeigt hier in dein 
allmählichen Wachsen des spontanen Anteils eine ganze Stufenleiter von 
Phasen. 

Zu jeder Reaktion gehört ein Reiz, der sie auslöst. Zwischen Reiz und 
Reaktion herrscht normalerweise ein Zweck Zusammenhang, in dem die 
Reaktion diejenige psychische oder physische Stellungnahme zum Reiz bedeu¬ 
tet, die im Sinne der Lebenserhaltung des Individuums liegt. Dabei braucht 
zwischen beiden Gliedern des Zweckzusammenhangs keine Ähnlichkeit zu be¬ 
stehen. Der Stich einer Nadel und die Gefühlsreaktion des Schmerzes haben 
keine Ähnlichkeit miteinander, ebensowenig der Anblick eines Kuchens und 
die Willensreaktion des Zugreifens. Die meisten Reaktionen gehören dieser 
,.h eterogene n“ Form an, namentlich beim Erwachsenen. Daneben aber 
gibt es eine Gruppe der ..homogenen Reaktionen“, die zwar weniger umfang 
reich, aber doch von größter Bedeutung ist. insbesondere in der Kindheit. Bei 
ihnen besteht die Tendenz, den Inhalt des Reizes in ähnlicher 
Weise zu wiederholen. 

Nun kann sich die homogene Reaktion sowohl auf die physische, wie 
auf die psychische Seite des Stellungnehmens erstrecken. Der erste Fall ist uns 
bekannt genug, es ist die Nachahmung körperlicher Tätig¬ 
keit, deren Bedeutung uns beim Sprechen. Spielen und anderwärts begegnet. 
Der zweite Fall ist die S u g g e s t i o n , die in der Tat auch nichts anderes 
ist als Nachahmung, aber ein Nachahrnen psychischer Stellungnahme. 

(Anm. Max L ö w v: Hierzu möchte ich bemerken, daß ich 1911 die Ein¬ 
fühlung als bewirkt durch M i t b e w r e g u n g e n bei Ausdrucksbewegungen 
anderer oder sonstigen Bewegungen in der Außenwelt erklärt und in unseren 
Mitbewegungen die retrograd-assoziativ wirksame Ursache unseres Mittulikvis, 
Mitlachens, Mitweinens, Mitgähnens, ja in letzter Linie des Verständnisses der 
Außenwelt überhaupt gesucht habe. Weiter habe ich (1918: Über Hypnose etc.) 
zeigen können, daß die suggestive Einwirkung mit Hilfe von „8 i g n a l e n“ 
(Worten oder willkürlich gegebenen Stellungen, z. B. des Gefesselten, des Ge¬ 
kreuzigten etc. oder durch Gesten als Zeichen) die Erweckung von Mitbewe¬ 
gungen, Sensationen, Zuständlichkeiten, Gemütslagen des Hypnotisierten auf 
retrograd - assoziativem Wege anstrebt. Wir benützen also beim Hyp¬ 
notisieren und Suggerieren unseren Apparat der Ausdrueksbew'egungen und 
den Mitbewegungs- und Einfühlungsapparat des Hypnotisierten, wie wir zum 
eigenen Einfühlen und Verstehen unseren eigenen Mitbewegungsapparat 
gebrauchen.) 

Vergleichen wir weiter in dieses Gebiet der Denkpsychologie 
Gehöriges aus der „Allgemeinen Psychopathologie 14 von Karl 
Jaspers, II. Aufl., Berlin 1920, bei Springer, vorerst im Kapitel 
Bewußtseinszustand. 

S. 92, 93: Das Ganze des m o m e n t a n e n Seelenlebens nennen wir 
Bewußtsein. Bildlich stellen wir uns das Bewußtsein gewissermaßen als 
die Bühne vor, auf der die einzelnen seelischen Phänomene kommen und gehen, 
oder als das Medium, in dem sie sich bewegen. Dies Bewußtsein, das 
jedem psychischen Phänomen als psychischem eigen ist, wechselt seine Art auf 
sehr mannigfache Weise. Im Bilde gesprochen wird z. B. die Bühne sehr eng 
(Bew’ußtseinsenge), «las Medium trübe (Bewußtseinstrübung) usw. 



13 


Schon unser augenblickliches Bewußtsein ist kein gleichmäßiges. 
Wir veranschaulichen uns diese Verschiedenheit im Bewußtseinsgrad der ein¬ 
zelnen Elemente am besten durch eine Welle. Nur e i n G i p f e 1 ist im 
klarsten Bewußtsein, von da ab zieht sich nach allen Seiten eine Reihe weniger 
bewußter Phänomene, die wir meistens gar nicht bemerken. Um den Blick¬ 
punkt des Bewußtseins lagert sich ein nach der Peripherie hin immer dunkler 
werdendes Blickfeld. Bei planmäßiger Selbstbeobachtung kann man diese 
Bewußtseinsgrade (d. i. Aufmerksamkeitsgrade. Bewußtseinsstufen) unter¬ 
suchen. Damit psychische Phänomene als bewußte angesprochen werden kön¬ 
nen. müssen sie irgendwann auch bemerkbar sein. Wir werden uns hüten, 
u n b e in e r k t e Vorgänge mit außerbewußten zu verwechseln. Das 
Bewußtsein hat nämlich zweierlei Bedeutung: Das wirkliche psychi¬ 
sche Dasein und das Wissen um das Dasein eines seelischen Phä¬ 
nomens bei sich. 

(Anm. MaxLöwy: Hierzu möchte ich bemerken, daß wir als vollbewußt 
nur das wirklich Bemerkte anerkennen dürfen, und daß, wie ich seinerzeit 
(„Aktionsgefühle“, 1908) ausführte, das Kennzeichen und charakteristische Vor¬ 
zeichen des Bemerkens durch ein Gefühl (eine Bewußtheit) des psychisch Tätig¬ 
seins bei dem betreffenden Akte (beim Erleben eines Inhalts) dargestellt wird. 
Zwar kann dieses „Denkgefühl“ (Fühlen des psychischen Agieren») auch fehlen 
und trotzdem der betreffende Inhalt vollbewußt erlebt werden. Er erscheint 
aber dann als fremd, entfremdet (vgl. die von W e r n i c k e so genannten 
autoehthonen Ideen und die Entfremdung der Wahrnehmungswelt in der De¬ 
personalisation). Dieses Denkgefühl meiner Nomenklatur entspricht wohl dem, 
was Jaspers als „das Wissen um das Dasein eines seeli¬ 
schen Phänomens bei sic h“ bezeichnet und ist das, was neuerdings 
,.I c h a k t i v i t ä t im Erleben“ genannt wird. [Kronf eld, 1922]). 

S. 89: Ist beim Menschen der Gesamtzustand des Seelenlebens im großen 
und ganzen intakt — Menschen, die im übrigen schwerste psychische Störun¬ 
gen: Wahnideen, echte Halluzinationen, Umwandlung ihrer Persönlichkeit usw. 
«larbieten können, so pflegen wir zu sagen, der Kranke ist besonnen. Be¬ 
sonnenheit nennen wir den Bewußtseinszustand, in dem bei Abwesen¬ 
heit eines intensiveren Affektes die Bewußtseinsinhalte die durch¬ 
schnittliche Klarheit und Deutlichkeit besitzen, der Ablauf des 
seelischen Lebens geordnet und von Zielvorstellungen abhängig ist. O b - 
j e k t i v e Zeichen der Besonnenheit sind die Orientiertheit, („das 
präsente Bewußtsein der geordneten Totalität seiner individuellen Welt“), und 
die Fähigkeit, sich auf Fragen hin zu besinnen, und sich etwas zu m e r - 
k e n. Dieser Bewußtseiuszustand ist der für eine Beziehung zu anderen Men¬ 
schen. für ein gegenseitiges Verständnis geeignetste. Mit zunehmender Ver¬ 
änderung des seelischen Gesamtzustandes wird es uns immer schwieriger, uns 
mit den Kranken in Beziehung zu setzen. Nur in dem Maße, als dies über¬ 
haupt möglich ist. können wir in unmittelbarem Miterleben 
Kenntnis über ihre inneren Vorgänge bekommen. Bedingung einer geistigen 
Beziehung zwischen uns und dem Kranken ist seine Fixierbarkeit. Wir nennen 
Fixierbark eit die Fähigkeit, auf Fragen und Aufgaben so zu reagieren, 
daß aus der Reaktion das Verständnis der Aufgabe mit Sicherheit hervorgeht. 
Während der normale Mensch für alle Aufgaben fixierbar ist. nimmt diese 
Fi xierbarkeit mit der Veränderung des seelischen Gesamtzustandes 



14 


immer mehr ab. Die Kranken reagieren nicht mehr verständlich auf eine 
Frage, es gelingt aber vielleicht noch, auf eindringliche wiederholte Fra¬ 
gen zuweilen eine Reaktion hervorzurufen. Sie sind durch leichte und be¬ 
langlose Fragen, wie nach Persönlichkeit, Herkunft, Ort, noch fixierbar, 
auf schwierigere Aufgaben, auf Fragen nach ihren Ideen, gehen 
sie nicht mehr ein. Sie sind vielleicht noch für optische Reize (Bilder) 
fixierbar, antworten aber nicht mehr auf sprachliche Reize. 

S. 34 im Kapitel: Das Gegenstandsbewußtsein. „G e g e n s t a n d“ im wei¬ 
testen Sinne nennen wir alles, was uns gegenübersteht, alles, was wir mit dem 
inneren, geistigen Auge oder mit den äußeren Augen der Sinnesorgane vor uns 
haben, erfassen, denken, anerkennen, alles, auf das wir als auf ein Gegen¬ 
überstehendes innerlich gerichtet sein können, mag. dies nun wirklich 
oder unwirklich, anschaulich oder abstrakt, deutlich oder undeutlich sein. 
Gegenstände sind uns gegenwärtig entweder in Wahrnehmungen oder 
in Vorstellungen. In den Wahrnehmungen steht der Gegenstand leib¬ 
haftig (andere Ausdrücke: als „fühlbar gegenwärtig“, mit dem Gefühle 
lebendigen Ergriffenseins, mit Objektivitätscharakter) in den Vorstellungen 
bildhaftig (als abwesend, * mit Subjektivitätscharakter) vor uns. Bei Wahr¬ 
nehmungen sowohl wie bei Vorstellungen unterscheiden wir drei Elemente: Das 
Empfindungsmaterial (z. B. rot, blau, Ton in der Höhe c usw.), 
räumliche und zeitliche Ordnung und den intentionalen Akt. 
Das Empfindlingsmaterial wird durch den Akt gewissermaßen beseelt, gewinnt 
erst durch ihn Gegenständlichkeit und Bedeutung, ist uns durch ihn ein be¬ 
stimmter Gegenstand in bestimmter Weise. Man nennt diesen Akt auch Ge¬ 
danken, Bedeutungsbewußtsein, Worte, die die Umgangssprache meistens im 
anderen Sinne gebraucht (Gedanke — Urteilsinhalt, Bedeutungsbewußtsein — 
Bewußtsein von der Bedeutung eines Zeichens oder eines Symbols, z. B. eines 
Wortes). Es besteht nun weiter die phänomenologische Tatsache, daß diese 
intentionalen Akte auch ohne die Basis von Empfindungsmate¬ 
rial Vorkommen. Uns kann etwas ganz unanschaulich gegenwärtig 
sein als ein bloßes Wissen um etwas, z. B. bei schnellem Lesen. Wir haben den 
Sinn der Worte durchaus deutlich gegenwärtig, ohne uns die gemeinten Gegen¬ 
stände anschaulich vorzustellen. Dieses unanschauliche Gegenwärtighaben 
eines Inhaltes nennt man Bewußtheit. Diese kann wiederum entweder 
entsprechend der Wahrnehmung eine leibhaftige sein, wenn wir z. B. 
hinter uns „jemand“ gegenwärtig wissen, ohne ihn wahrzunehmen und ohne ihn 
vorzustellen (man nennt das in der Umgangssprache, man habe ein „Gefühl“, 
daß jemand da sei), oder sie kann entsprechend der Vorstellung eine bloß 
gedankliche Bewußtheit sein, wie die meist vorkommenden. In den bis¬ 
her gemeinten Wahrnehmungen, Vorstellungen und Bewußtheiten sind uns 
einzelne konkrete Gegenstände gegenwärtig. Außerdem haben wir im 
Gegenstandsbewußtsein: Beziehungen, Sachverhalte, Richtigkeit und Unrichtig¬ 
keit, Realität usw. Die psychischen Phänomene, in denen uns solche Dinge 
klar gegenwärtig sind, nennen wir Gedanken und Urteile. Der Inhalt 
solcher Urteile kann auch in rudimentärer Form — man pflegt dann wiederum 
gern von „Gefühlen“ zu reden — als bloßes „Wissen“ gegenwärtig sein. Auch 
dieses unformulierte, nicht geklärte, sondern unmittelbare gewissermaßen naive 
Wissen nennt man Bewußtheit. 

Wahrnehmungen, Vorstellungen, Bewußtheiten, Urteile sind seelische 
Phänomene, bezeichnen die D a s e i n s \\ e i s e , in der uns Gegenstände 



15 


gegenwärtig sind. Nach dem Inhalt betrachtet sind uns in allen diesen 
Formen die Welten des Gegenständlichen bewußt: 1) die sinnliche Welt, 
das Greifbare, Sichtbare, Hörbare, 2) die seelische Welt, das in der sinn¬ 
lichen Erscheinung verstandene, uns unmittelbar zu vergegenwärtigende seeli¬ 
sche Leben der Menschen und 3) die Welt der Werte, der Forderungen, die 
uns entgegentreten (Wahrheit, Schönheit, Sittlichkeit usw.). Bei der Beschrei¬ 
bung des seelischen Lebens ist uns die Erfassung der Inhalte, die be¬ 
stimmte Menschen haben, Hilfsmittel, ebenso wie die Messung 
dieser subjektiven Inhalte der einzelnen an den objektiven, allgemein gültigen 
Inhalten, die Gegenstand anderer Wissenschaften sind. Je nach dem augen¬ 
blicklichen Gesichtspunkt — ob man an die Art der Gegebenheit oder 
an den Inhalt denkt, sind die inhaltlichen oder die phänomenologischen 
Untersuchungen nebensächlich. Dem Kranken sind durchweg die In¬ 
halte das allein Wichtige. Auf die Art der Gegebenheit vermögen sie sich 
oft gar nicht zu besinnen: Sie werfen Halluzinationen, Pseudohalluzjnationen, 
Wahnbewußtheiten usw. durcheinander, da sie so „nebensächliche“ Dinge nie 
unterschieden haben. Es scheint, daß viele Kranke auch dieselben Inhalte in 
schneller Zeitfolge in den verschiedensten phänomenologischen Gegebenheits- 
formen vor dem geistigen Auge haben können. Indem so in einer akuten 
Psychose etwa derselbe Eifersuchtsinhalt in den verschiedensten Formen wie¬ 
derkehrt, könnte man sehr mißverständlich von „Übergängen“ zwischen den 
verschiedenen Formen reden. Diese allgemeine Wendung von den 
„Übergängen“ ist das Ruhekissen der Denk- und Analysierfaulheit. Wohl ist es 
richtig, daß das individuelle momentane Erlebnis sich aus vielen Komponenten 
zusammensetzt: daß z. B. ein halluzinatorisches Erlebnis von dem 
eigentümlichen Evidenzerlebnis des Wahns durchsetzt ist, daß dann die sinn¬ 
lichen Elemente immer mehr abnehmen können und daß man im individuellen 
Fall oft nicht feststellen kann, ob solche vorhanden waren und wie sie vor¬ 
handen waren. Die klaren Unterschiede der Phänomene, die phänomenolo¬ 
gischen Abgründe (z. B. zwischen Leibhaftigkeit und Bildhaftigkeit) im 
Gegensatz zu den phänomenologischen Übergängen (z. B. von Bewußtheit 
zur Halluzination) bleiben darum bestehen. Diese Unterschiede klar zu er¬ 
fassen, zu vermehren und zu ordnen ist hier eine wissenschaftliche Aufgabe, die 
allein uns zur Analyse der Fälle verhelfen kann. Das Reden von den „Über¬ 
gängen“ führt zur Versumpfung in den allgemeinsten Kategorien. 

In der gesamten Wahrnehmung unterscheiden wir: 1) Empfindungs¬ 
eieinente, 2) räumliche und zeitliche Ordnung und 3) den vergegenständlichen¬ 
den Akt. Sind bei gleichbleibendem, d. h. denselben realen Gegen¬ 
stand meinendem Akt Empfindung oder räumliche und zeitliche Ordnung oder 
gewisse an der Wahrnehmung hängende allgemeine Charaktere abnorm, spre¬ 
chen wir von Wahrnehmungsanomalien, meint dagegen dieser 
vergegenständlichende Akt einen neuen, gar nicht realen Gegenstand, so 
sprechen wir von Trugwahrnehmungen. 

(Anm. Max Löwy: Die Ablehnung von Übergängen in der Gegeben¬ 
heitsweise seitens Jaspers erscheint mir zu scharf und zu rein auf die d e - 
skripti ve Betrachtung des Oberbewußten gestellt. Nehmen wir 
aber an, daß den fertigen und differenten „bewußten 14 Phänomenen ein gemein¬ 
samer Unterbau, die von mir postulierte und noch zu erörternde intermediäre 
psychische Schicht zugrunde liegt, dann werden wir Übergänge von Sympto- 



men aus derselben Einstellung und psychischen Situation nicht ohne weiteres 
ablehnen und vielleicht verstehen können, warum die Kranken Gegebenheits¬ 
weisen durcheinander werfen und einen Inhalt in schneller Zeitfolge in den 
verschiedensten Gegebenheitsweisen erleben können.) 

Hören wir noch Hermann E b b i n g h a u s ..Abriß der 
Psychologie (VII. Aufl., durchgesehen von Prof. Karl BUhler, 
Dresden. 1920, Berlin u. Leipzig). 

S. 104: In jedem Augenblick ihres wachen Daseins wird der Seele eine 
große Fülle äußerer Eindrücke zugetührt. Auge und Ohr, die Haut und die 
übrigen Sinne sind unausgesetzt tätig, sie über die Vorgänge der Außenwelt 
und die Veränderungen ihres eigenen Körpers auf dem Laufenden zu erhalten. 
Aber was sie nun tatsächlich erlebt, als Resultat der empfangenen Einwirkun¬ 
gen, ist vermöge der ihr eigenen Gesetzmäßigkeiten sehr erheblich verschieden 
von der Summe der Empfindungen, die durch jene äußeren Reize an und für 
sich hervorgerufen werden können, d. h. von dem, was der Seele zum Bewußt¬ 
sein kommen würde, wenn sie bloß eine sinnliche Organisation besäße. Es ist, 
freilich unter hervorragender Beteiligung solcher peripher bedingter Empfindun¬ 
gen. doch zugleich mitbestimmt durch die ganze übrige Gesetzmäßigkeit des 
Seelenlebens und gewinnt dadurch in mehrfacher Hinsicht einen besonderen 
Charakter. Im Unterschied von dem bloß absolut gedachten Empfinden (das 
aller in Wirklichkeit kaum vorkommt) sei dieses tatsächliche Erlebnis als 
W a lirne h m u n g bezeichnet. 

Vergleichen wir hiermit Einschlägiges aus W i 11 i a m Ja m e s 
„Psychologie“, deutsch von Dr. Al a r i e Dürr, 2. Aufl., 1920. 
Leipzig, S. 169, 170. 

Um von unten anzufangen, was sind unsere Sinne selbst anderes als 
Selektionsorgane? Aus dem unendlichen Chaos von Bewegungen, die — wie 
die Physik uns lehrt — die Außenwelt ausmachen, faßt jedes Sinnesorgan die¬ 
jenigen auf, welche innerhalb gewisser Geschwindigkeitsgrenzen liegen. Auf 
diese spricht es an und ignoriert alle anderen so vollkommen, als ob sie nicht 
existierten. Aus dem. was an sich ein ununterscheidbares, ineinander fließen¬ 
des. nirgends besondere Stützpunkte bietendes Kontinuum ist, machen 
unsere Sinne dadurch, daß sic diese Bewegung beachten und jene ignorieren, 
für uns eine Welt, voll von Kontrasten, scharfen Akzenten, jähem Wechsel, 
pittoresken Licht- und Schattenwirkungen. Wenn die Empfindungen, die uns 
ein gegebenes Organ vermittelt, auf diese Weise bereits eine Auswahl bedeu¬ 
ten, indem die Bildung der Sinnesnervenendigungen nur bestimmte Vorgänge 
als Bedingungen derselben zuläßt, so wählt Aufmerksamkeit wiederum aus allen 
ihr zugestellten Empfindungen gewisse als ihrer Beachtung würdig aus und 
unterdrückt alle übrigen. Wir beachten nur jene Empfindungen, welche 
Zeichen für uns sind von I) i n g o n . die uns praktisch oder ästhetisch 
interessieren, denen wir deshalb substantivische Namen geben und denen wir 
sonach (‘ine gewisse Ausnahmestellung in bezug auf Unabhängigkeit und Be¬ 
deutung gewähren. Aber an sich — abgesehen von meinem Interesse — ist eine 
einzelne Staubwolke ein genau ebenso individuelles Ding und verdient 
ebenso oder ebensowenig einen individuellen Namen, wie mein eigener Leib. 



17 


(Anm. Max Lö w y: Wir bemerken vor allem und primär was uns an¬ 
geht. unsere Bedürfnisse lehren uns Wahrnehmung und Unterscheidung. Und 
das gilt wohl auch für die sprachlichen Entäußerungen. Das Mummeln des 
gesättigten Säuglings wird sowohl zum Zeichen für die Triebstillung, wie für die 
Triebregung und Triebhandlung des Saugens, wie für das Triebziel, die Trieb¬ 
repräsentanz — die Mutterbrust —, wie für die eigene Zuständigkeit der 
Sättigung wie für die Eigenschaft des Triebzieles gut zu schmecken. Sonach 
werden Triebregung (Strebung), Triebhandlung (Saugen), Triebstillung (Zu- 
ständlichkeit des Behagens) Triebziel und Triebrepräsentanz (Mutterbrust und 
Mutter und zugleich die Eigenschaft gut zu schmecken: Zuständlichkeit, Gegen¬ 
ständlichkeit. Eigenschaft und Handlung primär zusammen im befriedigten 
Mummeln des Säuglings ausgedrückt. Und es scheint mir, daß nicht ohne 
Grund in allen Sprachen, die ich kenne, die Mutterbenennung M-Laute enthält: 
rnamina. Mama (alma mater), und im Arabischen umm, bedeuten Mutter.) 

E h h i n g h a u s . S. 105: In jedem Wahrnehmungsakt kommt zunächst 
v i e 1 w e n i g e r zum Bewußtsein, als nach den jeweilig auf die Seele einwir- 
kcndin objektiven Reizen an sich möglich wäre. Je nach dem Gefühlswert der 
Einwirkungen, »len bisherigen Erfahrungen der Seele, den sie augenblicklich 
erfüllenden Gedanken machen sieh einzelne Inhalte vorwiegend geltend, auf 
Kosten zahlreicher anderer, deren objektive Ursachen gleichfalls vorhanden 
dud und die Sinnesorgane affizieren. Nur einen kleinen Teil der Dinge, die 
>i* li in jedem Momente auf meiner Netzhaut abbilden, nehme ich mit vollem 
Bewußtsein wahr und auch diese nur nach einigen ihrer Eigentümlichkeiten, 
und wenn ich nun gerade sichtbare Dinge wahrnehme, dann bleiben die gleich¬ 
zeitig hörbaren oder tastbaren gänzlich unbeachtet. Namentlich das für die 
Zwerke des täglichen Lebens in Betracht kommende, das praktisch Inter¬ 
essierende. wird so begünstigt, das praktisch Unwichtige dagegen vernachläs¬ 
sigt. Die verschiedenen Schattierungen eines faltenwerfenden Gewandes wer- 
«len in der Regel wenig bemerkt. Das Bewußtsein, daß das Gewand durchweg 
aus ..demselben 44 Stoffe besteht, ist praktisch wichtiger und überwiegt. Manche 
überaus alltäglichen Dinge wie Nachbilder, Obertöne, Differenztöne bleiben so 
wegen ihrer geringen praktischen Bedeutung den meisten Menschen ihr ganzes 
Leben lang unbekannt. 

Dafür aber enthält die Wahrnehmung andererseits viel mehr als nach 
den einwirkenden, objektiven Reizen allein möglich wäre; die Seele bereichert 
und durch webt die rein sinnlich für sie sich durchsetzenden Eindrücke so¬ 
gleich mit mannigfachen Vorstellungen auf Grund ihrer früheren Erfahrungen. 
Was sie unter ähnlichen Umständen wie den gegenwärtigen früher regelmäßig 
oder überwiegend häufig erlebt hat, denkt sie jetzt ausdeutend in das Sinnlich- 
Gegebene hinein oder ergänzend zu ihm hinzu, um so lebhafter und zwangs- 
müßiger. je häufiger jene Erfahrungen gewesen sind. So sehen wir den Din¬ 
gen ohne weiters an, wie sie sich anfassen oder wie sie schmecken, ob sie heiß 
oder kalt, rauh oder glatt, schwer oder leicht sind; obwohl die sinnlichen Augen 
»las natürlich gar nicht lehren können. Überhaupt alles Kennen der Dinge, 
ihrer Eigenschaften und ihrer Namen, alles Verstehen ihrer Bedeutung und 
ihres Gebrauches, besteht in nichts anderem als in dem Hinzudenken früher 
durch die verschiedenen anderen Sinne von ihnen gewonnener Eindrücke. Wie 
stark der Zwang dieses Hinzudenkens ist, lassen die Zeichnungen von Kin¬ 
dern und manchen primitiven Völkern deutlich erkennen. 

L. o e w y , Dementia praecox. (Abhandlungen H. 20.) 2 



18 


S. 107. In der Wahrnehmung kommt uns auch (wie z. B. durch den 
Anblick einer verkehrt gehaltenen Zeitung oder eines auf dem Kopfe stehenden 
Bildes oder einer Landschaft zwischen den eigenen Beinen hindurch bewiesen 
wird) eine ganz andere Gliederung der Dinge zum Bewußtsein als die bloßen 
Empfindungsreize bewirken würden. Wir fassen die Reizgruppen zusammen¬ 
fassend und sondernd auf, nicht mehr nach den ihnen unmittelbar anhaftenden 
und in mancher Hinsicht nebensächlichen Eigentümlichkeiten, sondern nach 
ihrer Zusammengehörigkeit, d. h. nach Verbänden, in denen 
sie regelmäßig zusammen vo.r zukommen pflegen. 

S. 107, 108: Die anscheinend so einfache und rein passive Aufnahme der 
äußeren Eindrücke in die sinnliche Wahrnehmung ist also in Wahrheit ein 
recht verwickelter Vorgang. Die ganze Seele steckt dahinter und betätigt 
in dem Akte der Aufnahme zugleich durch Auslese, Bereicherung und Gliede¬ 
rung des objektiv Gegebenen ihre Eigenart und deren Gesetzmäßigkeit. In 
diesen Vorgängen besteht das, was man vielfach als A p p e r z e p t i o n 
bezeichnet. Nur ist leider der Gebrauch dieses Wortes kein übereinstimmender. 
Die einen verwenden es vorwiegend oder ausschließlich für die auslesende 
und hervorhebende, die anderen für die bereichernde oder ergänzende Betäti¬ 
gung in dem Wahrnehmungsvorgang und auch dies wieder je mit verschiede¬ 
nen Nuancierungen der Bedeutung. Da nun überdies das Wort dem allgemeinen 
Sprachgebrauch völlig fremd geblieben ist, empfiehlt es sich statt seiner den 
verständlicheren Ausdruck Auffassung anzuwenden. (S. 108.) 

Ohne die verschiedenen hier angeführten psychologischen Lehren 
des weiteren zu diskutieren, wollen wir ihnen entnehmen, daß Er¬ 
scheinungswelt und Innenwelt nicht so einfach sind, wie sie sich in 
der traditionellen Lehre seinerzeit dargestellt haben, und wie sie im 
Oberbewußtsein erscheinen. Unsere Aufgabe besteht zum Teil nun 
darin, zu untersuchen, was es bewirkt, daß unser Oberbewußtes uns 
so w r enig entscheidende Auskunft über seine eigenen Grundlagen und 
seine Herkunft gibt und die Psychologie zu so verschiedenartigen 
Lehren und Richtungen kommen ließ (von denen jedoch nur das 
hier beigebracht wurde, was uns für unsere Aufgabe direkt oder 
vergleichsweise nützlich werden kann). 

Ein Teil dessen, was uns von dem oben angeführten Normal¬ 
psychologischen nützlich werden kann, berührt sich mit A. v. 
Tschermacks Lehre „Vom exakten Subjektivismus in der 
neueren Sinnesphysiologie“ (vgl. seine gleichnamige Schrift, 1921. 
Berlin, bei Springer) S. 19: 

Bei kritischer durch sinnesphysiologische Beobachtungen geschulter 
Analyse gelangen wir auf dem Gesamtgebiete der allgemeinen Reiz- und Erre 
gungslehre zu der hier nur ganz kurz formulierten Erkenntnis, daß die Erre¬ 
gung (bzw. ihr psychisches Korrelat: Die Empfindung) sowohl von physika¬ 
lischen wie von physiologischen, evtl, auch von psychologischen Faktoren 
bestimmt wird. Sie stellt eben nicht bloß eine Funktion der physikalischen 
Qualität. Intensität, Dauer und Verlaufsform des Reizes dar, sondern auch 



19 


oine Funktion der spezifischen Energie (gegeben durch die systematische 
Spezifizität wie durch die Differenzierungsspezifizität) des jeweiligen Zustandes 
des gereizten Organs, evtl, auch der in demselben bestehenden Kontrast¬ 
wirkung. Unsere Sinnesorgane erweisen sich — analog jenen der Tiere — 
nicht als Instrumente des Wahrnehmens und Erkennen», sondern zunächst 
als Behelfe der praktischen Orientierung. Allerdings be¬ 
nutzen wir sie, veranlaßt von unserem immanenten, elementaren Wahrheits- 
bedürfnis, zugleich als „indirekte“ Beobachtungs- und Untersuchungsinstru¬ 
mente. Nicht mit Zuleitungsröhren für Außenenergie, sondern mit Transfor¬ 
matoren. besser noch mit Detektoren oder Alarmsignalen dürfen wir die Sinnes¬ 
organe vergleichen. Weder sind die Reizvorgänge, speziell die Lichtschwin- 
gungen, in unserem Gehirn oder Bewußtsein, noch sind die Empfindungen, so 
die Farben und Töne in der Außenwelt. In beiden Fällen würde nicht das 
erreicht, was durch die Scheidung beider Gebiete erzielt wird: die praktische 
Orientierung entsprechend den Bedürfnissen des Alltags! 

S. 20: Eine „formale Objektivität“ wird vom exakten Subjektivismus wohl 
den an sich unerkennbaren Außendingen, nicht aber den Sinnesqualitäten zuer¬ 
kannt; diesen kommt nur „fundamentale oder ursächliche Objektivität“, d. h. 
physiologische Verursachung, zu. 

S. 20: Der exakte, physiologisch begründete Subjektivismus löst nicht 
..das Objektive ins Subjekt“ auf, führt auch nicht zum vollständigen „Idealis¬ 
mus und Skeptizismus“. Für ihn ist nicht „die Sonne ein finsterer Ball“ und 
..lügen nicht die Blumen und Schmetterlinge ihre Farben, die Geigen ihren 
Ton** (F echner). Vielmehr reagieren wir nach dieser Auffassung auf die 
objektiven Reize dieser objektiven Reizquellen mit physikalisch-physiologisch 
gestimmten subjektiven Empfindungen. Der exakte physiologische Subjekti¬ 
vismus entspricht eben voll und ganz der Praxis des Lebens! 

Hierzu vgl. am Schlüsse dieses Kapitels noch einiges über „G e s t al¬ 
te n p s y c h o 1 0 g i e“. 


Und nun zur Entwicklung der eigenen Anschauungen. Wie alles 
Geschehen, ist für uns auch das psychische Geschehen eine Ver¬ 
änderung, eben hier des Psychischen. Mit jedem Erleben werden wir 
irgendwie anders. Wir? Wer wird anders, müssen wir fragen: Das 
Ich, lautet die Antwort. Was ist aber das Ich, müssen wir weiter 
fragen. Dies ist auch die große Frage der Psychologie. 

Vorerst können wir an der Hand eben der erlebten Verände¬ 
rungen etwas darüber erfahren. Beim psychischen Ge¬ 
schehen wird nebst anderem vorerst eben ein Ge¬ 
schehen, ein Anderswerden, eine Gemeinempfin¬ 
dungsänderung erlebt. Und in einem Teil der 
Erlebnisse wird sie von uns auf einen Zusam¬ 
menstoß mit „etwas anderem außer uns Ange¬ 
nommenem“ zurückgeführt, auf das. was darnach 



20 


als „Äußeres“. als Umwelt, Erscheinungswelt (I. v. Uexküll), 
Gegenstandswelt. Objektwelt, Welt der Dinge unserer Innenwelt 
gegenübergestellt erscheint und auch gegenübersteht. 

Unpräjudizierlich gesagt, wir bezeichnen als Erscheinungswelt 
das, was von uns als Veranlassung innerer Geschehnisse aus uns 
hinaus projiziert wird. 

Hier paßt das, was wir oben nach Paul Natorp (Marburg) 
..Philosophie und ihre Probleme“, Einführung in den kritischen 
Idealismus (Göttingen 1911, S. 253) angeführt haben: ,,Es sind über¬ 
haupt nicht zwei gesonderte Reihen von Erscheinungen: Erschei¬ 
nungen des Bewußtseins und Erscheinungen der äußeren Natur. 
Etwas erscheint, d. h. schon, es ist einem bew-ußt. Also ist, alle 
Erscheinung: Erscheinung für ein oder in einem Bewußtsein. Aber 
.es erscheint* heißt zugleich, es stellt .sich mir als Gegenstand* dar.** 

Die philosophische Frage, ob es eine Außemvelt (distinkte 
Dinge, außer in unserer Erscheinungswelt, oder das Ding an sich) 
überhaupt gibt oder alles nur Schein, innere Vorspiegelung sei, kann 
hier unerörtert bleiben. Erlebt wird — wirklich oder fiktiv ver¬ 
anlaßt — eine Erscheinungswelt, eine Dingwelt in Form der eigenen 
Veränderungen und der „Exoprojektion“ derselben. Und wir unter 
scheiden diese Art von Veränderungen von anderen „inneren Ver¬ 
änderungen“, auch innerer Gemeinempfindungsänderung, die wir ja 
ebenfalls erleben. Die Form von psychischen Verände¬ 
rungen, die wir als Erscheinungswelt meinen, 
wird als Zusammenstoß mit einer Außenwelt, als Beeindruckung von 
außen, als ..Impression“ erlebt und gewertet. 

Die Auffassung der Impression als Gemeinempfindungsänderung 
mit ihren Konsequenzen berührt sich mit der Konzeption von 
L. K 1 a g e s , welcher als Kennzeichen der Empfindung hervor¬ 
gehoben hat: ein „vitales Jetzt“ und ein „vitales Hier“. 

An diese Impressionen, Exoprojektionen, Gegenüberstellungen 
wird nun ein „Inneres“ erneut herangebracht, indem 
eine Inneres und Äußeres zusaramenschweißende, apperzipierende. 
assimilierende „Auffassung“ tätig und wirksam wird. In der „B ha - 
g a v a d G i t a“, deutsch von Dr. Franz Hartma n n (mit erläu¬ 
ternden Anmerkungen und ausgewählten korrespondierenden 2itaten 
hervorragender deutscher Mystiker versehen (1892, Braunschweig, 
Schwetschke). S. 152, w’ird Meister Eckhart angeführt: „Das Er¬ 
kennen setzt Gleichartigkeit voraus, im Erkennenden und Erkannten. 
Schon das sinnliche Wahrnehmen bedeutet eine reale Vereinigung 
zwischen dem Wahrnehmenden und dem Wahrgenommenen.“ Auch 



21 


in der älteren griechischen Philosophie gab es die Lehre: Erkennen 
setze Wesensähnlichkeit zwischen Erkennendem und Erkanntem 
voraus. Ähnliches bei Marc Aurel und Goethe: „Wär nicht 
•las Auge sonnenhaft“ (nach Plotin). 

S e m o n bezeichnet als Grundlage unseres Wissens um die 
zeitlichen Abläufe: „unsere Gemeinempfindugg“. Man denke nur 
an das Erwachen zur Vorgesetzten Stunde, wo uns wohl der Grad 
des Ausgeschlafenseins, der nie vorher gerade für diese Stunde er¬ 
probt zu sein braucht, als Maßstab dient. Also unsere nur sum¬ 
marisch bemerkbare und sich ständig ändernde Gemeinempfindung 
ist in einer bewußt beabsichtigten Handlung wirksam geworden. 

Weiter habe ich gelegentlich (Meteoristische Unruhebilder 1912) 
bezüglich des Verhältnisses zwischen Gemeinempfindung und Im¬ 
pressionen und bezüglich der unbemerkten Grundlegung unseres 
Denkens folgendes Bild gebraucht. In die kontinuierlich 
abrollende aber unsichtbare Organdinrolle unserer Gemeinempfindung 
werden durch die Stickmaschine unseres Denkens diskontinu¬ 
ierlich unsere Impressionen (natürlich auch anderes Erleben) 
eingestickt und liefern so das Stickmuster unserer Wahrnehmungen 
und Gedanken, eben unser bewußtes Erleben. 

Bloß auf dieses Stickmuster der oberbewußten Eindrücke usw. 
achten wir. Störungen im Stickvorgange: Lücken in der Rolle oder 
Hapern im Tempo des Abrollens (als Gedankenleere, Abreißen des 
Gedankenfadens empfunden) können,* wie ich dort und gelegentlich 
schon früher (1910, 1911) ausführte, zu Denkablaufstörungen und 
Verzerrungen im Denkinhalte, im Stickmuster führen. Es sind Über¬ 
leit ungsstörungen im Denken, richtiger in dessen unbemerktem 
Unterbau. 

Auch kann manches Fremdartig-Erseheinen der Wahrnehmungs¬ 
welt (Entfremdung der Außenwelt), manchmal durch Veränderungen 
im Zusammenstoß der Impressionen mit der Gemeinempfindung be¬ 
gründet gefunden werden. Und zwar ist dabei, während dem Er¬ 
lebenden selber die Außenwelt verändert erscheint, de facto seine 
eigene Gemeinempfindung verändert; wie ja schon in der Norm bei 
der Wahrnehmung gesetzmäßig die eigene Gemeinempfindungs- 
ämierung den Objekten, die sich durch Impression, d. h. als und durch 
Gemeinempfindungsänderung u. a. erst gestalten, zugeschrieben wird, 
also die Gemeinempfindungsänderung exoprojiziert wird. Hier nun 
wird eine pathologisch veränderte Gemeinempfindung exoprojiziert 
und als Veränderung der Wahrnehmungsobjekte oder deren Be¬ 
ziehungen zur eigenen Person seitens der Kranken aufgefaßt. 



22 


Jaspers Psychopathologie, II. Aufl., S. 30/37, hebt bezüglich 
des Bewußtseins, wie schnell die Zeit vergeht, hervor, daß 
nach einem Tage, an dem die Zeit schnell verging, wir das Bewußt¬ 
sein haben können, einen langen Tag gehabt zu haben, während ein 
leerer, langweiliger, langsam vergehender Tag im rückschauen- 
d e n Bewußtsein als kurz gegenwärtig ist. Zum Verständnis dieser 
von Jaspers hervorgehobenen Tatsachen über die Differenz im 
Bewußthaben der zeitlichen Dauer zwischen dem Erleben von zeit¬ 
lichen Abläufen und rückschauendem Bewußtsein der Länge dieser 
vergangenen Zeit: scheint mir mein Bild vom Einsticken der Im¬ 
pressionen in die sich abwickelnde Organdinrolle der summarischen 
Gemeinempfindung nützlich und lehrreich. Reichliches Einsticken 
von Impressionen bewirkt im Erleben das Bewußtsein der Kurz- 
weiligkeit, in Rückschau aber Länge des Tages; ein erlebnisarmer 
Tag, d. h. mit w r enig Impressionen, mit sonach impressionsleer ab¬ 
laufenden langen Gemeinempfindungsstrecken erscheint im Erleben 
als ein langer Tag, in Rückschau kurz. Im Erleben messen wir also 
nach der Länge impressionsleerer Gemeinempfindungsstrecken, in der 
Rückschau nach der Zahl der Impressionen. Das zeitliche Erleben 
wird bemessen durch die Gemeinempfindungsstrecken zwischen den 
Impressionen, die Rückschau nach der Erlebniszahl: das Erleben 
mißt also die Zeit an der Gemeinempfindung, an einem unbe¬ 
merkten Inneren, die Erinnerung an den Erlebnissen, a n 
einem bemerkten Äußern. 

Nun ist das Beispiel der unbemerkten Organdinrolle nur ein 
Bild; dem entspricht aber etwas Wirkliches, was schon an dem Zeit¬ 
beispiele durchleuchtet und schon vorher angezogen wurde. In 
unserem Erleben gibt es nämlich nicht nur Impressionen, unsere 
Beeindruckungen, sondern auch „innerliche“ Erlebnisse, überhaupt 
ein „Inneres“, d. h. ein solches Erleben, welches sich nicht in Objekte, 
(Jegenstände und Erscheinungen einer Außenwelt projiziert, sondern 
als dem Innern, sagen wir einmal dem „Ich“ zugehörig erlebt wird. 
Ein Teil desselben geht überhaupt nicht auf äußere Impressionen 
zurück, ein Teil wenigstens nicht unmittelbar. Zu diesem inneren 
Erleben gehört auch die summarische Gemeinempfindung: ob wir uns 
wohlfühlen oder nicht, unbehaglich oder behaglich gestimmt sind; 
es gehören die Triebregungen dazu, und sonst manches Motorische 
und Affektuöse. 

Freud (3 Abhandlungen zur Sexualtheorie. 11)20. 2. Aull.) 
wies darauf hin. daß dem Säugling wohl die erste Unterscheidung 
zwischen innen und außen daraus erwachse: daß er in der Lage ist. 



23 


durch Fortstrampeln oder Flucht sich aus dem Bereiche äußerer Reize 
zu bringen, daß er aber den inneren Triebregungen, z. B. der des 
Hungers, sich auf diese Weise nicht entziehen könne, sondern nur 
durch Stillung des Triebes. Es entstünde so die Grundlage des 
Gegensatzes zwischen Innen-Subjekt und Außen-Objekt. Daß zur 
späteren wirklichen Unterscheidung noch manches andere gehört, 
werden wir noch sehen. 

„Innen“ sind auch Erinnerung, Gedankenkombination und 
deren Grundlagen. Es durchflechten sich „i n n e n“ i m „I c h“ eine 
Reihe von Funktionen, welche unser bewußtes Denken, Fühlen, 
Wollen und Handeln unbemerkt fundieren, aufs innigste 
untereinander und mit den Impressionen und deren Folgen. Sie 
stehen in den wechselndsten Abhängigkeitsbeziehungen zueinander 
und zu den Impressionen und bilden so eine Vorstufe und 
Vorbereitungsstufe für das Bewußte. 

über diese fundierenden Funktionen haben uns Psychologie und 
Pathologie manches gelehrt. So ein von mir (1909, 1911, 1912) be¬ 
schriebener Zustand eines Kranken, welchem mit jedem Eindrücke, 
mit jedem Gedanken eine Unzahl nebenschwingender Gedanken, Er¬ 
innerungen, besonders Jugendeindrücke — irgendwie mit dem eben 
erlebten Eindruck oder angestrebten Gedanken zusammenhängender 
Art — aufs störendste bewußt wurden. Diese „Gedanken- 
atmosphären“, wie er es bezeichnete, hinderten ihm den Denk¬ 
fortschritt schon zahlenmäßig, natürlich auch anderweitig. Die 
Grundlage bildete eine Störung der Gemeinempfindung zusammen mit 
oder auf Grund von Störung der Labyrinthfunktionen. Und ich 
führte diese Gedankenatmosphären auf eine allgemeine Über¬ 
erregbarkeit des Bemerkens (sowohl des auf Äußeres, 
wie auf Inneres gerichteten Bemerkens) zurück, auf ein Be¬ 
merken von in der Norm Unbemerktem, der transi¬ 
tiven Bestandteile im Strome des Denkens, wie es James nennt, 
des F r i n g e von James, d. h. der Franse, des Fransensaumes um 
die Lampe der bewußten Gedanken, welche bewußten Gedanken 
James als die substantiven Bestandteile des Denkens bezeichnete. 
Den Fr in ge möchte ich als apponierende Kondensdampf hülle um 
die bewußten Gedanken und als deren Mutterlauge fassen. Das 
Gegenstück lieferte mir ein Kranker, welcher ebenfalls zusammen mit 
einer Labyrinthstörung zwar Konkreta, aber nicht Abstrakta (wie 
etwa Sparsamkeit, Tugend usw.) verstand. Ich erklärte das damals 
durch Untererregbarkeit des Bemerkens für die 
Oedankenatmosphären, durch eine Schwererweckbarkeit 



24 


der zugehörigen Konkreta. Überhaupt möchte ich das Abstrak¬ 
tum primär als eine nebenstehende elegierende Be¬ 
wußtheit, welche auf die zugehörigen Konkreta im 
F r i n g e gerichtet ist, zu fassen suchen. Interessante Beziehungen 
zum Labyrinth scheint mir auch einer meiner Fälle zu haben, dessen 
Krankengeschichte mir zurzeit nicht zur Hand ist. Meiner Erinnerung 
nach klagte er über „Schwindelanfälle“, besonders beim Hinlegen. 
Er definierte sie dahin, daß anfallsweise sein Denken und alles, was 
er sich vorstelle, in raschem Strome von einer Seite unten zur 
andern Seite oben bogenförmig an ihm vorbeiziehe. Von mir auf¬ 
gefordert, in diesen Anfällen die von der Decke hängende Lampe zu 
beachten, berichtete er, daß sie ihm dabei kräftig schwingend zu 
pendeln schien. 

Sonach wären in beiden ersteren Fällen die Gedankenatmosphä¬ 
ren, respektive deren Erweckbarkeit im Sinne des Plus und Minus be¬ 
troffen gewesen, eben der Fringe. Dieser Fringe stellt zugleich den 
Unterbau der betreffenden Gedanken und einen Ausschnitt aus dem 
von James so bezeichneten Strome unseres Denkens (James' 
transitive Bestandteile des Denkens) dar. Ich habe, um die Rolle des 
Fringe als Unterbau der Gedanken zu begründen, das Bild ge¬ 
braucht: Uns scheint es, als ob wir von einem bewußten Gedanken 
zum andern mit einem einzigen Schritt gelangt wären. Es ist aber 
so, als ob wir von einer im Dunkeln liegenden Stadt nur noch die 
roten Dächer beleuchtet sähen, und glaubten, mit einem Schritte 
von einem roten Dach zum andern zu kommen, während wir doch 
momentan fast simultan über ungezählte Treppen, Gänge, Gassen in 
ein anderes Haus und von dort aufs Dach gelangten. Im Strome 
unseres Denkens werden uns diese transitiven Bestandteile desselben 
nicht bewußt, sondern nur James’ substantive Bestandteile, die 
oberbewußten Gedanken, die roten Dächer. Anders, wenn wir durch 
Lücken in der Organdinrolle oder durch Hapern ihres Ablaufes eine 
Denkablaufsstörung erfahren. Da kommt es zur sogenannten Ge¬ 
dankenleere. da merken wir, daß es nicht ein Schritt ist, von einem 
Gedanken zum andern zu kommen, etwa im Affekt, z. B. im Emotions¬ 
stupor. Prüfungsstupor oder in der Affektverwirrung, wo, wie ich 
1910 zeigte, disjecta membra, Fringebruchstücke aus der Peripherie 
der angestrebten Gedanken in raschem Jagen oder perseverierend. 
stereotyp, iterativ sich dem Oberbewußtsein aufdrängen. Auch schon, 
wenn wir uns auf etwas besinnen müssen, merken wir, daß es man¬ 
cher Vorbedingungen bedarf, um die rechte Richtung einzuhalten und 
das Richtige zu finden. Dazu gehört auch neben der Erweckbarkeit 



25 


<les Fringe und der Überleitungsfähigkeit in ihm die Lösbarkeit von 
dem Vorherigen, die Fähigkeit der Wahl (Elektion), wie auch zur 
Festhaltung einer angeschlagenen (determinierten) Richtung, kurz 
eine Modulationsfähigkeit und Plastizität des 
Denkens, welche ich ebenfalls als eine Fringe- 
funktion. eine Leistung des Unbemerkten be¬ 
trachte. 

Es ist eben zur Gestaltung des bewußten Psychischen sowohl 
eine zusammenschweißende Leistung zwischen innen und außen (die 
Auffassung. Apperzeption, Assimilation), wie auch eine elegierende, 
auswählende, determinierende (die Elektion) nötig. Nicht alles, was 
an innerem Geschehen zur Zeit einer Impression vorhanden ist, kann 
zur Gestaltung und Verwertung derselben und zum Denkfortschritt 
beitragen. Ein Allzuviel müßte hindernd wirken. Nicht alles von 
außen und innen sich Aufdrängende darf verwendet werden. 
Äußeres wie Inneres muß abgewiesen werden: so z. B. störende Ge¬ 
räusche. wenn wir uns konzentrieren, Affekte und zugehöriges Den¬ 
ken. wenn wir antworten, zuhören, kurz eine „Aufgabe“ er¬ 
füllen sollen. 

Wissen wir nun etwas über die „Aufgaben“ und über die 
Grundsätze, nach welchen diese Auswahl erfolgt? Abgesehen von 
anderen Denkgesetzen, geht die Elektion vor allem nach jenen, welche 
unser bewußtes Denken überhaupt beherrschen, und der Lebens¬ 
erhaltung dienen, d. h. nach orientierenden Gesichtspunkten. Wollen 
wir mit unserer Erscheinungswelt, mit unseren Impressionen und 
Erscheinungen zurechtkommen, müssen wir uns in ihnen und nach 
ihnen, aber auch sie nach uns orientieren, wenn wir nicht zugrunde 
gehen wollen. Dieses orientierende Denken, wie ich es 
(1918, Über Hypnose) nannte, wird primär beherrscht von Raub- 
und Schutztendenzen, vom Selbsterhaltungsgesetz. Wie ich dort ge¬ 
folgert habe, müsse der Sehraum des verfolgenden und zum Sprung 
ansetzenden Löwen ein anderer sein, als der einer vor ihm in die 
Ebene flüchtenden Gazelle. Auch diese Tiere bemerken vor allem 
was sie angeht, wessen sie bedürfen. Nach J. v. U e x k ü 11, „Die 
Innen- und Umwelt der Tiere“ (1921, Berlin, Springer) gehen die 
primären Reflexe, Freßreflexe und Feindreflexe, schon bei Einzellern 
beide auf Vernichtung des eine Veränderung im Protoplasma herbei- 
führenden Umwelteinflusses, „des Reizes“, sei es Vernichtung des Rei¬ 
zes durch Fressen oder durch sonstige Zerstörung oder Flucht. Das 
mag uns als die biologische Parallele zu unserer psychologischen An¬ 
nahme dienen. 



26 


Wir elegieren also vor allem mit dem orientierenden Denken, 
beachten, bemerken, machen bewußt das für Selbsterhaltung, Orien¬ 
tierung usw. geeignete. Woher bezieht aber das orientierende Denken 
diese Fähigkeit zur Elektion, zur Auswahl in bestimmter Richtung, 
zur Determination? Es kommen diese determinierenden Tendenzen 
aus der sogenannten psychischen Situation: Einstellungen und Stel¬ 
lungnahmen, und Gestimmtheiten (wie Kronfeld 1922 die unbe¬ 
merkten Grundlagen unserer AfTektrichtung, Stimmungen usw. be¬ 
zeichnet hat), welche im Unbemerkten unseren Triebregungen 
usw. entwachsen. Für unsere Zwecke genügt wohl die Umschreibung 
der Einstellungen als unbemerkt richtende Konstellation des Psy¬ 
chischen, in welcher Faktoren des vorangegangenen Erlebens unbe¬ 
merkt das folgende psychische Erleben bestimmen, wie sonst bewußte 
Faktoren — bemerkt — unser motiviertes Denken und Handeln. Stel¬ 
lungnahmen sind Hinwendungen, Abwendungen, Begehrung oder 
Flucht, die aus unseren Lebensbedürfnissen und Triebregungen er¬ 
wachsen. 

Es ist auch in dieser Richtung das Unbemerkte, der Fringe im 
weiteren Sinne, aus welchem unser bewußtes Erleben und Denken 
seine Nahrung, sein Beharrungsvermögen und seine Fortschreitens- 
richtung (seine determinierenden Tendenzen) bezieht, (wie ich in 
einem Marienbader Vorträge „Über Grundlagen und Behandlung der 
Schlafstörungen“, 1919. auseinandergesetzt habe). Das orientierende 
Denken und seine verschiedenen Grundlagen, sein Unterbau, sind aber 
nicht das einzige, in uns vorhandene Psychische. Daneben, zwar im 
wachen Leben fast unbemerkt aber ungeheuer mächtig, einen Haupt¬ 
teil des Fundamentes unseres Denkens, des Unterbaus des Be¬ 
wußten darstellend, gibt es ein „illustrierendes Denke n“, 
wie ich es genannt habe. Über seine Gesetze scheint mir die 
Freud sehe Traumlehre (und sonstiges aus den Freud sehen 
Lehren) viel Wichtiges beizubringen: Vor allem F r e u d s dyna¬ 
misches Grundgesetz der Erregungsabfuhr, der 
Abfuhr innerer und äußerer Erregungen. In einer grundlegenden 
experimentellen Arbeit hat 1917 0. P ö t z 1 dargelegt, wie unbemerkt 
Gebliebenes, und gerade dieses, bei Exposition weit unter 
der normalen Bemerkenszeit, doch als Psychisches — wenigstens in 
potentia — vorhanden ist und in Traum, Assoziationen, Hallu¬ 
zinationen, Symbolen usw. wiederkehrt, zur Abfuhr kommt, während 
das bei der Exposition bemerkte erledigt ist, sozusagen ad acta ge¬ 
legt erscheint. 

Daß Unbemerktes direkt als Erinnertes auftauchen kann, obzwar 
es nie bewußt war. sondern nur unbemerkt aufgenommen wurde. 



27 


lehrte mich eine Selbstbeobachtung (1908, Aktionsgefühle). An einer 
Straßenecke ertappe ich mich dabei, ein seltenes Studentenlied zu 
summen und frage mich, wie ich dazu komme. Ich erinnere mich 
nun. in der vorher passierten Gasse, auf deren linker Seite, ein 
silbergrau gestrichenes Haus gesehen zu haben; dort sei am offenen 
Parterrefenster dieses Lied auf dem Klavier gespielt worden. Um¬ 
kehrend konnte ich diese Erinnerung verifizieren. In der erinnerten 
Situation wurden am offenen Parterrefenster eines silbergrau ge¬ 
strichenen Hauses Studentenlieder auf dem Klavier gespielt. Eine 
unbemerkte Impression war also von mir unbemerkt verarbeitet 
worden, hatte das Summen des Liedertextes veranlaßt und konnte 
anschließend erinnert werden. Daß es sich dabei etwa um verspätetes 
Auftauchen von Sinnesreizen gehandelt habe, läßt wohl das Auf¬ 
tauchen als „Erinnerung“ und nicht als „Wahrgenoinmenes“ aus¬ 
schließen. 

Das unbemerkt Aufgenommene, indirekt Mitgegebene, oder un¬ 
bemerkt Mitschwingende, bildet neben den Einstellungen, Gestimmt- 
lieitcn, Stellungnahmen, besonders der Gemeinemptindung und ihren 
Änderungen, sowie manchem Motorischem und den Triebregungen 
den Hauptteil des Fringe und an sich selbst die Hauptquelle des 
illustrierenden Denkens. Auch dieses geht, wie ich meine, so wie es 
Freud von den Triebregungen gezeigt hat, vor allem nach A b - 
fuhr. Es paraphrasiert das gerichtete, das orientierende Denken, 
indem es sozusagen auf dem Klavier des Unbewußten über das vom 
gerichteten Denken angeschlagene Thema phantasiert. Es bedarf 
an sich nicht einer logisch zusammenschweißenden Gestaltung und 
erscheint „frei“, wie die bewußte Phantasie, weil es nicht direkt 
zweckgerichtet ist. 

Dagegen ist eine zweckgerichtete zusammenschweißende Gestal¬ 
tung für unser orientierendes Denken unentbehrlich. Denn was 
würde es für unsere Orientierung nützen, wenn ein Erkennen, ein 
Wiedererkennen, eine D i n g g e s t a 11 u n g aus den Impressionen, 
d. i. den gegenübergestellten, exoprojizierten Gemeinempfindungs¬ 
änderungen. und ans der summarischen Gemeinempfindung zu¬ 
sammen wie aus der Iehgerichtetheit. also aus Außen und 
Innen nicht möglich wäre. Es gäbe ja dann keine Objektwelt, 
keine Erscheinungswelt, in der wir uns orientieren könnten. Die 
Ausgestaltung der Impressionen zur Wahrnehmung geschieht, wie ich 
in der erwähnten Arbeit über Hypnose (1918) von der Entstehung 
des bewußten Wahrnehmens ausführte, durch Konkretisie¬ 
rung und Detaillierung der ursprünglich verschwommenen 



28 


Eindrücke, d. i. eben mit Hilfe des Innern des Menschen und des 
früher Erlebten und durch vieles andere aus dem Fringe (Ein¬ 
stellung, fixierende Einstellbewegungen, Stellungnahme, Trieb¬ 
regungen usw.). 

Durch die orientierungsgerichtete „Auffassung“, die zusammen¬ 
schweißende Gestaltung wird aus der Impression, besonders wenn 
sie sich wiederholt, eine Wahrnehmung, d. h. die Erstellung eines 
dem Innern, dem Ich Gegenüberstehenden, also des „Objekts“. Durch 
das Gerichtetsein auf die Impressionen und nach ihrem Muster über¬ 
haupt auf Denkinhalte, durch den „intentionalen Akt“ entsteht also 
sowohl „die Gegenstandswelt“, wie das, was sich ihr gegenüberstellt, 
das „Ich“. Jede Objektgestaltung, jede Denkgegenstands¬ 
erstellung. jede Gegenüberstellung (intentionale Gerich¬ 
tetheit) bedeutet zugleich eine immer erneute „I c h ge s t a 11 ung“. 

Aber zur Gestaltung einer Erscheinungs weit, einer Gegen¬ 
standswelt, genügt diese Zusammenschweißung von Impression aus 
Gemeinempfindungsänderung, von Reiz und Ich und die Konkreti¬ 
sierung und Detaillierung der Impressionen zu Wahrnehmungen noch 
nicht. Es bedarf nunmehr wieder einer Verein¬ 
fachung des durch uns vorher Bereicherten, 
Konkretisierten. Es bedarf der Gewinnung von bezeich¬ 
nenden, d. h. „S i n n und Bedeutung habenden“ Merk¬ 
malen, um nicht durch bewußtes Mitschleppen der konkreten 
Details und durch anderes unendlich belastet zu werden. Um sich 
rasch „automatisch“ orientieren zu können, dient uns eben die 
„Automatisierung der Impressionsverarbeitung“ 
und genügt uns ein Signal, wie etwa das Kurvezeichen der Auto¬ 
mobilisten, also das Merkmal. Diese Signale, die Merkmale, die 
Schemata, welche uns die Bedeutung von Eindrücken liefern, er¬ 
geben solche Vorstellungen, welche einzeln für viele Wahrnehmungen 
eintreten können und ihren Gegenstand bezeichnen, „bedeuten“. Für 
viele Vorstellungen zusammen kann wieder verallgemeinernd der 
„Begriff“ treten. 

Auch diese Vorstellungs- und Begriffsbildung hinterläßt Wir¬ 
kungsspuren, sie bereichert den Fringe. Und der Bequemlichkeit 
halber wollen wir grob schematisch den konkretisierenden detail¬ 
lierenden Fringe als „Brcitenfringe“, welcher Wahrnehmungen und 
Sammelvorstellungen Ziehens (von Rose zu Garten) liefert, unter¬ 
scheiden: von dem Allgemeinvorstellungen Ziehens, Begriffe usw. 
liefernden „Tiefenfringo“. Wir könnten auch „Höhenfringe“ sagen. 
Es soll ja nur die Richtung bezeichnet sein, welche auf Signale, Be- 



29 


deutungen, Merkmale, Allgemein Vorstellungen Ziehens (von Rose 
zu Pflanzen) auf Begriffe usw. geht. 

Das muß sich natürlich nicht so sprachlich formuliert abspielen, 
wie ich es hier darstellen muß, und tut es in der Regel auch gar nicht. 
Dem orientierenden Denken dienen vor allem die Allgemeinvorstel¬ 
lungen; der konkreteren, der Bilder von Gegenständen, bedient sich 
das illustrierende Denken, weswegen ich es so nannte, weil es mit 
Bildern unseren Denkablauf unterstützen, ihn an der Grenze des Be¬ 
merkens begleiten kann, wie ein Illustrator den Fortgang einer Er¬ 
zählung. Es wird in den Psychosen von Bleuler als autistisches, 
„de-re-ierendes“ Denken bezeichnet. Es äußert sich in Traumbildern, 
Phantasien und vielem anderen psychischen Geschehen, welches nicht 
unmittelbar zweckgerichtet ist und mit anderem zweckgerichteten 
einhergeht, nebenhergeht, es bereichernd, das Thema von verschie¬ 
denen .Seiten anklingen läßt, darüber phantasiert, es in und durch 
seine Nebenbedeutungen illustriert, wie es P ö t z 1 s Versuche experi¬ 
mentell gezeigt haben, dabei aber nichts weniger als ein müßiges 
oder zufälliges Spiel darstellend. Wie erwähnt, hat gerade das 
illustrierende Denken in seinem größten und unbewußten Anteil, in 
der Lieferung der Gedankenatmosphären, also des unterbewußten 
und unbemerkten Unterbaus unseres bewußten Denkens seine Haupt¬ 
aufgabe. Ihm ist zum Teil auch wohl die Modulationsfähigkeit und 
Plastizität unseres Denkens zu danken, indem es die Wiederloslösbar¬ 
keit von Eindrücken und angeschlagenen Vorgängen und die Über¬ 
leitungsfähigkeit im Fringe fördert. Das illustrierende Denken und 
den Breitenfringe möchte ich, weil sie Nebengleise gewähren, als 
Rangierungsgleise betrachten, welche die Abwicklung des Gedanken- 
Zugverkehrs, des oberbewußten Denkens ermöglichen. 

Diesem Fringebereich gehören also an: Remanenzen früheren 
Erlebens, die als potentielle Rangierungsmöglichkeiten gedacht 
werden können, weiter die Gemeinempfindung, Organempfindung. 
(Coenästhesie der Franzosen). Lage- und Bewegungsemplindungen 
der Glieder, Muskeln, Sehnen und Gelenke, das sogenannte Tonus- 
labyrinth (A 11 e r s) mit seiner Spannungsregulierung der Muskeln 
und Stellungserhaltungsregulierung des Körpers, kurz der sogenannte 
..innere Sinn“, d. h. die psychische Repräsentation für bestimmte 
Muskel — Gelenks- und Labyrinthfunktionen im allgemeinen unbe¬ 
merkter Art, weiter die Denkbewegungen im Sinne Kleists, d. h. 
Einstellbewegungen der Augen, auch Ohren, und des Körpers (Auf¬ 
schauen. Ohrenspitzen, Blickwenden, Kopfwenden. Hinneigen), die 
Einfühlungsbewegungen, d. h. Mitbewegungen und Ausdrucks- 



30 


bewegungen, die Affektbewegungen, die Triebregungen und die 
unbemerkten Grundlagen der Affekte, d. i. die unbewußten Gestimmt- 
heiten Kronfelds usw. Das alles wieder in — der Regel nach 
unbemerkten — psychischen Repräsentationen. 

Diese sich durchflechtenden unbemerkten psychischen Funk¬ 
tionen sind es also, welche beim Zusammenstoß mit der Außenwelt, 
d. h. an die Beeindruckungen beliebiger Art, an die Impressionen 
herangebracht und apperzipierend. assimilierend, inneres und äußeres 
Fliehen für das Bewußtsein zusammenschweißend und gestaltend, 
also auffassend wirksam, liefern: Wahrnehmungen, Vorstellungen, 
Begriffe usw. 

Die so gebildete Vorstufe des bewußten Denkens dürfen wir 
sonach aus guten Gründen als eine psychische Schicht 
auffassen; vorerst rein als funktionelle und zeitliche Vorbedingungen 
und nicht räumlich genommen; und zwar als eine gemeinsame 
psychische Schicht sich durchflechtender unbewußter aber 
psychischer, eben unbemerkter Funktionen. 

Es ist eine gemeinsame psychische Schicht, vor allem auch des¬ 
wegen, weil die bewußten Funktionen, die in dieser Schicht ihre 
Wurzeln haben, nicht nur jenseits von ihr gelegen sind, eben im 
< )berbewußten. sondern auch, w r eil sie nun nach verschie¬ 
denen Richtungen auseinanderstreben: In die ver¬ 
schiedenen Gegebenheitsweisen unserer Erlebnisinhalte, die Wahr¬ 
nehmung, Vorstellung, Fühlen usw., aber auch in die verschiedenen 
Richtungen des Bewußtseins der Erscheinungswelt, der Außenwelt — 
entsprechend der Allopsyche Wernickes (unter Mithilfe der Im¬ 
pressionen); des Bewußtseins der eigenen Körperlichkeit, ent¬ 
sprechend der Somatopsyche Wernickes (unter Mithilfe von 
'Fast- und Gesichtseindrücken und Vorstellungen über das Aussehen 
des eigenen Körpers, auch des eigenen Nackens und Rückens usw.); 
und endlich in das Bewußtsein der eigenen Persönlichkeit, des 
höheren Ich und Selbst, entsprechend der Autopsyche Wer¬ 
nickes, aufgebaut unter Mithilfe aller höheren Funktionen, be¬ 
sonders des Willens, der Gefühle, auf der Kontinuität des Erlebens 
und der Gemeinempfindung, und aus den Gefühlen (Bewußtheiten) 
der eigenen psychischen Tätigkeit, psychisch zu agieren, bei den 
verschiedenen psychischen Akten (Denkgefühl. Reproduktionsgefühl, 
Fühlgefühl, wie ich es [1908] „Die Aktionsgefühle“ nannte). Jedes 
Bewußt haben von etwas — führte ich dort aus — ist ein 
Seiner-Selbst-Bewußt werden als psychisch tätig, cogito 
ergo sum. 



31 


Weil also die unbemerkte Ausgangsschicht der auseinander¬ 
strebenden bewußten psychischen Funktionen und Bereiche ihnen 
gemeinsam ist und sie zusammenhält, spreche ich von der „gemein¬ 
samen intermediären psychischen Schich t“. Diese 
besondere gemeinsame intermediäre psychische Schicht stellt einen 
zusammenhängenden Funktionsbereich verschiedener Funktionen 
dar: psychischer, überwiegend unbemerkter und das bewußte Ge¬ 
schehen vorbereitender — darin liegt vor allem das Gemeinsame an 
ihnen — Leistungen; und daneben physischer — ebenfalls Psy¬ 
chisches vorbereitender Leistungen. Es ist also eine besondere, den 
Kern des unbemerkten und vorformulierten Psychischen (zusammen 
mit zugehörigem Physischem, besonders Motorischem) gestaltende 
und darstellende intermediäre psychische Schicht. 

Dies berührt sich mit dem Hinweise von William Stern 
auf die Stellungnahme als psychisch und physisch, auf die Persön¬ 
lichkeit als psychisch und physisch, und mit Vera Strassers 
analoger Auffassung der Persönlichkeit; und wird auch gestützt durch 
meinen Hinweis auf die „motorische“ Übertragung der Stellung¬ 
nahmen in der Hypnose vom Experimentator auf das Versuchsobjekt 
mittelst Signalen. Es fällt nicht gegen Sterns Auffassung der 
Stellungnahme als psychisch und physisch in Betracht, daß er die 
vasomotorischen Affektreaktionen dafür ins Feld führt und diese 
schon als zeitlich sekundär aufgezeigt wurden. Denn die unbemerkten 
richtenden Einstellungen im Fringe, unbemerkten Gemeinempfin¬ 
dungen, Einstellbewegungen usw.. die wie zum Objekt, auch auf den 
hewußtwerdenden Affekt und die Stellungnahme hinwenden, stim¬ 
mend und bestimmend wirken, sind damit nicht ausgeschaltet und 
bleiben für Grundlegung, Art, Ziel und Auswirkung der Stellung¬ 
nahme und der Affekte maßgebend. 

Diese Zusammenwirkung in der Gestaltung von Objekten, 
Stellungnahmen und Affekten seitens psychischer und motorischer 
Funktionen kann ebenfalls als Stütze für die Existenz und als Hin¬ 
weis über die Zusammensetzung der intermediären psychischen 
Schicht dienen. 

Damit soll nicht einer Vermischung von physisch und psychisch 
im alten materialistischen-monistischen Sinne das Wort geredet sein. 
Es darf aber auch nicht einer Begriffsscheidung zuliebe ein Tat¬ 
bestand verschleiert werden, zu dem Beobachtung und Erwägung 
hindrängen: Der Tatbestand der sowohl physischen als psychischen 
Zusammengehörigkeit dieser das Oberbewußtsein vorbereitenden 
Funktionen. 



Auf diese intermediäre psychische unterschwellige Schicht als 
Entstehungs- und Arbeitsstätte — sit venia für die räumliche Be¬ 
zeichnung — der Einstellungen und Stellungnahmen, weist auch 
Freuds Lehre vom Gegensinn der Urworte und Bleuler- 
Freuds von der ursprünglichen Ambivalenz und Ambitendenz der 
primären Regungen: Begehrung und Scheu, Lieben und Hassen, 
Aggression und Flucht, Lust und Unlust, im Unbewußten hin, und 
mein Hinweis auf das Hervortreten derselben, wenn unfertiges 
Denken und Halbfabrikate des Denkens (z. B. in Schriftstücken) bei 
Schizophrenen aus deren bilanzunfähigem unabschließbarem, weil 
überleitungs- und elektionsgestörten Denken entäußert werden (1918). 

Und es sind insbesondere primitive Stellungnahmen, nämlich 
Triebregungen und Triebziele, welche von Ambivalenz und Ambi¬ 
tendenz betroffen werden. Schon die ,,Bhagavad G i t a“ (deutsch 
von Dr. Franz Hartmann, Braunschweig, 1892, S. 72, VII. Kap., 
Vers 27) lehrt: „Alle Wesen lassen sich in dieser Welt durch die 
Täuschung der Gegensätze betören, welche aus Begierde und Absehen 
entspringen.“ 

Franz Brentan o und seine Schule lehrten schon lange die 
Polarität der Phänomene des Interessenehmens als Zu- und Ab¬ 
wendung. 

Meines Erachtens fließen Interessenehmen oder Abgleitenlassen: 
Meinen oder Nicht-Meinen; Abgleitenlassen oder Apperzipieren, 
Bemerken und Auffassen: Kurz die Ichgerichtetheit der Impressionen 
und das Ichgerichtetsein auf Impressionen im Grunde alle aus den 
Quellen der einen intermediären psychischen Schicht, angebohrt 
durch das Erleben des Lebens, seine Erfordernisse und Ansprüche. 

J. v. U e x k ii 11 kennt sowohl schon an den Einzellern mit ihren 
ad hoc im Protoplasma entstehenden Strukturen wie an den Mehr¬ 
zellern mit fixierten Strukturdifferenzierungen und Funktionsdifferen¬ 
zierungen ihres Protoplasmas: primäre Reaktionen auf Reize (Umge¬ 
bungseinflüsse) im Sinne der Vernichtung (Freßreflex). wie im Sinne 
der Flucht oder Abwehr (Feindreflexe): was ja oben schon gestreift 
wurde. Es scheint mir, daß wie dieses auch alles Psychische letzten 
Endes auf eines hinausgeht: auf die physische und psychische Be¬ 
wältigung der Umwelt und Gegenwelt, respektive der durch das 
Hineingestelltsein und Hineingepaßtsein gerade in diese Umwelt ge¬ 
stellten Aufgaben der Selbsterhaltung usw. mit Mitteln der Innenwelt. 

Ich habe im Obigen von Denken, Denkinhalten, Denkabläufen. 
Denkgeschehen in einem viel weiteren als dem landläufigen Sinne des 
intentionalen Aktes, des ..Ein-Ohjekt-Meinons“ gesprochen. Es 



33 


war damit das Psychische überhaupt, das psychisch Gegebene — 
auch das unbemerkt Gegebene, wie das Psychisch-Tätigsein, wie 
das Wahmehmen usw. einbezogen. Dabei möchte ich der Bequemlich¬ 
keit halber bleiben, um so mehr, als mir bei der Dementia praecox, 
deren Psychologie diese Untersuchungen als Vorarbeit gelten, die 
Störungen im Wesentlichen nicht primär auf der Stufe der höheren 
Leistungen einzusetzen scheinen, sondern deren Unterbau berennen. 

In diesem Unterbau, in der intermediären 
psychischen Schicht sind Gemeinempfindung 
und Psychomotilität, wie Überleitung und Elek- 
t i o n wirksam, arbeiten auf die Gestaltung und 
Gegenüberstellung von Innen und Außen, von 
Erscheinungswelt und Ich, Ich und Objekten, 
re i z a u s se n d e n d e n Merkmalsträgern und wir¬ 
kungszugänglichen Wirkungsträgern in „einem 
Gegengefüge“ im Sinne Uexkülls, d. h. in einem 
Objekte hin, arbeiten hin auf die Gegenüberstel¬ 
lung von impressionsbewirkenden Gegenständen 
als Triebzielen einerseits, leidendem oder stre¬ 
bendem Ich, Innenwelt, Merkwelt Uexkülls an¬ 
dererseits, von Subjekt und Gegenwelt, von 
Autopsyche und Allopsyche. 

Der primitive Weg vom Umgebungseinfluß zum Reflex, d. h. vom 
äußeren Reiz zur Bewegung, wie der vom inneren Reiz, der Trieb¬ 
spannung und Triebregung, zur Triebhandlung also auch Bewegung 
(beide Male Aggressions- oder Fluchtbewegung) erfährt mittels der 
intermediären psychischen Schicht einen wegverlängernden, inter- 
feiierenden, reaktionsretardierenden, reaktionsregulierenden Über¬ 
bau. Sowohl der verlängerte Weg aus der Impression, wie der aus 
der Gemeinempfindung und der Triebregung, über den Reflexbogen 
z. B. den Freßreflex hinaus, treffen zusammen: auf dem Wege zum 
Bewußtsein, d. h. zum mit dem Gefühle (der danebenstehenden Be¬ 
wußtheit) des psychischen Agierens verbundenen und dadurch cha¬ 
rakterisierten ichbewußten und selbstbewußten Erleben, Denken und 
Handeln und zur gedanklichen und sprachlichen Formulierung. Die¬ 
ses Zusammentreffen geschieht in einer zentralen, gemeinsamen inter¬ 
mediären psychischen Schicht des Fringe, der Gestimmtheiten, also 
der Einstellungen und Stellungnahmen und der nicht vollbewußten in 
naher Beziehung zu den psychischen Abläufen stehenden Motilität. 
Diese, welche W e r n i c k e und Kleist unter den „psychomotori¬ 
schen Bewegungen“ zusammenfassen, decken sich weitgehend, was 

I< o e w y , Dementia praecox. (Abhandlungen II. 20.) 3 




34 


ja auch Kleist neuerlich festgestellt hat, mit der extrapyramidalen, 
der basalganglionären Motilität. 

Diese intermediäre psychische Schicht könnte es sein, wo die Im¬ 
pressionen, der Zusammenstoß von Gemeinempfindungsich mit der 
Außenwelt, zu ihrer Lust- und Unlustbetonung, zu ihrer apperzeptiven 
Umwandlung, Auslese und Bereicherung, zu ihrer psychischen Rich¬ 
tung, determinierenden Kraft, zu Sinn und Bedeutung für das Ich 
kommen; die Triebregungen und Triebspannungen zu ihrem Inhalt, 
d. i. zum bewußten Triebziel, zu ihrer Triebrepräsentanz, wobei wohl 
schon beim Auftauchen, sei es von Impressionen, sei es von Trieb¬ 
spannungen und Triebregungen, also im Grunde immer von Gemein¬ 
empfindungsänderungen: Einstell-(Denk-)Bewegungen, Mit-(Ein- 

fühlungs-) Bewegungen, Ausdrucksbewegungen, kurz „psycho¬ 
motorische“, automatische und Reaktivbewegungen im Sinne 
Kleists ausgelöst werden, und objektgestaltend, elegierend, sowie 
einfühlend, d. h. Verständnis gebend wirken. 

Eine so beschaffene psychische Schicht wäre ein einzigartiges 
Gebilde, wenn sie eben ein Gebilde wäre. Aber so dürfen wir uns sie 
nicht vorstellen, sondern als eine Durchflechtung, eine wechselnde 
Abhängigkeit und Beeinflussung intermediärer Funktio¬ 
nen zwischen äußerem Reiz, respektive innerem Reiz, Antrieb, Trieb¬ 
regung einerseits, Handlung und Bewußtsein andererseits. Aber auch 
so ist diese intermediäre psychische Schicht gerade wegen 
dieses Intermediärseins zwischen den verschiedenen Be¬ 
wußtseinsreichen wie zwischen Außen und Innen, und Innen und 
Außen (Impression und Effekt, und Trieb und Effekt), endlich zwi¬ 
schen physiologischem Nervenvorgang und Bewußtsein, von bedeut¬ 
samer Breite, Tiefe und Höhe, (sit venia verbis). Sie hat auch 
mannigfache Berührungsflächen mit Freuds dynamischem Be¬ 
reiche des Unbewußten und Vorbewußten, das durch die Zensur vom 
Bewußtsein abgehalten wird, diesem vorenthalten wird (s. Abgleiten¬ 
lassen S. 32). 

Wir haben im Vorhergehenden von den verschiedensten psycho¬ 
logischen Richtungen her das Wesen der von mir supponierten 
intermediären psychischen Schicht betrachtet und dabei gerade von 
der modernsten Psychologie her wieder Anschluß an die alte phy¬ 
sisch-psychische Gruppierung Wernickes in Allopsyche, Somato- 
psyche und Autopsyche gefunden, an eine übersichtliche Schemati¬ 
sierung des Psychischen — mehr soll sie ja uns auch nicht bedeuten, 
die sich für unsere Betrachtung als bequem erwiesen hat und auf die 
ich hier wiederum zurückgreifen möchte. Mit gutem Grunde legt 
Karl Kleist, wie ich im Wintersemester 1921/22 in seinen Vor- 



35 


lesungen über Psychopathologie von ihm hörte, zwischen das S o - 
matopsychische, das Körperlichkeitsbewußtsein einerseits 
und das Autopsychische, das Persönlichkeitsbewußtsein mit 
seinen höchsten zusammenfassenden Leistungen einschließlich der 
Willensmotivierungen andererseits: das Affektleben und stellt 
es zugleich mit Erwin Stransky als Thymopsyche, dem 
intellektuellen Leben, der Noopsyche Stranskys, gegenüber. 

Auch meine intermediäre psychische Schicht müßte in einem 
Schema, welches Somato- und Allopsyche einerseits, der Autopsyche 
andererseits gegenüberstellt, mitten in und zugleich zwischen Soma- 
topsvche und Allopsyche gelegt werden. 

Dieses grobe und gewiß nach vielen Richtungen unvollkommene 
Schema — wie könnte ich mich auch vermessen, mehr als einen 
Schimmer der Wechselbeziehung des Psychischen in ein Schema ein¬ 
zufangen — erscheint mir gerade wegen seiner Primitivität geeignet, 
die Funktionsstörungen der Dementia praecox, um derentwillen diese 
Untersuchung unternommen wurde, erklärbar zu machen, unter der 
Voraussetzung, daß es ein zusammenhängendes Funktionsgebiet im 
Sinne meiner intermediären psychischen Schicht gibt. 

Dieses Schema, welches an sich nicht lokalisatorisch gemeint 
ist. sondern nur im Sinne einer psychischen Schicht, zeigt 
i aber dennoch hirnlokalisatorische Verwandtschaft. Man könnte mei¬ 
nen. weil es von mir zu Wernickes Hirnlokalisation von Somato-, 
Allo- und Autopsyche in Beziehung gesetzt wurde. Diese Theorien 
Wernickes aber haben bei meiner Aufstellung der intermedi¬ 
ären psychischen Schicht ursprünglich keine Rolle gespielt, sondern 
erst nach ihrer Aufstellung ergaben sich mir die Beziehungen zu 
Wernickes Schema. Nun wissen wir, daß es Hirnrindenleistun¬ 
gen sind, aus welchen beim Menschen und ihm nahestehenden Tier 
entspringen: Die Kenntnisnahme der Vorgänge an unserem Körper, 
wenigstens die bewußte Haut- und Bewegungssensibilität, ebenso wie 
die allopsychische Verwertung der Impressionen, also das Noo- 
psychische, kurz die Gnosis, das Wissen um Objekte: unsere Er- 
scheinungswelt, Außenwelt, Merkmalswelt, ebenso wie unsere be¬ 
wußte Motilität, die Willkürmotilität, die „willkürliche“ spontane Be¬ 
einflussung der Umwelt durch koordinatorisch erzeugtes Handeln und 
Sprechen, also unsere Wirkungswelt; mit der Merkmalswelt zusam¬ 
men unsere Dingwelt, Objektwelt (die Welt der Gegengefüge 
U e x k ti 11 s). 

Auch dürfen wir annehmen, daß die autopsychischen Leistungen 
der Persönlichkeit, wie sie z. B. in Willkürhandlungen und bewußtem 


3 * 



36 


Sprechen enthalten sind, Himrindenleistungen sind, ebenso wie die 
höhere Affektivität mit der Stirnhirnrinde zu tun hat, was besonders 
Karl Kleist hervorhebt. Dagegen erscheinen mir die Affekt¬ 
erweckung, im vorbewußten Anteil, sowie die Fringeerweckung sei¬ 
tens der Impressionen beide in ihrem Gemeinempfindungsanteil und 
den Einstellbewegungen (Denkbewegungen), Einfühlungsbewegungen 
(Mit- und Ausdrucksbewegungen), den Ausdrucks- und Affektbewe¬ 
gungen, sowie in Kronfelds Gestimmtheiten, also das, was ich 
die „intermediäre psychische Schicht“ nenne, 
zentriert um die Basalganglien (die ja zum Teil gene¬ 
tisch und anatomisch der Hirnrinde nahestehen). 

Gründe für die Lokalisation dieser Funktionen, die ich in der 
intermediären psychischen Schicht zusammenfasse, in die Basal¬ 
ganglien ergeben sich aus der Symptomatologie der Basalganglien¬ 
erkrankungen. Diese wurde bruchstückweise im Laufe der Jahre zu¬ 
sammengetragen und durch die sogenannte Grippe-Enzephalitis, die 
Encephalitis lethargica, der letzten Jahre rasch bereichert. 

Ich halte es für wahrscheinlich, daß in dem von mir „Impres¬ 
sion“ genannten, noch ungestalteten „Eindrucksgesamt“ (das Wort 
ist gebildet nach „Bewegungsgesamt“ bei A. Homburger, 
Heidelberg), neben der Exoprojektion der zugehörigen Gemein¬ 
empfindungsänderung, zugleich in nuce mitgegeben sind: die Objekt- 
gestaltung, Ding- und Sachverhaltsgestaltung, überhaupt Denkgegen¬ 
standsgestaltung, wie die Ichgestaltung (immer neu bei jedem Ein¬ 
druck), wie die Relationen der künftigen Objektgestaltung nach 
außen und „innen“ (Zusammenhänge und Beziehungen), wie inner¬ 
halb des Objektes selbst. Letzteres deckt sich zum Teil mit den 
Gestaltsqualitäten (v. Ehrenfels) des künftigen Objekts, insbe¬ 
sondere mit den in der Gestaltenpsychologie (M. Wert¬ 
heimer, W. Köhler, H. D e x 1 e r) betonten „primären 
Gestalten, Gestaltungsgegebenheiten. harmonisch geschlossenen 
psychischen oder phänomenalen Erlebniskomplexen, den phänome¬ 
nalen Strukturen, nicht summativer, sondern übergeometrischer Art, 
dem Sach bezug, als Ausdruck einer elementaren Strukturfunktion 
der Sinnessphären“. Und es berührf sich sowohl mit dem. was 
Kurt Goldstein als „Ganzheitsleistungen“ beiderseits besonders 
in den Stirn- und Scheitellappen lokalisiert: wie auch mit W. James 
Auffassung der Sinne und Aufmerksamkeit als Organe der Selektion 
von Dingen etc. im Kontinuum des Erlebens: endlich mit A. 
v. Tschermaks ..exaktem Subjektivismus in der Sinnes¬ 
physiologie“. 

Man darf sich nun diese in der intermediären psychischen Schicht 



— 37 — 


durchflochtenen Funktionen, welche in den verschiedensten Wechsel¬ 
wirkungen stehen, zum Aufbau des Oberbewußten Zusammenwirken, 
aber auch in ihren bewußten Auswirkungen weit auseinander führen: 
nicht scharf vom Bemerkten, vom Oberbewußtsein abgegrenzt den¬ 
ken. Denn es liegt ja, wie wir sahen, im Wesen dieser Funktionen, 
daß sie Oberbewußtes verschiedener Richtung vorbereiten und 
in verschiedenen Richtungen zum Oberbewußtsein drängen. 


Schema der Bereiche dös psychischen. Geschehens 
No o psyche E. Stransky's 

/ --- - - ■ ■ ----X 

Wer nicke' & *Summe aller Erinnerungsbilder " 

Somaiopsydw hirmdes 

Objekt weit, Erscheinung ^-— rAXtvorzsyetehbe -_ ~ „ 

jvelt '*£.* / 



intermediäre psychische Schicht 

iX 

L 

r 

0 

V und, / 

Thymopsyche E. Stransky's < 

x r 

H 

1 

samt CharahtergruncUcLaeny 

J 


Autopsyche Werruche's, 

Die Persönlichkeit, 
Wermckei "Summe aller persön - 
liehen Erinnerungen (der Erleb■ 


rtiss#) * 


Intermediäre psychische Schichl 

fringe u. unb emerkte psych. Situation 
wbmrrH* Gedankenalmosphären Triebreganga 
«o (unbemerkte Einstellungen u Gesamtheiten) , 

ÄSES-iv Gemeine mpfindung / 

HfAuoptyd* » xirut < 

liychomoliliidt 

linstetl -tDenXjbetregungen t Ausdrucks- und 
yffit{EüdählaTSK-)lewttunoen Mtttbeweaanaa 

***: Thymopsyche. 

CJuraXter,WilU, Pkn 
»SnUihheit. 

iur A ulopsyc/ie 


Sornaio * 
psyche 


Aus dem gleichen Grunde wird man hier eine scharfe Trennung 
nicht fordern dürfen: zwischen genetischem Erklären und deskrip¬ 
tivem Erfassen und Verstehen, wie es in der empirischen Psychologie, 





38 


besonders von Franz Brentanos Schule und neuerdings von 
Jaspers gefordert wird. Das Unbemerkte, welches das Bemerken 
vorbereitet, ist ja nur genetisch erschließbar und erklärbar, nur im 
Oberbewußten ist der Psychologie reine Deskription möglich. Will 
man aber dem unterbewußten psychologischen Geschehen nachgehen, 
erscheint die scheinbar so exakte und berechtigte Forderung: scharf 
die deskriptive Beschreibung von der genetischen Betrachtung zu 
trennen, nicht anwendbar. 

Es wäre so, als wolle man Einem nachts die Fassaden einer 
Straße des fernen Ostens im Scheinwerferlicht aufleuchten lassen und 
von ihm fordern, er solle das hinter den Fassaden liegende nach 
Struktur. Einrichtung und Zweck der Gebäude angeben. Man muß 
in die dunklen Gebäude, Tempel und Häuser hineingehen, oder sonst¬ 
wie erfahren, was darin ist, was sie bedeuten und welchem Zweck sie 
dienen. Für den im Dunkel liegenden Aufbau des Psychischen dient 
diesen Zwecken die Untersuchung des Unbemerkten und Unbewußten, 
Material und Grundlagen hierfür gaben seit jeher die Psychiatrie und 
Psychopathologie durch Festlegung psychischer Ausfallserscheinun¬ 
gen und Störungssymptome. Sie zogen ihrerseits aus der psycho¬ 
logischen Untersuchung ihrer Beobachtungen weitgehend Vorteil und 
haben wohl noch manchen davon zu erwarten. 

Es soll mit dem allem, also weder die ausschließliche 
Verlegung der bewußten Phänomene in die Hirnrinde, noch auch 
die ausschließliche Verlegring aller unbemerkten, 
das Bewußte vorbereitenden Leistungen in die intermediäre Schicht, 
noch gar in die Basalgangliensysteme mit ihrem Unterbau und Über¬ 
bau gemeint oder gar vertreten sein. Sondern es handelt sich hier 
vorerst um einen Versuch, eine gemeinsame unbemerkte 
Fundierung auseinandergehender bewußter Lei¬ 
stungen, sowie Schalt- und Betriebsstätte dieser 
Fundierung vorläufig festzulegen. Dieser Versuch könnte meines 
Erachtens, ohne Hirnrindenbeteiligung bei der Dementia praecox aus¬ 
zuschalten, doch dem Studium der Symptome, des Verlaufs und der 
Pathogenese der Dementia praecox dadurch nützlich werden: daß 
er an Stelle der immer wieder gesuchten Primärsymptome der De¬ 
mentia praecox eine breitere Basis für die Erklärung der 
Verschiedenartigkeit der Symptome, Verläufe usw. der Dementia prae¬ 
cox zu schaffen vermöchte. Dies ist dann möglich, wenn die inter¬ 
mediäre psychische Schicht bei verschiedenen Fällen, Zustandsbildern, 
Verlaufsformen, nicht in den gleichen Funktionen oder nicht in glei¬ 
chem Ausmaße und Grade betroffen wird. 



39 


II. Verschiedenartigkeit der pathogenetischen Erklärungen 

der Dementia praecox. 

Betreffs der Symptomatologie, Pathologie und Pathogenese der 
Dementia praecox liegen eine Reihe scheinbar sehr weit aus¬ 
einandergehender Betrachtungsweisen, Auffassungen und Erklärun¬ 
gen vor. 

Sie sind psychopathologischer, tiefenpsychologischer (Freud- 
scher), von den Motilitätsstörungen ausgehender, also motorisch¬ 
psychologischer, und sonst zerebraler oder überhaupt somatischer, 
konstitutioneller, besonders endokriner, weiter erbbiologischer Rich¬ 
tung: neuerdings auch charakterologisch-psychologischer, z. T. tiefen- 
psyehologisch-charakterologischer und endlich auf der Erlebnis- und 
Wert psyehologie basierter Richtung. 

Fast alle Erklärungen erstreben die Pathogenese einheitlich zu 
erfassen oder wenigstens möglichst viel von der Symptomatologie 
und Pathologie der Dementia praecox zu umfassen. 

Es sind psychopathologisch gerichtet: Die psychische Schwäche. 
Aufmerksamkeits- und Konzentrationsschwäche als Endausgang und 
juvenile Demenzform (nach der alten Psychiatrie) einer im jugend¬ 
lichen Alter ablaufenden Einheitspsychose (K a h 1 b a u m), der 
Vesania typica completa, welche von einleitender Melancholie durch 
Manie, über Paranoia und Verwirrtheit zur Demenz führt; ähnlich die 
Amentia der alten Psychiater. Wernickes Dissoziation und Se- 
junktion (anatomisch-psychologisch). (Tschisch (1880) Unfähig¬ 
keit zur Aufmerksamkeit. Aschaffenburg (1898) und Som¬ 
mer (1894) Störung der Aufmerksamkeit (optische Fesselung). 
Masse 1 on (1902) Distraction perpetuelle und endlich Wey- 
gandt (1904 und 1907) die apperzeptive Verblödung 
(wiedergegeben nach H. W. G r u h 1 e ..Die Psychologie der 
Dementia praecox“). Kraepelins Lehre von der Denk¬ 
zerfahrenheit und dem Verluste der Zielstrebigkeit, sowie von 
der affektiven Verblödung. C r a m e r s Erklärung der Motili¬ 
tätsstörungen und gewisser Wahnbildungen aus Körpersinnshalluzi¬ 
nationen. Erwin Stranskys Sprachverwirrtheit, Affektver- 
ödung und affektive Verblödung bei intrapsychischer Ataxie, beson¬ 
ders zwischen Thymopsyche und Noopsyche. 

Max L ö w y: a) Intentionsleere mit konsekutivem Direktions¬ 
verlust (Verlust der Zielstrebigkeit) im Denken, Fühlen und Handeln 
(Demenzprozesse 1910); b) als Voraussetzung für die autochthonen 
Ideen und für das Halluzinieren: bei diesen Inhalten ein Fehlen oder 



40 


die Herabsetzung des „Denkgefühles“ für den Denkvorgang als sol¬ 
chen, des Gefühles (der Bewußtheit) selber psychisch zu agieren; und 
das Fehlen der Aktionsgefühle als allgemeines Kennzeichen der in der 
Norm unbemerkten Denkvorgänge, der psychischen Schicht des Un¬ 
bemerkten, (die Aktionsgefühle 1908); c) Übererregbarkeit des Be¬ 
merkens, Bewußtwerden der in der Norm unbemerkt bleibenden Ge¬ 
dankengänge und desgleichen Untererregbarkeit des Bemerkens, z. B. 
Nichtverstehen von Abstraktem mangels Mitschwingens des zugehö¬ 
rigen Konkreten infolge Unerregbarkeit desselben, beides bei Gemein- 
empfindungs- und Labyrinthstörung, (Lotos, 1909); Denkablaufs-, 
überleitungs- und Elektionsstörungen in den Gedankenatmosphären, 
im unbemerkten Fransensaum der bewußten Gedanken (Fringe 

— Franse — von Jante s) und Entäußerung von Fringebruchstücken 

— als „Füllsel“ — in Ablaufspausen des Denkens bei motorischem 
oder psychischem Drange nach Entladung (1910 Stereotype, pseudo- 
katatone Bewegungen, 1911 Über eine Unruheerscheinung: Die Hallu¬ 
zination des Anrufes mit dem eigenen Namen, 1912: Meteoristische 
Unruhebilder); d) Entäußerung unfertiger Halbfabrikate des Den¬ 
kens im Sprechen, Handeln und besonders in Schriftstücken mit kon¬ 
sekutiver Ambivalenz, Bilanzunfähigkeit des Denkens. Abschlu߬ 
unfähigkeit des Denkens — vgl. F r i e d m a n n s Unabgeschlossen¬ 
heit und Unabschließbarkeit des Zwangsdenkens. 1920 — alles aus 
Überleitungs- und Elektionsstörung im Fringe: Unfertiges Denken, 
(1918: Über Hypnose: Kapitel Einfühlung und 1922: Über Wahn¬ 
bildung). 

Berze 1914: Insuffizienz der psychischen Aktivität. Bleu- 
1 e r: Assoziationsspaltung. Verlust der Assoziationsspannung, 
der Schaltspannung, primär, sowie als Folge von Störungen der 
Affektivität. Neuesten» rät H. W. Gruhle „Die Psychologie der 
Dementia praecox“, Ztsch. f. d. g. N. und Ps. 78. Bd. 4 und 5, vor¬ 
getragen 22. und 23. 11. 1921 zu Heidelberg, gegenüber Berze und 
Bleuler nicht nur nach einem Minus zu suchen, sondern dem 
„Anderssein“ der Kranken nae.hzugehen. Neben der Aktivitäts¬ 
störung als quantitativem Faktor (sowohl im Sinne des Minus als 
des Plus) betont er den qualitativen Mangel der Motiv¬ 
setzung, die Störung zwischen Grund und Folge, die Motivgrund¬ 
störung. Jenes Schisma, das der Krankheit den Namen (der 
Schizophrenie) gibt, liege nicht in den „Akten“ selbst, sondern an 
einem anderen „Ort“: in der Verbindung der Akte, gestört sei der 
„Sinnzusammenhang“, der „Motivzusammenhang“ der Akte. (Anm. 



41 


Max Löwy: Mir scheint jeder gerichtete Akt von vornherein auf 
..Sinngestaltung“ in der „Objektgestaltung“ zu gehen.) 

Karl Jaspers Psychopathologie 1920 betont Seite 350 und 
351 bezüglich des katatonen Symptomenkomplexes das Verschwin¬ 
den der aktuellen Persönlichkeit durch Störung des Willens, der 
Aktivität beim Denken, beim planmäßigen Lenken der Vorstellungs¬ 
richtung, beim Sprechen, beim Bewegen, beim Schreiben usw. Über¬ 
all zeigen sich analoge Störungen: Verbigeration im Reden, Gekritzel 
beim Schreiben, passives Stehenbleiben, plötzlich unterbrochene Be¬ 
wegungen. Steifheit, mitten im Satz unterbrochenes Sprechen, Spre¬ 
chen, während man gerade fortgeht usw. Dabei kann es sich keines¬ 
wegs um bloß motorische Störungen handeln, denen der Kranke, und 
seien sie noch so kompliziert, doch als etwas Fremdem, bloß Körper¬ 
lichem gegenüberstehen kann. Die Störung muß viel höher, 
im Psychischen, liegen. Sie ist mit den ganz anderen aprakti- 
schcn und aphasischen Störungen ganz unvergleichbar. . . . 

Stellen wir die Aktivität, fährt Ja s p e r s fort, gleichsam als die 
aktuelle Persönlichkeit der dauernden Persönlichkeit (im Sinne 
der konstanten Motive, Triebregungen usw.) gegenüber, so könnte 
man sagen: Nicht die dauernde Persönlichkeit (der Charakter) wurde 
vom katatonischen Symptomenkomplexe ergriffen, sondern nur die 
aktuelle. Es macht manchmal den Eindruck, als verschwinde 
einfach der Charakter, aber nicht ein veränderter tritt an die 
Stelle, sondern jenes mechanische bloß augenblickliche Geschehen, 
das eben den katatonischen Symptomenkomplex ausmacht. Aus die¬ 
sem Verhältnis könnten wir dann die fehlende Einsicht verstehen, 
(die Persönlichkeit, die die Einsicht haben könnte, ist verschwunden). 
Wohl aber wird der dauernde Charakter von der Krankheit er¬ 
griffen. die auch den katatonischen Symptomenkomplex schafft. 
S. 354 führt Jaspers diesen Grundzustand auf Modifikationen resp. 
Zerstörung weniger der Leistungen als des Zentrums des 
seelischen Lebens, d. h. der Persönlichkeit, und auf Prozesse mit gro¬ 
ber Zerstörung der Persönlichkeit zurück (S. 280, 281). S. 374 führt 
Jaspers über den Symptomenkomplex des „verrückten“ Seelen¬ 
lebens aus: Subjektive Erlebnisse des Kranken sind hier 
die Quelle der paranoischen Wahnbildung, der echten Wahnideen, 
gegenüber den wahnhaften Ideen, welche aus Stimmungszuständen, 
Wünschen, Trieben mehr weniger verständlich entspringen. Durch 
zahlreiche Vorgänge in der Umgebung, die die Aufmerksamkeit 
der Kranken erregen, werden unangenehme, für uns kaum ver¬ 
ständliche Gefühle wachgerufen, der Vorgang belästigt sie. 
berührt sie. 



42 


(Anmerk. Max Löwy: Vergleiche hierzu meine Erklärung des 
diffusen Beziehungswahns und Bedeutungswahns als ein Sichgetrof- 
fenfühlen, Sichberührtfühlen, Sichgemeintfinden, mit dem Eindruck 
unbestimmter Importanz der Eindrücke: aus unbestimmter Unruhe, 
Erwartung oder Angst oder dem Gefühle drohenden Unheils (Stim¬ 
mungsgrundlagen der Paranoia nach Alexander Margulies): ähnlich 
dem Sicliangerufenfühlen im halluzinierten Namensanruf: d. i. dem 
„Rufcharakter!“ sowohl des Bedeutungswahns, Beachtungswahns, 
wie des halluzinierten Namensanrufs, nicht selten zusammen mit die¬ 
sem Namensanruf, mit Ahnungen und mit Störungen des Denkgefühles, 
des Gefühles, psychisch zu agieren, (1911: Über eine Unruheerschei¬ 
nung: Die Halluzination des Anrufs mit dem eigenen Namen mit und 
ohne Beachtungswahn). Vergleiche weiter in meinen Arbeiten Aus¬ 
führungen über Störungen des Gedankenablaufs und des Bemerkens 
durch Gemeinempflndungsstörungen und Labyrinthstörungen 1909. 
1911. Endlich 1922 (Über Wahnbildung) meine Auffassung der 
Eigenbeziehung von Rufcharakterart als Erhöhung der Ichgerichtet- 
heit der Impressionen infolge erhöhten Ichgerichtetseins auf die Ein¬ 
drücke: auf dem Boden der unbestimmten Unruhe und Erwartung). 
Jaspers fährt fort: Manchmal ist „alles so stark“, klingen die Ge¬ 
spräche „zu scharf in den Ohren“, manchmal irritiert die Kranken 
auch ohne das jedes Geräusch, jedes beliebige Geschehen. Immer ist 
es so, als wenn es gerade auf sie abgesehen wäre. Schließlich 
ist den Kranken dieses vollkommen deutlich. Sie „beobachten“, daß 
man über sie spricht, daß gerade ihnen etwas zum Trotz gemacht 
wird. In urteilsmäßiger Formulierung entsteht aus diesen Erlebnissen 
der Beziehungswahn. Dabei beherrschen den Kranken zahl¬ 
reiche „Gefühle“, die man als unbestimmte Erwartung, Unruhe, Mi߬ 
trauen, Spannung, Gefühl drohender Gefahr. Ängstlichkeit, Ahnungen 
usw. anzudeuten sucht, aber nie eigentlich trifft. Dazu kommen als 
weitere Gruppe alle die Erlebnisse von gemachten oder ab¬ 
gezogenen Gedanken. Die Kranken sind ihres Vorstellungs¬ 
verlaufes nicht mehr Herr, schließlich ergänzen allerhand Sinnes¬ 
täuschungen (häufig Stimmen, optische Pseudohalluzinationen, Kör¬ 
persensationen) das Bild. Gleichzeitig finden sich fast immer zahl¬ 
reiche Züge des neurasthenischen Symptomenkomplexes. Bei alle¬ 
dem bildet sich kein Zustand eigentlicher akuter Psychose aus. 
Weiter betont Jaspers das primäre nicht weiter analysierbare 
Wahnerleben als charakteristisch für Prozeßpsychosen. 

Kronfeld (1922) betont eine primäre Störung des 
Bewußtseins der I c h a k t i v i t ä t bei besonderen einzelnen 



43 


Akten (den autochthonen Ideen), welche Störung zu Spalten und Ab¬ 
gründen im bewußten Erleben und der Erlebnisverknüpfung führt 
und an den Bruchstellen das Hervorbrechen primitiver „archaisch¬ 
magischer“ Erlebnisweisen im Sinne von Reiß und Storch (s. u.) 
gestatten kann. 

Paul Schilder schuf die bedeutsame Konzeption: der 
Widersprochenheit der Denkinhalte und dazu gehörigen Denkakte 
(evtl, auf Grund einzelner Inhalte: Widersprochenheit aller Akte und 
so des Denkens überhaupt). 

Tiefenpsychologisch: Die Lehre Bleulers vom Mangel an Rap¬ 
port mit der Außenwelt, vom Autismus: Selbstabsperrung gegen 
außen und Selbsteinspinnung in Komplexphantasien, in ein wirklich- 
keitsabgewandtes Komplexleben; und vom autistischen, emotiv-un¬ 
disziplinierten, vom „deröierenden“ Denken. Jungs Introversion 
und Inversion: Wunscherfüllung in Phantasien. Alfred Adlers 
Flucht aus der Realität, vor den Anforderungen der Wirklichkeit und 
besonders der Sexualität, mit Aufbau von Sicherungsmaßnahmen 
gegen die Lebenserprobung. Freuds und Abrahams Regres¬ 
sion auf primitive Triebstufen durch Zurückziehung der Objektlibido, 
des Interesses an der Außenwelt, anläßlich der Versagung in der 
Realität, mit Übersteigerung des Ichideals (Narzißmus), Autoerotis¬ 
mus und Kampf gegen eine homosexuelle Komponente. (Freud: 
erwartende, oft homosexuelle, diffuse Erotik bei ambi¬ 
valenter starker (narzisstischer) Feindseligkeit, beides 
gegen Alle: als Wurzel paranoischer W r ahnbildung. Vgl. oben 
meine erhöhte Ichgerichtetheit auf die Impressionen im diffusen 
Beziehungswahn.) Weiter auch hier S c h i 1 d e r s Widersprochen- 
heitslehre. Reiß und Storch (nach Freud und Schil¬ 
der) schizophrene Dynamismen aus dem Triebleben der 
Primitiven, sowie aus deren prälogischem „magisch“-affek- 
tivem Denken und Vorstellen als atavistisches Aufllackern 
archaiischer Tiefenschichten des Trieblebens (wiedergegeben nach 
Kronfeld). Max Löwy (1922 Über Wahnbildung) Lehre von 
den symbolisierenden Wahnbildungen der Schizophrenen und Para- 
phrenen aus „Symbolbedürfnis“ (Wahnbedürfnis und Wahnerleben in 
bezug auf Verpöntes): nach Freud sehen Mechanismen wird Ver¬ 
pöntes in Wahnform und zwar in Symbolen, Ersatz- und Kompromi߬ 
produkten, Umkehrungen, z. B. des Erstrebten ins Erlittene usw. ver¬ 
kappt erlebt und entäußert; daneben auch alle anderen Formen affekt¬ 
geschalteter, überwertiger, einseitig zentrierter Wahnideen und be¬ 
sonders initial diffuse Eigenbeziehung aus erhöhter Ichgerichtetheit 



44 


auf alle Impressionen — reines Wahnwahmehmen — und anderes 
Wahnerleben vorkommend. Auch diese Wahnformen können (müs¬ 
sen aber nicht), ebenso vielleicht Kleists aus Denkstörung beson¬ 
ders der Begriffsbildung und Begriffswahl kurzschlüssig (nach 
„K a 1 a u e r - A r t“ möchte ich sagen) erfließende Form von Bezie¬ 
hungsherstellung, sekundär symbolisch verwertet werden. 

Motorisch und motorisch-psychologisch Wernickes Motili¬ 
tätspsychosen und Kleists Lehre (seit 1906) von der Erkrankung 
extrapyramidaler „psychomotorischer“ Funktionssysteme durch Schä¬ 
digung der Kleinhirn-Basalganglien-Stimhirnsysteme in einer oder 
mehreren ihrer drei Staffeln (s. u.). Gestützt und präludiert wird 
diese Lehre durch verschiedene, aber vor Kleist nicht zusam¬ 
mengefaßte, sondern nur Einzelpunkte betreffende Hinweise anderer: 
Hartmanns psychische Störungen bei Pseudo-Bulbärparalyse 
(1902); Max L ö w y (1903): Katalepsie- Erklärung durch den 
normalen stellungserhaltenden Antagonisten-Dehnungsreflex bei Feh¬ 
len des Ermüdungsgefühls an einem Falle mit wechselnder, auch ein¬ 
seitiger, Muskelrigidität und Haltungsstarre im Anschluß an Apo¬ 
plexien mit dem Bilde der Paralysis agitans sine agitatione und 
Mikrographie bei symmetrischen Herden im Nucleus caudatus und 
Nucleus lentiformis beiderseits; dort zugleich Hinweis auf die Mikro¬ 
graphie, Körperhaltungsstarre und -bewegungsstarre, Augenhaltungs¬ 
und -bewegungsstarre, Sprechbewegungsstarre der Paralysis agitans 
bei Erhaltung der Sehnenreflexe und auf etwaige analoge Lokalisation 
bei derselben. Weiter 1905: Feststellung eines die Schreibkoordina¬ 
tion der rechten Hand (Mikrographie) und die Sprachkoordination 
allein betreffenden, den Eintritt der Bewegung verzögernden, das Fort¬ 
schreiten derselben erschwerenden „koordinatorischen Rigors“, iso¬ 
liert für die betreffenden Koordinationen, während andere Funktio¬ 
nen derselben Muskeln ungestört blieben, im Anschluß an transito¬ 
rische Hemiplegie; (1910 Demenzprozesse) Dementia paranoides 
mit lokalisiertem koordinatorischem Rigor der Schrift (Mikrographie) 
und Sprache schon unter Berufung auf Kleist. Seither zahlreiche 
verstreute Hinweise besonders von A. P i c k auf die Analogien neuro¬ 
logischer, besonders Herdaffektionen zu einzelnen katatonen motori¬ 
schen Störungen. Max L ö w y (1912: Meteoristische Unruhebilder) 
Erklärung des Rapport mangels und der initialen Demenzdiagnose als 
ein Symptom des Untersuchers und nicht des Unter¬ 
suchten: als Mangel an Einfühlung des Untersuchers, als Fehlen 
der rapporterweckenden Mitbewegungen beim Untersucher, dies alles 
infolge des Fehlens (oder der Abwegigkeit) der feinsten Ausdrucks- 



45 


bewegungen beim Patienten, welche Ausdrucksbewegungsstörung 
direkt zu dieser Zeit noch nicht bemerkbar sein muß. 

Organisch: Die prinzipielle Verlaufsbewertung Kraepe- 
1 i n s; die allgemeine Bewertung der Demenz, die Dissoziations-, Se- 
junktionsauffassung, wie Bleulers Auffassung der schizophrenen 
Assoziationsstörung als organisch; die Lehre von den Himprozessen 
W i 1 m a n n s , und Jaspers Prozeßpsychose; Max L ö w y (1910: 
Demenzprozesse und ihre Begleitpsychosen) die Scheidung von 
schleichender Verblödung und akuten und subakuten Hirnschädi¬ 
gungssyndromen, letztere als „Schübe“ betrachtet und auf Grund von 
Akuität, Intensität und Dauer der Schübe gestaffelt als: Koma, Be¬ 
nommenheit, epileptiforme Anfälle, schwere motorische Unruhe und 
Erregung, Delirien, Korsakoff-Bilder, Halluzinosen, halluzinatorische 
und gelegentlich rein wahnhafte paranoide Psychosen; weiter „Be¬ 
gleitpsychosen“ der Demenzprozesse: durch den einschleichenden 
initialen oder schleichend fortschreitenden Destruktionsprozeß ent¬ 
stehende erworbene psychotische Konstitutionen (heute würde 
ich sagen Geistesverfassungen) psychopathischer oder manisch- 
depressiver Form, welche sich analog den angeborenen Konstitutio¬ 
nen gleicher Form in den entsprechenden Psychosen auswirken kön¬ 
nen. Sowohl die Demenz, wie die akuten und subakuten Hirnschädi¬ 
gungssyndrome (Schübe), wie die erworbenen psychotischen Kon¬ 
stitutionen faßte ich als die Folge des chronischen Himdestruktions- 
prozesses und seiner Verlaufsform auf, sowohl bei der progressiven 
Paralyse, senilen Demenz, Epilepsie, zerebralen Arteriosklerose, wie 
bei der Dementia praecox; aber auch bei infektiösen Prozessen und 
auch bei akuter einmaliger Himschädigung, Hirnverletzung (trauma¬ 
tische Demenz) wie auch bei chronischen Intoxikationen: (Alkohol¬ 
neurasthenie, Alkoholhysterie, Pseudologia phantastica und Eifer¬ 
suchtswahn der Trinker, Alkoholepilepsie, Delirien, Halluzinosen, 
Alkoholparanoia, Korsakoff und alkoholische Demenz). Daneben Be¬ 
tonung des — Besonnenheit und chronischen Verlauf vorausgesetzt — 
für Dementia praecox charakteristischen körperlichen Beeinflussungs¬ 
wahns, verwandt damit die Paranoia hypochondriaca: mit Organ¬ 
halluzinationen. Kraepelins und seither vieler anderer Hin¬ 
weise auf endokrine Störungen (Genitaldrüsen, Schilddrüse) bei De¬ 
mentia praecox; die Abderhalden sehen Abbaureaktionen bei 
derselben (Fauser, Kafka usw.) und Erwin Stranskys 
darauf gestützte endokrine Auffassung. 0. P ö t z 1 s Feststellungen 
über Hirnschwellung bei Katatonen: P ö t z 1 wies durch eine Reihe 
von Arbeiten und Fällen seit 1909 nach, daß die Hirnschwellung. 



46 


welche sich in akuten Phasen der Katatonie findet, nicht spezifisch 
für diese sei, sondern daß ihre Symptome — eben die der Him- 
schwellung — auch beim Status epilepticus und bei anderen Toxi¬ 
kosen Vorkommen; weiter, daß in anderen Fällen in den akuten 
Schüben der Katatonie meningitiforme Erscheinungen vorliegen, 
analog aber nicht identisch zur Himschwellung. In anderen Fällen 
gingen Quinckeödeme und Schwellung der Niere mit akuten Schüben 
der Katatonie einher, also Schwellungen auch anderer Organe, nicht 
nur des Gehirns, besonders wenn eine lokale Minderwertigkeit des 
betreffenden Organs vorlag, z. B. eine kongenitale Ureterdrehung 
eben der betroffenen Niere. P ö t z 1 stellt fest, daß die Hirnschwel¬ 
lung zweierlei Quellen haben kann, einerseits eine Erkrankung des 
Gehirns etwa im Sinne von Reichardts Veränderung der Hirn¬ 
kolloide, andrerseits aber die Rückwirkung der in den Fällen von 
Katatonie vorhandenen Übererregung der sympathischen und auto¬ 
nomen Systeme auf den Zustand der Kolloide im Gehirn. Da diese 
Übererregung ebensogut durch zentrale Einflüsse nach Analogie des 
Himdrucks als auch durch endokrine Störungen (Kraepelins 
Annahme für die Dementia praecox) bedingt sein kann, findet der 
Beobachter hier eine Kette von Wirkungen vor, die sich zu einem 
Ringe schließt und innerhalb dessen ein Anfangspunkt erst ander¬ 
weitig ermittelt werden müßte. 

(Nicht nur für die akute Katatonie, sondern auch für die Gesamt¬ 
lehre der Dementia praecox ist dieser Gesichtspunkt 0. P ö t z 1 s 
bedeutsam und zugleich eine wichtige Warnung vor übereilten 
Schlüssen s. u.) 

Dazu Kretschmers Aufbaukomponenten der Psychose: 
Konstitution, Charakter und Erlebnisreaktionen, Exogenes, Lebens¬ 
perioden; und Birnbaums Lehre von den pathogenetischen und 
pathoplastischen Faktoren, welche uns schon zu den charakterologi- 
schen und erbbiologischen Auffassungen hinüberführen. 

Charakterologie besonders der präpsychotischen Zeit und Erb¬ 
biologie: Sanders Paranoia originaria: Von Kindheit an sonder¬ 
bar verschlossen, still, zurückgezogen, träumerisch oder bösartig¬ 
jähzornig, hypochondrisch und reichlich onanierend. Bleuler, 
Kraepelin, G i e s e: Von Kindheit an teils scheu-zurückgezogen, 
verschlossen, teils störrisch-widerspenstig. 

In der F a m i 1 i e der D.-pr.-Kranken auffallend häufig son¬ 
derbare Charaktere (Boven, Voigt); Boven als Kindheits¬ 
züge der D.-pr.-Kranken selber: Misanthropie, Menschenscheu, Un- 
gcselligkeit. unter Vaterzucht mehr passiv, z. B. schüchtern, später 
öfter aggressiv; nach Voigt hierzu noch teils Lenksamkeit und 



47 


übertriebene Frömmigkeit, teils Sichabschließen, Eigensinn, anti¬ 
soziale Neigungen; Jeliffes „Predementia praecox“ der 
Kindheitsgeschichte: Weichlichkeit, zusammenhangloses Denken, 
Launen, ethische Defekte, Absonderung; (wiedergegeben nach dem 
Referate Helmut Müllers (Dösen) s. u.). Freuds Narzißmus; 
Bleulers autistisch emotionelles, „dereierendes“ Denken und 
Autismus. Kretschmers Konstitutions- und Temperamentslehre 
ipsychästhetische Konstitution der Schizophrenen: kalt und reizbar, 
empfindlich s. u.). Bleulers Erbschizose und Sichtschizose und 
schizophrene Reaktionsformen nicht manifest Kranker. R ti d i n s , 
Erwin Kahns und Hoffman ns, sowie Erwin Poppers 
und anderer Studien über die Erbschizose und die schizophrenen 
Situationsreaktionen im Verhältnis zur manifesten Dementia praecox. 

Erwin Popper (Prag): „Der schizophrene Reaktionstypus 44 (Ztschr. 
f. (i. ges. Xeur. u. Psych. Orig. 62. Bd. 1920) definiert S. 207 folgendermaßen: 
Der schizophrene Reaktionstypus bedeutet einen Komplex von Individual- 
faktoren, deren die Wesenheit, das Verhalten, die affektiven Entladungen usw. 
verfärbende reaktive Äußerungen die schizophrene oder schizoide Reaktion 
schaffen, die vom schizophrenen Krankheitsvorgang und überhaupt vom 
Krankheitsbegriff der Schizophrenie strikte zu sondern wäre. 

S. 197: Es erscheint mir die Annahme eben durchaus nicht zu phan¬ 
tastisch. daß hier vielfach nichts anderes vorliege, denn eine bloße Reaktion, 
daß hier cum grano salis nur zwei Kraftkomponenten die Resultante der Stö¬ 
rung bedingen, exogene (organisch oder funktionell wirksam) Noxe und Reak- 
tinnsträger allein einander gegenüberstehen. Die Reaktion holt dabei aus 
dem betreffenden Individuum im Sinne endogener Reaktionstypen alles hervor, 
was an individual-spezifischer Eigenheit und Wesenheit vorher mehr oder 
weniger latent war. (H o c h e spricht von „präformierten, beim Gesunden 
latenten, dann akut hervorbrechenden Symptomverkuppelungen 44 .) Vielfach ist 
ja schon vorher, wenigstens andeutungsweise zu erkennen, was da potentiell 
gesteigert sich birgt, was als Denk-, Charakter- oder Temperamentseigenheit 
die Individualpsyche kennzeichnet oder in verschroben-verschnörkelter Art 
schon immer manifest den Sonderling schafft, während oft wieder erst die 
Reaktion, die speziellen psychotischen Tendenzen, die in so überaus erstaun¬ 
lich vielen Menschen vorbestehend scheinen, hervorbrechen läßt. Meyer 
(Med. Klinik 41, 1919) äußert sich ganz ähnlich dahin, daß die Reaktionstypen 
mi allgemeinen wohl nur die Steigerung und Vergröberung normaler Reaktio¬ 
nen bedeuten. 

S. 203, 204: Schon K ü t n e r s Beobachtungen an degenerierten Gefan¬ 
genen erwiesen das Vorkommen schwerer, ganz den Katatonien gleichender 
Bilder, doch wohl aus psychogener Verursachung. Und die Studien über das 
Entartungsirreseiu, wozu wohl Bonhöffer den ersten Anstoß gab, er¬ 
brachten ebenso, besonders in den Untersuchungen psychotisch gewordener 
Stralgefangener, viele Resultate, die den hier erörterten Momenten entsprechen. 

S. 204: Immer wird zu sehr von hysterischen Reaktionen schlechthin 
gesprochen, während der Eventualität einer dem Oberbegriff psychogen viel- 



48 


fach zwar unterzuordnenden, aber von Hysterie sensu strictiori doch wohl 
mehr oder weniger scharf abzutrennenden schizophrenen Reak.tion 
im Gegensätze zu wirklicher Erkrankung an Schizophrenie bisher wenigstens 
ausdrücklich, nirgends Rechnung getragen wird. Sicher ist viel davon unter 
den auf Erschöpfung bezogenen, unklaren Zuständen von Verwirrtheit oder 
Zerfahrenheit, unter den Fällen Stieflers, unter den als Pseudodemenz 
gefühlten oder Ziehens „asthenischer Stupidität“ entsprechenden Bildern 
enthalten. Aber auch in der Friedenspraxis . . . wird man doch auch immer 
wieder vor Zuständen stehen, die zum Schlüsse drängen, sie mehr als Reak¬ 
tionsform, als reaktiv-schizoiden Symptomenkomplex anzusprechen. Und ver¬ 
wandte Tendenzen drücken sich wohl auch in Bornsteins Aufstellung 
soiner St hizothymia reactiva aus. Seine Fälle, sowie ein einschlägiger Beitrag 
van der Torrens scheinen zum Teil oder durchaus ins Bereich der hier 
verfochtenen Anschauungen zu fallen. Es ist eben meines Dafürhaltens, 
fährt Popper fort, zweifellos nicht zu bestreiten, vielmehr wohl durchaus 
nrciit selten, daß viele Individuen, ohne darum etwa latent-schizophren sein zu 
müssen, ohne jemals eine weitere Entwicklung in schizophrener Richtung er¬ 
kennen zu lassen, ja ohne überhaupt im gewohnten Kreise auch nur andeu¬ 
tungsweise Spuren heboider Wesenheit darzubieten, unter entsprechenden Ver¬ 
hältnissen als Ausdruck endogener, ihnen eben spezifischer Reaktionsweise 
Zustände auf weisen, deren Symptomatologie den Verlaufsbildern echter Schizo¬ 
phrenien weitgehend und vorläufig oft kaum oder gar nicht unterscheidbar 
ähnelt. Man darf hier wohl die Annahme einer speziellen Form psychopathi¬ 
scher, bzw. degenerativer (aber darum eben nicht von vornherein hysterischer) 
Reaktionsbereitschaft, eines besonderen Reaktionstypus akzeptieren. Viel¬ 
leicht bestehen auch verwandtschaftliche Zusammenhänge mit jener psychischen 
Eigenart, wie sie manchen Fällen von Kretschmers sensitivem Bezie¬ 
hungswahn zugrunde liegt, vielleicht sind, wie sicher wohl in manchen ras¬ 
sischen Gruppen, auch unter den Debilen und Imbezillen diese Typen beson¬ 
ders oft auffindbar. S. 205. 

Es folgt der Hinweis, daß katatone Syndrome unter den differen¬ 
testen Verhältnissen auch bei anderen echten und in sich zirkum¬ 
skripten Psychosen Vorkommen und ihnen eine vielfach fremde Fär¬ 
bung verleihen. So auch bei organischen Prozessen, Epilepsie, pro¬ 
gressiver Paralyse. „Natürlich sind hier jene Katatonieformen aus¬ 
zuschließen, die als sicher organisch bedingtes Syndrom mit mehr 
oder weniger umschrieben bestimmbaren Herdaffektionen auftreten, 
wie z. B. die katatonen Zustände bei Erkrankungen des Corpus 
striatum, auf die, wie ich glaube, L ö w y als erster aufmerksam ge¬ 
macht hat. Es sei hier nur nebenbei erwähnt, daß ähnliche Bilder 
bei Stirnhirnverletzungen, wie sie z. B. H e i 1 i g und Rosenfeld 
beschrieben haben, Heilig zur Vermutung eines Zusammenhanges 
der Stirnhirnfunktionen mit der katatonen Form def Schizophrenie 
verleiten.“ 

ln seiner Arbeit ..Klinische Studien zur Genese der Schizophrenie“, II 
(zur exogenen Genese), (Monatsschr. f. Psych. u. Neur. 1921, Bd. 50. H. 4) ver- 



weist E. P o p p e r (S. 246) darauf, daß nach Traumen, vor allem des Schädels, 
sich nach einleitendem Kopfschmerz, Schwächezuständen oder epileptiformen 
Erscheinungen, vielleicht zunächst bei den Patienten, mit denen es „nichts 
Rechtes mehr“ ist, ein oft Jahre andauerndes Siechtum und endlich ein immer 
prägnanteres Bild schizophrener Symptome entwickelt. Auch somatische 
fieberhafte Erkrankungen, Pneumonie, Typhus, Grippe können einen Schwäche* 
zustand hinterlassen, auf den sich bald oder später die Psychose aufpfropft. 
Auch psychische Traumen, wie rein psychische Momente der Situation, z. B. 
die Entwurzelung durch Änderung des Milieus und Verlust der Familie oder 
Einflüsse des Militärdienstes, der Haft, oder der Verheiratung, können den 
Krankheitsausbruch einleiten. Es seien fast nirgends die affektiven 
Komponenten der angeführten Schädlichkeiten entscheidend, sondern vielmehr 
wohl stets eine die Gesamtmentalität: den Intellekt, ebenso wie die Gefühls¬ 
und Willenssphäre alterierende, irgendwie geänderte Funktionsbeanspruchung, 
die schließlich Störungseffekte entfaltet. Besonders wichtig aber war es, daß 
mehr als die Hälfte der Fälle von Schizophrenien mit Traumen in der Vor¬ 
geschichte sich schon von vornherein als disponierte, ausgesprochener auf¬ 
fällige Individuen darstellen. Sie erkrankten kaum unter den somatischen 
Bedingungen, vielmehr wohl unter den allgemeinen psychischen, in den be¬ 
grenzten Kreis ihres Lebens eingreifenden Folgen des Traumas. Es dürfte 
kaum von mehr denn von möglicher Auslösung die Rede sein. Auch hier 
war es aber die Unmittelbarkeit sogleich manifester schizophrenischer Krank- 
luitszeiehen, die den Schluß auf die nur explosionsbewirkende Flamme nahe- 
hrachte, während Pulverfaß und Lunte wohl bereit stehen mochten (S. 244, 245). 

S. 245: Die bisherigen nur für jeden Fall an sich besser darstellbaren, 
in summarischer Erörterung jedoch recht verschwimmenden Umstände ließen 
erkennen, daß in der Regel der endogene Komplex fast alles, die exogene 
Komponente zwar ein vielleicht nicht eliminierbares, aber relativ doch nur 
geringfügiges und variables Etwas bedeutet. Diese Verhältnisse liegen aber in 
manchen Fällen anscheinend umgekehrt. Hierher fallen ziemlich viele unserer 
bezüglich endogener genetischer oder dispositioneller Merkmale ganz negativer 
Kranker. Vielfach handelt es sich um bis in ein späteres Alter ganz unauf¬ 
fällige, auch nicht im mindesten abwegig charakterisierte Persönlichkeiten. 
Hier ergibt sich tatsächlich wiederholt der Anschein, als schüfe die exogene 
Schädlichkeit den Boden, auf dem dann erst sekundär sogleich oder später 
die eigentlichen Krankheitsagenzien oder Krankheitsbedingungen die manifeste 
Erkrankung bewirken. In dieser Reihe der exogenen ‘ Fälle wäre also mit 
scheinbar größerem Recht von einer vielleicht direkt primären Be¬ 
deutung exogener Noxen zu sprechen und ihnen ein Hauptanteil 
am Krankheitswerden zuzuerkennen. 


Ernst Kretschmer (Tübingen): „Körperbau und Cha¬ 
rakter, Untersuchungen zum Konstitutionsproblem und zur Lehre von den 
Temperamenten“ (1921, Berlin, bei Springer) resümiert für uns sehr Wichtiges 
am Schlüsse seines Buches im 14. Kapitel „Theorie der Temperamente“, 
S. 184 ff. Doch sei vorher aus dem Vorwort von R. G a u p p, S. IV, das 
angeführt, worüber mein Auszug hier an sich nicht expressis verbis Auskunft 
toewy, Dementia praecox. (Abhandlungen H. 20.) 4 



geben könnte. Indem Kretschmer seinen Blick über die Mauern der 
Klinik hinausrichtend das vielgestaltige Leben mustert, indem er genealogische 
Feststellungen und historische Übermittlung in sein Forschen hineinzieht, ver¬ 
schwimmen ihm die Grenzen zwischen Krankheit und Gesundheit immer mehr; 
der zirkuläre Krankheitstypus geht ohne sichtbare Grenze in die zyklothyme 
Persönlichkeit über; der schizophrene Kranke hat im „schizoiden“ seine 
Abortivform und im „schizothvmen“ Gesunden sein charakterologisches Rudi¬ 
ment oder vielmehr seinen weiten biologischen Rahmen. Und diese beiden 
großen Gebiete menschlicher Wesensart und Erkrankungsform zeigen eine 
nicht immer augenfällige, aber in den typischen Ausprägungen überraschende 
körperliche Eigenart, die der Messung zugänglich ist und für das 
Verständnis der gesamten biologischen Vorgänge von tiefer Bedeutung wird. 
Die biologisch-klinische Studie erweitert sich zum allgemeinen Problem des 
Zusammenhanges zwischen leiblicher Form und seelischer Art, deren zwei 
größte Gruppen (z y k 1 o t h v tu e r und s c h i z o t h y m e r Typus) in ihrer 
auch kulturell wichtigen Sondertorm durch weite Gebiete des geschichtlichen 
Lebens verfolgt werden. 

E. Kretschmer führt aus (S. 184 ff.): 

Die drei Begriffe: Konstitution, Charakter und 
T e m perament haben für uns im Laufe unserer Untersuchungen 
ungefähr folgenden Sinn bekommen: 

Unter Konstitution 1 ) verstehen w i r die G e - 
s a in t h e i t aller der individuellen Eigenschaften, 
die auf Vererbung beruhen, d. h. g e n o t y p i s c h 
verankert sin d. 

Nur einen Teil der Konstitutionsfaktoren haben wir unseren 
Untersuchungen zugrunde gelegt, nämlich die Wechselbeziehung 
zwischen Körperbau, Persönlichkeitsanlage, psychiatrischer und inter¬ 
nistischer Morbidität. Der Konstitutionsbegrilf ist ausgesprochen 
psychophysisch, gesamtbiologisch, auf das Ineinander von Körper¬ 
lichem und Psychischem gerichtet. Der Begriff Charakter dagegen 
ist ein rein psychologischer: 

U nter Charakter verstehen w t i r die Gesamt¬ 
heit aller affektiv- willens mäßigen Reaktions¬ 
möglichkeiten eines Menschen, wie sie im Lauf 
seiner Lebensentwicklung entstanden sind, also 
aus Erbanlage und sämtlichen exogenen Faktoren: Körpereinfltissen. 
psychischer Erziehung, Milieu und Erlebnisspuren 2 ). 

1 ) Wir schließen uns hierin den guten Auseinandersetzungen K ahn« 
über „Konstitution, Erbbiologie und Psychiatrie“ im wesentlichen an (Ztsehr. 
f. d. ges. Neur. u. Psych. 57, 1920). 

*) Genaueres hierüber in meinem Buch über den sensitiven Beziehung»- 
walin. Berlin, Springer, 1918. 



51 


Der Ausdruck Charakter nimmt die psychische Gesamtpersön- 
lichkeit von der Affektseite aus, ohne daß sich natürlich die Intelli¬ 
genz an irgendeiner Stelle davon trennen ließe. Der Begriff Charakter 
hat also ein großes Stück mit dem Begriff Konstitution gemeinsam, 
nämlich den ererbten Teil der psychischen Qualitäten; er abstrahiert 
dagegen von den körperlichen Korrelaten, die der Konstitutions¬ 
begriff mit umfaßt, während er andrerseits die exogenen Faktoren, 
besonders die Erziehungs- und Milieuresultate als wichtigen Bestand¬ 
teil in sich schließt, die dem Konstitutionsbegriff fremd sind. — 
Zudem pflegt man herkömmlich die schwer krankhaften Seelen¬ 
zustände nicht mehr als Charakter zu bezeichnen. 

Außer dieser genau umschriebenen Bedeutung kann man den 
Ausdruck Charakter auch allgemein für den Persönlichkeitsaufbau 
gebrauchen, ohne auf die Unterscheidung von konstitutionellen und 
exogen entwickelten Faktoren wesentliches Gewicht zu legen. 

Der Ausdruck Temperament endlich ist für 
uns zunächst noch kein geschlossener Begriff, 
sondern ein heuristisches Kennwort, dessen Reich¬ 
weite wir jetzt noch nicht übersehen, das aber der Richtungspunkt 
für eine wichtige Hauptdifferenzierung der biologischen Psychologie 
werden soll. Wir stellen uns nämlich vorläufig einmal zwei inein¬ 
ander greifende Hauptwirkungskreise vor: 

1. Die seeliechen Apparate, was man ungefähr auch 
den psychischen Reflexbogen nennt, die Instanzen also, die, in wahr¬ 
scheinlich phylogenetisch gestaffeltem Instanzenzug, die bildliche 
und vorstellungsmäßige Verarbeitung seelischer Reize vom Sinnes¬ 
eindruck bis zum motorischen Impuls vermitteln. Ihr körperliches 
Korrelat sind die Gehirnzentren und -bahnen in unzertrennbarem Zu¬ 
sammenhang mit den Sinnesorganen und den Motilitätsinstanzen: 
also der Sinnes-Gehirn-Motilitätsapparat. 

2. Die Temperamente. Sie sind, wie wir empirisch 
sicher wissen, blutchemisch, humoral mitbedingt. Ihr körperlicher 
Repräsentant ist der Gehirn-Drüsenapparat. Die Tem¬ 
peramente sind derjenige Teil des Psychischen, der, wahrscheinlich 
mit auf humoralem Weg, mit dem Körperbau in Korrelation steht. 
Die Temperamente greifen, Gefühlstöne gebend, hemmend und an¬ 
treibend in das Triebwerk der „seelischen Apparate“ ein. Die Tem¬ 
peramente haben, soweit sich bisher empirisch übersehen läßt, offen¬ 
bar Einfluß auf folgende seelische Qualitäten 1) auf die Psych- 
ästhesie, die Überempfindlichkeit oder Unempfindlichkeit gegen 
seelische Reize: 2) auf die Stimmungsfarbe, die Lust- oder 


4 * 



52 


Unlusttönung der seelischen Inhalte, vor allem auf der Skala heiter 
und traurig; 3) auf das psychische Tempo, die Beschleuni¬ 
gung oder Hemmung der seelischen Abläufe im allgemeinen, wie auf 
ihren speziellen Rhythmus (zäh festhaltend, plötzlich abspringend, 
Sperrung, Komplexbildung); 4) auf die Psychomotilität, 
und zwar sowohl auf das allgemeine Bewegungstempo (beweglich 
oder behäbig), als auch auf den speziellen Bewegungscharakter (lahm, 
steif, hastig, stramm, weich, rund usw.). 

Dabei ist empirisch festzustellen, daß die Agenzien, die alle 
diese Faktoren beeinflussen, offenbar auch bei der Bildung der An¬ 
se h a u u n g s - und Vorstellungstypen, bei dem, was- 
man Intelligenz oder geistige Anlage nennt, ein wichtiges Wort mit¬ 
zureden haben, wie wir in den einzelnen Kapiteln, besonders an den 
(felehrten und Künstlern des öftern gezeigt haben. In welcher Art 
z. B. bei dem. was man abstraktes und anschauliches Denken, 
optischen und akustischen Vorstellungstypus nennt, Temperaments¬ 
einflüsse und Struktureigentümlichkeiten spezieller Gehirnapparate 
ineinander greifen, vermögen wir noch nicht zu übersehen. Zumal 
die Möglichkeit offen bleiben muß, daß humorale Hormonwirkungen 
auch am anatomischen Gehirnaufbau sowie am übrigen Körperbau 
beteiligt sind, wodurch die ganze Frage eine geradezu schwindelnde 
Kompliziertheit bekommt. Wir werden daher gut tun. den Tem- 
peramentsbegriff zunächst um die psychischen Instanzen zu grup¬ 
pieren, die erfahrungsgemäß auf akute chemische Wirkungen 
exogener (Alkohol, Morphium), wie endokriner Art besonders leicht 
und häufig ansprechen, also vor allem Affektivität und allgemeines 
psychisches Tempo. 

Im einzelnen ist zur biologischen Grundlegung unserer Vor¬ 
stellungen von den Temperamenten folgendes zu sagen; das Ge¬ 
hirn bleibt zum mindesten Erfolgsorgan für sämtliche auf das 
Temperament bezügliche Wirkungen, auch soweit sie vom Blut¬ 
chemismus ausgehen. Daß direkte Einwirkung auf das Gehirn 
Temperamentsveränderungen einschneidendster Art hervorbringen 
kann, zeigt die experimentelle Erfahrung an den Gehirntraumatikem* 
Man muß diese Selbstverständlichkeit besonders unterstreichen, 
damit wir nicht gleich von der hirnanatomischen in die humorale Ein¬ 
seitigkeit verfallen, wozu gerade bei der jetzigen Modeströmung Ge¬ 
fahr ist. Wie weit neben dieser Eigenschaft als Erfolgsorgan das 
Gehirn auch primäre aktive Funktionen beim Zustandekommen solcher 
psychischer Qualitäten, wie der Stimmungsfarbe und des allge¬ 
meinen psychischen Tempos, hat. werden wir heute nicht entscheiden 



53 


wollen. Bezüglich der verschiedenen sensorischen und psycho¬ 
motorischen Funktionstypen, der Typen der Vorstellungs- und An¬ 
schauungsbildung werden wir erst recht noch keine Antwort suchen 
auf die Frage: was ist von diesen verschiedenen seelischen Funk¬ 
tionstypen in anatomisch geschiedenen Gehimapparaten repräsentiert 
und was beruht nur auf Umschaltungen desselben Apparats durch 
verschiedene chemisch humorale Einflüsse. Wir werden es aber 
schon für einen Gewinn halten, uns diese Fragestellung überhaupt 
einmal formuliert zu haben. Die einseitige Denkrichtung, die 
letzthin alles Seelische in Gehirnzentren unterzubringen geneigt 
wäre, wird dadurch wesentlich modifiziert. Jedenfalls ist es keine 
Fragestellung, die müßig aus der Luft gegriffen wäre, sondern sie 
wird durch den Gang unserer empirischen Untersuchungen im Ver¬ 
lauf dieses Buches geradezu aufgedrängt. 

Nun zu den inneren Drüsen. Daß das endokrine System 
auf die Psyche, speziell die Temperamentsqualitäten wesentlichen 
Einfluß hat, ist eine empirische Tatsache, die z. B. bezüglich der 
Schilddrüse durch die ärztlichen Erfahrungen bei Kretinismus, 
Myxödem, Cachexia strumipriva und Basedow, bezüglich der Keim¬ 
drüse durch das Kastrationsexperiment sichergestellt ist. 

Wir sehen nun bei den großen schizothymen und zyklothymen 
Temperamentsgruppen wiederum die Korrelation zwischen 
Körperbau und Temperament, also gerade diejenige 
biologische Beziehung, die uns auch bei den groben glandulären Aus¬ 
fallswirkungen so sehr in die Augen springt, wenn wir etwa den 
Parallelismus zwischen psychischer Mißbildung und hypoplastischem 
Körperbau bei den K r e t i n e n oder den Parallelismus zwischen dem 
Längenwachstum der Extremitätenknochen und der psychischen 
Temperamentsverschiebung bei den Frühkastraten und 
Eunuchoiden beachten, also Dinge, die sich biologisch-gesetz¬ 
mäßig bis in die höhere Tierreihe verfolgen lassen. Bei der H y p o - 
ph y se ist der Einfluß auf das Körperwachstum in der Akromegalie 
besonders auffallend, auch parallele Temperamentseinflüsse sind 
zweifellos bei manchen Akromegalen festzustellen, nur klinisch noch 
nicht genügend herausgearbeitet. Vollends bei polyglandu¬ 
lären Syndromen sind die massiven Eingriffe der Drüsen¬ 
mißfunktion in den Körperbau, die Trophik der Gewebe, wie in die 
psychische Funktionsfähigkeit deutlich sichtbar. 

Der Gedanke ist sehr naheliegend, daß die großen, normalen 
Temperamentstypen der Zyklothymiker und Schizothymiker in ihrer 
empirischen Korrelation mit dem Körperbau durch ähnliche humorale 
Parallelwirkung zustande kommen möchten, wobei wir natürlich 



54 


nicht einseitig an die Blutdrüsen im engeren Sinn, sondern an den 
gesamten Blutchemismus denken müssen, wie er z. B„ 
wesentlich durch, die großen Eingeweidedrüsen, letzten 
Endes durch jedes Körpergewebe überhaupt mitbedingt 
ist. Wir werden an Stelle des einseitigen Parallelismus: Gehirn und' 
Seele bewußt und endgültig den anderen: Soma und Psyche setzen,, 
eine Denkweise, die ja überhaupt klinisch mehr und mehr sich ein¬ 
bürgert. 

Zur Stütze der humoralen Betrachtungsweise der Temperamente 
kommt weiter noch folgendes empirische Material von seiten der 
endogenen Psychosen als der extremen Zuspitzungen der normalen 
Temperamentstypen hinzu. Einmal die Tatsache, daß bisher beim 
manisch-depressiven Irresein wie bei der Schizophrenie die h i r n - 
anatomischen Befunde trotz sorgfältigsten Suchens nicht 
sehr erheblich, bei den Zirkulären geradezu negativ gewesen 
sind; soweit da und dort Himbefunde vorhanden sind, können sie 
sehr wohl sekundär durch humorale Giftwirkung bedingt sein. Des¬ 
halb neigt sich auch die klinische Auffassungsweise dieser Psychosen, 
immer mehr dem Humoralen zu. 

Sodann haben wir bei der Schizophrenie eine Reihe von* 
speziellen Tatsachen an Körperbau, Sexual¬ 
trieb und klinischer Yerlaufsweise herausgestellt,, 
die alle zusammengenommen zum mindesten einmal für die- 
Keimdrüse sehr belastend sind, wobei wir allerdings 
keinesfalls an massive monosymptomatische Keimdrüsenstörungen 
denken dürfen, die bekanntlich keine Schizophrenie machen, sondern' 
wahrscheinlich an komplizierte Disfunktionen der Keimdrüse in 
Korrelation mit dem endokrinen Gesamtapparat und dem Gehirn. 
Vorläufig ist hier noch alle Vorsicht geboten, da ganz sichere Schlüsse- 
auf Grund des empirischen Materials überhaupt noch nicht möglich 
sind, besonders nicht in der Richtung, daß die Keimdrüse in jedem 
Fall beteiligt sein müßte; wie denn sehr denkbar ist, daß verschiedene 
endokrin-chemische Kombinationen dieselben psychotischen Wir¬ 
kungen haben könnten. Außer diesen sehr gehäuften keimdrüsen¬ 
verdächtigen Tatsachen sind uns in einzelnen Fällen auch körperliche 
Befunde begegnet, die auf massive polyglanduläre Stö¬ 
rungen hinzuweisen scheinen. Diese massiven Befunde sind aber 
sehr in der Minderzahl, stehen zudem psychiatrisch zum Teil auf der 
Grenze, wo die feinere schizophrene Symptomatologie in die ein¬ 
fachen disglandulären Schwachsinnsformen und groben Verblödun¬ 
gen übergeht. Dagegen sind uns bei den Zirkulären solche- 



55 


somatischen Tatsachen, die sich zu den Wirkungen der Blutdrüsen im 
engeren Sinne in Analogie setzen ließen, bis jetzt nicht begegnet, 
sondern nur deutliche Beziehungen mit dem allgemeinen 
Körperhaushalt, vor allem dem Körpergewicht und 
Fettstoffwechsel. Möglicherweise wird man also hier, eine 
humorale Ätiologie überhaupt vorausgesetzt, eher an andere Faktoren 
des Blutchemismus, wie z. B. die großen Eingeweidedrüsen u. dgl., 
und nicht in erster Linie an die engeren Blutdrüsen zu denken haben. 

In dieser Hinsicht ist auch bezeichnend, daß die uns bis jetzt 
bekannten seelischen Wirkungen der einzelnen 
Blutdrüsen sich vorwiegend auf der psych- 
iisthetischen Skala bewegen, während sie in diatheti- 
seher Hinsicht viel weniger eindeutig sind. Kastration hat z. B. 
schon im Massenexperiment bei den Haustieren nicht sowohl Einfluß 
auf die Euphorie als vielmehr sehr deutliche Wirkung auf das 
psychästhetische Befinden im Sinne einer gewissen phlegmatischen 
Temperamentsabstumpfung. Das Seelenleben der Eunuchoiden hat 
mit gewissen schizoiden Gruppen engste Analogien (vgl. Fischer, 
Hießen). Ebenso steht bei den groben Schilddrüsenausfällen des 
Menschen im Kretinismus und Myxödem die psychästhetische Ab¬ 
stumpfung durchaus im Vordergrund. Umgekehrt macht Hyper¬ 
sekretion der Schilddrüse im Basedow eine exquisit hyperästhetische 
Nervosität; und die Pubertätsstimmungen, die mit dem starken Ein¬ 
setzen der Keimdrüsenfunktion einhergehen, vor allem die typischen 
Pubertätsaffekte: Pathos und Sentimentalität mit ihrem alternativen 
und überspannten Charakter entsprechen qualitativ ganz gewissen 
Proportionen der Schizothymiker. 

Es fehlt zwar auch keineswegs an Beziehungen des engeren 
endokrinen Systems zu den diathetischen Affekten (Involutions- 
melancholie. Basedowpsychosen), doch sind diese viel weniger durch¬ 
gehend und bezüglich eines direkten Zusammenhanges schon deshalb 
schwieriger zu beurteilen, weil akutere psychästhetische Verschie¬ 
bungen häufig sekundär mit intensiven Unlust- oder Lustempfindun¬ 
gen begleitet werden. Doch sei dem, wie ihm wolle. 

Jedenfalls können wir uns vorläufig einmal leicht vorstellen, daß 
das Temperament eines Menschen, abgesehen voir seinem Gehim- 
zustand. von zwei großen chemischen Hormongruppen abhängig ist. 
von denen die eine der diathetischen, die andere der psychästhe- 
tischen Affektskala, allgemeiner gesagt, die eine den zyklothymen, 
die andere den schizothymen Temperamentstypen korrespondiert. 
Beim Gros der Durchschnittsmenschen wären diese beiden Hormon- 
gruppen gemischt in wechselnden Verhältnissen vorhanden, während 



die ausgesprochenen Zyklothymiker und Schizothymiker mit ihrer 
einseitigen Verstärkung einer Hormongruppe entweder durch verein¬ 
zelte Vererbungsvarianten oder durch konsequente familienweise 
Herauszüchtung entstünden. 

(Anmerkung Max L ö w y: Vielleicht legt man diese Differenz 
doch besser mit in eine solche der intermediären psychischen Schicht 
und deren zerebraler Grundlagen als in eine der Hormongruppen 
allein.) 

Auf alle diese theoretischen Erwägungen darf man beim heuti¬ 
gen lückenhaften Bestand unserer Erkenntnisse kein großes Gewicht 
legen. Es ist nur notwendig und förderlich, daß man sich diese ver¬ 
wickelten Gesichtspunkte einmal genau durchdenkt und die beim 
heutigen Kenntnisstand nächstliegenden Denkmöglichkeiten zu vor¬ 
läufigem, jederzeit widerruflichem praktischen Gebrauch übernimmt. 
Denn irgendeine noch so vage Vorstellung vom Zusammenhang der 
Dinge macht sicli zwangsläufig zuletzt jeder Forscher, und wer als 
reiner Empiriker ganz um das Nachdenken herumkommen will, der 
fällt gerade in die schwärzeste Gehirnmythologie, wie man in früheren 
Jahrzehnten leider gesellen hat. Deshalb werden wir uns vor jeder 
Einseitigkeit und jeder dogmatischen Festlegung sorgfältig hüten und 
in unserem Denken jederzeit Platz auch für direkte zerebrale Kausal¬ 
momente hinsichtlich der Temperamente wie des Körperbaues offen 
lassen, auch wenn die humoralen Gesichtspunkte beim heutigen For¬ 
schungsstand zunächst die deutlicher greifbaren sind. 

Viel wichtiger als die Theorie ist die Festhaltung der direkten 
empirischen Resultate unserer Untersuchungen, von denen w ir einige 
der wichtigeren in folgender Tabelle zusammenfassen: 


Die Temperamente. 



Zyklothymiker 

Schizothymiker 

Psychästhesie und 
Stimmung 

Diathetische Proportion 
zwischen gehoben (heiter) 
und depressiv (traurig) 

Psychästhetische Proportion 
zwischen hyperästhetisch (emp¬ 
findlich) und anästhetisch (kühl) 

Psychisches Tempo 

Schwingende Tempera¬ 
mentskurve zwischen 
beweglich und behäbig 

Springende Temperamentskurve 
zwischen sprunghaft und zäh, 
alternative Denk- und Fühl weise 

Psychomotilität 

reizadäqnat, rund, 
natürlich, weich 

öfters reizinadäquat: verhalten, 
lahm, gesperrt, steif usw. 

Affiner Körperbau 

pyknisch 

asthenisch, athletisch, dysplastisch 
und ihre Mischungen 




















57 


(S. 22. Der pyknische Typus auf der Höhe seiner Ausbildung im 
mittleren Lebensalter ist gekennzeichnet durch die starke Um¬ 
fangsentwicklung der Eingeweidehöhlen (Kopf, 
Brust, Bauch) und die Neigung zum Fettansatz am 
Stamm, bei mehr graziler Ausbildung des Bewe¬ 
gungsapparates (Schultergürtel und Extremi¬ 
täten). Das grobe Eindrucksbild ist bei ausgeprägten Fällen sehr be¬ 
zeichnend: mittelgroße gedrungene Figur, ein weiches, 
breites Gesicht auf kurzem, massivem Hals zwi¬ 
schen den Schultern sitzend; ein stattlicher Fettbauch wächst 
aus dem unten sich verbreiternden, tiefen, ge¬ 
wölbten Brustkorb heraus.) 

Die Temperamente treten also zunächst in die beiden großen 
Konstitutionsgruppen der Schizothymiker und Zyklo- 
t h y m i k e r auseinander. Innerhalb der beiden Hauptgruppen zeigt 
sich eine weitere Zweiteilung, je nachdem das zyklothyme Tempera¬ 
ment habituell mehr nach dem heiteren oder mehr nach dem 
traurigen Pol, das schizothyme mehr nach dem empfind¬ 
lichen oder nach dem kühlen Pol zu gelegen ist. Eine zahllose 
Menge von individuellen Temperamentsschattierungen ergibt sich 
nun schon aus der diathetischen und psychästheti- 
schen Proportion,! h. aus dem Verhältnis, in dem sich inner¬ 
halb desselben Temperamentstypus die polaren Gegensätze gegen¬ 
einander verschieben, überschichten oder schwankend ablösen. wie 
wir das früher gesehen haben. Außer nach den Proportionen 
eines individuellen Temperaments fragen wir immer sogleich nach 
seinen Legierungen, d. h. nach der Tönung, die der vorherr¬ 
schende Temperamentstypus durch andersartige Beimischungen im 
Erbgang mitbekommen hat. 

Dieser Reichtum von Schattierungen wird vermehrt durch die 
Unterschiede des psychischen Tempos. Hier haben wir 
allerdings bei den Zyklothymikern den empirischen Tatbestand, daß 
die heiteren zugleich meist auch die beweglichen und die von den 
Mittellagen nach der depressiven Seite zu gelegenen Temperamente 
zugleich auch mehr die behäbig-langsamen sind. Wie uns das aus der 
klinischen Erfahrung bezüglich der engen Zusammengehörigkeit zwi¬ 
schen heiterer Erregung, Ideenflucht und psychomotorischer Erleich¬ 
terung im manischen, von Depression, Gedanken- und Willenshem¬ 
mung im melancholischen Symptombilde schon länger bekannt ist. 
Auch bei den gesunden zyklothymen Temperamenten gehört eine be¬ 
stimmte Stimmungslage mit einem bestimmten psychischen Tempo 



58 


vorwiegend zusammen, indem sich Heiterkeit und Beweglichkeit 
gerne zum hypomanischen, Depressionsneigung und Langsam¬ 
keit zum schwerblütigen Temperamentstypus verbinden. 

Dagegen sind bei den Schizothymikern ähnliche feste Beziehun¬ 
gen zwischen Psychästhesie und speziellem psychischem Rhythmus 
nicht zu erkennen, indem wir auch bei den zarten Hyperästheti¬ 
kern oft erstaunliche Zähigkeit im Fühlen und Wollen, und umge¬ 
kehrt launische Sprunghaftigkeit auch bei stark abgekühlten Indo¬ 
lenten noch vorfinden. So daß wir also empirisch alle 4 Kombinatio¬ 
nen: empfindliche wie kalte Zähigkeit, sprunghafte Empfindsamkeit 
wie launische Indolenz im schizothymen Formkreis antreffen. 

Die Einzeldifferenzierungen der schizothy¬ 
men Temperamente haben wir ausführlich besprochen. Die 
hyperästhetischen Qualitäten zeigen sich empirisch haupt¬ 
sächlich als zarte Empfindsamkeit, als Feinsinn gegenüber von Natur 
und Kunst, als Takt und Geschmack im persönlichen Stil, als schwär¬ 
merische Zärtlichkeit gegenüber bestimmten Personen, als überleichte 
Empfindlichkeit und Verletzbarkeit durch die alltäglichen Reibungen 
des Lebens, endlich bei den vergröberten Typen, besonders bei den 
Postpsychotikem und ihren Äquivalenten als komplexmäßiger Jäh¬ 
zorn. Die anästhetischen Qualitäten der Schizothymiker zei¬ 
gen sich als schneidende, aktive Kälte oder als passive Stumpfheit, 
als Interesseneinengung auf abgegrenzte autistische Zonen, als „Wur¬ 
stigkeit“ oder als unerschütterlicher Gleichmut. Ihre Sprunghaf- 
t i g k e i t ist bald mehr indolente Haltlosigkeit, bald mehr aktive 
Laune, ihre Zähigkeit manifestiert sich charakterologisch in den 
verschiedensten Varianten: stählerne Energie, störrischer Eigensinn, 
Pedanterie, Fanatismus, systematische Konsequenz im Denken und 
Handeln. 

Die Variationen der diathetischen Temperamente 
sind viel geringer, wenn wir von den starken Legierungen (Queru¬ 
lanten, Krakeeler, Ängstliche, trockene Hypochonder) absehen. Der 
hypomanische Typus zeigt neben der eigentlich heiteren noch die 
zornmütig flotte Stimmungslage. Er variiert zwischen dem rasch 
sich aufschwnngenden Feuertemperament, dem flotten, großzügig- 
praktischen Elan, der Vielgeschäftigkeit und der gleichmäßig sonni¬ 
gen Heiterkeit. 

Die Psychomotilität der Z y k 1 o t h y m e n ist durch die 
bald rasche, bald langsame, aber (von den schweren krankhaften 
Hemmungen abgesehen) stets runde, n atürliche, dem Impuls 
adäquate Form der Mimik und der Körperbewegungen ausgezeichnet. 



59 


Während wir bei den Schizothymikern überaus häufig psycho¬ 
motorische Besonderheiten antreffen, vor allem im Sinne der fehlen¬ 
den adäquaten Unmittelbarkeit zwischen psychischem Reiz und moto¬ 
rischer Reaktion, in Form der aristokratisch verhalte¬ 
nen, stark abgedämpften, oder der affektlahmen oder endlich 
der zeitweilig gesperrten, steifen oder schüchternen Mo¬ 
tilität. 

In ihrer komplexen Lebenseinstellung und Mi¬ 
lieureaktion geben die Zyklothymiker, wie wir gesehen 
haben, hauptsächlich Menschen mit der Neigung zum Aufgehen in 
Umwelt und Gegenwart, von aufgeschlossenem, geselligem, gemütlich 
gutherzigem, natürlich-unmittelbarem Wesen, ob sie nun mehr flott 
unternehmend oder mehr beschaulich, behäbig und schwerblütig er¬ 
scheinen. Es ergeben sich daraus u. a. die Alltagstypen des tat¬ 
kräftigen Praktikers und des sinnenfrohen Ge¬ 
nießers. Es ergeben sich bei den Hochbegabten u. a. die Typen 
des breit behaglich schildernden Realisten und des gutmütig- 
herzlichen Humoristen hinsichtlich des künstlerischen Stils, die 
Typen des anschaulich beschreibenden und be¬ 
tastenden Empirikers und des volkstümlich verständlichen 
Popularisators hinsichtlich der wissenschaftlichen Denkweise, und im 
praktischen Leben die Typen des wohlwollenden, ver¬ 
ständigen Vermittlers, des flotten großzügigen 
Organisators und des derbkräftigen Draufgängers. 

Die Lebenseinstellung der schizothymen Tempera - 
m e n t e dagegen neigt zum Autismus, zum Insichhineinleben. zur 
Ausbildung einer abgegrenzten Individualzone, einer inneren, wirk¬ 
lichkeitsfremden Traum- oder Prinzipienwelt, eines pointierten Ge¬ 
gensatzes zwischen Ich und Außenwelt, zu einem gleichgültigen oder 
empfindsamen Sichzurückziehen von der Masse der Mitmenschen oder 
einem kühlen Hinwandeln unter ihnen, ohne Rücksicht und inneren 
Rapport. Wir finden unter ihnen zunächst zahllose Defekttypen 
V( m mürrischen Sonderlingen, Egoisten, haltlosen Bummlern und 
Verbrechern: unter den sozial hochwertigen Typen finden wir die 
Bilder des feinsinnigen Schwärmers, des weltfrem- 
■Omi Idealisten, des zugleich zarten und kühlen Form- 
aristok raten. Wir finden sie in Kunst und Dichtung als stil¬ 
reine Formkünstler und Klassizisten, als weltflüchtige R o - 
»'antiker und sentimentale Idylliker, als tragische P a t h e t i - 
k er bis zum krassen Expressionismus und tendenziösen 

y * 

•'«turalismus, endlich als geistreiche Ironiker und Sarkastiker.. 



60 


Wir finden in ihrer wissenschaftlichen Denkweise gern einen Hang 
zum scholastischen Formalismus oder zur philosophi¬ 
schen Reflexion, zum mystisch Metaphysischen und zum 
exakt Systematischen. Von den Typen endlich, die ins 
handelnde Leben einzugreifen geeignet sind, stellen die Schizothy- 
miker, wie es scheint, besonders die zäh Energischen, Unbeugsamen, 
Prinzipiellen und Konsequenten, die Herrennaturen, die heroi¬ 
schen Moralisten, die reinen Idealisten, die Fanatiker und 
Despoten und die diplomatisch biegsamen kalten Rechner. 

Wir fassen diese Spezialanlagen, so wie sie nach den bisherigen 
Untersuchungen biologisch zusammenzugehören scheinen, in einer 
Tabelle zusammen, betonen aber, daß die Tabelle nur die hochwerti¬ 
gen sozialen Plusvarianten und von diesen nur die wichtigsten, also 
insgesamt einen Teilausschnitt aus den Gesamttemperamenten 
umfaßt: 


Spezialbegabungen. 



Zyklothymiker 

Schizothymiker 

Dichter 

Realisten 

Pathetiker 


Humoristen 

Romantiker 

Formkünstler 

Forscher 

Anschaulich 

Exakte Logiker 


beschreibende Empiriker 

Systematiker 

Metaphysiker 

Führer 

Derbe Draufgänger 

Reine Idealisten 


Flotte Organisatoren 

Despoten und Fanatiker 


Verständige Vermittler 

Kalte Rechner 


ln ihrem Buch: Psychologie der Zusammenhänge und Beziehun¬ 
gen, 1921, Berlin. Springer, stellt sich VeraStrasser (Zürich) 
auf den Boden der Erlebnis- und Wertpsychologie und der Bezie- 
hungswclt. geht „auf den Menschen in der Welt“ und „auf das ge¬ 
samte in der Wechselwirkung bestehende Beziehungsleben“ und leitet 
daraus nebst vielem anderen ihre Lehre von der Dementia praecox ab. 

S. (i u. 7: Jeder Mensch wird zum Menschen unter den Menschen, wenn er 
sich der gebotenen Beziehungen bedient ... Es handelt sich um das Kennen¬ 
lernen des Menschen durch Feststellung seiner relativen Beziehungsart und 
seiner absoluten Wege, seines Hin- und Herschwankens zwischen sich und der 
Außenwelt, der tausend Möglichkeiten, die er zu verwenden vermag, der von 












61 


ihm und den anderen um dieselben aufgeworfenen Forderungen, der Vervoll¬ 
kommnung des Menschen durch Eingehen von richtigen Beziehungen, der Be¬ 
ziehungen, die den einen zum Durchschnitt, den andern zum Haltlosen, zum 
Unsozialen, den dritten zum unsozialen Verbrecherischen, dann weiter zum 
sozialen oder unsozialen leidenden Nervösen, zum gänzlich asozialen Psycho- 
tiker führen. Aus den Annäherungs- und Distanzierungsversuchen, aus der Fähig¬ 
keit, sich mit der Welt zu vermischen und sich andrerseits aus den Vielen heraus¬ 
zusondern, aus der Fähigkeit, sich zu behaupten, abhängig zu sein, bis zur 
klebrigen Gebundenheit zu versklaven, bildet sich der starke, der große, der 
kranke, der gesunde, der durchschnittliche, der schwache Mensch usw. Der 
Geisteskranke engt den Kreis seiner Erfahrungen ein, reduziert ihn, kennt das 
verwickelte soziale Gefüge nicht, oder entflieht ihm nach Möglichkeit, ist be- 
ziehungsarm, respektive beziehungsverarmt. Vera Strasser stellt der 
Demenz der organisch Kranken, welche sie (S. 459) durch den Verlust von 
Erinnerungsbildern und Gedächtnisstörungen charakterisiert erachtet, die 
Dementia praecox gegenüber, und meint, bei dieser seien alle Funktionen, die 
geprüft sein können, intakt. (Anmerkung Max L ö w y: Vgl. demgegenüber 
•las von Kleist herausgestellte und in seinen Vorlesungen vielfach demon¬ 
strierte Versagen solcher Kranker bei Sprichworterklärung, Bedeutungs¬ 
verständnis, Bildverständnis, Bilderklärung, Begriffsunterscheidung und Be¬ 
griffswahl. sowie mein unfertiges Denken.) 

Vera Strasser meint, diese Demenz sei dasselbe wie die 
ganze Dementia-praecox-Person, wie die Krankheit überhaupt, und 
drücke eine besonders charakterisierte Stellungnahme zur Außenwelt 
aus. Diese Demenz ist eine Art Erkrankung an der Welt. Die Kul¬ 
turwelt verlangt vom Menschen eine gewisse Anteilnahme an ihr, eine 
entsprechende Betätigung und Wechsehvirkung. All dies mangelt 
der Dementia praecox. Das Gesamte der Dementia praecox zeigt ein 
anderes oder gar kein Verhältnis zur ganzen Welt. Dieses andere 
Verhalten läßt sich schon in die frühere Kindheit zurückführen. Wenn 
auch die eigenartige Kindheit von allen Dementia-praecox-Forschern 
Itetont und sogar in die Symptomatologie aufgenommen wurde — 
aber auch nur in die Symptomatologie —, so hat man doch den 
p raecox-demente n Charakter in diesem Sinne als Zen¬ 
trum wenig berücksichtigt. Wohl zog man des fertig modellierten 
Charakters Symptome in Betracht, nicht aber die kontinuierliche Ge¬ 
staltungsarbeit des Kindes an seinem eigenen Wesen unter den 
Wechsel- und Einwirkungen der Außenwelt. Die Demenz der De¬ 
mentia praecox ist das nämliche wie ein anderes Weltempfinden und 
demnach auch dasselbe wie ein anders gewirkter Charakter (S. 460). 
Der Ausdruck des Kindes, das ins Licht schaut, enthält etwas von 
einer undefinierbaren Verwunderung. An einer Analogie gemessen 
möchte man von religiösem Staunen reden. Das Kind nimmt die 
Welt in jeder Beziehung restlos an, geht in ihr auf. Das Verwundern 



62 


aber bedeutet an sich schon Besitz von Werten. Durch Stöße der 
Kultur und Kulturentwicklung erwacht der Begriff der Realität in 
ihm und es kommt Nehmen und Geben, Anziehen und Abstoßen, Wäh¬ 
len und in der Folge Sich-selbst-abmessen an der Umgebung und als 
eine von den daraus sich ergebenden Möglichkeiten das Empfinden 
eines gelegentlich feindseligen Charakters der Welt hinzu. Ein Teil 
der Verwunderung, der gesammelten Werte, wurde in diese obigen 
Begriffe umgewertet; ein anderer Teil, der vom Tage der Geburt an 
sich aufgespeichert habenden, widerstandslos empfangenen und abso¬ 
lut angenommenen Werte bleibt auch nach der Umwertung still, ver¬ 
borgen, latent. Dieses im Kinde latente, sich in ein allgemeines 
Weltempfinden auflösende, aufgehende Verwundern hat durch die 
Entwicklung der materiellen Kulturbegriffe eine Wandlung erfahren, 
die sich im Kinde als natürliches Suchen nach Persönlichkeitsentfal¬ 
tung in der Auseinandersetzungswelt äußert. In ihr liegt die Er¬ 
höhung des Persönlichkeitsgefühles mit dem von vornherein angedeu¬ 
teten Persönlichkeitsideale inbegriffen. Diese Individualentfaltung tritt 
dann in verschiedenen Varianten als Ersatz für das primäre, undefi¬ 
nierbare Verwundern, für das gleichsam religiöse Staunen, dieser all¬ 
gemeinsten psychischen Basis auf (S. 460). Das Kind freilich, das 
von uns psychologisch erfaßt werden soll, befindet sich in einer fort¬ 
währenden Wandlung der Einstellung zur Welt, — das praecox- 
dement sich benehmende Kind tritt uns geradezu in einer in sich ab¬ 
geschlossenen oder in einer offensichtlich feindseligen Einstellung 
gegenüber. Davon geben uns im Grunde auch alle Krankengeschich¬ 
ten von später manifest praecox-dement gewordenen beziehungskran¬ 
ken Psychotikern Zeugnis. Die auffallenden Charakterzüge der De- 
mentia-praecox-Kinder sind Zurückgezogenheit, Reizbarkeit, wache 
Träume, bizarre Handlungen, Plan- und Ziellosigkeiten, gespannte mit 
der Wirklicheit nicht rechnende Fiktionen und Ziele, kurz Beziehungs¬ 
unfähigkeiten bis zur völligen Beziehungslosigkeit. Während Reiz¬ 
barkeit die Feindseligkeit schon in sich enthält, weisen Zurückgezo¬ 
genheit, wache Träume, Ziellosigkeit, mit der geltenden Welt nicht 
rechnende Pläne auf ein Sichabschließen von der Außenwelt hin. 
ohne selbstverständlich die Feindseligkeit zu eliminieren. 

In der Dementia praecox führt der Mangel an objektiven 
Wechselbeziehungen zur Demenz. Sie ist das nämliche wie ein ande¬ 
res Weltempfinden und demnach auch dasselbe, wie ein anders mo¬ 
dellierter Charakter, dessen schließlicher Weg dahin leitet, sich von 
der Welt gänzlich abzuwenden. Die Abwendung von der Realität als 
Folge der Beziehungsunfähigkeit, des Beziehungsmangels: ..Abwen¬ 
dung von der Welt“. S. 461. 



63 


S. 4(52: Alle Fälle der Dementia praecox wären uns unzugänglich, wenn 
wir ihre Psyche aus „einfachen“ Symptomen aufbauen wollten, um sie der¬ 
gestalt zu verstehen. Gehen wir aber von „zusammengesetzten“ Symptomen, 
von der Gesamtheit des Charakters, also von der für die Dementia praecox 
spezifischen Einstellung zur Welt aus, so muß man daraus die 
übrigen Symptome deduzieren können. Der Autismus fügt sich von 
selbst in den Begriff der Einstellung zur Welt, in unsere Auffassung von der 
Demenz der Dementia praecox. Diese Einstellung zur Welt, dieses bis jetzt 
Undefinierbare an der Dementia praecox haben andere Autoren in verschie¬ 
denen Teilstücken zu schildern und zu verstehen versucht. Deswegen sprechen 
sie von Bewußtseinszerfall, von Dissoziation und von Spaltung der Persönlich¬ 
keit. von Affektstörungen, Dissimilation usw. Mit dem veränderten Inter¬ 
esse an der Welt bis zum absoluten Nihilismus dieser Interessen brauchen die 
Affektivität und mit ihr die Assoziationen keine Beziehungen mehr zur Welt 
zu unterhalten und scheinen inkongruent. Affekte und Assoziationen stehen 
nur im Dienste der in sich abgeschlossenen Person und nur in ihrem Dienste. 
Anmerkung Max L ö w y: Vgl. auch Heverochs Auffassung der Eigen¬ 
beziehung und der Depersonalisation als primäre Veränderungen im „Ichthum“, 
UU3. und Jaspers nicht weiter analysierbares Wahnerleben, Schilders 
Widersprochenheit der Inhalte und Akte, sowie meine Lehre vom unfertigen, 
al»chluß- und bilanzunfähigen Denken, den Überleitungs- und Elektionsstörun- 
gen, der Über- und Untererregbarkeit des Bemerkens, alles im unbemerkten 
Fringe, und besonders Kretschmers psychästhetische Konstitution und 
Temperamentslehre, sowie Bleulers, Jungs. „Freuds, Abrahams, 
Adlers Lehren.) 

Aufmerksamkeit setzt gleichfalls Interesse an der Außenwelt 
voraus. Ebenso ist die Aufmerksamkeitsstörung bei der Dementia praecox 
ableitbar aus dem alterierten Interesse an der Realität. Dabei ist zu beachten, 
daß dort, wo die Aufmerksamkeit dem Gedankensystem der in sich abge¬ 
schlossenen Dementia-praecox-Person dient, sie völlig erhalten sein kann. 

rS. 462 u. 463: Läßt sich vielleicht die Ambivalenz als Folge der 
einfachen Symptome der Assoziations- und Affektstörpng verstehen? Daß die 
Dinge gegensätzlichen Wert besitzen, erklärt doch nichts für die Ambivalenz 
der Dementia praecox. Hauptsächlich bei der Berührung mit der Welt be¬ 
dienen sich die Dementia-praecox-Kranken der Ambivalenz. W 7 äre der Mensch 
als ein in sich vollständig abgeschlossenes alleiniges Wesen auf die W T elt 
gekommen, so müßte er immer mit sich selbst einverstanden sein. Er hätte 
die Ambivalenz nie kennen gelernt. Da er jedoch die Welt als gleichsam 
anderes Wesen sich gegenübergestellt sieht, ergibt sich aus dieser Be¬ 
ziehung das absolute Ja und das absolute Nein. Für die Dementia 
praecox ist die Welt eine Durchgangsstufe zurück 
zum eigenen Ich. Dabei denke man nicht an die „Regression“ (der 
Psychoanalytiker), sondern an ein Zurückgehen mit progressiven, psychischen 
Verarmungserscheinungen. Sie hat das absolute unerschütterliche Ja, das ab¬ 
solute unerschütterliche Nein nicht nur erlernt, sondern es wird ihr durch die 
rein subjektive Verwendung dieses Jas und Neins zum Konflikt. Der Praecox- 
Demente verspürt wie niemand die Gegensätze, welche die Welt als anderes 
Wesen mit sich bringt, in sich. Dadurch, daß er sich den Gegensätzen nicht 
anpassen, keinen Ausgleich zu finden vermag, werden sie für ihn verstärkt. 


I 



64 


Seine Ambivalenz ist so, als ob in ihm er selbst und dazu das Aufdringliche 
der Welt wäre. 

S. 28: Der Psychotiker, der nicht nur einseitig, sondern auf seine Idee 
vereinheitlicht orientiert ist, bedient sich selbstverständlich des ambivalenten 
Denkens in ausgesprochenem Maße. Wenn die Ambivalenz in sich das Ja, 
das Nein enthält, so ist der Negativismus eine Teilerscheinung und 
enthält das momentane Nein, den momentanen Gegensatz. Negativismus ist 
ein für jeden einzelnen Augenblick betontes Ablehnen der Außenwelt, ein 
betontes Sichabschließen. und birgt die krasseste Absperrung gegen die Wirk¬ 
lichkeit in sich (S. 463). 

S. 456: Jedem, der die Dementia praecox verfolgt, trete entgegen: ein 
psychischer Mechanismus, der sich nicht abgrenzen läßt, der im Grunde das 
ganze Ich des Kranken bildet, den Gesamt kranken, den man eigentlich 
prognostisch verwertet, von dem die Krankheit ihren Namen trägt: „die De¬ 
menz, die allmähliche Verblödung in und zu den Be¬ 
zieh u n g e n“; die Verarmung der Beziehungen schreitet von Tag zu Tag 
fort und ist eine in ihren kleinen Fortschritten nicht konstatierbare, sozusagen 
nicht greifbare allgemeine psychische Reduktion, eine Veränderung des ge¬ 
samten Ich zur gesamten Außenwelt. Dieser Begriff der Dementia praecox 
schließt den Autismus als zentralen Inhalt ein, bizarre Assoziationen, Inkon¬ 
gruenz der Affekte, Ambivalenz als gleichsam an der Peri¬ 
pherie liegende Erscheinungen. S. 456 werden angeführt: 
die unberechenbaren sprunghaften, bizarren, die Wechselbeziehungen mit der 
Welt als Voraussetzung nicht tragenden Assoziationen und die so¬ 
genannte Inkongruenz der Affekte. Affekte, die ein scheinbar 
(weil nicht im Zusammenspiel mit den Zwecken der Außenwelt), isoliertes 
Dasein führen; auch die Ambivalenz, das Denken und Handeln in Gegensätzen, 
kann dazu gerechnet werden. S. 457 wird die Unverständlichkeit „Das große 
Geheimnis, das die Dementia praecox uns darbietet“, sowie die Annahme, daß 
bei der Dementia praecox der ganze Charakter von Tag zu Tag verändert, das 
Gesamtverhältnis zur äußeren Welt ummodelliert wird, als Argument dagegen 
verwertet, daß die Assoziationen, welche lediglich ein Mittel für das Aus¬ 
tauschverhältnis (sc. von Beziehungen) der Person und der Außenwelt seien, 
eine primäre Störung erleiden. Die von innen heraus aus dem gesamten Per¬ 
sönlichkeitsgebilde mit seiner Vergangenheit und seinen zukünftigen gebauten 
oder vorgebauten Zielen zu verstehende Assoziationstätigkeit ist bei der De¬ 
mentia praecox nicht gestört. Die Assoziationstätigkeit, das objektiv logische* 
Denken hat seine Voraussetzung darin, daß es Zeit und Raum und den Neben¬ 
menschen berücksichtigt, sie geht aber in der Dementia praecox nach einer 
subjektiven Logik, welche dann die genannten objektiven Merk¬ 
male ausschließt. Sie braucht von diesem Gesichtspunkte aus materiell an sich 
nicht gestört zu sein. Im übrigen gehen viele Assoziationen bei sogar vor¬ 
geschrittenen bedenklichen Krankheitsfällen ihren normalen Weg. Außerdem 
wissen wir, daß bei ein und demselben Kranken einmal sehr komplizierte 
Assoziationsvorgänge ausfallen können, dann »wieder ganz einfache Asso¬ 
ziationsvorgänge nicht vorhanden sind, während die komplizierteren oder 
solche, die früher, ja die überhaupt nicht vorhanden waren, nun auf einmal 
auftreten können. (S. 458.) 

8. 458: Der Begriff der Affektivit ä t , von der angenommen wurde, 
daß sie frei flottieren könne, entstand infolge davon, daß wir Wissenschaft- 



65 


lieh zu sehr gewohnt sind, die menschlichen Lebensäußerungen und Hand¬ 
lungen zu zergliedern. Die Affektivität darf niemals losgelöst, für sich allein 
betrachtet werden, sondern muß immer als durch und durch mit der ganzen 
Persönlichkeit, mit allen Qualitäten ihrer Beziehungserfahrungen und mit der 
ganzen schöpferischen Lebensaktion, gleichgültig ob letztere persönliche oder 
allgemeine Werte in sich schließt, verbunden betrachtet werden. 

Wenn die Affektivität der Dementia praecox frei flottierend, als ob sie 
ein abgesondertes Leben führte, erscheint, so geschieht es deswegen, weil dem 
Beobachter gerade die Zusammenhänge, die logischen Wechselwirkungen 
zwischen diesen abgesonderten Affekten und der Außenwelt fehlen. Uns 
können sogar Triebregungen und Triebhandlungen nur dann normal erscheinen, 
wenn wir ihren logischen und lebenslogischen Zusammenhang entsprechend der 
Beziehungswelt, wenn wir ihre Kausalverbindungen kennen. Bei der De¬ 
mentia praecox ist nur die sogenannte „Austauschaffektivität“ 
anders. Das Affektivitätsverhältnis zum eigenen Ich, gleichviel ob es dem 
Beobachter für den zu beobachtenden Fall zweckmäßig oder unzweckmäßig 
erscheint, ist erhalten, sowie das normale Handeln häufig dem Zuschauer nutz¬ 
los und inkonsequent vorkommt, während es sich doch beinahe starr dem nächst- 
liegonden Ziele des Beobachteten zu wenden kann. Außerdem endlich gilt es 
für die Dementia praecox als feststehende Tatsache, daß eine Zeitlang 
felilende Affektivität unter Umständen völlig wieder vorhanden sein kann, 
auch dies, wie alle oben angeführten Erwägungen ein weiterer Grund, die 
Affektivität nicht als etwas Primäres im Krankheitsbilde des beziehungs¬ 
kranken Psychotikers zu betrachten (S. 459). 

S. 459: Nach einem erneuten Hinweise auf die Unverständlichkeit der 
momentanen Ausbruchserscheinungen der Dementia praecox und der eigen¬ 
artig erscheinenden Zusammenhangslosigkeit von deren psychischen Äuße¬ 
rungen mit der Totalität der Welt wird betont, daß es ja gerade die peripher 
liegenden Austauschsymptome sind, die uns unverständlich erscheinen. Bei 
der Dementia praecox darf die historische Struktur der Psyche, die Ich- 
kontinuität, deren Wege, Ziele und Spannungen erfaßt sein müssen, nicht aus 
dem Auge gelassen werden. Diese Ichkontinuität findet ihren Ausdruck bei der 
Dementia praecox in ihrer sich stets erneuernden mehr und mehr von der Welt 
sich abwendenden Einstellung, der Demenz. Es klingt fast paradox, die 
Demenz, die man beim Kranken mit ungeschulten Augen nicht sieht, sondern 
beständig ahnt, und welche man als Folge der Erkrankung betrachtet, als Auf¬ 
takt und Introduktion erkennen zu wollen. 


Cber die psychologischen Grundlagen, von denen V e r a 
Strasser ausgeht, ist oben (Kap. I) das Nötigste beigebracht wor¬ 
den. Da ich auch auf das die Dementia praecox betreffende des Ge¬ 
naueren nicht mehr zurückkommen möchte, sei hier gleich einiges zu 
Vera Strassers Grundlegung der Dementia praecox angemerkt. 
Es liegt hier ein höchst radikaler Versuch vor, unter einem einzigen 
Gesichtswinkel, sowohl die gesamte Psychologie als in den Lebens¬ 
beziehungen des ganzen Menschen gegeben, wie auch die Neurosen 
und Psychosen als Beziehungsstörungen und insbesondere die Psy- 

L o e w y . Dementia praecox. (Abhandlungen H. 2(0 5 



66 


chosen als Beziehungsverarmung und endlich die Dementia praecox 
als Beziehungsarmut und Beziehungsverarmung von Haus aus zu er¬ 
fassen. Nun leuchten in dem großen Büche trotz Bekämpfung der be¬ 
treffenden Anschauungen (zum Teil ohne Nennung des Autors) fast 
überall tiefenpsychologische Auffassungen durch. So Bleulers 
Rapportmangel, Selbstabsperrung und Selbsteinspinnung, Jungs 
Introversion und Inversion, Freuds und AlfredAdlers Flucht 
aus der Realität und in die Krankheit, Adlers vorbauende Siche¬ 
rungstendenzen, Freuds Narzißmus usw., was wohl schon die hier 
gegebene abrupte Darstellung zeigen kann. 

Ebenso zeigt Vera Strassen Lehre Beziehungen zu der von 
Erwin Stransky über die intrapsychische Ataxie, und wohl 
auch recht nahe zu den älteren und jüngeren nordischen Lehren von 
Bror Gadelius, Frey Svenson und Viktor W i g e r t 
über Eigengeltungsgefühle und Abhängigkeitsgefühle, zu der Lehre 
von A. Store h und nach ihm R. Stern über Selbstwert und 
Selbstwertsucher, wie zur Lehre vom Ressentiment und der 
Entwertungstendenz und vor allem teils Beziehungen, teils 
Widerspruch zu F r e u d s dynamisch-psychologischer Entwicklungs¬ 
lehre von den drei Triebstufen in den drei Abhandlungen zur Sexual¬ 
theorie: Die erste Unterscheidung von Innen und Außen, von „Ich- 
Subjekt und Außenwelt-Objekt“ durch den Säugling daran, daß sich 
äußerer Reiz und äußere Unlust primär durch motorische Akte, Flucht 
oder Wegstrampeln beheben lassen. Dann die Lust- und Unluststufe 
des .,purifizierten Lust-Ichs“, indem das kleine Kind alle Unlust als 
von außen kommend behandelt, bis es endlich die „Objektstufe“ er¬ 
reicht, auf welcher die Lust und Unlust als dem Ich zugehörig er¬ 
kannt und die Objekte der Außenwelt dem Ich gegenübergestellt wer¬ 
den. Vgl. auch oben mein „orientierendes Denken“ und die Gegen¬ 
standswelt, die Gegenwelt U e x k ü 11 s bei differenzierteren Organis¬ 
men gegenüber der bjoßen Umwelt (Merkwelt und Wirkungswelt ohne 
intra-psychische Verbindung) bei primitiveren Organismen. Gegen 
die Anschauung, daß die Aufmerksamkeit, die Auffassung, Sprache 
und logisches Denken bei der Dementia praecox nicht gestört seien 
„außer durch die Subjektivität“, scheinen mir zu entscheiden: Fest¬ 
stellungen Kleists über Störungen der Begriffsbildung, Begriffs¬ 
scheidung und Begriffswahl (paralogisches Denken) und dadurch, 
sowie durch Verwandtes erzeugte Fehlbeziehungen in seiner Schizo¬ 
phrenie engeren Sinnes, die Unfähigkeit zur richtigen Wortwahl bei 
der Schizophasie mit Wortneubildungen und seine experimentellen 
Feststellungen über Störungen der Begriffsunterscheidung, des Bild- 



67 


Verständnisses, der Sprichworterklärung und Bildererklärung bei bei¬ 
den, wie auch bei anderen Formen von Dementia praecox, auch wenn 
sie ganz geordnet erscheinen. Ebenso spricht gegen Vera Stras¬ 
se r: meine Lehre von den Störungen des Bemerkens (1908 und 1909) 
von den Fringe-Bruchstücken, welche bei Störung des normalen 
Denkablaufes auftauchen (1910), von den Überleitungsstörungen und 
Elektionsstörungen im Fringe (1910, 1911) und vom unfertigen Den¬ 
ken (1918) auch als Erklärung für die Ambivalenz, weiter meine 
Lehre von der Störung der Mitbewegungen als Ursache von Einfüh¬ 
lungsstörungen und Rapportmangel, welche Störung der Mitbewegun¬ 
gen unbemerkt im Beobachter als Folge der Störung der Ausdrucks¬ 
bewegungen der Kranken entsteht (1912); weiter auch meine Lehre 
von den Überleitungsstörungen im Fringe auch als Ursache des Man¬ 
gels an Ablösbarkeit des Denkens mit konsekutiver Störung der Mo¬ 
dulationsfähigkeit des Denkens (Marienbader Vortrag 1919): was 
alles für eine Auffassung der Beziehungsverar¬ 
mung als „sekundäre“ Erscheinung sehr in die Wag¬ 
schale fallen könnte. Es könnten sowohl eine Übererregbarkeit des 
Bemerkens, als auch eine Schwererweckbarkeit des Denkens (Stö¬ 
rung des Fortschreitens im Gedankengange durch Überleitungsstö- 
nmg im Fringe, und Untererregbarkeit des Bemerkens), (Marien¬ 
bader Vortrag 1919): primär die Modulationsfähigkeit des Den¬ 
kens und damit die Lebensbeziehungen sekundär stören, oder es könn¬ 
ten primäre Störungen der Einstell- und Mitbewegungen usw. viel¬ 
leicht kausal zur Beziehungsverarmung stehen. (Beziehungs¬ 
unfähigkeit der Dementia praecox ist „Übertragungsunfähigkeit“ und 
Einfühlungsunfähigkeit aus Denkstörung oder Motilitätsstörung.) 
Vor allem wird man in der „Demenz“ nach Vera Strasser, d. i. 
in der ..Beziehungsverarmung“, sei diese Verarmung nun primär 
oder sekundär, doch nicht glattweg einen „Ausdruck der Erhaltung 
der I c h k o n t i n u i t ä t“ erblicken dürfen, — im allgemeinen gilt 
ja ..schizophrene Demenz“ als Persönlichkeits z e r f a 11 —: außer 
man übersetzt „Demenz“ mit „Ichlibido“ (Autoerotismus, Narzi߬ 
mus). was Freud gewiß nicht gemeint hat. 

Es wird weiter, trotz Vera Strasser, noch vieler Arbeit be¬ 
dürfen, um festzulegen, welche Bedeutung die Konstitution, sowohl 
die psychische als die körperliche insbesondere endokrine, die Tem¬ 
peramente und die Charakteranlagen der Kindheit, die Freud sehen 
Triebabbiegungen und Triebfixierungen schon der frühen Kindheit, 
öer Narzißmus und die Regression auf den Narzißmus usw. für die 
Dementia praecox und ihre Beziehungswelt haben. 


5* 



68 


Vergleiche hierzu auch Karl Abraham „Klinische Beiträge zur Psycho¬ 
analyse 1907—1920“ (Internat, psychoanalytischer Verlag. 1921. Beitrag Nr. III: 
„Die psychosexueilen Differenzen der Hysterie und der Dementia praecox“ r 
S. 24 und 25). Das soziale Verhalten des Menschen beruht auf der Fähig¬ 
keit der Anpassung; diese ist aber eine sublimierte Sexualübertragung. 
Zwischen Menschen entsteht nach einer gewissen Dauer des Beisammenseins 
ein positiver oder negativer psychischer Rapport, der sich im Gefühle der 
Sympathie oder Antipathie äußert. Die Gefühle der Freundschaft, der see¬ 
lischen Harmonie erwachsen auf diesem Boden. Das Verhalten eines Menschen 
im sozialen Verkehr entspricht durchaus seiner Art, auf die sexuellen Reize 
zu reagieren. Hier wie dort zeigen die gleichen Menschen sich leichter oder 
schwerer zugänglich, derb oder feinfühlig, wählerisch oder anspruchslos. 

Was wir im Auftreten des einen als steif, linkisch, eckig, im Auftreten 
des andern als graziös, gewandt usw. bezeichnen, ist Anzeichen seiner ge¬ 
ringeren oder größeren Anpassungsfähigkeit, d. h. Übertragungsfähigkeit (S. 25). 

8. 25: Der Mensch überträgt seine Libido nun aber nicht allein auf 
lebende, sondern auch auf leblose Objekte . . . „der Mensch sexualisiert das 
All“ . . wie K 1 e i n p a u 1 (Stromgebiet der Sprache, S. 468) sagt. Aus 
der gleichen Quelle entspringt die Sexualsymbolik der Sprache, der wir im 
Traume und in den psychischen Störungen wieder begegnen ... die Ge¬ 
schmacksrichtung in der Wahl von Gegenständen . entspricht durchaus dev 
sexuellen Objektwahl. 

S. 27: Während die Vorstellungen des gesunden Menschen von 
adaequaten Gefühlen begleitet sind, fehlt den Vorstellungen dieser Kranken die 
adäquate Gefühlsübertragung. Wir haben aber alle Gefühlsübertragung auf 
die Sexualität zurückgeführt. Wir kommen zu dem Schluß, daß d i e 
Dementia praecox die Fähigkeit zur S e x u a1 Über¬ 
tragung, zur Objektlibido, vernichtet. 

. . . Bei Kranken mit Dementia praecox vermissen wir in der Regel die 
Zuneigung zu den Angehörigen. Wir finden Gleichgültigkeit oder ausge¬ 
sprochene, in Verfolgungswahn übergehende Feindschaft (S. 28). Wie die 
psychoanalytische Untersuchung ergibt, ist eine heftige Feindschaft bei Geistes¬ 
kranken sehr oft an Stelle einer vorherigen überschwenglichen Liebe getreten. 
Diese Abkehr der Libido von einem Objekt, auf welches einstmals mit be¬ 
sonderer Intensität übertragen wurde, ist bei der Dementia praecox unwider¬ 
ruflich. 

In der Anamnese unserer Patienten heißt es überaus häufig: Er (oder sie) 
war von jeher still, neigte zum Grübeln, mied Geselligkeit und Vergnügungen, 
war nie recht fröhlich wie andere. Solche Personen hatten also von jeher 
nicht die rechte Fähigkeit, ihre Libido auf die Außenwelt zu übertragen. 
Diese Personen bilden später die unsozialen Elemente in den Anstalten. Ihren 
Worten fehlt der Gefühlsinhalt. Sie sprechen vom Allerheiligsten und vom 
Nichtigsten mit dem gleichen Tonfall, mit der gleichen Mimik, nur w r enn wir 
im Gespräch den Komplex berühren, gibt es mitunter eine Reaktion des 
Affektes, welche sehr heftig sein kann. 

S. 29: lm Verkehr mit den Patienten bemerken wir die mangelnde Über¬ 
tragung auch sonst. Wir sehen sie nie wirklich heiter. Sie haben keinen 
Sinn für Humor, ihr Lachen ist oberflächlich oder krampfhaft oder grob 
erotisch, aber niemals herzlich. Oft bedeutet es auch nicht etwa Heiterkeit, 



69 


sondern zeigt nur an, daß der Komplex getroffen ist; dies gilt z. B. für das 
stereotype Lachen der Halluzinierenden, denn die Halluzinationen betreffen 
stets den Komplex. Das Auftreten der Kranken wird ungewandt und steif; 
es zeigt das Fehlen der Applikation an die Umgebung besonders deutlich. 
Kraepelin spricht sehr bezeichnend von einem „Verlust der Grazie“. Das 
Bedürfnis, ihre Umgebung behaglich und freundlich zu gestalten, geht den 
Kranken verloren, wie die Anhänglichkeit an Tätigkeit und Beruf: Die 
Kranken versinken gerne in sich und — was mir besonders charakteristisch 
scheint — sie kennen keine Langeweile. 

S. 30: In sehr vielen Fällen betrifft die Störung nicht nur jene feineren 
sozialen Sublimierungen, die sich im Laufe des Lebens allmählich heraus¬ 
gebildet haben, sondern auch diejenigen, welche in früher Kindheit entstanden 
sind: Scham, Ekel, moralische Gefühle, Mitleid usw. Eine genaue Unter¬ 
suchung dürfte wohl in jedem Falle von Dementia praecox ein wenigstens 
teilweises Erlöschen dieser Gefühle ergeben. In allen schweren Fällen ist 
die Störung ohne weiteres wahrnehmbar ... In dasselbe Gebiet gehört auch 
die Hemmungslosigkeit, mit welcher viele Kranke über Intimitäten ihres Vor¬ 
lebens sprechen. Sie stoßen auf diese Weise nur Reminiszenzen von sich ab. 
die Wert und Interesse für sie verloren haben. Daß auch das Mitgefühl 
schwindet, zeigt uns besonders das Verhalten der Kranken angesichts grau¬ 
samer Handlungen, die sie selbst begangen haben. Ich sah einmal einen 
solchen Kranken, wenige Stunden nachdem er einen harmlosen Nachbarn 
erschossen und seine Frau schwer verletzt hatte, mit aller Seelenruhe von den 
Motiven der Tat und von dieser selbst erzählen und dabei das ihm gereichte 
Essen behaglich verzehren. Wir lernen aus dem Bisherigen zwei Reihen von 
Erscheinungen kennen: Die einen zeigen, daß die Libido von belebten und 
unbelebten Objekten abgekehrt wird, die andern zeigen den Verlust der durch 
Sublimierung entstandenen Gefühle. Die Dementia praecox führt 
also zur Aufhebung der Objektliebe und der Subli¬ 
mierung. Einen solchen Zustand der Sexualität kennen wir sonst nur in 
der frühen Kindheit. Wir benannten ihn mit Freud: „Autoerotismus“. Auch 
in dieser Zeit fehlen Objektbesetzung und Sublimierung. Die psychosexuelle 
Eigenart der Dementia praecox besteht somit in Rückkehr des kranken 
Individuums zum Autoerotismus. Die Symptome der Krankheit sind eine 
Form autoerotischer Sexualbetätigung. (S. 31.) 

S. 31: Selbstverständlich soll nicht gesagt sein, daß jede sexuelle Er¬ 
regung der Kranken rein autoerotisch sein muß. Wohl aber ist jede Neigung 
der Kranken zu einer andern Person, sozusagen von der Blässe des Auto¬ 
erotismus angekränkelt. Wenn wir bei einer weiblichen Kranken eine an¬ 
scheinend sehr starke, ja stürmisch sich äußernde Liebe bemerken, so wird 
uns zugleich jedesmal der Mangel an Schamgefühl in der Äußerung auf fallen. 
Der Verlust des Schamgefühls als eines Sublimierungsproduktes bedeutet für 
uns aber einen Schritt in der Richtung zum Autoerotismus. Ferner sehen 
wir diese Kranken sich rasch und wahllos in eine Person verliehen, diese aber 
ebenso, rasch gegen eine andere vertauschen. In der Anstalt sind immer ge¬ 
wisse Frauen in den jeweiligen Arzt verliebt; bald hat jode von ihnen den 
Wahn, mit dem Arzt verlobt oder verheiratet zu sein, glaubt sich von ihm ge¬ 
schwängert usw., sieht in jedem Wort von ihm ein Zeichen der Liebe. Geht 
der Arzt fort, so tritt im Gefühlsleben jener Patientinnen sehr rasch der Nach- 



70 


folger an seine Stelle. Die Kranken sind also wohl noch imstande, ein sexuellem 
Bedürfnis auf eine Person zu projizieren, aber nicht mehr zur wirklichen Appli¬ 
kation an die geliebte Person fähig. Andere Patientinnen pflegen jahrelange 
eine imaginäre Liebe; diese existiert nur in ihrer Phantasie — das Sexual¬ 
objekt haben sie vielleicht nie gesehen; in Wirklichkeit sperren sie sich gegen 
jede Berührung mit einem Menschen ab. Kurz irgendeine Äußerung des 
Autoerotismus ist stets nachweisbar. 

S. 32: Der Kranke, der seine Libido von den Objekten abkehrt, setzt 
sich damit in einen Gegensatz zur Welt. Er allein steht nun einer Welt, die^ 
ihm feindselig ist, gegenüber. Es scheint, als ob die Verfolgungs¬ 
ideen (die Abkehr der Libido von der Außenwelt ist die Grundlage für die 
Bildung des Verfolgungswahns im allgemeinen) sich besonders gegen diejenigen 
Personen richten, auf welche der Patient einstmals seine Libido in besonderem 
Grade übertragen hatte, ln vielen Fällen wäre also der Verfolger ursprünglich 
Sexualobjekt gewesen und der Verfolgungswahn hätte einen erogenen Ursprung. 

Im Autoerotismus der Dementia praecox liegt nun nicht bloß die Quelle 
des Verfolgungswahns, sondern auch die des Größenwahns. Der Kranke ist 
sein einziges Sexualobjekt, die Sexualüberschätzung (die sonst auf andere 
übertragen wird) gilt nur ihm selbst. Sie nimmt gewaltige Dimensionen an, 
bedeutet er sich doch selbst die Welt. „Die auf das Ich zurück- 
gewandte reflexive oder autoerotische Sexualüber¬ 
schätzung ist die Quelle des Größenwahns bei der 
Dementia praeco x.“ Verfolgungswahn und Größenwahn sind eng 
miteinander verknüpft. Jeder Verfolgungswahn bei der Dementia praecox 
enthält implizite den Größenwahn (S. 32). 

S. 32: Der Kranke geht in der autoerotischen Selbstabsperrung (gegen 
die Außenwelt auch in bezug auf das rezeptive Verhalten) so weit, daß er die 
Außenwelt gewissermaßen boykottiert. Er produziert nicht mehr für sie und 
bezieht nicht mehr von ihr. für die Lieferung der Sinneseindrücke erteilt er 
sich selbst das Monopol. 

S. 33: Die paralytische Demenz, desgleichen die senile, zerstört die 
intellektuellen Fähigkeiten von Grund aus, sie führt zu groben Ausfalls¬ 
erscheinungen. Die epileptische Demenz führt zu einer außerordentlichen Ver¬ 
armung und Monotonie des Vorstellungslebens, zu einer Erschwerung der Auf¬ 
lassung. Die Veränderungen bei diesen Krankheiten sind höchstens eines zeit¬ 
weisen Stillstandes fähig, im allgemeinen aber progressiv. Die „Demenz“ bei 
der Dementia praecox hingegen beruht auf Gefühlsabsperrung, die intel¬ 
lektuellen Fähigkeiten bleiben erhalten: das oft behauptete Gegenteil ist wenig¬ 
stens noch nie erwiesen worden. (Anmerkung Max L ö w y: Siehe dagegen 
Kleists Versuche, auch bei Patienten, die sich mit Sprichwort- und Bilder¬ 
erklärung sichtlich Mühe geben und doch dabei versagen.) Infolge auto- 
erotischer Absperrung nimmt der Kranke nur keine neuen Eindrücke auf und 
reagiert auf die Außenwelt gar nicht oder in abnormer Weise. Der Zustand 
kann sich jederzeit lösen, die Remission kann einen solchen Grad erreichen, 
daß kaum mehr der Verdacht eines intellektuellen Defektes entsteht. 

S. 34: Wie die psychosexueile Konstitution der Hysterie (mit über¬ 
mäßiger Objektbesetzung und gesteigerter Sublimierung) ist auch die der 
Dementia praecox (Abkehr der Libido und Verlust der SublimierungsfühigkeitV. 
angeboren. 



71 


Die psyehosexuelle Konstitution der Dementia 
praecox beruht auf einer Entwicklungshemmung (bei 
Kindheitserkrankung manifester Art pathologisches Verharren beim Auto¬ 
erotismus). 

S. 34, 35: Die Hemmung der psychosexueilen Entwicklung äußert sich 
nicht nur darin, daß das Individuum den Autoerotismus nicht vollkommen 
überwindet, sondern auch in einem abnormen Persistieren der Partialtriebe: 
Fütterung mit der Schlundsonde wird von einem autoerotisch-negativistischen 
Kranken als ein päderastischer Akt des Arztes und dieser als ein homo¬ 
sexueller Verfolger angesehen. Hier finden wiy in einem Beispiel die 
Äußerung des homosexuellen Partialtriebes, dessen Verschiebung von der 
analen Zone auf eine andere erogene Zone („Verlegung nach oben“ Freuds), 
und den erogenen Ursprung einer Verfolgungsidee (S. 35). 

S. 35: Vielleicht verhilft uns die Methode der analytischen Forschung 
aber auch zur Klarheit über die intellektuellen Störungen im Krankheitsbilde 
der Dementia praecox, von deren Verständnis wir heute noch weit entfernt sind. 

1911, 1912 (reproduziert ibidem) in der Arbeit „Ansätze zur psycho¬ 
analytischen Behandlung des manisch-depressiven Irreseins und verwandter 
Zustände“ führt Abraham S. 97 aus: Beim Zwangsneurotiker (in den 
schweren, ausgeprägten Fällen) kann die Libido sich nicht in normaler Weise 
entfalten, weil zwei verschiedene Tendenzen — Haß und Liebe — einander 
dauernd beeinträchtigen. Die Neigung zur feindseligen Einstellung auf die 
Außenwelt ist so groß, daß die Liebesfähigkeit auf das äußerste herabgemindert 
ist. Gleichzeitig aber wird der Zwangsneurotiker durch Verdrängung des 
Hasses (oder allgemein gesagt: der ursprünglich überwiegenden sadistischen 
Komponente seiner Libido) schwach und energielos. Eine ähnliche Unsicher¬ 
heit besteht bei der Objektwahl in bezug auf das Geschlecht des Objektes. 
Die Unfähigkeit der Libido eine bestimmte Einstellung zu geben, führt zu einem 
allgemeinen Gefühl der Unsicherheit, weiterhin zur Zweifelsucht; der Zwangs¬ 
neurotiker vermag keinen Entschluß zu fassen, keine klare Entscheidung zu 
treffen — leidet in jeglicher Situation unter Gefühlen der Insuffizienz und 
steht dem Leben hilflos gegenüber. 

S. 101: Die Zwangsneurose schafft an Stelle der unerreichbaren Sexual¬ 
ziele E r s a t z z i e 1 e ; die Betätigung im Sinne dieser letzteren ist mit 
den Erscheinungen des psychischen Zwanges verbunden. Anders ist der Vor¬ 
gang bei den depressiven Psychosen (die ebenfalls von einer das Liebes- 
vermögen paralysierenden Haßeinstellung ihren Ursprung nehmen), zu dem 
Verdrängungsprozeß gesellt sich hier der Vorgang, welcher uns besonders aus 
der Psyehogenese gewisser Geistesstörungen unter dem Namen „Projektion“ 
bekannt ist. 

$. 301: Zur narzistischen Bewertung der Exkretionsvorgänge (in „Traum 
und Neurose, 1920“): Die ursprünglichste und tiefste Beziehung zwischen 
Sadismus und Analerotik ist zweifellos darin zu erblicken, daß die mit der 
Analzone verknüpften passiven Sexualgefühle zusammen mit den aktiv- 
sadistischen Impulsen ein Triebpaar bilden, das die Vorstufe des späteren 
Gegensatzes von männlich und weiblich darstellt. Die beim Zwangsneurotiker 
besonders ausgeprägte Ambivalenz des Trieblebens wurzelt in dieser engen 
Verbindung aktiver und passiver Antriebe. (Die doppelte — aktive und passive 
— erogene Bedeutung der Analzone hat Federn bereits 1914 in seinen Bei- 



tragen zur Analyse des Sadismus und Masochismus erörtert. Internat. Zeit- 
sclirift für Psychoanalyse. II. Jg., S. 125.) 

S. 97: In den Bemerkungen zu einem autobiographisch beschriebenen Fall 
von Paranoia (Jahrb. f. psychoanalytische Forschung, Bd. III) gibt Freud 
eine bestimmte Formulierung über die Psychogenese der Paranoia. In kurzen 
Formeln präzisiert er die Stadien, welche bis zur Bildung des paranoischen 
Wahnes durchlaufen werden (1. c. S. 55 f.). Auf Grund meiner Analysen de¬ 
pressiver Geistesstörung möchte ich hier eine ähnliche Formulierung für die 
Genese der depressiven Prozesse zu geben versuchen. Freud sieht — min¬ 
destens in einem großen Teil der Fälle von paranoischer Wahnbildung — den 
Kern des Konfliktes in der homosexuellen Wunschphantasie, ein Individuum 
des gleichen Geschlechtes zu lieben (Formel: Ich [ein Mann] liebe ihn [den 
Mann]). Der Verfolgungswahn erhebt Widerspruch gegen diese Einstellung, 
indem er laut proklamiert: „ich liebe ihn nicht, ich hasse ihn ja u . Da die 
innere Wahrnehmung bei der Paranoia durch eine Wahrnehmung von außen 
ersetzt wird, so wird der eigene Haß als eine Folge der von außen her er¬ 
duldeten Gehässigkeiten hingestellt. Die dritte Formel lautet nun: „Ich liebe 
ihn ja nicht — ich hasse ihn ja — weil er mich verfolgt.“ 

In den depressiven Psychosen verbirgt sich ein anderer Konflikt. 
Er nimmt seinen Ausgang von einer überwiegenden Haß-Einstellung 
der Libido, die sich zuerst den nächsten Angehörigen gegenüber gel¬ 
tend macht, sich dann aber verallgemeinert. 

S. 111: Erinnert sei besonders daran, daß wir zwar zu erkennen ver¬ 
mochten. bis zu welchem Punkt in der Psychogenese Zwangsneurose und 
zirkuläre Psychose miteinander übereinstimmen, daß wir aber nichts über die 
Ursache ermittelt haben, warum von diesem Punkte an die eine Gruppe von 
Individuen diesen, die andere jenen Weg beschreitet. 


Wir sehen liier also die „Beziehungsverrückung“ der Psychosen 
tiefenpsychologisch und charakterologisch aufgefaßt: z. B. Verfol- 
gungs- und Größenwahn als Abkehr der Libido oder als Verkehrung 
derselben in Haß usw. bei Autoerotismus (Narzißmus) resp. Sadis¬ 
mus oder Homosexualität. Daß fast alle charakterologischen Lehren, 
von welchem Standpunkte immer sie ausgehen, Berührungspunkte 
miteinander haben, zeigte wohl schon die bisherige Darstellung. Es 
läßt sich kurz verdeutlichen: 

Wenn man nämlich von der genetischen Betrachtungsweise ab- 
selien könnte und dürfte, w*ie ähnlich erschienen dann vielleicht: ge¬ 
wisse schizoide abnorme Charaktere; Freud und Adlers Fälle 
von Flucht aus der Realität und vor dem Leben; Jungs Introver¬ 
tierte und Invertierte; Bleulers Autistische; Abrahams Über¬ 
tragungsunfähige; und die Narzißtischen Freuds mit der von ihnen 
larviert und symbolisiert erstrebten Allmacht des Ich und Allmacht 
der Gedanken: Kr a epelins und Dromards infantilistisches 



73 


Denken der Paranoiker; Alfred Adlers Menschen der starren 
Richtlinie aus Kompensation der selbstgefühlten Minderwertigkeit; 
Vera Strassers Beziehungsarme und Beziehungsverarmte; 
Kretschmers psychästhetische Proportion aus unaufschließ- 
barer Kälte und Reizbarkeit der schizoiden Temperamente; 
Kretschmers Sensitive mit Verhaltung, d. i. mit dem Leitungs¬ 
defekt; Max L ö w y s (1908, Hypochondrie) egozentrischen Queng¬ 
ler und Nörgler mit Scheuklappen für die Rechte der anderen und be¬ 
sonderer Besorgtheit um das eigene Wohl und Wehe, die eigene Ge¬ 
sundheit und die eigenen Interessen aus dem Gefühle der eigenen 
Insuffizienz dem Leben gegenüber heraus. Max L ö w y (1908) der 
Neurastheniker ist schlapp, die Hysterika ist resch (forsch); weiter 
gewisse den Asthenischen ähnliche Depressive, besonders Konstitu¬ 
tionell-Depressive. Ebenso wieder ähnlich: Freuds ländert und 
sublimiert Exhibitionistische, mit Schau- und Zeigelust, zu 
Kretschmers Primitiv-Reaktiven mit dem Retentionsdefekt und 
Expansiv-Reaktiven mit dem Dämpfungsdefekt; mit den Hypomani¬ 
schen; mit der Virago, der reschen Hysterika; mit den Hysterischen 
voller Neigung zu Konfessionen, welche Neigung ich seit Langem als 
..psychischen Exhibitionismus“ bezeichnete; mit der von mir (Max 
Lö w y , 1910, Querulantenwahn) aufgestellten Affektkonstitution der 
Querulanten, Hysterischen, Vasoneurotiker, Erethiker (starke Affekt- 
ausprechbarkeit, starke Affektamplitude, starker Drang nach Ent¬ 
ladung des Affektes und Wiederkauen unerledigter Affekte); mit der 
von mir aufgestellten erethischen Unlustintoleranz, speziell Affekt¬ 
intoleranz gewisser Psychopathen (gegenüber der Arbeitsintoleranz 
als Unlustintoleranz anderer, der Schlappen und Torpiden). Dabei 
ergeben sich, wenn auch durchaus nicht stringente Beziehungen der 
Erethiker und Hypertoniker zur Sympathikotonie, der schlappen 
Hypotonischen zur Vagotonie und beider Gruppen zur Hyperthyrie 
resp. Hypothyrie, besser zur inkretorischen Konstitutionsformel über¬ 
haupt. (Andererseits scheint mir vielfach in der melancholischen 
Depression die Pulsveränderung beim Vagusdruckversuche am Halse, 
Auge und im Pulsus respiratorius herabgesetzt oder fehlend.) 

Daß Pötzl, Eppinger und Heß bei Melancholie und 
beim manisch-depressiven Irresein einen sympathikotonischen Zu¬ 
stand feststellten, gegenüber der Vagotonie bei Dementia praecox, sei 
hier noch erwähnt; auch anschließend an das Augendruckphänomen 
mit verstärkter Reaktion beim katatonen Stupor nach Wagner 
v. Jauregg, Aschner und A. 1* i 1 o z erinnert. 



74 


Eine große Reihe pathogenetischer Erklärungen zur Dementia 
praecox habe ich hier angeführt. Vieles mag mir noch entgangen 
sein; einiges war mir nicht im Original zugänglich oder zur Hand, die 
Fülle der Gesichts- und Standpunkte scheint mir aber hinreichend be¬ 
legt; darnach mag nun erst recht paradox erscheinen, was ich ein- 
leitend angedeutet habe: diese Lehren gehen nur scheinbar so¬ 
weit auseinander. Und doch liegt es m. E. auf diesem unseren 
Gebiete überwiegend nicht an der Verschiedenartigkeit des Stand¬ 
punktes der Beobachter und Erklärer, daß sie zu so verschiedenarti¬ 
gen Auffassungen kommen und doch fast immer etwas Richtiges auf¬ 
gedeckt wird; sondern an einem entscheidenden in der Dementia 
praecox selbst gelegenen Momente. Dieses selbe Moment be¬ 
wirkt es auch, das Symptome, Zustandsbilder. Verlauf, ja auch der 
Ausgang der Krankheit so vielgestaltig sind. 

Wie ich glaube, lassen sich diese Vielgestaltigkeit der Dementia 
praecox und die Verschiedenartigkeit der pathogenetischen Erklä¬ 
rungen der Autoren begreifen: durch das Betroffensein der „inter¬ 
mediären psychischen Schicht“ und deren zerebralganglionärer 
Funktionssysteme: der (dreigestaffelten) Kleinhirn-Basalganglien- 
Stirnhirnsysteme Kleists: was ich nun aufzuzeigen versuche. 


III. Die Vielgestaltigkeit in Symptomatologie, Zustands¬ 
bildern, Verlauf, Ausgang und pathogenetischer Erklärung 
der Dementia praecox, sowie ein Grund hierfür: inter¬ 
mediäre psychische Schicht, Dementia praecox, Basal¬ 
ganglienerkrankung. 

Die im I. Kapitel dargestellte Durehflechtung in der Regel 
unbemerkter psychischer Funktionen, (welche in wechselndem 
Zusammenwirken verschiedenen Gebieten des Bemerkten, des 
bewmßten psychischen Geschehens als vorbereitende Grund¬ 
lagen dienen, und durch die von mir supponierte* inter¬ 
mediäre psychische Schicht hindurch nach verschiedenen Rich¬ 
tungen auseinanderstrebend zum Bewußtsein drängen), hat uns 
die unterirdischen Verbindungsgänge und die gemeinsame Unter¬ 
kellerung des bewußten psychischen Geschehens, eben durch die inter¬ 
mediäre psychische .Schicht, ergeben. Es ist schon im Vorhergehen¬ 
den mehrfach darauf hingewiesen worden, daß Störungen im Ablauf 



75 


und Inhalte des bewußten psychischen Geschehens auf Störungen in 
dieser intermediären psychischen Schicht zurückfiihrbar sein können. 
Es ist auch angedeutet worden, daß solche Störungen zum Teil mit 
bestimmten motorischen Störungen in Zusammenhang gebracht wer¬ 
den können. Diese von Wernicke und K 1 e i s t als „psychomoto¬ 
risch“ bezeichneten Motilitätsstörungen sind nun von Kleist syste¬ 
matisch im Hinblick auf die Psychopathologie der Dementia praecox 
bearbeitet worden (s. u.). 

Fällt nun eine so beschaffene psychische Schicht von Funktio¬ 
nen. wie die intermediäre, Funktionsstörungen anheim, so kann es 
zu Erscheinungen kommen, wie wir sie von der Dementia praecox 
kennen: Akinese, Hyperkinese, Parakinesen und deren psychischen 
Folge- und Begleiterscheinungen, Willensstörungen, Affekt- und 
Stimmungsanomalien, Denkablaufs- und Denkinhaltsstörungen. 
Cberleitungs- und Elektionsstörungen im Fringe, Wortneubildungen 
und Denken in Nebenbeziehungen aus der Peripherie der angeschlage¬ 
nen Sphäre: auch kurzschlüssige Beziehungskonstruktionen (Kle i st) 
mittels dieser Nebengelcise, welche Konstruktionen bizarr und 
schief werden können, können zum Teil durch Motilitätsstörungen, 
wie sie Kleist beschrieben, zum Teil durch Störungen der inter¬ 
mediären psychischen Schicht überhaupt verstanden werden. 

Trifft dies zu, so könnten Denkzerfahrenheit, Sprachverwirrtheit, 
Verworrenheit, Gemeingefühls- und Körpersinnstäuschungen, darauf 
basiertes Wahnerleben (hypochondrischer Wahn mit Körpersinns¬ 
halluzinationen und körperlicher Beeinflussungswahn), Enthemmung 
von Triebregungen verpönter Art und darauf basiertes symbolisches* 
Wahnerleben oder Halluzinieren mit wahnhafter Verrückung des 
Standpunktes zur Außenwelt: teils von Motilitätsstörungen der er¬ 
wähnten Art, teils von anderen Störungen in der intermediären psy¬ 
chischen Schicht abgeleitet werden. 

Es sei im Hinblick auf Einwände, welche von Paul Schilder 
(..Einige Bemerkungen zu der Problemsphäre: Cortex, Stamm¬ 
ganglien. — Psyche, Neurose“, Ztsch. f. d. g. N. u. Ps. 74, Bd. 4 und 
5. Heft 16. 2. 1922) erhoben wurden: ..Das Problem der schizo¬ 
phrenen Psyche liegt jenseits der extrapyramidalen Bewegungs¬ 
störungen“ (S. 462). ..Diesen katatonieähnlichen motorischen Bildern 
fehle das psychische Gepräge der Schizophrenie“; ..Läsionen des 
striopallidären Systems bewirken weder ein hysterieähnliches noch 
ein schizophrenieähnliches psychisches Bild“ (S. 481): verwiesen auf 
unten folgende Beschreibungen ..striärer Bilder“ nach Kleist und 
Fo erster, auf meine in den vorhergehenden Kapiteln reprodu- 



76 


zierten Feststellungen über Gemeinempfindungsablauf, Labyrinth- 
Störungen und Denkstörungen, unfertiges Denken, sowie auf die 
Durchflechtung mit der Motilität in der intermediären p s y c h i - 
s eben Schicht. 

Sonach könnten je nach der Mischung der einzelnen Funktions¬ 
ausfälle, Funktionsstörungen, Hemmungen und Enthemmungen in der 
intermediären Schicht die verschiedensten Einzelsymptome, Zu¬ 
standsbilder und Verläufe entstehen. Die Symptome und Zustands¬ 
bilder werden vor allem bestimmt: von den betroffenen Einzelfunktio¬ 
nen der intermediären psychischen Schicht und von Art und Ausmaß 
dieses Betroffenseins; Verlauf und Ausgang, aber auch die Zustands¬ 
bilder und Einzelsymptome: von dem zugrunde liegenden Himprozeß, 
seiner Art, Lokalisation, Ausbreitung und Fortschreitensriehtung. 

Ist es aber ein lokalisiertes System von Funktionen sowie 
von Zentren und Bahnen, welches e 1 e k t i v von einem Pro¬ 
zeß befallen wird, und zwar natürlich nicht sofort ganz intensiv und 
nicht auf einmal in allen Leistungen und nicht bei allen Fällen gleich¬ 
mäßig an allen Stellen des Systems, so kann es gar nicht ein einzelnes 
Grundsymptom, Primär- und Kardinalsymptom, sowie konstante 
gleichartige Zustandsbilder in gleichartigem Verlaufe geben. Daß 
damit die Ableitbarkeit einzelner Symptome aus anderen nicht ge¬ 
leugnet ist, geht wohl aus dem Obigen ohne weiteres hervor. 

Es scheint mir zugleich beachtenswert, daß bei der gleichen 
Krankheit ein gleiches Symptom verschiedener Kranker 
jeweils verschiedenartig erzeugt werden kann: eben durch 
verschiedenartige Einzelstörungen oder verschiedenartig 
kombinierte Funktionsstörung im Bereiche der intermediären psychi¬ 
schen Schicht. 

Nicht einmal die gleichen Endzustände der elektiven Schädi¬ 
gung des Systems müssen sich ergeben, und selbst ein identischer 
Ausgang in Demenz ist nicht unerläßlich. Sondern Intensität, Aus¬ 
breitung, Fortschreitensriehtung einer elektiven Hirnschädigung 
sprächen auch hier das entscheidende Wort. Selbst vollständiger 
Funktionsverfall eines abgegrenzten Systemanteils müßte nicht De¬ 
menz bewirken, wenn dieser Anteil nicht so nahe Beziehungen zur 
Denkfunktion hat wie andere Anteile des Systems. 

Es muß also die Funktionsbreite der intermediären psychischen 
Schicht des genaueren erforscht und untersucht, die Lokalisation sol¬ 
cher Funktionsstörungen im Gehirne, wenn sie sich auffinden läßt, 
studiert und daraus, wie nach klinischen Grundsätzen (pathogenetisch 



77 


und pathoplastisch Birnbaum), Symptom, Zustandsbild und Ver¬ 
lauf gewertet und erklärt werden. 

Nehmen wir mit Kleist eine lokalisierbare Systemerkrankung 
an und fallen die Funktionen dieses Systems mit denen der von mir 
postulierten intermediären psychischen Schicht zusammen, oder auch 
nur bekannte Funktions Schädigungen dieses Systems mit 
Funktionsstörungen einer solchen intermediären Schicht und mit den 
Symptomen der Dementia praecox: so wird uns die Dementia praecox 
als Funktionsschädigung der intermediären psychischen Schicht und 
als Systemerkrankung plausibel, und unter einem verständlich, 
daß die verschiedenen, für die Dementia praecox erhobenen Grund- 
und Primärsymptome, so paradox es klingt, mehr minder gleichwertig 
nebeneinander gelten, und die verschiedenartigsten Symptome neben¬ 
einander bestehen können, weil sie verschiedenen Anteilen des be¬ 
troffenen gleichen Systems angehören. 

Darnach ergeben sich die verschiedenartigen Auffassungen und 
Erklärungen der Autoren als der Hauptsache nach nicht durch Irr- 
tümer derselben, sondern durch ein besonderes in der Dementia prae¬ 
cox selbst gelegenes Moment bedingt. Dieses läge darin, daß in der 
Pathologie der Dementia praecox eine Erkrankung eben der 
intermediären psychischen Schicht und besonders eine 
elektive und progrediente Erkrankung des Systems von Stamm¬ 
ganglien und Stirnhim im Sinne von Kleist eine wesentliche 
Rolle spielt (s. u.). 

Daß die psychomotorischen Störungen Einfluß auf Denken, 
Affekt usw. haben können, hat Kleist anläßlich der Aufstellung 
seiner Lehre und seither des Genaueren dargelegt. Auch 0. P ö t z 1 
macht darauf aufmerksam, daß eine Umwandlung von Haltungs- und 
Bewegungsempfindungen, von inneren Innervationsempfindungen in 
B i 1 d e r im Traume statthaben kann, ebenso dieZerlegungmo- 
torischeroderEmpfindungsreiheninBildreilien, 
kurz daß innere Innervationsempfindungen mit den betreffenden Bil¬ 
dern, d. h. mit den Trauminhalten in Beziehung stehen. Jemand, der 
zur Zeit an Bauchgrimmen leidet und seinerzeit am Gardasee heftiges 
Bauchgrimmen erlebte, kann nach P ö t z 1 s Feststellungen im Traum¬ 
bilde des Gardasees ein Äquivalent des im Schlafe fortbestehenden 
Bauchgrimmens erleben. Ebenso verweist P ö t z 1 darauf, daß ein 
Epileptiker in der Aura vor seinem Anfalle einen Mann halluzinierte, 
der den Kopf nach bestimmter Seite dreht und an dieser Seite zu 
krampten beginnt, ganz analog dem Krämpfen in seinem nun folgen¬ 
den Bewußtlosigkeitsanfalle, den er nie gesehen hat. Ähnlich viel- 


I 



78 


leicht in solchen Fällen, in welchen die Aura als ein Schlag auf den 
Kopf erlebt wird, bevor der Patient bewußtlos zusammenstürzt. In 
all diesen Fällen wird zur Motilität gehöriges in Bildern oder Sen¬ 
sationen, kurz in Wahrnehmungs- und Denkinhalten erlebt oder vor¬ 
weggenommen, was der Motilität oder den Bewegungsempfindungen 
angehört. Geiheinempfindungsänderung und konkre¬ 
tisierende, detaillierende Einstellung auf die Im¬ 
pression: mittels E i n s te 11 - F i x i e r-M i t bewegungen etc. lie¬ 
fern ja erst zusammen de uorma die Wahrnehmung, die Anschau¬ 
ungsbilder etc. 

Es ist schon oben angeführt, daß ich einen Teil des ,,Übertra¬ 
gungsverlustes“, des Autismus, den Rapportmangel durch Einfüh¬ 
lungsstörung und Mitbewegungsstörung des Untersuchers bei 
Störung der Ausdrucksbewegungen des Kranken erklärte: indem 
das Fehlen der feinsten Ausdrucksbewegungen des Kranken eine 
Herabsetzung oder ein Fehlen der Mitbewegungen des Untersuchers 
und dadurch seiner Einfühlung bewirkt und damit die Diagnose einer 
beginnenden Demenz primär durch ein Symptom des Unter¬ 
suchers gestattet, zu einer Zeit, wo am Untersuchten 
selbst.sonst kein Demenzsymptom nachweisbar ist. Im Gegensätze 
zu Abraham usw. und Vera Strasser halte ich diesen Verlust 
von Rapport (m. E. feinster Reaktiv- und Ausdrucksbewegungen) für 
primär-organisch und nicht erst für die Folgeerscheinung 
einer „Abkehr von der Außenwelt“ oder einer „Beziehungsarmut und 
Beziehungsverarmung“. 

Die Ambivalenz menschlicher Strebungen wird bei der Dem. 
praec., wie schon erwähnt, durch die Bilanz- und Abschlußunfähig¬ 
keit. d. i. durch das unfertige Denken, manifest; gegeben ist sie wohl 
schon mit jeder objektgestaltenden, ichgerichteten Gegenüberstellung 
eines Interessezieles und jeder Triebhemmung (vgl. auch den Freß- 
und Fluchtreflex), und kurz vor Erreichung der „Objektstufe“ 
Freuds in der psychischen Entwicklung, überwunden wird die 
Ambivalenz beim Normalen in der Sublimierung des „purifizierten 
Lust-Ichs“ Freuds und seines Oedipuskomplexes zur Objektstufe, 
zur Sachlichkeit und zur Harmonie der polyphonen Strebungen. 

Daß sowohl die Motilität, wie auch die Gemeinempfindung mit 
der Affektivität, hin und her gehende Wechselbeziehungen haben, 
ebenso das Denken, ist im Obigen schon dargelegt: (harmonischer 
und ungestörter Gemeinempfindungs-Rhytmus und -Ablauf, sowie 
freier flüssiger Bewegungs-Rhytmus und regulierte Reaktionen fun¬ 
dieren zutiefst Objekt- und Ichgestaltung, Denken. Fühlen 



79 


und Handeln, eben unser Leben.) Wir beobachten bei der 
Dementia praecox allemöglichen Verstimmungsformen und 
AfTektanomalien. Wenn wir z. B. auch noch das heiße Drängen auf 
Besuch der Angehörigen und bei erfolgtem Besuche die völlig gleich¬ 
gültige Aufnahme der Besucher oder deren Abweisung, die Gleich¬ 
gültigkeit und das Lachen der Kranken gegenüber traurigen Anlässen, 
Unglücks- und Todesfällen der Nächsten, wie die wechselnden Ein¬ 
sudlungen und Stellungnahme gegenüber Ärzten und Pflegepersonal, 
kurz die Unberechenbarkeit der Kranken, sowie etwa ihre impulsiven 
Handlungen und die hypochondrische Besorgtheit auch als wahnhaft 
«der komplexbedingt oder durch die Ambivalenz oder durch Inver¬ 
dun. Autismus, Abkehr und Übertragungsunfähigkeit erzeugt, oder 
durch die Unfertigkeit und Unabsehließbarkeit des Denkens, die 
Überleitungs-undElektionsstörungen imFringe bedingt,also als sekun¬ 
där ansehen könnten, müssen wir doch schon anderer Meinung sein, 
V-züglieh des Aspektes der gelegentlichen emotionellen Inkontinenz 
und der häufigen Affektsteifigkeit, welche auch im Mangel an Takt und 
Einfühlungsvermögen der Kranken, an Rapport der Kranken hervor- 
treten. Diese Affektsteifigkeit und der Affekttorpor und manches im 
Eigensinn der Kranken sich ausdrückende Haften an einem einzelnen 
Affekte erwecken hier den Verdacht einer selbständigeren affektiven 
Störung neben denen der Motilität, der Gemeinempfindu ng und des Den¬ 
kens. Dies gilt besonders bezüglich der stumpfen und trüben Dumpf¬ 
heit. des verbohrten Eigensinns, der störrischen Verstocktheit und 
der träumerischen Verschlossenheit bei Katatonen, bei Dementia- 
paranoides-Fällen, besonders aber von der läppischen Albernheit bei 
Hebephrenen, und um so mehr als sich diese Züge schon in der prä¬ 
psychotischen Zeit nicht allzuselten aufzeigen lassen. Ich nehme 
darnach an. daß gewisse und gerade besonders charakteristi¬ 
sche Erscheinungen der Dementia-praecox-Affektivität: albem-läppi- 
sches Wesen, Affekttorpor und emotionelle Inkontinenz usw. eine 
selbständige Störung in der unbemerkten Vorbereitung der Affekte 
darstellen können und nicht immer mittelbar aus der Wahnbildung, 
den Komplexen, dem Autismus und der Ambivalenz oder aus der 
Denkstörung sekundär erfließen müssen. 

Was Kretschmer als psychästhetische Proportion der Schizo¬ 
phrenen durch Kälte und Reizbarkeit charakterisiert, erscheint mir in 
der Affektsteifigkeit der Schizophrenen nach Bleuler und Bleu¬ 
lers emotioneller Inkontinenz der Organiker zusammen ausgedrückt. 
Kür die Reizbarkeit kommt meiner Auffassung nach noch ein eventuell 
organisch bedingter Hemmungswegfall in Betracht. 



80 


Seinerzeit (1912, Meteoristische Unruhebilder) habe ich ausein¬ 
andergesetzt, daß die Hemmungen besondere Funktionen darstellen, 
die sich in den primitiven Ablauf zwischen Reiz (Umwelteinfluß nach 
U e x k ü 11) und Bewegungen interpolieren. Es sind interferierende, 
retardierende, regulierende Funktionen, welche in letzter Linie das 
garantieren und bewirken, was wir Überlegung und Besonnenheit 
nennen. Wie ich später (1919, Grundlagen und Behandlung der 
Schlafstörungen, Marienbader Vortrag) auseinandergesetzt habe, ist 
in der wachen Orientierung als eine „Wachfunktion“, die Geweckt' 
heit, die Vigilität, d. h. die Erweckbarkeit des Bemerkens, der passi¬ 
ven und aktiven Aufmerksamkeit wirksam, aber auch eine gewisse 
Nachdauer des Erweckten nötig und ebenso das Loslösen von einem 
Aufgetauchten, die Fähigkeit, sich anderem zuzuwenden. Die Ab¬ 
lösbarkeit des Bemerkens in ausreichendem, aber nicht übermäßigem 
Grade schafft eine gewisse Modulationsfähigkeit, einen schwingenden 
Zustand, die Plastizität der Denkvorgänge; und Ähnliches gilt auch 
vom Affekt (vgl. Kretschmers schwingende Temperamentskurve 
gegenüber der springenden Temperamentskurve der alternativen 
Denk- und Fühlweise der Schizophrenen). Bei der emotionellen Inkon¬ 
tinenz wie bei der Affektsteifigkeit fehlt die normale Elastizität und 
Plastizität, die Modulationsfähigkeit der Emotionen. Sind sie ein¬ 
mal — besonders leicht oder besonders schwer — erweckt, so schnur¬ 
ren sie ab, wie etwa ein Zwangslachen oder Zwangsweinen. Man 
könnte nun daran denken, daß dies etwa eine Folge einer gleich¬ 
sinnigen oder verwandten Störung der Ausdrucksbewegungen ist. 
Das widerlegt sich aber wenigstens als prinzipielle Annahme da¬ 
durch, daß die Affektanomalien nicht daran gebunden sind und 
unendlich häufiger als gerade Zwangslachen oder Zwangsweinen oder 
Paramimien, wie auch diese mimischen Störungen eventuell gar nicht 
mit Affekten einhergehen müssen. (Dabei sei nicht bestritten, daß 
gegebenenfalls eine Behinderung der Ausdrucksbewegungen sekundär 
Affektstörung schaffen kann.) Auch Bleuler hebt als Erklärung 
der Überempfindlichkeit neben Gefühlsstumpfheit (S. 84 d. Lehrb., 
3. Aufl.) die Störung der affektiven Modulations¬ 
fähigkeit, die affektive Steifigkeit, hervor und scheint mir so 
einen der Gründe zu Kretschmers psychästhetischer Proportion 
der Schizophrenen zu liefern, eben zur gestörten psychischen An- 
sprechbarkeit überhaupt. 

Mir scheinen sonach sowohl der Affekttorpor wie die Affekt¬ 
steifigkeit (mangelhafte Ansprechbarkeit des Affekts), wie die Affekt¬ 
fixierung (mangelhafte Loslösbarkeit des Affekts), wie die emotionelle 
Inkontinenz Funktionsstörungen der intermediären psychischen 



81 


Schicht und überwiegend selbständige Störungen innerhalb dieses 
Funktionsbereiches. Sie stehen gegenüber: der Freiheit und Beweg¬ 
lichkeit des normalen und auch eines überströmenden und über- 
sehäumenden Affekts, denn diese Affekte haben eine gewisse Fähig¬ 
keit zur Affektverschiebung, zur Übertragung, zur Loslösung des 
Denkens, Handelns und Fühlens, des Ich, von gerade diesem herr¬ 
schenden Affekte und seinem Gegenstände zur Voraussetzung. Diese 
Fähigkeit zur Abfuhr der Affekte und zum Zurückschnellen in die 
Ruhelage oder zum Übergang in eine andere Schwingungsrichtung, 
diese Plastizität und Bestimmbarkeit durch zwischeneintretende Ein¬ 
stellungen und Stellungnahmen, diese Loslösbarkeit der Affekte und 
des Gefühlslebens durch Strebungen, diese Modulationsfähigkeit ist 
eine höhere Leistung als die motorisch gerichtete oder triebgerichtete 
Affektivität. Sie geht über die Gebundenheit der Triebregungen an 
Triebrichtung, Triebziel und Triebrepräsentanz hinaus, ebenso wie 
über die Affektivität der Ausdrucksbewegungen und der primitiven 
Affekte und über deren Mitbewegungen. Ob diese Loslösbarkeit und 
Plastizität eine reine Leistung der intermediären psychischen Schicht 
ist oder die Mitwirkung höherer Funktionen, von Hirnrindenleistun¬ 
gen z. B., erfordert, lasse ich noch offen. 

Jedenfalls finden sich bei der Dementia praecox Störungen der 
Ansprechbarkeit, d. i. Erweckbarkeit, wie Störungen der Ablösbar¬ 
keit. d. i. Modulationsfähigkeit, Plastizität der Affekte, wie der Hem¬ 
mungsfähigkeit und Retentionsfähigkeit, wie in der Abfuhrfähigkeit 
vor. Von dieser Beweglichkeit, Abfuhrfähigkeit der Affekte hängt 
aber, wie ich glaube, die Fähigkeit sowohl zum abschließen¬ 
den Denken, wie zur Einfühlung so auch zur „Übertragung“ 
zur „Objektlibido“ zur „Sexualübertragung“ im Sinne Freuds, 
zum Interessenehmen an der Außenwelt, zur Begeisterung, 
zum Enthusiasmus, wie zur sachlichen Wertung ab. Bei Nichtablös¬ 
barkeit der Affekte kann die Ichlibido Freuds, die egozentrische 
Einstellung, die Stellung auf die eigenen Triebregungen herrschend 
werden (also der Narzißmus Freuds): weil die Lösung der Gefühle 
aus der Triebgebundenheit, die Wahlfreiheit und die Bestimmbarkeit 
der Gefühlsrichtung, die von dem Fringe ausgeht, von der intermediä¬ 
ren psychischen Schicht herrührt, verhindert werden kann. Und es wäre 
möglich, die Übertragungsunfähigkeit, die narzißtische Psychose, 
:ils welche F r e u d die Dementia praecox betrachtet, nicht nur tiefen¬ 
psychologisch, sondern auch aus der Schädigung der intermediären 
psychischen Schicht und der ihre Funktionen leistenden Hirnanteile, 
also organisch zu begreifen, etwa wie wir den Autismus, den Rapport- 

1- o i* w y , Dementia praecox. (Abhandlungen H. 20.) 6 



mangel, das ambivalente Denken und die Denkzerfahrenheit aus den 
Funktionsschädigungen der intermediären psychischen Schicht be¬ 
greiflich machen können. 

Auch das Hervorbrechen symbolischer, wahnhafter Einkleidun¬ 
gen oder kurzschlüssiger Wortentladung (von Trieb zu Wortvorstel¬ 
lung ohne sicheres Bedeutungsbewußtsein etwa im Sinne Freuds) 
eines sonst Verpönten, z. Brauch primitiver Triebregungen und ihrer 
Repräsentanzen: könnte aus den Störungen der Oberleitung und der 
Elektionen im Fringe und aus den Störungen in der Modulationsfähig¬ 
keit und Plastizität des Afifektlebcns und aus dem unfertigen Denken 
begriffen werden; ebenso das, was als Folge der Widersprochenheit 
des Denkens im Sinne S c h i 1 d e r s erklärbar wird: wenn nämlich 
verpönte Regungen nicht abgelöst werden können, sondern an ihren 
Inhalt im Sinne des Verdrängten Freuds fixiert bleiben, so kann 
es nicht nur zu Widersprochenheit der betreffenden Inhalte, sondern 
auch der Denkakte, ja des Denkgeschehens überhaupt kommen. 

Auch die autochthonen Ideen und Halluzinationen entspringen 
dem Boden der intermediären psychischen Schicht, des Fringe, dem 
Unbemerkten. Ihnen beiden fehlt, wie dem Gebiete des Unbemerkten 
überhaupt, das Gefühl des Psychisch-Tätigseins, der eigenen Denk¬ 
produktion, das Denkgefühl usw. Daß dieses Fehlen des Denkgefühls 
ein sowohl den Halluzinationen und den autochthonen Ideen ge¬ 
meinsames Kennzeichen, eben das Kennzeichen ihrer Herkunft aus 
dem Unbemerkten ist, habe ich in einer Arbeit über „Aktionsgefühle“ 
1908 des näheren ausgeführt. R e i n h o 1 d hat an Beispielen der 
polyglotten Halluzinationen 1921 die Herkunft der Halluzinationen 
aus der Schichte des vorformulierten Denkens, der Einstellungen und 
Stellungnahmen (nach Kronfeld würden wir hier für Stellung¬ 
nahme besser unbemerkte Gestimmtheiten sagen), kurz aus der soge¬ 
nannten „psychischen Situation“ bewiesen. 

Auch die seinerzeit von mir aufgestellte Intentionsleere der 
Dementia-praecox-Kranken, der Verlust der Zielstrebigkeit im Den¬ 
ken, Fühlen und Handeln, die Insuffizienz der psychischen Aktivität 
(B e r z e) könnte durch Elektionsstörungen im Fringe, welcher ja 
den determinierenden Tendenzen ihre Nahrung, Richtung und Nach¬ 
dauer gibt und garantiert, geliefert werden, soweit der Verlust der 
psychischen Aktivität nicht als ein direktes Motilitätssymptom oder 
gelegentlich als Verlust meines Denkgefühls (Kronfelds Störung 
der Ic-haktivität) aufzufassen ist. 

Es erübrigt noch die Erörterung der Wahnbildung bei der De¬ 
mentia praecox. Kleist hat gezeigt, daß die Paralogien als Stö¬ 
rungen der Begriffsbildung. Begriffsscheidung und Begriffswahl zu 



83 


Fehlbeziehungen führen können. Ein Vorlesungsfall von ihm be¬ 
zeichnte den Professor Jahnel als den Turngott und begründete es: 
Jahn — el. das ist Turnvater Jahn und Gott, und fährt fort, alle 
Herren hier sind Götter. Prof. Raecke ist von meinem Schwager ge¬ 
kauft. denn er hat seine Poliklinik in der Schmidtstraße, wo meine 
Verwandten ihre Geschäfte haben. Prof. Kleist ist ein Rohrstock, 
denn er kommt aus Rostock, fortfahrend: Ich bin auch Professor, 
ein Brotfresser, weil ich Vegetarier bin (real). Das war nicht etwa 
wie bei einem Manischen als eine Reihe witziger Einfälle produziert, 
sondern ernstlich vorgebracht. Wie ich meine, gingen diese para¬ 
logischen Wahnbildungen nach dem Typus des Kalauers: Der 
oberflächlichen, seichten, nach Wort- und Klangassoziationen gehen¬ 
den, dem Sinne nach abwegigen und gerade darum scherzhaft wir¬ 
kenden Witzkonstruktion. Nun weist 0. P ö t z 1 gelegentlich der 
Erklärung der Symbolbildung in Traum und Neurose hin: auf den 
Freud sehen Mechanismus der Begriffsverdichtung und der Be 
griffsverschiebung, evtl, mittelst Zerlegung des symbolisch Auszti- 
driiekenden in Teilbilder nach Art eines Rebus (ein polnischer 
Herr (Pan) am Kahn und ein Aal nebeneinander sind die Rebuszeich¬ 
nungen für ..Panamakanal“). Diese Begriffszerlegung und -Verschie¬ 
bung nach Rebus art scheint mir auch das Kalauern zu zeigen 
und es scheint mir, daß diese Art der kalauernden Wahnbildung, 
welche dem Kranken doch kein Witzeln bedeutet, eine Verbindung 
der zugrundeliegenden Denkstörung mit dem ,,Symbolbedürf- 
n i s“ nach larvierter Entäußerung von Verpöntem in Wahnform 
darstellt, oder herstellen kann. 

Daß eine Beziehung solcher Elektionsstörungen bei der Begriffs¬ 
und Wortwahl zu Komplexen sich ergeben kann, scheint mir ein Fall 
zu zeigen, welcher komplexbedingte Wortneubildungen während einer 
bestimmten Phase einer rein mit dem Assoziationsexperiment (fort¬ 
laufenden Assoziationen auf ein Reizwort hin) durchgeführten 
Psychoanalyse bot. So produzierte er das Wort „Buldra“, das 
weitere Assoziieren weckte „Baldur“ und „Rudolf“ auf. Die spontan 
anschließende Erinnerung berichtete von einem Vetter, schön wie 
Baldur, der Rudolf hieß und zugleich Gegenstand des Neides um die 
Liebe der Angehörigen und Objekt der ersten homosexuellen Regun¬ 
gen war. Die Wortneubildung „Ilummernschnitt“ löste sich in 
Schnitterangst, Schneiderangst, Schneideangst. Vater, also den 
Kastrationskomplex. Es handelte sich hier nicht um einen Schizo¬ 
phrenen, sondern um einen geistig und sozial außerordentlich hoch¬ 
stehenden Zwangsneurotiker, welcher nur im Assoziationsexperiment 

fi* 


I 



84 


Wortneubildungen ohne Beschleunigung produzierte, in einer ge¬ 
wissen Phase der Analyse massenhaft zu seiner eigenen höchlichen 
Verwunderung. 

Das Vorkommen „symbolisierender Wahnbildungen und Hallu¬ 
zinationen“ als Charakteristikum paraphrener und schizophrener 
Wahnbildung habe ich jüngst (über Wahnbildung 1922) betont. Es 
sei noch erwähnt, daß daneben affektgeschaltete Wahnbildungen 
nach Art der überwertigen Idee und in oberbewußten Mechanismen 
entstehen können, ebenso wie Wahnbildung von „Rufcharakterart“, 
Avie ich seinerzeit (1911: Über den halluzinierten Namensanruf mit 
und ohne BeachtungSAvahn) die diffuse Eigenbeziehung und den 
Bedeutungswahn bezeichnet habe. Diese Wahnbildung entsteht im 
Zustande unbestimmter Unruhe und Erwartung mit dem Gefühle 
unbestimmter Importanz der Eindrücke, ähnlich wie beim Angerufen¬ 
werden: durch Veränderung und zwar Steigerung des Ichgerichtet- 
seins auf die Impressionen, welche exoprojiziert den Eindrücken eine 
gesteigerte Ichgerichtetheit (Ichbezogenheit) anhängt. Diese Ver¬ 
änderung könnte sich bei der Dementia praecox durch Störungen 
auf jenem Wege, welcher von dem Zusammenstöße der Im¬ 
pression mit der kontinuierlichen Gemeinempfindung, also 
von einer Gemeinempfindungsändening durch die inter¬ 
mediäre psychische Schicht hindurch zur Wahr¬ 
nehmung usw. führt, erklären lassen, ebenso Avie die Herabsetzung 
der Ichgerichtetheit der Impressionen in der Entfremdung der Wahr¬ 
nehmungswelt auf diesem Wege entstehen mag. 

Es ist sonach nicht unwahrscheinlich, daß der diffuse 
BezielumgsAvahn, Bedeutungswahn und Beachtungswahn, d. i. 
die Veränderung (Erhöhung) des Ichgerichtetseins auf die 
Impressionen, also die Wahnbiklung von „Rufcharakterart“: 
als Übererregbarkeit des Bemerkens im Fringe. 
ebenso wie die Depersonalisation und Entfremdung der Wahrneh- 
inungswelt: als Untererregbarkeit des Bemerkens 
und Mitschwingens im Fringe, zum Teil ihre Erklärung 
finden können. Dieser Teil der Fälle würde sich als eine Funktions¬ 
störung im Bereiche der intermediären psychischen Schicht quali¬ 
fizieren. und wo diese Funktionsstörung dauernde organische 
G r ii n d e hat, als der Dcmentia-praecox-Gruppe zugehörig. In der 
Tat ist ein hoher Prozentsatz dieser Formen \ T on „Wahnerleben“ 
(J a s p e r s) in diffusem Beziehungswahn oder Depersonalisation 
resp. Entfremdung der Wahmehmungswelt Initialstadium 
oder Verlaufsphase der Dementia p r a e c o x: wie wirüber- 



85 


h a u p t Grund haben, einen Großteil der cliro 
uischen „paranoischen“ Erkrankungen als Para¬ 
phrenien, Dementia paranoides usw. der De¬ 
in entia-praecox-Gruppe zuzurechnen. In der er¬ 
wähnten Arbeit „Über Wahnbildung“ habe ich ein „Symbol- 
bedürfnis“ als Grundlage mancher, eben der „symbolisierenden“ 
Wahnbildungen und Halluzinationen angesprochen. Dieses „Symbol¬ 
bedürfnis“ entspringt im Sinne Freuds den „Komplexen“, dem 
Drange nach Entäußerung, nacli Abfuhr der verpönten Regungen, 
und zugleich dem Drucke der „Zensur“, welcher Druck zur Larvie¬ 
rung in Kompromißprodukten, Umkehrungen des Erstrebten ins Er¬ 
littene führt, (s. Über Wahnbildung), den körperlichen Beeinflussungs¬ 
wahn zuni Teil, und manchenVerfolgungswahn schafft (vgl. oben auch 
Ahrahara über Autismus und Verfolgungswahn), soweit der 
körperliche Beeinflussungswahn nicht somatisch-halluzinatorisch be¬ 
gründet ist. Dieses Symbolbedürfnis der schizophrenen und para- 
phrenen Wahnbildung ist wohl maßgebend und kausal für die 
Wahnform evtl, auch dafür, daß Wahnbildung 
entsteht, aber keineswegs für das Erkranken an De¬ 
mentia praecox, (symbolisierende Tendenzen gehören ja zur Norm); 
sondern das Symbolbedürfnis geht selber auf die Denkstörung usw. 
zurück. Vielleicht gehen auch die kurzen Assoziationen, das kurze 
Denken, das „Sofort-zu-Ende-Sein“ mit einem Gedankengange bei 
Dementia praecox (Bleuler) auf Untererregbarkeit des Bemerkens, 
mangelhaftes Mitschwingen im Fringe, also auf eine Überleitungs¬ 
störung zurück. 

Vor allem aber spielt die Über erregbarkeit des Bemerkens, (las 
Beinerkbarwerden von „Gedankenatmopshären“, von sonst unbe¬ 
merkten Fringeteilen (also ein inneres Analogon der Erhöhung 
des Ichgerichtetseins auf äußere Impressionen, also des „Ruf¬ 
charakters“ der Eigenbeziehung), noch eine Rolle für den Inhalt 
der Wahnbildung der Dementia praecox. Denn diese Übererregbar¬ 
keit begünstigt ja das Hervorbrechen unfertigen, sonst unbemerkten, 
ambivalenten, ambitendenten, kurz ungerichteten und 
..illustrierenden“ Denkens, statt des gerichteten orien¬ 
tierenden. Dadurch wird auch die Befriedigung des „Symbol- 
Bedürfnisses“ in wahnhaften, traumhaften, spielerischen, kurz 
-illustrierende n“ Produkten des Denkens begünstigt. 

< Vgl. hierzu die interessante Studie von W. Mayer -Groß „Bei¬ 
träge zur Psychopathologie schizophrener Endzustände: 1. „über 
>s :piel, Scherz, Ironie und Humor in der Schizophrenie“. Zeitschrift f. 
d. gesamte Neurol. u. Psychiatrie, Bd. 69, 1921.) 



86 


Wir sahen so die Verschiedenfältigkeit im Wahn¬ 
erleben, wie in den Symptomen der Dementia praecox überhaupt, auf 
verschiedenartige Störungen im Funktionsbereiche der inter¬ 
mediären psychischen Schicht und auf eine evtl, zugrunde liegende- 
Erkrankung mehrerer zugehöriger Zerebralsysteme zurück- 
führbar. 

Dagegen könnten die Charakteranlagen — sobald man nicht 
etwa Charakteranomalien „Freudisch“ als Triebabbiegungen, Trieb- 
lixierungen und Triebregressionsfolgen und somit als sekundär er¬ 
klären will, und die Erbanlagen: nicht mit einer Sichtschizose, nicht 
mit dem schizophrenen Prozeß Zusammenhängen, wenn wir diesen als 
Folge einer elektiven Systemerkrankung auffassen. Außer es 
bestünde sowohl bei Erb- als bei Sichtschizose und dem schizophrenen 
Prozeß von Haus aus eine Schwäche und Anfälligkeit dieser 
Systeme nach Art etwa der Heredodegeneratlon und es ließen sich 
die Charakteranomalien und die ohne dauernde Sichtschizose auf¬ 
tretenden schizophrenen Situationsreaktionen: ebenfalls auf eine. 
Funktionsschwäche gerade der von mir als Stätte der Funktions¬ 
störungen bei der Dementia praecox postulierten intermediären 
Schicht und der basalganglionären Systeme (mit ihrem Unterbau und 
Überbau) zurückführen. Gelänge es, so hätten wir einen zusam¬ 
menhängenden Bereich. Dieser erstreckt sich von den schi¬ 
zoiden Charakteranomalien und schizophrenen Situationsreaktionen 
Poppers über die die Kerngruppe darstellenden Katatonien aki¬ 
netischer. hyperkinetischer, parakinetischer Form usw., über die 
stumpfe apperzeptive Verblödung nach W e y g a n d t, über 
die läppisch-albernen Hebephrenien, wie die hebephrenenVerstimmun¬ 
gen und ihre Verwandten, wie über die Affektverödung (Wurstigkeit) 
und affektive Verblödung, wie über die paralogischen (im engeren 
Sinne Kleists schizophrenen: Inkohärenz des Gedankenablaufs 
und Paralogien — Störungen der Begriffsbildung und Begriffswahl) 
und Kraepelins wie Kleists schizophasische Störungen 
(vorwiegend sprachliche Störungen, Wortfehler, Satzfehler, Wort¬ 
neubildungen) zur schweren Denkzerfahrenheit und Sprachverwirrt¬ 
heit und Verworrenheit, wie zu Kleists progressiver Beziehungs¬ 
psychose. zur K r a e p e 1 i n sehen Dementia paranoides, zur Phan- 
tasiophrenie Kleists (Einbildungen und Konfabulationen, konfa¬ 
bulatorischen Paraphrenie Kraepelins), respektive zu den schizo¬ 
phrenen und paraphrenen Wahnbildungen (meiner Auffassung nach 
größtenteils symbolischer Natur) äußerlich geordneter Patienten, zu 
Kleists progressiver Halluzinose, und zum hypochondrischen Wahn 



87 


mit Organhalluzinationen, der Paranoia hypochondriaca der Alten, 
wie zum körperlichen Beeinflussungswahn usw. 

Das berührt sich mit dem, was Bleuler (Lehrb. 3. Auf!., 1920) 
S. 279 ausführt: Die Richtungsprognose der ganzen Gruppe 
ist eine einheitliche, während der Grad der zu erwartenden Ver¬ 
blödung, die Streckenprognose durch die bloße Erkennung 
der Krankheit nicht bestimmt wird (nach Ablauf eines Schubes evtl, 
nur geringe Veränderungen zurück bleibend). Diese Krankheit kann 
in jedem Stadium Stillstehen und manche ihrer Symptome können 
sich sehr weit oder ganz zurückbilden; aber wenn sie weiter schreitet, 
führt sie zu einer Verblödung bestimmten Charakters. Die Krank¬ 
heit verläuft bald chronisch, bald in Schüben, kann in jedem Stadium 
Halt machen oder eine Strecke weit sich zurückbilden, erlaubt aber 
wohl keine volle restitutio ad integrum. Sie wird charakterisiert durch 
«■ine spezifisch geartete, sonst nirgends vorkommende Alteration des 
Denkens und Fühlens und der Beziehungen zur Außenwelt, außerdem 
sind akzessorische Symptome zum Teil mit spezifischer Färbung 
etwas ganz Gewöhnliches. 

Hierzu möchte ich bemerken: Die schwersten Störungen ent¬ 
stünden meiner Anschauung nach, sei es durch besonders ausgiebigen 
Ausfall einer einzelnen Funktion der intermediären psychischen 
Schicht bei Rückwirkung dieses Funktionsausfalls auf die mit der 
ausgefallenen Funktion zusammenarbeitenden und von ihr abhängigen 
Funktionen, sei es durch kombinierte Schädigung mehrerer, neben¬ 
einander arbeitender oder zusammenhängender Funktionssysteme und 
dadurch etwa der Kernanteile der intermediären psychischen Schicht. 
Diese Schädigungen müssen natürlich deswegen, weil sie die zentralen 
Funktionen der intermediären psychischen Schicht betreffen, nicht 
daraufhin schon etwa im Kerne des Hirnzentren- und -bahnensystems 
lokalisiert werden: denn die zentralen Kernfunktionen der inter¬ 
mediären psychischen Schicht könnten z. B. auch durch Zusammen¬ 
arbeit im Gehirn weit auseinander liegender End- und Ausgangs¬ 
stätten des Systems geliefert werden. Freilich meine ich — wenn 
auch zurzeit noch unverbindlich —, daß die schwersten und um¬ 
fassendsten Ausfälle am wahrscheinlichsten dann zustande kämen, 
wenn Bahnen und umschaltende Zentren verschiedener Funktionen 
desselben Systems in loco morbi zusammentreffend zugleich getroffen 
werden, respektive dort — an der Stelle der Umschaltungen und des 
Zusammentreffens — der Prozeß am intensivsten einsetzt. Dabei 
könnte es geschehen, daß die Folgen dieser lokalen Schädigung in 
Dmschalt- und Verknüpfungszentren trotzdem wieder zuerst in den 



88 


zugehörigen verschieden gelagerten Endstätten als Funktionsstörung 
und Zerfall hervortreten mögen. 

Natürlich wäre die Annahme einer intermediären psychischen 
Schicht und ihrer Schädigung bei der Dementia praecox an sich nicht 
etwa auch schon Veranlassung, eine intermediäre Lokalisation der 
elektiven Systemschädigung des Gehirns etwa in den Zentralganglien 
anzunehmen. Dafür aber ergeben sich einige Anhaltspunkte aus 
anderen Momenten. 

Auf diese Momente gehe ich hier nur kurz ein, denn sie sind 
durch Karl Kleist grundlegend bearbeitet und auch neuerdings 
in einem Frankfurter Vortrage zusammengefaßt worden. 

Akinesen (Stupor, Bewegungsarmut, Bewegungserschwerung. 
Rigor), Hyperkinesen und Parakinesen, sonst Störungen oder Ausfall 
der Reaktivbewegungen und der automatischen Bewegungen, 
der Mitbewegungen, z. B. des Pendelns der Arme beim 
Gehen. Bewegungsverharrungen und Bewegungswiederholun¬ 
gen, Störungen der Ausdrucksbewegungen (maskenartiges Ge¬ 
sicht, Grimassieren und Tics. Zwangslachen und Zwangsweinen 
ohne entsprechenden Affekt), emotionelle Inkontinenz und 
Schwererweckbarkeit des Affekts. Schwererweckbarkeit des Denk¬ 
ablaufs. zusammen mit Schwererweckbarkeit der Einstell-, Aus¬ 
drucks-, automatischen und Mitbewegungen, aber auch f bererregbar- 
keit der Einstellbewegungen entsprechend W e r n i c k e s hyper- 
metamorphotisehen Bewegungen und weiter, wie ich es nannte, hyper- 
metamorphotisches, scheinbar ideenflüchtig-inkohärentes Denken mit 
A. Picks pathologischer Lenkung und Ablenkung des Denkens 
durch Bewegungen und durch das Sprechen; Palilalie und Palikinese 
d. i. Wiederholung desselben Wortes, derselben Zahl, desselben Buch¬ 
stabens — entsprechend und ähnlich dem „senilen Stottern“ nach 
Kleist — und Wiederholung derselben Bewegung (wie ich glaube, 
zum Teil durch Schwererweckbarkeit der erstrebten Leistung, zum 
Teil durch Enthemmung der fertigen Leistungskoordination), sonstige 
Iterativerscheinungen und manche Stereotypien — andere entsprin¬ 
gen. wie J. Kläsi 1922 zeigt, Psychischem, dem Autismus, der 
Abwehr von Körperhalluzinationen usw. —, choreiforme und athe- 
totische Bewegungen, einseitige Veränderung der Organgefühle einer 
Hand und zugehörige Gefühlsvorgänge, wie es A. Pick an einem 
Falle H e a d s vom Thalamusherd hervorhob, so daß diese Hand ver¬ 
bellter und sehnsüchtiger wurde: All das findet sich in einer der 
Dementia praecox ähnlichen Weise bei Herden und Erkrankungen 
der Basalganglien, respektive bei Erkrankungen in deren verbin- 



89 


•lenden, untergeordneten und übergeordneten Bahnen (Kleinhirn- 
Busalganglien-Stirnhirnsysteme Kleists). 

So weist z. B. B1 e u 1 e r S. 286 (Lehrb., 3. Aufl.) auf Dementia- 
praecox-Kranke hin, die mit den Augen in Verzweiflung weinen, mit 
dem Munde lachen können (was er auf Ambivalenz eines Komplexes 
bezieht) und darauf, daß er einmal ein solche Spaltung des Gesichts¬ 
ausdrucks zwischen rechts und links beobachtet habe (also einen 
Patienten mit einem lachenden und einem weinenden Auge, wenn ich 
recht verstehe). 

Kleist weist weiter auf die Parallele gewisser Affektstörungen 
der Dementia praecox mit den Affektstörungen bei Stimhirnverletzun- 
gen mul -erkrankungen hin, und auf Beziehungen des Thalamus und 
des Stirnhirns zueinander und zu den Affekten (bei Schädigungen 
und Verletzungen des Stirnhirns, sowohl Apathie als Reizbarkeit, 
auch sexuelle Erregbarkeit); ebenso wie auf die Bewegungsarmut bei 
St i rnhi rn verletzten. 

Verwandt scheinen mir die VVitzelsucht Jastrowitz' bei 
Stirnhirntumoren, die läppische Albernheit gewisser, teils schizophre¬ 
ner. teils anderer Kranker und vielleicht aucli die emotionelle Inkonti¬ 
nenz der Organiker Bleulers, ohne daß diese immer ein Lokal- 
syniptom oder gar ein Basalsymptom sein müßten. 

Kleist selbst bezieht nicht nur diese Affektstörungen, sondern 
auch die Perseveration, d. h. eine Reaktion, die in unmittel¬ 
barer Folge einer normal oder krankhaft vollzogenen oder auch nur 
angeregten Handlung auftritt. sowie manche Stereotypien 
starre Einschränkung auf eine einzige Reaktion), und die verwandten 
Manieren auf Schädigungen der Hirnrinde, z. B. analog den Persevera¬ 
tionen der Aphasiker und auch im Hinblicke auf die Stereotypien in 
•Sprache und Schrift bei einem von Förster beobachteten Falle von 
8tirnhirnverletzung, und besonders unter Hinweis auf das Fehlen der 
Hliulimisierung bei diesen höher zu lokalisierenden Störungen gegen¬ 
über den striären Iterativerscheinungen und ähnlichen, in mehrfacher 
Wiederholung auftretenden Bewegungen und Worten: Echopraxien. 
K'holalie. Nichtloskommenkönnen von Einzelhandlungen, etwa vor- 
gemaohtem Händeklatschen oder Produktion einer Zahlenreihe statt 
e >tier Zahl bei Striären und beim senilen Stottern, was alles als 
fbythmisierte Erscheinungen den tieferen Zentren angehört. 

Trotz der prinzipiellen Richtigkeit dieser Anschauungen und 
trotzdem ich überzeugt bin, daß ganz ähnliche Störungen einmal Hirn- 
rindeiischädigungen. ein andermal Basalganglienschädigungen zuzu- 
s«‘hreihen sein dürften, möchte ich zu bedenken geben: daß sowohl 



90 


Perseveration und Iterativerscheinungen wie Stereotypien und Ma¬ 
nieren Ausdruck von Schwerablösbarkeit sein können und diese 
letztere teils selbständig, teils Produkt der Schwererweckbarkeit sein 
und in beiden Fällen dann die Symptome durch Schädigung der höch¬ 
sten, wie einer der tieferen Etagen zustande kommen könnten. Jedoch 
kann ich zurzeit darüber nichts Näheres sagen. Auch impulsive 
Handlungen, ganz ähnlich den impulsiven Handlungen der Dementia 
praecox nachher sofort wieder Regungslosigkeit, resp. starres Ver¬ 
harren, starres Stehenbleiben, ja negativistisches Verharren, sowie 
negativistische und unschlüssige Reaktivbewegungen, Abwehr des 
Löffels und der Nahrung und dann Schnappen darnach mit dem 
Munde, Handreichen und Zurückziehen, Hin- und Herschwanken zwi¬ 
schen Bleiben und Gehen oder Stehenbleiben auf halbem Wege, sah 
Kleist bei Großhimtumoren und berichtet nach N o e h t e neben 
Reaktivbewegungen einseitig kurzschlüssige Bewegungen, Nesteln und 
Greifen der linken Hand auf der Bettdecke, daneben einseitig negati¬ 
vistische und unschlüssige Bewegungen: Diese Hand schob den ge¬ 
reichten Bleistift, Schlüssel weg und griff wieder darnach, winkt den 
Pfleger heran und schob ihn wieder weg. 

Kleist unterscheidet einen mehrfach gestaffelten Apparat die¬ 
ser Kleinhirn-Basalganglien-Stirnhirnsysteme mit wenigstens 3 Eta¬ 
gen. 1. Etage: der rubrospinale Reflexbogen, Muskelsinn (Muskeln, Ge¬ 
lenke und Sehnen) und Labyrinth, zu- und abführende Bahnen zum 
roten Kern; 2. Etage: roter Kern, Thalamus, Striatum (Nucleus cauda- 
tus und Putamen), Globus pallidus, 3. Etage: Thalamus und Stimhirn 
in ihren wechselseitigen Verbindungen. Es handelt sich um tonisch- 
koordinatorische Leistungen und um Leistungen im Bereiche der auto¬ 
matischen und unwillkürlichen Bewegungen, der Eihstellbewegungen. 
Affektbewegungen usw. (Kleist). 

Wir sehen, es finden sich sowohl in diesem Kleinhirn-Basalgang- 
lien-Stirnhirnsysteme Kleists, wie in der intermediären psychi¬ 
schen Schicht Funktionen zusammen und zwar auch in ihren Kombi¬ 
nationen, welche einzeln gestört, gelegentlich einseitig gestört, wie 
auch in Kombinationen gestört gefunden werden: sowohl bei den lo¬ 
kalisierten Basalganglien-Affektionen usw. wie bei der Dementia 
praecox. 

Vergleichen wir noch mehreres aus der großen Arbeit von 
0. F o e r s t e r , Zur Analyse und Pathophysiologie der striären Bewe¬ 
gungsstörungen 4 (Zeitschr. f. d. ges. Neurol. u. Psych., 73. Bd., 1.—3. 
Heft, 1921), aus dem Kapitel über „das hypokinetisch¬ 
rigide Pallid u ms yndro m“ (bei verschiedenen Schädigungen 



91 — 


des Pallidums — über die Symptomatologie entscheidet der Sitz der 
Läsion, ihre Art über Verlauf und Prognose, betont Foerster mit 
Recht im weiteren). Es ergibt sich die ausschlaggebende Bedeutung 
der dort eingehend klargelegten „Adaptionsspannung“ und „Fixa¬ 
tionsspannung“ (nach passiver Stellungserteilung und aktiven Bewe¬ 
gungen an Gliedern, Kopf, Kinn, Rumpf, als die erreichten Stellungen 
fixierende (überschießende) Muskelspannung, ausgelöst durch An¬ 
näherung der Insertionspunkte der Muskeln), sowie der Haltungs¬ 
anomalien (als Folge abnormer Nachwirkung „des Stellung- 
geb.enden Faktors“) und des Dehnungswiderstandes und des 
Rigors, wie des Mangels an Spontanbewegungen, Mitbewegungen und 
weiter der Erschwerung, ja des gänzlichen Fehlens der Reaktivbewe¬ 
gungen: für die Katalepsie und Steifigkeit dieser Kranken. 
(Anmerkung Max Löwy: Vgl. meinen Antagonisten- 
dehnungs-Reflex (1903), d. i. reflektorische tonische Span¬ 
nung der Agonisten bei Dehnung der Antagonisten in 
passiven Bewegungen (Katalepsie) und aktiven Bewegungen (bei 
meinem „koordinatorischen Rigor“ 1905). Unter Mitbewegungen 
sind hier nicht wie in meinem psychologischen Kap. I usw. „die M i t - 
ausdrucksbewegungen, die nachahmenden Mitbewegungen“ 
hei der Einfühlung in Ausdrucksbewegungen und Gemütsbewe¬ 
gungen anderer gemeint, sondern die synergischen Mitbe- 
w eg u n g e n —Pendeln der Arme beim Gehen z.B. — und im gleichen 
Sinne zusammen wirkende „Massenbewegungen“ des Körpers auf 
einen einzelnen Impuls oder Reiz hin, welche Bewegungen beim Palli- 
dumkranken fehlen — der Impuls bewirkt hier nur die intendierte 
oder reflektorische Einzelbewegung, während die Massen- und Mit¬ 
bewegungen fehlen, beim Pyramidenbahnsyndrom dagegen erleichtert 
auftreten; vgl. 0. Foerster, ibidem S. 53. 54.) 

S. 35, 36 wird die Erschwerung resp. das Fehlen der Reaktions- 
twywegungen als ungemein typisch für das Pallidumsyndrom 
hervorgehoben. „Man kann in ganz schweren Fällen die Kranken 
lieftig stechen, wiederholt stechen, das Glied wird nicht eine Spur 
bewegt oder weggezogen. Der Kranke rührt sich nicht, keine Wim¬ 
per zuckt, nicht die leiseste Schmerzäußerung erfolgt, nicht einmal die 
Pupillenerweiterung tritt ein.“ (Anmerkung MaxLöwy: Vgl. hierzu 
das Fehlen der psychischen und Schmerzreaktion der Pupillen bei 
einem Prozentsatz der Katatonen.) „Und doch ist die Schmerzempfin¬ 
dung in vollem Umfange erhalten. Ich habe einen Parkinson beob¬ 
achtet,“ fährt Foerster fort, „den eine Wespe in die Backe stach, 
ohne daß sich an ihm auch nur ein Glied rührte, nur ein leises Zittern 



92 


lief durch den Körper; ebenso charakteristisch ist es, wie solche 
Kranke durch Fliegen belästigt werden, ohne auch nur eine Spur von 
Reaktion zu zeigen. Denselben völligen Mangel von Reaktion ge¬ 
wahrt man, wenn man die Kranken unversehens mit einem Haar im 
äußeren Gehörgang kitzelt, ein Reiz, der bekanntlich in der Norm die 
lebhaftesten Reaktivbewegungen auslöst. Trifft den Kranken ein 
heftiger plötzlicher Gehörreiz, so erfolgt nicht das mindeste Zusam¬ 
menfahren, nicht die leiseste Äußerung des Schrecks spiegelt sich in 
den Mienen wieder. Aber es erfolgt auch keine Einstellbewegung des 
Kopfes und der Ohren, die der Normale auf einen Gehörreiz hin vor¬ 
nimmt. Dieselbe eisige Ruhe wie Gehörreizen gegenüber bewahrt der 
Kranke, wenn ihn ein plötzlicher Lichtreiz trifft: kaum erfolgt ein 
leichter Lidschlag der Augen, Kopf und Körper werden nicht zurück¬ 
gezogen. Auch die Blinzelbewegungen des Normalen, die beim plötz¬ 
lichen Heranbringen des Fingers an die Augen eintreten, fehlen beim 
Pallidumkranken sehr oft ganz. Andererseits erfolgen auch keine 
Einstellbewegungen des Kopfes und der Augen auf Lichtreize 
hin.“ S. 36. 

Liest sich diese der Paralysis agitans, arteriosklerotischen Palli- 
dumerkrankung mit Gliederstarre usw. geltende Schilderung F o er¬ 
st e r s nicht fast wie die Beschreibung eines katatonen Stupors? 
Vergleichen wir nun noch illustrierend (aus dem für. die 11. Jahres¬ 
versammlung deutscher Nervenärzte zu Braunschweig. September 
1921 [Leipzig, Vogel, 1922] erstatteten Berichte) „der amyostatische 
Symptomenkomplex und verwandte Zustände“ (anatomischer Teil) 
von E. P o 11 a k (Wien) eine Anführung S. 42: über Nothnagels 
tierexperimentelle Linsenkernuntersuchungen: „Man beobachtete bei 
bilateral symmetrischer Läsion einen Zustand von Erstarrung mit 
kataleptischen Erscheinungen in den Extremitäten“. 

O. Foerster entnehmen wir weiter S. 38, 39: „Unter den oben 
angeführten Beispielen mangelnder Reaktivbewegungen auf schmerz¬ 
hafte, taktile, akustische und optische Reize hin. war schon die 
Rede davon, daß der Mangel an mimischen Ausdrucks¬ 
bewegungen einen wesentlichen Bestandteildie- 
ser Reaktionslosigkeit bildet. Dieser letztere ist nun beim 
Pallidumsyndrom überhaupt eine ganz allgemeine Erscheinung. D i e 
Leere des Gesichts, die eisige Ruhe im Ausdruck, 
die maskenartige Starre, der Mangel des normalen Augen¬ 
spiels, die für gewöhnlich vorhanden sind, ändern sich auch nicht 
oder wenig, ob lebhafte Freude, tiefe Trauer, heftiger Schmerz, Er¬ 
staunen, Schreck die Seele durchbebt. Kranke, die früher ein leb- 



93 


haftes Mienenspiel besaßen, sind darum nicht wieder zu erkennen. 
Aber es fehlen nicht bloß die mimischen Ausdrucksbewe¬ 
gungen, sondern auch die Ausdrucksbewegungen 
desübrigenKörpers;die Kranken verlieren ihre je nach ihrem 
Temperamente verschieden geartete Gestikulation, ihre Allüren; die 
für viele Menschen individuell so charakteristischen Modalitäten des 
Ganges, des Essens, des Grußes usw. verschwinden und machen einer 
öden Monotonie Platz. (Anmerkung Max Löwy: Ygl. die „Nivel¬ 
lierung“* ganzer Irren-Abteilungen von Endzuständen, den dort 
herrschenden Mangel an psychischer und motorischer Modulations¬ 
fähigkeit, den Verlust der Grazie, d. i. im Sinne von A. Hombur- 
g e r an Bewegungsflüssigkeit und Bewegungsluxus der Jugend, 
wie des „individuellen Bewegungscharakters“ (A. H o m - 
bürg er) der Erwachsenen). Es ist nun zu betonen, daß 
dieser Mangel an Reaktions- und Ausdrucksbewegungen ein 
selbständiges Symptom ist. Er kann nicht etwa durch die 
Fixationsspannung und den Rigor der Muskulatur erklärt werden: 
denn er besteht auch da, w'o letztere noch gar nicht nennenswert vor¬ 
handen sind, oder — was in einzelnen seltenen Fällen vorkommt — 
gänzlich fehlen.“ (S. 39.) 

S. 71. Pallidumzerstörung führt einerseits zur Erschwerung der 
Willkürbewegungen, zum Mangel an Mitbewegungen, an Bewegungs¬ 
sukzessionen, an Reaktiv- und Ausdrucksbewegungen, (h y p o k i n e - 
tische Komponente — Störung der innervatori- 
schen Leistungen); andererseits zum erhöhten Dehnungs¬ 
widerstand, zur Erhöhung der Fixationsspannung, zu Haltungsano¬ 
malien. zum Tremor, zum erhöhten plastischen Muskeltonus (rigide 
Komponente — Störung der inhibitorischen Lei¬ 
stungen des Pallidums, besonders bezüglich des 
Kleinhirns). 

S. 72 hält 0. Foerster auch weiterhin daran fest, daß eine 
Schädigung der fronto-ponto-zerebellaren Leitung ein 
dem Pallidumsyndrom analoges oder recht ähnliches Bild erzeugt. Bei 
Stimhimprozessen, speziell der präzentral gelegenen Partien, nament¬ 
lich der ersten und zum kleinen Teil auch der zweiten Frontalwin¬ 
dung, finden sich: ausgesprochene Haltungsanomalien, starker Deh¬ 
nungswiderstand der Muskeln, der über den gewöhnlichen 
wächsernen des Pallidumsyndroms noch hinausgeht 
und oft schwer überwindbar ist, deutliche Fixationsspan¬ 
nung. manchmal typisches kataleptisches Ver¬ 
halten d e r G 1 i e d e r, das.aber oft infolge des starken Dehnungs- 



94 


Widerstandes. der Muskeln nickt ohne weiteres demonstriert werden 
kann; tonische Nachdauer der Kontraktion bei elektrischer Reizung 
und bei Reflexbewegungen, ausgesprochene Bewegungsarmut, 
Mangel an Initiativbewegungen, sehr große Ver¬ 
langsamung des Bewegungsbeginns, verlang¬ 
samte Durchführung, rasche Ermüdbarkeit, 
manchmal eine ausgesprochene Parese . . . Wir finden vor allem die 
tonische Nachdauer der willkürlichen Innervation in starkem Grade; 
hat z. B. der Kranke die Hand eines anderen erfaßt, so kann er sie 
nunmehr nicht wieder loslassen, hat er ein Glas erfaßt und zum Munde 
geführt, so bleibt er dort stehen u. a. m. . . . Dagegen findet F o er¬ 
st e r . daß der Ausfall an Reaktiv- und Ausdrucks¬ 
bewegungen bei weitem nicht so stark hervortritt wie beim 
Pallidumausfall. Manchmal fehlt dieses Symptom ganz. 

S. 72. Auch bei Zerstörung der mittleren Brückenarme tritt das 
(sc. pallidumsyndrom-ähnliche) Syndrom manchmal deutlich hervor. 

S. 73. Die fronto-ponto-zerebellare Leitung hat (wie das Palli¬ 
dum) gleichfalls einmal die Aufgabe, das zerebellare System zu hem¬ 
men: bei ihrer Unterbrechung kommt es zu derselben enthemmten 
eigenen Tätigkeit dieses letzteren wie beim Pallidumausfall; die 
fronto-ponto-zerebellare Bahn ist aber ebenso wie die fronto-thalamo- 
pallidäre einer der Wege, auf welchen Willensimpulse von der Gro߬ 
hirnrinde zu den Muskeln gesendet werden: bei ihrem Ausfall finden 
wir also initiale Lähmung, später Erschwerung und Abschwächung 
der Willkürinnervation der Muskeln (S. 73). 

Bezüglich des Striatumsyndroms im engeren Sinne (Schädi¬ 
gung und Funktionsausfall des Nucleus caudatus samt Putamen des 
Linsenkerns) sei am Beispiele der Athetose nach Foerster 
noch einiges angeführt. 0. Foerster macht auf die gelegentliche 
Ähnlichkeit der athetotischen Rumpf- und Kopfbewegungen mit dem 
hysterischen Are de cercle aufmerksam (S. 84). (Schon vor Jahren 
fiel mir an einer Athetose double die Ähnlichkeit mit dem Grimas- 
sieren der Dementia-praecox-Kranken, speziell mit dem Schnauz¬ 
krampf auf, wie ja vielfach, besonders in letzter Zeit, bei striären 
Erkrankungen auf die Dementia praecox Bezug genommen wird.) 
O. Foerster beschreibt die außerordentliche Steige¬ 
rung der Ausdrucksbewegungen bis zum Schneiden 
der lebhaftesten Grimassen und Fratzen evtl, ohne den adäquaten 
Affekt (paramimisch) oder mit Überdauerung nach Abklingen des 
Affektes, Zwangslachen, Zwangsweinen (S. 103), Zungenrollen, Leck¬ 
end Schnalzbewegungen, Rollbewegungen der Augen, langdauemdo 



95 


Seitwärtswendung derselben, Hervorstoßen grunzender, schnaufender, 
krächzender Laute (S. 84). Überhaupt als typisch für das Stria¬ 
tumsyndrom (S. 99) die schwerste Steigerung und Er¬ 
leichterung der Reaktivbewegungen auf sensible und 
sensorische Reize, in Form von Zusammenfahren, Flucht-, Abwehr¬ 
und AngrifFsreflexen bis zu Mundaufreißen und Kaubewegungen auf 
Lichtreize z. B. (Anmerkung Max Löwy: Vgl. die hypermetamor- 
photischen Bewegungen W e r n i c k e s bei Katatonen.) Diese Reak- 
tivitewegungen werden eventuell (trotz sonst überwiegender Hypo¬ 
tonie) von tonischer Nachdauer der erlangten Stellungen gefolgt 
iS. 101), oder es findet sich eine allgemeine reaktive Unruhe (S. 99): 
eine Bewegung löst sozusagen reaktiv die andere aus (S. 100), und 
anschließende Massenreaktionen und Massenbewegungen des ganzen 
Körpers (S. 102); die unwillkürlichen athetotischen und die Reaktiv- 
uml Ausdrucks-Bewegungen steigern sich außerordentlich im Affekt 
und sonst bei Inanspruchnahme, bei passiven Bewegungen oder bei 
willkürlicher Innervation; sie schwinden im Schlafe (sc. in der Regel) 
evtl, auch in der Hypnose. (Anmerkung Max Löwy: Mir gelang 
gelegentlich (s. Stereotype pseudokatatone Bewegungen 1910) auch 
hei einer — durch den Endzustand nach Jahren bestätigten — ganz 
initialen Katatonie die unmittelbare Inhibition einer sexuelle Par- 
ästhesien — „Auf- und Absteigen eines Schmetterlings in der Vagina“ 
— begleitenden stereotypen Auf- und Abbewegung der einen Hand 
im Handgelenk durch hypnotische Suggestion für ungefähr einen 
Tag.) 

Auch Bewegungen, die wir mit Kleist etwa als „unschlüssige 
Bewegungen“ bezeichnen könnten, beschreibt O. F o e r s t e r bei den 
Athetotischen: Ein Hin und Her zwischen agonistischer inten¬ 
dierter und antagonistischer nicht intendierter Innervation (S. 90): 
und solche Bewegungen, die man bei der Dementia praecox negativi¬ 
st isch nennen würde: festerer Faustschluß der geschlossenen oder 
hall (geöffneten Hand, wenn sie ganz geöffnet werden soll (S. 90); wie 
eine den „Sperrungen“ ähnliche Nachdauer von Willkürbewegungen 
(S. 1Ü8), endlich eine reaktive Starre — abgesehen vom Zusammen¬ 
fuhren auf Reize —, Starrwerden des ganzen Körpers, z. B. beim Ver¬ 
such einer passiven Bewegung (S. 95). Auch einen Kieferkrampf bei 
Torticollis spasticus von Striatumherkunft (S. 100). Man ver¬ 
gleiche hier Kleists Schilderung der Motilitäts¬ 
störungen an Geisteskranken und sehe die über¬ 
raschenden Ähnlichkeiten. Es soll nun nicht etwa auf 
Analogien hin hier» schon von mir der Versuch gewagt werden: auf 



dem Boden der grundlegenden Arbeiten Karl Kleists „Unter¬ 
suchungen zur Kenntnis der psychomotorischen Bewegungsstörungen 
bei Geisteskranken“ (akinetische Störungen), (Leipzig 1908, Verlag 
von Dr. Werner Klinkhardt) und „Weitere Untersuchungen an Geistes¬ 
kranken mit psychomotorischen Störungen“ (Die hyperkinetischen Er¬ 
scheinungen), (Leipzig 1909, ibidem) mit Hilfe der neueren Feststel¬ 
lungen über die fronto-ponto-zerebellare Bahn und fronto-thalamo- 
pallidären sowie anderen basalganglionären Systeme: die Bewegungs¬ 
störungen samt Folgeerscheinungen bei der Dementia praecox jetzt zu 
diskutieren, oder gar darauf gestützt eine „Neurologie und 
Psychopathologie der Dementia praecox“ zu schrei¬ 
ben. Das ist noch ferne Zukunftsmusik. 

Es sind diese Feststellungen 0. F o e r s t e r s an „Striären“, wie 
vieles andere im Obigen, hier nur herangezogen, um die Bedeutung 
der Konzeptionen Kleists für die Gesamt pathologie der 
Dementia praecox vorerst „per analogiam“ zu beleuchten. 

Wurden wir also oben durch, die Athetosen an die Hyperkinesen 
und Parakinesen, durch das Pallidumsyndrom und durch die Unter¬ 
brechung der fronto-ponto-zerebellaren Bahn lebhaft an den katatonen 
Stupor, an die Regungslosigkeit und Reaktionslosigkeit der katatonen 
Steifigkeit gemahnt, so erinnert uns der Mangel der mimischen und 
anderen Ausdrucksbewegungen und Reaktivbewegungen der Palli- 
dumkranken an meinen ..Pistolenversuch“ bei Kriegspsychosen 
(1917) zur Differentialdiagnose pseudodementen (Schreck-) Stupors 
vom katatonen, und wieder an etwas, was ich seinerzeit als Grundlage 
der frühen Demenzdiagnose beim Kranken aus einem Symptome des 
Untersuchers angeführt habe. Im Mangel an Rapport, an Ein¬ 
fühlung in diese Kranken, in der Uneinf Uhlbarkei t der Kranken steckt 
der Mangel der einfühlenden Mitbewegungen, der nachahmenden Aus* 
drucksbewegungen des Untersuchers, infolge von Defekten der 
feinsten Ausdrucksbewegungen des Kranken, schon bevor dieser 
Mangel am Kranken selber direkt kenntlich wird, oder ein objektives 
Demenzsymptom eintritt. (Meteoristische Unruhebilder, 1912). Wei¬ 
ter werden wir erinnert an Bleulers Feststellung des Verlustes 
der affektiven Modulationsfähigkeit der Dementia-praecox-Kranken 
und an ihre steife, unzugängliche (autistische) Kälte (Bleuler, 
Kretschmer) und steife Mimik. Haltung usw. 

Foerster zeigt auch S. 40 im Bilde sehr schön die Nach- 
d a u e r des verspätet eingetretenen Ausdrucks des Staunens (durch 
T a g e) bei einem Kranken mit arteriosklerotischer Muskelstarre und 
gibt uns so vielleicht einen Wink für manches ratlose, erstaunte Drein- 



97 


schauen der kleinen Kinder und mancher sogenannter „Amenten“ der 
alten Nomenklatur. 

Natürlich will ich nicht etwa bei dieser Gelegenheit das Krank- 
heitsbild der Amentia aus unserer Krankheitstafel löschen. Auch ver¬ 
hehle ich mir manche Unterschiede des katatonen Stupors von dem 
eben Geschilderten nicht, z. B. den gar nicht seltenen mißtrauisch- 
scharfen und hellen Beobachter-Blick regungsloser Dementia- 
praecox-Kranker und vor allem die Lösbarkeit, gelegentlich sehr 
rasche Lösung solcher Stuporzustände, auch sehr schwerer. Doch 
muß diese rasche Lösbarkeit durchaus nicht gegen ihre organische 
Genese sprechen. Enthemmungszustände oder Reizerscheinungen 
oder Hemmungszustände können sich im Verlaufe einer Krankheit be¬ 
heben, ablösen usw., auch beeinflussen lassen. 

0. Foerster sah bewegungsunfähige Pallidumkranke sich 
morgens rasch ankleiden, auf den Gang hinausgehen, wo sie plötzlich 
erstarrten und bewegungsunfähig stehen blieben, auch beobachtete er 
nächtliches Wandern Bewegungsunfähiger mit nachträglicher Am¬ 
nesie dafür. 

Vgl. J. Reinholds Besserungen striärer Mikrographie in der 
Hypnose (Vortrag im Verein deutscher Ärzte zu Prag, Februar 1921). 
Auch hat neuerdings (Mediz. Klinik vom 6. 4. 1922, 18. Jahrg., Nr. 14, 
S. 440) in der Gesellschaft der Ärzte in Wien (Sitzung vom 31. 3. 
1922) J. Mattauschek eirten 19jährigen Patienten demonstriert, 
..mit auffallend raschem Verschwinden des Par- 
kinsonismu s“: Im Januar 1920 Encephalitis lethargica (Fieber, 
Augenmuskelstörungen, myoklonisches Bild), nach 5 Monaten nach 
Staphylokokkenvakzine-Behandlung symptomfrei entlassen, Novem¬ 
ber 1920 Rezidiv von Schlafsucht, nach 2 Monaten abgeklungen, Mai 
1921 wieder Schlafsucht und zugleich schwerer Parkinson mit Sali- 
vation usw. ... Im Januar 1922 im Laufe einiger Tage ein plötz¬ 
liches hochgradiges Nachlassen aller zum Bilde des Parkinson ge¬ 
höriger Symptome: Pat. wurde lebhaft, zeigte Interesse an den Vor¬ 
gängen seiner Umgebung, schläft normal (vorher nachts unruhig ge¬ 
wesen), die Salivation verschwunden, noch Spur maskenhafter Starre, 
der Rigor vielleicht gerade noch bemerkbar, die Haltung etwas vorn- 
ulx?r geneigt. 

Daß Salivation nicht nur zum Enzephalitisbilde gehört, sondern 
auch beim Pallidumsyndrom an sich, wie bei der Dementia praecox, 
vorkommt, ist bekannt. Vielleicht interessiert es an dieser Stelle, 
was Dr. Omega (wohl ein Pseudonym) nach Dr. Johannes 
A ugustusUnzer einem Hamburger Arzte aus der zweiten Hälfte 

L o e w v , Dementia praecox. (Abhandlungen H. 20.) 7 



98 


des 18. Jahrhunderts, der zum Lobe des Tabaks schrieb, anführt: 
„Schon Hippokrates wußte es, daß Leute, die stark auswerfen (es ist 
Speichel gemeint), melancholisch werden. 

Foerster führt weiter vom Pallidumsyndrom S. 40 an: Den 
Mangel an Spontanbewegungen, an Initiativbewegungen, den verlang¬ 
samten Bewegungsbeginn, die verlangsamte Durchführung und ver¬ 
langsamte Bewegungssukzession (gelegentlich mit plötzlichem Ab¬ 
schneiden oder vielem Steckenbleiben) der Willkürbewegungen. Er 
betont dabei, daß die Pat. ihren Angaben nach die Bewegungen aus¬ 
führen wollen, aber nicht können, sich anstrengen, das „Willens¬ 
gefühl“ und das Anstrengungsgefühl bei den intendierten Bewegun¬ 
gen erhalten zeigen. 

In letzterem Umstande, so sehr manches an den katatonen Im¬ 
pulsmangel und an die Sperrungen der Katatonen erinnert, scheint ein 
Unterschied gegeben, gegenüber der „Intentionsleere“ der Dementia- 
praecox-Krauken (siehe diese meine Lehre 1910). Die Störung der 
Dementia praecox müßte also dann, w r enn das Willensgefühl oder 
überhaupt die Intention fehlt, vielleicht auf einer anderen Ebene ge¬ 
sucht werden. Daß auch diese Ebene der intermediären psychischen 
Schicht und den Reaktionsbewegungen nahesteht, trotzdem es sich 
um Willkür bewegungen handelt, scheint mir daraus hervorzu¬ 
gehen, daß auch die Spontaneität im Fringe ihre Wurzeln hat. 

Auch ist der Unterschied durchaus nicht absolut, über Stimu¬ 
lation werden auch bei Katatonen manchmal Bewegungen unter An¬ 
strengung angesetzt, wieder gesperrt usw. 

Auch pathologische Bewegungen können mit Anstrengung 
hervorgebracht werden. Den Abhandlungen aus der Neurologie, Psy¬ 
chiatrie usw., Beihefte zur Monatsschrift für Psychiatrie und Neuro¬ 
logie, Heft 15, ,;Über die Bedeutung und Entstehung der Stereotypien“ 
von Dozent Dr. Jakob Kläsi (Zürich) entnehme ich S. 11: Die 
Beobachtung N e i ß e r s , daß Kranke, welche verbigerieren, ihre 
Worte oft mit sichtlich großer Anstrengung hervorbringen, so als ob 
sie einem organischen Zwange folgen würden und einen großen inne¬ 
ren Widerstand zu überwinden hätten; daß der freien Entfaltung des 
Redetriebes (resp. Bewegungstriebes bei motorischen Stereotypien) 
organisch-funktionelle Widerstände in Gestalt einer Gebundenheit 
oder Hemmung sich entgegenstellten und daß dadurch ein Loskommen 
von denselben Worten (oder Bewegungen) erschwert oder ganz ver¬ 
unmöglicht werde; und daß sich an ein Krankheitsstadium mit Verbi- 
geration in der Regel ein Attonitätszustand anschloß. (NeißerClem. 
„Über das Symptom der Verbigeration“. Allg. Zeitschr. f. Psychiatrie, 



99 


Bd. 46. 1890.) Ähnliches sahen wir jetzt bei der Encephalitis epide¬ 
mica. 

(Anmerkung Max L ö w y: Ygl. oben meinen Hinweis auf die 
v neben direkter Schwerablösbarkeit bestehende) Verursachung 
sowohl von Schwerablösbarkeit vom einmal Angeschlagenen, wie 
auch von Wiederholungszwang: durch Schwererweckbarkeit und Ab¬ 
fuhrzwang für das Schwererweckte. Daß ferner auch Enthemmungen 
beim Iterieren eine Rolle spielen können, zeigte A. P i c k am Beispiel 
der ..Palilalie“ bei Striären. Daß endlich die verschiedensten psycho¬ 
logischen Entstehungsmechanismen für Verbigeration und Stereo¬ 
typien in Betracht kommen: affektive Bedeutung der Wiederholung 
«z. B. als Bekräftigung „ja, ja, ja“), „Symbolbedürfnis“ und Abfuhr¬ 
zwang zum immer erneuten gleichen oder variierten Wiederholen des 
symbolischen Aktes, Satzes oder Wortes, sei hier betont, lind be¬ 
züglich der „Stereotypien“: 1) als Abwehrbewegungen gegen Körper- 
siiuishalluzinationen, 2) als autistische Zweckhandlungen, 3) als Zere¬ 
monien. 4) als Relikte oder Restleistungen (Abkürzung, Vereinfachung 
und Zählebigkeit derselben) muß auf J. K 1 ä s i s grundlegende Arbeit 
..Über die Bedeutung und Entstehung der Stereotypien“ im Originale 
zurückgegriffen werden. Ich bin hier auf die Stereotypien nochmals 
und gerade hier ausführlicher zurückgekommen, weil gerade durch 
das Daneben halten ihrer vielfachen Determinierung und Ver¬ 
wurzelung neben die Parakinesen, das Pallidumsyndrom und das 
Syndrom der fronto-ponto-zerebellaren Bahn: die Notwendigkeit der 
Beachtung der intermediären psychischen Schicht als gemeinsames 
Gebiet der Denken, Fühlen und Handeln vorbereitenden Funktionen 
uml der Entstehungsstätten dieser Funktionen: im ganzen als ein 
zusaiumenwirkendes Gesamtgebiet und bei der Dementia praecox prin¬ 
zipiell betroffenes Systemgebiet schön illustriert wird.) 

Vielfache Analogien zwischen Dementia praecox und strio-palli- 
daren Störungen brachte uns auch die Encephalitis lethargica. Eine 
Fundgrube von Analogien zu den psychischen Symptomen der De¬ 
mentia praecox eröffnet sich in der Arbeit aus der Heidelberger psy¬ 
chiatrischen Klinik: „Encephalitis lethargica in der Selbstbeobach¬ 
tung“ von W. Mayer-Groß und G. Steiner. (Zeitschr. f. d. 
gesamte Neurol. und Psych., Bd. 73, Heft 1/3, 1921). Doch bleibe die 
Ausbeutung und Ausdeutung des Gefundenen und Beobachteten den 
Autoren selbst Vorbehalten. 

Nun sind auch sonst mannigfach verwandte motorische Störungen 
und sehr interessante Störungen des psychischen Geschehens und zwar 
letztere zusammen mit basalganglionären Symptomen und beide in 


7 * 



100 


Ähnlichkeit mit den Symptomen der Dementia praecox nach Ence¬ 
phalitis lethargica beobachtet worden. Auch ich sah nach Encepha¬ 
litis: zusammen mit Rigor Denkhemmung und Affekthemmung, resp. 
gehemmte Depression; andererseits Enthemmung als Rededrang, 
zwangsmäßiges Stenographieren: wenn ohne Papier und Bleistift, in 
die eigene Hohlhand, beides von inhaltlich Richtigem, besonders bei 
Nacht, gelegentlich zusammen mit von der Pat. unbemerktem objek¬ 
tivem leisem Pillen drehen mit Daumen und Zeigefinger, und 
dies zusammen mit geringem Extremitätenrigor, mäßiger mimi¬ 
scher Verarmung, Salbengesicht (nach Toby Cohn), tachy- 
pnoischen Anfällen besonders in Erregung, halboffenem Mund und 
Salivation; auch einen Fall mit zwangsmäßigen saalam-ähnlichen Ver¬ 
beugungen und anfallsweisem zwangsmäßigem Blasen durch die Fin¬ 
ger, öfters mit Erwachen in der Nacht unmittelbare Ausführung dieser 
Bewegungen und Wiedereinschlafen, alles bei klarem Bewußtsein und 
nachträglicher Erklärung, er hätte es machen müssen, bei einem 10- 
oder 11jährigen Jungen zusammen mit Rigor; endlich Auftauchen von 
der Zwangsangst und den Phobien ähnlichen Symptomen mit Rigor; 
einseitigen Kaumuskelkrampf bis zum Durchbeißen des Kautschukober¬ 
gebisses dort; wohl verstanden alles lange, gelegentlich mehr als ein 
Jahr lang nach Ablauf der akuten Erscheinungen der Encephalitis 
lethargica noch bestehend. Hier, wo kein Sektionsbefund vorliegt, kön¬ 
nen natürlich Hirnrindenaffektionen nicht ausgeschlossen werden und 
wenn ich mich recht erinnere, hat in der Mehrzahl der Fälle oder bei 
allen Fällen (die Krankengeschichten sind mir zurzeit nicht zugäng¬ 
lich), im Beginne Doppelsehen bestanden. Es handelt sich hier also um 
eine diffusere Schädigung und wir tun daher gut — wiederum mit 
Kleist — der Verwendung von Enzephalitisfolgen zur Analogisie- 
rung mit der Dementia praecox bis auf weiteres noch mit Vorsicht 
gegenüberzustehen. * 

Gerade Kleist selbst, dem die größte Kennerschaft der psycho¬ 
motorischen Störungen bei der Dementia praecox und im allgemeinen 
zuzusprechen ist, steht einer glatten Analogisierung auch der lokali¬ 
sierten Basalganglienstörung mit den psychomotorischen Störungen 
der Dementia praecox in bedächtiger Reserve gegenüber. 

Ich glaube aber, wiederum mit Kleist, doch an die Verwer¬ 
tungsmöglichkeit und Verwertungsberechtigung der Pathologie der 
Zerebralganglien für die Erklärung der Symptome und Pathologie der 
Dementia praecox, auch der psychischen Symptome. Ich glaube wei¬ 
ter, daß die obige Aufstellung und Analyse einer intermediären psy¬ 
chischen Schicht als Zentralstätte der Funktionsstörungen sowohl der 



101 


Basalganglienerkrankungen als der Dementia praecox geeignet ist, 
diese Auffassung des weiteren zu entwickeln und zu stützen. 

Nun ist die Dementia praecox zum-Unterschied von der Mehrzahl 
der Basalganglienerkrankungen eine chronisch oder remittierend pro¬ 
grediente Erkrankung^ überwiegend psychischer und wohl syste¬ 
matisch elektiver Art, und zugleich oder*'richtiger primär 
eine Anlage anomalie: und es wird noch mancher Detailstudien be¬ 
dürfen. um Verwandtschaft und Verschiedenheit der Symptome, be¬ 
sonders der psychischen, bei den Basalganglienerkrankungen*Und bei 
der Dementia praecox (der Gruppe der Schizophrenien nach B l e-p— 
ler) im einzelnen zu studieren. Doch muß das späterer Bearbeitung 
Vorbehalten bleiben. 

Auch wenn die Analogisierung: sowohl der Motilitätssymptome 
i darunter auch einseitiger) wie von Gemein-, resp. Organempfindungs- 
störungen (darunter auch einseitiger), sowie entsprechender Affekt- 
imd Denkstörung und mancher sonstigen psychischen Symptome der 
Basalganglienerkrankungen und jener bei der Dementia praecox und 
mit den Funktionsstörungen dieser von mir supponierten intermedi¬ 
ären psychischen Schicht geeignet wäre, die Auffassung der Dementia 
praecox als Funktionsstörung der intermediären psychischen Schicht 
und als einer Erkrankung der basalganglionären Systeme des Gehirns 
stimmig und plausibel zu machen, bedarf es noch eines Weiteren. 

Es bedarf nämlich dann noch immer der Aufklärung für die viel 
weitergehende Durchflechtung und Vielgestaltigkeit der ähnlichen 
Symptome bei der Dementia praecox und für die Progredienz der De¬ 
mentia praecox gegenüber den meisten Basalganglienerkrankungen 
und verwandten Störungen und für die Vielgestaltigkeit des Verlaufes 
bei der Dementia praecox. Und damit sind wir zu unserer ursprüng¬ 
lichen Fragestellung nach den Gründen der Vielgestaltigkeit in Sym¬ 
ptomen. Zustandsbildern und Verlauf bei der Dementia praecox wie¬ 
der zurückgekehrt. 

Betrachten wir aber die verschiedenen Symptome. Zustandsbilder 
und Verlaufsbilder in der Dementia praecox als Hinweise auf ver¬ 
schiedene Lokalisation, Ausbreitung. Ausbreitungs- und Fort- 
schreitensrichtung und endlich Intensität der Funktionsstörungen in 
der intermediären psychischen Schicht und der Hirnschädigung an 
verschiedenen Stellen der basalganglionären Systeme, respektive ihres 
Unterbaues und Überbaues, so können wir auch verstehen, daß ge¬ 
legentlich interkurrent bei anderen Hirnschädigungen (nach 
Traumen und Infektionen, bei Arteriosklerose und Epilepsie, im Se¬ 
nium und in der Paralyse) Ausschnitte aus dem Symptomenbilde der 
Dementia praecox Vorkommen können, daß es also katatone Formen, 



102 


z. B. der progressiven Paralyse, der.’ senilen Demenz und bei heil¬ 
baren Puerperalpsychosen gibt, daß verwandte Zustandsbilder bei 
den „striären Erkrankungen‘-und" bei Herdaffektionen striären Sitzes 
Vorkommen. Und wir können weiter verstehen, wieso Dementia Sim¬ 
plex (primaria), HelWphrenien, Katatonien, Dementia paranoides, 
Paraphrenien, Wahn eler körperlichen Beeinflussung, hypochondrische 
Wahnbildungeit mit Organhalluzinationen und Gemeingefühlsänderun¬ 
gen (Paranohr hypochondriaca der alten Psychiater) ein und dem¬ 
selben Krankheitsrahmen angehören können. 

“Es" handelt sich dann um verschiedene Lokalisation, Intensität, 
•Ex-tensität. Ausbreitungs- und Fortschreitensrichtung sowie Akuität 
oder Chronizität einer eventuell elektiven Systemschädigung als 
Grundlage der Vielgestaltigkeit und verschiedenartigen Durchflech- 
tung von Symptomen, der Verschiedenartigkeit von Zustandsbildern 
und Verläufen bei der Dementia praecox. 

Auch das Eintreten oder das gelegentlich Adelleicht mögliche völ¬ 
lige Ausbleiben der Verblödung bei den chronisch progredienten Hirn¬ 
prozessen der Dementia praecox wäre dann von der Art der Aus¬ 
breitung und dem Fortschreiten des Hirnprozesses im Basalganglien¬ 
systeme und seinem Unterbau und Überbau und von Art und Grad der 
Funktionsschädigung der intermediären psychischen Schicht (ob mit 
oder ohne Einbeziehung der Hirnrinde bleibe noch offen) abhängig 
und bestimmt. 

Nehmen wir auch nocli die Annahme zu Hilfe, es handle sich bei 
der elektiven Systemerkrankung um eine angeborene Schwäche oder 
Anfälligkeit dieser Systeme — nach Art etwa der Heredodegeneratioiv 
(vgl. z. ß. Reckte nwalds Kombination familiärer Schizophrenien 
und Muskeldystrophien) —, dann gehört auch die Erbschizose und der 
schizophrene Reaktionstyp auf Situationen usw. in diesen Rahmen, 
(letzterer etAva im gleichen Sinne, wie eben auch katatone „aber- 
funktionelle“ Bilder bei manisch-depressivem Irresein. Hysterie, gele¬ 
gentlich vorübergehend als Funktionsstörungen in der intermediären 
psychischen Schicht ohne organische Erkrankung zustande kommen 
können, aber bei den schizophrenen Reaktionen auf dem Boden der 
Schwäche und Anfälligkeit der zugehörigen Systeme grundsätzlich 
und auf geringeren Anlaß hin). 

Es würde sich dann bei Erbschizosen und' schizophrenen Reak¬ 
tionstypen, sowie bei der Dementia praecox um eine heredodegenera- 
tive Schwäche und Anfälligkeit der basalganglionären Systeme, etw r a 
im Sinne der Abiotrophie G o w e r s und der Aufbrauchkrankheit 
(E d i n g e r s) bei anderen Heredodegenerationen unter den gewöhn¬ 
lichen Lebensreizen und Lebensfunktionen handeln. Und so könnten 



103 


Erbschizose und Dementia praecox zusammen erklärbar werden als 
Lebens- und Leistungsschwäche, respektive als darauf basierte wirk¬ 
liche Erkrankung der Kleinhirn-Basalganglien-Stimhimsysteme. 

Wie ich eben dem äußerst wertvollen Berichte „Über die Literatur 
des manisch-depressiven Irreseins und der Dementia praecox“ von 
Helmut Müller (Leipzig-Dösen) entnehme (Zentralblatt für Neu¬ 
rologie, Ergebnisse, 15. 3. 22) und nachträglich noch einfügen kann: 
..hat schon M o 11 w e i d e die Dementia praecox zu den heredo-fami- 
liiiren Aufbrauchkrankheiten auf Grund einer minderwertigen Anlage 
gewisser Partien des Zentralnervensystems gerechnet“. 

M o 11 w e i d e spricht in der Originalarbeit „Symptomenkom- 
plexe und Krankheitsbilder in der Psychiatrie in ihrer Beziehung zu 
psychomotorischen und psychosensorischen Grundmechanismen“ 
(Zeitschrift f. d. ges. Neurol. u. Psych., Bd. 59, Heft 19, 1920) von den 
psychomotorischen und psychosensorischen Systemen der Hirnrinde. 
Erstere seien bei der Manie, letztere bei der Melancholie betroffen, 
während beide Systeme in der Dementia praecox gestört sind. Er 
verweist mit Recht auf die Vernachlässigung der Griesinger¬ 
scheu Ideen von der Störung psychosensorischer Systeme und be¬ 
rührt sich darin wohl mit meiner immer wieder betonten Lehre von 
der Gemeinempflndungsstörung in den Denkstörungen bei der De¬ 
mentia praecox, und in der Störung psychomotorischer Systeme auch 
in etwas mit Kleists Lehren. 

Die Abiotrophie G o w e r s, Aufbrauchkrankheit E d i n g e r s , 
<*. Rosenbachs „angeborene embryonale Defekte“, bei deren Be¬ 
stehen die normale Funktion schon eine Schädigung bedeutet, Mar- 
tius ..normale Bildungen mit einem Minus von Lebensenergie“, faßt 
Julius Bauer (Vorlesungen über allgemeine Konstitutions- und 
Vererbungslehre, 1921, Berlin bei Springer) dahin zusammen: Es kann 
die Organminderwertigkeit, die Lebensschwäche eine derartige sein, 
daß Schädigungen und Einflüsse aller Art, welche an sich, d. h. für das 
Mittelmaß an Widerstandsfähigkeit durchaus belanglos sind, in diesen 
Fällen eine progrediente anatomische Degeneration des betreffenden 
Parenchyms auslösen (nervöse Systemerkrankungen, Amyotrophien 
'■sw.). S. 187. 

S. 167/168 wird auch darauf hingewiesen, daß diese „Krankheits¬ 
bereitschaften“ minderwertiger Organe, welche zum locus minoris 
resistentiae, zum optimalen Boden der Wirksamkeit einer Schädigung 
werden, unter sonst gleichen Bedingungen die Lo¬ 
kalisation einer allgemein w i r k e n d e n N o x e de¬ 
terminieren. sei sie physikalischer, chemisch-toxischer oder in- 



104 


fektiöser Natur; ja, es bestimmt diese Minderwertigkeit eines Organs 
oder Organsystems auch den Ort, an welchem sich allgemein funktio¬ 
neile Anomalien des Nervensystems manifestieren, sie determiniert 
also die Lokalisation von Organneurosen. Diese Lehre Bauers 
läßt sich in entsprechender Anpassung auch auf unsere Frage an wen¬ 
den und muß beachtet werden: besonders bezüglich der Rolle endo¬ 
kriner Störungen für die Auslösung der manifesten Dementia praecox. 

Von welchen Umständen dann das Auswachsen einer solchen 
Lebensschwäche der Kleinhirn-Basalganglien-Stimhimsysteme zur 
Dementia praecox abhängt: Lebensverbrauch besonders schwacher 
und anfälliger Systeme, bei etwas Widerstandsfähigeren konstellierte 
Lebensschicksale (nach Bleuler besonders Schwierigkeiten im 
Liebesieben und in der Geltendmachung der Persönlichkeit, vgl. 
E. Popper und Alfred Adlers Regression vor der Lebens¬ 
erprobung und Liebeserprobung), vielleicht mal auch psychische 
Traumen, Schädeltraumen. Infektionen, Intoxikationen, exogener 
und endogener, besonders endokriner Art, scheint mir von der hier 
eingenommenen Ausgangsstellung aus leichter prüfbar. 

Bezüglich der etwaigen kausalen Rolle endokriner Störungen 
(K r a e p e 1 i n , F a u s e r , Kafka und viele neuere, besonders 
Kretschmers Konstitutions- und Temperamentslehre und 
E. S t ran sk y) wäre hier noch anzumerken: Wir wissen besonders 
durch Bernhard Aschner (Wien), daß im Zwischenhirn vaso- 
regulatorische, vegetative Zentren liegen und wie Aschner betont, 
aucli inkretorisch regulative. Weiter sehen wir in der Tat bei Stri- 
ären und nicht nur bei Enzephalitiskranken, sondern bei „Systema- 
tisch-Striären“, z. B. Paralysis agitans, Schweißausbrüche, Salivation, 
Potenzstörungen. Emanuel Spiegel (Wien) verwies bezüglich 
der Salivation auf den Übergang vom Thalamus opticus zum vorderen 
Abschnitt des Mittelhirns resp. auf die Corp. quadrig. anter. L. L e - 
n a z (Über die Rolle des vegetativen Nervensystems in der Physiolo¬ 
gie und in der Pathologie der animalischen Funktionen) bezeichnet die 
Affekte als die Folge von Veränderungen des Erregungszustandes im 
Zentralapparate des vegetativen Nervensystems, die sich bei sämt¬ 
lichen mit dem Systeme zusammenhängenden Organen äußern, d. h. 
also nicht nur bei Muskeln und Drüsen, sondern auch bei den Organen 
des bewußten Denkens. Das Zentrum dieses Systems muß im Zwi¬ 
schenhirn gesucht werden (Berl. klin. W., 1921, Referat Neuhau s , 
Med. Klinik, 1922). Bei meiner Annahme der Durchflechtung der das 
bewußte Erleben vorbereitenden Funktionen möchte ich mich nicht 
einseitig auf die Ableitung der Affekte vom vegetativen Nervensystem 



105 


oder den Hormondrüsen festlegen, doch paßt auch diese Auffassung in 
den Rahmen der intermediären psychischen Schicht. Kleist ver¬ 
weist auf das Vorkommen von vermehrter Talgdrüsensekretion, also 
das Salbengesicht, sowohl bei Katatonikem, wie bei Striären. 

Es wäre nicht undenkbar, daß also die lokalisierte Himerkran- 
kung nicht, wie man von der Dementia praecox annimmt, Folge 
sondern Ursache endokriner Störungen sein könnte; also die bei 
der Dementia praecox gefundenen endokrinen Störungen und evtl, 
auch Himschwellungen Folgen des gleichen Hirnprozesses wie die 
anderen Symptome, die endokrinen Störungen also Symptome unter 
anderen Symptomen: als Ausdruck der Lokalisation des Him- 
prozesses. 

Natürlich übersehe ich dabei nicht, daß endokrine Störungen in 
bedeutsamer und der Dementia praecox ähnlicher Weise auf die 
Psyche wirken können, auch wo sie primär sind. Wir sehen ja z. B. 
Pubertätsintoxikationen, wenn man so sagen darf, auch außerhalb der 
Dementia praecox ihr ähnliche Symptome der intermediären psychi¬ 
schen Schicht machen: so die Pubertätsalbernheit mit läppischem Be- 
U'dunen und albernem Lachen oder Lachen und Weinen aus einem 
•Nick, wie es in einem Schubertliede heißt: Lachen und Weinen, mir- 
*lb nicht bewußt. Weiter emotionelle Inkontinenz, Empfindlichkeit, 
ambivalentes Wesen, unklares, auch in gewissem Sinne unfertiges, da¬ 
bei meist hochfliegendes Denken und Planen, Weltverbesserungspläne 
und Durchbrechen primitiver Triebregungen. Es scheint mir dies ein 
Hinweis darauf: die von mir hier aufgestellte Möglichkeit einer 
mkundären Auslösung endokriner Störungen durch eine System- 
Kränkung bei der Dementia praecox /war zu beachten, aber nicht zu 
Imiß zu nehmen und auch in Zukunft für die Dementia praecox eine 
etwaige kausale Rolle endokriner Störungen nicht aus dem Auge zu 
'erlieren. Vorläufig scheint mir hier O. P ö t z 1 s an der Hirnschwel- 
l |lI| g abgeleitete Auffassung (s. Kap. II) von einer Störung der Wir- 
kitngskette: Zerebrum, sympathische und autonome Systeme, endokrine 
Drüsen — im Ringe geschlossen — als unpräjudizierlich einzig am 
Platze; vgl. auch Kretschmers Definition des Tempera- 
,n e n t s als 1) Sinnes-Gehim-Motilitätsapparat und 2) Gehim-Drüsen- 
a Pparat, was ja auch Beziehungen zur intermediären psychischen 
Schicht bedeutet. 

Schon vor mir hat K. Wilma uns fast die gleichen Bedenken 
u,1( l Auffassungen wie ich hier: Gegenüber einer einseitigen Basie- 

der Dementia praecox auf endokrine Störungen entwickelt, 
w,e ich einer gelegentlichen mündlichen Besprechung und nun seiner 




während der Korrektur gerade noch rechtzeitig eingelangten Ver¬ 
öffentlichung aus den „Vorträgen zur Schizophreniefrage“, ge¬ 
halten in der Südwestdeutschen Psychiaterversammlung zu Heidel¬ 
berg am 22. und 23. XI. 1921, „Die Schizophrenie“ (Ztschr. f. d. 
ges. Neur. und Psych., 78. Bd., 4. und 5. H., 23. 9. 1922), ent¬ 

nehmen kann. 

S. 364: Als feststehend kann nur gelten, daß gewisse Be¬ 
ziehungen zwischen der Dementia praecox und endokrinen Störun¬ 
gen bestehen, und zwar, daß einmal in einzelnen Fällen schon vor 
dem Ausbruch der stürmischen Psychose eine mit endokrinen Regel¬ 
widrigkeiten einhergehende Konstitution vorliegt, daß weiterhin der 
Ausbruch der sinnfälligen Erkrankung Zeiten starker endokriner 
Umwälzung bevorzugt, und endlich, daß gewisse Formen der 
Schizophrenie, besonders die Katatonie, mit ausgesprochenen endo¬ 
krinen Symptomen einherzugehen pflegen. Daß aber endokrine Stö¬ 
rungen die Ursache der Schizophrenie seien, ist unbewiesen. 
Man wird daher die Frage aufweifen dürfen, ob nicht umgekehrt 
die Hirnerkrankung das Primäre sei. die ihrerseits erst die endo¬ 
krinen Erscheinungen zur Auslösung bringt. 

S. 366: Die Schädigung endokriner Drüsen führt zu Gehirn¬ 
störungen, und diese wiederum zu endokrinen Erscheinungen. 
Gehirn und Drüsen stehen somit in Wechselwirkung. Vielleicht ist 
das Gehirn, wie von der Leber, der Milz, den Lymphdrüsen, dem 
Knochenmark, den Darmdrüsen usw. angenommen wird, gleichfalls 
ein Glied der endokrinen Kette, deren harmonische Zusammenarbeit 
unterbrochen wird, wenn nur eines ihrer Glieder versagt. Immerhin 
dürfte die scheinbare Regellosigkeit in den endokrinen Störungen, 
wie bei der Encephalitis lethargica auch bei der Schizophrenie dafür 
sprechen, daß wir ihren primären Sitz in tieferen Hirnteilen zu 
suchen haben. 

S. 366: Somit führt uns die hirnphysiologische Betrachtung 
sowohl gewisser körperlicher Störungen — (vasomotorische Störun¬ 
gen, S. 359, kataleptische, allgemeine oder umschriebene Starre- 
Zustände, Grimassieren, Schnauzkrampf, Stereotypien, Verbigera- 
tion, Hypermetamorphose Wernickes und Kleists oder Ab¬ 
tasten von Leupolds etc., sowohl bei Dementia praecox als bei 
Encephalitis lethargica und anderen Basalganglienerkrankungen. 
S. 360) — wie der endokrinen Störungen der Dementia praecox, 
dazu: Für beide (sc. die körperlichen wie die endokrinen Störungen) 
einen gemeinsamen Sitz an der Basis des Zwischen- und Mittelhirns 



107 


auzunehmen. Ist diese Anschauung richtig, so ist sie vielleicht ge¬ 
eignet, uns ein Verständnis für das von uns und Albert Schmidt 
beobachtete häufige Vorkommen von Schizophrenien (oder schizo¬ 
phrenieähnlicher Erkrankungen?) bei Kriegs-Kopfverletzten zu geben. 
Es ist denkmöglich, daß das schwere Kopftrauma die Veränderungen 
im Zwischenhim bewirkte, deren psychische Äußerungen als Schizo¬ 
phrenie imponieren. 

S. 808: Zugegeben, die Dementia praecox K r a e p e 1 i n s sei 
eine Gruppe der endogenen Erkrankungen, die nur durch gewisse 
äußere Ähnlichkeiten in ihren Erscheinungen zusammengehalten 
werden, ihr Kern ist eine Krankheitseinheit. Zu dieser 
Auffassung drängen uns die Ergebnisse der psychiatrischen Familien- 
forsclmng. Prüft man die Erkrankungsfälle innerhalb einer Demen- 
tia-praecox-Familie auf Erscheinungs- und Verlaufsformen, so stellt 
man zwar bisweilen eine überraschende Gleichartigkeit, häufiger aber 
eine ungemeine Verschiedenartigkeit fest (so z. B. Vorster, 
Berze). Hebephrene, katatonische, paranoide Formen, solche mit 
schleichendem und mit stürmischem Verlaufe, mit schnellem Aus¬ 
zug in einen Schwächezustand, und mit günstigem Verlaufe: 
mischen sich in oft mannigfaltigster Weise und bringen ihre klinische 
Zusammengehörigkeit überzeugend zum Ausdruck. Genealogische 
lutersuchungen haben uns gehindert, Kraepelin in seinem Ver¬ 
gehe zu folgen, die Paraphrenien von der übrigen Dementia praecox 
a * s selbständige Gruppe abzutrennen. 

Hierzu noch S. 849: Bezüglich gewisser Depressionen des 
hofieren Alters (ältere Kranke mit depressiv gefärbten Psychosen. 
d ' ( * nach einem längeren melancholischen Vorstadium allmählich 
'"erschlossener, unzugänglicher, mißtrauischer und ablehnender wer- 
dei *. und schließlich sich ganz in sich verschließen, bisweilen eigen- 
art ige Manieren annehmen, uneinfühlbare Wahnideen Vorbringen, 
^zum in ihrer Einförmigkeit, Unansprechbarkeit und Stumpfheit 
du rehaus an schizophrene Endzustände erinnern, ohne irgendwelche 
Ziehen gröberer zerebraler Erkrankung zu bieten): wird man 
^ e tze beistimmen dürfen, wenn er diese Depressionen des höheren 
Alters als einen eigenartigen Typus der Schizophrenie auffaßt, dem 
Mter und Lebensschicksale Form und Inhalt geben. Nun zeigen 
kementia-praecox-K ranke häufig Belastung mit Melancholie der 
Ekern auf, und eine genauere Prüfung dieser Melancholien zeigt, daß 
sich dabei um derartige chronische, melancholieähnliche Krank- 
heitsbilder gehandelt hat. 



108 


S. 353 erwähnt W i 1 m a n n s noch die interessante Tatsache, 
daß man in der Verwandtschaft der Huntingtonschen Chorea auf¬ 
fallend häufig auf Persönlichkeiten stößt, die man als klassische 
..Schizoide“ bezeichnen darf. 

Wilmanns ist also in diesem seinem umfassenden 
Überblick über die Schizophrenie und bei aller seiner klaren Sach¬ 
lichkeit und stets besonnenen Kritik: sowohl zur Reserve gegenüber 
einer rein endokrinen Fundierung der Pathogenese der Dementia 
praecox gelangt (was uns auch in Fragen der Therapie eine Mahnung 
zur Vorsicht sein mag), wie auch zu einer vorsichtigen Lokalisation 
der schizophrenen Störungen an der Basis des Zwischen- und Mittel- 
hirns, also zu einer Annäherung an die Kleist sehen Lehren gelangt: 
und endlich auch auf erbbiologischem Wege zu einer Zu¬ 
sammenfassung jener Krankheitsbilder und Verlaufsformen, 
welche ich mittels der Aufstellung von Funktionsstörungen im Be¬ 
reiche der intermediären psychischen Schicht (Gemeinempfindungs¬ 
störungen, Labyrinthstörungen, Störungen der Psychomotilität, der 
Affektbildung, der Affektabfuhr, Entäußerung unfertigen Denkens aus 
Bilanz- und Abschlußunfähigkeit des Denkens, sowie aus Übererreg¬ 
barkeit und Untererregbarkeit des Bemerkens, Störungen der Bewußt¬ 
heit des psychischen Agierens, Überleitungs- und Elektionsstörungen 
im Fringe: Kurz in den Betriebsstätten der Vorbereitung des oberbe¬ 
wußten Denkens) zu charakterisieren und zusammenzu¬ 
halten versucht habe. Es scheint mir dies eine wertvolle Stütze 
meiner auf überwiegend psychologischem und psychopathologischem 
Wege gewonnenen Anschauungen über die Denkstörungen der De¬ 
mentia praecox und ihre Pathogenese auf dem Boden von Funktions¬ 
störungen der intermediären psychischen Schicht und der Basal¬ 
gangliensysteme. 

Auf wieder anderem Wege, nämlich dem hirnphysiologischer 
und hirnpathologischer Überlegungen kam auch E. Küppers (in 
der gleichen Vortragsreihe und am gleichen Erscheinungsorte wie 
Wilmanns) „Über den Sitz der Grundstörung bei der Schizophre¬ 
nie“ dahin, das Substrat der Persönlichkeit in der Zerebrospinal- 
achse, besonders im Thalamus, zu suchen, während die Hirnrinde ein 
bloßes Werkzeug der Person sei; und das Wesen der Schizophrenie 
darin zu erblicken, daß die aktuelle Persönlichkeit verschwinde oder 
unwirksam werde“. (Vgl. auch Jaspers: Über den katatonen 
Symptomenkomplex mit Verschwinden der aktuellen Persönlichkeit, 
s. o.). 



109 


Bezüglich der Bewertung der endokrinen Störungen und der 
hier vertretenen Auffassung der Dementia praecox als einer heredo- 
degenerativen Zerebralerkrankung oder wenigstens in der Anlage 
konstellierten Zerebralerkrankung liegt nun eine pathologisch-ana¬ 
tomische einschlägige Feststellung vor. In Tandlers Zeitschrift für 
angewandte Anatomie und Konstitutionslehre, Bd. 5, H. 1, 2, 1919. 
(bei Springer, Berlin) erhob Dr. M. Frank aus dem path.-anatomi- 
schen Institute der deutschen Universität in Prag (Prof. A. 6hon) 
..Veränderungen an den endokrinen Drüsen bei Dementia praecox“: 
für uns sehr Bedeutsames, gewonnen aus 6 Sektionsfällen von De¬ 
mentia praecox, darunter 2 Frauen, der Prager deutschen psychia¬ 
trischen Universitäts-Klinik. 

Der Autor faßt S. 44, 45 seine Ergebnisse dahin zusammen: 
..Die Schädigungen des Großhirns dürften wahrscheinlich auf Grund 
einer abnormen Konstitution desselben entstanden sein, die als be¬ 
sondere sogenannte Partialkonstitution dieses Organes dem Rahmen 
des allgemein herrschenden hypoplastischen Zustandes einzufügen 
"äre. Dieser von vornherein abnorme Zustand würde es dann endo¬ 
genen oder exogenen Noxen erleichtern, Schädigungen zu setzen.“ 

Es sind 3 Annahmen möglich, die das Verhältnis der Verände¬ 
rungen im zentralen Nervensystem, zu denen im System der endo¬ 
krinen Drüsen, und dadurch zugleich die kausalen Beziehungen 
dieser beiden Organsysteme zu der Genese der Dementia praecox 
Ausdrücken: 

1. Die primäre Ursache dieser Krankheit könnte in einer Ano¬ 
malie der Funktion der innersekretorischen Organe liegen und riefe 
sekundär die beschriebenen Veränderungen im Gehirne hervor. 

2. Die Gehimveränderungen wären als primär anzusehen und 
^wirkten auf irgendeine uns allerdings vorläufig unbekannte Weise 
Veränderungen in den endokrinen Drüsen. 

3. Die Veränderungen im Gehirne und in den endokrinen Or¬ 
ganen hätten eine gemeinsame Ursache, die wir in dem Bestehen 
e iner (an diesen 6 Fällen beschriebenen) pathologischen Konstitution 
zu sehen hätten. 

Die Prozesse in den einzelnen endokrinen Drüsen bieten uns 
keine genügende Grundlage, um sie als die primären Veränderungen 
u nd somit zugleich als Ursache der Dementia praecox ansehen zu 
können. Ebensowenig erlauben uns die öfters nur in geringem 
Drade vorhandenen Veränderungen im Gehirn, besonders die Art 
derselben, sie als das ursächliche .Moment dieses Krankheitsprozesses 



110 


annehmen zu lassen. Dagegen glauben wir, daß die Beziehungen 
der Veränderungen im zentralen Nervensysteme zu denen im Systeme 
der endokrinen Drüsen in dem Sinne zu deuten sind, wie wir es in 
der an dritter Stelle genannten Möglichkeit angenommen haben. 

Die einheitliche Veränderung im Systeme der endokrinen Drü- 
»sen: die Bindegewebsvermehrung in der Schilddrüse, in den Epithel¬ 
körperchen, wie die allerdings nicht durchwegs auftretende Wuche¬ 
rung des Bindegewebes im Hypophysen-Vorderlappen, als auch die 
kolloide Degeneration des Schilddrüsenparenchyms und die Atrophie 
der Nebennierenrinde, vielleicht sogar die Verschiebung im Mengen¬ 
verhältnisse der einzelnen Zellarten im drüsigen Anteile der Hypo¬ 
physe zu Gunsten der chromophoben und basophilen Elemente: wei¬ 
sen auf eine allgemeine Zustandsänderung des Organismus hin, die 
wir als atrophisches Stadium des Lymphatismus 
kennen, und die wir der größeren Gruppe der hypoplasti¬ 
schen Konstitutionsanomalie zurechnen. 

Bestärkt wird diese Meinung, abgesehen von den in den betreuen¬ 
den Obduktionsbefunden gemachten Angaben, wie „Offenes Foramen 
ovale“ und „Reste embryonaler Lappung der Nieren“, durch die 
Feststellung einer Lymphozytose seitens früherer Autoren. Zu den 
abnormen Partialkonstitutionen der eben aufgezählten Organe glau¬ 
ben wir auch eine solche des Nervensystems hinzufügen zu können, 
auf deren Grund endogen oder exogen einwirkende Schädigungen 
leicht abnorme Verhältnisse im Sinne der beschriebenen (Sioli: 
schwere Schädigung der Ganglienzellen, mit Neigung derselben, zu 
zerfallen, bei erheblicher Beteiligung der Glia an diesem Prozeß, 
Borda: Neben Hirnatrophie, Veränderungen der Glia, bald diffus, 
bald auf die innere Pyramidenschicht beschränkt) hervorrufen 
könnten, die in ihrem Verlaufe das Zustandsbild der Dementia prae¬ 
cox bedingen würden. 


Von meinem hier gewonnenen Standpunkte aus: dem 
der Funktionsschädigung einer intermediären psychischen Schicht 
und der Erkrankung zugehöriger Hirnsysteme kann jede 
auf Beobachtung von Symptomen, Zustandsbildem und Ver¬ 
laufsformen der Dementia praecox beruhende Gliederung der 
Dementia praecox nützlich werden, ohne verwirrend zu wir¬ 
ken. So mein alter Hinweis (1010, Demenzprozesse und ihre 
Begleitpsychosen) auf neben dem dementierenden Prozesse einher- 



111 


gehende akute und subakute Hirnschädigungssyndrome: Koma, Be 
uommenheit, epileptiforme Anfälle, schwere motorische Unruhe, De¬ 
lirien, Halluzinoseri und halluzinatorisch-paranoische Bilder und 
Korsakoffbilder; sowie auf die Erwerbung einer psychotischen Kon- 
-titution (heute würde ich sagen Geistesverfassung) analog der ange¬ 
borenen psychopathischen und manisch-depressiven und darauf aufge- 
bauten Zustandsbildem konstitutionell-funktioneller Form, darunter 
auch wieder paranoisch aninutender (zusammen von mir als „Begleit- 
psychosen“ bezeichnet) als erworbene Folgen einschleichender Destruk- 
tiuibprozesse im Verlaufe, besonders im Beginne derselben, ähnlich den 
'•hronisehen Hirndestruktionen und ihren sogenannten „funktionellen“ 
Folgen bei der progressiven Paralyse, zerebralen Arteriosklerose, 
senilen Demenz und Epilepsie, und bei den chronischen Intoxi¬ 
kationen. auch sonst bei und nach traumatischen und infektiösen 
Hirnschädigungen. 

ln dieser meiner Lehre von den „Begleitpsychose n“ 
auf Grund der Erwerbung einer psychotischen 
t manisch-depressiven oder psychopathischen: neurasthenischen, 
hysterischen usw.) Geistesverfassung durch den ein- 
schleichenden Hirn prozeß scheinen mir gewisse Be¬ 
rührungspunkte zu stecken: mit den sich schneidenden 
Formen kreisen der Psychosen und ihrer Anlagen 
h (J i Gade 1 iu s (manisch-depressiver — egozentrischer(paranoischer) 
~ schizophrener Formenkreis) oder bei Rehm (manisch-depressiver 
~ paranoischer — hysterisclier). Dies: indem zur einen Seite von der 
Dementia praecox der Formenkreis des manisch-depressiven Irreseins, 
andrerseits von ihr der hysterische usw. Formenkreis läge, welche 
Formenkreise sich dann an der Berührungsfläche des manisch-depres- 
S|V en Irreseins und des psychopathisch-hysterischen Formenkreises 
w * e d e r zum Ringe schlössen. 

Meiner Auffassung nach (Über Wahnbildung, 1922), welche wohl 
m, t der herrschenden Meinung übereinstimmt, stünde dann noch der 
Hauptteil der chronischen paranoischen Bilder innerhalb des Formen¬ 
kreises der Dementia praecox (Paraphrenie usw.), zum Teil der 
Psychopathien, seltenere im Manisch-Depressiven, und noch seltenere 
deiner Beziehungswahn usw.) abseits. Ob weiter der hysterische 
(psychopathische) Formenkreis der Erbanlage nach der Dementia 
Praecox (schizoide Psychopathen, springende und alternative Tem- 
Peramentskurve ' K r e t s c h m e r s und seine Schizothymen) oder 

Manisch-Depressiven (Zyklothyme und ihre Verwandten) näher 
steht, dagegen etwa das manisch-depressive Irre sein der Dementia 



112 


praecox auf Grund seiner endokrinen oder sonstigen z. B. zerebralen 
Auslösung nahe zu stellen ist, oder bei der Dem. praecox alle 
Funktionssysteme der intermediären psychischen Schicht und der 
BasalganglienstalTeln, beim manisch-depressiven Irresein die affek¬ 
tiven, die „diathetischen“ (Lust-Unlust) etwa thalamischen Funk¬ 
tionen und Systeme allein, bei Hysterischen wieder andere basal- 
ganglionäre Systeme schwach angelegt oder betroffen sind, 
bleibe dahingestellt. 

Ebenso stören uns nicht die Verschiedenheiten der Einteilungen 
bei K r a e p e 1 i n und Kleist. Vergleichen wir z. B. Kraepe- 
1 i n s Einteilung der endogenen Verblödungen. 

A. Die Dementia praecox: Dementia simplex, Läppische Ver¬ 
blödung, Depressive (stuporöse) Verblödung, Depressive Verblödung 
mit Wahnbildungen, Zirkuläre Formen der Dementia praecox, Agi¬ 
tierte Form, Periodische Form, Katatonie, (katatonische Erregung, 
katatonischer Stupor), Paranoide Formen (Dementia paranoides 
gravis und mitis), Sprachverwirrtheit (Schizophasie). 

B. Die paranoiden Verblödungen: Paraphrenia systematica, 
expansiva, confabulans. phantastica. 

Daneben Kleists Gliederung der endogenen Defekt- 
psychosen: 

Psychomotorische Verblödung: Katatonie, 

Affektiv-unproduktive Verblödung: Hebephrenie, 

Inkohärente Verblödung (Schizophrenie im engeren Sinne): 
Inkohärenz des Gedankenablaufs und Paralogien, 

Dementia paranoides: Paralogien, Fehlbeziehungen, verworrene 
Wahnbildung, 

Progressive Beziehungspsychose, 

Phantasiophrenie (Einbildungen und Konfabulationen), 

Progressive Halluzinose. 

Wie wir sehen, können diese Betrachtungsweisen ungestört 
nebeneinander bestehen und jede für sich genommen und neben den 
anderen nützlich sein, wenn wir sie von dem Standpunkte der De¬ 
mentia praecox: als Funktionsstörungen im Rahmen der intermediären 
psychischen Schicht und im Bereiche der basalganglionären Systeme 
mit ihrem Unter- und Überbau betrachten. Bis auf weiteres möchte 
ich also meine Aufstellung der intermediären psychischen Schicht 
und deren Störung als eine Hilfshypothese betrachten: Um, zusammen 
mit Kleists Lehre von der Erkrankung der Kleinhirn-Basal- 
ganglien-Stirnhirnsysteine in der Dementia praecox, die Frage der 



118 


Dementia praecox besonders ihrer Symptome und ihrer Pathogenese 
und Lokalisation zu studieren. 

Nun sind aber die Funktionsstörungen der intermediären psychi¬ 
schen Schicht nicht an der Dementia praecox selber mit einer basal¬ 
ganglionären Lokalisation in nachweisbare Beziehung gebracht, son¬ 
dern nur mittelbar auf dem Wege der Herderkrankungen und anderer 
Systemerkrankungen dieses Gebiets (Paralysis agitans) sonach die 
Lokalisation dieser Funktionsstörungen sozusagen bruchstückweise 
aus diesen Urbildern zusammengesetzt. 

Das ist ein Weg, den ja die funktionelle Lokalisationslehre im 
Sinne A. Picks und besonders durch A. Pick selber anderweitig 
erfolgreich gegangen ist. Das letzte Wort aber wird die Histopatho¬ 
logie der Dementia praecox selber zu sprechen haben, dahingehend: 
oli wir es bei den Funktionsstörungen der intermediären psychischen 
Schicht und insbesondere bei der Dementia praecox mit einer Erkran¬ 
kung der basalganglionären Systeme samt ihrem Unterbau und 
( licrbau zu tun haben und insbesondere bei der Dementia praecox 
mit einer elektiven Systemerkrankung derselben 
und vielleicht mit einer Heredodegeneration, 
oder nicht. 

Daß diese Unterscheidung, ja auch nur einschlägige Feststellun¬ 
gen darüber, etwa so einfach seien, bilde ich mir nicht ein. Es bedarf 
zur Illustrierung der Schwierigkeiten ja nur eines schon oben ange¬ 
zogenen Hinweises: Auch in frischen und reinen Fällen, welche etwa 
ein sofort tödliches Suizid zur Sektion gebracht hat, braucht die Hirn¬ 
schädigung selbst wenn sie in den basalganglionären Zentren inten¬ 
siver eingesetzt, nicht dort, sondern an den verzweigten Endstätten 
der Ausbreitungsgebiete dieser Zentren manifest zu werden und zu 
suchen sein. Fenier können an älteren Fällen die nun auch in den 
Zentren selber zu vermutenden Veränderungen von anderen über¬ 
lagert sein, oder vielleicht diffuser erscheinen oder vielleicht Von noch 
unbekannter Art sein. 

Immerhin haben wir meines Erachtens nach dem Obigen Grund 
genug, die Kleist sehe Annahme der Erkrankung im Kleinhirn- 
Basalganglien-Stirnhirnsystem nicht aus den Augen zu verlieren und 
ihre pathohistologische Nachprüfung abzuwarten. (Vielleicht wären 
in diesem Sinne auch die Abderhalden-Untersuchungen auf Hirn¬ 
abbau zu modifizieren.) 

Inzwischen hat nun in den Verhandlungen der Gesellschaft 
deutscher Nervenärzte. 11. Jahresversammlung zu Braunschweig. 
September 1921 (Leipzig. Vogel, 1922). H. Josephy (Hamburg) 

], ii c w y , Dementia praecox. (AItliandlimtfen H. 20.) g 



114 


über einen Fall von Dementia praecox resp. Katatonie mit schweren 
Veränderungen im Pallidum berichtet, und findet S. 102 „bei 
einer großen Reihe histologisch untersuchter Fälle aus der Praecox- 
gruppe Veränderungen, und zwar relativ schwerer Art im tieferen 
Grau, die sich zum Teil mit absoluter Sicherheit auf die Praecox 
beziehen lassen, so daß die Symptome der Praecox nicht restlos und 
ausschließlich in der Rinde lokalisiert sind. Das gilt vor allem für 
die katatonen Bewegungsstörungen, wohl auch Sensationen u. dgl.“ 
Schon früher hat Alzheimer nach persönlichen Mitteilungen an 
Kleist in mehreren Fällen von Katatonie Veränderungen in den 
•Stammganglien gefunden. Desgleichen berichtete K. Wil¬ 
ma n n s in der Heidelberger Psychiaterversammlung 22. und 23. 11. 
1921, Vorträge zur Schizophreniefrage „Die Schizophrenie“ (Ztschr. 
f. d. g. N. und Ps., 78. Bd.. 4. und 5. H., 23. 9. 1922, S. 377), daß 
N i ß 1 zur Erforschung der anatomischen Grundlage der Dem. praec. 
zunächst die Anatomie der Basalganglien in Angriff genommen 
hatte. 


IV. Schlußsfltze und Zusammenfassung. 

1. Die Symptome der Dementia praecox lassen sich ableiten teils 
aus „psychomotorischen Störungen“ im Sinne von Wern icke und 
Kleist, d. h. aus Störungen der automatischen, mimischen und 
Reaktivbewegungen usw., der Einstellbewegungen, d. i. Denk¬ 
bewegungen, der Mitbewegungen, d. i. Einfühlungsbewegungen, der 
Ausdrucksbewegungen und Affektbewegungen; teils aus Störungen 
der Gemeinempfindung und ihres Ablaufs, evtl, auch Störungen 
labyrinthärer Herkunft darunter; teils ausStörungen der Affektbildung 
und Affektabfuhr in Form von Affektverarmung, Affektsteifigkeit, 
mangelnder Modulationsfähigkeit des Affekts; teils aus Störungen 
der Gedankenbildung, in Form von Pberleitungs- und Elektions- 
störungen: in dem das bewußte Denken und Erleben vorbereitenden 
psychischen Geschehen. 

2. Die Störungen, welche diesen Symptomen zugrunde liegen, 
stehen in den verschiedensten Wechselbeziehungen, sie sind Störun¬ 
gen in einem gemeinsamen Funktionsbereiche, welcher als 
gemeinsame intermediäre Schicht das in verschie¬ 
denen Richtungen auseinanderstrebende bewußte Denken vorbereitet 
und fundiert, den unbemerkte n gemeinsamen Unterbau, die 



115 


gemeinsame Unterkellerung des verschieden gerichteten und ausein- 
aiiderstrebenden bewußten Erlebens darstellt. Diese intermediäre 
psychische Schicht kann man schematisch zwischen Wernickes 
Allopsyche (die Außenwelt) und Somatopsyche (das Bewußtsein vom 
eigenen Körper) einerseits und andrerseits Wernickes Auto- 
psyelie (die bewußte Persönlichkeit) legen. In dieser Situation be¬ 
rühren sich die intermediären Funktionen mit Stranskys Thymo- 
psyche und dem, was wir Charakter nennen, decken sich aber nicht 
ganz damit, denn sie enthalten die Psychomotilität, die Gemein- 
emptindung. die Vorstufe der Affekte und Gefühle und Gemütslagen 
(K r o n f e 1 d s Gestimmtheiten) und die mitschwingenden G e dan¬ 
ke u a t m o s p h ä r e n , den Fringe, Fransensaum von J a m e s , die 
apponierende Kondensationsdampfhülle unbemerkter Natur um das 
bewußte Denken, die Mutterlaugenlösung, aus der das oberbewußte 
Denken auskristallisiert. 

3. Störungen im Funktionsbereich der intermediären psychischen 
Schicht linden wir gelegentlich auch bei anderen Erkrankungen als 
U‘i der Dementia praecox, besonders lehrreich aber für die Sympto¬ 
matologie der Dementia praecox, bei den Basalganglienerkrankungen. 

4. Eine Schädigung der Kleinhim-Basalganglien-Stimhirnsysteme 
wird von Kleist den psychomotorischen Störungen überhaupt und 
bei der Dementia praecox zugrunde gelegt. Diese Lehre findet meines 
Erachtens durch die Zusammenfassung der Symptome der Dementia 
praecox als Störungen im Funktions- und Auswirkungsbereich einer 
intermediären psychischen Schicht ein psychologisches Korrelat. Die 
Annahme von Störungen im Funktionsbereich der intermediären 
psychischen Schicht und der Basalgangliensysteme (— natürlich 
auch in deren Hirnrinden-Auswirkungsbereiche —) bei der Dementia 
praecox erscheint geeignet, die Vielgestaltigkeit der Symptome, Zu¬ 
standsbilder, Verlaufsformen, der Ausgänge und der pathogenetischen 
Erklärungen (durch verschiedene „Primärsymptome“) unter 
einem begreiflich zu machen: nämlich durch Verschiedenheit in 
Ausbreitung, in Ausbreitungsrichtung, Fortschreitensrichtung, in 
Intensität. Akuität oder Chronizität der Schädigungen des Funktions¬ 
bereiches der intermediären psychischen Schicht und des Kleinhirn- 
Basalganglien-Stirnhirnsystems. Aus der Durchtlechtung der 
intermediären Funktionen versteht sich auch, daß dasselbe 
•'\vmptom bei verschiedenen Kranken verschiedenen Funktions¬ 
störungen der intermediären Schicht entspringen kann. 

5. Zugleich ergibt sich die Beziehung der schizoiden Tempcra- 
roente. der Schizothymen Kretschmers, der schizoiden 



11(5 


Reaktionstypen (Eugen Kahn), der schizophrenen Reaktion* 
typen Poppers, der Erhschizose und Sichtschizose (B1 e u - 
lers) zur manifesten »Schizophrenie, kurz der prä-psychoti¬ 
schen Persönlichkeit und ihrer Verwandten, welche nicht manifest 
erkranken, mit der manifesten Dementia praecox auf dem 
Boden einer etwa anzunehmenden angeborenen »Schwäche und An¬ 
fälligkeit gewisser Hirnsysteme, vornehmlich der Kleinhirn-Basal- 
ganglien-Stirnhirnsysteme Kleist. 

Teils durch die normalen Lebensreize, den normalen Lebensgang, 
käme es bei ausgesprochener Abiotrophie (im Sinne von G o w e r s) als 
Aufbrauchkrankheit (E d i n g e r s). teils durch Erkrankung und 
»Schädigung eines anfälligen und wenig widerstandsfähigen Systems 
im Sinne eines locus minoris resistentiae nach Art anderer nervöser 
Systemerkrankungen durch Traumen, Infektionen oder die physio¬ 
logischen Revolutionen der Pubertät, der Gravidität, des Puerperiums. 
Klimakteriums und vielleicht auch Seniums oder sonst endokrin oder 
autotoxisch, kurz exogen und endogen durch Schädigungen und 
Funktionsstörungen elektiver Art zu einer elektiven Systemerkran¬ 
kung. 

<>. Es ist nicht ausgeschlossen, daß die bei der Dementia praecox 
sichergestellten endokrinen Störungen durch Zwischenhirnbeteiligung 
sekundär erzeugt werden können. Vielleicht aber spricht wieder 
mehr (darunter vielleicht auch die Periodizität mancher Ver¬ 
läufe) für die kausale Bedeutung der endokrinen Störungen, welchen 
dann eine elektive Affinität gerade für den Funktionsbereich der 
intermediären psychischen Schicht und der Kleinhirn-Basalganglien- 
Stirnhirnsysteme zuzusprechen wäre. Welcher Art diese den er¬ 
wähnten betroffenen Systemen affinierten pluriglandulären endo¬ 
krinen Störungen etwa wären, muß ebenso wie die kausale Bedeu¬ 
tung der inneren Sekretion für die Dementia praecox noch offen 
bleiben. 

Auch Moll weide hü 1t die endokrinen Störungen für sekundär 
und die Dementia praecox für eine heredoiamiliäre Aulbrauchkrank¬ 
heit auf Grund einer minderwertigen Anlage gewisser Partien des 
Zentralnervensystems, (er meint in der Hirnrinde). Die pathol.- 
anatomischen Untersuchungen M. Franks aus A. (Mions Institut 
lieferten das bedeutsame Resultat: Die Veränderungen im Gehirn und 
in den endokrinen Drüsen hatten eine gemeinsame Ursache in einer 
pathologischen Konstitution, einer Unterform der hypoplastischen 
Konstitutionsanomalie. Dieses Ergebnis M. Franks erscheint ge¬ 
eignet, unsere auf klinischem und psychologischem Wege gewonnene 



117 


Annahme einer A n 1 a g e s o h w ä o li e z e r e 1) r a 1 e r S v s t e m e 
hei der Dein, praee. zu stützen. 

7. Die Schädigung der Kleinhirn-Basalganglien-Stirnhirn- 
>ysteme hei der Dementia praecox ist noch nicht nachgewiesen, son¬ 
dern nur aus den Motilitätssymptomen nach Kleist, aus den 
Analogien der Symptome mit den Basalganglienerkrankungen und 
aus meiner Aufstellung der intermediären psychischen Schicht — mit 
der Ähnlichkeit von Funktionsstörungen in ihrem Bereiche zu den 
Dcmcntia-praeeox-Symptomen — erschlossen. Der pathohistologische 
Nachweis dieser Schädigung dürfte seihst, wenn ihre Annahme zu 
Recht besteht, nicht leicht sein. Bis auf weiteres erscheint mir aber 
die Auffassung der Dementia praecox auf dem Boden der Kleist- 
sehen Lehre fruchtbar und geeignet, die anderen pathogenetischen 
Krklärungen zu umfassen und für die Erklärung der Symptome, mag 
nun die Entscheidung für oder wider die Lokalisation ausfallen. be¬ 
deutsam zu werden. 

8. Eine rein psychologische Auffassung etwa im F r e u d sehen 
Same lohzwar auch Freud gelegentlich darauf hinweist, daß unter 
seinen Dementia-praecox-Fällen ein außerordentlicher Prozentsatz 
von Paralytikerkindern sich findet) oder im verwandten Sinne oder 
ein einziges psychologisches Primärsymptom, heiße es wie es wolle, 
auch die von mir seihst aufgestellten inbegriffen, scheint mir nicht 
geeignet, die Fülle der Erscheinungen bei der Dementia praecox zu 
umfassen und zu erklären. Die Rolle des Autismus und der Kom¬ 
plexe für die Symptomatologie und vielleicht auch den Verlauf sei 
damit nicht geleugnet. 

Nachdem K ra e p e 1 i n in zwei großen Griffen die Gruppen der 
Dementia praecox und des manisch-depressiven Irreseins umfaßt und 
voneinander geschieden hat. so daß an der klinischen Scheidung dieser 
stoßen Reiche des Irreseins wohl auch in Zukunft kein.Zweifel mehr 
sein wird und nurGrenzstreitigkeiten von höchstens lokaler Bedeutung 
iihrighlcihen: und nachdem Bleuler besonders auch durch die 
Autisnmslehre unser Verständnis außerordentlich vertieft und berei¬ 
chert hat. komme ich hier probeweise mit Fragestellungen und Ge¬ 
sichtspunkten, die wir W e r n i c k e und insbesondere Kleist ver¬ 
danken. auf alte Lehren zurück. Wir berühren uns wieder mit dem 
alten Spannungsirresein der Katatonie K a h 1 b a u m s und erinnern 
ans auch der alten Lehre von der E i n h e i t s p s y c li o s e. Diese, 
die Vesania tvpica completu seu generalis. verlief durch Melan¬ 
cholie über Manie (zugleich im Sinne der Tobsucht und l'unibe 
gemeint', über Paranoia und Verwirrtheit (die als Erschöpfung*- 



folgern durch die Manie aufgefaßt wurden) in Demenz. Dieser 
Verlauf wurde sowohl au unserer Dementia praecox wie z. B. 
an der progressiven Paralyse gefunden und ihm andere Yer 
laufsformen und Ausgänge als Yesania incompleta oder atypici 
und, besonders wenn die Demenz ausblieb, als Yesania abortiva gegen- 
iibergestellt. Die Form der Demenz war nach der Auffassung jener 
Zeit bestimmt durch das Lebensalter: die Dementia praecox, die de> 
jugendlichen Alters, daher der Name; die Dementia paralytiea als die 
des mittleren Lebensalters (als Nebenerscheinung ergab sich die allge¬ 
meine motorische Lähmung, die Paralyse und das Siechtum der Irren) 
und die Dementia senilis als die charakteristische Demenz des Greisen 
alters. Die Demenz äußerte sich also verschieden, je nachdem die 
Yesania das reifende, das erwachsene und das senile Gehirn träfe, 
der Verlauf der Yesania bleibe der gleiche. Auch neueren Beobach¬ 
tern sind ja Verlaufsähnlichkeiten zwischen der Dementia praecox 
und der progressiven Paralyse in ähnlichem Sinne aufgefalleu. Viel¬ 
leicht dürfen wir vermuten, weil es sich in beiden Fällen um chronisch 
oder remittierend progrediente destillierende Hirnschädigung und 
evtl, schubweisen Verlauf handelt, wobei aber die Störungen der Para¬ 
lyse gröber und anders lokalisiert sind. Ähnlichkeiten zwischen den 
Symptomen der Dementia praecox und denen seniler Psychosen sind 
im Obigen schon gestreift und nach Kleist in einzelnen Punkten auf 
Ähnlichkeiten der betreffenden Symptome in der Lokalisation zurück- 
geführt worden. Wir haben so in den alten Lehren einen richtigen 
Kern gefunden. Vielleicht auch durch die Aufstellung des Ringes 
der Formenkreise und der Anlagekreise: Manisch-depressiv — hyste¬ 
risch (resp. psychopathisch). — Dementia praecox (schizophren) — 
manisch-depressiv. Ja Hi nric hsen („Demenz und Psychose“. 
Ztschr. f. d. g. N. und Ps., 3t). Bd„ 377. 1018. zitiert nach Helmut 
M ü 11 e r) vermutet im manisch-depressiven Irresein die leichtere, in 
der Dementia praecox die schwerere Form eines gleichartigen Pro¬ 
zesses, abhängig von der Toleranz des psychozerebralen Systems 
und der Schwere der Vergiftung resp, Intensität des Grundprozesses. 
Das wäre ja die Vesania completa und incompleta. 

Näher sind wir noch an die Motilitätspsychosen W ernickes 
und seine Sejunktionslehre herangekommen. Eine Sejunktion weite¬ 
sten Sinnes scheint mir ihre Wiedergeburt zu erleben: in „Schizo¬ 
phrenie“ und Assoziationsspaltung, im Nachlaß der Assoziations¬ 
spannung, der Schaltspannung mul im Autismus (a 11 e s b e i Bleu¬ 
ler); in der Intentionsleere, welche ich 11)10 der Dementia praecox 
zugrunde legte: in Berzes 1014 aufgestelltem Primärsymptom der 



119 


Dementia praecox in Form dev Insuffizienz der psychischen Aktivität 
und neuerdings in Kronfelds Primärsymptom der Insuffizienz des 
intentionalen Icherlebens, des auf die Inhalte gerichteten 
intentionalen Aktes der Ichaktivität, zugleich als Ursache von 
Rissen und Spalten des Oberbewußten mit Hervorbrechen „ma¬ 
gisch-archaischen“ Denkens; vielleicht auch in Schilde rs 
U'idersproehenheit von Denkinhalten und Denkakten, und 
in Freuds, Abrahams und Adlers Lehren vom Narziß- 
nms und der Flucht vor der Realität und Lebenserprobung; wie 
besonders in meiner Lehre vom unfertigen Denken, von den Ober- 
leitungs- und Elektionsstörungen im Fringe und endlich in der hier 
aufgestellten Lehre von den Funktionsstörungen der intermediären 
psychischen Schicht und der zerebralganglionären Funktionssysteme. 

Vereint aber werden Motilitätspsychose und Sejunktion in der 
Auffassung der Dementia praecox als einer Störung im weiten Funk¬ 
lionsbereiche der intermediären psychischen Schicht des Unbemerk¬ 
ten. des Vorbewußten, des Fringe, kurz des Unterbaues unseres .Ober- 
bewußten: zugleich der Gemeinempfindung, der Automatismen, der 
Denk- und Aufmerksamkeits-(Einstell-)bewegungen, der Mit-, d. i. 
Einfühlungs-Bewegungen, der Ausdrucks- und Affektbewegungen, dei; 
primitiven Affektivität, und durch die Anwendung der Kleis t sehen 
Konzeption der Dementia praecox als einer Gruppe von Systemer¬ 
krankungen, in deren Mittelpunkt die Katatonie mit elektivcr Er¬ 
krankung der Stammganglien-Stirnhirnsysteme steht. 

Diese Konzeption Kleists gab mir erst jenes Werkstück in die 
Hand, welches mir als Schluß- und Tragstein für dieses hier auf vielen 
verschiedenen Strebepfeilern sich zusammenschließende Gewölbe einer 
Dementia-praecox-Lehre diente. Kleists Werkstück ist es, welches 
nicht nur dieses Gewölbe krönt und abschließt, sondern welches dem 
ganzen Aufbau erst Halt, Zusammenschluß und damit Tragkraft zu 
gelten vermag. 

An der Kleist sehen Lokalisationslehre hängt aber auch die 
Nachprüfbarkeit dieser ganzen Dementia-praeeox-Theorie durch die 
l’atlioliistologie, und damit, wie ich meine, die erste direkte Nach¬ 
prüfbarkeit einer Dementia-praecox-Lehre überhaupt: weil die Tests 
des Krankseins aus dem Pathopsvchologisehen ins Hirnpathologische 
verschoben, dort lokalisiert und somit sichtbar gemacht werden 
können. 

Dann ist die Dementia praecox mehr als eine besondere Reak- 
'ionsform und doch damit erklärbar in Beziehung, mehr als die beson- 
dere Entwicklung besonderer abwegiger (schizoider) erbbiologischer 



Gharakteranlagen ins Krankhafte mul Wahnhafte, mehr auch als die 
Folge von frühinfantiler Triebabbiegung oder späterer (durch Ver¬ 
sagung und Regression bedingter) Triebentgleisung ins Frühinfantil- 
Narzißtische oder ins sonst Primitive, und mehr als eine durch die 
Versagung ausgelöste und triebbedingte ..Regression zu alten, in 
der Norm längst verschütteten Arbeitsweisen des psychischen 
Appa rates“ (Nunberg. Wien), und mehr auch als die Folge von Kom¬ 
plexen und Zensur, von Widersprochenheit der Inhalte und Akte 
des Denkens; dann ist sie w irklich eine organische, speziell eine Hirn¬ 
erkrankung. ja in etwas einer hereditären, heredodegenerativen 
Systemerkrankung ähnlich, sei es durch angeborene Schwäche und 
Anfälligkeit gewisser Systeme dem Lebensgebrauche gegenüber, sei 
es durch elektive Schädigung dieser Systeme, evtl, endokriner Art. 
Wissen wir. wo die der Symptombildung angeschuldigte psychische 
Schicht im (Jehirne zu suchen ist, so kann irgendwann und -wie die 
Nachprüfung gelingen. Der positive Ausfall dieser Nachprüfung hätte 
dann auch mit einem Schlage zwischen den verschiedenen pathogene¬ 
tischen Erklärungen die Entscheidung gebracht resp. die Brücke her¬ 
gestellt. 

Die Möglichkeit, diese über ein Jahrzehnt lang geplante Unter¬ 
suchung dadurch irgendwie zum Abschluß zu bringen, daß ich wenig¬ 
stens für mich selbst zwischen den verschiedenen Richtungen patho¬ 
genetischer Erklärung der Dementia praecox zur Entscheidung ztt 
kommen vermochte, ergab sich mir erst im Wintersemester 1921 22: 
und dies durch die langersehnte Muße und Gelegenheit, mit den hier 
he rangezogen en motorischen und lokalisatorischen Auffassungen 
Kleists, durch Kleists mündlichen Vortrag und besonders 
durch seine Arbeit am Krankenbett rascher und überzeugender als 
durch jede Lektüre vertraut zu werden. Bei der Fülle und Bedeutung 
des hier nach Kleist angeführten für meine Arbeit ist es gewiß 
mehr als die übliche Form, wenn ich Prof. Kleist für die mir an 
der Frankfurte r Klinik gewordene Gastfreundschaft und Infor¬ 
mationsmöglichkeit herzlich danke. 



ABHANDLUNGEN AUS DER NEUROLOGIE, 
PSYCHIATRIE, PSYCHOLOGIE UND IHREN 
GRENZGEBIETEN 

BEIHEFTE ZUR MONATSSCHRIFT FÜR PSYCHIATRIE UND NEUROLOGIE 
HERAUSGEGEBEN VON K. BONHOEFFER 

HEFT 21 


Melaptrysik 
und Schizophrenie 

Eine vergleichend-psychologische Studie 

von 

Dr, Gustav Bychowski 



BERLIN 1923 

VERLAG VON S. KARGER 

KARLSTRASSE 15. 








Medizinischer Verlag von S. Karger in Berlin NW. 6 


In den 

Abhandlungen aus der Neurologie, Psychiatrie, 
Psychologie und ihren Grenzgebieten 

Beihefte z. Monatsschrift für Psychiatrie u. Neurologie, sind bisher erschienen: 
Heft 1: Typhus und Nervensystem. Von Prof. Dr. Georg Stertz in 
Breslau. (Vergriffen.) 

Heft 2: Ueber die Bedeutung von Erblichkeit und Vorgeschichte 
für das klinische Bild der progressiven Paralyse. Von Dr. 
J. Pernet in Zürich. (Vergriffen.) 

Heft 3: Kindersprache und Aphasie. Gedanken zur Aphasielehre auf 
Grund von Beobachtungen der kindlichen Sprachentwickelung und 
ihrer Anomalie. Von Priv.-Doz. Dr. Emil Frösch eis in Wien. Mk. 5.50 
Heft 4: Epilepsie und Dementia praecox. Von Professor Dr W. 

Vorkastner in Greifswald. Mk. 5.— 

Heft 5: Forensisch-psychiatrische Erfahrungen im Kriege. Von Priv.- 
Doz. Dr. W. Schmidt in Heidelberg. Mk. 8.— 

Heft 6: Verbindung endogener und exogener Faktoren in dem 
Symptomenbilde und der Pathogenese von Psychosen. Von 
Priv.-Doz. Dr. Hans Seelert in Berlin. Mk. 3.50 

Heft 7: Zur Klinik und Anatomie der reinen Worttaubheit, der 
Heilungsapha8ie und der Tontaubheit. Von Priv.-Doz. Dr. Otto 
Pötzl in Wien. Mit zwei Tafeln. Mk. 4.— 

Heft 8: Die Spielbreite der Symptome beim manisch-depressiven 
Irresein. Von Prof. Dr. P. Schröder in Greifswald. Mk. 3.— 
Heft 9: Die symptomatischen Psychosen und ihre Differential¬ 
diagnose. Von Priv.-Doz. Dr. Hans Krisch in Greifswald. Mk 2.25 
Heft 10: Die Abderhaldensche Reaktion mitbes.BerÜcksichtigung ihrer Er¬ 
gebnisse i.d. Psychiatrie. Von Priv.-Doz.Dr.G.Ewa Id in Erlangen. Mk.9.— 
Heft 11: Der extrapyramidale Symptomenkomplex (das dystonische 
Syndrom) und seine Bedeutung in der Neurologie. Von Prof. 
Dr. G. Stertz in München. (Vergriffen.) Mk. 6.— 

Heft 12: Der anethische Symptomenkomplex. Eine Studie zur Psycho¬ 
pathologie d. Handlung. Von Priv.-Doz. Dr. O. Albrechtin Wien. Mk. 4.— 
Heft 13: Die neurologische Forschungsrichtung in der Psychopatho¬ 
logie und andere Aufsätze. Von Prof. Dr. A.Pick in Prag. Mk. 8.— 
Heft 14: Ueber die Entstehung der Negrischen Körperchen. Von 
Prof. Dr. L. Benedek ünd Dr. F. O. Porsche in Kolozsvar. Mit 
10 Tafeln. Mk. 8.— 

Heft 15: Ueber die Bedeutung und Entstehung der Stereotypien. 

Von Priv.-Doz. Dr. Jakob Klfisi in Zürich, Mk. 1.50 

Heft 16: Ueber Psychoanalyse. Von Dozent Dr. R. A Ilers in Wien. Mk. 2.—- 
Heft 17: Die Zergliederung des psychischen Krankheitsbildes bei 
Arteriosklerosis-cerebri. Von Nervenarzt Dr. S. J. R. de Monchy 
in Rotterdam. Mk. 2.— 

Heft 18: Epilepsie und manisch-depressives Irresein. Von Dr. Hans 
Krisch in Greifswald. Mk. 2 — 

Heft 19: Ueber die paranoiden Reaktionen in der Haft. Von Dr. 

W. Försterling in Landsberga d. W. Mk. —.- 

Heft 20: Dementia praecox, intermediäre psychische Schicht und 
Kleinhirn - Basalgangllen - Stirnhirnsysteme. Von Priv.-Doz. 
Dr. Max Loewy in Prag-Marienbad. Mk. —.— 

Heft 21: Metaphysik und Schizophrenie. Eine vergleichende psycho¬ 
logische Studie. Von Dr. G. Bychowski in Warschau. Mk. —.— 
Heft 22: Der Selbstmord. Von Priv.-Doz. Dr. med. R. Weichbrodt in 
Frankfurt a. M. Mk. —.— 

Die Abonnenten der „Monatsschrift für Psychiatrie und Neurologie“ 
erhalten diese Abhandlungen zu einem um 20°/ o ermäßigten Preise. 

Die obigen Preise sind Grundpreise, die nach dem jeweiligen UmrechnungsscblOssel verviel¬ 
facht, die jeweiligen Verkaufspreise ergeben. Fiir das Ausland gelten obige Preise fn 
Schweizer Franken als Verkaufspreise, ohne jeden Aufschlag; mit Ausnahme des Portos. 





ABHANDLUNGEN AUS DER NEUROLOGIE, 
PSYCHIATRIE, PSYCHOLOGIE UND IHREN 
GRENZGEBIETEN 

BEIHEFTE ZUR MONATSSCHRIFT FÜR PSYCHIATRIE UND NEUROLOGIE 
HERAUSGEGEBEN VON K. BONHOEFFER 

HEFT 21 


Metaphysik 
und Schizophrenie 

Eine vergleichend-psychologische Studie 

von 


Dr. Gustav Bychowski 

•r 



BERLIN 1923 
VERLAG VON S. KARGER 

KARLSTRASSE 15. 








Alle Rechte Vorbehalten 






Meiner Frau 



Inhaltsverzeichnis 

Seite 

Einleitung. 5 

I. Kapitel. Klinischer Teil. 

1. Störung der Beziehung zur Welt. 7 

3. Der schizophrene Gott . 17 

2. Die schizophrenen Welterlöser.13 

4. Der amtliche Prophet ..20 

5. Die schizophrenen Verfolgten.23 

6. Die schizophrene Wahrsagung.28 

7. Die schizophrenen Philosophen .30 

II. Kapitel. Theoretisch-Psychopathologisches 32 

III. Kapitel. Völkerpsychologisches .71 

TV. Kapitel. Religionspsychologisches .... tll 
V. Kapitel. Prälogische und logische Mentalität 

bei Normalen . 126 

VI. Kapitel. Metaphysik und Schizophrenie . . 138 













Einleitung. 

Im Vorliegenden wird der Versuch gemacht, die Beziehungen 
zwischen bestimmten psychopathologischen Erscheinungen, wie sie 
besonders im Rahmen der Schizophrenien auftreten, und bedeutsamen 
geistigen Bildungen der Menschheit von einem einheitlichen Gesichts¬ 
punkt aus zu beleuchten. Der hierbei befolgte Gedankengang darf 
wohl ganz allgemein als ein biologischer bezeichnet werden, da er 
von der biologischen Grundtatsache der Beziehung der 
Psyche zur Umwelt ausgeht und im Wesentlichen den 
phylogenetischen Aufbau dieser Grundbezie¬ 
hung sowie den schichtenartigen, historisch bedingten 
Aufbau der Psyche in Betracht zieht. 

Das Prinzip vom krankhaften Abbau der Funktion, wie 
es auf dem rein neurologischen Gebiete schon lange anerkannt wird, 
6oll in systematischer Weise auch auf das psychopathologische Ge¬ 
schehen angewandt werden, wo es nicht minder Fruchtbarkeit ver¬ 
spricht. So ergibt sich von selbst die Notwendigkeit, frühere Stufen 
der psychischen Abläufe zu erforschen, namentlich das Denken der 
Primitiven und die mythisch-religiösen Strukturen heranzuziehen. 

Des weiteren zeigt sich aber, daß die Berücksichtigung der meta¬ 
physischen Systeme von dieser allgemein biologischen Betrachtungs¬ 
weise nicht ausgeschlossen werden darf, da wir es in ihnen mit be¬ 
deutsamen Gebilden zu tun haben, welche bestimmte uralte Tenden¬ 
zen des menschlichen Denkens zur klaren Ausprägung gelangen 
lassen. 

So erscheint es uns nicht als Digression und Abweg, wenn wir 
uns der Völkerpsychologie, der Religion und Mystik, den metaphysi¬ 
schen Systemen mit besonderer Aufmerksamkeit zuwenden. Die 
phylogenetischen, entwicklungsgeschichtlichen Faktoren scheinen 
uns in der Psychopathologie nicht scharf genug beleuchtet worden zu 
«ein, und doch ist eine Psychopathologie ohne Völkerpsychologie 
ebensowenig möglich, wie die Biologie und Pathologie der Reflexe 
ohne Phylogenese der Bewegung. 

Versuchen wir kurz unsere Grundbegriffe zu umgrenzen, deren 
*ahre Bedeutung und voller Inhalt erst im Laufe unserer weiteren 
Ausführungen zur Entfaltung gelangen kann. Wir betrachten die 



6 


normale und morbide Psychologie in ihren individuellen wie kollek¬ 
tiven, aktuellen wie völkerpsychologischen Erscheinungen als Ge¬ 
staltung der Grundbeziehung Psyche-Welt. 

Einerseits der Mensch, das Subjekt an und für sich, mit allen 
seinen Trieben, Interessen und Bedürfnissen, andrerseits die Welt 
der Objekte, der leblosen wie .lebendigen, Tiere und Menschen, 
Individuen und Gesellschaften. Diese zwei Faktoren bleiben in 
steter Wechselwirkung, beeinflussen, durchdringen und bilden sich 
gegenseitig. In diesem Sinne charakterisiert die Grundbeziehung 
Simmel 1 ): „Wenn man eine Grundtatsache sucht, die als die 
allgemeinste Voraussetzung aller Erfahrung und aller Praxis, aller 
Spekulation des Denkens und aller Lust und Qual des Erlebens 
gelten könnte, so wäre sie vielleicht so zu formulieren: Ich und die 
.Welt. Das Dasein, von dem wir überhaupt sprechen können, kann 
sich gar nicht anders vollziehen, als daß einem Subjekte ein Reich¬ 
tum von Objekten gegenübersteht, die es lieben oder hassen, er¬ 
kennen und bearbeiten kann, von denen es gefördert oder gehemmt 
wird.“ 

Das psychische Erleben vollzieht sich in der Subjekt-Objekt¬ 
spaltung. Von großer Wichtigkeit sind für uns diejenigen objektiven 
(wir werden gleich die Bedeutung dieses Wortes in dem besonderen 
Falle präzisieren) Elemente der Psyche, die nicht dem Individuum 
als solchem angehören, sondern kollektiv, und zwar im Laufe von 
Generationen gebildet werden und allen Menschen gemeinsam sind. 
In diesem Sinne ist uns „objektiv“ das Gegenteil des Individuellen 
und diese überindividuellen psychischen Elemente gehören zur 
„Welt“, in der Sprache unserer Grundbeziehung ausgedrückt. Die 
Berechtigung zu dieser Zuteilung wird sich im Laufe der Arbeit von 
selbst ergeben. Im Übrigen wird in diesem Sinne „objektiv“ im 
Gegensätze zu „subjektiv“ allgemein gebraucht. Wir beschränken 
uns hier auf diese andeutende Umzeichnung unserer Begriffe. Die 
Grundbeziehung Psyche-Welt ist theoretisch in allen ihren Be¬ 
deutungen und Konsequenzen von Jaspers entwickelt worden, 
wo die betreffende Stelle nachzulesen ist*). 


’) Georg Simmel: Hauptprobleme der Philosophie, Göschen 1913, 
3. Auflage. 

*) Karl Jaspers: Psychologie der Weltanschauungen, Berlin 1919. 
Julius Springer, Seite 18 bis 25. 

Anmerkung bei der Korrektur. Die Arbeit ist Anfang 1921 abgeschlossen 
worden, so daß die seither erschienene Literatur nicht berücksichtigt werden 
konnte. 



I. Kapitel. 

Klinischer Teil 1 ). 

L Störung der Beziehung zur Welt. 

Es gibt eine Anzahl Fälle im Rahmen der Schizophrenie, deren 
psychologischer Inhalt im Wesentlichen als Störung der Beziehung 
der Psyche zur Welt charakterisiert werden kann. 

Das Phänomen der Bekehrung, welches bei den religiös gefärbten 
Schizophrenien so häufig vorkommt, wird von Erscheinungen be¬ 
gleitet, welche deutlich auf die veränderte Beziehung des Kranken 
zur Welt hinweisen. 

So ging der Bekehrung unserer Patientin Julia D. eine Gleichgültig¬ 
keitsperiode voraus, über die sie selbst erstaunt war und unter welcher sie ^ 
litt. Diesen Mangel an Gefühlen bezeichnet sie mit dem charakteristischen 
Ausdruck „le coeur dur“. Sie glaubt, der Satan habe sie gehalten und ihr den 
Rücken gebeugt. Sie zitterte vor Angst, glaubte sterben zu müssen, betete den 
ganzen Tag. Ist man durch den Satan versucht, wie Jesus Christus und wie 
sie, so ist dies der Anfang der Wiedergeburt, der Regeneration. Nur Aus¬ 
erwählte werden vom Satan „heimgesucht“. Dann fühlte sie sich von Gott 
aoserwählt, erlebte ihre „Bekehrung“. Sie bat Gott, sie vom Satan zu erlösen 
und Gott erhörte sie. Sie fand die innige Beziehung zu Gott, die ihr in den 
Tagen der Not gefehlt hatte, wo sie die Bibel las, ohne sie zu verstehen, wo sie 
..eine Abscheu vor Gott“ empfand, als ob sie keine Seele hätte. Von Zeit zu 
Zeit glaubt sie an den bevorstehenden Weltuntergang und fühlt sich verpflich¬ 
tet, die Menschen zu warnen. Das letztemal hat sie, aus der Anstalt entlassen, 

3 Jahre lang ruhig auf dem Lande gearbeitet, bis sie plötzlich ihre alte Bewußt¬ 
heit des Weltunterganges erlebte. Sie fühlte, daß sie in die Stadt mußte, und 
zitternd vor Angst kam sie nach Lausanne, getrieben durch „das Gefühl einer 
unerbittlichen Pflicht“. Sie mußte in die Sitzung des Großen Rates gehen, um 
daselbst den Weltuntergang zu verkünden. Sie wußte, ihre Seele wäre ver¬ 
loren, wenn sie nicht sprechen würde. „Ich bin ja keine mutige Frau und muß 
trotzdem sprechen. Man wählt sich nicht sein Schicksal, Gott wählt es und 
man muß folgen.“ 

In diesem Falle vollzieht sich die Revolution in dem Verhältnis 
der Kranken zur Welt in zwei typischen Phasen. Zunächst die Ent¬ 
fremdung, die Entziehung jedes Interesses der Welt, dann aber der 

*) Die in der Arbeit verwerteten klinischen Fälle stammen, wo nicht an¬ 
ders bemerkt, aus der kantonalen Irrenanstalt und psychiatrischen Klinik in 
Lausanne, wo ich sie während meiner Assistentenzeit beobachten konnte. 



8 


Versuch der Rückkehr, der Wiedergewinnung der verlorenen Be¬ 
ziehung. Dieser Prozeß will aber nicht mehr recht gelingen. Die 
Welt der für sie in Betracht kommenden Objekte hat ihre Bedeut¬ 
samkeit verloren und so stürzt sich die Psyche, in ihrem Versuch 
der Rettung, auf das Ganze, auf das Totale der Realität. So erlebt 
die Patientin ihre enge Beziehung zu Gott, ihre religiöse Bekehrung, 
ihr Auserwähltheitsbewußtsein. Im weiteren Verlauf ihrer Krank¬ 
heit symbolisiert sie, projiziert sie diesen Prozeß immer wieder, 
was doch auf seine unvollständige Erledigung hindeutet: Sie erlebt 
von Zeit zu Zeit die Bewußtheit des baldigen Weltuntergangs und 
verkündigt dies öffentlich, um die Menschheit zu warnen, wozu sie 
zwangsmäßig getrieben wird. Die Psyche, die ihre Welt verloren 
hat, schwingt gleichsam im Leeren und erschrickt über den Abgrund 
— sie erkennt ihren Weltuntergang. So oszilliert das Interesse der 
Kranken zwischen der Welt der Objekte und ihrem Ich, und die 
Welt geht für sie immer wieder unter. 

Wir wissen nicht, aus welchem psychischem Anlaß die Patientin 
ihren Ablösungsprozeß begonnen hatte, es scheint, als ob hier die 
tausend Fäden, die eine Persönlichkeit mit der Welt verbinden, sich 
auf einmal zu lockern beginnen. 

In anderen Fällen gelingt es mit Leichtigkeit, den Faden nach¬ 
zuweisen, an dem der Prozeß beginnt, und es ist nicht zu verwundern, 
daß er eine besonders affekt- oder interessenbetonte Sphäre des 
Lebens betrifft; von der Lebenswunde aus beginnt die Ablösung. 

So erkrankte unsere Patientin E 1 v i n e C. an ihren Beziehungen zum 
Manne. Vom Anfang an war die Ehe keine glückliche, sowohl wegen des 
schlechten und groben Charakters des Mannes, wie auch späterhin wegen mate¬ 
rieller Schwierigkeiten, da der Mann das Vermögen verlor. Die Untreue des 
Mannes machte die Situation immer komplizierter, seine vielen Liebesaffären 
peinigten Elvine sehr. Sie erzählt uns, daß sie ihren Mann nie lieben konnte, 
in seinen Armen nie Freude fühlte, was sie vor allem durch seinen Wunsch, 
keine Kinder zu haben, erklärt. 

Während eines Wochenbettes, das sie in einer Klinik verbringt, erfährt 
sie, der Mann habe in ihrer Abwesenheit ein Mädchen ins Haus genommen, das 
ihre Stelle einnimmt. Da bricht nun die Krankheit aus. Plötzlich hat sie das 
Gefühl, daß Gott ihre Bitten um Erlösung erhörte und sie endgültig von ihrer 
Ehe befreite. Sie habe früher immer das Gute tun wollen, habe jedoch das 
Schlechte tun müssen; daran sei „die Kette der Ehe“ schuldig, sie sei aus 
Geist gemacht, während ihr Mann sie an das Körperlicher band, das sie ver¬ 
abscheut. 

Ihre Affekte lösen sich allmählich von allen auch den nächsten Objekten 
ab, sie verläßt ihre Kinder, indem sie sich in dem Bewußtsein tröstet, Gott 
wolle schon für sie sorgen. 



9 


Das Delir bekommt eine immer stärkere mystische Färbung. Elvine ist 
nicht mehr von dieser Erde, ihr Körper ist tot, ihre Seele allein lebendig. Sie 
ist frei, als auserwählte Tochter Gottes erwartet sie ihre vollkommene Erlö¬ 
sung. Die Geliebte des Mannes bat sich ihre schöne Wäsche angeeignet. „Cela 
ne fait rien,“ erklärt sie, „car je n’naime pas mettre ce qui est beau, j’aurai des 
ehoses plus belles que cela“. Sie ist sich ihres Unterschiedes gegenüber andern 
Menschen bewußt, sie weiß, daß sie „alle Dinge anders sieht als die andern“. 
Die mystische Verschiebung ihres psychischen Lebens äußert sich naturgemäß 
auch auf dem Gebiete der Wahrnehmung. Sie hört die Stimme Gottes, sieht 
Engel und Sterne. Die gewaltsam und durch die Lebenswunde verdrängten 
respektive sublimierten Komplexe rächen sich auch hier und produzieren unan¬ 
genehme Halluzinationen von durchsichtiger Deutung: so wird sie nachts von 
einer schwarzen Schlange in die Hüfte gebissen. 

Was diesem Wunschdelir ein ganz besonderes Gepräge gibt, ist 
sein altruistischer Charakter. Ihre eigene Erlösung überträgt Elvine 
auf die Welt. Alle Menschen werden erlöst, Güte und Liebe werden 
herrschen, die heutige schlechte, lieblose Welt wird sich, wie mit 
einem Zauberstab berührt, ändern. Die Unterschiede zwischen den 
Geschlechtern werden verschwinden, die Liebe wird ganz „edel“ 
sein, es wird keine sexuelle Liebe mehr geben, keine Ehe und keine 
Geburt, kein Alter und kein Sterben. 

In echt schizophrener Weise macht sich Elvine nicht einmal Ge¬ 
danken darüber, wie diese wunderbare Umwälzung zustande kommen 
kann. Mit einem Male wird sie da sein, so wie sie, Elvine, mit 
einem Male ihre mystisch-religiösen Bewußtheiten erfahren hat. 

So wird hier zwar wieder das den Objekten entzogene Interesse 
auf das Ganze gerichtet, es wird aber nur das eine Element der 
Grundbeziehung Psyche-Welt berücksichtigt, die kritische Regu¬ 
lation durch die Rücksichtnahme auf das andere objektive Element 
fehlt, und so wird alles möglich, was man wünscht, hofft und er¬ 
sehnt. Es ist nicht zu verwundern, daß auf diese Art ungetrübte 
Seligkeit erzielt wird, die sich auch in der selig-extatischen abge¬ 
klärten Mimik der Patientin äußert. So wird durch die Negation 
der Realität dem Lustprinzip in vollkommener Weise Genüge getan, 
wie das eben bei den Erlebnissen des Normalen fast nie möglich ist, 
indem die fortwährend gespannten Fäden zwischen dem Ich und 
der Welt diese in sich ruhende Selbstgefälligkeit nicht erlauben 
können. 

Es ist wahrscheinlich, daß die besondere altruistische Eigenart 
dieses Wunschdelirs zum Teil durch die charakterologische Konsti¬ 
tution der Kranken bedingt wird, worauf auch ihre Äußerung hin¬ 
weist, schon als ganz junges Mädchen habe sie zu Hause Eßwaren 
gestohlen, um sie den Hungrigen zu bringen. Daß gerade auf diesem 



10 


Gebiete die Psychose häufig im engsten Zusammenhang dem Cha¬ 
rakter zu entwachsen scheint, ist ja insofern selbstverständlich, als 
der Charakter im wesentlichen nichts anderes ist, wie die be¬ 
sondere Eigenart der Grundbeziehung Psyche-Welt. Dieser Zu¬ 
sammenhang wird auch im folgenden Falle sichtbar sein. 

Bei der Patientin Julia D. haben wir auf den unvollständig 
erledigten Prozeß hingewiesen, der neue Krankheitsschübe oder 
richtiger gesprochen Wahnschübe schafft und das Interesse der 
Kranken zwischen der Welt der Objekte und ihrem Ich oszillieren 
läßt. Die gleiche Dynamik des Prozesses sehen wir bei Elvine. 
Ihre Ablösung von der Welt begann, wie wir sahen, in der Abkehr 
vom Manne. Diese verallgemeinerte sich und die Patientin ver- 
leugnete ihre Liebes-Objekte: Kinder, verdrängte ihre sexuellen 
Komplexe, sagte sich los von jeder normalen Befriedigung ihrer 
Grundtriebe. Weil ihre Liebe mißlungen war, wurde ihr jede 
sexuelle Beziehung zum Greuel und Abscheu, ein Mechanismus, wie 
er übrigens auch bei normalen unbefriedigten Frauen häufig vor¬ 
kommt. 

Nun gelang Elvine die Verdrängung und Sublimierung nur 
zeitweise. Schon während sie bewußt von der asexuellen Liebe 
schwärmte und im mystischen Erleben das All, den Gott und die 
Erlösung genoß, drängten sich halluzinatorische Erscheinungen auf, 
die die sexuellen Komplexe symbolisch verwirklichten. Besonders 
reich entfaltete sich das verdrängte Erleben im Traume, wie über¬ 
haupt Elvine einmal erklärte, das Traumleben sei das wichtigere, 
nur im Traume sehe sie alles klar. 

Zunächst einmal hat sie zahlreiche Versuchungsträume: Sie befindet sich 
in einer gefährlichen Situation, läuft Gefahr, zu fallen und zugrunde zu 
gehen, aber sie fällt nicht. So sieht sie sich z. B. in einem Wagen auf 
einem hohen Felsen mit steilen Abhängen und sie kommt herunter ohne zu 
fallen. (Sie deutet selbst das Fallen im moralischen Sinne.) 

Ein anderer Traum läßt sie ein Pferd führen unter einer Stierherde, 
einige von den Stieren kämpfen untereinander: es gelingt ihr durchzukommen, 
ohne Übel davonzutragen. Sie deutet selbst die Stiere als Männer und erzählt 
uns von den vielen Verehrern, die in ihrer Mädchenzeit um ihre Gunst gewor¬ 
ben haben. 

Ein typischer Traum verbindet ihre sublimierten mit ihren ursprüng¬ 
lichen Tendenzen. Ihr Mann erscheint geschlechtskrank, was er seiner Ge¬ 
liebten, die er an Stelle der Frau zu sich genommen hatte, zu verdanken hat. 
Er wird aber von Elvine getröstet, die sich so im Traume ein kleines Rache¬ 
delir geleistet hat, um desto besser ihre altruistischen Tendenzen auszuspielen. 

Wir wissen, daß Elvine sich frei von jedem sinnlichen Begehren erklärt 
und in diesem Sinne auch von ihrem „toten Körper“ spricht. Drei Wochen, 
nachdem sie uns gegenüber diese Versicherungen wiederholte, bietet die Patien- 



11 


tin einige subjektive Symptome der Gravidität, von allem Brechreiz, ihr Kopf 
brennt, was zu bedeuten hat, daß sie noch ein Kind haben solle. In der Nacht 
halluziniert sie lebhaft unverhüllt sexuelle Dinge. Schließlich erklärt sie, sie 
sei krank „davon“, sie sei noch nicht schwanger, aber solle es werden. Daher 
ihr gegenwärtiges Leiden. Sie fühlt mit Wucht ihr sinnliches Begehren wie¬ 
der, das ihr auf immer verschwunden schien. Sie braucht einen Mann und sie 
wird einen Sohn gebären, der Jude weil Heiland sein wird. 

Die Träume dieser Epoche sind lauter durchsichtige Darstellungen der 
sexuellen Befriedigung. 

So wird im Laufe des krankhaften Prozesses die mystische Attitüde 
rückgängig gemacht, die rein persönlichen naturhaften Motive machen sich 
geltend und wiederum verwirklichen sie sich ungestüm, wahnhaft, weil die 
Psyche mit der Welt der Objekte nicht mehr rechnet. Es ist selbstverständ¬ 
lich, daß eine weitere Entwicklung der Psychose wieder eine mystische Phase 
zeitigen kann. 

Eugen C. kam zum erstenmal 27jährig in die Anstalt. Von der 
Heredität ist bekannt, daß der Großvater väterlicherseits Trinker war, ein 
Vetter geisteskrank, eine Schwester ist gelähmt. Eugen war eine Zeitlang 
der beste Schüler, seine ganze Entwicklung verlief durchaus normal. Mit 
22 Jahren wurde er deprimiert, glaubte, er sei verloren, hörte in seinem Innern 
die Stimme Gottes, welche ihm verzieh. Die Selbstvorwürfe bezogen sich zum 
großen Teil auf die Masturbation. Es war eines Abends, wo er plötzlich den 
Zwang fühlte, sich auf die Knie zu werfen und dem Allmächtigen seine Sünden 
zu bekennen. Es schien ihm, als schreite er auf ein schwarzes Loch zu. Wie 
ihm nun die innere Stimme die Verzeihung verkündigte, glaubte er auf einmal 
selbst Gott zu sein, fragte sich, ob Gott ihn zum Antichrist erwählt hätte. Er 
glaubte eine Sphäre zu sein. Um ihn herum sei alles schwarz, das Schwarz der 
Unendlichkeit. Dieses „Gefühl“ ist ihm seit jenem Abend, wenn auch 
schwächer, geblieben. Seit jenem Abend suchte er sich Gott zu nähern: 
..Ich gehe durch Liebe und Haß.“ 

Drei Jahre später hörte er nachts Kanonenschüsse in seinem Gehirn. Er 
sah Gott und wußte auf einmal, Gott, Teufel und das Universum 
sei eins. Es war wie eine Trennung von Gott, aber 
die Einheit ist dann hergestellt worden. Er sah Gott 
wie eine Flamme in der Nacht, es war eine Flamme, welche die Form eines 
Menschengesichts hatte. Zwischen ihm und der Erscheinung war ein großer, 
schwarzer, finsterer Raum. 

Ein Jahr später bei einem Vortrage (er bemühte sich sehr um seine 
Weiterbildung) fühlte er die dynamische Kraft seiner Sphäre (des Gehirns), 
welche ihn gezwungen hätte, eine Grimasse zu machen, er wandte den Kopf 
ab. um nicht lächerlich zu erscheinen. Die Angst vor dem Lächerlichen ließ 
eine schwarze Sphäre inmitten der ersten Sphäre entstehen. Vom Beginn 
»einer Krankheit an pries ihm sein Bewußtsein das Uni¬ 
versum, er aber fühlte, daß er diese Lobpreisungen ab- 
lehnenmußte. Er stürzte sich nach allen Seiten mit seiner Sphäre gegen 
die schwarze Zentralsphäre, um sie zu zerschmettern, was ihm nicht ge r 
lungen ist 

Diese Hauptgedanken seines Wahngebildes wiederholte uns der Kranke 
hi gleicher Form 10 Jahre später. Wir fragten ihn, ob er weiterhin sich 



selbst und die Welt nur ungenau unterscheiden könne. Er gab uns zur Ant¬ 
wort: „Gott, Teufel, die Welt, er selbst, dies alles 
ist eine einzige unendliche Sphäre, welche man 
weder verstehen noch zerstören kann. Nichts vergeht, 
nichts wird erschaffen.“ 

Er mußte in die Sonne blicken, wo sein Gedanke (son id6e) Gott sah. 
Es gelang zuweilen die Sonne zu fixieren, wollte er nicht seine Blicke auf sie 
richten, dann hatte er Kopfschmerzen und fühlte sich erst wieder besser, bis 
er die Sonne anblickte. Das half ihm sein Leben zu führen, das Leben seiner 
Sphäre. Um das Gesicht hatte er wie einen weißen Ring. „ . . . Umsonst 
führt ein guter Instinkt zum Guten, umsonst strebt eine starke Leidenschaft 
hinauf, sie hat doch ihre Quelle in demselben Instinkt . . .“ Er will mit 
-diesen Worten andeuten, daß er sich bis zu seinem Gotterlebnis masturbierte. 
Dann besiegte er die niedrige Leidenschaft, indem er ihr die Leidenschaft 
für Gott entgegensetzte. 

Drei Wochen vor der Internierung verschlimmerte sich sein Zustand. Er 
wurde unruhig, verbrachte schlaflose Nächte. Er verlangte von seiner Mutter, 
sie solle ihm eine Kugel von der Größe seines Kopfes anfertigen. Die Hälfte 
müßte rot sein (der Tag), die andere schwarz (die Nacht). Dann mußte er 
auch Tag und Nacht ein Lampe vor sich brennen sehen. Es verlangte ihn 
danach, fortwährend den Schatten seines Kopfes an der Wand zu sehen. Die 
Lampe mit ihrer Flamme war Gott, der Schatten die Finsternis, der Gegensatz. 
Er mußte den Gott in der Zirkumferenz des Schattens, aber auch in seiner 
rotschwarzen Kugel suchen. 

Der Kranke verblieb drei Jahre in der Anstalt. Sechs Jahre nach seiner 
Entlassung kam er wieder, da er anläßlich einer organischen Erkrankung 
(Myokarditis) aufgeregt wurde und Suizidversuche machte. 

Wie erwähnt, bestätigte er uns seine früheren Wahnideen. Bei einer 
Untersuchung richtete er das Wort an das Tintenfaß: „Monsieur Tencrier, 
voulez-vous vou$ renverser sens dessus dessous?“... Das Tintenfaß ant¬ 
wortete ihm „non“. Wir präsentierten ihm den Reflexhammer, an den er 
folgende Ansprache richtete: „Monsieur le rasoir, est ce vous qui m’avez 
donn6 un coup d’assomoir en division?“ . . . Der Hammer antwortete: „Non, 
c’est vous, qui vous etes frappäs vous möme.“ 

Den Inhalt der Psychose bildet in diesem Falle offenbar die 
Beziehung zur Welt. Der Kranke fühlt sich verloren, verliert auch 
das volle Erleben der Welt, welche ihm als eine finstere, gleich¬ 
förmige Unendlichkeit erscheint. Er ist sich des Konflikts bewußt: 
Sein Bewußtsein preist ihm die Welt, er aber fühlt, daß er sie ab¬ 
lehnen muß. Er sucht die verlorene Beziehung zur Welt wieder zu 
gewinnen, er will in Gott, der ihm das Ebenbild der gesamten 
Realität ist, die Welt wiederfinden. Zwischen sich und Gott, 
zwischen seiner Psyche und der Welt sieht er aber den großen 
finsteren Raum. Er sehnt sich nach der ursprünglichen Einheit von 
seinem Ich, Gott und der Welt, der Einheit, unter deren Spaltung 
<er zu leiden hatte. 



13 


. . cs war wie eine Trennung von Gott“ . . . und er erlebt diese Ein¬ 
heit wieder, in uneingeschränktem Maße. Nun ist alles eins, die 
Schranke zwischen Psyche und Welt verliert sich, er braucht nicht mehr um 
die verlorene Realität gegen die ihn umgebende einförmige Unendlichkeit ver¬ 
zweifelt anzukämpfen, sich mit seiner Sphäre gegen die schwarze Zentral¬ 
sphäre zu stürzen, um sie zu zerschmettern. Es kann uns nicht verwundern, 
daß er vorübergehend die ganze Realität in sich selbst erlebt und so zum Gott 
wird, wenn er auch zunächst nur Gottes Stimme in sich vernimmt Dann aber 
fühlt er den Zwang, Gott zugleich in der Welt, in der wunderlichen schwarz¬ 
roten Kugel, wie in sich selbst, in dem Schatten seines eigenen Kopfes zu 
suchen. Übrigens symbolisierte schon die schwarzrote Kugel nicht nur die 
Erde (die Welt), aber auch seine eigene Psyche seine „Sphäre“, seinen Kopf.. 

Wir merken uns auch die Gespräche, welche der Kranke mit 
leblosen Gegenständen führte, diese Personifizierung oder wenn man 
will Beseelung wird uns noch beschäftigen. 


II» Die schizophrenen Welterlöser. 

Unser Patient Ernst T. war immer geneigt, die Welt überwiegend von 
dem Gesichtspunkte seiner auf das Ideal eingestellten Psyche zu betrachten. 
Einer Bauemfamilie entstammend, wurde er, da er sich durch seine hohe intel¬ 
lektuelle Begabung auszeichnete, für einen liberalen Beruf bestimmt und trat 
lßjährig in eine Bank ein. Vom ersten Tage*ab sah er, wie er uns erzählt, 
daß er für diese Laufbahn nicht taugte. „Die Bank ist eine höllische 
Maschinerie, die die Seele, das Gefühl und die Liebe niederdrückt. Der 
Mammon, das Geld, ist der Teufel in Person. Der Gott in mir hat es mir 
offenbart.“ Trotz dieser feindlichen Einstellung verbrachte er 2)4 Jahre in 
der Bank als ein ausgezeichneter Beamter, um, wie er erklärt, dieser feind¬ 
lichen Realität seine Unabhängigkeit zu erweisen. Aber wie stellt er sich die 
Weh ohne Banken vor? Die Menschen werden leben in gegenseitiger Liebe, 
ohne Geld und sonstige materielle Mittel zu brauchen. Die Lebensweise der 
Menschen so wie sie heute ist, in der Geldwirtschaft, das ist ja kein richtiges 
Leben, das ist wiederum die Hölle. Im Militärdienst hatte Ernst die gleichen 
Eindrücke und Empfindungen wie in der Bank. Auch hier fühlte er den 
Mangel an innerem Leben, an Gefühl, an Seele. Aber auch hier machte er 
seinen Dienst in musterhafter Weise, „um zu zeigen, daß man auch dies be¬ 
siegen kann“. 

Einmal muß er eine Reise ins Tessin machen, wo sich ihm eine Stelle 
bietet Er geht zu Fuß, wozu er 4 Tage braucht Er erklärt uns, daß er 
keinen Zug benutzen wollte, weil ihm auch dies als Hölle erschien. Es sei 
kein Gotteswerk, es zerstöre den unsterblichen Anblick der Natur. 

Nachdem Ernst die verhaßte Bank verlassen hatte, wendet er sich der 
Landwirtschaft zu. Nur in der körperlichen Arbeit sieht er Heil, nur sie 
macht die Seele erhaben, gesund und edel. Es ist sehr wahrscheinlich, dafi 
Ernst in der so von ihm gepriesenen körperlichen Arbeit auch ein Heilmittel 
gegen die ihn moralisch quälende Masturbation gesucht hat, da er gehört 
hatte, dies sei das beste Mittel gegen das schreckliche Laster. Die Psychoso 



14 


überrascht ihn bei der Landarbeit, in einem Orte, wo er sich sehr gut fühlte 
und wo er auch schon bekannt war. 

Er entschließt sich, an die junge Rosa zu schreiben, die er seit sechs 
Jahren liebt und der er seine Liebe noch nie zu gestehen gewagt hat Ich 
lasse den für seine psychische Konstellation charakteristischen Brief nach- 
folgen: 

„Chöre soeur, lorsqtfau printemps 1914, en entrant chez votre fröre, 
je vous voyais pour la premiöre fois, j’ötais ötonnö comme vous ressembliez 
a une jeune fille qui dans la premiöre classe de l’öcole secondaire ötait mon 
Premier amour, qui restait hölas, de sa part trop vite ce que restent les 
amours d’öcoliers, en laissant sa flöche dans ce coeur qui a toujours eu 
tant de peine a se döbarrasser de profondes impressions. Vous repartiez 
bientot pour St. Loup en me laissant songeur et k votre retour pour quelques 
jours, avant votre entröe a rinfermerie de Morges, une immense joie me 
remplissait. H ne m’a pas ötö donne de vous adresser plus que 2 ou 3 fois la 
parole hier. Ce dimanche aprös-midi ou vous ötiez assise sur une chaise 
entre le plantage et le clos, entouröe de l’immortelle fraicheur d’un 
jour de mai ou de juin, tandis qu’assis sur le vieux banc sous le mur 
du jardin je m’adonnais a la lecture des fiancös de Manzoni, m’est inoubliable 
. . . A ce point que je ne peux plus m’empecher de crier: Rose, aie pitie, 
je taime . . . 

In Erwartung einer Antwort auf sein Schreiben lebte er in einer exstati¬ 
schen Stimmung, die alsbald religiöse und mystische Ideen zeitigte. Eines 
Morgens erblickte er, was er seine Vision nennt. Es sind dies interessante 
Personenverkennungen. Er sah den Papst, er erkannte ihn an der Bewegung 
des Staunens, die er bei seinem Anblick machte, auch schwankte er, was ein 
Ausdruck der Angst, die er vor Ernst empfand, war. Die Angst war durchaus 
begründet, denn er sah in Ernst den Welterlöser und erfuhr so, daß nicht er, 
der Papst, die Welt erlösen sollte. Es erschien auch dem Patienten von Be¬ 
deutung, daß er auf dem Wege eine religiöse Broschüre gefunden hat, die dort 
ohne Zweifel von dem Papste absichtlich gelassen wurde. Bald nachher be¬ 
gegnete Ernst einem Manne mit Rucksack, in dem er den italienischen König 
erkannte. Dieser suchte Arbeit beim Torfstechen, „um sich vor Gott zu 
demütigen“. Er war begleitet von einem alten savoyardischen Dienstknecht, 
Savoyen aber ist die Wiege der Italiener, also . . . 

Nach all diesem konnte Ernst nicht mehr in dem Dorfe bleiben, wo er 
als Landarbeiter angestellt war. Es trieb ihn fort, er ging die Welt zu er¬ 
lösen, er hatte das Gefühl, in der Stadt werde er erwartet, auch hoffte er dort 
eine Antwort von Rose zu bekommen. 

Er änderte seinen Weg, ohne sich darüber Rechenschaft zu geben und 
kam in Lausanne an. Um 9 Uhr abends präsentierte er sich in der Kaserne 
und verlangte Einlaß, indem er zunächst sein Dienstbüchlein und die Bibel 
vorzeigte mit den Worten: „zuerst Christ, dann Schweizer Soldat.“ Nachdem 
man ihm hier Einlaß verweigert hat, ging er weiter, legte sich in der Straße, 
„wie der Christus“, mit auf der Brust gekreuzten Armen, „wie Zwingli nach 
der Schlacht bei Cappel“. So fand ihn die Polizei und führte ihn in die 
Anstalt. 

Ernst glaubte, der Heiland und Welterlöser zu sein. Nur ist der erste 
Heiland gestorben, er aber wird ewig leben. Er ist auch seinerzeit bei der 



15 


Grippeepidemie verschont geblieben, worüber er uns mit einem extatischen 
Lächeln berichtet Vielleicht ist er verschont geblieben, weil er selbst Gott 
ist Er findet, dies ist keine Lästerung: oh, non, l’homme peut etre Dieu s’il 
veut Man entgegnete ihm „also könnte es viele Götter geben“, worauf er 
erwidert: „Das ganze Universum ist eine einzige Harmonie, ein einziges Ding.“ 

Von seiner Heilandsmission weiß Ernst seit er sich entschlossen hat 
seiner fernen Geliebten, der Rose, zu schreiben und seine Liebe zu bekennen. 
Wir wissen, daß er die Antwort in größter Affektspannung erwartete. „Das 
Männliche und Weibliche sind 2 Pole,“ erklärt er, „deren Verschmelzung zur 
Weltharmonie zur Welterlösung führt“ 

So wird hier wieder, in echt schizophrener Weise, eigene Er¬ 
lösung aus der Spannung der Sehnsucht zur Erlösung der ganzen 
Welt der Objekte. 

Von der Realität der letzteren hat der Kranke sein Interesse 
zurückgezogen, welches er nun wiederum auf das Ganze projiziert. 
Das Ganze ersetzt hier die Teile und über der Brücke, die ihn noch 
mit der Welt verbindet, über der bestimmt und eigenartig fixierten 
Libido, stürzt er sich auf das verloren gegangene Universum. Und 
wiederum alles ist möglich, alles Vergängliche wird nur ein Gleichnis, 
an dem sich sein Wollen und Wünschen erfüllen soll. 


An einer affektiven Lebenswunde zerbricht die Relation zur Welt des 
Konstantin T. Autistisch prädisponiert, zurückgezogen, scheu und 
furchtsam, findet er eine Frau oder vielmehr wird von ihr gefunden. Glück¬ 
lich lebt er mit ihr, bis sie ihm mit einem Geliebten davongeht. In seinem 
Leiden sucht er Trost in der Religion, besucht religiöse Versammlungen, ver¬ 
weigert den Militärdienst. Die Psychose bricht aus, indem er sich als .Welt- 
erlöser ankündigt. Er will alle glücklich machen, alle müssen gütig werden, 
denn „wenn die Schlechtigkeit fortdauert, kommt der Weltuntergang“. Es 
werden dann nur Männer übrig bleiben, die W T elt wird eingeschlechtlich sein. 
Vielleicht ist der Mond die Mutter der Frauen, die Sonne der Vater der 
Männer. Vielleicht vermehren sich die Gestirne durch die Liebe. 

Einige Tage später, in der Abklangsperiode der Psychose kommt Kon¬ 
stantin zur Einsicht. Er schreibt: „Croyant apporter un peu de lumifcre au 
pauvre genre humain, croyant faire plaisir ä un camarade, je dßsirais le voir, 
aaehant qu’il avait 6t6 m6pris6 et mal compris; je croyais meme pouvoir 
apporter le pardon a tous les etres de la terre, et meme aux criminels, mais 
cette lumiöre que je croyais donner a tous, se change et je vois que je ne 
suis qu’un commun mortel.“ 

So projizierte hier der Kranke seine Wünsche und Hoffnungen 
ins Unendliche; der ganze Kosmos wurde betraut mit der Darstel¬ 
lung seiner Komplexe; der Mond und die Sonne wurden zu zwei 
Polen seiner Affektivität. 



16 


Unsere zuletzt besprochenen Patienten wollen die Welt be¬ 
glücken, indem sie davon ausgehen, sich selbst glücklich zu machen. 
Sie negieren die schlechte Welt, wobei sie keine positiven Ideen zu 
ihrer Besserung bringen, denn sie rechnen mit dieser äußeren Welt 
nicht mehr oder nicht mehr genügend, als daß sie noch ihre 
psychische Tätigkeit regulieren könnte. Es besteht hier keine eigent¬ 
liche Wechselwirkung mehr zwischen den zwei Elementen unserer 
Grundrelation Psyche-Welt, wie sie noch etwa bei einem sozial wir¬ 
kenden normalen Idealisten bestehen würde; die Grundrelation hat 
sich zugunsten des Ich verschoben, das sich von der objektiven Welt 
losgelöst hat; es fühlt sich als Quelle der Macht, indem es durch das 
Bewußtsein äußerer und innerer Unzulänglichkeiten nicht mehr ge¬ 
hemmt wird und so einen gleichsam magischen Einfluß auf die 
äußere Welt auszuüben glaubt. Es ist einleuchtend, daß bei dieser 
Einstellung des Schizophrenen auch seine kognitive Sphäre gefälscht 
werden muß, denn zweifelsohne entspringt die Wahrnehmung und 
auf ihr aufgebaut die Erkenntnis, den Interessen und den Bedürf¬ 
nissen, die den Menschen an die Wirklichkeit verweisen. Fehlt diese 
Direktive, dann hört die Erkenntnis auf, wirklichkeitsgemäß zu sein, 
so entstehen die philosophischen Systeme der Schizophrenen. Sie 
sind verschiedene Stadien der Bewegung, die das von den Objekten 
losgelöste Ich zu der Welt als Ganzes zurückführt. 


Der Theologe Emanuel B. war seit jeher zu abstrakten Spekulationen 
geneigt, vertiefte sich in die Lektüre metaphysischer und theologischer Schrif¬ 
ten. . Unter dem Einflüsse schwieriger äußerer Bedingungen, so vor allem der 
materiellen Lage, ist die Psychose ausgebrochen. 

Er hat eine wichtige Vervollkommnung der drahtlosen Telegraphie erfun¬ 
den und verkehrte nachts mit Marconi, der sich auf dem Eifelturme befand. 
Die Welt muß umgeändert werden, da wir ein gefährliches Leben führen. Man 
soll unbekleidet gehen; aber auch die Nahrung und Heizung soll überflüssig 
gemacht werden. Unser Körper hat parabolische Flächen, wo man die Energie 
der Sonnenstrahlen sammeln könnte . . . und Emanuel ließ seine Frau den 
Rücken krümmen und ihn der Sonne zuwenden. Der Arme hatte in dem 
strengen Winter viel an der Kälte gelitten. Auch sann er über den wunder¬ 
baren Apparat nach, der die Nahrung ersetzen sollte. Die Verwirklichung die¬ 
ser Idee erschien ihm um so dringlicher, als er den imminenten Weltuntergang 
voraussah. Die Autos, die er vorbeifahren hörte, kamen, um seine große rie¬ 
sige Kraft zu überwachen, mit der er der Welt viel Gutes aber auch viel Böses 
antun konnte, ja vielleicht auch zu ihrem Untergange beitragen? . . . 

Er spazierte in seinem Garten und studierte „die Polarisation“ des Lichtes 
durch die Blätter, da sah er Sonnenflecke und fragte sich, ob dies nicht Folgen 
der durch die Kanonen im Weltkriege hervorgerufenen Erschütterungen wären. 
Er dachte, es könnten Vorzeichen des Weltunterganges sein. 



17 


Was Emanuel Polarisation nennt, ist bloße Dispersion. Aber diese Kon¬ 
fusion stört ihn wenig und wie wir ihm von der Polarisationsfläche sprechen, 
antwortet er uns, es gäbe vielleicht einen Raum mit vielen Flächen, denn er 
kennt die Frage des dimensionalen Raumes und vermutet, man könne daraus 
deduzieren, daß es im Unendlichen keinen Raum mehr gibt . . . 

So sind die Hauptelemente dieses Delirs eine Art der „Philo¬ 
sophie der Misere“, sie lösen mit einem Schlage die Hauptschwierig¬ 
keiten, die das Leben unseres Kranken trüben. Das Material der auf¬ 
gestapelten philosophischen Begriffe und Anschauungen wird dabei 
reichlich verwertet, wobei mit Begriffen, metaphysischen wie wissen¬ 
schaftlichen, rücksichtsloser Unfug getrieben wird. Auch hier wird 
der vorübergehende Untergang eigener Welt der Objekte mit dem 
Weltuntergänge überhaupt gleichgesetzt. 


111. Der schizophrene Gott. 

Die Störung der Grundbeziehung erlaubt dem Schizophrenen, 
sich mit der Welt zu identifizieren. Überträgt er die Lösung eigener 
affektiver Bedrängnisse und Konflikte auf die von ihm unabhängige 
äußere Realität, so wird er zum Welterlöser, wie die zuletzt beschrie¬ 
benen Kranken; verliert er jede Bindung an die Welt und läßt sein 
Ich schrankenlos hypertrophieren, so kann es dahin kommen, daß er 
sich als den Inbegriff aller Realität, als Gott, auffaßt. 

William G., 44jährig, Fabrikant für Uhrenedelsteine, Vater Trinker, 
sonderbarer Charakter, eifersüchtig und moros. Mutter an Lungentuberkulose 
gestorben, hatte ebenfalls einen absonderlichen Charakter. Ein Bruder Potator 
starb an Delirium tremens und Lungenentzündung. Der Patient war während 
2 Jahre seiner Verlobungszeit gütig, affektiv gut eingestellt, liebte seine Braut 
innig. In der Ehe erwies er sich als außerordentlich eifersüchtig; schon nach 
einem Jahre wagte es die Frau nicht mehr, eine Aufforderung zum Tanze an- 
2unehmen und mußte die Einladungen ihrer Angehörigen refüsieren. Bald 
merkte sie, daß der Mann heimlich trank, was sich trotz aller ihrer Gegen- 
bemühungen immer verschlimmerte. Zugleich veränderte sich allmählich sein 
Charakter, er wurde boshaft, unangenehm gegen Frau und Kinder. Im Jahre 
1916 hatte er einige epilepsieartige Anfälle. Ein Jahr später fing er an, Stim¬ 
men zu hören, Menschenmengen ernannten ihn zum Staatsrat. Nach einem 
Aufenthalt in einer Privatklinik wurde der Patient in unsere Anstalt überführt. 
Er versichert uns zu allernächst, seine wirkliche Frau sei die Tochter des 
Arztes, in dessen Sanatorium er vorher weilte. Von seiner früheren Frau will 
er nichts mehr wissen; die 2 richtigen Herzen mußten einander begegnen, 
^eine wahre Frau folgt ihm überall hin, sie ist auch hier in der Anstalt, er hört 
sie, wie er überhaupt mit gewissen Personen auf Distanz sprechen kann. Auch 
kann er Menschen und Objekte durch die „Figuration“ sehen, 
er stellt sich diese eben vor, sieht sie aber, als ob sie 

Bychowski, Metaphysik und Schizophrenie. (Abhandl. H. 21.) 2 



18 


wirklich wären. Er fühlt Vibrationen in den Nerven, das sind Musik - 
wellen. 

Am 14. Oktober 1920 nach dem Datum gefragt, gibt er an, es sei der 
22. Oktober 2921. Er erklärt: „II j a mille ans retournäs en arrtore par 1& 
tranquillitä du travail, mille ans en arriöre qu’on a reportä en avant. Nous 
sommes retournäs en arri&re d’abord par la position du militarisme, pour la 
vie sociale, la vie äconomique laborieuse, du point de vne de la moralitA“. 

. . . Das alles hat er geleistet, unterstützt durch die Natur, welche mit ihm 
arbeitete, dies ist die Diktatur der Natur. Marconi ist es gelungen, die Sprach- 
wellen (ondes paroliennes) zu vereinigen. Marconi: Maroc ... Marc... arco ... 
con ... ni...; ni... nie... jamais, Entdeckung, welche noch nie exi¬ 
stierte. Er zerlegt diesen Namen, um zu der Familiarisation, Familiarität, 
Genealogie, Generalogie, Familiarologie zu gelangen. Marconi ist sein Adoptiv¬ 
sohn, er, M ..., vermittelte seine Ideen dem Volke, den leitenden ärztlichen 
und astronomischen Kapazitäten. 

Seinen an der Privatklinik unternommenen Suizidversuch erklärt er fol¬ 
gendermaßen: „In einem Anfalle des Wahnsinns ... aber es war kein Wahn¬ 
sinn ... trieb ihn etwas dazu, sich den Hals abzuschneiden, er mußte es tun, es 
war wie eine Klarheit, eine Leichtigkeit des Geistes und des Körpers. Er 
wollte verschwinden, wollte nicht nach Hause zurückkehren. Seine Frau ver¬ 
leumdete ihn, sie erzählte, er sei ein Trinker, aber wenn er ins Kaffeehaus ging, 
so geschah es nur, um sein Heim zu verlassen. 

Sein Suizid war ein Glück, damit sich zwei Körper und zwei Seelen tref¬ 
fen können, ... die Tochter des Arztes und er. Sie begegneten sich durch die 
innere Sprache, durch die Ventriloquie, Estomachie. Alles spricht, die Nieren 
registrieren seine Gedanken, ebenso die Leber, von ihrer Seite kommt die Ge¬ 
rechtigkeit, die Strafen und Gesetze. Er hat zwei Herzen, er hört sie beide 
schlagen, jedes an einer Seite, das Herz der Liebe und das Herz der Gerechtig¬ 
keit. Seine Gedanken gehen von rechts nach links, wie alles bei ihm. Das 
sind Töne, welche von der Natur kommen, die Sprache der Blätter, der Winde. 
Die Hauptrolle spielen dabei Sonne und Mond, sie haben auch ihre Stimmen. 
Seine Ideen werden vom Gehirn ausgearbeitet, im Kleinhirn aber aufgespei¬ 
chert. Er hat zwei Kleinhirne, weil er zwei Herzen und zwei Schläfen hat. 

G. ist es, der durch die Vermittlung Marconis dem Kriege ein Ende 
machte, er führte die vollständige Entwaffnung in einem Tage durch. Er 
überwacht alles, auch alle Arbeiten in der Anstalt. Es ist ein gro߬ 
artig angelegter Verkehr der Weltelemente unter¬ 
einander. Mond, Sonne, Sterne, das ganze Firma¬ 
ment, alles dies gehört ihm. Nach dem Monde haben sich auch 
die Kometen hingegeben, sie sind auf die Erde heruntergekommen. Jeder 
hatte eine Urkunde, um seine Identität zu bezeugen, jeder hatte seine Ver¬ 
treter, welcher dem G. sagte: „Dieser gehört dir“. 

Es gibt keinen Gott, das ist die Natur, G. ist der 
direkte Vertreter der Natur. Dies war bisher durch die Religion 
verborgen. 

G. kann nicht getötet werden, er kann einem jeden Macht 
geben oder entziehen, nach seinem Belieben. Er ist unsterblich, seine Organe 
erneuern sich in dem Maße, als es notwendig wird. Wenn der Arzt versuchen 
würde, ihn zu erschießen, würde der Schuß nicht abgehen. Ebenso könnte er 
vom Gifte nicht angegriffen werdeft. 



19 


Er hat das Oberkommando über die Natur von ihr selbst erhalten. E r 
ist der Vertreter, der Schöpfer, der General der ganzen 
Welt, auch ist er der Präsident des Völkerbundes, denn es gibt keine Könige 
mehr, sie sind alle geschlagen worden in der Schach¬ 
partie, welche er in dem Privatsanatorium gespielt hat. Ebensowenig gibt 
es noch Priester und Religion. Der Gott der Bibel ist nichts, denn niemand 
bat ihn je gesehen. Ihn, den Patienten, aber sieht ein jeder. Auch hofft er, 
daß sich alsbald alle von seiner Macht überzeugen und ihm Gehorsam leisten 
werden. In diesem Sinne deutete er die Blutentziehung, die man ihm eines 
Tages zwecks der Wassermannreaktion machte: man täte es, wähnte er, damit 
alle Menschen von seinem Blute trinken, wodurch sie verstehen werden, daß sie 
ihm gehorchen müssen. Die geringe Quantität des entnommenen Blutes machte 
ihn an dieser Deutung nicht irre. Drei Tropfen genügten, meinte er, damit 
sie verstehen. Im übrigen genügt es, einen Moment lang den Dunst seines 
Hemdes einzuatmen, um die Erkenntnis zu erwerben. 

Er ist das einzige Kind der Natur, daher seine immense Macht. Wenn 
der Arzt, welcher, er gibt es zu, auch ein Kind der Natur ist, diese Macht nicht 
besitzt, so kommt es davon, daß sein Schädel aus Fleisch und Knochen, wäh¬ 
rend derjenige des G. aus Edelsteinen besteht. „Sehen Sie denn nicht,“ fragt 
t% „wie er in der Sonne aufleuchtet?“ 

Die göttlichen Attribute des Patienten haben einen 
deutlich magischen Charakter. Er droht uns, falls wir 
ihn nicht sofort entlassen, mit der Sistierung des 
Tag-und Nachtwechsels. Es könnte uns passieren, daß wir während 
rin bis zwei Tagen keinen Tag, nur Nacht haben. Schon in der Privatanstalt 
habe er, um die Herren zu bestrafen, die Tage um die Hälfte gekürzt. 

Sein Blick kann heilen und während ich das kranke Auge eines Patien¬ 
ten untersuche, kommt G., um es zu betrachten; er behauptet, dem Patienten 
durch seinen Blick viel Gutes zu erweisen. 

Alles geschieht auf Befehl der Natur. Habe ich irgendeinen Gedanken, 
so kommt derselbe von der Natur; alles spricht, die Befehle kommen von der 
Luft, dem Winde, den Bäumen. 

G. ist in Verbindung mit der ganzen Welt, er bekommt Mitteilungen aus 
Afrika und von den Philippinen. Er hält Vorlesungen überall, an allen Uni¬ 
versitäten, vor allen Autoritäten, es genügt, daß er denkt, seine Hörer hören 
ihn innerlich, „durch das Sprechen“. 

Die Geschichte des Falles zeigt deutlich die Ablösung der Psyche 
von ihrer Welt, welche als feindlich und unzugänglich erscheint. Zu¬ 
gleich wird das Ich hypertrophiert und Größenideen bestimmen die 
Einstellung des Kranken. Nachdem der Versuch gemacht wird, mit 
der unzugänglich gewordenen Welt endgültig abzubrechen (Suizid), 
bricht die Tendenz durch, welche wir hier mit Freud wohl als Hei- 
lungstendenz bezeichnen können. Die Psyche strebt nach der ver¬ 
lorenen Welt zurück, kann sich aber nicht auf den ihr zugewiesenen 
Ausschnitt der Realität einschränken und versucht, die gesamte 
Wirklichkeit, „die Natur“, zu umspinnen. Das hypertrophierte Ich 
mißt sich bei dieser Herstellung des Kontaktes die überwiegende 

2 * 



20 


Rolle bei, es betrachtet sich als den alleinigen Vertreter der gesam¬ 
ten Wirklichkeit. Wenn nun der Kranke von sich als von dem 
Schöpfer der Welt spricht, so hat er nicht Unrecht insofern, als er die 
endopsychische Tatsache zum Ausdruck bringt; denn er hat sich tat¬ 
sächlich seine verloren gegangene Welt wieder erschaffen, er eignete 
sich gleichsam die ganze Welt an, welche für ihn früher nicht exi¬ 
stierte. Darum nennt er sich auch Besitzer und Vertreter der Natur. 
Die Wertbetonung wird von der Welt auf die Psyche verschoben, 
welche über die Realität göttliche Macht zu haben glaubt und sie 
nach ihrem Belieben zu ändern fähig ist. Dieser Gott rechnet nicht 
einmal mit der natürlichen gesetzmäßigen Weltordnung, er wähnt, 
die Tage kürzer machen zu können, ja sie gänzlich einzustellen. 
Seine göttlichen Attribute bekommen so magischen Charakter und er 
erinnert uns an die Zauberer der Primitiven. 

Wie in dem Kranken die ganze Kraft der Natur zum Ausdruck 
kommen soll, so wird seine Macht durch den kleinsten Tropfen seines 
Blutes, durch die Ausdünstung seines Körpers übermittelt und den 
Ungläubigen offenbart, welche nunmehr in einer Art Gemeinschaft 
seine Herrschaft anerkennen müssen. Wir wollen schon hier auf die 
Analogie dieser Denkweise mit der der Primitiven hinweisen. So 
wird berichtet von dem großen Dalai Lama in Lassa: Er wurde an¬ 
gebetet wie ein wirklicher und lebendiger Gott und man glaubte ihn 
siebenmal auferstanden. Er lebte zurückgezogen in seinem Palaste; 
seine Verehrer stritten sich um den kleinsten Teil seiner Ausscheidun¬ 
gen, welche sie verschluckten oder als Amulette am Halse trugen, 
da sie vor Krankheiten schützen sollten*). 


IV. Der amtliche Prophet 2 ). 

A u g u 8 t T., geboren 1862, kam im Mai 1919 nach Burghölzli. Heredität: 
Vater Trinker, jähzornig, an Tuberkulose gestorben. Ein Bruder und zwei 
Schwestern sollen geistig etwas abnorm sein. Zwei Schwestern an Lungen¬ 
tuberkulose gestorben. Schon 1895 soll er „übergeschnappt“ gewesen sein, 
fiel durch seine sonderbaren Ideen, sein verschrobenes Wesen, seine große 
Launenhaftigkeit auf. Seit einiger Zeit nannte er sich General oder Oberst, 
verlangte bisweilen Farben, um das Wetter zu ändern; er schöpfte Jauche in 


') Thevenot, Relation des divers voyages, IV. partie (Paris 1672). 
Zit. bei Frazer, The golden bough. 

’) Ich verdanke Herrn Professor Bleuler die Überlassung der Kranken¬ 
geschichte und Herrn Dr. Hans Steck, auf diesen Fall aufmerksam gemacht 
worden zu sein. 



21 


ein Gefäß und trank sie, auch geschah es, daß er eigene Fäzes knetete und aß. 
In der Anstalt erzählte er, er habe etwas gelernt und sei ein Genie in der 
Landwirtschaft. Drum sei er zwischen 1902 bis 1904 zum General — „über¬ 
haupt General“ — ernannt worden. Ein General muß aber alles können, 
bauern, Bchmieden, metzgen, backen, das könne der Patient alles. 

Die Jünglinge in Horgen, die alle hohe Leute, „Kulturen“, seien, die etwas 
tu verwalten hätten, hätten ihn zum General gemacht. 

Auf dem „Bocken“ bei Horgen sei es vorerst zu einem Krieg gekommen: 
das Wirtshaus dort sei von seinem Besitzer verteidigt worden; aber der General 
fiel mit seinen Jünglingen ein und eroberte das Haus; dann sei ihm das Diplom 
gegeben worden. In der Fastnacht habe man den Burenkrieg gespielt. Der 
General hat auch oft Versammlungen abgehalten, man sage ja „Generalversamm¬ 
lungen“. Er hielt Reden über die Begleitung der Landwirtschaft in das Jahr 
und KulturbearbeitungsVerschiedenheit. 

Als General kann er auch das Wetter machen, man muß 
nur je nachdem eine Farbe in die Hände nehmen: er muß mit jener Farbe vom 
Kopf bis zu den Füßen „parieren“! Wenn er eine blaue Farbe nimmt und 
..blau“ sagt, dann wird es schönes Wetter. Wenn es regnen soll, so nimmt er 
Lampenruß. Wenn er Winter will, so malt er sein stählernes Werkzeug weiß 
an, dann hat der Stahl eine Macht, gehört zu ihm wie das Wetter, welches 
erzeugt wird. 

Diese Künste liegen in seiner Natur. Auch Kranke, die gesund werden 
wollen, kann er gesund machen: er stellt dann zwei mit derselben Krankheit 
gegenüber, dann stoßen sie sich die Krankheit ab. 

Er ist ein Baumstock und mit dem Erdboden verbunden: deshalb trinkt er 
auch zeitweise Jauche, damit es umschlage auf der WieBe. Auch seinen Kot 
muß er manchmal essen zur „Durchbearbeitungsverwandlung“: das Wachstum 
wird dann befördert in Qualität und Quantität. 

Wenn T. sich vorstellt, daß eine Person, die er kennt, unter seinem Leib 
im Bette liegt, so kann er tatsächlich mit ihr reden, sie hören, die Person kann 
deutlich über Dinge reden, die schon längst vergangen. 

Geheiratet hat T. nicht, weil er seine Kraft auf die Arbeit verwenden 
wollte, statt damit eine „Portion Kind“ aufzustellen. In Amerika freilich hat 
er sich durch Geschlechtsverkehr verjüngt, durch einen persönlichen Entwurf 
durchs menschliche Geschlecht. Im Samen liegt nämlich das künftige Modell, 
der Entwurf einer gewünschten verjüngten Persönlichkeit. 

T. ist unerschütterlich überzeugt, daß er die Witterung kommandiere. Er 
verlangt von den Mitpatienten, daß sie abstimmen, was es für ein Wetter geben 
>olle. Er ist ein Magnet, der das Wetter anziehen kann. Er hat gefunden, es 
wäre besser, man ließe einmal alle Seen überfrieren, damit alles Ungeziefer zu¬ 
grunde gehe, dazu hätte er zuerst 20 cm Schnee schnell fallen lassen, — aber 
hier kann er das nicht machen. Man soll ihm einmal Kühe und Gummi geben, 
dann trägt er das auf dem Karton auf seinem Kopfe herum, dann gibt es Regen. 
Wenn er weiß und blau sieht, dann gibt es Schnee, wenn er schwarz sieht, dann 
regnet es, wenn er rot und gelb sieht, wird es schön; er hat das Wetter ge¬ 
macht, seit er aus Amerika zurtickkam. 

Es gibt offensive und defensive Leute, die schwarzhaarigen und braun¬ 
äugigen, die bringen Regen, wenn sie sich begatten, seine Natur bringt Feuer. 



22 


Wenn er grau und schwarz zusammenlegt, so wird der gegenwärtige 
Nebel nur noch schwerer; dreht er sich nach Nordwesten, dann gibt eB Schnee r 
der Schnee wird in Schweden und Norwegen fabriziert, dort sind die Blonden. 
In Rußland wird er abgekühlt, dann wird er je nach dem Druck zu una 
getrieben. 

Er hat die Naturen der anderen gegessen. (Natur?) Wenn sie ausge¬ 
mauert wären, eine Begattung trinken. (Samenflüssigkeit?) In ein Täschchen 
und das trinkt man. In Island hat er schon von manchem die Natur versucht, 
es ist etwas unappetitlich, keiner hat es so gut verleiden können, wie er. Man 
muß aufschneiden mit feinen Messern, in ein Täschchen ausstreichen, wenn er 
sterben will, nimmt er rasch die letzte Natur, das bekommt man in der Apo¬ 
theke. Die Generäle müssen seine Natur trinken, da¬ 
mit sie seine Ideen bekommen, sie wollen nur das Licht 
darin sehen. 

Manche Leute sind erfahren, sind durchsichtig. Sie sehen durch das 
Schicksal: es sind nicht alle Leute auf dieser Höhe. 

(Kot essen?) Das ist nichts Widerwärtiges, der Mensch hat 2 After, einen 
vorderen und einen hinteren, für Dickes und Dünnes. Er nimmt nur ganz, 
wenig Kot, nimmt bei einem Baume etwas Erde, vermischt das und schluckt; 
der Baum sieht das und dann trägt er sehr fruchtbar; er hat das schon oft 
erprobt. Andere Landwirte müssen dies auch machen 1 ). 

Einem Ledigen macht es gar nichts, er hat noch einen vollständigen 
Magen, die anderen haben einen schon abgeschwächten Magen. (Abnützung 
des Magens?) Ja, es muß doch bei jedem Kinde der Vater einen Teil von 
sich von jedem Organ abtreten. 

Es berührt den Patienten gar nicht, wenn bei seinem Wetterkommando 
das Gegenteil davon eintritt, was er prophezeit. 

Er ist selbst der Kalender, d. h. der beste Kalender der 
Schweiz. 

Eines Tages beobachtete man, wie T. sich wiederholt verbeugte und mit 
der rechten Hand den Fußboden berührte. Nach der Bedeutung dieses Zere¬ 
moniells befragt, antwortete er, das bedeute: der Vogel fliege in den Käse¬ 
kessel und in den Buttertrog. Der Vogel sei er. Zur Erklärung seiner An¬ 
gaben zeichnete er die bei der Butter und Käsebereitung gebrauchten Werk¬ 
zeuge und sagte, man müsse die Bewegungen dieser Beschäftigung lange genug 
wiederholen, dann verspüre man im Munde den Butter- und 
Käsegeschmack. Er empfahl diese Methode dem Arzt zur Nachahmung^ 

Auch sonst erklärte T., daß es für ihn genügte, sich die Sachen sehr 
intensiv vorzustellen, um das Gefühl zu haben, die 
Dinge tatsächlich zu besitzen. 

Eines Tages verlangte er ein Paar lange schwarze Strümpfe, damit er 
Regenwetter machen könne. Sobald es lange genug geregnet haben werde, 
will er alles frieren lassen, damit es eine gute Schlittenfahrt gebe. 

Dieser Mentalität entspricht ausgezeichnet, wenn der Patient 
einen seiner „Befehle“ unterzeichnet: amtlicher Prophet und General. 

*) hu Folclore spielt bekanntlich der Zusammenhang zwischen dem Ge¬ 
deihen eines Menschen und eines Baumes eine große Rolle. Siehe Bsp. bei 
Frazer, Le rameau d’or. vol. II, livre III, chap. III. 



23 


Der hohe theoretische Wert dieses Falles, welcher geradezu ein Paro- 
digma der primitiven Mentalität bietet, wird sich im Laufe der völ¬ 
kerpsychologischen Erörterungen des dritten Kapitels von selbst er¬ 
geben. 


V. Die schizophrenen Verfolgten. 

Wir beabsichtige^ hier in aller Kürze drei typische Fälle des 
schizophrenen Verfolgungswahns anzuführen, welche uns ein wert¬ 
volles Material zum Studium der schizophrenen Mentalität bieten 

werden. 

J e a n n e S., 33jährige Hausfrau, hatte schon immer einen schwierigen 
Charakter, vertrug sich mit ihren Bekannten nicht, war sehr eigensinnig, dis¬ 
kussionsunfähig. 

Nach der ersten Geburt äußerte sie zum ersten Male Verfolgungsideen 
gegen ihren Mann, beschuldigte ihn, mit einem Hunde zu verkehren, behauptete, 
sie wäre hypnotisiert und durch das elektrische Licht beeinflußt. Alsbald 
wurde sie von Eifersuchtsideen beherrscht, behauptete, der Mann betrüge sie 
mit seiner früheren Freundin, diese mache ihr Mitteilung davon durch 
Hypnotismus. 

Hypnotismus, erklärt die Patientin, ist Seelentherapie. Eines Nachts 
wurde sie plötzlich hypnotisiert und man sprach zu ihr „von innen“; sie war 
entsetzt, aber das Sprechen „von innen“ wiederholte sich und sie selbst lernte 
es bald, auf diese Art mit entfernten Personen zu verkehren. Sie hörte die 
Nachbarinnen sagen, ihr Mann sei verrückt, und sie wagte es nicht, in sein 
Bett zu gehen. Seit man mit ihr „von innen“ spricht, entzieht man ihr auch 
die Gedanken, man verändert sie nach Belieben und bewirkt so die feindliche 
Einstellung des Mannes ihr gegenüber. 

Es gibt Menschen, welche sich verdoppeln kön¬ 
nen; so konnte ihr die Freundin des Mannes in R. er¬ 
scheinen, während dieselbe Freundin zugleich in C. 
blieb. Die Patientin behauptet, das Geheimnis der Verdoppelung zu kennen, 
dieselbe hängt irgendwie mit unerlaubtem sexuellem Verkehr zusammen. Im 
übrigen könne man auch auf Entfernung geschlechtlich verkehren. Sie kann 
vor jemandem in natürlicher Weise (au naturel) stehen, wie sie jetzt vor dem 
Ante steht; sie kann aber auch durch den Gedanken vor andere gehen, sie 
wird dann hier bei dem Arzte bleiben, während sie zugleich bei den anderen 
lau suggectif) sein wird. . („Suggectif“ offenbar Verdichtung von suggestif und 
subjectif.) Ebenso ist die Freundin des Mannes zu ihr „au suggectif“ gekom¬ 
men. während sie „au naturel“ in C. blieb. Wenn man die Wahrheit sagt, 
»o kann man vor einer entfernten Person sein. Auch 
Gottes Geist ist überall, wir beten ihn in Wahrheit an. Wir 
alle haben das Blut Jesu in uns. 

Wir wollen besonders die letzteren Aufstellungen unserer Patien¬ 
tin festhalten, indem wir wiederum auf deren primitiven Charakter 
Hinweisen. In der Tat ist die Verdoppelung ein typisch m agi¬ 
les Attribut der Zauberer und Hexen aller Völker und Zeiten. 



24 


Anno 1221 sang, so wird berichtet, Johannes Teutonikus von Halber¬ 
stadt, Prediger und Zauberer, in einer Nacht gleichzeitig 3 Messen, in 
Halberstadt, Mainz und Köln 1 ). 

Eine reiche Ausbeute an magisch primitiven Gedankengängen 
bietet der folgende Fall. 

Julien T., ein 27jähriger Landarbeiter, Vater nervös, Mutter tuber¬ 
kulös, ein Vetter beging Selbstmord. Der Patient war in seinem Dorfe bekannt 
als ein intelligenter, gebildeter und braver Bursche. Er war, was seine intimen 
Angelegenheiten betraf, der Familie gegenüber verschlossen. Soll immer etwas 
eigenartig gewesen sein, hatte manchmal einen vagen Blick, hielt sonderbare 
Reden. 

Im Sommer 1918 starb sein Dienstherr und bald darauf merkte er, daß er 
in dessen Witwe verliebt sei. Bei Lebzeiten des Mannes hatte er es nicht 
gewagt, sich sein Gefühl einzugestehen, seine Anständigkeit verbot ihm irgend¬ 
welche diesbezügliche Projekte zu machen. Auch jetzt hatte er keinen Mut, 
der Geliebten, von seinen Gefühlen zu sprechen. Er dachte an den Vermögens¬ 
unterschied, der zwischen ihnen einen Distanz bildete und verließ seine Stelle, 
um sich- nicht noch mehr zu binden. Im übrigen glaubte er, sie habe seine 
Liebe bemerkt. Er war Frauen gegenüber schon immer schüchtern gewesen. 

Eines Tages traf er sie und sie bedeutete ihm, er solle sie aufsuchen, indem 
sie ihm beim Fortgehen „au revoir“ sagte. Kurz darauf ging er zu ihr und 
merkte, daß man ihn vor ihr verleumdet hatte, sie empfing ihn schlecht, be¬ 
schimpfte ihn und hieß ihn fortgehen. 

Drei Monate später (September) erfuhr er, daß ein Bekannter von ihm, 
ein gewisser M., um die Hand der Geliebten angehalten habe, diese Nachricht 
,.ging ihm im Kopfe herum“, er mußte fort daran denken. 

Anfangs November hörte er eines Abends die Stimme des Schwagers der 
Geliebten: „man wird ihn dir mit Gewalt geben“. Dies bedeutete, man werde 
die Frau Z. mit Gewalt mit M. verheiraten, trotz ihres Widerstandes. Dieser 
Stimme antwortete die Stimme von Frau C., welche sagte: ... „Ich will den 
anderen nicht, er brauchte Julien nicht zu verleumden, um seinen Platz ein¬ 
zunehmen“. 

Am nächsten Abend hörte Julien schreien. Es war Frau C., welche sich 
gegen das ihr aufgezwungene Heiratsprojekt wehrte: ... „Nein, ich will 
nicht.“ Daraufhin verläßt er das Bett und geht nach dem Dorfe der Frau C. 
Im Walde hört er fortwährend schreien, sein Rivale M. und 2 Unbekannte er¬ 
klären: ... „er wird schon Prügel kriegen dafür, daß er uns verfolgt.“ Er 
kehrt heim und holt sein Gewehr, um sich gegen den eventuellen Angriff zu 
schützen. Zum Zweitenmal geht er in der Nacht aus, hört wieder die Stim¬ 
men, unter anderem sagen die drei Männer: ... „will sie nicht, dann werfen 
wir sie nieder.“ Dies bedeutet für ihn, daß man Frau C. vergewaltigen will. 
Er findet Niemanden, kehrt wieder heim, hört wieder schreien und geht zum 
dritten Male aus. So brachte er die ganze Nacht zu. 

In der Früh, während er über das Geschehene nachdachte, glaubte er, dies 
alles käme von seinen Gedanken, seiner erregten Imagination: „Es ist diese fixe 


*) Hubert u. Mauss, Theorie g6n£rale de la magie. Ann6e sociolo- 
gique VII, 1904, p. 29. 




25 


Idee, die ich hatte ..ich werde sie doch bekommen ..., welche mich so weit 
brachte,“ meinte er. Während er halluzinierte, zweifelte er nicht im Geringsten 
an der Objektivität und Realität des Erlebten. 

Der Patient beruhigte sich rasch, versprach, sich um Frau C. nicht mehr 
iu kümmern und konnte nach einem Monat aus der Anstalt entlassen werden. 

Nach einigen Wochen kam er wieder, draußen war es nur 15 Tage gut 
gegangen, dann halluzinierte er nachts ähnliche Szenen wie das erstemal. 
Auch am Tage hörte er Stimmen an der Stirn und im Herzen, er antwortete in 
Gedanken. Man zwängt ihm den Kopf mit Zangen ein, man wärmt seinen Kör¬ 
per und kühlt ihn wieder ab, auch macht man ihm Bauchweh, welches anders 
ist, als die gewöhnlichen Bauchschmerzen. Auch andere scheinbar natürliche 
Erscheinungen sind ihrer Herkunft nach durchaus unnatürlich. So läßt man 
ihn bei der Arbeit, dem Kartoffelschälen, das Messer aus der Hand fallen. 
Man zeigt ihm allerlei Lichtbilder, bekannte Orte, Menschen, auch sein Ver¬ 
folger selbst zeigt sich im Bilde. 

Frau C. spielt in diesem zweiten scheinbar endgültigen Teile des Delirs 
eine ganz sekundäre Rolle. Der Hauptverfolger ist männlich, es ist dies der 
Oberamtsmann, welcher die Internierung des gefährlich gewordenen Kranken 
veranlaßte. Im Zusammenhänge mit dieser Personenänderung ändert sich auch 
das Leitmotiv des Wahns. Es ist nicht mehr die heterosexuelle Erotik, son¬ 
dern die homosexuelle Triebkomponente, welche die wesentliche Rolle spielt. 

Die Halluzinationen nehmen allmählich einen spezifisch homosexuellen 
Charakter an. Zunächst sind es bloße Parästhesien, welche sich um den Anus 
herum konzentrieren, dieser wird elektrisiert, eingezwängt usw. Bald objekti¬ 
viert sich die Verfolgung in konkreten plastischen Erlebnissen. Der Verfolger 
erscheint im Koitus mit einem von ihm ebenfalls verfolgten Opfer begriffen. 
Ein anderes Mal versucht er den Kranken selbst zu päderastieren; Julien, ge¬ 
quält, schildert, wie der Penis des Verfolgers in seinen Anus hineindringt, 
er fühlt dies mit großer Deutlichkeit. „Dieser Hund“ läßt ihm keine Ruhe und 
der Unglückliche protestiert empört, er sei doch kein Rezeptionsapparat. 

Diese Verfolgungen spielen sich alle auf Distanz ab. Der Verfol¬ 
gerbleibt in seinem Amtsorte, während er zugleich 
von der Person des Kranken Besitz ergreift. Er dringt 
in Julien hinein, breitet sich in seinem Innern aus. Auf welchem Wege kommt 
dies zustande? Schon im dreizehnten Lebensjahre hatte ihn der Verfolger mit 
Magnesium vergiftet, dieses verblieb in seinem Blute und gibt ihn nun dem 
Unbarmherzigen preis. Ein anderes Mal spricht Julien von Quecksilber, Elek¬ 
trizität, Gedankenevolution, Gedankenübertragung; offenbar spielt für ihn das 
Substrat der Kraft, welcher er sich ausgesetzt wähnt, keine wichtige Rolle, er 
macht sich von ihm keine bestimmte Vorstellung. Die Kraft selbst 
wird geistig-materiell gedacht und dem Lebensprin¬ 
zipgleichgestellt. ... „Das ist der Geist, der Gedanke, das Lebens¬ 
prinzip, das Blut, welche übertragen werden, es ist das Wesen (Tetre) selbst...“ 
Kann der Verfolger über ihn eine solche Macht erlangen, so liegt es daran, daß 
er mehr „Magnesismus“ als Julien hat. Würde er, der Kranke, mehr „Magne¬ 
sismus“ haben, dann könnte nun er den Stärkeren spielen und seinen Verfolger 
..nehmen“, wie er jetzt von ihm genommen wird. 

Der homosexuellen Komponente gelang es nicht, die heterosexuelle end¬ 
gültig zu verdrängen. In dem Delir unseres Kranken spielen sie oft durch- 



26 


einander und geben seinem halluzinatorischen Erleben ein besonderes Gepräge. 
Der Verfolger greift ihn an, begleitet von seiner Frau und von des Kranken 
früherer Liebe, Frau C. Auch diese Personen bemächtigen sich seines Kör¬ 
pers zu sexuellen Zwecken. Nachts kommen die Frauen zu ihm und verlangen, 
er solle mit Ihnen verkehren, und leider muß er nachgeben; er fühlt ganz deut¬ 
lich die Vagina der Frau ... in Gedanken ... und dennoch ist sie da; eB 
kommt zur Ejakulation und Julien will nichts von Masturbation wissen, ob- 
schon er sein Membrum gegen das Leintuch frottierte; er will dabei keine 
Wollust gefühlt haben. 

Auch die Frauen dringen in ihn durch Gedankenübertragung ein. 

Die beiden sexuellen Komponenten kombinieren sich zu obszönen und 
quälenden Szenen; so päderastiert den Kranken der Verfolger, während zu 
gleicher Zeit die Frau an ihm, dem Kranken, die fellatio ausübt. 

Der Kranke schreibt seinem Verfolger die Tatsache zu, daß er 
bei seinem letzten Geschlechtsverkehr im Intervall zwischen seinen 
zwei Internierungen nur wenig potent war und ungenügende Befrie¬ 
digung hatte. Diese Angabe scheint einen wichtigen psychischen 
Tatbestand zu versinnbildlichen. In der Tat wurde der heterosexuelle 
Trieb durch den homosexuellen, welcher sich mit großer Gewalt vor¬ 
drängte, übertönt. Danach ist es sehr verständlich, wenn für Julien 
die normale sexuelle Befriedigung den Reiz verlor. Der Kampf und 
das Durcheinanderspielen der beiden Triebkomponenten machen den 
Inhalt dieses Delirs aus. Folgende Angabe des Patienten objektiviert 
diesen Tatbestand: Der Verfolger täuscht ihn durch Frauen, d. h. 
der Patient glaubt eine Frau vor sich zu haben, welche von ihm den 
Koitus verlangt, bald aber überzeugt er sich, daß es in Wirklielikeit 
der Verfolger ist. welcher wie gewöhnlich ebenfalls mit sexuellen Ab¬ 
sichten kommt. Das Delir zerfällt naturgemäß in zwei verschiedene 
Phasen. Zunächst wird das homosexuelle durch das heterosexuelle 
verdeckt, der Patient erscheint alsein persecuteur amoureux persecute. 
Raid aber bricht das Homosexuelle gewaltsam durch und wird an 
die dem Kranken historisch gegebene Persönlichkeit des Beamten 
geknüpft, welcher seine Internierung veranlaßte. 

Somit scheint dieser Fall Freuds Auffassung des paranoiden 
Verfolgungswahnes zu bestätigen und ist in seiner historischen 
Struktur dem von ihm veröffentlichten analog’ ». 

Die Formen, in welchen sich hier die Verfolgung bestätigt, ent¬ 
stammen der primitiven Mentalität und werden uns als solche im 
dritten Kapitel beschäftigen. 


1 F r e u J . Ein der psxvh a'-Alyii-ehen Theorie s-.E-irbu widerspre¬ 
chen der Fi’.' v n l'irir. ia. Kleine Schriften. IV. F-.dce. Rellex. WUti. if*ls. 



27 


Jean L 38jähriger Landwirt. Von der Heredität bekannt, daß der 
Vater sowie dessen Brüder getrunken haben. Der Patient wird in die Anstalt 
gebracht, weil er drohte, seine Mutter zu töten und das Haus anzuzünden. 
Seit einem Monat arbeitet er nichts und trinkt viel. Die Mutter berichtet, der 
Patient sei seit einigen Jahren, angeblich nach einer unglücklichen Liebes¬ 
geschichte, düster und mißtrauisch geworden, auch begann er seither zu trin¬ 
ken. Seit einigen Monaten hört er Stimmen, liest religiöse Bücher. Blieb drei 
Tage zu Bett, wollte nichts essen, um, wie er sagte, Buße zu tun. Er erklärte, 
er wolle die ganze Menschheit durch Feuer vernichten, sie sei nichts mehr 
wert. Glaubte, man reiße ihm das Gehirn aus, spürte elektrische Ströme und 
legte die Bibel auf den Kopf, um sich vor ihnen zu schützen. Erzählte, ein 
gewisser K., Pensionär bei der Mutter des Patienten, könne magische 
Kunststücke machen. K. könne den Kasten ohne Schlüssel mit einem 
bloßen Wink öffnen, er zeigte dem Patienten seine Geliebte nackt. 

Jean erzählt uns, man habe ihn mit elektrischen Strömen bearbeitet, man 
habe es durch optische Linsen gemacht, welche den Strom gegen ihn konzen¬ 
trierten. Auf seinem Wege riefen die Dorfkinder: „Er leuchtet“. Alle seine 
Worte und Gedanken wurden im ganzen Dorfe wiederholt. Er bat seine 
Mutter um Aufklärung, aber auch sie arbeitete gegen ihn. Sie glaubt, er habe 
sieben Dämonen in seinem Geiste, er sei besessen. Er 
konnte mit verschiedenen Personen auf Entfernung sprechen. Seine Verfolger 
müssen ein Seraphinenbuch haben, daraus entnehmen sie ihre magischen 
Kunststücke. Sein Schwager, mit dem Jean von einem' Mädchen sprach, ging 
in eine Zimmerecke, faltete eine Zeitung zusammen nach den sieben Büchern 
Moses, machte so Verbindungen, Ströme, welche auf Sonne und Mond über¬ 
gingen. Auf diese Weise konnte sich der Schwager an Stelle eines Mannes 
setzen, welcher mit einem Mädchen nicht verkehren kann .... er profitiert von 
dem Sperma eines anderen, er verkehrt mit dem Mädchen, aber ein Geist ist 
noch zwischen den beiden. 

Der Bruder, die Mutter des Patienten, arbeiten gegen ihn, dies gab einen 
riesigen Strom, welcher die Lampe zum Auslöschen brachte. Seine Mutter gab 
ihm Hüte, welche eine enorme Macht über ihn hatten, er verlor den Kopf, än¬ 
derte seine Gedanken. 

Der Patient erzählt, er könne alles, was er sich vorstellt, auf 
der Photographie sehen. Es genügt, daß er daran 
denkt 

Jean überträgt seine mißtrauische Einstellung auf die Anstaltsumgebung 
und sieht in allen Personen gefährliche Verfolger und Träger der magischen 
zauberischen Einflüsse, welchen er sich ausgesetzt wähnt. 

Man reißt ihm seine Organe aus, um sie dann wieder an Ort und Stelle 
zu setzen, besonders „arbeitet“ man an seinem Gehirn, Herzen und Genitale. 
Man macht ihm Transformationen, man entzieht Fäden aus seinem Kopf und 
Penis, um daran zu „arbeiten“. Ebenso entnimmt man ihm Gedanken; der 
Arzt hat zu diesem Zwecke besondere Maschinen, welche hauptsächlich das 
Blut bearbeiten. Es sind dies Röntgenstrahlen, eine Maschine, welche elek 
trische Kräfte einzieht, eine andere, welche sie ausschickt. Man saugt ihm 
das Blut aus, alle Wärter sind Blutsauger, er fühlt das Blut hinauf- und herun¬ 
tergehen, sein Puls steht still, sein Herz hört auf zu klopfen. Er ist umgeben 
von Murmonen, die ihm Kraft, Blut und Geist entziehen. 



Er hört viele Stimmen, die immer neue „Schuftereien“ ankündigen, man 
will seine Person beschmutzen. Die Stimmen bringen die Mutter des Patienten 
in Zusammenhang mit dem elektrischen Fluid, auch sagt man: ...„die Mut¬ 
ter wird zum Manne, Jean zur Frau“. Die Unterwäsche, die 
er abends ablegt, reist in der Nacht herum und wechselt den Besitzer; in der 
Früh sieht er dann verdächtige Flecke darauf, was ebenfalls auf Zauberei hin¬ 
deutet. Jede Personenänderung, welche in seinem Schlafsaal vorgenommen 
wird, jeder neue Nachbar, welchen man zuführt, alle beeinflussen ungünstig 
seinen Körper und entziehen ihm seine Kräfte. Man bindet ihn an einen 
Leibstuhl, um 6eine Gedärme umzutauschen und er erklärt uns, er habe genug 
von diesen sodomistischen Maßnahmen. 

Sein Gedanke flotiert in der Luft herum, ,4a pen- 
s 6 e voyage, somnambule“. Man will ihn durch den Geist töten. 
Man dringt in seinen Geist ein und fordert seinen Geist, seinen Kopf, seine 
Glieder, „durch den Geist Judiths fordere ich den Geist von Jean Baptist“..., 
so hört er reden. Sein Körper ist voll Geister. Der Geist kann vom 
Leib getrennt denselben überleben, Geist ist auch 
Blut. 

Die Wege, aul welchen unser Patient geplagt wird, sind für die logische 
Denkweise unerwartet, um so geläufiger aber der primitiven Mentalität. Er 
verweigert es, den Urin in ein Glas zu lassen, denn ... „er weiß nicht, was 
daran versucht werden könnte“... (Je ne sais pas ce qu’on pourrait tentef 
lä dessus“.) Ebenso will er keinen Brief schreiben, weil man an jeder 
Silbe Magie treiben könnte. Auch seine Worte werden zu magi¬ 
schen Zwecken aufgefangen. Ein Mitpatient spielt mit einer optischen Linse; 
die Strahlen gehen nach unserem Kranken hin und „ziehen an seinem Körper“. 
Ein Wärter hält einen Becher mit Limonade in Händen; diese geheimnisvolle 
Flüssigkeit wirkt auf Jean in magischer Weise. 

Isoliert, hört Jean, daß die Ärzte mit seinem Geist lukrative Geschäfte 
machen, man arbeitet am heiligen Geiste, man entzieht ihn dem Patienten. 


VI. Die schizophrene Wahrsagung. 

Alphonse C. Ein 45jähriger Landwirt. Vater schwerblütig, über¬ 
empfindlich, er lernte erst mit 6 Jahren sprechen, heiratete mit 52 Jahren eine 
23jährige. Seine Mutter hat einen absonderlichen Charakter, ist auffallend 
geizig, kümmert sich nur um den Viehstall, läßt aber die Wohnung in größtem 
Schmutz; den Sohn läßt sie im Stalle weilen, um Heizmaterial zu ersparen. 
Eine Schwester des Patienten ist Idiotin, eine andere Schwester führt einen 
unsteten, Vaganten Lebenswandel. 

Der Patient lernte, wie sein Vater, erst mit sechs Jahren sprechen, war 
kein sehr guter Schüler. Als Charakter ruhig, schüchtern, gütig. Mit 21 Jahren 
mußte er eine Nacht im Hause seiner Tante zubringen. Als man ihn daraufhin 
neckte und meinte, er habe wohl mit seiner Tante geschlafen, fiel er ob des 
großen Eindruckes, welchen dieser scherzhafte Verdacht auf ihn machte, in 
Ohnmacht. Frauen gegenüber war er immer sehr schüchtern. Er wünschte 
sich sehr, zu heiraten, wagte aber nicht selbst, die dazu notwendigen Schritte 
einzuleiten, Frauen den Hof zu machen, und mußte von der Schwester dazu 



— 29 


geführt werden. Im Sommer vor der Internierung verlobte er sich, doch zer¬ 
schlug sich die Sache vor allem wegen des feindlichen Charakters seiner 
Mutter. 

Die Psychose brach plötzlich aus. Der Patient glaubte, der Pfarrer 
zwinge ihn, zu heiraten, sah schlimme Vorboten, welche ihm vieL 
Kopfzerbrechen machten. Eines Tages brach ein Schaf in das 
Gehöft unseres Kranken ein und tötete eines seiner 
Schafe. Darin sah der Patient ein Vorzeichen des 
Todes, und in der Tat, kurz darauf starb ein Sohn seiner Kusine. 

Der Hahn des Nachbars kämpfte mit einem Hahn 
des Patienten und besiegte ihn. Das bedeutet, daß in 
dem Kampf zwischen Alphonse und einem früheren 
Freunde seiner Braut der letztere Sieger bleiben 
wird. 

Dieser große Hahn stellt auch Kaiser Wilhelm dar. Ein kleiner Knabe 
im* Dorfe sollte auch den Kaiser Wilhelm darstellen. Letzterer sollte im Äro- 
plan kommen, den Knaben zu holen. Der Knabe hat schon Ähnlichkeit mit 
dem Kaiser, er ist rothaarig und untersetzt. 

Die Revolution sollte ausbrechen. Wäre es ihm nicht gelun¬ 
gen, die Düngergrube auszuleeren, dann wäre sie 
sicher ausgebrochen; da es ihm aber gelungen ist, 
kommt die Revolution nicht. 

Diese Vorboten sieht er erst seit einigen Tagen. Früher ist ihm etwas 
ähnliches nie eingefallen, er glaubte nicht an schlechte oder gute Vorzeichen, 
machte sich nichts daraus, wenn eine schwarze Katze seinen Weg kreuzte. 
Nachts war er in der Gewalt der Amerikaner. Diese Amerikaner waren zwei 
Herren, welche er am Tage in einem Automobil, mit amerikanischen Über¬ 
ziehern bekleidet, gesehen hatte. Die Amerikaner warfen ihn ins Meer, wollten, 
nachdem sie nach Amerika zurückgekehrt und in Europa gekämpft hatten, 
nicht mehr in die Schweiz zurtickkommen. 

In einem Kaffeehaus bekam er roten Wein. Beim Herausgehen sah er, 
daß das Lokal „Zur Krone“ hieß; dies alles erschien ihm höchst auffällig, auch 
dies bedeutete die Revolution. 

Seine Kuh sollte den Deutschen ausgeliefert werden. Aus diesem Grund 
führte er sie eines Tages vor eine Ferme, welche von Deutschen bewohnt wurde. 
Dann führte er sie wieder heim. Späterhin versprach er sie einem gewissen 
Pfeifer in Vevey, auch einem Deutschen. 

In seinem Schlafsaal sieht der Kranke allerlei sonderbare Dinge. Man 
führt ganze Szenen auf. Es sind Vertreter verschiedener Länder da: ein klei¬ 
ner Deutscher, ein Vertreter Amerikas, ein Vertreter der Schweiz. In einem 
Bilde, d.as einen alten Weber darstellt, erkennt er den Kaiser Wilhelm, in 
einem andern sieht er Alphonse XIII. 

Die Bedeutungsbewußtheiten unseres Patienten waren mit einem Schlage 
da, sie schienen ihm selbstverständlich und erregten nicht im geringsten sein 
Erstaunen. Seine durch die Psychose gesetzte immense Eigenbezie¬ 
hung schuf die Bewußtheiten, welche zwischen äuße¬ 
ren Ereignissen und seiner Persönlichkeit unerwar¬ 
tete und unbegründete Zusammenhänge aufbaute n. 



30 


Diese Eigenbeziehung des Patienten ließ ihn die Geschichte vom mit 
Salz beladenen Esel 1 ), welche wir ihm zum Lesen anboten, gänzlich auf Bich 
beziehen. Mit ihm sei nichts Derartiges passiert. Er sei nie ohne Hosen 
durch den Fluß gegangen, er habe sich nie ins Wasser gelegt. Er sei immer 
den rechten Weg gegangen. 


VII. Die schizophrenen Philosophen. 

Gustav M. entwickelt abenteuerliche „naturwissenschaftliche und 
metaphysische“ Anschauungen. „. . . Wie wird das Ding genannt, wo das 
Luftatom mit den Keimen der Menschheit eine Konsistenz gefunden hat, um 
das menschliche Geschlecht zu formen? . . . Wüßte man die Antwort auf 
diese Frage, dann würde man auch mit einem Schlage die Entstehung der 
verschiedenen Menschentypen erklären können. So z. B. die Atome, die im 
Wasser Konsistenz genommen haben, den Ursprung der Kropfträger bilden, 
die Atome, die ihre Konsistenz auf den Felsen genommen haben, formen den 
grob geschliffenen Gebirgsmann“ usw. usw. 

Auch hat er seine Anschauungen über die Geisteskrankheiten. Er selbst 
leidet an „systematischer Atrophie“. „Die Substantion, Konstantion d’aero- 
gene, welche auf das Protoplasma wirkt, das ist die Sonne“. „Die Plethore“ 
besteht in allem, was existiert; sie kann sich in unbestimmten Perioden ändern. 
Er ist die Plethore des Gebirges von Auvergne, er ist gebaut aus vergaster 
Sonne. Man sieht auch die Plethore Protoplasma: das ist das Substanzinum 
der Schöpfung; durch dieses Gefühl kann man die Determination (Bestim¬ 
mung?) des Tier- und Pflanzenreiches vornehmen . . .; er ist vulkanisch, er 
ist aus Zellulose im Prinzip und wenn er nicht die nötige Quantität Wasser 
bekommen hätte, würde er explodiert sein wie eine Bombe. 

Ein anderes Mal besteht unser Philosoph aus Stein und Methan (Gas). 
In der Mitte seines Leibes befindet sich aber eine besondere Substanz, das 
„Zellulosepigment“. Dies explodiert beim Kontakt mit Wasser und da Gustavs 
Leib bei den allwöchentlichen Duschen vom Wasser durchdrungen wird, 
welches immer tiefer hineindringt, wird es eines Tages eine große Explosion 
geben, Gustav wird zerstört werden, was ihn im übrigen nicht im geringsten 
beunruhigt. . . . „Stein“ ist Wolke, das ist ein Kubikdezimeter ... er besteht 
aus Stein, da die Individuen wie jede Stelle in der Natur sind. 

Gegenwärtig befaßt sich unser Philosoph mit dem Problem des Welt¬ 
zentrums; denn dieses existiert, versichert er uns in liebenswürdigster Weise, 
und das ganze Chaos, an dem heute die Welt leidet, ist nichts anderes, als 
das Suchen nach diesem Mittelpunkt, nach dem alle Dinge streben. 

Als Übergang zu unseren nachfolgenden theoretischen Über¬ 
legungen will ich noch in aller Kürze an S c h i 1 d e r s‘) Fall G. R. er¬ 
innern, der wegen der hohen Differenziertheit des Kranken und seines 
Wahnsystems ein besonderes Interesse bietet. 


') Angeführt in Bleulers Lehrbuch, I. Auflage, Seite 180. 

*) Schilder: Wahn und Erkenntnis. Springer, Berlin 1918. 



31 


6. R., lange Zeit von philosophischen Zweifeln geplagt und nach einer 
Weltanschauung ringend, erfährt plötzlich das Erlebnis der Einsicht in den 
Weltsusammenhang. 

Er formt weltumfassende Theorien, so stellt er Gleichungen auf: Ver¬ 
einigung von Energie und Liebe = Zusammenarbeiten der Materie und des 
ithers = naturwissenschaftliche monistische Theorie nach Maxwell. Wie er 
sich dabei von aller Disziplin des auf die Wirklichkeit gerichteten Denkens be¬ 
freit und sich selbst überlassen, der Willkür anheimfällt, dies typische Ver¬ 
halten illustrieren am besten seine eigenen Worte: . . Das eigentliche 

Wesen der reinen Psychologie besteht darin, daß jeder Mensch seine eigenen 
Gedanken hat. Infolgedessen kann an und für sich jeder Mensch alle anderen 
Menschen für wahnsinnig erklären, das soll heißen anders denkend 
als er . . .“ 

Die Psychose dieses Kranken, insbesondere seine plötzliche Ein¬ 
sicht in den Weltzusammenhang, sieht mit eigentümlichen Hellig¬ 
keitserscheinungen im Zusammenhang. Später erlebt er die Hallu¬ 
zination der Welteinigkeit, wie er das Phänomen selbst benennt. 
Diese Halluzination, ich zitiere fast wörtlich nach Schilder, bil¬ 
det die Krönung der Psychose, so wie der ihr entsprechende Vor¬ 
stellungsprozeß des kosmischen Erfassens das Endziel der Strebun¬ 
gen des Kranken ist, der zu ihm auf dem Wege der Überwindung 
des philosophischen und religiösen Zweifels gelangte. 

So ist dieser Fall ein klassisches Beispiel des pathologischen 
Kampfes um die Weltanschauung und stellt die Erkrankung an der 
Zuwendung zur Welt dar. Das vom Kranken gebildete Weltsystem 
gestaltet sich absonderlich und in begrifflicher Hinsicht vollständig 
unzulänglich, was daran liegt, daß er in seiner Arbeit nicht mehr 
genügend von den objektiven Zusammenhängen gerichtet und be¬ 
stimmt wird. So kann er auch mit Leichtigkeit den Gesetzen des 
logischen Denkens entschlüpfen, die ja Normen sind, welche sich im 
Laufe der Wechselwirkung und des Zusammenarbeitens der Psyche 
mit der Welt ausgebildet haben und so notwendigerweise überindivi¬ 
duell, jeder richtigen, das heißt zur Wirklichkeit führenden Erkennt¬ 
nis, irgendwie immanent sein müssen. 



II. Kapitel. 

Theoretisch-Psychopathologisches. 

Die kurzen Bemerkungen über den zuletzt erwähnten Fall 
Schilders, G. R., sind geeignet, zu unseren theoretischen Aus¬ 
führungen überzuleiten. 

Wir haben bei ihm in typischer Weise gesehen, wie stark die 
Wahrnehmung von der Art der Einstellung zu Objekten beeinflußt 
wird. Seine Halluzination der Welteinigkeit ist ein direkter Ausdruck 
seiner Zuwendung zur Welt, die Helligkeitserscheinung, die mit der 
Einsicht in den Weltzusammenhang einhergeht, ist, wie es Schil¬ 
der in Husserls Terminologie ausdrückt, das noematische Kor¬ 
relat des subjektiven Phänomens des vollen Erfassens der Zu¬ 
sammenhänge. 

„Es ist der sinnbildliche Ausdruck für die Klarheit des Ein¬ 
sehens, daß die Welt in einem helleren Lichte erstrahlt.“ 

Die pathologische Erfahrung schafft sich hier gleichsam ihren 
Gegenstand, der für sie ebenso vollwertig ist, wie der allgemein und 
objektiv gegebene Gegenstand für die Erfahrung des Normalen. 

Wir kommen hier zum Problem der normalen und pathologischen 
Wahrnehmung. Diese ist uns der Akt, in dem das Subjekt einen 
Gegenstand in anschaulicher Weise erfaßt, sei dieser Gegenstand von 
vornherein gegeben oder vom Subjekt selbst erschaffen. So wird uns 
die Wahrnehmung zu einem Kardinalproblem, indem sie die beiden 
Elemente unserer Grundrelation Psyche-Welt in engste Beziehung 
zueinander bringt. 

Wenn jeder Normale die gewöhnlichen Umgangsobjekte in glei¬ 
cher Weise wahrnimmt, so geschieht es, weil seine Psyche mit ihnen 
gleiche Verbindungen eingeht, sich an ihnen in gleicher Weise be¬ 
tätigt oder betätigen kann. 

In den bisherigen Theorien der Wahrnehmung hat man es* still¬ 
schweigend angenommen, daß ihre Grundlage und ihr Endzweck 
theoretisch seien, eine Voraussetzung, deren Unhaltbarkeit mit aller 
wünschenswerten Klarheit erst von B e r g s o n erwiesen wurde. Der 
Sinn und Zweck der Wahrnehmung ist praktisch, sie dient zur Orien¬ 
tierung des Organismus in der Außenwelt, sie zeigt ihm die Möglich- 



33 


keit, seine Bedürfnisse zu befriedigen resp. diese Befriedigung vor- 
«bereiten. So können wir die Wahrnehmung am besten verstehen, 
wenn wir zunächst dien rein psychologischen Standpunkt verlassen 
and uns auf den biologischen stellen. 

Bei dem einfachsten Organismus, etwa einer Amöbe, folgt auf 
jeden äußeren Reiz unmittelbar die Bewegung, „Wahrnehmung und 
Bewegung fallen zusammen in einer Eigenschaft, der Kontraktili¬ 
tät“ 1 ). In diesem Sinne können wir auch sagen, die Amöbe unter¬ 
scheidet sich selbst nicht von der äußeren Welt, sie nimmt nicht 
wahr, weil sie immer reagiert. Die Subjekt-Objektspaltung existiert 
noch nicht, der Organismus und seine Umgebung, seine In- und Um¬ 
welt fallen zusammen. Diese primitive Einheit beginnt sich zu spal¬ 
ten, sobald der Organismus die Möglichkeit bekommt, auf Reize nicht 
sofort zu reagieren, sondern die Reaktion aufzuschieben und schlie߬ 
lich, als Endziel der langen Entwicklung, in Anlehnung an frühere 
Erfahrungen, die Art der Reaktion zu wählen. 

So scheidet sich immer mehr das Subjekt von seiner Umgebung, 
seiner Welt, es formt sich zugleich mit dem Objekt, so daß es nicht 
angeht, zu sagen, „die Vorstellung der materiellen Welt sei subjek¬ 
tiv, relativ und sozusagen von uns ausgegangen, statt daß wir viel¬ 
mehr uns zuerst von ihr geschieden haben“ 1 ). 

In der ursprünglichen Kontinuität der Welt schneidet unsere 
Aktivität Objekte aus, welchen sie einen abstrakten, leeren Raum 
unterlegt. 

... „Die Wahrnehmung der Objekte ist das Maß unserer mög¬ 
lichen Wirkung auf dieselben und dadurch umgekehrt ihrer Wirkung 
auf uns“ 1 ). So sind wir in der Wahrnehmung in unmittelbarem Kon¬ 
takt mit den Objekten und konstruieren nicht erst unsere Wahrneh¬ 
mung aus subjektiven, nicht ausgedehnten, rein qualitativen und rela¬ 
tiven Empfindungen. 

Der Unterschied zwischen der reinen Wahrnehmung (perception 
pure) und Stoff ist kein wesentlicher, er ist bloß ein gradueller, indem 
die Wahrnehmung uns einen Teil, eine Seite des Objektes, präsentiert 
und zwar den Teil, die Seite, die uns interessiert, die für unsere 
Aktivität in Betracht kommt. „Die Aktualität unserer Wahrnehmung 


*) Henri Bergson: Mattere et Memoire. 14. 6. Alcan, Paris 1919, 
p. 46. 

*) B e r g-s o n 1. c. p. 44—45. 

*) B e r g 8 o n 1. c. p. 48. 

Bychowski, Metaphysik nnd Schizophrenie. (Abhandl. H. 21.) 3 



34 


besteht also in ihrer Aktivität, in den Bewegungen, die sie fortsetzen, 
nicht aber in ihrer größeren Intensität“ 1 ). 

t 

Wenn so die „reine Wahrnehmung“ gleichsam ein Teil der 
Objekte selbst ist, so sind wir mit einem Schlage der alten Frage¬ 
stellung enthoben, die in der Möglichkeit des Subjektes, die Welt 
wahrzunehmen und sie vorzustellen, das Hauptproblem sah. Wir 
staunen nicht mehr über den seit jeher geheimnisvollen Übergang, 
den unser Erkennen zwischen den subjektiven inneren Zuständen 
und der objektiven Realität postulierte, wir laufen nicht mehr Ge¬ 
fahr, mit gewissen Philosophen die Welt als unsere bloße Vorstellung 
anzusehen. So verschwindet auch für uns der Abgrund zwischen der 
objektiven Welt der qualitätslosen Atome, wie sie von dem Materia¬ 
lismus gelehrt wird und der Wahrnehmung, die erst diese graue Welt 
mit ihren Qualitäten ausstatten soll. Wir erkennen in diesen Auf¬ 
fassungen, die jedes moderne Denken vor unlösbare Antinomien ge¬ 
führt haben, die konsequente und unabwendbare Folge unseres dis¬ 
kursiven, abstrahierenden Verstandes, der, ein Instrument des prak¬ 
tischen Lebens und auf Praxis bedacht, in jeder Kontinuität Tren¬ 
nungen und Unterscheidungen vornimmt, Dinge von ihren Wirkungen 
und Qualitäten trennt, ebenso wie er die Distanz zwischen dem Ich 
und der Welt ausbaut. Man denke nur an die von Jedem empfundene 
große Schwierigkeit, sich die Gravitationskraft vorzustellen, träge 
Massen in ihrer riesigen Kraftentfaltung und Wirkung*). Man denke 
auch an das für die meisten unabwendbare Bestreben, sich einen 
jeden psychischen Prozeß in einer materiellen Form vorzustellen, als 
ob er nur dann verständlich wäre. Es sind dies sozusagen biologische 
und unumgängliche Vorurteile unseres Verstandes. 

Wenn so die „reine Wahrnehmung“ ein System der Aktionen in , 
statu nascendi darstellt, der in der Realität tief verwurzelt ist, so 
werden wir in natürlicher Weise auf die Frage geführt, was denn 
eigentlich den subjektiven Charakter der Wahrnehmung bedinge; 
denn hier in dem doppelten subjektiv objektiven Charakter der 
Wahrnehmung liegt die ganze Problematik der Frage. 


') B e r g 8 o n 1. c. p. 62. 

*) Bergßonl. c. 222. La Conservation de la vie exige sans doute que 
nous distinguions, dans notre expörience joumaliöre, des c h o s e s inertes et 
des a c t i o n 8 exercöes par ces choses dans l'espace. Comme ü nous est 
utile de fixer le sifege de la chose au point pr4cis ou nous pourrions la 
toucher, ses contours palpables deviennent pour nous sa limite reelle, et nous 
voyons alors dans eon a c t i o n un ,je ne saie quoi“ qui s’en dötache et 
en difföre. 



35 


Die „reine Wahrnehmung“, also der Akt eines Subjektes, das 
gleichsam eine tabula rasa ohne Vergangenheit darstellt und zum 
erstenmal auf einen Moment mit dem Objekt in Kontakt tritt, ist 
natürlich nur eine vorläufige Abstraktion. In der Tat haben wir es 
mit einem Subjekt eu tun, welches dank seines Gedächtnisses über 
seine gesamte Vergangenheit verfügt, das eminent historisch ist, und 
bei jeder Wahrnehmung seine früheren Erfahrungen verwertet. 

Außerdem ist schon eine einmalige Wahrnehmung keine momen¬ 
tane, sondern vielmehr aus unzähligen Momenten bestehend, die 
durch das Gedächtnis zu einer Einheit zusammengezogen werden. 

So antworten wir auf unsere Frage: „Der subjektive Aspekt 
der Wahrnehmung beruht auf der Kontraktion, die vom Gedächtnis 
vollzogen wird“. Indem so die Dauer der Objekte mit ihren vielen 
Bewegungen • in unserer „reinen Dauer“ konzentriert wird, bekommt 
unsere Wahrnehmung ihren heterogenen qualitativen Charakter, der 
sie von der objektiven, an und für sich bestehenden Realität so 
schroff für unser Verständnis unterscheidet. 

In dem Maße, als wir uns über die Rolle des Gedächtnisses, 
also des Subjektes, an dem Zustandekommen der Wahrnehmung klar 
werden, schränken wir die Bedeutung der rein sinnlichen aktuellen 
Komponente ein. „Die Rolle der perzeptiven Erschütterung ist es, 
dem Körper eine gewisse Attitüde zu geben, worauf sich die Erinne¬ 
rungen ansetzen“*). In der fertigen Wahrnehmung ist es nicht mehr 
möglich, die beiden Komponenten auseinander zu halten, indem die 
bloße Perzeption nur eine Aufforderung ist, der alle gleichen oder 

') B e r g s o n 1. c. p. 64. hfetferogfenfeite qualitative de nos perceptions 
suecessives de l’univers tient k ce que cbacune de ces perceptions artend 
eile meme sur une certaine epaisseur de durfee, k ce que la memoire y condense 
une multiplicite enorme d’febranlements qui nous apparaissent tous ensemble 
quoique successifs. 11 suffirait de diviser idfealement cette epaisseur indiviäfee 
de temps, d’y distinguer la multiplicite voulue de moments, d’eliminer toute 
memoire, en un mot, pour passer de la perception a la matiere, du sujet 
a l’objet. Alors la mattere, devenue de plus en plus homogene k mesure que 
nos sensations extensives se repartiraient sur un plus grand nombre de 
moments, tendrait indfefiniment vers ce Systeme d’febranlements homogönes dont 
parle le rfealisme sans pourtant, il est vrai, coincider jamais entierement avec 
eux Point ne serait besoin de poser d’un cote l’espace avec des mouvements 
inapercus, de l’autre la conscience avec des sensations inextensives. C'est 
au contraire dans une perception extensive que sujet et objet s’uniraient 
d’abord, l’aspect subjectif de la perception consistant dans la contraction que 
la ntemoire opfere, la rfealite objective de la mattere se confondant avec les 
ebranlements multiples et successifs en lesquels cette percfeption se dfecompose 
intferieurement 


3 * 



verwandten Erinnerungsbilder folgen und so mit ihr gemeinsam das 
Wabmehmungsbild schaffen. 

So ist die Perzeption eine Gelegenheit füf die Realisierung der 
Erinnerungsbilder, die als „virtuelle Objekte“, eines wirklichen Ob¬ 
jektes zu ihrer Materialisierung bedürfen. Als besonders schlagende 
experimentelle Begründung dieser Auffassung, innerhalb der norma¬ 
len Psychologie, sei hier an die bekannten Arbeiten über den Mecha¬ 
nismus des Lesens erinnert*); diese haben gezeigt, daß die Lektüre 
auf ständigem Raten beruhe, so daß nur einige charakteristische 
Wortmerkmale aufgefaßt werden, die gleichsam den Rahmen formen 
für die Erinnerungsbilder, die uns die eigentlichen objektiven ge¬ 
druckten Worte ersetzen 1 ). 

Wenn so mit Leichtigkeit die Druckfehler übersehen werden, so 
wird es uns klar, wie das Erinnerungsbild eine gegenwärtige Wahr¬ 
nehmung umbilden kann, es erweist sich gelegentlich stärker, als die 
rein „objektive“ Wahrnehmung. 

Hören wir ein Gespräch in einer uns unbekannten Sprache, so 
vernehmen wir keine Worte und Sätze, sondern bloß konfuse Laute 
und Töne, während die sprechenden Personen in dieser für uns chao¬ 
tischen Lautmasse präzise Gebilde unterscheiden. Auch hier modi¬ 
fiziert das Gedächtnis die Wahrnehmung und zwar in einem sehr 
starken Maße. Die im Laufe der Erfahrung gesammelten Gehörs¬ 
eindrücke organisierten bei dem Sprachkundigen beginnende Bewe¬ 
gungen, die die jeweiligen Wahrnehmungen automatisch begleiten 
und ein motorisches Schema der Sprache bilden*). 

Wie wir sehen, kommt hier kein „reines Gedächtnis“ im Sinne 
Bergsons in Betracht, vielmehr handelt es sich um eine moto¬ 
rische Einprägung von Akten, die eine leichte Wiederholung ermög- * 
licht, zugleich aber für die Wahrnehmung von besonderer Bedeu¬ 
tung sein kann. 

') Goldscheider und Müller, Zur Physiologie und Pathologie 
des Lesens. Ztschr. f. kfin. Medizin. 1893. 

*) B e r g 8 o n 1. c. 106, 107. . . . on se reprösente volontiere la per- 

ception attentive comme une s6rie de processus qui cheminerait le long d’un 
fil unique, l’objet excitant des sensations, les sensations faisant surgir devant 
eiles des idees, chaque idee 6branlant de proche en proche des points plus 
reculös de la masse intelectuelle. . . . Nous pr£tendons au contraire que la 
percöption refl£chie est un Circuit ou tous les 616ments, y compris l’objet 
perQu lui meine, se tiennent en 6tat de tension mutuelle, comme dans un 
Circuit ölectrique, de sorte qu’aucun äbranlement parti de l’objet ne peut 
s’arreter en route dans les profondeurs de l’esprit: il doit toujous faire 
retour a l’objet lui meme. 

*) B e r g s o n 1. c. 113, 114. 



37 


Die beiden Formen des Gedächtnisses: die „reinen“ unabhängi¬ 
gen Erinnerungsbilder, die alles Wahrgenommene und Erlebte mit 
seinen besonderen individuellen Merkmalen treu behalten und wieder- 
geben uhd die „motorischen Mechanismen“ oder Schemen stehen in 
engster Wechselwirkung untereinander. Sie bilden integrierende Be¬ 
standteile der Wahrnehmung und der Wiedererkennung, die ja bei 
der Wahrnehmung eine wesentliche Rolle spielt. „Die zerebralen 
Mechanismen beendigen in jedem Moment die Reihe meiner vergan¬ 
genen Vorstellungen, indem sie die letzte Fortsetzung sind, welche 
diese Vorstellungen in die Gegenwart ausschicken, ihr Anknüpfungs¬ 
punkt mit der Realität, das heißt mit der Aktion“’). Bei der Wahr¬ 
nehmung, bei der Wiedererkennung vollzieht sich fortwährend eine 
Selektion unter den möglichen Erinnerungsbildern, von denen nur 
solche aus ihrer virtuellen Existenz, aus ihrer Vergessenheit ans 
Licht herangezogen werden, welche mit der wahlgenommenen Gegen¬ 
wart zu einem nützlichen, d. h. für unsere Aktivität bedeutsamen 
Ganzen verschmelzen können. Bei dieser Wahl spielt ebenso unsere 
bewußte Intention, wie die vorgebildeten Mechanismen unseres auf 
die Realität und die Aktion eingestellten Zentralnervensystems mit. 

Und hier kommen wir zu unseren psychopathologischen Erörte¬ 
rungen zurück. 

Wir sagten: Die für jeden Normalen allgemeine und im Laufe 
der onto- und phylogenetischen Entwicklung entstandene Betätigung 
schafft eine allgemein gültige Welt der Objekte, die einem jeden 
zugänglich, für jeden die gleichen Formen hat. 

Nun wissen wir, daß auch bei dem Normalen die Wahrnehmung 
durch affektive Komponenten und Einstellungen umgebildet werden 
kann, denken wir z. B. daran, wie verschieden eine Landschaft von 
verschiedentlich gestimmten Zuschauern aufgefaßt und gesehen wird. 
Und dennoch wird hier die Distanz zwischen dem Subjekt und dem 
Objekt innegehalten und der betreffende Zuschauer vermag unter 
Umständen das objektive Bild von seinem persönlichen Beitrag mit 
der erwünschten Klarheit zu unterscheiden. 

Dieselben Eigenschaften unseres Erkennens, die uns auf dem 
theoretischen Gebiete so viel Schwierigkeiten bereiten, indem sie den 
lebendigen Prozeß, die strömende Kontinuität des Geschehens zu fest 
umgrenzten, starren Dingen umbilden, dieselben Eigenschaften er¬ 
weisen sich von eminentem Werte, wenn es gilt, unsere Beziehungen 
zur Welt zu regeln. Denn hier ist es nötig, die Anwendungspunkte 


*) B e r g 8 o n 1. c. p. 76. 



38 


unserer Tätigkeit genau zu umschreiben, die Distanzen der Dinge von 
uns, die Maß und Ausdruck unserer aktiven Möglichkeiten ihnen 
gegenüber daretellen, zu erfassen. Denn es ist‘uns weniger wichtig, 
die Wirkungen der Dinge aufeinander, als vielmehr ihre mögliche 
Wirkung auf uns und wie dieselbe von uns reflektiert, erwidert oder 
benützt wird, zu begreifen. 

So geht mit der engen Wechselwirkung zwischen Psyche und 
Welt eine Distanzierung einher, die sich für die normale Psyche von 
größter Bedeutung erweist. Denken wir uns Jemanden, der glücklich 
wäre, eine geliebte Person, nach der er sich stark sehnt, im leibhaften 
Bilde vor sich zu sehen; warum gelingt es ihm nicht, seine Sehnsucht 
zu projizieren? Ich meine, wohl deshalb nicht, weil trotz des stärk¬ 
sten Wunsches seine Psyche mit allen Fäden mit der gegebenen 
Wirklichkeit verbunden ist, sein Zentralnervensystem auf diese Wirk¬ 
lichkeit eingestellt, durch sie bestimmt, reguliert und gerichtet wird. 
So ist die Schranke nicht aufzuheben, die zwischen dem Wunsch und 
der unzulänglichen Wirklichkeit notwendigerweise besteht, die 
Schranke, die in unserem Falle die Vorstellung von der Wahrnehmung 
unüberwindbar trennt. Trotz der bewußten Intention können sich 
die Erinnerungsbilder nicht verwirklichen, da sie keine adäquate 
Attitüde in dem auf reale Objekte gerichteten Zentralnervensystem 
vorfiuden. 

Dieses Beispiel muß uns veranlassen, auf einen naheliegenden 
Einwand einzugehen. Wir sprachen von der Schranke zwischen der 
Vorstellung und Wahrnehmung, aber, wird uns mancher Psychiater 
entgegnen, es gibt gar keine solche. Beides ist Vorstellung, und es 
führen alle Übergänge von einer zur anderen. 

In der Tat zeigt schon unser Beispiel, daß der Unterschied zwi¬ 
schen der Vorstellung und Wahrnehmung kein bloß gradueller ist. 
Die stärkste Intensität der Vorstellung verleiht ihr nicht den Ob¬ 
jektivitätscharakter der Wahrnehmung, ebenso wie andererseits die 
schwächste Wahrnehmung keineswegs zur subjektiven Vorstellung 
werden kann. Dann aber gehört meine Wahrnehmung der Gegen¬ 
wart, dieser unmittelbaren Gegenwart, die jederzeit die nächste Ver¬ 
gangenheit perzipiert und die nächste Zukunft bestimmt und vorbe¬ 
reitet, die im Wesentlichen wirkt und als solche aktiv, motorisch 
ist. Sie stellt nicht vor, weil sie empfindet, wahrnimmt und agiert. 

Die Vorstellung aber oder besser das reine Erinnerungsbild ge¬ 
hört wesentlich der Vergangenheit an, es hat als solches keine un¬ 
mittelbaren Anknüpfungspunkte an der materiellen objektiven Welt, 
es ist in diesem Sinne eine bloße Idee, eine Intention, die ihre Ver- 



39 


wirklichung, Materialisierung normalerweise erst durch Aufforderung 
und Verknüpfung mit dem in der Wahrnehmung gegebenen Objekt 
verlangt 1 ). 

Ebensowenig wie wir es begreifen können, wieso die subjektiven 
Empfindungen, in die Außenwelt projiziert, ein Objekt ergeben soll¬ 
ten, müssen wir es auch unverständlich finden, wieso aus der Wahr¬ 
nehmung durch bloße Abschwächung oder wie man uns auch sagt, 
durch Abstraktion der sinnlichen Komponenten die Vorstellung 
entstehen soll 1 ). Wir verstehen dies nur für den Begriff, der durch die 
Heraushebung gewisser Merkmale zustande kommt und auch er ist 
uns Abstraktion nur insofern, als wir mit ihm zu bestimmten Zwecken 
und in bestimmten Zusammenhängen operieren. Sobald wir aber den 
Begriff als solchen an und für sich denken wollen, beleben wir ihn 
durch bestimmte Erinnerungsbilder, die sich je nach unserer Inten¬ 
tion einstellen und schließlich den Begriff ersetzen. Es ist ja dies 
Verhalten schon von Berkeley bemerkt worden. Keineswegs 
aber verstehen wir den graduellen Übergang der Wahrnehmung zum 
reinen Erinnerungsbilde auf dem Wege der Abstraktion der sinn¬ 
lichen Komponente. Sehen wir eine Vase und prägen uns alle Details 
lebhaft ein, schließen dann die Augen, so können wir sie trotzdem 
„sehen“, aber es ist doch ein ganz anderes Sehen und wir wissen um 
den Unterschied ganz klar und sicher, sobald wir die Sache ohne 
jede theoretische Voraussetzung prüfen. Die Frage der Leibhaftig¬ 
keit ist im übrigen von Jaspers’) eingehend genug erörtert wor¬ 
den, so daß ich mich auf diese kurze Andeutung einschränken kann. 

So entspricht für uns die Distanz zwischen der Wahrnehmung 
und der Vorstellung der Schranke, welche die beiden Elemente der 
Grundbeziehung Psyche—Welt trennt. Natürlich gibt es hier wie in 
allem Biologischen allerlei Übergänge. Der von der Wirklichkeit 
sich leichter Loslösende wird wohl in besonderer Affektanspannung 
etwa ein nicht leibhaftes Bild der ersehnten Person sehen können. 


') Ich bedaure es, diese Dinge hier so summarisch und unvollständig 
darstellen zu müssen. Ich kann aber an dieser Stelle auf die ausführlichen 
Beweise dieser wichtigen Unterscheidung nicht eingehen, ebenso wie es mir 
unmöglich ist, die Quellen der in dieser Frage begangenen Fehler zu be¬ 
handeln. Ich muß auch hier auf Bergsons ausführliche Darstellungen in 
„Matiöre et Memoire“ verweisen. 

*) Bleuler: Unveröffentlichter Vortrag, gehalten in der Versammlung 
schweizerischer Psychiater in Monthey am 5. Juni 1920. 

*) Jaspers: Allgemeine Psychopathologie, 1918, Springer. Derselbe, 
Zur Analyse der Trugwahrnehmung. Ztschr. f. d. ges. Neur. u. Psych., 6. 



40 


Jedes vollwertige Individuum „hört“ zuweilen die Stimme des Ge¬ 
wissens, aber es hört sie nicht im wörtlichen, leibhaften Sinne des 
Wortes; auch hier bestehen zwischen der Metapher und dem leib¬ 
haften Erlebnis allerlei Übergänge. 

Der Traum soll uns als das Paradigma der pathologischen Ver¬ 
hältnisse dienen. Im Traume, wo wir uns von der Realität abwenden 
und von ihrem Regulativ ungetrübt unser Innenleben ausspinnen, 
hindert uns nichts, Bilder zu sehen, Dialoge zu führen und zu ver¬ 
nehmen. Die Schranke zwischen dem Ich und der Realität ist ge¬ 
fallen, unsere Vorstellungen, Erinnerungen und Triebe können unge¬ 
hindert und unbekümmert um alle Widersprüche ihr Wesen treiben 
und indem ihnen keine Konkurrenz der äußeren Eindrücke und der 
objektiven Gesetzmäßigkeiten gegenübersteht, sich in ihrer Eigenart 
verwirklichen. 

Besonders ist uns hier das Gebiet der hypnagogischen und 
hypnopompischen Erscheinungen wichtig, auf das bekanntlich Sil¬ 
be r e r 1 ) die Aufmerksamkeit gelenkt hat. Durch Selbstbeobachtung 
können wir hier dunkle psychopathologische Fragen in hellstem 
Lichte erblicken und so werden wir Beispiele aus diesem Gebiet be¬ 
sonders gern herausgreifen. 

Beim Einschlafen, das man ja bei gewisser Übung beliebig lange aus¬ 
dehnen kann, höre ich zunächst willkürlich, dann halb oder ganz unwillkürlich 
„Stimmen“. Es genügt, daß ich mir Dialoge vorstellc, Sie spinnen sich dann 
weiter von selbst fort, mehr oder weniger logisch und sie werden laut, sobald 
ich mich jeder aktiven Einmischung enthalte, sie sich selbst überlasse und, 
von der Realität abgewendet, in eine Art Introspektion versinke, wo ich 
passiv die in mir auftauchenden Bilder betrachte. Es ist mir schon vorge¬ 
kommen, und ich höre diese Erfahrung von andern bestätigt, daß sich 
dieses „Gedankenlautwerden“ zu ganzen dramatischen Szenen und Romanen 
entfalten kann; freilich sind mehr oder weniger unzusammenhängende Bruch¬ 
stücke das Typische. 

Was geht hier eigentlich vor? Die Psyche, nicht mehr auf die 
Welt eingestellt, genügt sich selbst und ersetzt die Welt; Erinne¬ 
rungsbilder, getreue Schatten der erlebten Wahrnehmungen, tauchen 
aus ihrer nichtwirkenden und darum unwirklichen Existenz hervor 
und benützen die Gelegenheit, um sich vorübergehend zu verwirk¬ 
lichen, materialisieren. Es ist, als ob sie im Wachzustände von der 
aktuellen Realität zurückgedrängt wären und nur auf den Augen- 

*) Silberer: Zur Symbolbildung. Jahrb. f. Psychanal. III./IV. Bericht 
über eine Methode, gewisse symbolische Halluzinationserscheinungen hervor¬ 
zurufen und zu beobachten. Ebenda Bd. I. Symbolik des Erwachens und 
Schwellensymbolik überhaupt. Bd. HL 



41 


blick warteten, wo diese Wirklichkeit für die Psyche verschwindet 
und sie sich selbst überläßt. 

Die Bereitschaft der latenten Erinnerungsbilder, beim ersten 
Anlaß ins Bewußtsein vorzudringen, zeigt sich deutlich, auch bei 
Ermüdung und Zerstreutheit. Wenn ich mit einer schwierigen 
Lektüre beschäftigt, meine Aufmerksamkeit für einen Augenblick 
nachlassen fühle, so geschieht es nicht selten, daß ich plötzlich an 
Stelle und zugleich mit dem Passus, den ich wohl lese, aber nicht 
mehr aktiv zu verstehen versuche, in meinem Bewußtsein Bilder 
aufnehme, die sich gleichsam blitzartig eingestellt haben. Es sind 
dies Bilder einer bestimmten einmal gesehenen Straße, kurze Visionen 
einer ganzen Szene u. a. m. Es ist mir bis jetzt nicht gelungen, 
die Erscheinung näher zu analysieren, nur ist* es mir aufgefallen, 
wie selten ein Zusammenhang mit der gegebenen Situation resp. mit 
der mein aktives Bewußtsein beschäftigenden Lektüre nachzuweisen 
ist. Es ist wirklich, als ob eine inhaltlich wie zeitlich entfernte 
Schicht auf einmal in das aktuelle Bewußtsein hineinspielte. 

Menschen, die konstitutionell zum Wachträumen neigen, können 
bekanntlich von einer ganzen komplexen wirklichen Situation vor¬ 
übergehend absehen und an deren Stelle ihre eigene psychische 
Konstellation setzen, die für sie in dem bestimmten Moment ihre 
besondere Welt schafft. 

Am leichtesten gelingt dies aber in den Zuständen des Schlum¬ 
mers, des Sichausruhens, wobei auch die vollständige Ruhe des 
Körpers eine wichtige Rolle spielt. Denn so wird jeder Versuch von 
Aktivität unterdrückt und die Beziehung zur Welt am sichersten 
aufgehoben; nichts steht der Realisierung psychischer Komplexe 
im Wege. 

Auf diesem Gebiete wie auf dem engeren der hypnagogischen 
und hypnopompischen Erscheinungen läßt sich mit besonderer Deut¬ 
lichkeit zeigen, wie die Verschiebung der Grundbeziehung Psyche- 
Welt zugunsten eines ihrer Elemente beide zugleich beeinflußt. Nicht 
nur ist für die von der Welt abgelöste Psyche das Weltbild wesent¬ 
lich verändert, sondern auch sie selbst erscheint und erlebt sich 
anders als zuvor. 

Eines Morgens empfand ich eine besonders starke Unlust beim Erwachen, 
wodurch es sich, wie ich glaube, auf eine ganze Stunde hinauszog. Eine gante 
Stunde laug befand ich mich nun in dem eigentümlichen Zustand des Er¬ 
wachens und des Nicht-erwachen-wollens, des Ostillierens zwischen der ge¬ 
bieterischen ReaKtiLtseinstellung und dem seligen autistischen Versinken. Nun 
war ich mir der konkreten Form der Pflicht, die mich zum Aufstehen auf- 



42 


forderte, halb bewußt: Ich mußte meine Visite machen. Um mich diesem 
Rufe zu entziehen, bildete ich die Situation, die ganze Umwelt, um: Ich be¬ 
fand mich in Tessin am Luganer See, was einem lang gehegten und unbe¬ 
friedigten Wunsche entsprach; ich spürte die Luft leicht und duftiger, der 
mir durch die halboffenen und immer wieder gewaltsam geschlossenen Augen 
sichtbare Park der Anstalt gewann einen italienischen Charakter, ich selbst 
fühlte mich verändert, frei von jedem äußeren Zwang und Bestimmung, kein 
Assistenzarzt mehr, der zur bestimmten Stunde seine Visite machen muß. 

Nun noch ein typisches Beispiel, das wohl vielen aus der 
Schulzeit bekannt sein dürfte. 

Man soll in die Schule gehen, man muß aufstehen und möchte doch noch 
so gerne schlafen, aber man möchte ja seine Pflicht hübsch artig erfüllen. Man 
träumt nun, — eigentlich ist das kein richtiger Traum, vielmehr eine Träu¬ 
merei, da man sich zumeist im halbwachen Zustande befindet, ähnlich wie der 
oben von mir geschilderte — man sei aufgestanden, habe seine Toilette in 
musterhafter Weise gemacht, habe gefrühstückt und jetzt gehe man schon 
frohgemut zur Schule. Oder aber man ist erwacht, schaut auf die Uhr und 
der frühen Stunde gewahr, schlummert man ruhig weiter, indem man sich selbst 
zur Beruhigung immer wieder wiederholt: es ist ja erst 6 Uhr, . . . man läßt 
so die Zeit Stillstehen, unbekümmert um die Absurdität dieser Umbildung der 
Wirklichkeit. Es ist mir im Halbschlafe auch schon vorgekommen, daß ich 
mir nicht einmal die Mühe gab, auf die Uhr zu sehen, sondern mich ohne 
weiteres in die wahnhafte Überzeugung hineinredete, es s e i 6 Uhr, ich habe 
es ja schon auf der Uhr g e 6 e h e n 1 ). 

Wir wollen nun unsere Ausführungen über die Schranke 
zwischen Psyche und Welt auf die Pathologie anwenden. 

Dasselbe was wir bei gewissen Zuständen des Normalen fest¬ 
gestellt haben, gilt auch für den autistisch tendierenden Schizo¬ 
phrenen. Ist im großen und ganzen seine Psyche nicht mehr auf 
die objektive Wirklichkeit eingestellt, so kann sie ihr Weltbild 

*) Die tiefgehende Verschiebung, welche der Schlafzustand in der Grund¬ 
beziehung Psyche — Welt hervorruft, daß nämlich die Psyche auf sich selbst 
angewiesen, ihren eng umgrenzten Realitätskreis durchbricht und aus der 
Welt mehr zu entnehmen glaubt, als sie sonst vermochte, diese Umänderung 
kommt zum Ausdrucke in den indischen Upanishaden und in einem Ausspruch 
Hebbels. Hebbel sagt: „Der Traum ist die Nabelschnur, durch welche 
das Individuum mit dem Weltall zusammenhängt.“ (Zitiert bei Sadger, 
Friedrich Hebbel.) 

Die Upanishaden befassen sich eingehend mit dem Traumschlaf und dem 
Tiefschlaf. Von Ersterem wird gesagt (Brih. 4, 3, 9—14): 

„Wenn er nun einschläft, dann entnimmt er aus dieser allenthaltenden 
Welt das Bauholz, fällt es selbst und baut es selber auf, vermöge seines 
eigenen Glanzes, seines eigenen Lichtes; wenn er so schläft, dann gilt dieser 
Geist sich selbst als Licht. Daselbst sind nicht Wagen, Gespanne, nicht 
Straßen, sondern Wagen, Gespanne und Straßen schafft er sich; . . . denn er 
ist der Schöpfer . . .“ usw. 



43 


umändem, ihre verborgensten und entlegensten Tendenzen und 
Komplexe realisieren. 

Die Entstehung der Halluzinationen wird hier wesent¬ 
lich begünstigt durch ihre teilweise Verwurzelung in unbewußten 
Komplexen. Vom bewußten Zentrum der Persönlichkeit abgespalten, 
sind dieselben seiner Kritik nicht mehr zugänglich, wenn auch das 
bewußte Ich durch die Objekteinstellung noch teilweise zentriert 
und im Banne gehalten wird. Die Halluzination stellt sich ein als 
eine Art von Selbstwahmehmung, d. h. Wahrnehmung eigener 
psychischer Realität. 

Wenn ein Paranoider halluziniert, der Wärter beschuldigt ihn, 
mit der eigenen Mutter sexuellen Unfug zu treiben, so wird hier die 
Abwehr gegen den äußerst peinlichen Oedipuskomplex durch seine 
Projektion nach außen erstrebt. Daß dies aber in dieser besonderen 
Form gelingt, ist durch die Aufhebung der Schranke Psyche-Welt 
möglich, welche bei dem Kranken in vielen anderen Erscheinungen 
zutage tritt. 

Derselbe Komplex, der sich hier dank der besonderen Struktur 
des kranken Nervensystems schon im Wachen realisiert, bedarf zu 
seiner plastischen Verwirklichung beim Normalen besonderer Um¬ 
stände, welche die Schranke Psyche-Welt aufheben und im Traume 
gegeben sind. 

Interessant sind die Fälle, wo sich der Kranke seines subjektiven 
Anteils an der Entstehung der Halluzination zum Teil bewußt ist, 
was ihn aber nicht hindert, der Erscheinung in einem gewissen 
Sinne den Objektivitätscharakter zuzusprechen. So erlebt eine 
mystisch-erotische Schizophrene die Vision eines Engels. Sie hat 
ihn gesehen, nicht wie man gewöhnlich Dinge sieht, es war wie ein 
Nebel. „Ich vermute, es hatte die Form eines Engels, 
weil meine Idee wie ein Engel war.“ Sie hatte die Vor¬ 
ahnung des Schönen und fühlte sich dann auch von der Erscheinung 


Im Tiefschlafe, wo man sich eins mit dem Weltall, d. h. mit dem 
Brahman erkennt und sich bewußt wird, „ich allein bin dieses Weltall“, ist 
man ohne Objekte, zweitlos (Grundeigenschaft des Absoluten) und ohne indivi¬ 
duelles Bewußtsein. „Das ist die Wesensform desselben, in der er über das 
Verlangen erhaben, vom Übel frei und ohne Furcht ist. Denn so wie einer von 
einem geliebten Weibe umschlungen, kein Bewußtsein hat, von dem was außen 
oder innen ist, so auch hat der Geist, von dem Brahman umschlungen, kein 
Bewußtsein von dem, was außen oder innen ist (Brih. up. 
4, 3, 21). Vgl. die unterstrichenen letzten Worte mit unseren weiteren Ausfüh¬ 
rungen über die Schizophrenie. 



44 


des Engels beherrscht. Es war wie ein Duft um sie, nicht aber in 
dem gewöhnlichen Sinne des Wortes. Während der Vision war sie 
allein in der Zelle, wäre aber jemand Anderer dabei gewesen, hätte 
auch er die Erscheinung sehen können. Zugleich sagte ihr die 
Stimme Gottes, sie wäre als Blume dem Christus zur Frau gegeben. 

So setzt sich hier wieder ein bestimmter Komplex in verschie¬ 
denen Sinnesgebieten durch, wodurch eine große Fülle der Er¬ 
scheinung und hohe Befriedigung erzielt wird. 

Bei unserem Patienten Ernst T. haben wir charakteristische Beispiele 
von Personenverkennung erwähnt. 

In einem Passanten erkannte er den Papst, in einem anderen den König 
von Italien. Er beschreibt genau die durchaus bescheidene Tracht dieser Män¬ 
ner, woraus folgt, daß seine Wahrnehmungsinhalte den Objekten adäquat 
waren, er hat sie so wahrgenommen, wie es auch ein Normaler getan hätte. 
Die Bedeutung aber, die er den Inhalten gab, war eine abnorme, sie entsprach 
seiner damaligen psychischen Konstellation, die stark genug war, eine an sich 
richtige Wahrnehmung umzubilden. Die Psyche deutete sich hier die Welt in 
ihrem eigenen Sinne, unbekümmert um alle Widersprüche. Ja, diese Wider¬ 
sprüche wurden sofort in dem Sinne der gegebenen Konstellation umgedeu¬ 
tet: Wenn der italienische König Arbeitertracht trug, und beim Torfstechen 
mitarbeiten wollte, so geschah es, um sich dadurch vor Gott zu demütigen. 
Die Psyche wählte hier die geringfügigsten Merkmale, um ihre Konstellation 
den Wahrnehmungsinhalten aufzudrängen: Der Papst schwankte, es ge¬ 
schah aus Angst vor dem „neuen Heiland“; dabei ist es uns sofort klar, daß 
niemand und der Kranke am wenigsten zu sagen vermag, ob diese Wahr¬ 
nehmung nicht auch rein subjektiv war und nichts ihr Adäquates aus dem Ob¬ 
jekt bezog; der König von Italien wurde als solcher erkannt, weil neben ihm 
ein Savoyarde ging und Savoyen ist „Italiens Wiege“. Die Wahrnehmungs¬ 
inhalte und die subjektive Bereitschaft gingen sich entgegen in dem Sinne, daß 
eine Selektion unter den Inhalten im Sinne der Bereitschaft vorgenommen 
wurde. 

Wenn jetzt ein anderer Patient, in den Wachsaal gebracht, unter seinen 
Kameraden die Herren Pierre Janet (der Psychologe), Andrö Suares (der 
Kritiker), und Jean Cocteau (der Dichter) erkennt und an dieser Behauptung 
trotz aller Versuche, ihn des Besseren zu belehren, festhält, so wundern wir 
uns, daß er uns keinen Anhaltspunkt zur Begründung seiner Überzeugung 
geben kann. Um die eigentliche Wahrnehmung scheint er sich dabei nicht zu 
kümmern, denn es interessiert ihn nicht im geringsten, zu hören, wir wüßten 
aus augenscheinlicher Erfahrung, daß Herr Janet ganz anders aussieht. Er 
weiß trotzdem, es wäre Herr Janet 

Die Täuschung dauert 2 Monate; später besprechen wir sie mit dem sehr 
intelligenten und besonnenen Kranken. Er erklärt, daß er seine damalige 
Überzeugung mit einem Schlage bekommen batte, auch hatte er sie als Ergeb¬ 
nis seines Geistes angesehen und gewußt, daß er sich bei seiner Behauptung 
auf keine äußeren Tatsachen stützen kann. 

Die Personenverkennung ist uns der Typus der Wirklichkeitsfälschung, 
welche den an sich objektiven Wahmehmungsinhalten falsche Bedeutungen 



45 


nsprieht, im Sinne rein subjektiver Tendenzen und Bereitschaften. Die rein» 
Halluzination schafft aber auch die Inhalte, wozu sie das Material offenbar nur 
aus der Psyche beziehen kann. Sie verwirklicht, objektiviert Erinnerungs¬ 
bilder, bewußte Affekte, unbewußte, affektbetonte Komplexe, Tendenzen der 
unbewußten wie bewußten Psyche. Wenn wir so einen großen Teil der Hallu¬ 
zinationen aus den Vorstellungen, in des Wortes weitestem Sinne, entstehen 
sehen, verstehen wir es, warum sie phänomenologisch so oft Charaktere der 
Vorstellungen mit bekommen und warum die Kranken nicht selten zwischen 
ihren Vorstellungen und Halluzinationen keinen scharfen Unterschied machen. 
Die Halluzinationen sind sozusagen wahrgenommene Vorstellungen 1 ). In man¬ 
chen Fällen wird dies Verhalten bestätigt durch die unzweideutigen Angaben 
der Kranken. So beklagte sich ein Patient darüber, daß er die Objekte sehen 
kann, an die er denkt. Wie in der Photographie kann er jede seiner Vorstel¬ 
lungen sehen. Derselbe Kranke hörte seine Gedanken im Dorfe wiederholen 
und verkehrte auf Distanz mit seinen Bekannten, deren Antworten er direkt 
hören konnte — „par retour des voix.“ 

Extrakampine Halluzinationen erscheinen als das Paradigma 
der in halluzinatorische Sprache übersetzten Vorstellungen. Ent¬ 
gegen der Behauptung Kraepelins’), „es sind das nur Ein¬ 
bildungen mit lebhaften Gesichtsvorstellungen, die jedoch durchaus 
nicht das Gepräge von sinnlichen Wahrnehmungen tragen“, müssen 
wir mit Bleuler 1 ) an dem sinnlichen Charakter der Erscheinung 
festhalten. Der Kranke sieht tatsächlich ein Mädchen hinter dem 
Hügel, wenn er auch bei genügender Kritik und Intelligenz darüber 
staunen kann. Dieses imaginäre Objekt kann eben überall projiziert 
werden, unbekümmert um die Grenzen des aktuellen wie auch des 
physiologisch oder psychologisch denkbaren Sinnesfeldes. Die 
Psyche kann sich solche, bei der Einstellung auf die Welt unerlaubte 
Exkurse leisten, indem sie sich von der für das Objekt geltenden 
Begrenzung befreit. 

Viele andere absurde schizophrene Halluzinationen werden durch 
diese Überlegung unserem Verständnis zugänglich. So wundert es 
uns nicht besonders, wenn die Kranken ihre Stimmen in allen 
möglichen Körperteilen lokalisieren, wenn sie nicht nur im Kopfe, 
sondern auch in den Beinen, im Bauche und im Herzen reden hören. 
Desgleichen werden die hypochondrischen und Beeinflussungsvorstel¬ 
lungen in absonderlichste Form gekleidet. Wenn es der Kranke 


') In diesem Sinne kann man denn auch die paradoxe Behauptung 
Stöckers gelten lassen, der das Bestehen der Halluzinationen überhaupt 
leugnet und sie als Vorstellungen ausspricht. (Zur Genese der Halluzinationen.) 
Ztschr. f. d. ges. Neur. u. Psych. Bd. 50. 

*) Lehrbuch, VIII. Auflage, I., S. 225. 

*) Psychiatr. neur. Wochenschrift 1903, S. 261. 



46 


nachts erlebt, daß sein Schädel geöffnet, das Gehirn herausgenommen 
und bearbeitet wird, so ist dieses Erlebnis, dessen Leibhaftigkeit wir 
unmöglich nachprüfen können, nur ein objektivierter Ausdruck der 
Veränderung, die er in seiner Persönlichkeit verspürt und' die er, um 
die objektive Möglichkeit unbekümmert, in eine willkürlich absurde 
Form kleidet. 

Oft ist es, als ob die halluzinatorische Versinnbildlichung psy¬ 
chischer Tendenzen dem wohlverständlichen Zweck diente, dem 
Kranken die Objektivität seiner Wünsche vorzutäuschen. Die gleich¬ 
gültigsten Vorgänge werden zum Ausdruck und zum Träger der Ver¬ 
wirklichungen gemacht, welche die Welt der Objekte nach dem Be¬ 
lieben der Komplexe umbilden. 

Ein Kranker hört Vögel und das Eichhörnchen, die ihm die fro¬ 
hesten Botschaften übermitteln. Besonders das Eichhörnchen ist 
für ihn der Schicksalsbote (glas du destin). Das Tierchen gibt ihm 
Zeichen mit kleinen Schlägen, wie ein Telegraphenhammer, er hört sie, 
und „sie übertragen sich in seinem Gehirne in Ideen, Gedanken“. 
Der Schicksalsbote bestätigt alle geheimen Wünsche des Kranken: 
es sagt ihm, daß er eine Stelle bekäme, die er vor kurzem in einer 
Zeitung annonciert gefunden hatte, es verspricht ihm, daß er eine be¬ 
stimmte junge Dame zur Geliebten haben und daß er bald die 
Anstalt verlassen wird usw. Hier ist wieder die Grenze zwischen dem 
Wunsche seiner subjektiven und objektivierten Form kaum zu be¬ 
zeichnen, aber der Kranke braucht die Objektivierung und schafft sie 
sich von Zeit zu Zeit. Wenn er dann die Nichtigkeit der schönen 
Verheißungen konstatiert, schließt er, das Eichhörnchen hätte ihn be¬ 
trogen, aber er weist jede Vermutung, daß er sich selbst betrogen 
hätte, entschieden zurück. 

Unter dem subjektiven Material, welches für die Bildung der 
Halluzinationen verwendet wird, haben wir noch eine wichtige Gruppe 
zu nennen; es sind dies die mannigfaltigsten körperlichen Empfin¬ 
dungen, Parästhesien, organische Beschwerden, sei es auf dem Gebiete 
des Nervensystems oder der inneren Organe. 

Besonders die Parästhesien sind ein häufiges Vorkommnis für den 
Schizophrenen. Sie geben das Material zu zahlreichen und verschie¬ 
denartigsten Halluzinationen, die Kranken werden elektrisiert, ge¬ 
brannt, erkühlt, ausgetrocknet, an den Geschlechtsorganen auf aller¬ 
lei Art und Weise bearbeitet; ja es ist, als ob bestimmte Komplexe 
sich ihre besonderen körperlichen Reize erwählten, um sich zu mani¬ 
festieren: so hören wir von dem Paranoiden Julien T., der von einem 



47 


Polizeipräfekten verfolgt, denselben seinen Anus bearbeiten fühlt, 
wobei ihm der Verfolger in peinlichster Weise auf dieses Organ drückt. 

Nach der Geschichte dieses Falles scheint es, daß hier die Par¬ 
ästhesien erst sekundär als Ausdruck der in der Wahnidee projizierten 
Komplexe erschienen sind. Ein umgekehrtes Verhalten ist aber für 
viele andere Fälle ebenso wahrscheinlich. Sicher aber sind die Par- 
iisthesien das Primäre in den toxischen Zuständen, wo die Eintönig¬ 
keit der Halluzinationen (Delirium tremens) trotz der Verschieden¬ 
heit der Individuen, für ihren nicht psychischen Ursprung spricht. 
Bleuler hat ja besonders darauf hingewiesen, daß die Halluzina¬ 
tionen des reinen Delirium tremens keine Komplexhalluzinationen 
sind. Bei den Schizophrenen können aber die gleichen Parästhesien 
zu wahnhaften Umbildungen Anlaß geben, ebenso wie hier auch orga¬ 
nische Beschwerden wahnhaft gedeutet werden können. Ein Para¬ 
noider, der an Asthmaanfällen leidet, erzählt jedesmal von dem Dis¬ 
kus, der in seine Kehle von Missetätern hineingesteckt wurde und 
den er zu extrahieren bittet. Eine Schizophrene beklagt sich monate¬ 
lang über die Ungeheuer, die an ihren inneren Genitalien zehren, bei 
der Sektion findet man einen massiven Gebärmutterkrebs, dessen 
Metastasen das kleine Becken ausfüllen. 

Wie ist dieses Verhalten zu erklären? Die Erklärung Re¬ 
po n d s *), der Delirant werde zu sehr an die starken und lästigen 
Parästhesien gefesselt, wodurch der freie Spielraum der Affekte und 
Wünsche wesentlich eingeschränkt werde; hingegen wirke in ande¬ 
ren Fällen das anfallsweise Auftreten der Parästhesien auf die Psyche 
der Kranken weniger bestimmend, sie seien nur das Auslösemoment 
der Phantasie und Wahngebilde, ist wohl in dieser Formulierung un¬ 
genügend. Wir müssen uns fragen, warum denn der Schizophrene im 
völlig besonnenen Zustande seine Körperempfindungen in oft so aben¬ 
teuerlicher Art ausdeuten kann. Offenbar deshalb, weil sie ihm, dank 
der Aufhebung der Schranke Psyche-Welt zum Ausdruck, zum Sym¬ 
bol subjektiver, mit keiner Wirklichkeit rechnender Tendenzen wer¬ 
den können und weil seine Psyche dieses körperliche und darum so 
unmittelbar gegebene Empfindungsmaterial besonders gerne ver¬ 
wertet. Sucht er nach Erklärungen, z. B. seiner organischen Be¬ 
schwerden, so müssen diese, jeder Kontrolle der objektiven Einstel¬ 
lung bar, phantastische und absurde Formen einnehmen. 

Auf die besondere theoretische Bedeutung mancher Beeinflus- 

*) Ober die Beziehungen zwischen Parästhesien und Halluzinationen, be¬ 
sonders bei deliriösen Zuständen. MonatBschr. f. Psych. u. Neur., Bd. XXX VTTT, 
Heft 4. 



48 


aungsparästhesien werden wir später bei der Besprechung des Be¬ 
ziehungswahnes eingehen. 

Bei der Besprechung der Personenverkennung sind wir unmerk¬ 
bar bei der Erscheinung angelangt, die man als Bewußtheit be¬ 
zeichnet, deren wesentlicher Charakter aber durch den französischen 
Terminus „conviction spontanöe“ am besten ausgedrflckt 
wird. 

Eine Idee, eine bloße psychische Attitüde, eine Tendenz, ein 
affektiv betontes Erinnerungsbild gewinnt plötzlich einen starken 
Realitätscharakter und imponiert als objektiv gegebene Wirklichkeit, 
oder in kurzer Formulierung: das subjektive Wissen wird 
zum Wissen schlechthin. 

Die Erscheinung tritt bekanntlich in mannigfachsten Formen auf. 

Der Kranke weiß, seine Eltern sind da und rufen ihn; er 
weiß, seine Frau ist gestorben; er weiß, der alte Mann neben 
ihm ist sein Vater und der junge sein Bruder, trotz der veränderten 
Haarfarbe. Die letzteren Bewußtheiten sind anschaulich; der Kranke 
weiß aber auch, hinter der Tür befindet sich seine Frau und er ver¬ 
langt stürmisch, man solle öffnen. Diesem Wissen um anschauliche 
und doch nicht in der Wahrnehmung gegebene Erscheinungen, leib¬ 
hafte Bewußtheiten 1 ), reihen sich die rein gedanklichen Bewußtheiten 
an. Der Kranke begegnet einem Mädchen und verliebt sich auf den 
ersten Blick; sofort weiß er um die Gegenliebe, er weiß es so sicher, 
daß er dem Mädchen nie mehr von seiner Liebe spricht; „ich würde 
es überflüssig und lächerlich finden, da sie ja alles weiß und da ich 
überzeugt bin, sie liebt mich auch“. Ein anderer weiß von seiner 
bevorstehenden Verlobung; zwar hat er das Fräulein nur zweimal 
gesehen und nie mit ihr gesprochen, auch weiß er sonst nichts von 
ihr, aber sie ist ihm ähnlich und sie müssen „zusammen gehen“. Er 
weiß alles im voraus, durch das „Gedächtnis“, es ist ein „Gefühl“, 
er weiß nicht, woher es kommt, es ist die „Natur“. Alle die unge¬ 
wöhnlichen Dinge, die er erfährt, tauchen auf einmal in seinem Kopfe 
auf wie drahtlose Telegraphie. So w e i ß er es auch, daß seine Brü¬ 
der bald sterben müssen, daß der Kronprinz gestorben ist und sein 
(des Kranken) Bruder seine Stelle einnehmen wird. An den letzten 
Beispielen ist der Übergang von subjektiven Motiven zum Wissen be¬ 
sonders deutlich. Der Kranke haßt die Brüder und meint: wenn sie 
nicht sterben sollen, sollen sie wenigstens ins Gefängnis gehen, damit 
ich sie nicht mehr sehen muß. Der Wunsch wird hier unmittelbar 

*) Jaspers, Allgemeine Psychopathologie. 

J a 8 p e r s, Über leibhafte Bewußtheiten. Zeitschr. f. Pathopsycb. 

1913 , 2 . 



49 


zur Wirklichkeit. Dies äußert sich vor allem auf dem Gebiete der¬ 
jenigen Wünsche, welche die Person des Kranken unmittelbar be¬ 
rühren. So erwacht er eines Tages mit dem Bewußtsein, er wird der 
Kaiser von Rußland sein oder er ist es schon; ein anderes Mal glaubt 
er fest daran, daß er einmal General oder auch Professor sein wird; 
der wenig intelligente und ungebildete Kranke kompensiert so seine 
Unzulänglichkeiten. Alle diese spontanen Überzeugungen werden zu¬ 
nächst von der objektiven Wirklichkeit nicht erschüttert, die ja zu 
ihnen im grellsten Widerspruche steht. Die Psyche, von der Kontrolle 
der Objekteinstellung losgelöst, leistet sich die Realisierung ihrer 
Tendenzen, welche Wirklichkeitswert gewinnen, weil die Welt der 
Objekte den ihr zukommenden verloren hat. 

Diese Bewußtheiten dauern gewöhnlich nur kurze Zeit an, aber 
sie sind Keime, aus denen sich bei günstigen Umständen dauerhafte 
Gebilde entwickeln können. Sie sind ohne Zweifel Wahnkeime. 

Wir sehen, wie viele Übergänge und enge Beziehungen den Wahn 
mit der Halluzination verbinden und vermuten, daß die letzten Wur¬ 
zeln der Entstehung beider die gleichen sind. Die Halluzination er¬ 
schien uns als Realisierung psychischer Gebilde und Tendenzen, die 
sich entweder unmittelbar materialisieren, oder zum Symbol greifen 
und sich erst in symbolischer Form objektivieren. Der Wahn ist der 
gleiche Prozeß, nur in nichtanschaulicher Form, er ist gleichsam das 
theoretische Korrelat zu den pathologischen Objekten, so wie das 
normale Wissen das Korrelat zu den wirklichen Objekten darstellt. 

Das normale Wissen stützt sich auf Erfahrung, die in Wechsel¬ 
wirkung mit der Welt der Objekte gesammelt wurde. Darum kann es 
auch durch weitere Erfahrungen beeinflußt und in seinen Irrtümern 
korrigiert werden. So ist seine Anpassung an die Wirklichkeit zwar 
nie vollkommen erreicht, aber doch immer erstrebt und im Werden. 

Das pathologische Wissen, der Wahn, entsteht der objektiven 
Wirklichkeit zum Trotze und als Krystallisierung der psychischen 
Realitäten. Es hat seinem Wesen nach mit der Welt keinen Kontakt 
und kümmert sich nicht um ihre Korrektur. 

Wieso kann der Kranke der König der Schweiz, zugleich auch Präsident 
Wilson, General Wille, Kardinal Mercier und Direktor der Anstalt sein? Wun¬ 
dert man sich darüber und versucht" mit ihm zu diskutieren, so antwortet er 
schließlich: „Je suis tout le mond e“. Erscheint ein neuer Arzt auf der 
Abteüung, so erkundigt sich der Patient nach seinem Namen und bald darauf 
ist er auch der Arzt und trägt dessen Namen. 

In solchen extremen Fällen ist die Struktur des Wahnes beson¬ 
ders durchsichtig. Denn hier sieht man doch auffallend deutlich, wie 
die Schranke zwischen dem Ich und der Welt, in dem besonderen 

Bycbowski , Metaphysik und Schizophrenie. (Abhandl. H. 21.) 4 



50 


Falle die Grenze zwischen dem Wunsche und seiner Verwirklichung 
nicht mehr existiert. Ist die Psyche nicht mehr auf die gegebene 
Realität eingestellt und unterliegt sie nicht ihrer fortwährenden Dis¬ 
ziplin und Kontrolle, so ist der Weg gegeben zur rücksichts- und rück¬ 
haltlosen Verwirklichung der psychischen Potenzen; so ersetzen diese 
Verwirklichungen die Wirklichkeit. 

Der Satz des Widerspruches, der für die Beziehungen des Wahn¬ 
inhaltes zu den objektiven Inhalten keine Geltung beanspruchen kann, 
verliert auch innerhalb des Wahnes seine Gültigkeit. Denn auch 
dieser fundamentale und selbstverständliche Grundsatz alles norma¬ 
len Denkens ist durch unsere Beziehungen zur Welt herausgearbeitet 
worden und hat nur für die Wirklichkeit Geltung, außerhalb derer es 
keinen Widerspruch gibt. In diesem Sinne sprach der mittelalter¬ 
liche Philosoph 1 ) vom Gott als von der Coincidentia oppositorum. 
Der Wahn steht gleichsam wie ein Ding an sich selbsterhaben da, 
außerhalb unserer Kategorien, Grundsätze und Axiome des gesunden 
Verstandes. 

Wir werden später auf das theoretisch bedeutungsvolle Thema 
des pathologischen Wissens und seiner Kategorien eingehen, die wir 
den Grundformen unseres Wissens gegenüberstellen werden. Wir 
kehren zu unserem Patienten zurück. 

Eingesperrt in seiner engen Zelle, bleibt der Kranke nicht auf seine 
düstere Einsamkeit eingeschränkt. Wir haben gesehen, wie er sich mit nam¬ 
haften Persönlichkeiten identifiziert und sich sogar absurde Titel beilegt. 
(König der Schweiz, General Dynamit.) Er schreibt Briefe an die Behörden, 
in denen er versichert, er sei selbst das Departement und die Polizeidirektion 
und welchen er in höflichster Form seine Entlassung anordnet. 

Aber diese natürliche Form der Verbindung mit der Außenwelt genügt 
dem Kranken nicht. Die Mauern der Zelle vermögen es nicht, ihn von der 
Welt abzuschneiden. Stimmen von oben und unten gelangen zu ihm, die ihm 
über alles für ihn Wichtige unterrichten, Gase und elektrische Ströme werden 
ihm von imaginären Persönlichkeiten zugeschickt, Magnetismus, Hypnose, 
Telepathie und Gedankenübertragung treiben an ihm ihr Unwesen. 

Es ist, als ob die Psyche, nachdem ihr die normalen Objekt¬ 
beziehungen verwehrt bleiben, sich auf allen diesen pathologischen 
Wegen entschädigt. Diese aber kennen keine Begrenzung von Zeit 
und Raum, der Kranke kann mit der ganzen Welt in Verbindung 
bleiben, da er doch im Grunde „die ganze Welt“ ist. Die Wirkung 
auf Distanz ist für diese Mentalität selbstverständlich, die Durch¬ 
dringlichkeit aller materiellen Hindernisse für die geheimnisvollen 
Kräfte ein Axiom. Die Existenz dieser Kräfte selbst erlebt er täglich 


*) Nikolaus von Cusa. 



51 


und stündlich. Die strenge Geschiedenheit und Verschiedenheit der 
Objekte, die wir für die Bedürfnisse unserer Aktivität ausgearbeitet 
haben und unserer Erfahrung zugrunde legen, ist aufgehoben. Wir 
haben Mühe, uns die Gravitationskraft vorzustellen und sprechen von 
Wirkung auf Distanz, mit der wir keine bestimmte Vorstellung ver¬ 
binden (denn möchten wir sie vorstellen, dann müßten wir sie auch 
materialisieren). Ich hörte einen sechsjährigen Jungen, dem die 
Bibel vorgelesen wurde, sich über die Allgegenwart Gottes wundem 
und mit aller Skepsis fragen, ob denn Gott wirklich auch durch die 
Mauern hindurch dringen könne, auch wenn diese sehr dick seien, 
sehr, sehr dick. Dies wollte dem normalen Menschenkinde nicht ein¬ 
leuchten, weil es seiner Erfahrung widersprach. Für den Schizo¬ 
phrenen ist die ganze Fragestellung nichtig, denn keine Schranke 
trennt ihn mehr von der Welt. 

Wir haben uns oft gefragt, warum das Elektrisiertwerden eine 
.'0 häufige und typische Erscheinung bei den Schizophrenen sei. Alle 
diese Ströme, welche unsere Kranken quälen, oder auch nach län¬ 
gerer Dauer gleichgültig lassen, welche ihren Körper durchziehen, 
sich auf bestimmte Organe, wie Kopf, Genitalien besonders konzen¬ 
trieren und auch leblose Gegenstände (Bett, Stuhl, Hut), mit welchen 
der Kranke in Berührung kommt, elektrisieren können, sie alle er¬ 
scheinen uns nun als leibhafter Ausdruck der pathologischen Verbin¬ 
dung Psyche-Welt. Sie sind das Symbol der Kräfte, die den Objek¬ 
ten innewohnen und von ihnen nach allen Richtungen hin ausstrahlen. 
Die kranke Psyche hat ihre Umgrenzung und Sicherheit den Objekten 
gegenüber eingebtißt und fühlt sich den Wirkungen derselben wehrlos 
ausgesetzt. Sie verdichtet diese Wirkungen zu halluzinatorischen 
Empfindungen. Denn wir wissen wirklich nicht, was hier noch 
Empfindung (Parästhesie) und was schon halluzinatorische Umbil¬ 
dung ist und alle Übergänge führen von dem einfachen Elektrisieren 
zum Magnetismus, Hypnotismus, drahtloser Telegraphie, Telepa¬ 
thie, Gedankenübertragung usw. 

Ein Patient beklagt sieb geradezu, daß seine Bettnachbarn auf ihn eine 
schädliche Wirkung ausüben. Das nimmt ihm die Lebenskraft, er hat das Ge¬ 
fühl, als ob man ihn an einer Schnur ziehen würde. Er klagt Uber die durch 
diese Aktion k distance bedingte „Rarefizierung“ seiner Kräfte, er spricht 
auch von der „kontinuierlichen Kastration“. 

Ein anderer Patient schaut sich in dem Anstaltshofe mißtrauisch um. 
Fragen und Erklärungen des Arztes hört er mit dem eigentümlichen, spöttisch- 
überlegenem Lächeln zu, als ob er sagen wollte: „Ich weiß doch besser als ihr 
Alle zusammen, was an der Sache ist“. Zugleich aber verweigert er die Aus¬ 
kunft über sein krankhaftes Erleben mit der typisch schizophrenen Begrün¬ 
dung: der Arzt wisse ja alles besser als er, er brauche dem Arzte nichts mehr 


4 * 



52 


zu sagen. Dies nun etwa nicht deswegen, weil er den Arzt für seinen Mitver¬ 
folger hält, sondern weil er glaubt, daß sein Erleben, seine krankhafte tägliche 
Erfahrung einem jedem zugänglich sei. Sowie er von der Welt nicht mehr 
geschieden ist, so sind auch seine psychischen Realitäten nicht mehr sein aus¬ 
schließliches Eigentum. Sie können von dem Arzte ohne weiteres, ohne die 
Vermittlung der Sprache wahrgenommen werden; aber auch umgekehrt können 
sie durch fremden Einfluß in seinen Kopf hineinkommen. Auch kommt es vor, 
daß der Kranke Gehörtes selbst zu denken glaubt*); solche „gemachte“ Gedan¬ 
ken sind ja etwas sehr Häufiges. Umgekehrt können Gedanken auch entzogen 
werden, sie können eine plötzliche Unterbrechung erfahren, solange es dem 
Verfolger beliebt. So wird der Kranke auf mannigfachste Art „bearbeitet“, 
denn auch sein Herz klopft nicht mehr oder nicht mehr so stark wie früher, 
seine Handvenen sind weniger sichtbar, „eingezogen“, seine Füße werden ab¬ 
gekühlt, man macht ihm auch Bauchschmerzen... Frägt man ihn, ob er 
denn früher nie Bauchweh gehabt hätte, so antwortet er: „Jetzt ist es doch 
anders“. Ja, die Beeinflussung geht so weit, daß, während er beim Kartoffel¬ 
schälen beschäftigt ist, man ihm sein Messer plötzlich aus der Hand fallen läßt, 
er kann nicht glauben, daß dies auf natürlichem Wege geschehen könne. Die 
ganze Person des Kranken — physisch wie psychisch — unterliegt so den 
mannigfaltigsten Einflüssen, deren Wirkung er nur zum Teil begreift oder zu 
begreifen glaubt. Sicher ist aber für ihn die Grundtatsache, daß man an ihm 
arbeitet, er weiß nicht bestimmt zu welchem Zwecke, man entzieht ihm Kräfte, 
man zieht Fäden, man bearbeitet mit Strömen seinen Kopf und seine Genitalien. 

Es ist wohl verständlich, wenn dieser Beeinflussungswahn aufs 
engste mit dem Beziehungswahn zusammenhängt, denn die schizo¬ 
phrene Psyche kann alles auf sich beziehen, sie hat keinen Grund, die 
äußeren Vorgänge und Objekte streng von sich zu trennen. Alles 
kann ihr bedeutsam erscheinen, weil alles zu ihr in Beziehung gesetzt 
werden kann. Der harmloseste Vorgang, das kleinste Wort, kann 
Bedeutsames ankündigen und einleiten. Mißtrauen und Vorsicht sind 
darum dringend geboten. Unser Kranker verweigert es, seinen Urin 
zu Analysezwecken abzugeben, weil er „nicht weiß, was 
man daran versuchen könn e u . Ebenso mißfällt es ihm, 
Charpie zu zupfen, denn das könnte Zauberei sein. Zu Beginn der 
Psychose ist es dem Kranken aufgefallen, daß seine Worte und Ge¬ 
danken im ganzen Dorfe wiederholt wurden, daß Kinder auf der 
Straße sich über ihn unterhielten und ihm allerlei nachriefen. Auch 
in der Anstalt ist er geneigt, Gespräche und Handlungen der Mit¬ 
patienten und Wärter auf sich zu beziehen und hört aus den gleich¬ 
gültigsten Gesprächen Beziehungen heraus. 

Die Beziehungen der schizophrenen Psyche zur Welt sind von 
einer großen Unbeständigkeit, sie können jedes beliebige Objekt 
ergreifen und sich zu eigen machen. Besonders typisch äußert sich 

*) Blondel, La conscience merbide. Paris, Alcan 1914, p. 32. 



53 


dies Verhalten in den beziehungswahnhaften Bewußtheiten. So ent¬ 
deckt ein Hebephrene in seinem Bettnachbar den Vertreter seiner 
angeblichen Braut; es genügt, daß er in Gedanken eine Frage an das 
Mädchen richtet und sofort antwortet ihm der Nachbar mit einem 
Zeichen, z. B. frägt er: „Liebst du mich?“, so neigt der andere den 
Kopf. In einer Nacht war die „Braut“ krank, denn der Nachbar 
fühlte sich nicht wohl und konnte nicht schlafen. 

Ein anderer Patient bezieht die bizarren und pathetischen Reden 
eines Katatonikers auf sich und regt sich darüber so auf, daß er ver¬ 
setzt werden muß. 

Wir sehen, wie alle die mannigfaltigsten Erscheinungen, die man 
als Beeinflussungswahn, Beziehungswahn, Transitivismus bezeichnet, 
ebenso wie die den Kranken selbst bewußten Störungen des Gedan¬ 
kenganges, wie Gedankenentziehung, Gedankenmachen und Gedan¬ 
kenübertragung, aus der Störung der Grundbeziehung abzuleiten sind. 

Wir sehen auch, wie die jeweiligen pathologischen Gestaltungen 
der Subjekt-Objektbeziehung ihr Analogon und ihre Begründung in 
den normalen Relationen finden können: so, wenn sich der Kranke 
von dem Mädchen hypnotisiert wähnt, in welches er verliebt ist. Ist 
einmal die normale Beziehung in die Sprache der kranken Psyche 
transponiert, so kann sie sich mühelos auf jeden objektiven Vorgang 
ausbreiten, seine objektive Bedeutung in eine subjektive und wahn¬ 
hafte umbilden. So, wenn unser hypnotisierter Patient von 
seinem Mädchen Schokolade bekommt, die ihn zwingt, an die Geliebte 
zu denken, welche so Macht über ihn erhält. 

Die objektive Kausalität, die für den Normalen den Grundpfeiler 
seiner Erfahrung ausmacht, wird unmerklich durch eine andere Form 
der Verursachung ersetzt. In mystischer Art bleibt alles mit allem 
irgendwie verbunden und um die Psyche des Kranken, bzw. um 
deren hervortretende Komplexe konzentriert. Die quantitative und 
qualitative Angemessenheit zwischen Ursache und Wirkung wird 
nicht mehr zur Aufstellung des Kausalitätsverhältnisses verlangt. 
Geschehnisse aus den verschiedensten Gebieten werden mit einander 
verknüpft und objektiv unbedeutende Vorgänge erwachsen zu Trä¬ 
gem gewichtiger Bestimmungen und Zusammenhängen. Die Formen 
der objektiven, abstrakten Zeit und des Raumes, die für das Walten 
der Kausalität von grundlegender, einschränkend-bestimmender Be¬ 
deutung sind, verlieren diese Rolle und die mystische, prälogische 
Verursachung bleibt nicht mehr an die Schranken des Momentes und 
der Distanz gebunden. Die geheimnisvollen Wirkungen kümmern 
sich nicht um die Entfernung, sie erstrecken sich auf lange Zeit- 



Perioden und bloße Nachwirkung ist oft von der primitiven Wirkung^ 
nicht zu unterscheiden 1 ). Wir können die Bedeutung dieser eigen¬ 
artigen „Kausalität“ nicht scharf genug betonen, müssen aber die ihr 
gebührende Würdigung und Beleuchtung auf den völkerpsychologi¬ 
schen Teil verlegen, wo uns das nötige Material zu Gebote 
stehen wird. 

Wir verfolgen die weiteren Konsequenzen der Störung der 
Grundbeziehung bei unserem Kranken. Die S p r a c h e ist uns mehr 
als ein bloßes Verständigungsmittel, sie greift in unser ganzes psy¬ 
chisches Leben ein, indem sie wesentlich zur scharfen Umgrenzung 
der Objekte und Begriffe beiträgt. Als Funktion dieser Rolle der 
Sprache erscheint uns die feste Verknüpfung des Wortes mit dem 
Objekt, das Wort als Ausdruck der Vorstellung ist uns nur das sub¬ 
jektive Pendant des Gegenstandes und hat als solches an sich, vom 
Objekte losgelöst, keine besondere Bedeutung. 

Anders bei vielen unserer Kranken. Sie spielen mit Worten, als 
ob das besondere Realitäten wären, sie schreiben ihnen wichtige Be¬ 
deutungen zu und sehen in ihnen gerne, indem sie sie allerlei kabbali¬ 
stischen Zerlegungen und Auslegungen unterziehen, Beweise und Be¬ 
stätigungen ihrer Wahnideen. Auch verlieren die Worte mit ihrer 
festen Bedeutung ihre feste bestimmte Form und können mit Leich¬ 
tigkeit umgebildet, mit anderen verschmolzen werden und ähnliches; 
der Weg zu Neologismen ist gegeben. Selbstverständlich wird ihre 
Entstehung durch krankhafte Ideen begünstigt, für welche die Kran¬ 
ken keine adäquaten Ausdrücke unter dem überlieferten Wortschätze 
mehr finden. 

Ein Kranker überrascht uns mit einer Auslegung der Worte, welche man 
der Kabbala entlehnt glauben könnte. Er schreibt das Alphabet in folgender 
Weise: alpha = 1, beta = 2, gamma = 3 usw. bis omega = 24, dann schreibt 
er „Bourbaki“ und ersetzt jeden Buchstaben durch seinen numerischen Wert, 
so B = 2, o = 16, u = 19 usw., dann addiert er diese Zahlen und erhält 76, 
also Bourbaki ist gleich 76. Er ist außerordentlich zufrieden mit diesem Er¬ 
gebnis, aber es gelingt uns nicht, eine weitere Erklärung des mysteriösen 
Wortes zu bekommen. 

Derselbe Kranke verweigert es, seine Biographie zu schreiben, mit der 
Begründung, dieselbe existiere überhaupt nicht Dafür aber liefert er uns eine 
höchst wunderliche Geschichte von Julius Cäsar (der Kranke scheint ein guter 
Latinist gewesen zu sein), wo folgender Passus vorkommt: „Ave Cajus Julius 


') Ich führe das typische Beispiel von Julien T. an: Der 28jährige Kranke¬ 
fing an, sich vor 2 Jahren verfolgt zu fühlen, transponiert aber den Beginn der 
Verfolgungen in sein dreizehntes Lebensjahr, wo ihm von dem Verfolger an¬ 
geblich Magnesium eingegeben wurde, unter dessen Wirkung er noch heute 
zu leiden hat. 



55 


Caesar, Imperator, morire, t&rire, te saluent tant que ce, näst plus que des 
saluts“. Der Vergleich dieses Satzes mit dem historischen „morituri te salu- 
tant“ ist recht instruktiv. 

In ihren Reden und Schriften bleiben die Kranken oft in der Falle des 
Wortes gefangen und verlieren, wenn auch oft nur zeitweise, die Idee, den 
Sinn, weil sie von der objektiven Bedeutung ihrer Gedanken nach ihrem 
subjektiven Korrelat hin abschweifen. 

Für dieses bekannte Verhalten nur einige kleine Beispiele. „Hier je vous 
ai offert du fromage, je vous ai livre du fromage, livr6, vrai — lit, celui qui 
lit vrai dans le coeurs“, „j’ai entendu le docteur, qui disait du mal de moi au 
salon, salon, salonique, mondain“. 

Das Assoziationsexperiment zeigt anschaulich, wie das Inter¬ 
esse der Kranken an dem Worte unter Nichtbeachtung des Sinnes 
hangen bleibt. Einige Beispiele — Assoziationen eines Spätkata- 
tonikers. 


Reizwort: 

chanson 

large 

folie 

porter 

voler 

modeste 

but 

brillant 

mouvais 


lit 

sang 


Reaktion: 

il y avait chez nous un nomme Chasson. 
comme on dit läche aussi. 
fo lie, comedie d’une femme folle, lit. 
portier, fermer une porte. 
volebb (???) 

une mode d’un chapeau ou d’une blouse. 
butter . . . Bulle . . . une ville. 
brqle lent quelque chose qui est lent. 
ou bovais, mouvais . . . mauvais, Bova c’etait une mai- 
son, un mot vert. 

lit . . . litre . . . un qui dort . . . une mesure. 
sent (ich buchstabiere non, sang) changer. 


Gewinnen die Worte als bloße Form eine solche Selbständigkeit, 
so kann es leicht Vorkommen, daß ihnen auch eine besondere Bedeu¬ 
tung zugeschrieben wird. So werden nicht nur einzelne Worte als 
Macht- und Zaubersprüche gebraucht, sondern auch ganze neue Spra¬ 
chen gebildet. Ein Kranker, der in seinen Aufregungszuständen 
ganze Reden in einer solchen selbstverfaßten „Sprache“ hielt, er- 
kiärte mir folgendes: spricht er in seiner Muttersprache, so scheint es 
ihm. als ob er blöde sei, als ob er keine Bildung habe; der Satan kennt 
mehr Sprachen als der Allmächtige; der Kranke unterhält sich mit 
Gott in einer Fremdsprache, damit ihn niemand erkennen noch ver¬ 
stehen könne, niemand ihm überlegen sei. Ein anderer Kranker 
spricht alle Fremdsprachen. Ja, er hat sie alle geschaffen, so hat er 
die türkische und persische erfunden, bevor es Türken und Perser 



56 


gegeben hat. Er kennt auch die Sprachen der Tiere, der Winde, der 
Amen (?) usw. Ein Muster seiner eigenen Sprache: „Bolimini miriki 
cori moriki morikilini novilidi diviliki norikimi naviliki“. 

Die vom objektiven Werte befreiten Worte bilden ein gutes 
Material, welches die Kranken nach Belieben modifizieren können und 
welches die Eigentümlichkeiten ihres Gedankenganges gut ausdrüc- 
ken kann. Ein Kranker, der sich auf alle mögliche Art verfolgt fühlt, 
wird auch an allen Körperöffnungen in peinlichster Weise belästigt. 
In einer Periode, wo er besonders unter analen Verfolgungen zu lei¬ 
den hat, spricht er von der „inoculation, acculation, culpabilite usw.“, 
alles Worte, die durch ihre Silbe cul (Gesäß) ihr besonderes Ge¬ 
präge bekommen. 

Neologismen stellen sich auch mit Leichtigkeit ein, wenn es gilt, 
etwas zu erklären, sie erlauben dem Kranken, jede Frage zu erledi¬ 
gen und scheinbar zu beantworten. Warum hat er sich denn zu Hause 
wieder aufgeregt und mußte in die Anstalt zurückgebracht werden? 
Er sagt uns, er habe viel körperlich gearbeitet und macht uns The¬ 
orien über die „Physification“ und „Physificance“, Worte, auf welche 
er gekommen ist, weil er von „travail physique“ gesprochen hat. 
Später versteht er unter diesen Neologismen den sexuellen Akt. 

Rekapitulieren wir kurz, was wir hier über die Sprache gesagt 
haben, so finden wir folgendes. Die Störung der Grundbeziehung 
äußert sich in der Spaltung zwischen dem Objekt und dem Worte. 
Das Wort kann unabhängig vom Objekt behandelt und mißhandelt 
werden, ein Sinn kann sich mit Leichtigkeit verschieben, wie sich 
seine Form verändern kann'). Zu einer ähnlichen Formulierung 
kommt Freud’), der im übrigen von ganz anderen Voraussetzun¬ 
gen ausgeht. „Fragen wir uns, was der schizophrenen Ersatzbildung 
und dem Symptom den befremdlichen Charakter verleiht, so erfassen 
wir endlich, daß es das Überwiegen der Wortbeziehung über die 
Sachbeziehung ist. Setzen wir diese Einsicht mit der Annahme zu¬ 
sammen, daß bei der Schizophrenie die Objektbesetzungen aufgegeben 
werden, dann müssen wir modifizieren: die Besetzung der Wortvor¬ 
stellungen der Objekte wird festgehalten.“ 

Die Sprache ist uns das Äquivalent der Begriffe, denn, abgesehen 
von Eigennamen, werden Worte nur als Zeichen für ganze Klassen 
von Objekten gebraucht. Nun ist der Begriff eine Gruppierung und 

*) Über die Sprache der Schizophrenen siehe u. a.: P r e i 8 i g , Note sur 
le langage chez les aliönes. Archives de Psychologie t X. Nr. 41, 1921. 

’) Freud, Kleine Schriften zur Neurosenlehre. Heller, Wien, 1918, 
IV. Folge, S. 333, 334. 



57 


Auswahl unter den unzähligen Merkmalen der von ihm umfaßten 
Objekte. Es ist klar, daß diese Auswahl durch die Bedürfnisse der 
objektiven Einstellung ausgearbeitet wird und daß wir die Begriffe 
in dem Sinne benützen, wie wir sie brauchen. 

Ist so der Begriff ein Niederschlag der Erfahrung und unserer 
Aktivität, so vollzieht sich die jeweilige Auswahl, die wir unter 
seinen Inhalten bei seiner Benützung vornehmen, im Rahmen der 
durch die Erfahrung gegebenen Schranken. Es ist der gleiche Pro¬ 
zeß, wie wenn ich mich bei einem Kranken für bestimmte Symptomen¬ 
gruppen interessiere und sie aus dem ganzen Bilde heraushebe. 

Sobald ich von dieser zweckmäßigen Einreihung des Begriffes 
in bestimmte Zusammenhänge absehe, verschwindet er als solcher und 
wird ersetzt durch die Vorstellung eines einzelnen Vertreters, durch 
ein Bild, kurz durch etwas Singuläres und Konkretes, oder aber er 
löst sich in eine Reihe von Bildern auf, welche die Gedächtnisschicht 
darstellen, in die wir uns versetzen, sobald wir vom Gebrauch des Be¬ 
griffes absehen und zu seinen Quellen hinabsteigen, die in der kon¬ 
kret erlebten Vergangenheit liegen. (Vgl. die früher erwähnte Selbst¬ 
beobachtung bei intellektueller Arbeit.) 

Die Schizophrenen zeigen uns diese Verhältnisse in reicher Aus¬ 
bildung. Wir werden sie zunächst an Hand zweier Protokolle von 
Versuchen illustrieren, die wir mit Heilbronnersehen Bildchen 
vorgenommen haben. Es ist ohne weiteres einleuchtend, daß diese 
Bilder in ihrem Schematismus ein gutes Begriffssymbol repräsen¬ 
tieren, wobei durch Hinzufügung immer neuer Details das ursprüng¬ 
lich abstrakt gehaltene Bild immer konkreter ausgestaltet wird. Ich 
führe die Antworten der Kranken im Original an, weil jede Über¬ 
setzung das Charakteristische verwischen würde. 

1. F a 11. 1) S c h i f f: a) Construction d’un bäteau ... tröne d’un arbre 
... oui, pour faire un bäteau on commence comme ?a. b) clavette ... cla- 
vette d’une machine a coudre. c) divette ... une piöce de machine qui 
s'adapte dans une machine. (Arzt: Und was ist denn das?... [zeigt auf die 
Maste].) C’est un accessoir, la ligne droite, ligne courbe ... (spricht von 
scharfen und rechten Winkeln). (Arzt: Aber das Ganze, was ist es denn?) 
C’est une piece mathematique ... d’une seule piece je vous la rends matlie- 
matique dans l’uniformite de son droit piöces mathematiques . . . c’est 
des accessoires. (Arzt: Aber welcher Gegenstand?) Si c’est un objet, c’est 
un objet. (Aber was denn?) Une piöce mathematique ..., eh bien oui, cela 
represente un vaisseau, un navire. (Arzt: Warum haben Sie es denn nicht 
früher gesehen?) ... parceque je n’avais pas l’idee, la reflexion ne me venait 
pas... C’est quand meine une pifece mathematique. (Warum?) Pour con- 
struire un bäteau, U faut un problöme ... n’est ce pas de la mathematique? 

2) K i r c h e. Petite conBtruction magique (magique?) parceque miniature. 
Folgende Bilder bieten nichts Bemerkenswertes, aber auf die Frage nach dem 



58 


Unterschied zwischen Nr. 7 und 8 erhalten wir folgende Antwort: La couleur 
changerait, si on faisait cela en couleur. Die Versuche sind mit einem chro¬ 
nischen Kranken angestellt worden und spiegeln getreu das gewöhnliche Bild 
seines Gedankenganges wieder. Im folgenden führen wir die Antwort an, die 
uns ein im katatonischen Aufregungszustand befindlicher, sehr produktiver 
Kranker gegeben hat (es konnte leider nicht alles nachgeschrieben werden). 

Fisch. 1. poisson. 2. poisson qui voit clair. 3. Madeleine k 1& croix 
... la coupe qu’on aura le rösultat de chercher etc.... la coupe du poisson 
que j’ai re$u comme coupe d’expiation dans le purgatoire, a l’hotel de la cloche, 
sur le grand Pont... expiation de l’adultöre. 4. poisson ... vaisseau qui est 
allö precher... Mademoiselle Marguerite Roux Greyloz d’alliance de son 
fröre ... (zeigt den Schwanz des Fisches). C’est lä, que les gorilles doivent se 
toumer quand ils voient les bouches ä feu du bateau. 5. (Merkt als Erstes die 
zwei Flossen.) C’est la double machine, la double bible, celle d’Osterwald et la 
luthörienne ... la sainte alliance des peuples qui s’allient. 

K.i r c h e. 1. Un monument k pointe d’un diamant aigu. Ceci c’est les 
routes d’une vigne asphaltöe (route?) on ne peut pas mettre ga sans construire 
une route. (Benimmt sich, als ob er den Weg auf dem Bildchen wirklich sehen 
würde, aber widerspricht dieser Vermutung.) Non, je ne vois pas la route, 
c’est une idöe, qui m’avait passe dans l’öponge.“ (Soll heißen Kopf.) 2. Chateau 
d’Aigle, j’ai entendu tousser un malheureux qui ötait enfermö 14... ils tirent 
depuis le clos de St. Georges (zeigt einen Punkt der Zeichnung). 3. Außer¬ 
ordentlich schwer ablenkbar, unterbricht seine Reden nur nach meinen wieder¬ 
holten Anstrengungen oder spontan, nachdem sein Gedankenstrom erschöpft 
ist.) La grange a M. Aloys Bertholet k Aigle. II la reconnait parce qu’il a dit 
que ce n’est pas en dormant qu’on a du plaisir /.. (Schaut auf die Striche, die 
ich soeben geschrieben habe.) Ce sont les pompiers qui voient ... il a brüle 
sa grange avec le grand peuplier pour couper le courant dans le grand Service 
des lignes telegraphiques, faisant des splendides jardins d'alimentation des 
poiriers qui faisait des mirabelles. La mirabelle du banc de pierre c’est la 
Separation du bord ou on cloue le Christ quand on lui fait des signes du corps 
qui bouge devant une croix ou ils ont. röprösentö le Fils de Dieu ... 5. Le 

clocher de St. Triphon avec la grosse cloche qui s’entend ä Leysin par la siröne 
de Monthey la cloche d’alarme, qui appelle les enfents a Teglise et au feu. 

8. Croix de M. Monastier ... cadeati de fiangailles que je donnerai a 
Madame Monastier (da ich mich wundere, wieso er dieses kleine Bildchen als 
Geschenk geben will, antwortet er mit einer großen Rede) quelle valeur a ceci, 
si vous le saviez, depuis que les couches de l’air se sont atmospheröes .. * 
(spricht nach einigen Minuten von Sarah, der schönen Frau des Abraham.) 

In diesen Versuchen ist Einiges bemerkenswert. Das Ganze der 
Bilder wird erkannt und identifiziert, aber es zerfällt sofort (natürlich 
nicht immer) in einzelne Teile, indem einem Teil besondere Aufmerk¬ 
samkeit geschenkt wird auf Kosten des Ganzen. So springt der Ge¬ 
danke auf die entferntesten Gebiete über und die ursprüngliche Zu¬ 
wendung zum ganzen Objekt wird verlassen, nicht aber einfach ver¬ 
gessen. Beispiel: Beim Anblick der zwei Flossen spricht der Kranke 
von doppelter Bibel; die oberflächlichste Gemeinsamkeit bildet den 
Übergang vom Fisch zur Bibel. 



59 


Es wird vermengt, was zu dem gegebenen Objekte und was zu 
seiner Entstehung gehört; Beispiel: Schiff . . . Konstruktion eines 
Schiffes, Baumstamm. 

Der Begriff zersplittert sich und an den Splittern kann mit einer 
starken Zähigkeit festgehalten werden, die zur Bildung neuer Begriffe 
führt, welche mit dem Ursprünglichen nichts mehr zu tun haben und 
ihn vollständig unterdrücken. Beispiel: Nachdem das Schiff erkannt 
wurde, wird das folgende Bildchen als „Navette“ (Maschinenschiff¬ 
chen) bezeichnet und sogleich als das Schiff einer Nähmaschine ange¬ 
sprochen. Es fehlt auch jedes Bedürfnis, die verschiedenen Teile in 
ein Ganzes einzureihen, ein jeder Teil führt eine Existenz für sich. 
Zeige ich auf den Mast des Schiffes, so antwortet mir der Kranke: das 
ist eine Gerade und ergeht sich in Aufzählungen und Anführungen aus 
dem geometrischen Gebiete. 

Besonders schön sieht man die Auflösung des Begriffes in zahl¬ 
reiche Erinnerungsbilder, welche die Neigung haben, die ganze, ihnen 
entsprechende Bewußtseinsschicht zum Vorschein zu bringen. Bei 
Betrachtung der Kirche hat der Kranke eine lebhafte Vorstellung 
von einer Straße und benimmt sich so, als wenn er sie auf dem Bild¬ 
chen tatsächlich sehen würde. Das nächste Bild der Kirche bringt 
ihm das Gefängnis von Aigle in Erinnerung und der Kranke versetzt 
sich scheinbar in eine Situation, wo er einen Gefangenen husten hört. 
Jedes folgende Bildchen wird durch ein anderes Erinnerungsbild er¬ 
setzt. Es gehört offenbar auch dazu, wenn die Abstraktion rück¬ 
gängig gemacht wird, dadurch, daß zu dem schematischen Bilde 
Empfindungselemente hinzugedacht werden; so wenn der Kranke auf 
die Frage nach dem Unterschiede zwischen zwei aufeinander folgen¬ 
den Bildern der Kirche antwortet: die Farbe würde sich ändern, wenn 
man das farbig machen würde. 

Die früher angeführten experimentellen Assoziationen bieten 
ebenfalls reichliche Beispiele für die Entstehung der schizophrenen 
Gedankenstörungen. 

Vor allem aber ist jedes schizophrene Weltsystem, jede schizo¬ 
phrene pseudowissenschaftliche Erklärung ein Paradigma der schizo¬ 
phrenen Unfestigkeit und Unsicherheit der Begriffe, die nach Be¬ 
lieben gedreht und umgebildet werden und die nie eine Garantie 
bieten, daß sie nicht im nächsten Augenblick ihren Sinn ändern und 
in ein wildfremdes Gebiet einziehen. So die Theorien unseres Kran¬ 
ken Gustav N. 

Er vermengt Zelle und Zellulose und spricht von Zellulose als 
dem wichtigsten Bestandteil des menschlichen Körpers. Die „Sub- 



60 


stantion, constantion d’aerogöne“, welche auf das Protoplasma wirkt, 

. . . das ist die Sonne. „Si la Cellulose ne prend pas toute sa Con- 
sistance au für et ä mösure de l’Existence de son jeune Individu, celui- 
gi n’arrive pas a son Etre normal, a son Ordre moral. C’est de la Sub- 
stantion, Constantion Mineralisation que depend la force de la vita- 
lite des Individus.“ 

Wir erinnern auch an seine Theorie der Entstehung der Men¬ 
schen aus Atomen. 

S c h i 1 d e r s Kranker G. R. stellt Gleichungen auf: Vereinigung 
von Energie und Liebe = Zusammenarbeiten der Materie und des 
Äthers = naturwissenschaftliche monistische Theorie nach Maxwell. 

Wir streifen jetzt die wichtige Frage nach der Assozia¬ 
tionsstörungin der Schizophrenie und werden so zu einer prin¬ 
zipiellen Erörterung dieser Grundfrage veranlaßt, die uns mitten 
hinein in die theoretischen Diskussionen über die Krankheit führt. 

Bekanntlich faßt B1 e u 1 e r die Lockerung der Assoziationen als 
Grundsymptom, als Primärsymptom der Schizophrenien auf und 
spricht neuerdings von einer Assoziationsspannung, die unter Um¬ 
ständen nachläßt, was die schizophrenen Entgleisungen möglich 
macht 1 ). Ohne auf die Kontroverse zwischen der Assoziations¬ 
psychologie (Bleuler) und der Aktionspsychologie*) (B e r z e) ein¬ 
zugehen, müssen wir uns doch klar machen, daß die Vorstellung von 
festen Assoziationsgefügen, die gelegentlich gelockert werden, nicnt 
unerheblichen Schwierigkeiten begegnet. 

Die Schwierigkeiten der Assoziationspsychologie kommen von 
der intellektualistisch-atomistichen Auffassung, die man sich von den 
Ideen macht. Sie werden vorgestellt als unabhängige fest determi¬ 
nierte Wesenheiten, die ein für allemal durch die Erfahrung in unser 
Gehirn hineingebracht wurden. 

Wie soll man sich da ihre Verbindung denken? Nach welcher 
geheimnisvollen Affinität ziehen sie sich untereinander an, was ist 
und woher kommt die Assoziation? Es geschieht hier dem psycho¬ 
logischen Leben das gleiche Unrecht, das unsere Auffassung von der 
materiellen Welt vor unlösbare Antinomien geführt hatte. Nachdem 
die Materie in unabhängige und fest umschriebene Atome zerschnitten 
wurde, konnte man ihr Werden und Vergehen, ihre Mannigfaltigkeit 

') Bleuler, Über die Störung der Assoziationsspannung etc. Ailg. 
Ztschr. f. Psych. Bd. 74. S. 1. 

*) Siehe B e r z e : Die Schizophrenie im Lichte der Assoziations- und in 
dem der Aktionspsychologie. Allg. Ztschr. f. Psych. 1919. p. 3 und Bleu¬ 
ler, Schizophrenie und psychol. Auffassungen 1920, p. 136. 



61 


und ihre energetischen Vorgänge nicht mehr verstehen, ohne das 
Leere des abstrakten Raumes durch neue Prinzipien künstlich aus¬ 
zufüllen. 

Wie aber, wenn man sich einmal mit voller Klarheit vor Augen 
hält, daß die psychischen Gebilde, von deren Assoziation wir spre¬ 
chen, aus der Kontinuität der psychischen Prozesse von uns künst¬ 
lich ausgeschnitten wurden. Denn nie sind uns psychische Tatsachen 
als solche vereinzelt gegeben, wir haben es immer mit komplexen Zu¬ 
ständen zu tun, welche wir erst nachträglich fragmentieren. Jedes 
Erinnerungsbild, jede Vorstellung, jeder Gedanke sind nur Teile eines 
Ganzen und entstehen erst sekundär, da wir zunächst die Ähnlich¬ 
keiten wahrnehmen und von einem zusammenhängenden Ganzen zu 
seinen Elementen schreiten — nicht umgekehrt. 

Die Assoziation wird uns so zu etwas durchaus Dynamischem, 
Beweglichem und Allgemeinem. Im Grunde ist ja Alles mit Allem 
irgendwie assoziiert und der Zustand der Dissoziation, der uns in 
seinen höchsten Graden als „Wortsalat“ imponiert, stellt eigentlich 
die maximalste Ideenassoziation dar. Diesen Zustand können wir uns 
aber leicht konstruieren, wenn wir uns ein Bild vollkommener psy¬ 
chischer Wahllosigkeit vorstellen, wo die Psyche durch keine rich¬ 
tungsgebenden äußeren oder inneren Motive aufgefordert Stellung zu 
nehmen, durch nichts bestimmt, ins Unbestimmte verfällt, sich ins 
Uferlose aller ihrer Impressionen und momentaner Tendenzen 
verliert. 

Denn die Ideenassoziationen sind doch nur Wege, die wir für die 
Bedürfnisse unserer Aktivität fortwährend bilden und wenn gewisse 
von ihnen häufiger und gewohnter sind, so kommt es daher, daß die 
eben öfter von unserer Aktivität gefordert und so mitunter zu einer 
Art psychischer Gewohnheit werden. 

In der Tat versuchen wir uns die Entstehung der beiden Asso¬ 
ziationsformen nach Ähnlichkeit und nach Kontiguität klar zu 
machen. Die einfachste Form, wo die beiden Möglichkeiten zugleich 
verwirklicht erscheinen, ist die konstante zur Gewohnheit gewordene 
Reaktion des Organismus auf eine bestimmte Wahrnehmung. Denn 
hier wirkt jede neue Wahrnehmung der gleichen Art durch ihre 
Ähnlichkeit mit der vorhergehenden und sie provoziert die gleichen 
Reaktionen, welche früheren Wahrnehmungen gefolgt sind. Aus 
einem Ganzen der Wahrnehmung und unter allen möglichen Reak¬ 
tionen wird so vom Organismus das für ihn in Betracht kommende 
ausgesucht'). Je höher der Organismus, um so reicher die Möglich- 

') Bergson, Matiisre et Memoire, p. 182. 



62 


keit der Reaktionen, um so größer die Auswahl, die uns zu Gebote 
steht. Wendet man sich aber von dem Tun und dem Wirken ab und 
versetzt sich immer mehr und mehr in die bloße Erinnerung, so ver¬ 
schwindet auch die Notwendigkeit der Wahl und man wandelt frei 
unter den Gebilden der Vergangenheit, auf unmerklichen Brücken von 
einem zum anderen übergehend, da sie immer irgendwelche „Ähn¬ 
lichkeiten“ aufweisen. Diese Dinge sind jedem durch Introspektion 
unmittelbar bekannt. Bei den von mir früher erwähnten Ersatz- 
bildem, die sich beim momentanen, oft kaum merklichen Nach¬ 
lassen der Aufmerksamkeit während einer schwierigen Lektüre ein¬ 
stellen, hat man das unmittelbare Gefühl, in eine tiefere entlegene 
Schicht des Bewußtseins hinabzusteigen; oder vielmehr erscheinen 
die Bilder als Gäste aus jener entfernten Schicht. Nun hängt das 
Weitere von meiner Attitüde ab. Ich kann mich entweder energisch 
der Arbeit wieder zuwenden und mich ganz auf das Aktuelle ein¬ 
stellen, oder aber ich überlasse mich den aufgetauchten Bildern; 
dieses zieht aber andere mit sich. Bleibt dabei eine gewisse Span¬ 
nung des Geistes vorhanden, so ist die Reihe der auftauchenden 
Bilder nicht allzu groß und sie hängen ziemlich eng zusammen, stellen 
eine ziemlich streng umschriebene Situation dar; entspanne ich aber 
meinen Geist vollständig, so tauchen immer neue und neue Bilder 
auf, ihre Zusammenhänge werden immer lockerer und sie versetzen 
mich in immer weitere und verschiedene Situationen und Szenerien. 
Dieser letztere Zustand ist offenbar eine Träumerei. So kann ich 
zwischen dem Tun und seinen streng bestimmten Reaktionen und dem 
Träumen mit seinen fest umgrenzten Erinnerungsbildern wandeln. 
Ich durchlaufe bei diese Bewegung meines Geistes verschiedene Be¬ 
wußtseinsschichten, deren jede ihre eigentümliche Färbung, ihre be¬ 
sondere Beziehung zur gegenwärtigen Realität hat. Einer jeden von 
diesen Schichten entsprechen auch bestimmte Assoziationsmöglich¬ 
keiten. Der Mangel an bestimmter Tendenz, speziell das Fehlen der 
Gerichtetheit auf ein inneres oder äußeres Objekt, lockert die Asso¬ 
ziationen, die ja durch die Beziehung zum Objekt geschaffen und in 
der Anpassung daran ausgebildet wurden. 

Ich konnte eine quasi experimentelle Ideendissoziation bei einem 
Freunde beobachten. 

Erschöpft und müde am Abend, fühlte er zeitlich das Schlafbedürfnis, 
wogegen er vergebens ankämpfte, ohne es sich zugestehen zu wollen. In dem 
Übergangszustand, wo er, von der Wirklichkeit vollständig abgekehrt, dem 
herannahenden Schlafe geweiht, sich trotzdem noch wach erhalten wollte und 
zu sprechen versuchte, wurden seine Worte typisch dissoziert. 



63 


Ich habe es vorhin angedeutet, daß wir alle unseren Ideengang 
dissozieren können, wenn wir uns ohne jedes Ziel und Richtung einer 
vagen Träumerei hingeben. Als Gegensatz dazu vergegenwärtigen 
wir uns die Situation bei einer stark in Anspruch nehmenden geistigen 
Arbeit, wo sich alle nötigen Assoziationen, alle entlegensten Er¬ 
innerungen, eigene und fremde Beobachtungen sofort, wie bei einer 
allgemeinen Mobilmachung, einstellen. 

Die Assoziationsstörung der Schizophrenie erscheint uns so als 
der innerste Ausdruck der Störung der Grundbeziehung Psyche-Welt. 
So wie diese Grundbeziehung nur selten ganz gespalten ist, so ist 
auch selten die Dissoziation etwas Konstantes und wir verstehen es 
gut, nachdem uns der dynamische Charakter sowohl der Grund¬ 
beziehung wie auch der Ideenverbindung klar wurde. 

Gewöhnen wir uns an die Auffassung, daß unser Denken und 
Erkennen eine Auswahl ist, so wie auch unser Handeln eine Wahl 
darstellt, zwischen den zahllosen in der Wirklichkeit gegebenen Mög¬ 
lichkeiten, so gewinnen wir zugleich einen Anhaltspunkt dafür, die 
Grundlagen und die Grundformen unserer Erkenntnis und unseres 
Denkens psychologisch zu verstehen. Nicht als ob wir die Gültigkeit 
der logischen Normen von ihrer Genese ableiten wollten, denn der 
psychologische Gehalt der Kategorien und Formen des Denkens hat 
mit ihrem Wert nichts zu tun, derselbe bekundet sich vielmehr durch 
ihre Bedeutung für jede wahre, d. h. zur Wirklichkeit führende Er¬ 
kenntnis. Aber andrerseits ist es klar, daß uns die logischen Normen 
nicht als Ausdruck einer höheren Wirklichkeit erscheinen können, 
eines dritten Reiches (Simmel) einer Welt der Gültigkeiten. Wir 
müssen uns sagen, sie haben sich im Laufe unserer Wechselwirkung 
mit der Wirklichkeit herausgearbeitet, sie entsprechen den Forde¬ 
rungen, die wir an die objektive Welt stellen und die die vielen 
menschlichen Generationen gestellt haben, aber auch den Ansprüchen, 
welche die Wirklichkeit an uns stellt. 

Trotzdem können wir nicht sagen, daß wir die logischen Normen 
und die Gesetze des Denkens einfach aus der Erfahrung abstrahiert 
haben. Denn sie sind vielmehr die Grundlage und die Voraussetzung 
jeder möglichen Erfahrung, wie dies Kant ein für allemal klar ge¬ 
macht hat. Jede mögliche Erfahrung heißt aber nichts anderes, als 
Erfahrung, die jederzeit allgemein gültig werden kann, deren Wert 
und Wahrhaftigkeitsgehalt überindividuell ist. So sind die Kate¬ 
gorien des Verstandes wie die Bedingungen der Gegenständlichkeit 
a priori gegeben und für die Psyche selbstverständlich, so selbst¬ 
verständlich, daß sie ihr ohne besondere Untersuchung nicht bewußt 



64 


werden. Sie sind nach dem Ausdruck Jaspers 1 ) das Gitterwerk,, 
wodurch die Wege vom Objekt zum Subjekt führen. 

Es ist klar, daß bei tiefgehender Störung der Grundbeziehung, 
wie wir sie für die Schizophrenie annehmen, die Kategorien ihren 
ursprünglichen Wert und Charakter verlieren müssen. Die ganze 
Aktivität und das Interesse der Persönlichkeit wird verschoben und 
wendet sich der Welt auf anderen Wegen zu, nachdem die alten 
ungangbar geworden sind. Und wieder müssen wir hier betonen, 
daß die Verschiebung der Grundbeziehung etwas Dynamisches und 
nicht Konstantes ist, so daß man sich den totalen Verlust der 
normalen Relation und der objektiven, allgemein gültigen Kategorien 
nur als Grenzfall vorstellen darf. So kann es uns nicht verwundern, 
daß wir bei der schizophrenen Persönlichkeit die normalen Kategorien 
neben pathologischen vorfinden und daß die beiden Bestandteile in 
allen möglichen Verhältnissen variieren. 

Die Beziehungen der Kausalität und der Wechselwirkung, die 
Sätze des Widerspruchs, des ausgeschlossenen Dritten, des zu¬ 
reichenden Grundes, die Kategorien der Einheit und Vielheit, der 
Realität und Negation, der Möglichkeit und Notwendigkeit, schlie߬ 
lich aber die Forderung der Einheitlichkeit der Erfahrungen, dies 
alles erleidet in der pathologischen Erfahrung die weitgehendsten 
Modifikationen. 

Wir vermuten, daß das Verständnis des Pathologischen und des 
Normalen sich auch hier gegenseitig von großem Nutzen sein können. 
Es wäre vielleicht zu gewagt, schon heute an diese prinzipielle 
Untersuchung heranzutreten; wir werden einiges darüber in den fol¬ 
genden Kapiteln sagen können, wo uns die völkerpsychologischen 
Tatsachen zu Gebote stehen werden. Hier muß nur betont werden, 
daß mit der Zerstörung der Kategorien der objektiven Erkenntnis 
und Erfahrung die Wege zur pathologischen Erfahrung offen liegen, 
welche die früheren Formen der Grundbeziehung Psyche-Welt er¬ 
setzen. 

Das enge Zusammenspiel der beiden Elemente der Grund¬ 
beziehung bekundet sich auf dem pathologischen wie auf dem 
normalen Gebiete. Ist die Welt um die Persönlichkeit verändert, 
so bedeutet das zugleich die Veränderung der Persönlichkeit selbst, 
und jede Verschiebung der Grundbeziehung bedroht gleichzeitig 
Welt und Psyche. 


*) Jaspers, Psychologie der Weltanschauungen. 



65 


Es ist, als ob die Hierarchie der um das zentrale bewußte Ich 
gruppierten psychischen Elemente durch die Gerichtetheit der psycho¬ 
physischen Person auf die Welt bedingt und erhalten wäre. Die 
normale einheitliche Persönlichkeit bewahrt bei allem ihrem Wechsel 
und Werden den einheitlichen. Grundcharakter, den Kern, der allen 
ihren Erscheinungsformen zugrunde liegt und der schließlich unser 
unveränderliches Selbstbewußtsein ausmacht. 

Wir alle haben affektbetonte Komplexe, sie beeinflussen unser 
Tun und Handeln, spielen in unsere Träume und Fehlleistungen 
hinein. Sie sind aber unserer bewußten Persönlichkeit unterordnet 
und vermögen sie nicht umzuändern. Denn auch die unbewußten 
verdrängten Komponenten unserer Triebe, alle unverwirklichten 
psychischen Tendenzen, trüben normalerweise nicht das harmonische 
Spiel unserer erlebenden wirkenden Persönlichkeit. 

Es muß eine tiefliegende Ursache haben, wenn die Komplexe 
eine so ganz andere Rolle bei der schizophrenen Persönlichkeit 
spielen, welche sich in der durch sie vorgezeichneten Richtung um¬ 
bilden und spalten kann. 

Ein junger Katatoniker hält sich oft für den „lieben Gott“, 
Jesus Christus oder Napoleon. Er schreibt sich diese verschiedenen 
Rollen sukzessiv oder aber gleichzeitig zu, wobei es ihn nicht im ge¬ 
ringsten verwundert, daß er zum Beispiel er selbst und der Heiland 
gleichzeitig ist. Der Kranke vereinigt aber mühelos noch größere 
Widersprüche. So erklärt er mir eines Abends: „Ich bin der liebe 
Gott, aber ich fürchte mich vor dir, rühre mich nicht an. Ich möchte, 
du sollst mit mir tun, was du wagen kannst . . . (Ich frage: wieso?) 
Ich bin ein Mädchen . . .“ Einen Moment später ist er wieder er 
selbst und dennoch ist er ein Mädchen. Während er nur ein Mädchen 
war, hielt er den daneben stehenden Wärter für sich selbst, dies 
alles allerdings ganz vorübergehend. 

Die Persönlichkeit wird hier von Augenblick zu Augenblick 
umgeändert, das Persönlichkeitsbewußtsein oszilliert zwischen zwei 
unversöhnlichen Gegensätzen (Mann — Frau), empfindet auch keine 
Schwierigkeit, sie vorübergehend gleichzeitig zu realisieren. 

Offenbar wird die Persönlichkeit momentan von der homo¬ 
sexuellen Komponente des Geschlechtstriebes beherrscht, deren 
Invasion so stark ist, oder aber der Widerstand der übrigen Persön¬ 
lichkeit so schwach, daß sie sich mit Gewalt durchsetzt und die 
gegenteiligen Tendenzen ausschaltet. 

Die Selbständigkeit, welche hier eine auch normal vorhandene 
Triebtendenz erlangt, weist auf starke Schwächung der Einheitlichkeit 

Bycbowski, Metaphysik und Schizophrenie. (Abhandl. H. 21.) 5 



66 


der Psyche hin. Die sonst wie in dem Brennpunkte einer starken 
Linse vereinigten Strahlen werden nicht mehr zusammengehalten 
und divergieren. Dieses Nachlassen der vereinheitlichenden Macht 
der Psyche können wir als Mangel an psychischer Synthese, als eine 
Insuffizienz der psychischen Aktivität (B e r z e) und so weiter auf¬ 
fassen, ohne daß durch diese Ausdrücke mehr als eine bloße Um¬ 
schreibung des Tatbestandes gegeben wäre. 

Es scheint uns aber, daß die Spaltung oder besser die Spaltungs¬ 
bereitschaft der schizophrenen Persönlichkeit durch die veränderte 
Grundbeziehung Psyche-Welt dem Verständnis näher gebracht werden 
kann. 

Die Einstellung der Psyche auf die Welt bringt es mit sich, daß 
die psychischen Tendenzen in fein abgestufter Wertigkeitsskala 
nebeneinander wirken. Es vollzieht sich im Laufe der phylo¬ 
genetischen Entwicklung, wie während des individuellen Lebens, die 
Unterordnung der psychischen Mächte, der Triebe mit allen ihren 
Komponenten und Ausbildungen unter die zweckdienlichen höheren 
psychischen Instanzen, welche das wachsame Anpassen des Menschen 
aru die Realität besorgen. Jeder Trieb, jedes Streben hat eine 
reiche Entwicklung durchgemacht, bis es zu der gegenwärtigen An¬ 
passungsform gelangte, die gleichsam den Überbau bildet, unter 
welchem die früheren Stadien in potentia erhalten, die früheren 
Mechanismen in ihrer Wirksamkeit vielleicht reduziert, aber doch 
nicht verschüttet sind. 

Wir wissen von der großen Bedeutung der Gegensatzpaare im 
Bereich psychischer, respektive psychophysischer Tendenzen und 
Antriebe. Bleuler“) hat uns die ganze ausgedehnte Wichtigkeit 
dieser Einrichtung schätzen gelehrt und Freud*) an Abel an¬ 
knüpfend im Gegensinn der Urworte ehrwürdig alte Spuren von 
intellektueller Ambivalenz aufgedeckt. Seit wir gewohnt sind darauf 
zu achten, können wir in täglicher Selbstbeobachtung die enorme 
Verbreitung der Ambitendenz und Ambivalenz sehen. Zugleich 
müssen wir über die sinnreiche Einrichtung staunen, die es er¬ 
möglicht, daß sich Trieb und Gegentrieb Gleichgewicht halten, 
wodurch ein Abwägen und Abstufen unserer Wirklichkeitsreaktionen 
in des Wortes weitestem Sinn zustande kommt. Es wird so ein 
Verabsolutieren der psychischen Tendenzen verhindert, wozu eine 

*) Bleuler: Zur Theorie des schizophrenen Negativismus. Psych.- 
Neur. Wchsch. 1910. 

*) Freud: Über den Gegensinn der Urworte. Jahrbuch für Peycho- 
Analyse. Bd. II. 1910. 



67 


jede von ihnen als solche Neigung hat und wie die Pathologie lehrt, 
befähigt ist. 

Auch die Gegensatzpaare werden durch die Grundbeziehung 
Psyche-Welt zusammengehalten und in das harmonische Spiel des 
psychophysischen Organismus eingereiht. 

Wird die Grundbeziehung gelockert und zugunsten der Psyche 
verschoben, so befindet sich das seelische Orchester äuf einmal ohne 
Dirigenten. Der Macht der Gewohnheit folgend, werden die Orchester¬ 
mitglieder zunächst vielleicht noch harmonisch spielen. Bald aber 
kümmern sie sich nicht mehr um die gegenseitige Anpassung, welche 
die unumgängliche Vorbedingung zur Aufführung der großen Sinfonie 
darstellt. Sie vergessen um ihre Hierarchie und der Trommelschläger 
begnügt sich nicht mehr mit einigen Tönen an gewissen Stellen, die 
ihm vom Komponisten bestimmt wurden; er findet sich wichtig und 
übertönt die zarten Geigen mit seinem unbändigen Lärm. 

Die innere Struktur, der wunderbare architektonische Aufbau der 
Sinfonie, die planvolle und diskrete Entwicklung der Leitmotive geht 
verloren, ebenso wie die sinngemäße Entfaltung der Melodien und die 
fein abgestufte Steigerung der Hauptidee. 

So kann sich auch jedes psychische Motiv, jede Intention ge¬ 
legentlich mit unbändiger Kraft durchsetzen und die psychische Tätig¬ 
keit, zu deren größten Schaden, vollauf beherrschen. 

Wir sehen dies in dem Oszillieren des schizophrenen Persönlich¬ 
keitsbewußtseins, wir sehen dies in der Geschichte der Delirien, welche 
unmerklich oder mit jähem Absturz von der Gestaltung und plasti¬ 
schen Umbildung einer Triebtendenz zu der Verwirklichung einer an¬ 
deren, vielleicht sogar entgegengesetzten, übergehen. 

In beginnenden Zuständen kann sich die schizophrene Persönlich¬ 
keit ihrer Veränderung gelegentlich bewußt werden, sie fühlt die Welt 
schwanken, entfremdet, sich selbst nicht mehr genügend zentriert, 
zweckmäßig und einheitlich in Sinnen und Beschließen, Beginnen und 
Handeln. Es kann diese Veränderung auch als durchaus positive 
empfunden werden, wie dies trefflich der Patient von B e r z e aus¬ 
drückt: 

„Ich bin jetzt ganz anders als früher, ich weiß jetzt alles auf 
einmal, was ich früher nacheinander in meinem ganzen Leben gewußt 
habe; das ist ein großartiger Zustand! Man ist nicht gebunden, man 
ist ganz frei, man muß nicht so oder so, man kann wie man will. Man 
kann so oder auch das andere, das Gegenteil. Man hat einen viel wei¬ 
teren Horizont.“ Als Quintessenz dieser Introspektion der schizo¬ 
phrenen Wahl und Steuerlosigkeit sagt dann derselbe Kranke: „Ich 

6 * 



68 


bin kein Mittelpunkt weder in afirmativer noch in negativer Be¬ 
ziehung“ 1 ). Unter diesen Bedingungen müssen die gegensätzlichen Re¬ 
gungen nicht mehr in ihrem Gleichgewicht verbleiben, der unter¬ 
drückte Gegenantrieb kann sich mit Leichtigkeit emanzipieren und die 
Betätigung des Kranken widersinnig und zweckwidrig, das heißt ent¬ 
gegengesetzt dem bewußten Zwecke seiner Persönlichkeit, gestalten. 
Hatte der Antrieb die Tendenz, der Situation, der Wirklichkeit adä¬ 
quat zu sein, war er ein Vorstoß der Psyche in die Welt, so wendet 
sich der Gegenantrieb von der Realität weg, widersetzt sich den reel¬ 
len Zusammenhängen. Er kann so die Persönlichkeit in arge Kon¬ 
flikte mit der Umgebung bringen; wir haben hier das, was Edgar 
Allan Poe beim Normalen mit dem trefflichen Ausdruck „Demon 
de perversitö“ benannt hat. Jeder von uns kennt die widersinnigen 
unzweckmäßigen Gegenantriebe, die uns plötzlich einfallen können; 
man verspürt die Lust, während einer ernsten Rede ein dummes Lied 
anzustimmen, während eines Begräbnisses laut zu lachen, wir unter¬ 
drücken diese „perversen“ Antriebe gewöhnlich mit Leichtigkeit, weil 
wir auf die Situation eingestellt sind und mit ihr in Einklang bleiben 
wollen. 

Bei dem Schizophrenen wird aber das Vorherrschen der Gegen¬ 
tendenzen durch die ganze autistische Einstellung besonders begün¬ 
stigt. Die Kranken empfinden die äußere Welt und die Eindrücke, 
die von ihr kommen als eine peinliche Störung, sie suchen den Ab¬ 
schluß als Abwehr gegen die Forderungen der Wirklichkeit, denen sie 
nicht mehr gerecht werden können. 

Darin liegt die tiefe Wurzel des Negativismus. Während so zu¬ 
nächst nur die Antriebe und Komplexe von der zweckmäßigen, weil 
wirklichkeitsgerechten Ichinstanz unabhängig werden, kann bei den 
katatonen Syndromen diese Loslösung viel tiefer gehen. Der Körper, 
das rein Motorische, entgleitet dem bewußten Willen, die störendsten 
und unzweckmäßigsten Bewegungen werden gleichsam zwangsmäßig 
vollzogen und vollenden so das Paradoxe der krankhaften Störung, 
welche sogar das zur Beziehung mit der Welt bestimmte Instrument, 
den Leib der Herrschaft des Ich entreißt. 

Ich verweise in diesem Zusammenhang auf die Ausführungen von 
Kretschmer über die Hypobulik, der auf das Fastkörperliche der 
katatonen Syndrome mit Nachdruck hinweist. „Nicht die leiseste 
Spur von einem Zweck oder Grund oder Motiv; es ist, als ob man eine 
Schnecke fragte, weshalb sie ihre Hörner ausstreckt und wieder ein- 


') B e r z e , 1. c. 



69 


zieht; nur das eine: das Befremden, das aufmerksame Zusehen des 
Menschen, wie seine Atavismen in ihm spielen.“ 

Als speziellen Fall des Negativismus können wir die Sperrung 
betrachten, welche uns die momentane Unterbrechung der Grund¬ 
beziehung augenscheinlich demonstriert. Besonders instruktiv ist das 
Eintreten der Sperrung bei dem Anschneiden der Komplexe. Es wie¬ 
derholt sich hier das Gleiche, was wir bei der Entwicklung der Krank¬ 
heit selbst so häufig beobachten, die Ablösung der Psyche von der 
Welt beginnt an den Stellen, wo die Psyche mit der Welt zutiefst ver¬ 
bunden ist, an den Komplexen und affektiven Beziehungen, welche 
für das Leben der Persönlichkeit von besonderer Bedeutung sind. 

So wird uns auch die Häufigkeit der reaktiven Schizophrenie ver¬ 
ständlich, der Fälle also, wo die Psychose als Reaktion auf psychische 
Traumen in verständlicher Weise ausbricht. Wir können uns hier 
leicht vorstellen, daß ein bestimmtes Verhältnis zwischen der Stärke 
der auslösenden psychischen Ursachen und der krankhaften Anlage 
die Situation beherrscht und zum Ausbruch der Psychose notwendig 
ist. Ist nämlich das dynamische Gleichgewicht der Grundbeziehung 
stark genug, so widersteht es leicht unbedeutenden Traumen, wird 
aber unter Umständen von langdauernden chronischen Traumen, wie 
z. B. unbefriedigende Ehe, gleichsam zermürbt. Bei einem schwachen 
Gleichgewicht und Zusammenhalten der Grundbeziehung genügt ein 
weniger bedeutendes, vielleicht schon einmaliges Trauma, um die 
Beziehung Psyche-Welt zu lockern und den psychotischen Prozeß in 
Gang zu bringen. 

Es eröffnen sich hier interessante Ausblicke auf die so aktuelle 
Frage der Beziehung zwischen dem Charakter und der Psychose 1 ). 
Ist doch gerade auf dem Gebiete der Schizophrenie die charakterologi- 
sche Anamnese von besonderem Belang und gibt es andererseits zahl¬ 
reiche Übergänge zwischen den abnormen, schizoiden, autistischen, 
paranoiden Charakteren und den ausgesprochenen psychotischen Pro¬ 
zessen. 

Zum Schlüsse ein Beispiel der endopsychischen Wahrnehmung 
des schizophrenen Prozesses, welches uns in synthetischer Weise das 
Wesen der Krankheit demonstriert. Es ist dies der Fall von Dar- 
del*) (französisch: Eigene Angaben des Kranken). 

Erste Periode: Ablösung von der Welt: „Döcouragement et Senti¬ 
ment de sa propre inutilite“. 

') Siehe B o v e n : Caractere individuel et altenation montale. Archives 
Suisses d. Neur. et de Psych. VI/2. 

*) D a r d e 1: Impression d’un catatonique. 



Zweite Periode: Übermacht der Psyche, Vorherrschen der Vergan¬ 
genheit über die Aktualität: „ensuite trös grande activitö c4r6brale avec le 
retour vers le pass6. Impression d’avoir v6cu plusieurs vies antörieures, meme 
durant la Periode animale. On assiste au d6v61oppement du film qui aurait 6te 
pris dans le pass6 auquel se superposerait une pellicule d’actualitä“^ 

DrittePeriode: Versuch, die Welt wieder zu gewinnen. Untergang 
eigener Persönlichkeit. Erlelien des Ganzen: „Un 6tat de grace durant lequel 
on abdique de sa personalitä pour s’en remettre a la volonte des tiers. La per¬ 
sonne disparait et Ton a Timpression de faire partie d’un tout, d’Univers“. 



UI. Kapitel. 

Völkerpsychologisches. 

Unsere Ausführungen über die pathologische Gestaltung der 
Grundbeziehung Psyche-Welt gipfeln in der Feststellung, daß der 
schizophrene Prozeß die Grundbeziehung verschiebt, indem er die 
Schranke zwischen Psyche und Welt zeit- und teilweise aufhebt. Den 
psychischen Realitäten wird so objektive Wertigkeit zugeschrieben 
und umgekehrt werden gegenständliche Zusammenhänge subjektiv 
umgedeutet oder gar ihrer äußeren objektiven Gegebenheit entkleidet. 

Die objektive Einstellung, welche sich in bestimmten, allgemein 
gültigen Formen und Kategorien ausdrückt und welche die Beziehun¬ 
gen der Persönlichkeit zur Welt regelt, wird durch eine anormale Ein¬ 
stellung ersetzt. 

Diese imponiert uns zunächst als eine durchaus alogische. 
Denn sie ist mehr als unlogisch. Wir wissen es aus täglicher Erfah¬ 
rung, daß die Affekte unsere Logik zeitweise trüben und unsere 
Schlüsse sowolil wie Handlungen unlogisch gestalten. „Le coeur a 
ses raison que la raison ne connait pas“. Dieses Verhalten entspricht 
wohl zumeist einer momentanen Einschränkung des geistigen Hori¬ 
zontes, welche, durch den Affekt verursacht, eine genügende Über¬ 
sicht der gesamten Situation unmöglich macht. So wird aus der Wirk¬ 
lichkeit nur das erwählt und berücksichtigt, was mit der momentanen 
affektiven Einstellung in Einklang steht, währen^ alles andere im 
Schatten bleibt. Diese unlogischen Schlüsse und Handlungen werden 
durch die unmittelbare oder spätere Erfahrung korrigiert, auch sind 
sie nicht an und für sich absurd und widerspruchsvoll, sie wider¬ 
sprechen nur oft unserem bewußten Interesse und der Gesamtheit der 
gegebenen Situation. Diese Affektschlüsse und Handlungen können 
auch von jedem der Einfühlung fähigen ohne weiteres verstanden 
werden, sie gehören durchaus in das Gebiet der gewohnten Prozesse 
und Reaktionen. 

Alogisch aber müssen wir die von unseren Kranken aufgestellten 
Zusammenhänge nennen, welche ihr objektives Weltbild wesentlich 
umändern und ihre Einstellung zur Welt umbilden, ja verrückt 
machen. 



72 


Wir können es nicht mehr verstehen und nicht mehr nachfühlen, 
wenn man sich von allerlei äußeren Vorgängen beeinflußt glaubt, 
welche mit einem sicherlich in keinem Zusammenhänge stehen, wenn 
man Verfolgungen ausgesetzt ist, welche ihre Wirkung auf große 
Distanzen ausüben. 

In dem gleichen Maße, wie uns diese alogischen Aufstellungen 
absurd erscheinen, sind sie für die Kranken selbstverständlich und von 
Grund aus evident und sie wundem sich über unser Staunen und über 
das Unverständnis, mit dem wir dem für sie so natürlichen Erleben 
gegenüberstehen. 

Es wird uns klar, daß wir es hier mit einer wesentlich verschie¬ 
denen Mentalität zu tun haben, welche nach eigenartigen, von den 
Nonnen unserer Logik unberührten Gesetzen arbeitet. 

Lydia liegt mit Fieber zu Bett; die Temperaturkurve hängt Uber der 
Kurve einer Nachbarin. Lydia bittet uns, wir sollen die Kurve der anderen 
fortnehmen, denn diese Kurve ist es, welche ihr, der Lydia, Fieber gibt und sie 
krank macht. Dies wird bewirkt von dem kranken, vergiftenden Körper, wel¬ 
cher sich in dem Blatte befindet oder vielmehr das Blatt selbst ist. („C ’ e s t 
le corps malade et empoisonnant qui est d an s la feuille 
ou plutöt qui est la feuill e.“) 

Die ganze Klage ist für uns absurd, für Lydia selbstverständlich. 
Offenbar überträgt sie den vermeintlichen Einfluß der Mitpatientin 
und ihre Krankheit auf das Temperaturblatt. Den Einfluß der Mit¬ 
kranken könnten wir mit unseren logischen Ansprüchen leicht ver¬ 
einigen, es müßte sich einfach um die Infektion handeln; daß aber die 
Krankheitsursache in dem Temperaturblatt sitzt und von da aus 
Lydia schädigt, liegt jenseits unseres Verstandes. Lydia geht aber 
sofort einen Schritt weiter und setzt den „kranken, vergiftenden Kör¬ 
per“ dem Temperaturblatte gleich: er i s t die Temperaturkurve. Die 
Kurve, welche naturgemäß zu der betreffenden Kranken in Beziehung 
steht, übernimmt ihre wesentlichen Eigenschaften, wird zu deren Trä¬ 
ger. Indem sie so an der Kranken und der Krankheit teilnimmt, wird 
sie mit dieser Krankheit, vielmehr mit deren aktivem Prinzip, gleich¬ 
gesetzt, der Teil wird zum Ganzen. 

Ein neuer Sprung kommt zustande, indem der Einfluß der Kurve 
unmittelbar auf unsere Patientin übergeht; aber wir können uns leicht 
vorstellen, daß die Kurve einfach, indem sie die Eigenschaften der 
kranken Nachbarin übernommen hat, auch mit dieser Macht ausge¬ 
stattet wurde. 

Selbstverständlich ist diese ganze Analyse das Werk unseres 
erklärenden Verstandes; für die Patientin vollziehen sich diese 



73 


Schlüsse blitzartig, und, was wir zerlegt haben, ist ihr mit einem Male 
synthetisch gegeben. 

Das Temperaturblatt partizipiert an der Kranken und an der 
Krankheit, es i s t die Krankheit; Lydia partizipiert an der Krankheit 
und an dem Blatte, die fremde Krankheit wird zu i h r e r Krankheit. 

Dieses alogische Verhalten wird am besten bezeichnet mit dem 
den völkerpsychologischen Betrachtungen von Ldvy-Bruhl ent¬ 
lehnten Terminus „mystische Anteilnahme“ (Participation mystique). 

Wir führen die klare Formulierung des Autors wörtlich an: 

„In den kollektiven Vorstellungen der primitiven Mentalität können 
Gegenstände, Organismen, Erscheinungen in einer für uns unverständlichen 
Weise gleichzeitig sie selbst und etwas anderes sein. In einer für uns nicht 
weniger unbegreiflichen Weise entwenden und empfangen sie Kräfte, Fähig¬ 
keiten (vertus) und Eigenschaften, mystische Tätigkeiten, welche sich fühlbar 
machen nach außen von ihnen, ohne daß sie deswegen aufhören, da zu sein, 
wo sie sind.“ 

Es ist ersichtlich, daß bei dieser Einstellung, wo die Grenze zwi¬ 
schen dem Menschen und der Welt, zwischen den verschiedenen Ob¬ 
jekten nicht existiert, die Bereiche der Gegenstände vermengt wer¬ 
den, so daß sie beliebig ineinander spielen können. Als das Primäre 
erscheint uns hier die primitive ungespaltene Einheit Psyche-Welt. 
Wenn tausend mystische Fäden die Psyche mit der Welt verbinden, 
so daß sich der Mensch jedem äußeren Einfluß ausgesetzt wähnt 
und zugleich die äußeren Begebenheiten nach Belieben zu beeinflussen 
vermag, so ist keine Grundlage gegeben zu der strengen begrifflichen 
Scheidung der Gegenstände untereinander; sie werden nicht In dem 
scharfen Maße aus der Kontinuität der ursprünglich gegebenen Reali¬ 
tät ausgeschnitten, wie dies die logische Mentalität fordert. Wo aber 
die objektive Scheidung der Gegenstände vom Menschen und unter¬ 
einander fehlt, da fehlt auch das Gitterwerk, worin sich die objektive 
Einstellung vollzieht, die objektiven Normen und Kategorien. 

Diese alogische Mentalität sehen wir bei unseren Kranken; offen¬ 
bar ist hier die schon vollzogene Spaltung der primitiven Einheit 
durch den pathologischen Prozeß rückgängig gemacht und durch die 
frühere undifferenzierte Einheit ersetzt worden. Ist unsere Deutung 
richtig und haben wir es hier mit einer tief und weitgehenden Re¬ 
gression zu tun, so müssen wir ein Entwicklungsstadium der 
menschlichen Psyche postulieren, wo sie sich in dieser besonderen 
Form auslebte und betätigte. 

Die völkerpsychologischen Untersuchungen der letzten Jahre 
bringen uns nun die Bestätigung unserer Annahmen und fundieren 
sie in einer kaum erhofften aber um so willkommeneren Weise. 



74 


L6vy-Bruhl und Dürkheim sind die Forscher, die den Begriff 
der „prälogischen Mentalität“ geprägt haben, welche sie bei dem Stu¬ 
dium primitiver Völkerschaften aufdeckten. Im folgenden wird ins¬ 
besondere auf das Hauptwerk Levy- Brühls „Les fonctions men¬ 
tales dans les Soci6t6s primitives“ hingewiesen. 

Das von L6vy-Bruhl aufgestellte Gesetz der mystischen An¬ 
teilnahme (la loi de la participation mystique) drückt das Wesentliche 
der primitiven Psyche in ihren Beziehungen zur Welt aus. 

Das Individuum ist hier aufs Engste verbunden mit der Kollekti¬ 
vität, deren Mitglied es ist; aber diese Gemeinschaft erstreckt sich 
schließlich nicht nur auf die Nebenmenschen, sondern auch auf alle 
Gegenstände und Gegebenheiten. 

Der Primitive kann durch alle äußeren Erscheinungen und Ereig¬ 
nisse beeinflußt werden, nichts ist ihm unbedeutend, an allem kann er 
irgendwie teilnehmen. Aber auch umgekehrt, es gibt kein äußeres 
Geschehen, wo er nicht einmal eingreifen, das er nicht zu seinen 
Gunsten beeinflussen und umbilden könnte. Dieses Weltbild ist wesent¬ 
lich mystisch, indem die Eigenbeziehung ihren höchsten Grad erreicht 
und die gesamte Wirklichkeit ausschließlich von dem Gesichts¬ 
punkte der Wünsche, Bedürfnisse und Befürchtungen der primitiven 
Gesellschaft betrachtet und beurteilt wird. Im steten Kampf mit der 
Natur hat es der Primitive noch nicht gelernt, die Demarkationslinie 
zwischen dem Ich und den äußeren Mächten zu ziehen. 

Die Gegenstände werden reichlich ausgestattet mit mystischen 
Attributen, welche dem Primitiven unvergleichlich bedeutsamer er¬ 
scheinen, als die „objektiven“ Eigenschaften. Desgleichen sind ihm 
seine eigenen mystischen Potenzen wichtiger als die wirklichen Mög¬ 
lichkeiten, die ihm bei dem Anpacken der Natur zu Gebote stehen. 
Geht er auf die Jagd, so scheint ihm seine Übung und Geschicklichkeit 
durchaus ungenügend, um ihm den Erfolg zu sichern, vielmehr erhofft 
er sich die beste Hilfe, die mächtigste Unterstützung durch die Be¬ 
einflussung der widerspenstigen Naturmächte mittels besonderer ma¬ 
gischer Praktiken und Zeremonien. 

Er beschwört die Geister der Tiere, die er jagen will, damit sie 
ihm ihre Huld erweisen, sich vor seinen Waffen nicht allzusehr fürch¬ 
ten und recht zahlreich erscheinen. Er versucht seine mystische Kraft 
zu steigern durch Fasten, schlaflose Nächte und magische Praktiken. 

Aber damit sind die Bedingungen zum Gelingen der Jagd noch 
lange nicht erfüllt; der Erfolg hängt auch ab von dem Verhalten der 
Daheimgebliebenen, insonderlich der Frau. Diese muß sich bestimm¬ 
ter Speisen enthalten, ihr Haar ungeschnitten lassen, darf tagelang- 



75 


das Heim nicht verlassen usw. Der draußen Jagende nimmt so in 
mysteriöser Weise an dem Gebaren der Gemahlin teil und schweres 
Unheil würde ihn treffen, wenn sie die Vorschriften nicht skrupelhaft 
befolgte. 

Die prälogische Mentalität kennt keine objektive Eigengesetzlich¬ 
keit des Naturgeschehens. Die verschiedensten Naturerscheinungen 
entstehen durch Wirkungen mystischer Kräfte, die von einem Objekte 
auf das andere übertragen werden. Die Anteilnahme wird dargestellt 
unter den mannigfachsten Formen, als da sind: Berührung, Übertra¬ 
gung, Sympathie, Wirkung auf Distanz. 

Das Naturgeschehen wird in seiner Bedeutsamkeit für die Kollek¬ 
tivität erfaßt und nimmt als solches teil an deren Wünschen und Be¬ 
fürchtungen. So wird das Vorkommen von Wildbret, ja die regel¬ 
mäßige Folge von Regenfällen abhängig gemacht von gewissen, durch 
bestimmte Personen oder durch den ganzen Stamm auszuübenden 
Zeremonien, ja mitunter von bloßer Anwesenheit gewisser Personen. 

An Bedeutsamkeit allen Praktiken voran, steht hier das Zeremo¬ 
niell des I n t i c h i u m a. Es ist dies eine vom ganzen Stamm voll¬ 
zogene magische Feier, deren Zweck es ist, die Zahl der Totemtiere 
und -pflanzen zu vermehren, so wird die„mystischeSymbiose 
(L6vy-Bruhl) zum Ausdruck gebracht, welche den Stamm mit 
dem heiligen Totemwesen verbindet. Um jedem Mißverständnisse 
vorzubeugen, muß hier ausdrücklich betont werden, daß die Primi¬ 
tiven bei dem Intichiuma nicht die Hilfe eines übernatürlichen Wesens, 
etwa einer Gottheit, erbitten. 

Die Indianer Tarahumara behaupten, der Intichiuma werde auch 
von Tieren gefeiert, denn diese verstehen sich auf Magie. Das Singen 
der Vögel im Frühling, das Quaken der Frösche ist nichts als ein Ruf 
nach Regen und dessen Beschwörung. In einer Legende der H o p i 
tanzen die vor Durst sterbenden Blattläuse, um Wasser zu erhalten. 

Das ganze Leben des Primitiven steht unter dem Einflüsse mysti¬ 
scher Kräfte und nimmt teil an allen möglichen Dingen und Erschei¬ 
nungen. Schon das Neugeborene, ja sogar das erst zu erwartende 
Kind wird aufs tiefste beeinflußt von jedem auch kleinsten Tun seines 
Vaters, z. B. von dessen Ernährung, und das Verhalten des Vaters wird 
darum in den Praktiken der Couvade besonderen Vorschriften unter¬ 
zogen, welche freilich nicht nur für das Kind, sondern auch für die 
Mutter von Bedeutung sind 1 ). 

*) Vgl. über die Couvade Theodor Reik, Probleme der Religions¬ 
psychologie. 



76 


Die scheinbar geringste Handlung des Primitiven kann so un¬ 
absehbare Folgen für alle Wesen haben, mit welchen er in mystischer 
Weise verbunden ist. So muß z. B. im Stamme K a i t i s c h der Chef 
des Totems des Wassers sich aller magischen Praktiken enthalten, 
welche darin bestehen, daß man einen Knochen oder einen Stab gegen 
den Feind richtet. Denn täte er das, so würde das Wasser schmutzig 
und übelriechend werden. 

Ähnliche für uns geheime, für den Primitiven aber durchaus 
selbstverständliche Beziehungen, bestehen zwischen der Totemgruppe 
und der Raumrichtung der Himmelsgegenden. Diese wiederum ver¬ 
bleiben in mystischem Bunde mit Farben, Winden, mystischen Tieren; 
durch die Tiere mit Flüssen und heiligen Hainen. 

Der Raum hat somit besondere, mystische Eigenschaften, er ist 
nicht das homogene abstrakte und gleichgültige Kontinuum, als wel¬ 
ches er in den Operationen der logischen Mentalität erscheint. 

Für die natürliche logische Kausalität wird in diesem mystischen 
Ganzen kein Platz gelassen. Kein Wunder, daß auch die Begeben¬ 
heiten, welche im Leben jedes Einzelnen mit Regelmäßigkeit notwen¬ 
diger Weise eintreten, wie Geburt, Tot, Krankheit, auf mystische Ein¬ 
flüsse und Wirkungen zurückgeführt werden müssen, ebenso wie dies 
für die gesetzmäßigen Erscheinungen der äußeren Welt der Fall ist 
(Regenfälle — Intichiuma). 

Die Geburt ist eigentlich eine Wiedergeburt, Reänkamation; wie 
der Tod, ist sie nur ein Übergang von einer Existenzform in die 
andere 1 ). „Das Kind ist nicht das direkte Ergebnis 
der Befruchtung. Es kann auch ohne sie zur Welt kommen. 
Sie bereitet nur sozusagen die Mutter zum Empfangen und Gebären 
eines schon vorher geformten Kindes-Geistes vor, welches eins von den 
lokalen totemistischen Zentren bewohnt“’). Die Geister wählen sich 
die Frauen, in welche sie hineinkommen, nach totemitischen Affini¬ 
täten. • Die natürliche Ursache der Geburt wird so zur bloßen Gelegen¬ 
heitsursache herabgesetzt, während die mystisch-totemistische Anteil¬ 
nahme zur Hauptursache wird. 

Die Krankheit wird zurückgeführt einzig und allein auf mysti¬ 
sche, unsichtbare Einflüsse. 

„Die Krankheit hatte für Fidji-Bewohner keine natürliche Ur¬ 
sache; sie suchen ihr Geheimnis praeter naturam, d. h. in einer 

') In stark sublimierter Form finden wir diese Auffassung bei Plato 
wieder. (Phaidon.) 

*) Spencer u. Gillen: The natives tribes of central Australia, 
p. 265, zitiert nach Lävy-Bruhl. 



77 


unsichtbaren Welt, welche neben der Natur lebt“'). Die mystischen 
Einflüsse können mannigfaltigster Natur sein, Dämonen, Geister der 
Toten, welche sich in den Kranken hineinschleichen und seine Lebens¬ 
kraft aufzehren, böser Zauber, welcher von einem böswilligen Feinde 
auf magische Art und oft auf große Entfernung ausgeübt wird. Der 
Zauber kann nur durch Gegenzauber vernichtet werden und' so sind 
die Medizinmänner Zauberer. Ihre Diagnose, wie ihre Therapie sind 
bekanntlich rein magischer kultischer Art, weswegen sie auch für die 
Beobachtung der Symptome nur ein ganz sekundäres Interesse auf- 
brmgen. Die Namen, welche z. B. die Schamanen bei den Cherokees 
den Krankheiten geben, sollen ihr mystisches Wesen in unbestimmter 
Art ausdrücken. „Wenn sie von den Schlangen träumen“, 
„wenn sie von den Fischen träumen“, „wenn sie von Gespen¬ 
stern geplagt werden“, „wenn etwas macht, daß etwas sie 
aufzehrt“, „wenn die Nahrung verändert ist“, d. h. wenn eine 
Hexe macht, daß die Nahrung im Leibe keimt und wächst, oder 
daß sie sich in eine Eidechse, einen Frosch oder einen zugespitzten 
Stock verwandelt. 

Von der Krankheit wird nicht so sehr der Leib, als das Lebens¬ 
prinzip berührt und die Behandlung muß dieser Grundauffassung 
Rechnung tragen, indem sie in mystischer Weise auf die kranke Le¬ 
benskraft einwirkt, ohne sie jedoch durch Hineinmischung ungeeig¬ 
neter Geister zu beeinträchtigen. Die Medikamente wirken durch die 
in ihnen enthaltenen Geister auf die Geister der Krankheit. Gift 
tötet dank seiner starken mystischen Kraft, Gegengift enthält einen 
noch mächtigeren Geist. So hält sich die Behandlungsweise eng an 
die Auffassung vom mystischen Wesen der Krankheit. Der Rheu¬ 
matismus wird von den Cherokees den Geistern der auf der Jagd er¬ 
schlagenen Tiere zugeschrieben. Die Krankheit wird bezeichnet als 
„jener, der hineinkommt“ und betrachtet als ein schlangen- oder 
fischähnliches Lebewesen. Der Häuptling der Hirsche führt den Feind 
in den kranken Körper hinein. Um den Eindringling zu vertreiben, 
muß man sich an höhere Geistertiere wenden; durch diese Auffassung 
wird das Zeremoniell der Behandlung festgelegt. Es findet so ein 
Kampf allerlei Geister statt und wenn die Praktiken des Medizin¬ 
mannes mißlingen, so beweist dies offenbar nur das Eingreifen mäch¬ 
tiger feindlicher Geister, gegen welche ein neuer mächtiger Zauber 
angewendet werden muß. 


') En. Ro ugi'er: Maladies et mCd4cins k Fidji autrefois et aujourd'hui. 
Anthropos II (1907), p. 69, p. 999. Zitiert nach LCvy-Bruhl. 



78 


Ebensowenig wie die Krankheit, ist der Tod eine natürliche Er¬ 
scheinung. „Der Eingeborene ist absolut unfähig, den Tod als Folge 
irgendwelcher natürlichen Ursachen aufzufassen').“ Der Verstorbene 
ist ein Opfer bösen Zaubers, welcher von einem feindlichen Geist 
oder durch dessen Vermittlung von böswilligen Feinden ausgeübt 
wurde. Selbst ein Tod, dessen natürliche Ursache in die Augen 
springt, wie z. B. Tod durch den Schlangenbiß, wird der Magie eines 
Zauberers zugeschrieben, welcher die Schlange beeinflußt hatte. 
Stirbt ein Greis, so suchen seine Angehörigen, von wem der böse 
Zauber ausging und rächen den Tod an dem vermeintlichen Schul¬ 
digen. Man sieht, wie ein Freund, von den Feinden erschlagen, fällt, 
und man stellt dennoch Untersuchungen an, um die wahre, magische 
Ursache des Todes zu ergründen. 

Bekanntlich ist dieses Suchen nach der Quelle des bösen Zaubers 
ebenfalls magischer Art und hat zur Voraussetzung den Glauben an 
mystische Anteilnahme aller möglichen Erscheinungen an dem Toten, 
seinem magischen Mörder und dem Tode. In Australien zum Beispiel 
macht man an der Stelle, wo der Leichnam hingelegt wurde, eine 
Grube, und man beobachtet, nach welcher Richtung sich ein aus¬ 
gegrabener Wurm oder Insekt wendet. In dieser Richtung werden 
dann die Schuldigen gesucht. In Zentralaustralien untersucht man 
den Boden an der Stelle, wo der Tod stattgefunden hat und findet 
man z. B. eine Schlangenspur, so ist man sicher, daß der Mörder 
dem Schlangentotem gehört. Auf diese für die Primitiven uner¬ 
schütterlich sicheren Anzeichen gründet sich die grausame „Ge¬ 
rechtigkeit“, welche man dem so entdeckten Schuldigen widerfahren 
läßt. Diese Gerichtspraktiken erinnern lebhaft an die Hexen¬ 
untersuchungen des Mittelalters, welchen ja eine sehr ähnliche Men¬ 
talität zugrunde liegt. 

Daß aus so zufälligen Anzeichen, wie die Richtung, welche ein 
Insekt einnimmt oder einer Schlangenspur, auf wichtige Zusammen¬ 
hänge geschlossen wird, zeigt zum Überfluß, daß es für die prälogische 
Mentalität keinen Zufall in unserem Sinne gibt. Denn alles hängt 
mit allem zusammen, alles kann aneinander teilnehmen. Unsere 
logische Mentalität sondert die Welt des objektiven Geschehens in 
bestimmte Kausalketten, welche voneinander ganz unabhängig sein 
können. Das Glied einer Kausalreihe ist dann für die andere zu¬ 
fällig, es hat für sie eben keine Bedeutung, weil es für uns ohne Be- 

') Spencer u. Gillen, The natives tribes of central Australia, 
p. 356, zit. nach Lävy-Bruhl. 



79 


deutung ist, während wir uns auf den Standpunkt jener anderen 
Kausalkette stellen, welche uns momentan interessiert. 

Der Primitive lebt in einem Kontinuum von Dingen und Kräften, 
welche von ihm und untereinander nur sehr unvollkommen geschieden 
sind. Es gibt hier keine getrennten Kausalreihen , und jeder für uns 
noch so äußerliche Zusammenhang genügt, um die Beziehung der 
mystischen Anteilnahme aufzustellen. 

Es ist uns geläufig, daß Kausalzusammenhänge nach dem Schema 
post hoc ergo propter hoc aufgestellt werden. Aber dem 
Primitiven genügt schon bloße Kontiguität im Raume, und wie wir 
gesehen haben, fundiert sich die Anteilnahme auf dem Zusammen¬ 
hänge juxta hoc ergo propter hoc (Levy-Bruhl). 

Während der kausale Zusammenhang der logischen Mentalität 
in der Zeit wie im Raume streng determiniert ist, bleibt die mystische 
Anteilnahme von diesen Schranken unberührt. Die Ursache, in 
unserem logischen Sinne des Wortes, muß zu der Wirkung eine be¬ 
stimmte räumliche Beziehung haben; sie muß ihr z e i 11 i.c h 
vorausgehen. Bei der Anteilnahme hingegen ist es oft schwer zu 
sagen, ob die Ursache der Wirkung vorausgeht oder vielmehr nach¬ 
folgt, wo der Grund und wo die Folge ist. Der Häuptling der 
M a b u i a g rühmte sich, er kenne in seinen Fischereiexpeditionen 
keine Mißerfolge. Einige Tage später war sein Fischen vergebens 
und er zerbrach die Spitze seines Harpuns. In 3—4 Tagen darauf 
starben im Dorfe ein Kind, dann zwei Frauen. Sofort sah der 
Häuptling die Erklärung für seine Mißerfolge in diesen Todesfällen 
und freute sich, in der Überzeugung, daß er selbst daran keine 
Schuld trug'). 

Auch unbelebte Gegenstände nehmen teil an unheilvollen Er¬ 
lebnissen und kündigen deren Eintreten an. In China werden 
Kalamitäten beschrieben, welche als Folge des Fallens der Gegen¬ 
stände übereinander ohne sichtbare Ursache eintreffen. 

Die mystische Anteilnahme verbindet so untereinander die 
disparatesten Objekte und Begebenheiten, ein eigenartiger allumfas¬ 
sender Determinismus wird geschaffen, welcher unsere objektive Natur 
ersetzt, oder ihr vielmehr, historisch gesprochen, vorausgeht. Auch 
diese mystische Naturordnung hat ihre Gesetzmäßigkeit, ja es wird 
hier den unbedeutendsten Regelmäßigkeiten ein hoher Wert beigelegt, 
weil die Hierarchie unter den Erscheinungen, welche die logische Men- 

') The Cambridge-Expedition to Torres-Straits. V. p. 361, zit. nach 
Levy-Bruhl. 



80 


talität aufbaut, noch nicht existiert und alles gleich bedeutsam werden 
kann. Die von Livingstone beobachteten afrikanischen Neger 
kämpfen gegen jede ungewöhnliche Erscheinung und trachten danach, 
sie zu vernichten. Sie nennen sie „Tloto“ oder nach der Übersetzung 
von Livingstone Überschreitung (Transgression). Sie töten die 
Albinos, die Kinder, welche die oberen Zähne vor den unteren be¬ 
kommen, Geflügel, welches vor Mitternacht schreit usw. Denn von 
jeder solchen „Überschreitung“ könnten offenbar die tiefgreifendsten 
unheilvollsten Folgen für den Primitiven und den ihm günstigen 
Naturverlauf ausgehen; oder die Überschreitung ist ein Zeichen einer 
schon eingetretenen Verwirrung und eines schon vorbereiteten Unheils. 

Wir sehen: es lassen sich bei dem Studium der prälogischen Men¬ 
talität keine Grenzen in der Zeit aufstellen, die Zukunft spielt in die 
Gegenwart hinein und beeinflußt die Vergangenheit, wie ungereimt 
auch diese Auffassung für unsere logische Mentalität erscheint. Die 
ausnehmende Wichtigkeit der mystischen Einflüsse veranlaßt den 
Primitiven, stets auf der Hut zu sein und den möglichen Einwirkun¬ 
gen nachzuspüren. Geheime Zusammenhänge erfordern geheime Be¬ 
obachtungsmittel, welche sich nicht nur auf die Vergangenheit (z. B. 
Gerichtspraktiken) und auf die Gegenwart, sondern auch auf die Zu¬ 
kunft erstrecken. Die große Wichtigkeit, die bei den Primitiven der 
Weissagung beigemessen wird, ist ja allgemein bekannt. Es wird da 
nach allen möglichen Zeichen über die Zukunft geurteilt und die 
wichtigsten Angelegenheiten des Stammes sind aufs engste mit den 
Praktiken der Seher verbunden. „Ja,“ sagte ein Häuptling Dayak 
zum Rajah Broocke, „meine Leute sind heuer mit der Reisernte zufrie¬ 
den, weil wir keine Warnung unserer Vorzeichen vernachlässigt 
haben; wir haben die Hantus (Geister) beruhigt, indem wir die Alliga¬ 
toren gefangen, die Schweine getötet haben, um ihr Herz zu unter¬ 
suchen und wir haben unsere Träume richtig gedeutet. Das Resultat 
davon ist eine schöne Ernte; jene, die es unterlassen haben, so wie 
wir zu tun, bleiben arm, künftig werden sie mehr achtgeben müssen“ 1 ). 

Die Praktiken der Weissager sind wesentlich magisch, denn 
wenn sie auch oft natürlichen Zusammenhängen nachspüren sollen, 
so wissen wir ja, daß diese Zusammenhänge für den Primitiven nichts 
weniger als. natürlich sind, indem sie alle mystisch bedingt werden. 

Können aber die mystischen Anteilnahmen auf magische Art auf¬ 
gedeckt werden, so kann man sie auch auf magische Art beeinflussen. 
Man braucht sich nur in die mystische Anteilnahme gleichsam einzu- 

') Brooke, Ten yeare in Sarawak. II. p. 203. Zit. nach L6vy-Bruhl. 



81 


schleichen und gegen ihre geheime Macht eine höhere Macht auszu¬ 
spielen. Wir sahen, daß man durch den Intichiuma das zahlreiche 
Vorkommen der Totemtiere, das rechtzeitige und reichhaltige Ein¬ 
treffen der Regenfälle zu erwirken sucht und wir bemerken, daß in 
China die Klöster vom Volke erhalten werden, nur damit die Mönche 
durch ihre Gebete die Regelmäßigkeit der Niederschläge erhalten. 

Die magischen Wirkungen sind auf tausendfachen Wegen zu er¬ 
zielen. Alle Gegenstände können zu ihren Trägem erwählt werden, 
wobei die Wahl oft durch die äußerlichsten — nach unseren Begriffen 
— Zusammenhänge bestimmt wird. In China kann man unzählige 
Praktiken beobachten, welche, nach dem treffenden Ausdruck von 
Ldvy-Bruhl, sich oft wie Wortspiele in Aktion (Calembours en 
action) ausnehmen. 

Bei dem Begräbnisse beeilt sich der Sohn des Verstorbenen, in 
einem bestimmten Augenblicke etwas Vermicelle (lange Nudeln) zu 
verschlucken, damit diese langen Fäden den das Leben verkürzenden 
Einfluß der Trauergewänder, welchen seine Person erleiden könnte, 
neutralisieren 1 ). Von allen Gegenständen können solche magische 
Einflüsse ausgehen. Die Nahrung, die Kleidung spielt dabei eine ge¬ 
wichtige Rolle. Ich finde besonders prägnant das Beispiel jenes ma¬ 
laiischen Häuptlings, welcher es verweigerte, ein Hirschfell in sein 
Boot mitzunehmen, aus Furcht, daß die Furchtsamkeit des Hirsches 
auf seinen minderjährigen Sohn übergehe. Es ist bekannt, daß die 
Primitiven durch die Nahrung die Eigenschaften der verzehrten Tiere 
resp. der erschlagenen Feinde oder verstorbenen Häuptlinge zu er¬ 
werben glauben. 

Jede Handlung des Primitiven kann magische Bedeutung er¬ 
halten, indem sie zu einer mystischen Anteilnahme in Beziehung ge¬ 
bracht wird. Die Gegenstände partizipieren an dem Tun und Sein 
des Menschen. In Japan müssen die Bäume durch junge Männer ge¬ 
pfropft werden, weil der Pfropf das Maximum an Vitalkraft enthalten 
soll. Bei den Baganda bringt eine unfruchtbare Frau Unglück über 
ihres Mannes Garten, der keine Früchte trägt, wohingegen eine frucht¬ 
bare Frau den Garten zum Gedeihen bringt. 

Besonders schön ist das Beispiel des Inders, der im Frühling mit 
seiner Frau eine Liebesnacht auf dem Acker verbringt, um so den 
Boden zur Fruchtbarkeit anzuregen. Viele andere magische Prak¬ 
tiken bauen sich auf der Ähnlichkeit auf; so z. B. verspritzt man 
Wasser, um Regen hervorzurufen. 

') De Groot: The religions System of China, I. p. 68, p. 208, zit. bei 
L6vy-Bruhl. 

Bycbowski, Metaphysik und Schizophrenie. (Abhandl. H. 21.) 6 



82 


Um einen Menschen magisch zu beeinflussen, genügt es oft, sich 
Dinge zu bemächtigen, die mit ihm irgendwie in Zusammenhang 
stehen. Man kann ihn bezaubern, ja töten, wenn man seine Kleider, 
seine Nahrung anrührt; man kann ihm auch jedes Unheil antun, wenn 
man sich seinen Speichel, seinen Urin, seine Nägel und Haare an- 
eignet. Besondere Wirkungen kann man auch mittels seines Bildes 
erzielen, welches in mystischer Weise mit dem Original verbunden 
bleibt. (Es erinnert dieser Zusammenhang an das Verbrennen in 
Eifigie als Bestrafung des Abwesenden.) Auch mit dem Namen 
hängen mystische Eigenschaften zusammen. 

Wie es Spezialisten gibt, welche in der Magie Besonderes leisten, 
so existieren auch Objekte, welche mit besonderer magischer Kraft 
ausgestattet, von den Primitiven hoch geschätzt werden. Solche Ob¬ 
jekte sind: Fetische, Amulette, Talismane. Sie dienen zum Zauber 
und zum Gegenzauber und in dieser letzteren Rolle bieten sie dem 
Primitiven, der von allen Seiten von magischen Einflüssen bedroht 
wird, mächtigen Schutz. Wenn schon unbelebte Gegenstände hohe 
magische Bedeutung erlangen, so ist es selbstverständlich, daß auch 
Tiere zu Trägem mystischer Kräfte werden. Für den Primitiven gibt 
es eben keine streng gezogene Grenze zwischen den menschlichen, 
tierischen und unbelebten Welten, denn eine geheime mystische Kraft 
wohnt allem inne und alles ist in gewissem Sinne belebt. 

Im Grunde des totemistischen Systems liegt die Anteilnahme der 
Kollektivität an den geheiligten Tieren und diese Beziehung ist so 
eng, so intim, daß wir sie in unserer begrifflichen Sprache kaum aus- 
drticken können. Wenn die Trumii, ein nordbrasilianischer 
Stamm, Wassertiere zu sein wähnen, wenn die Bororo (ein Nach¬ 
barstamm) sich rühmen, daß sie Araras (rote Papageien) sind, so be¬ 
deutet das nicht nur, daß sie nach ihrem Tode Araras werden, oder 
daß die Araras veränderte Bororo sind; sie meinen mit dieser Be¬ 
hauptung eine wesentliche Identität, sie sind schon gegenwärtig 
Araras (L 6 v y - B r u h 1). 

Diese für die logische Mentalität unbegreifliche Aufstellung führt 
uns das Wesentliche der prälogischen Mentalität mit großer Klarheit 
vor. Man ist etwas und man ist zugleich etwas anderes, ohne aufzu¬ 
hören, das erste zu sein. Das Gesetz des Widerspruches, A kann nicht 
zugleich nicht A sein, ist die selbstverständlichste Grundlage unserer 
logischen Operationen; nun erblicken wir auf einmal eine Mentalität, 
welche sich darum nicht im Geringsten kümmert. 

Und hier kommen wir nun zum springenden Punkt dieser ver¬ 
gleichenden Skizzierung. Sobald das Gesetz des Widerspruches keine 



83 


Gültigkeit mehr hat, eröffnen sich für die Psyche Möglichkeiten, 
welche ihr die logischen Schranken nie gestattet hätten. Die Be¬ 
griffe bekommen elastische, verfließende Umgrenzungen und können 
jederzeit je nach der Einstellung und nach dem Bedürfnis der 
mystischen Anteilnahme ihren Sinn und ihren Inhalt verändern. Es 
gibt eigentlich keine kontradiktorischen Begriffe mehr, es gibt keine 
unverträglichen Gegensätze. 

Die auf dieser Entwicklungsstufe gebildeten Kollektivvorstellun¬ 
gen unterscheiden sich also wesentlich von unseren Begriffen. Sie 
enthalten als wesentliche Hauptbestandteile emotionale und mysti¬ 
sche Elemente, sie sind ein Ausdruck der nicht klar gedachten, wohl 
aber erlebten Anteilnahme. 

So und nur so ist es zu erklären, daß für den Primitiven zwei 
Gegenstände, welche auf irgendeiner, wenn auch noch so schwachen 
Brücke Zusammenhängen, in ihren wesentlichsten Eigenschaften und 
in ihrer Bedeutung zusammenfallen können. Wir erinnern an die Be¬ 
deutung, welche dem Bilde und dem Namen beigemessen wird, so daß 
dieselbe zu Objekten, allerlei magischen Praktiken werden und den 
Menschen in ausgiebigster Weise vertreten. 

Auf dem Wege solcher Zusammenhänge und mystischer Partizi¬ 
pationen kommen die eigentümlichsten mystischen Abstraktionen und 
Verallgemeinerungen zustande. 

Die prälogische Mentalität abstrahiert nach dem Gesetze der 
mystischen Anteilnahme. Frägt man die Eingeborenen nach der 
Bedeutung gewisser Zeichnungen, so bekommt man zur Antwort, die¬ 
selben seien gemacht zum Spiel und haben keine Bedeutung. Aber 
dieselben Zeichnungen, ganz identisch in ihrer Form mit den ersten, 
haben eine ganz bestimmte Bedeutung, sobald sie sich auf einem ritu¬ 
ellen Gegenstand oder an einer besonderen Stelle befinden. 
Diese Stelle findet sich immer an einem heiligen Platze, dem sich die 
Frauen nicht nähern dürfen 1 ). Eine heilige Stange (Nurtunja) sym¬ 
bolisiert einen streng bestimmten Gegenstand, obwohl sie äußerlich 
einer andern Stange vollkommen gleich ist, welche ein ganz anderes 
Objekt darstellt. 

Diese eigenartigen Abstraktionen gründen sich offenbar auf An¬ 
teilnahme, welche zum Beispiel die Stange mit dem ihm zugewie¬ 
senen Objekte fest und unzertrennbar verbindet. 

Schließlich sind gewisse Objekte, zum Beispiel bestimmte Zeich¬ 
nungen nicht mehr das, was sie dem Scheine nach darstellen, „son- 

') Spencer u. Gillen, The native tribes of central Australia, p. 617. 
Zit. bei L6vy-BruhL 


6 * 



84 


dern ausschließlich, was sie darstellen sollen“. „Die B a i n i n g sehen 
in ihren traditionellen Zeichnungen eine Muschel, ein gewisses Blatt, 
ein menschliches Gesicht usw. Diese Vorstellung ist bei ihnen -so 
verankert, daß man Bestürzung auf ihrem Antlitz sehen kann, wenn 
man nach der Bedeutung dieser Zeichnungen fragt; sie können es 
nicht begreifen, daß nicht ein jeder sofort den Sinn erfaßt“ 1 ). 

Die mystischen Verallgemeinerungen haben keinen Berührungs¬ 
punkt mit unseren Allgemeinbegriffen. Für die H u i c h o 1 s (Mexiko} 
ist Korn, Hirsch und Hikuli (heilige Pflanze) in einem gewissen Sinne 
dasselbe; sie nehmen alle teil an mystischen Eigenschaften von höch¬ 
ster Bedeutung für den Stamm; sein Leben und Gedeihen ist in mysti¬ 
scher Weise an sie gebunden. Die gleichen Objekte gehen auf Grund 
anderer Participationen andere Identifizierungen ein. Wolken, Baum¬ 
wolle, weißer Schwanz eines Hirsches, sein Horn und auch er selbst 
werden gleichgesetzt den Federn. Man glaubt auch, daß die Schlan¬ 
gen Federn haben. Der Hirsch, der schon Korn und Hikuli gewesen, 
ist nun auch Federn. Die hier zugrunde liegende Anteilnahme be¬ 
steht in den mystischen Eigenschaften, welche den Vögeln und darum 
auch ihren Federn zugeschrieben werden. Die Vögel, besonders Adler ' 
und Falke, hören alles, desgleichen ihre Federn. Diese letzteren über¬ 
nehmen die mystischen Potenzen der Vögel, sie bringen Gesundheit, 
Glück und Leben. Mit ihrer Hilfe können die Schamanen alles hören, 
was man ihnen unter der Erde und von allen Stellen der Welt aus 
sagt, mit ihnen können sie ihre magischen Praktiken betreiben. Je 
mehr Federn darum der Eingeborene besitzt, um so glücklicher schätzt 
er sich. Die Feder von höchster Macht aber ist der Hirsch. Jeder 
Teil des Hirsches wird Feder genannt und als solche hoch geschätzt. 
So kann der H u i c h o 1 sagen: Hirsch ist Feder, da ihm diese Identi¬ 
tät nur einen Ausdruck der mystischen Anteilnahme bedeutet. 

Durch die gleiche alogische Einstellung ist es zu erklären, daß es 
oft, wie L6vy-Bruhl bemerkt, unmöglich ist, zu entscheiden, ob¬ 
eine Tätigkeit immanenten oder transitiven Charakter hat. Für den 
Primitiven ist Intichiuma beides zugleich, da die zeremoniell-magische 
Tätigkeit des Stammes einen unmittelbaren Einfluß auf das Totemtier 
ausübt; die Ernährungsweise der daheim gebliebenen Frau des Jägers 
ist transitiv, indem sie den entfernten Gatten beeinflussen kann. Wir 
bemerken zugleich, daß dieser primitive Transitivismus keine Grenzen 
in der Zeit und im Baume kennt. Ist einmal die Schranke Psyche-Welt 
aufgehoben, kann jede menschliche Tätigkeit Wirkungen außerhalb 

') Parkinson, Dreißig Jahre in der Südsee. p..621 bis 627. Zit. bei 
L6vy-Bruhl. 



85 


des ihr zugewiesenen natürlichen Bereiches ausüben, so ist kein Grund 
vorhanden, diesen Wirkungskreis einzuschränken. Man setzt sich mit 
einem Schlage außerhalb der engen Schranken des raumzeitlichen 
Kontinuums, so wie man sich außerhalb der Schranken eines begrenz¬ 
ten Könnens gesetzt hat. 

Auch lungekehrt wird man von Tätigkeiten und Ereignissen be¬ 
einflußt, welche für die objektive Einstellung rein immanent und nicht 
transitiv erscheinen und welche sich in einem fremdartigen Bereiche 
abspielen. Ob sie von anderen Menschen ausgehen oder mit der rein 
menschlichen Welt nichts zu tun haben, ist gleich. Es gibt für den 
Primitiven keine Erscheinung, kein Objekt und kein Wesen, welche 
nicht sein Leben und Treiben beeinflussen könnten. 

Bei dieser Einstellung ist es klar, daß der Primitive keine Grenze 
zwischen der sichtbaren und unsichtbaren Welt, zwischen den sicht¬ 
baren und unsichtbaren Eigenschaften der Dinge kennt. Das, was 
wir etwa sinnliche und übersinnliche Welt nennen würden, fließt 
ihm zu einem einzigen von mystischen Kräften beseelten Kontinuum 
zusammen. 

Bei der Wichtigkeit dieser Kräfte und Eigenschaften ist die 
primitive Wahrnehmung auf sie eingestellt und sie bedeuten ihr nicht 
weniger, ja sogar viel mehr als die jederzeit zugänglichen objektiven 
Eigenschaften. Die subjektiven und mystischen Elemente bilden 
darum den wesentlichen Bestandteil der Wahrnehmung und der 
Traum ist für den Primitiven eine bevorzugte Wahrnehmungsart, 
weil hier die materiellen und sichtbaren Elemente auf das Minimum 
reduziert sind. 

Wir haben gesehen, daß auch die Weissagung und die magischen 
Gerichtspraktiken eine Art privilegierter Wahrnehmung darstellen. 
Es ist klar, daß die prälogische Wahrnehmung von der logischen 
wesentlich verschieden ist. Diese sucht die objektiven Eigenschaften 
der Dinge festzustellen, von subjektiven Elementen möglichst zu 
abstrahieren, jene kennt solche Differenzen nicht, kümmert sich 
nicht um unsere Schranken, welche das Objektive vom Subjektiven 
scheiden. 

Die Kriterien, welche wir für die Richtigkeit unserer Wahr¬ 
nehmung aufstellen, haben naturgemäß für den Primitiven keine Be¬ 
deutung. Er fordert nicht, daß seine Wahrnehmungen bei den gleichen 
Bedingungen allgemein zugänglich und für alle gleich seien und ihre 
Einzigkeit oder Seltenheit veranlaßt ihn nicht zum Zweifel an ihrer 
Richtigkeit. Es geschieht oft, daß Erscheinungen nur für bestimmte 
Personen sichtbar sind, ohne daß sich jemand darüber wundert. 



86 


Die Neger Zentralaustraliens glauben, die Sonne suche nachts die 
Orte auf, wo sie am Morgen aufgeht. Geschickte Medizinmänner 
können sie daselbst nachts erblicken; die Tatsache, daß gewöhnliche 
Menschen sie nicht mehr sehen können, beweist nur, daß sie nicht die 
nötige Macht haben, nicht aber, daß die Sonne nicht dort sei. In der 
magischen Zeremonie „mit einem Knochen töten“ (pointing the death 
bone) wird eine ganze Reihe von Praktiken ausgeführt, welche 
niemand von den Anwesenden sehen kann, an deren Realität aber 
keiner zweifelt: „Das Blut des Opfers geht in unsichtbarer Weise von 
ihm zum Zauberer und von da in ein Gefäß ein, wo es aufgenommen 
wird; gleichzeitig durch eine entgegengesetzte Bewegung geht ein 
Knochen, ein magischer Stein vom Zauberer zum Körper des Opfers, 
dringt in dasselbe ein — alles unsichtbar — und ruft eine tödliche 
Krankheit hervor 1 ).“ 

Ein junger Medizinmann erzählt, wie er während seiner Einweihung die 
Jir (Phantome) zu sehen begann, welche seine Mutter nicht sehen konnte. 

Miß Kingsley berichtet, daß sie einen Neger ganz allein sprechen hörte, 
als ob er sich mit einer für sie unsichtbaren Persönlichkeit unterhielte; er er¬ 
klärte ihr, er spreche mit seiner verstorbenen Mutter, welche für ihn anwesend 
war. Die Kraft der mystischen Anteilnahme, welche den Primitiven mit seinen 
verstorbenen Eltern verbindet, erlaubte dem Manne, sich über die Schranke 
zwischen der Vorstellung und Wahrnehmung hinwegzusetzen und seinen Glau¬ 
ben gleichsam zu objektivieren. Denn die Primitiven verkehren mit ihren 
Toten nicht nur im Traume, welcher als eine bevorzugte Wahrnehmungsart 
besonders geschätzt wird, sondern auch im Wachen. Man kann sie sehen und 
hören. Es ist etwas Unsichtbares, wie der Wind; in der Tat, sie sagen, daß 
das leichte Rauschen der Palmblätter von den Gespenstern kommt und wenn 
ein Wirbel den Staub, die Blätter und Strohhalme erfaßt, sind es die Gespenster, 
welche spielen’). 

Die Toten sind also nicht in die andere Welt vertrieben, weil 
jene andere unsichtbare Welt aufs engste mit der sichtbaren verwebt 
ist. Dementsprechend erstreckt sich die Wahrnehmung liier wie in 
allen andern Fällen auf das Sichtbare und Unsichtbare, Objektive 
und Mystische, welches alles für den Primitiven eine einzige sichtbar¬ 
unsichtbare Realität bildet. 

Dieser Charakter der primitiven Wahrnehmung bedingt eine 
Grundeigenschaft der prälogischen Mentalität, welche L 6 v y - 
B r u h 1 treffend als die Undurchdringlichkeit für die Erfahrung 
(impermeabilitö a l’exp6rience) bezeichnet. 

') W. E. Roth, Ethnological Studies Among the N. W. central Queens¬ 
land aborigins, p. 269, zit. bei L 6 v y - B r u h 1. 

') R o s c o e , Manners and Custons of the Baganda. J. A. I., XII, II, 
p. 73. Zit. bei L 6 v y - B r u h 1. 



87 


In der Tat wird einem Objekt auf Grund der mystischen Anteil¬ 
nahme eine Eigenschaft zugeschrieben, so wird an dieser Überzeugung 
festgehalten, auch wenn sie von der objektiven Erfahrung nicht be¬ 
stätigt wird. Beziehungen und Zusammenhänge werden aufgestellt, 
Erklärungen aufgebaut, welche mit der Erfahrung nichts zu tun haben 
und welche dennoch den höchsten Wirklichkeitswert besitzen. Ver¬ 
sagt ein Fetisch, der die Unverletzbarkeit sichern soll, so ist ein 
stärkerer Gegenzauber im Spiele oder der betreffende Fetischträger 
hat sich irgend etwas zuschulden kommen lassen. Stirbt ein Ver¬ 
wundeter, so ist die eventuelle Wunde nicht die Ursache seines Todes, 
sondern es ist die böswillige Kunst des Zauberers. „Die Eingeborenen 
sind überzeugt, daß dieser sterben wird, wenn sie Herz und Zunge 
seines Opfers gleich nach dem Tode herausnehmen, auf dem Feuer 
rösten und den Hunden zu fressen geben. Obwohl schon viele Herzen 
und Zungen auf diese Art verzehrt wurden und noch nie ein Zauberer 
unmittelbar danach starb, bleiben die A b i p o n e n nichtsdesto¬ 
weniger dem Brauch der Ahnen treu und unterlassen es nicht, Herz 
und Zunge der Kinder und Erwachsenen beiderlei Geschlechts aus¬ 
zureißen, sobald diese nur den letzten Atemzug gemacht haben.“ 
Bericht« der Forscher enthalten viele Erzählungen darüber, wie sie 
die Eingeborenen ohne jeden Erfolg von der Unhaltbarkeit ihrer Auf¬ 
stellungen zu überzeugen versuchten. 

An dieser Stelle nun wollen wir die Parallele der primitiven und 
schizophrenen Mentalität beginnen, weil die Undurchdringlichkeit für 
die Erfahrung den wesentlichsten Zug unserer Kranken ausmacht. 

Wir beobachten täglich, daß sich die Kranken durch die grellsten 
evidenten Erfahrungstatsachen von ihren Behauptungen nicht ab¬ 
bringen lassen. Nur ein typisches Beispiel: 

Ein Kranker beklagt sich fortwährend über die ungenügende Ernährung, 
welche eine unerhörte Gewichtsabnahme zur Folge haben soll, der Arme soll 
nur 25 Pfund wiegen: sein Thorax hat nur 55 cm Umfang. Ich messe nun 
seinen Thorax und zeige ihm, daß dieser 96 cm Umfang hat. Der Kranke hat 
die Erklärung bereit, man habe mit dem Hemd gemessen. Während das 
Maß ohne Hemd immerhin noch 90 cm beträgt, gibt sich der Mann nicht zufrie¬ 
den; das käme, so erklärt er, von dem vielen Wasser, welches er in der letzten 
Zeit trinke. Ich führe ihn zur Wage. Er wiegt 66 kg. kann es mit eigenen 
Augen kontrollieren, aber nein, es sind dies keine Kilogramme, sondern Pfunde 
und zornerfüllt spricht er das letzte Wort: er weiß es bestimmt, daß es Pfunde 
sind ... er hat ja die ganze Wage gemacht. Derselbe Kranke gebraucht ein¬ 
mal wissentlich die falsche Form „j’aie u“ statt der richtigen „j’ai eu“; auf 
meine Bemerkung, diese Rechtschreibung sei nicht die richtige, antwortet er: 
-C'est moi Porthographe, je suis la grammaire, le Larousse, le monde.“ 

Die subjektiven Aufstellungen haben für die Kranken eine unver¬ 
gleichlich stärkere Wirkung als die objektiven Zusammenhänge und 



88 


sie kümmern sich nicht um die Übereinstimmung mit der Wirklichkeit 
und die Korrektur der Erfahrung. Es kann an einer Behauptung^ 
jahrelang festgehalten werden, trotzdem sie durch den Augenschein 
sofort widerlegt werden sollte. Ein Kranker erzählt, daß ihm in der 
Nacht ganze Blätter seiner Haut und ganze Stücke Fleisch ausge¬ 
schnitten werden, und er hält an dieser Behauptung konsequent fest, 
offenbar, weil für ihn diese pathologische Erfahrung einen ganz ande¬ 
ren Evidenzwert hat als die normale Erfahrung, seiner unversehrten 
Sinnesorgane. 

Derselbe Kranke zieht es vor, Charpie zu zupfen, als sich mit der 
Anfertigung von Papiersäcken zu beschäftigen. Er erklärt uns, daß, 
indem er die Stoffetzen zerreißt, reißt er gleichzeitig Blätter aus sei¬ 
nem Körper und so wird es mit ihm schneller zu Ende sein. Durch 
bloße Analogie wird hier eine Tätigkeit als auf ein anderes Gebiet be¬ 
zogen-vorgestellt. In unbegreiflicher Weise nimmt der Kranke an den 
zerrissenen Fetzen teil. Dieses Verhalten erinnert uns lebhaft an die 
Zauberpraktiken der Primitiven. Ein Zusammenhang wird aufgestellt, 
wo wir keinen sehen können, eine Art Kausalität, welche keine ist und 
welche dem Kranken als eine evidente Anteilnahme einleuchtet. 

. Kann unser Kranker sich selbst auf diesem Wege zerstören, so 
wird es uns nicht verwundern, daß ein anderer schädliche Einflüsse 
befürchtet, welche in gleicher Weise von seiner Umgebung ausgehen 
können. Es erscheint ihm „als Zauberei“, daß seine Nachbarn Char¬ 
pie zupfen und daß man ihn selbst zu dieser Arbeit auffordert; auch 
verweigert er es, den Urin in ein Glas zu lassen, weil er nicht weiß, 
was man daran versuchen könnte. 

Wir haben es hier mit wörtlicher Neuauflage der primitiven Auf¬ 
fassungen zu tun. 

Auch teilen manche Kranke die primitiven Theorien von dem 
Ursprung der Krankheit. Es gibt keine wirklichen Krankheiten, be¬ 
hauptet einer (A. L.), sie sind alle gemacht von Magiern oder Ärzten 
(wir erinnern hier, welche innige Verwandschaft den Zauberer mit dem 
Medizinmann verbindet, welcher ja der Vorfahre des Arztes ist). Der¬ 
selbe Kranke schreibt seine Gesichtsakne den Verfolgern zu. Sie 
machen ihm dies durch Gedankenübertragung, durch das Wort, wel¬ 
ches im Stillen wiederholt wird. Desgleichen seine Blepharitis: „II 
suffit qu’ils röpötent plusieurs fois, croütes aux yeux, croütes aux yeux 
pourque j’aie cela“. So leicht hatten es kaum die Zauberer und Magier 
aller Zeiten. Ein anderer weiß, daß man ihn in magischer Weise be¬ 
arbeitet und krank macht; es waren ursprünglich nur einige Verfolger 
daheim, jetzt beteiligt sich das gesamte Personal der Anstalt an der 



89 


magischen Verschwörung, welcher er zum Opfer fällt. Seine stark 
gespannte, nach aller Richtung hin offene Zauberkausalität (W u n d t) 
ist immer bereit, neue Objekte in ihr Bereich einzubeziehen. Man 
zieht dem Kranken Bestandteile seines Körpers, Blutes, Gehirnes und 
Samens ab, um mit diesen Elementen zu arbeiten und weitere bös¬ 
willige magische Wirkungen zu erzielen. Er hat kein Blut mehr oder 
vielmehr, da ich ihn, um diese Behauptung zu widerlegen, stechen 
will, sein Blut steht still; sein Herz klopft nicht mehr und es spielt 
keine Rolle, da«* ich den Puls fühle, denn sobald ich mich entferne, 
wird er wieder sistieren (Undurchdringlichkeit für die Erfahrung). 
Ein Wärter hält einen Becher mit Limonade in der Hand: von dieser 
mysteriösen Flüssigkeit gehen Ströme und magische Wirkungen aus, 
welche unseren Patienten „ziehen“. Ein Mitpatient spielt mit einer 
optischen Linse: Strahlen werden gesammelt und in seinen Körper 
hineingeleitet. 

Lydia, welche wir am Eingang dieser Erörterungen erwähnt 
haben, macht ihre körperliche Krankheit (Appendizitis mit Abszedie¬ 
rung) von den heimlichen Wirkungen der Ärzte abhängig, zu denen 
sie eine stark erotische Einstellung hat. Der Arzt hat ihr „viel 
Leben“ abgezogen, indem er immer so rasch an ihr vorbeiging; er 
nähert sich den Menschen zu sehr und zieht ihnen das Leben ab, in¬ 
dem er mit ihnen spricht. Seine Haut, sein Körper (sa chair) zieht 
das Leben der Menschen an, es gibt anziehende und abstoßende Kör¬ 
per, jener des Arztes verzehrt die Menschen, der Arzt ist ein Weiber¬ 
verzehrer. Wenn Lydia sich übergeben muß, so ist daran der Kon¬ 
takt mit Vorübergehenden schuld, hat sie an einem Tage keine 
Bauchschmerzen, so kommt es von den Ausstrahlungen der Wärterin 
und des Arztes; die Wärterin darf die Anstalt nicht verlassen, Lydia 
ist mit ihr durch das „Wort“ aufs Leben verbunden. 

Lydia hat auch andere Vorstellungen, welche an die primitive 
Mentalität erinnern. So mißt sie der Nahrung eine mystische Be¬ 
deutung bei und spricht von der Gemeinschaft durch das gemein¬ 
same Speisen und Trinken, wie sie von der Gemeinschaft durch das 
Wort spricht. Wird die Nahrung von einer lieben Person gereicht, so 
tut es ihr wohl im ganzen Körper, in den Gedärmen, „weil sie die 
Person lieb hat“. 

Bei dem Kranken A. T. finden wir in ausgearbeiteter und moder¬ 
nisierter Form die zauberhaften Krankheitstheorien wieder. Er leidet 
an aufs stärkste ausgeprägten Halluzinationen des Gemeinsinnes und 
anfallsweise an Asthma bronchiale. Seine zahlreichen Verfolger be¬ 
arbeiten ihn mit elektrischen Strömen, mit Sauerstofflampen (oxy- 



90 


gene-occire = unmerklich zerstören). Durch diese elektrischen 
Ströme oder Elemente führt man in seinen Körper Würmer ein (vgl. 
die Ätiologie des Rheumatismus bei den Cherokees: „jener der 
hineinkommt, ein schlangen- oder fischähnliches Wesen); ein an¬ 
derer Patient spricht von einer Schlange, welche jede Nacht in seinen 
Körper hineindringt und ihn krank macht. Auch haben seine Ver¬ 
folger große Gefäße, welche je 100 Liter Urin enthalten, welchen man 
ihm durch den Penis bis zum Mund hinführt. Bei Asthmaanfällen 
spricht der Kranke außerdem von einer Scheibe, welche man in 
seinen Larynx einführte oder von einer Kette, welche daselbst in 
transversaler Lage befestigt wurde. Wenn er nach dem Spezialisten 
verlangt, welcher diese „Fremdkörper“ entfernen soll, so müssen wir 
an jene Medizinmänner denken, die aus dem Körper ihrer Patienten 
in Form eines Holzstückes oder eines Steines die Krankheit zu ent¬ 
fernen vorgaben. 

Wir erinnern endlich an die Auffassung, welche sich Julien T. 
von seiner Krankheit zurechtlegt. Im Alter von 13 Jahren hat ihm 
der Verfolger Magnesium in das Essen hineingetan, dieser „Magnesis¬ 
mus“ wirkt fortwährend, manchmal ist auch die Rede vom Queck¬ 
silber, beides wird von Gedankenübertragung und Gedankenentwick¬ 
lung (transmission, evolution) kaum unterschieden. Magnesium, das 
sich in seinem Körper verbreitet, ist nun das Vehikel der magischen 
Beeinflussung durch den Verfolger. Auf diesem Wege -werden dem 
Kranken Bilder zugeschickt, Gedanken entzogen und eingegeben, der 
Verfolger selbst zeigt sich mit plastischer Deutlichkeit. Aber auch 
die rein körperlichen Vorgänge werden auf diesem Wege beeinflußt 
und es ist von hohem Interesse, zu sehen, wie die natürlichsten kör¬ 
perlichen Erscheinungen in den Bereich der magischen Deutungen 
eingezogen werden. 

Bei dieser mystischen Auffassung vom Wesen der Krankheit ist 
es nur konsequent, wenn sich unsere Patienten von der Behandlung 
wenig Wirkung versprechen. Geht die Krankheit von bestimmten 
wenigen Verfolgern aus, so können die Kranken an die Vernichtung 
des Verfolgers denken, so Julien T. Andere suchen dem Zauber 
durch Gegenzauber zu begegnen. Man kennt in den Anstalten jene 
Patienten, welche sich durch ein eigens angefertigtes Tekturschild 
vor den elektrischen Strömen zu schützen suchen; eine Patientin von 
mir hält das Bettuch in der Form eines Schildes vor sich, um sich vor 
den Blicken anderer zu schützen, welche ihr in den Augen wehe tun 
und an ihrem ganzen Gesicht „ziehen“. 

Soviel von der Krankheit. Die Idee des Todes scheint unsere 
Kranken weniger zu beschäftigen, es ist dies wohl jener Glaube des 



91 


Unbewußten an die Unsterblichkeit, von welchem Freud gespro¬ 
chen hat. Der vielfach erwähnte A. L. erzählte mir gelegentlich Fol¬ 
gendes: Jemand in der benachbarten Zelle schickt ihm durch die Ge¬ 
dankenübertragung eine Ratte. Er sieht das Tier bei dem Mittag¬ 
essen in seinem Suppenlöffel, später sieht er es im eigenen Kopfe. 
Trotz Lebhaftigkeit, Intensität und Deutlichkeit hält A. L. die Er¬ 
scheinung für bloße Vorstellung, welche man ihn durch ein Mirakel 
sehen ließ und er erklärt: „Was ich mir vorstelle, das lasse ich Sie 
sehen“. Die Bedeutung der Pseudohalluzination erklärt er folgen¬ 
dermaßen: es ist eine Kellerratte. Man sagte ihm: „Tod den Ratten“, 
so heißt auch das Gift, welches man zur Ausrottung der Ratten ge¬ 
braucht. Aber das Gegenteil davon ist wahr, nicht Tod den Ratten, 
sondern die Ratte wird ihn auffressen. Kellerratten sind böse Per¬ 
sonen, welche, im Keller versteckt, andere massakrieren. Keller¬ 
ratten sind auch Geheimpolizisten, welche Kontrolle über die Knei¬ 
pen haben und bei dieser Gelegenheit die Weine im Keller probieren. 
Die Ratten werden durch das Gift getötet, sie vernichten den Kran¬ 
ken durch Gedankenübertragung, durch Gift. Denn am bloßen Gift 
kann man nicht zugrunde gehen, dazu gehört noch eine Einspritzung 
und Gedankenübertragung. 

Diese letztere Äußerung ist besonders wertvoll, da sie ein ge¬ 
treues Abbild der primitiven Auffassungen darstellt 1 ). 

Interessant ist auch die reiche Überdeterminierung der Pseudo¬ 
halluzination. Zwischen der Einspritzung und der Gedankenüber¬ 
tragung macht A. L. keinen deutlich greifbaren Unterschied, welche 
Vermengung psychischer und physischer Einflüsse für die primitive 
Mentalität typisch ist. 

Die Geburtstheorien unserer Kranken weisen deutliche primitive 
Einschläge auf. In den mystisch-erotischen Delirien werden die schi¬ 
zophrenen Frauen vom Geiste des entfernten Geliebten, von seinem 
Wort, durch die Gedankenübertragung befruchtet. Aus dem mystisch¬ 
sexuellen Verkehr mit Gott oder zu seiner Dignität erhobenem Ge¬ 
liebten, entspringt dann ein neuer Heiland, Julius Cäsar, Welterlöser. 
Wie bei den Primitiven wird die große Bedeutsamkeit der Sexuali¬ 
tät und die besondere Wirkung des Geschlechtsaktes in einer zau¬ 
berischen Substanz hypostasiert, welche an ihren natürlichen Träger 
nicht mehr unbedingt gebunden ist und ihn unter Umständen verlas- 

') Die angeblich vergifteten Pfeile der Melanesier sind, wie die Analyse 
geieigt hat, nur verzaubert, mit Mana begabt. Diese mystische Kraft ist es, 
welche sie so gefährlich macht. Hubert&Mauss, Theorie g6n6rale de la 
magie, p. 11. 



92 


sen kann, um selbständig ihre machtvollen Wirkungen zu entfalten. 
Der mehrfach erwähnte Patient A. L. hat auch seine eigene Geburts¬ 
theorie, welche eng mit seiner kosmogonischen Konzeption zusam¬ 
menhängt. 

Der erste Mensch erschuf sich selbst durch den Luftstrom. Er 
hatte zwei Köpfe, es war der Gott. Die 2 Köpfe waren Kain und 
Abel. Dieser Demiurg erschuf einen Stein und umgab ihn mit dem 
Hauche seines Mundes. So legte sich die Erde um den Stein herum. 
Aus demselben Hauche kam der Regen, welcher Tiere und Kinder 
schuf. Zwei Köpfe waren für die Schöpfung nötig, weil man durch 
das Wort (Parabole ist gleich Parole) schafft und man muß zu zweien 
sein, um zu sprechen. Kain war der Mann und Abel das Weib, im 
übrigen ist es nicht nötig, daß die beiden Personen verschiedenen Ge¬ 
schlechts seien, man kann es auch sehr gut unter 2 Männern machen. 

A. L. schafft die Kinder durch Gedankenübertragung, in der 
Luft, er schafft sie in ungeheuren Mengen; mit Tausenden hat er 
schon die Erde bevölkert. Bei dieser übernatürlichen Produktions¬ 
weise ist es nicht zu verwundern, daß die Kinder oft älter sein kön¬ 
nen als er, er kann auch Kinder machen, die im Alter von 50 Jahren 
zur Welt kommen. Genauere Beschreibung seiner Schöpfungs¬ 
methode: „Eine Person muß hypnotisiert und gelähmt sein, die 
andere aktive erreicht dies, indem sie dem Partner „das Oxyd“ mit¬ 
tels einer Spritze in die Schläfe einführt. Der aktive Partner läßt 
den Passiven reden, dieser macht dann die Kinder in der Luft, durch 
die Parabole und durch das Oxyd. 

A. L. behauptet, die Ärzte und Wärter sind zum größten Teile 
seine Kinder, wenn er sich nicht gerade mit ihnen einfach identifi¬ 
ziert. Er eignet sich so unsere Namen an und wenn wir einen frem¬ 
den Arzt durch die Abteilung führen, erkundigt er sich auch nach 
dessen Namen und zieht ihn sofort in den Bereich seiner Schöpfungs¬ 
ideen. Aber A. L. hat auch andere großartige Werke vollbracht, so 
ist es er, der die Sonne aus Amerika nach Europa gebracht hat; 
bei dieser Gelegenheit erfahren wir, daß die Sonne nur 10 Meter Dia- 
meter hat. Auch A. L. hat ja, wie er uns mitteilt, wie wir alle, in der 
Schule gelernt, die Sonne sei größer als unsere Erde, aber das sind 
lauter Lügen, er weiß es besser. Also auch hier kehrt L. auf die 
Stufe der primitiven Mentalität zurück, indem er selbst die von 
ihm individuell erworbenen, erlernten logi¬ 
schen Erkenntnisse verleugnet. Wie unser amtlicher 
Prophet, wie unser schizophrener Gott, kann A. L. auch die astro¬ 
nomischen Erscheinungen beeinflussen. Er könnte den Sonnen-Auf- 



93 


and -Untergang verschieben, aber dazu müßte er den Kalender ver¬ 
ändern (er sagt Almanach), denn die Sonne, meint er, richtet sich 
nach dem Kalender und den Astronomen — wunderbarer Anklang an 
die primitiven Wettermacher und an den Primitiven, welcher durch 
den Intichiuma die Naturordnung erhält. 

Wird die Geburt zur Yerkörperlichung eines schon existierenden 
Geistes, so liegt die Idee der Wanderung dieses Geistes durch ver¬ 
schiedene Inkarnationen, die Idee der Wiedergeburt auf der Hand. 

Die Patientin A. T. entwickelt folgende Wiedergeburtstheorien: 
Sie war Napoleon gewesen, der Anstaltsdirektor Maria Louise, der 
Rechtsanwalt, welchen sie beschuldigt, ihre Internierung veranlaßt 
zu haben, Josephine. Als Napoleon war sie zu Josephine (Rechts¬ 
anwalt) grausam gewesen und diese rächt sich jetzt, indem sie sie in 
die Irrenanstalt einsperrt. Jetzt versteht sie wenigstens den Grund 
ihrer vielen Leiden, den mußte sie ja auch finden ... Sie erklärt 
uns, die Geister haben kein Geschlecht und darum habe sie sehr gut 
Napoleon sein können. Im übrigen habe sie eher männlichen Cha¬ 
rakter. Sie hätte auch sonst alle ihre Leiden nicht ertragen kön¬ 
nen, während der Rechtsanwalt ein Schwächling, ein Feigling 
ist; wäre er ein Mann, so würde er sie nicht internieren lassen. Das 
alles wurde ihr vom Medium offenbart und so wurde sie in ihrer 
Verzweiflung getröstet. Jetzt will sie mit Niemandem ihr Schicksal 
eintauschen, sie muß es bis zum Ende erdulden; wenn sie ihre Ver¬ 
fehlungen gebüßt hat, wird ihre Seele Ruhe finden, in der Unendlich¬ 
keit, in dem Nichts, ansonsten müßte sie eine neue Wiedergeburt 
erleiden 1 ). 

7 t 

Wie die Primitiven setzen sich unsere Kranken über jeden 
Widerspruch hinweg, wenn es die psychische Konstellation gebietet. 
Die „Visitkarte“ des A. L. zeigt, wie der Kranke jede Identifizierung 
eingehen kann, ohne sich nicht nur um Schranken seiner eigenen Per¬ 
sönlichkeit, sondern auch um den Widerspruch innerhalb seiner 
hohen Titel zu bekümmern. Er unterschreibt: Monsieur le Cardinal 
L. J. F. Mercier, grand Directeur de l’asile de Cery et votre Majeste 
GönSral Wille, Roi des Suisses et Eduard I., Wilson, de Rotschild, 
Imperator et Roi des Aciers, votre pöre Celeste Pape Pie X., Marius 
Marconi. Auf Grund einer imbekannten Anteilnahme oder eines vor- 


‘) Dies erinnert lebhaft an die indische Inkarnationslehre. Auch hier wird 
das „Rad der Wiedergeburten“ durch die Ausübung der vedischen Tugenden 
und durch die Befreiung von Wünschen, welche zum Nirvana führt, unter¬ 
brochen; andernfalls muß die Seele weitere Reinkarnationen durchmachen. 



94 


übergehenden unwesentlichen Zusammenhanges stellt die Patientin 
die Gleichung auf: „Mein Bruder ist der Kanton Genf“. So sind 
die brasilianischen Bororo rote Papageien, so ist für die Huitschols 
Hirsch gleich Feder. Der Wahrnehmung nach wird ja der Hirsch 
von der Feder unterschieden, ebenso wie unsere Patientin ihren Bru¬ 
der mit dem Kanton Genf nicht in Wirklichkeit verwechselt; aber 
die Bedeutung, welche den beiden Vorstellungen gegeben wird, ist 
momentan die gleiche, und darum können sie einander gleichgesetzt 
werden. 

Bei den Primitiven geschieht dies auf Grund der kollektiven 
mystischen Anteilnahme, bei den Schizophrenen auf Grund der Kom¬ 
plexe oder bloßer Einfälle, aber die Mentalität, welche das alogische 
Resultat ermöglicht, muß in beiden Fällen tief verwandt sein. 

Solche Identifizierungen auf Grund von rein subjektiven Be¬ 
deutungsbereitschaften sind ja für die schizophrene Psyche etwas ge¬ 
wöhnliches und stellen sie der primitiven Mentalität zur Seite. 

Wir erinnern uns, wie die Baiming in ihren traditionellen Zeich¬ 
nungen Gegenstände erblicken, wo der unbefangene Zuschauer nur 
sinnloses Liniengemenge sieht. Auch unsere Kranken deuten allen 
Ernstes eigene und fremde Zeichnungen in abenteuerlichster Weise 
und sehen Dinge, welche darin nicht einmal angedeutet sind. 

Oder aber die Identifizierung stützt sich auf wohl vorhandene 
aber äußerst blasse und unbedeutende objektive Zusammenhänge; so 
z. B. wenn der Arzt zum Pfarrer wird, „weil er auch so eine sanfte 
Stimme hat“. 

Zwischen dem Menschen und seinem Bildnis vermögen wir nur 
Ähnlichkeit zu sehen, nichts mehr; die beiden Gegenstände gehören 
eben für unsere logische Mentalität in total verschiedene Objekt¬ 
klassen und auch wenn wir mit dem Bildnis einer geliebten Person 
einen besonderen Kult treiben, so sind wir uns über die affektive 
Grundlage dieser Einstellung klar und wissen, daß wir nur die Er¬ 
innerung an den Menschen lieben. Für den Primitiven hat das Bild 
•die gleiche Bedeutung wie der Mensch resp. der abgebildete Gegen¬ 
stand und wir führen das Beispiel einer Kranken an, welche sich 
beklagte, die Katzen steigen von den Wandbildern herunter und zer¬ 
reißen ihr die Eingeweide. (Die Autopsie ergab Gebärmutterkrebs, 
dessen Metastasen das ganze kleine Becken ausfüllten.) 

Einer unserer Patienten glaubt sich von Freidenkern verfolgt; 
eines Abends geht er mit dem Hammer an das Denkmal von Michael 
Servet heran und will es zerstören. Erklärung: Servet hat ihn an 



95 


der Verwirklichung eines Heiratsprojektes gehindert, Servet ist der 
Götze der Freidenker, welche erbitterte Feinde unseres Kranken sind. 

Wird das Bild als gleichberechtigter Repräsentant des Objektes 
behandelt, so ist es weiterhin möglich, daß an Stätte des Objektes 
Gegenstände gesetzt werden, die in irgendwelchem Punkte mit ihm 
Zusammenhängen. Ebenso verhält es sich mit.Handlungen, bei wel¬ 
chen ja die objektive Zielbedeutung nicht mehr das Wesentliche aus¬ 
macht und bei welchen infolgedessen bloßer schematischer Form Be¬ 
achtung geschenkt wird. So kommt es, daß die Kranken nicht nur 
zu allerlei symbolischen Darstellungen neigen, sondern auch mit 
ihnen vorlieb nehmen und sie als gleichwertige Objekte und Hand¬ 
lungen auffassen. 

Für dieses wohlbekannte Verhalten nur zwei kleine Beispiele. 

Der Kranke hält sich stundenlang unter seiner Decke versteckt. Er¬ 
klärung: Das ist natürlich, er zeigt so weniger seine Gefühle für die Geliebte 
und leidet auch weniger darunter, man soll nicht allzuviel Gefühl zeigen. 
Derselbe Kranke benützt jede Gelegenheit, um etwas zu zerstören, namentlich 
aber gebraucht er das kleinste in seinem Varech gefundene Holzstückchen, um 
die Tür der Zelle zu zerkratzen. Macht man ihm Vorwürfe, so erklärt er, er 
müsse arbeiten und schaffen, mit dieser Arbeit verdiene er Geld. 

Diese Ersatzhandlungen erinnern lebhaft an die primitive Sym¬ 
bolik, welche durchaus nicht zufällig ebensowenig aber bloß alle¬ 
gorisch ist, sondern ernsten Sinn hat und der wirklichen Tätigkeit 
gleichgesetzt wird. Namentlich aber erinnern so manche schizo¬ 
phrene Deutungen und Symbolhandlüngen an die oben erwähnten 
..Calembours en action“. 

Daß der schizophrene Autismus in kümmerlichen Ersatzobjekten 
Befriedigung finden kann, erklärt sich dadurch, daß er von der 
objektiven Bedeutung dieser Gegenstände abstrahiert, diese Bedeu¬ 
tung absperrt, tun sie in dem Sinne seiner subjektiven Bedeutungs- 
bereitschaften aufzufassen. So kommt es, daß die sich nach Mutter¬ 
schaft sehnende Kranke, vom Arzt Christus mit einem neuen Hei¬ 
land schwanger, eine selbstangefertigte kümmerliche Stoffpuppe mit 
aller Zärtlichkeit in den Armen wiegt. Und hier wollen wir zu den 
schon gebrachten Beispielen auf dem Gebiete der primitiven Men¬ 
talität ein besonders prägnantes beifügen. In Südindien „werden 
kleine nackte Holzfiguren beiderlei Geschlechts in Tirapathi fabri¬ 
ziert und den Eingeborenen verkauft. Wer nun keine Kinder hat, 
der erfüllt an dem Figürchen die Zeremonie der Ohrendurchstechung 
(welche man gewöhnlich an dem Neugeborenen erfüllt), in dem 
Glauben, daß ihm infolgedessen ein Kind geboren wird. Oder wenn 



96 


in einer Familie Jungen oder Mädchen ledig bleiben, feiern die Eltern 
die Zeremonie der Ehe zwischen einem Paar von Holzfiguren, in der 
Hoffnung, daß die Ehe ihrer Kinder bald folgen wird. Sie kleiden 
diese Puppen, schmücken sie mit Juwelen und befolgen alle Bräuche 
einer wirklichen Hochzeit. Es gibt Leute, welche für die Hochzeit 
einer Puppe ebensoviel ausgegeben haben, wie für eine wirkliche 

Hochzeitsfeier 1 ).“ 

Können Objekte durch die noch so entfernten Symbole ersetzt 
werden, so ist nicht einzusehen, warum nicht gelegentlich leblose 
Gegenstände mit lebendiger Kraft oder mystischen Potenzen aus¬ 
gestattet werden sollen. Schließlich verwischen sich die Grenzen 
zwischen dem Lebendigen und Leblosen, zwischen Mensch und Her, 
wie sich die Schranke zwischen Psyche und Welt verwischt hat. 
Wir erinnern hier an unseren Patienten Eugen C., welcher Dialoge 
mit dem Tintenfaß und dem Reflexhammer führt. Ohne Zweifel 
steht dieser Fall dem Primitiven nahe, der seinen Gebrauchs¬ 
gegenständen mystische Kräfte zuschreibt und in seinen Fetischen 
höhere Zauberwesen sieht. (Bekanntlich können besonders begabte 
Fetische ihre Kraft neuangefertigten oder schon „abgenutzten“ mit- 
teilen, zu welchem Zwecke sie mit dem neuen längere Zeit zusammen 
aufbewahrt werden; die neuen Fetische nennt man dann Kinder der 
alten.) 

Auch Tiere können in nahe Beziehung zu den Kranken treten, 
wie dies bei den Primitiven der Fall ist. Einer meiner Patienten 
pflegt intime Beziehungen zu der Katze und gibt mir oft ernst¬ 
gemeinte Aufträge für das Tier, welches er mit besonderer Macht aus¬ 
stattet. Ein anderer sah in der Tatsache, daß die weiße Katze an 
einem bestimmten Abend imauffindbar und nur die schwarze zu 
sehen war, ein wichtiges Zeichen von tiefer Bedeutung. Die Rolle, 
welche andere Tiere, insbesondere Schlangen, in den Delirien spielen, 
ist ja bekannt; man muß dabei an die Seelentiere und die Totemtiere 
denken, welche zu Trägem wichtigster Eigenschaften und Partici- 
pationen bestimmt sind. Im Übrigen besitze ich kein genügendes 
Material, um mich über diese interessante Frage eingehend auszu¬ 
lassen. 

Wir berühren hier die Frage nach den Vehikeln von 
mystischen Eigenschaften. Wir verstehen, daß zwi¬ 
schen der Bedeutsamkeit der Anteilnahme und der objektiven 
Unwichtigkeit des Trägers totales Mißverhältnis bestehen kann. 


*) Thurston: Ethnographie notes in Southern India, p. 347, zit. bei 
L6vy-Bruhl. 



97 


Mittels Schokoladebonbons wird der Kranke von einem Mädchen 
„hypnotisiert“, d. h. gezwungen, sie zu lieben, immer an sie zu 
denken. Ein solches Mittel, würde aber auch dem Primitiven ohne 
weiteres einleuchten und ihm zur Erreichung allerlei bedeutsamer 
Zwecke dienen. Gerade der Liebestrank ist ja ein weit verbreitetes 
Motiv des Folklore. Wir sehen hier, wie die hypnotisierte Liebes- 
sabstanz an ein beliebiges Vehikel gleichsam angeheftet wird. 

Die Frage, wieso ein unwichtiges materielles Objekt bedeutsame 
seelische Einwirkungen übertragen kann, ist für die prälogische 
Mentalität einfach unzugänglich. Denn sie kennt, um es noch einmal 
zu betonen, die Schranken nicht, an die sich die logische Men¬ 
talität halten muß. Sie scheidet nicht die materiellen Wirkungen 
von den seelischen, sie vermengt das Immanente mit dem Transitiven 
und umgekehrt. Jede sichtbare materielle Wirkung kann zugleich 
eine unvergleichlich wichtigere psychisch-dynamische, mystische an¬ 
deuten, ausdrücken und — dies alles wird gleichgesetzt — hervor- 
rufen. 

Wo die rein materielle Tätigkeit ihre Grenzen in Raum und Zeit 
hat, da kann ihr mystisches Korrelat jede raumzeitliche Schranke 
überschreiten. Das gilt für alle magischen Praktiken, aber auch für 
alle Wirkungen durch Anteilnahme der Primitiven; dies gilt auch 
für den schizophrenen Beeinflussungswahn und für die schizophrenen 
Halluzinationen. 

Die Stimmen sind allgegenwärtig wie die Götter und wie die 
Dämonen, sie kennen keine Distanz. Man bleibt in Verbindung mit 
bestimmten Personen, auch wenn man sich noch so weit von ihnen 
entfernt, man hört ihre Gedanken, man bekommt von ihnen Ant¬ 
worten, muß man auch zu diesem Zwecke, wie eine Patientin, sich 
das telephonische Büro in dem Waschtisch voretellen. Man findet es 
selbstverständlich, daß der Gedanke von dem Denkenden abgetrennt 
werden kann und im Raume herumwandert. 

Auch wird man auf beliebige Distanzen hin beeinflußt und ver¬ 
folgt, wobei wiederum das Psychische mit dem Körperlichen aufs 
engste vermengt wird. Man wird durch Quecksilber vergiftet, 
durch Telepathie zugrunde gerichtet, durch Gedankenübertragung 
päderastischen Verfolgungen ausgesetzt. Auf diese Weise kann das 
Herz Stillstehen, die Hände zittern, Gedanken entzogen werden. 

Kräfte und mystische Potenzen gehen weit über ihr materielles 
Substrat, sie sind an ihre Vehikel nicht gebunden. Ihr Wirkungs¬ 
kreis ist darum prinzipiell nicht beschränkt, der Qualität wie der 

Bychowski, Metaphysik und Schizophrenie. (Abbandl. H. 21.) 7 



98 


Quantität nach können ihre Wirkungen alles objektiv Mögliche 
überschreiten. 

Dies gilt für den Verfolger wie unter Umständen auch für die 
Kranken selbst. Die Macht ihrer Wünsche wird zur Allmacht der 
Verwirklichungen, die Schranken der objektiven Einstellung werden 
ausgeschaltet, mit den logischen Kategorien wird nicht mehr ge¬ 
rechnet. 

Wir bemerken die Analogie der psychischen Situation unserer 
Verfolgten mit der Einstellung des Primitiven, welcher den mystisch¬ 
magischen Mächten unsicher gegenübersteht. Beide können sie die 
Schranken der feindlichen Beeinflussung nicht abschätzen, beiden 
wird jeder Gegenstand, jedes äußere Geschehen zum Träger und zum 
Ausdruck der böswilligen Tätigkeit. Aber diese Situation kann um¬ 
gekehrt werden und zwar auf der gleichen psychischen Grundlage. 
Auch eigene Tätigkeit wird an die objektiven Schranken nicht ge¬ 
bunden, auch eigenes Tun verliert seinen immanenten Charakter und 
wirkt transitiv, indem es die naheliegenden Objektreihen und Kausal¬ 
ketten überspringt. Die Allmacht der Wünsche und Gedanken spot 
tet jeder Begrenztheit in Raum und Zeit. 

Es erscheint geboten, an dieser Stelle Einiges über die beson¬ 
dere Gestaltung des schizophrenen Verfol¬ 
gungswahnes zu sagen. Sein Inhalt, in welchem die Kom¬ 
plexe und die übermäßig betonten Triebkomponenten zur Geltung 
kommen, wird uns hier nicht beschäftigen. Die Analyse eines jeden 
Delirs vermag diese Elemente aufzufinden und sie sind deutlich genug 
in den drei von uns angeführten Fällen. Was uns aber hier inter¬ 
essiert, ist die Form, in welcher sich die Komplexe äußern und in 
welcher der primitive Einschlag des schizophrenen Denkens eine 
überwiegende Rolle spielt. 

Schon bei der Besprechung unserer Fälle wiesen wir auf den 
magischen Charakter ihrer Aufstellungen hin. Jeanne S. 
spricht von Personenverdoppelung, was einer Person ermöglicht, zu¬ 
gleich an zwei Orten zu sein. Dies ist nun ein typisch magisches 
Attribut und für die primitive Mentalität eigentlich selbstverständ¬ 
lich. Der Gedanke, der Geist, ist für diese Denkweise keineswegs an 
die betreffende Person gebunden, er kann sich von ihr loslösen und 
seine Wirkung auf große Distanzen ausüben; dies aber ist dem primi¬ 
tiven Denken gleichbedeutend mit Omnipräsenz oder wenig¬ 
stens simultaner Anwesenheit an räumlich verschiedenen Orten. 
Schon diese Formulierung zeigt, daß die Aufstellung nicht auf das 
Gebiet der Magie eingeschränkt bleibt; denn auch Gott wird in 



99 


einem Zuge als Person und überall gegenwärtig 
gedacht, zwischen seiner Person und seiner 
Wirkung wird nur höchst unvollkommen unter¬ 
schieden. 

Ist der Glaube an die Loslösung des Geistes und an die Wir¬ 
kung auf Distanz eines der Grundprinzipien des prälogischen Den¬ 
kens, so bildet er auch das Hauptelement des schizophrenen Wahnes. 
Das Typische an dem Delir von Julien T. ist nicht, daß er von einem 
Oberamtmann verfolgt wird, der ihn zum Objekt seiner päderasti- 
schen Gelüste macht, sondern einzig und allein die Form, in wel¬ 
cher dies geschieht. Der'Verfolger wirkt auf Distanz, er bleibt in 
seinem Amtsorte und nichtsdestoweniger erscheint er bei dem Kran¬ 
ken in der Anstalt bei Tag und Nacht, um ihn zu päderastieren. Man 
könne dies nämlich durch bloße Gedankenübertragung zustande 
bringen, auf diesem Wege können Menschen in die Person des Kran¬ 
ken eindringen und ihn beherrschen. So wird Julien besessen von 
dem Geiste seines Verfolgers, er schafft sich einen Dämon, wie sich 
die Magier aller Zeiten Dämonen schufen, welche auf Befehl in die 
Menschen hineindrangen, ihre Lebenskraft aufzehrten, sie krank 
machten. 

Wie der Verfolger unseres Kranken selbst dessen durchaus 
natürliche Körperfunktionen beeinflußt (Bauchweh, Transpiration, 
das Aus-der-Hand-fallen des Messers) erinnert lebhaft an die Vor¬ 
stellungen der Primitiven. Aus dem Mittelalter besitzen wir ein 
interessantes Werk von Pater R i c h a 1 m im Kloster Schönthal 
(erste Hälfte des 13. Jahrhunderts). In seinen „Offenbarungen“ er¬ 
zählt der Mönch, wie er Tag für Tag, Stunde für Stunde von Dämo¬ 
nen geplagt wurde. Er macht sie verantwortlich für sämtliche Un¬ 
zugänglichkeiten seines Geistes und alle Krankheiten seines Kör¬ 
pers. Ausschlag, beschwerte Atmung, herabhängende Unterlippe, 
Trunkenheit, Blutdrang nach dem Kopfe, dies alles wurde bewirkt 
von bösen Geistern und wenn der Pater eine schlaflose Nacht ver¬ 
brachte, so waren es nicht die Flöhe, welche ihn nicht schlafen ließen, 
o nein, „diese Tiere,“ sagt er, „beißen in Wirklichkeit nicht: sie 
stellen sich nur so; sondern es ist alles Werk der Dämonen“ 1 ). 

Sieht man näher zu, so überzeugt man sich, daß selbst die Aus¬ 
drücke, in welche der Kranke sein Delir kleidet, den Termini tech- 
nici der Magie aller Zeiten aufs Genaueste entsprechen. „Magnesium“ 
ist ihm nur ein Name, um den unbestimmten Vehikel der magischen 

*) Zit. bei Frater, 1. c. II, p. 296—296. 

7 * 



100 


Beeinflussung zu bezeichnen. Ansonsten ist es aber der Gedanke, 
der Geist, das Lebensprinzip (principe vital) das 
Blut, welche übertragen werden, kurz es ist das Wesen (l’etre) 
selbst. Auf diesem Wege kann der Verfolger in ihn mit seinem 
Penis hineindringen, in sein Gehirn hineinkommen und von da aus 
sich in seinem Innern ausbreiten. 

Begriffe, wie der Geist, das Lebensprinzip, welches sich von 
seinem Träger unterscheidet und losgelöst werden kann und welches 
mit dem Blute übertragen wird, bilden vollkommene Analogien mit 
dem Wakan, Orenda und Mana der Primitiven, die, wie 
Hubert und Mauss 1 ) gezeigt haben, das Grundprinzip der 
Magie ausmachen. Wer mehr Mana hat, der kann einen anderen 
verfolgen, besiegen, verzaubern, töten; Mana verleiht seinen Besitzern 
Kraft über Menschen, Tiere und Elemente'). Es stimmt damit voll¬ 
kommen überein, wenn unser Kranke bittet, man möge ihm Magne¬ 
sium geben, damit seine Kraft derjenigen seiner Verfolger gleich 
wird, denn wenn sie ihn so schrankenlos „gebrauchen“ können, so 
liegt es daran, daß sie mehr Magnesismus haben als er. Würde e r 
mehr haben, dann könnte auch e r sie „nehmen“, wie sie ihn bisher 
genommen haben. Der Patient A. L., dem seine Verfolger Ge¬ 
sichtsakne und Blepharitis machen, erklärt mir, warum er mit mir 
nicht dasselbe machen könne: „Vous avez le sang plus fort que moi“. 

Der Patient Jean L. sagt es deutlich: Man entzieht ihm seine 
Lebenskraft, seinen Geist, die Verfolger eignen sich diesen „heiligen 
Geist“ an, um vermehrt an Kraft und Macht ihre unsauberen Ab¬ 
sichten auszuführen. Sie dringen in seinen Geist ein und fordern 
seinen Kopf, seine Glieder. Der Geist kann, vom Leib ge¬ 
trennt, denselben überleben, der Geist ist auch 
Blut'). Und wieder sehen wir es mit großer Deutlichkeit, wie 
diese Gedankengänge eigentlich in die Denkweise des Glaubens 
hineinspielen, mit dem sie ihre prälogische Grundlage teilen. 

Zusammenfassend können wir nun sagen: Die schizophrene Re¬ 
gression bedingt die Objektivierung von Komplexen und überbeton¬ 
ten Triebkomponenten. Sind dieselben mit dem bewußten Ich un¬ 
verträglich und als solche von dem Bewußtsein abgespalten, so wer- 

’) Hubert & Mauss, Theorie g6n6rale de la magie. 

*) Vgl. die Ausführungen des IV. Kapitels. 

*) Dementsprechend sind die Verfolger Jeans Blutsauger. Sie erinnern 
lebhaft an jene Dämonen der Babylonier, welche das Fleisch ihrer Opfer ver¬ 
zehrten und ihr Blut aussogen. Berichtet bei Frater, Le rameau d’or, n, 
p. 293. 



101 


den sie in Verfolgern hypostasiert, ebenso wie die Natur- und Men¬ 
schenkräfte im Glauben des Primitiven in Dämonen und Geistern 
verdichtet und gebunden werden. Dieselbe schizophrene Regression 
bringt es mit sich, daß die Verfolgungen, welchen die Kranken aus¬ 
gesetzt werden, sich in den der primitiven Mentalität geläufigen For¬ 
men abspielen. Diese bestehen wesentlich in Wirkungen auf Distanz, 
welche geistig-materiell gedacht werden, indem sie mit dem Materi¬ 
ellen die Greifbarkeit der Folgen, mit dem Geistigen die Uneinge¬ 
schränktheit in Raum und Zeit gemeinsam haben, ln diesem 
doppelten, für die prälogische Mentalität bezeichnenden Charakter 
der Wirkungen liegt es, daß die Kräfte nur höchst unvollkommen 
an ihre materiellen Substrate gebunden werden, daß sie ihrer In¬ 
tensität wie ihrer Qualität nach diesen Substraten durchaus unan¬ 
gemessen sein können. Werden einerseits materielle Wirkungen als 
psychische vorgestellt, so können andererseits psychische Tendenzen 
in materieller Form objektiviert und vorgestellt werden. Nicht nur 
werden einzelne Wirkungen und Kräfte von ihrem materiellen Sub¬ 
strat losgelöst, auch die Lebenskraft, das materiell-geistig gedachte 
Lebensprinzip selbst, welches dem magischen Grundelement, dem 
Mana, Wakan, Orenda usw. entspricht, kann vom Individuum abge¬ 
trennt werden und allerlei Übertragungen (Transmission) und Trans¬ 
formationen unterliegen. 

In diesem Zusammenhänge ist es von Interesse, zu bemerken, 
wie die hier aufgezeigten Affinitäten zwischen der primitiven Men¬ 
talität und der Denkweise der Paranoiden von rein ethnologischer 
Seite vorausgeahnt wurden. Ich zitiere wörtlich (nach Frazer) 
den Passus aus Williams Studie über „Religious Life and Thought 
in India“: „D est incontestable que la grande majorite des habitants 
de l’Inde est victime, depuis le berceau jusqu’au bücher, d’une sorte 
de maladie mentale qu’on ne peut mieux designer qu’en l’appelant la 
demonophilie. Ils sont comme hantes et oppresses par une crainte 
perpetuelle de demons“. 

An dem mißtrauischen, spöttisch lächelndem Blicke unserer Ver¬ 
folgten sehen wir es: ihre Einsicht geht weit über die in der Wahr¬ 
nehmung gegebenen Tatsachen und Zusammenhänge hinaus, sie 
sehen und spüren die unsichtbaren Wirkungen der feindlichen 
Mächte, sie bauen auf dem dürftigen Wahmehmungsmaterial wahn¬ 
hafte Bewußtheiten auf und bevölkern die objektive Welt mit mysti¬ 
schen Mächten, welche ihrer Psyche entsteigen und durch deren be¬ 
sondere Zuwendung zur Welt bedingt werden. 

Diese neue Welt hat aber für die Kranken mehr Bedeutung, als 
die objektiv zugängliche Welt der normalen Wahrnehmung und bald 



102 


sind die beiden so innig miteinander verwebt, daß keine Grenze mehr 
aufgestellt werden kann. Menschen und Dinge sind wichtig nicht als 
von einander unabhängige Objekte, sondern gleichsam als Knoten¬ 
punkte eines ausgedehnten Netzes von Wirkungen und Einflüssen, 
welche sich unbegrenzt ausbreiten und alle Schranken der persön¬ 
lichen Unantastbarkeit des Kranken durchbrechen. 

Wir erinnern hier an den Fall Alfons C. Seine immense 
Eigenbeziehung nahm der Wahrnehmung ihren objektiven Charakter, 
die äußeren an sich durchaus unbedeutenden Begebenheiten schienen 
ihm Wichtiges und ihn persönlich Betreffendes anzukündigen. In 
diesem Sinne dürfen wir hier mit voller Berechtigung von schizo¬ 
phrener Wahrsagung sprechen. In der Tat liegt den Be¬ 
ziehungsbewußtheiten unseres Kranken dieselbe unausgesprochene 
Voraussetzung zugrunde, wie der für die primitive Mentalität so 
bezeichnenden Wahrsagung aller Zeiten und Völker. Zwischen dem 
Hahnenkampf und dem Schicksal des Alfons C. besteht nicht mehr 
und nicht weniger Zusammenhang, als zwischen dem Flug der Vögel 
und dem Ausgang einer römischen Schlacht, dem Stemenlauf und 
dem menschlichen Geschick. 

Hier wie dort ist der Psyche die objektive Welt nur ein Gleich¬ 
nis für die menschlichen Geschicke, Wünsche und Befürchtungen, 
hier wie dort wird das naturhafte außermenschliche Geschehen un¬ 
eingeschränkt in Zusammenhang mit dem Menschlichen gebracht 
und im menschlichen Sinne gedeutet. Wir können von primiti¬ 
ver Eigenbeziehung sprechen, wie wir von schizophre¬ 
ner Wahrsagung gesprochen haben. 

Hand in Hand mit dem Unwichtigwerden der objektiven Zu¬ 
sammenhänge gewinnen die subjektiven magisch-mystischen an Be¬ 
deutung. Schließlich wird die Hierarchie, welche die logische Men¬ 
talität unter den Vorstellungen aufstellt, aufgehoben, indem der 
Gegensatz subjektiv und objektiv seine Bedeutung verliert. 

Das Wort, welches uns ein bloßes subjektives Korrelat des Objek¬ 
tes, in praktischer Hinsicht aber ein bloßes Verständigungszeichen ist, 
wird sowohl für den Primitiven wie für den Schizophrenen zu einer 
besonderen Wesenheit, welcher besondere Eigenschaften zugeschrie¬ 
ben werden. Diese sind für den Primitiven mystisch, wir wissen, 
welche Rolle die Zauberworte in allen Praktiken spielen, welche 
Macht mit ihnen verbunden ist. Ähnliche Vorstellungen können wir 
bei unseren Kranken beobachten. 

Jean L. will keine Briefe schreiben, man habe ihm gesagt, daß 
durch jede Silbe gegen ihn „gearbeitet“ werden könne und er will 



103 


seinen Verfolgern keine neuen Mittel in die Hand geben. Beson¬ 
ders scharf ausgeprägt ist dieses Motiv bei dem von Schilder an¬ 
geführten Fall des Patienten Felix K. 

„Mit den Worten ,^eppel, heppel“ kann man einen Menschen kaput 
machen. ... Auch er war Zerschnitten, aber er hat es sich mit den Worten 
„hac, hae“ abgestrichen.... Er selbst kann sich durch das Wort „sesura“ 
göttlich-hypnotisch machen. Durch das Wort kommt der Himmelskörper in 
ihn hinein. (Was ist das eigentlich Wirksame?) Das sind die Worte. Die 
Himmelskörper geben das Wort „semsterie“ oder „supsterie“, manche Himmels¬ 
körper geben nur zwei oder drei Worte, mancher auch Tausende. Die Him¬ 
melskörper sind um so wertvoller, je mehr Worte sie geben. In manchen sind 
bis zu 10 000 Worte enthalten ... in dem guten Worte da befinden sich 90 000 
Worte.“ 

Die Worte sind also als eine zauberische 
Substanz gedacht und werden auch als solche 
behandelt. So erklärt es sich, daß man die Worte seiner Frau 
in den Einkaufkorb werfen kann, so erklärt sich, daß ihm mit diesen 
Worten Kleider und Möbel beschmutzt werden“ 1 ). 

Die Selbständigkeit des Wortes kann so weit gehen, daß, wie 
Preuß sagt: „das Wort ist kein vom Menschen allein ausgehender 
Zauber, sondern ist eine selbständig wirkende Substanz, eine Nach¬ 
bildung des Objektes, das es bezeichnet“ 1 ). 

Ob dieser Wortsubstanz willen muß das Objekt durchaus nicht 
vergessen werden und die Beachtung der mystischen Eigenschaften 
ist nicht identisch mit Vernachlässigung des. objektiven Wahr¬ 
nehmungsmaterials. Wir sehen es bei den Primitiven, bei welchen 
ja die Feinheit und Genauigkeit der Wahrnehmung oft ans Wunder¬ 
bare grenzt; und auch von unseren Kranken wissen wir, daß sie, mit 
ihrer wahnhaften Welt innig verbunden, dessen ungeachtet die ge¬ 
ringsten Details der Umgebung registrieren können. 

Wir verstehen mühelos die Exaktheit der Wahrnehmung beim 
Primitiven sowie die vielbewunderte Treue und Präzision seines Ge¬ 
dächtnisses. Diese Charaktere entspringen notwendigerweise aus 
der Art seiner Einstellung Psyche-Welt. Er lebt noch im Stadium 
der vollen und gleichmäßigen Zuwendung zur Welt, mit der er sich 
innig verbunden fühlt. Diese primitive Einheit und die Undifferenz¬ 
iertheit seiner Interessen bewirken es, daß er die Objekte seiner 
Wahrnehmung nicht nach ihrer objektiven Wertigkeit ordnet, es 
fehlt ihm durchaus die logische Hierarchie der Gegenstände selbst, 
ebenso wie ihrer Eigenschaften. Diese ordnenden Tendenzen sind es 

') Schilder, Wahn und Erkenntnis. 

! ) Preuß, Der Ursprung der Religion und Kunst. 



104 


aber, die uns eine Wahl unter dem Wahmehmungs- und Erinnerungs¬ 
material treffen lassen. Für unsere Orientierung in der Welt, welche 
wir für unsere Aktivität benötigen, ist es nicht weniger wichtig, daß 
wir gewisse Dinge außer Acht lassen, als daß wir andere beachten. 
Für den Primitiven ist aber alles gleich wichtig und der Mangel an 
objektiver Hierarchie der Gegenstände zeigt sich am besten darin, 
daß jeder von ihnen und jede Eigenschaft hohe Wertigkeit erlangen 
kann, indem sie zum Träger mystischer Kräfte, zum Ausdruck be¬ 
deutsamer Anteilnahme wird. 

Wir ahnen, daß ähnliche Faktoren die auffallende Genauigkeit 
der Registrierung mancher Schizophrenen bedingen müssen und wir 
erinnern uns, mit welchen Details manche Kranken ihre Berichte 
über die persönlichen Ausführungen versehen, als handle es sich um 
eine Chronik, bei der alles gleich wichtig oder unwichtig sei. Wie¬ 
derum bemerken wir hier die von uns mehrfach hervorgehobene 
Schwäche der ordnenden Tendenzen, die mangelhafte Betonung von 
objektiv begründeten Hierarchien unter den Gegenständen und Vor¬ 
stellungen. Dieses Verhalten der prälogischen Mentalität erweist 
sich besonders bedeutsam für die Zusammenhänge, welche sie zwi¬ 
schen Objekten und Vorgängen aufstellt. Der Primitive sieht kau¬ 
sale Zusammenhänge, wo wir nur ein post hoc ergo propter 
hoc und ein juxta hoc ergo propter hoc erblicken. 
Dinge, die zufällig seine Aufmerksamkeit fesseln, seine Affekte an¬ 
regen oder einfach aus dem Rahmen seiner gewohnten traditionellen 
Erfahrungen herausfallen, werden als Ursachen bedeutsamer Ge¬ 
schehnisse aufgefaßt. Eine Zeit der Trockenheit in Landana wurde 
den Mützen der Missionäre zugeschrieben, welche sie während des 
Gottesdienstes trugen. Nach der Ankunft der katholischen Missio¬ 
näre hörten die Regenfälle auf und die Anpflanzungen litten unter 
der Trockenheit. Die Bevölkerung setzte sich in den Kopf, daß dies 
die Schuld dieser Männer wäre, insbesondere ihrer langen Röcke, 
denn nie hatte man noch solche Tracht gesehen. Anderswo ist es 
ein weißes Pferd, das soeben ans Land gebracht wurde, welches 
die Verhandlungen unterbrach und zu langen Diskussionen An¬ 
laß gab'). 

Wir führen diese wohlbekannten charakteristischen Tatsachen 
an, welche wir in Zusammenhang mit dem früher Gesagten über die 
Transgression (Tloto) bringen, nur um die Analogie mit patho- 

') Dr. Pechüel-Lösche, Die Loangoexpedition, III, 2, p. 83, zitiert 
bei Lev y - Brüh 1. 



105 


logischer Denkweise scharf ins Licht zu stellen. Solche Zusammen¬ 
hänge, wie der zwischen den Mützen der Missionäre und der Zeit der 
Trockenheit muten schizophren an und wir hören von unseren Kranken 
des öfteren ähnliche Erklärungen, die wir oft mit Unrecht als bloße 
willkürliche Redensarten auffassen, welchen der Kranke selbst keine 
Bedeutung beilegt. Im Gegenteil muß hervorgehoben werden, daß 
die Kranken an derartigen Behauptungen mitunter längere Zeit mit 
Hartnäckigkeit festhalten und sie jedenfalls im Momente ihrer Ent¬ 
stehung für durchaus evident ausgeben. 

So schaffen die Kranken Zusammenhänge, welche sie entweder 
bald fallen lassen oder welche dauernd ihre Geltung behaupten. Die 
letzteren wurzeln offenbar in tieferen subjektiven Motiven und Ten¬ 
denzen, die fixiert und unversiegbar, gewisse Aufstellungen dau¬ 
ernd erhalten. Solche dauerhaften Konzeptionen werden bei den 
Primitiven überliefert, sie wurzeln in mystischen Anteilnahmen, 
welche von dem Stamme anerkannt und unerschütterlich geglaubt 
werden. Als kollektive Vorstellungen erhalten sie besondere Macht 
und Dauer. Die vorübergehenden zufälligen Zusammenhänge werden 
je nach der momentanen Situation gebildet und ohne Mühe fallen ge¬ 
lassen, wenn sie sich auch augenblicklich mit großer Wucht auf¬ 
zwingen. 

Schon die Beispiele, welche wir von diesen gleichsam blitzartig 
auftauchenden Zusammenhängen gebracht haben, lassen es erkennen, 
daß sie nicht zur Befriedigung des Erklärungsbedürfnisses gebildet 
werden, sondern eine Erscheinung, die für die Existenz und 
darum auch für das Affektleben des Stammes bedeutsam erscheint, 
wird zu einer anderen in Beziehung gebracht, welche man unmittel¬ 
bar zu beeinflussen hofft. So die Kappen der Missionäre, welche die 
Trockenheit hervorgerufen haben sollten. Daß kein Regen kommt, 
wo man ihn so notwendig braucht, erscheint den Primitiven wie ein 
Verstoß gegen die Naturordnung, an der sie ja im engsten Maße 
teilnehmen, d. h. welche sie sich in intimer Gemeinschaft mit dem 
Stamme vorstellen. In der Bestürzung über diese feindliche Störung 
des Weltganges suchen sie nach dem Angriffspunkt, von wo aus sie 
den Lauf der Dinge ihrem Wunsche gemäß wieder hersteilen könnten. 
Das erste ebenfalls ungewohnte Vorkommnis, das man aber ändern 
kann und worauf eben der Blick fällt, wird zur Ursache gestempelt. 

Wir müssen uns fragen, ob man hier noch von Ursache sprechen 
kann, und wir sehen sofort, die Antwort muß negativ ausfallen, 
wenn wir den Begriff Ursache in unserem modernen logischen Sinne 
auffassen. Denn die primitive Zauberkausalität ist in 



106 


allen Fällen, wo wir, ähnlich dem analysierten Beispiele, ihrer Ent¬ 
stehung beiwohnen können, sprunghaft, launisch und höchst unvoll¬ 
ständig. Was ihr treibendes Motiv ausmacht, ist, und wir wollen es 
festhalten, nicht das Erklärungsbedürfnis, wie ältere ethnologische 
Schulen, vor allem die englische, immer wieder angenommen haben, 
sondern der Affekt und die Nötigung zur Tätigkeit bei mangelhafter 
Beherrschung der Situation 1 ). Diese Kausalität ist praktisch und 
zufällig. 

Nicht wesentlich anders verhält es sich aber mit den durch den 
Brauch festgelegten Zusammenhängen, den mystischen Participatio- 
nen im wahren Sinne des Wortes. Auch diese verbinden beliebige 
Erscheinungen untereinander und holen sie aus den verschiedensten 
Gebieten heraus. Vor allem aber „erklären“ die Participationen nur 
für den Stamm wie für den Einzelnen höchst wichtige Dinge und ihr 
offenbarer Zweck ist es, die Beeinflussung dieser bedeutsamen Zu¬ 
sammenhänge in magischer Weise zu ermöglichen. 

Es ist unmöglich zu sagen, der Intichiuma sei die Ursache der 
Regenfälle, obwohl ohne den Intichiuma sicher kein Regen käme, 
denn sowohl die magische Zeremonie des Stammes wie das regel¬ 
mäßige Eintreffen der Niederschläge bilden eine unzertrennliche 
Einheit. Wenn aber, nach dem Analogiezauber, durch Bespritzung 
der Umgebung der Zauberer den Regen erzielt, so hat er nur diese 
Einheit zwischen dem Wünschen der primitiven Gesellschaft und den 
Naturmächten wieder hergestellt. Darum wäre es vergebens, den 
Primitiven nach der Begründung dieser eigenartigen Kausalität zu 
fragen, sie ist ihm selbstverständlich und wurzelt in der undiffe¬ 
renzierten Einheit seiner Grundbeziehung Psyche-Welt. 

Versuchen wir einen Einblick zu tun in die sich bei einer 
magisch-religiösen Zeremonie, wie der Intichiuma, abspielenden 
kollektiven psychischen Vorgänge, so müssen wir sagen, der Stamm 
erlebt dabei mit stets erneuerter Wucht seine Gemeinschaft mit dem 
Naturgeschehen, er identifiziert sich mit den Naturmächten, mit dem 
Totemtier oder Pflanze; wir wissen, daß zu dem letzteren Zwecke die 
Bewegungen des Tieres, die Szenen bei der Verwendung der Pflanze, 
mit ungeheurer Plastik gemimt werden. Auf diese Weise gewinnt 
der Stamm die innere Sicherheit, erlebt es in mächtiger Steigerung 
seiner psychischen Kräfte, daß seine kultische Tätigkeit wirksam 
ist, daß dank ihr der ersehnte Regen kommt oder die heiligen Tiere 
sich in nötiger Zahl vermehren. So wird die Periodizität der Regen- 

') Vgl. Wu nd t, Elemente der Völkerpsychologie. Leipzig 1918, p. 63. 



107 


fälle und der Tiervermehrung von den Intichiumas abhängig ge¬ 
macht und es ist nicht zu verwundern, daß die Erfahrung zumeist 
dem Glauben recht gibt, indem der Regen zu der erwarteten Zeit 
eintrifft, die Tiere sich in der erwarteten Zeit vermehren. Der Sicher¬ 
heitsgrad ist groß genug, um jede widersprechende Tatsache in dem 
Sinne der Tradition zu deuten: ein Mißerfolg des Intichiuma wird 
einem bösen Zauber zugeschrieben, das vorzeitige und üppige Ge¬ 
deihen der Totemgattung einem mystischen, unsichtbaren Intichiuma, 
der irgendwo im unbestimmten Jenseits von befreundeten Geistern 
gefeiert wurde. 

Die Existenz des Totemtieres ist in einem gewissen Sinne die 
Ursache des Bestehens des Stammes; aber umgekehrt in dem 
gleichen Sinne ist die kultische Tätigkeit des Stammes Ursache der 
Vermehrung des Totemtieres. So wird schließlich die besondere Art 
der Verursachung deutlich, mit der wir es hier zu tun haben und 
welche, obschon der modernen Ursache so unähnlich, sie dennoch in 
undifferenzierter Weise enthält'). 

In der Tat muß zunächst gesagt werden, daß hier der Begriff 
der schöpferischen Kraft, wenn auch selbstverständlich begrifflich 
noch nicht ausgearbeitet, zum erstenmal geprägt wird, biese Kraft 
ist produktiv und schafft Neues, welches unmittelbar aus ihr ent¬ 
springt. In diesem Sinne kann man sagen: aus dieser primitiven 
Ursache entsteht die Wirkung durch eine Art Emanation. 

Es ist nicht einzusehen, wie sich die erste Fassung der Ursache 
anders gestalten könnte. Denn die bloße Beobachtung lehrt ja 
nichts mehr als reine Sukzession der Erscheinungen ohne bindende 
Notwendigkeit der Verursachung. Dies hatte schon der größte 
Kritiker des Kausalitätsprinzips H u m e gesehen, der die Um¬ 
deutung des „post hoc ergo propter hoc“, die die Kausalität aus¬ 
macht, auf die Eigenschaften der Assoziationsfolge zurückführte. 
Durch die Wiederholung von Vorstellungen und die Gewohnheit, sie 
aufeinander folgen zu finden, entstehe eine innere Nötigung und eine 
bindende Erwartungsbereitschaft, welche in regelmäßiger Weise 
nach einer Idee eine andere bestimmte hervorruft. Daß auf diese 
rein psychologische Weise ein logisch so bindendes Prinzip wie die 
Kausalität zustande kommt, dies läßt H u m e auf dem Glauben 
(belief) beruhen, welcher somit die Grundlage der Erfahrung aus¬ 
macht. 

*) Vgl. zu den nachfolgenden Ausführungen W u n d t, 1. c. und Dürk¬ 
heim, Les fonnes £16mentaires de la vie religieuse. Paris, Alcan 1912, 
p. 518—528. 



108 


Wir finden den Glauben jedenfalls an der Wurzel der primitiven 
Kausalität, denn jede Anteilnahme ist ein durch die Macht der 
Überlieferung starker kollektiver Glaube. Er entspringt offenbar 
nicht aus der Beobachtung, sondern aus mächtiger kollektiver Affekt¬ 
spannung, welche in den religiösen Zeremonien ihre Speise und ihren 
Ausdruck findet und welche zum erstenmal dem Bewußtsein den 
Begriff der schöpferischen Macht übermittelt. 

Zugleich aber liegt in dieser religiösen Urkausalität ein anderer 
wesentlicher Faktor des Kausalitätsverhältnisses, die Regelmäßig¬ 
keit. Denn diese Zeremonien beziehen sich ja auf periodische 
Naturerscheinungen, welchen sie ihre eigene Periodizität nachbilden. 

Der religiös-kollektive Ursprung der Kausalität erklärt zur 
Genüge ihren bindenden allgemein gültigen Charakter. Erst jetzt 
findet sich die eigentliche Grundlage des H u m e sehen „belief“, 
der wohl eine bequeme Erfahrungsbedingung war, aber der 
notwendigen Begründung entbehrte. Nähere Prüfung ergibt, daß 
dieses Ergebnis eigentlich schon aus der Kant sehen Philosophie zu 
holen war. Denn Kant lehrte uns die Kategorien in dem weiten 
Sinne, in dem wir hier das Wort meinen, als Grundformen der Er¬ 
kenntnis kennen, welche nicht erst aus der Erfahrung abstrahiert 
werden können, da sie jeder Erfahrung zugrunde liegen und somit 
vor jeder Erfahrung gegeben werden müssen. Diese Aufstellung be¬ 
kommt aber ihren ganzen Sinn ohne Zweifel erst bei genauer Be¬ 
stimmung der Erfahrung, welche dabei gemeint wird. Die Kate¬ 
gorien sind Normen der Erfahrung, die allgemeingültig werden 
kann; wir müssen an die pathologische Erfahrung denken, welche 
diese Bedingung nicht erfüllt und welche auch keine Kategorien 
anerkennt. 

Die normale Erfahrung, jedem vernünftigen Wesen zugänglich, 
trägt in sich den Begriff der allgemein gültigen Norm und diese 
Bestimmung weist deutlich auf ihren kollektiven, sozialen Ursprung 
hin. Wir verstehen nun den bindenden Charakter der logischen 
Normen; wie alle Gesetze, sind sie von der Kollektivität geschaffen 
und als solche überindividuell. 

Versuchen wir jetzt, uns den Weg von der prälogischen Anteil¬ 
nahme zu der logischen Kausalität vorzustellen, so sehen wir sofort, 
wie er aufs engste mit der Differenzierung der Grundbeziehung 
zusammenhängt. Die mystische Anteilnahme entspricht der wenig 
differenzierten Einheit Psyche-Welt. Wie Psyche mit Welt eng ver¬ 
bunden ist, so sind auch die Objekte voneinander nicht streng ge¬ 
schieden. Sie können aneinander teilnehmen und sich auf mannig- 



109 


Wachste Art beeinflussen. Diese Einflüsse und Wirkungen werden 
vornehmlich in Form der psychischen Kräfte gedacht (es muß immer 
wieder betont werden, daß schon diese Ausdrucksweise viel zu 
modern ist, da die prälogische Mentalität keine Scheidung der 
physischen und psychischen Kräfte kennt), ihre Wirkungsweise ist 
wesentlich mystisch zauberhaft. Mit der durch die überlieferten Par- 
ticipationen gegebenen Einschränkung gilt für diese Mentalität die 
Formel Humes, „irgend etwas kann die Ursache sein von irgend 
etwas“. Es gibt nichts Unmögliches, nichts Unglaubliches und da im 
Grunde jede Verursachung als eine Art Wunder aufgefaßt wird, kann 
keine wunderbar genannt werden. 

Damit ist gesagt, daß es keine natürliche und übernatürliche Er¬ 
scheinungen gibt, denn während einerseits die wunderbarsten mysti¬ 
schen Zusammenhänge als natürlich betrachtet werden, sind anderer¬ 
seits die natürlichsten Geschehnisse Folge von mystischen Kräften 
(Intichiuma). Diese Einheit der Auffassung ist nur ein Ausdruck 
der innigen Vermengung psychischer und objektiver Welten und hat 
ihr praktisches Korrelat in der Überzeugung, ein jedes Geschehen 
gemäß eigenen Bedürfnissen beeinflussen zu können. 

Im Laufe langer Erfahrungen lernt der Mensch seine psychischen 
Möglichkeiten von dem Naturgeschehen zu trennen. Diese Schei¬ 
dung zwischen Psyche und Welt bedingt schärfere Trennung unter 
den einzelnen Objekten, welche als Glieder voneinander unabhängiger 
Zusammenhänge erkannt werden. Die logische Mentalität duldet 
kein Überspringen aus einer Kausalreihe in die andere, von welcher 
sie als zufällige abstrahiert. Hingegen kennt der Primitive in diesem 
Sinne keinen Zufall. 

Belehrt durch die Unzulänglichkeit seiner Wünsche, anerkennt 
der Mensch die objektive Realität und lernt physische Zusammen¬ 
hänge von den psychischen zu trennen. Die einheitliche Anteilnahme 
spaltet sich in zwei unterschiedliche Elemente, Ursache und Wirkung 
und während der Glaube mystische Participationen fundierte, wird 
nun nach objektiven Kriterien gesucht, um Kausalzusammenhänge 
anzunehmen. 

0 

Diese Entwicklung schafft auch das Prinzip des Widerspruches. 
Die enge Beziehung der mystischen Anteilnahme erlaubte einem 
Dinge zugleich ein anderes zu sein und ließ das Bewußtsein der logi¬ 
schen und physischen Unmöglichkeit nicht aufkommen. Die Spal¬ 
tung der Participationen grenzt die Objekte und Objektgroppen von- 

') L 6 ▼ y - B r u h 1, 1. c. p. 445. 



110 


einander ab und schärft den Blick für den Widerspruch innerhalb 
eigener Behauptungen und den Widerspruch mit der Erfahrung. 
Diese erhebt sich als mächtiges Kriterium aller Aufstellungen und als 
oberste Instanz der objektiven Wahrheit. 

Die Naturordnung und der Begriff des Natuigesetzes tritt an 
Stelle der mystischen von psychisch-physischen Mächten durchdrun¬ 
genen Welt des Primitiven. Das Auftreten der Regenfälle wird von 
den Wünschen des Menschen unabhängig und die Weltordnung muß 
nicht erst durch mystische Zeremonien erhalten werden; freilich kann 
man sie auch nicht mehr in magischer Weise beeinflussen. 



IV. Kapitel. 

Religionspsychologisches. 

Das primitive Weltbild kann nur dann in seiner Eigenart ver¬ 
standen und gewürdigt werden, wenn wir uns von manchen gang¬ 
baren Auffassungen frei machen. Es ist wohl anthromorph, da es 
von menschlichen Elementen durchdrungen und menschlichen psy¬ 
chischen Kräften, vor allem den kollektiven, nachgebildet ist; aber 
zugleich und in gleichem Maße überträgt der Mensch in sein Selbst¬ 
bild Elemente, welche der äußeren Welt entnommen sind 1 ). Der 
typische Ausdruck dieses Verhaltens sind die Systeme des To¬ 
temismus. 

Die erste Differenzierung dieser ursprünglichen Einheit führt zu 
dem dumpfen Bewußtsein einer besonderen außermenschlichen Reali¬ 
tät. Diese Einsicht geht aber nicht weit genug, um eine objektive 
Welt aufzurichten und sie in ihrer Eigengesetzlichkeit anzuerkennen. 
Die Macht der Wünsche besteht, die Möglichkeit, sie der gegebenen 
Realität bewußt anzupassen, ist noch nicht ausgebildet, das Bewußt¬ 
sein der Beschränktheit eigenen Könnens dämmert auf. Die Welt 
der Objekte wird so mit besonders starker Macht ausgestattet, wäh¬ 
rend sie zugleich, den autistischen Regungen gemäß, in mystischer 
Beziehung zu den Wünschen und Befürchtungen des Subjektes 
verbleibt. 

Ein weiterer mächtiger Entwicklungsfaktor ist die Eingliede¬ 
rung des Einzelnen in die Kollektivität. Die Gesellschaft mit ihren 
frühzeitig ausgebildeten Normen bildet das Paradigma einer über¬ 
individuellen, höheren, weil mächtigeren, Realität’), von welcher das 
Individuum in ständiger Abhängigkeit verbleibt, während es sie 
seinerseits kaum zu beeinflussen vermag. Wir wissen ja, wie eng sich 
die Verschmelzung des Primitiven mit dem Stamme gestaltet, wie 
sein ganzes Tun und Denken mächtigen unumgänglichen religiös ge¬ 
weihten Vorschriften unterliegt. Die psychische Welt des Primi¬ 
tiven wird beherrscht durch kollektive Vorstellungen, was am besten 

*) D u r k h e i m , 1. c. p. 337. 

') Die Rolle der Vergesellschaftung für die Entwicklung der Psyche ist 
besonders eingehend von Dürkheim studiert und gewürdigt worden. 



die Undifferenziertheit seiner Psyche von der sozialen Welt zum Aus¬ 
druck bringt. 

Nur in dem vorsozialen Zustand konnte sich jede psychische 
Realität als solche durchsetzen und zur Geltung gebracht werden. 
Somit war auch aus diesen Motiven kein Grund gegeben zur Auf¬ 
stellung einer Hierarchie der psychischen Instanzen, es war innerhalb 
der Psyche keine Spaltung nötig, ebenso wie die Einheit Psyche-Welt 
gewahrt bleiben konnte. 

Das soziale Leben brachte aber tiefgehende Umänderungen. Die 
soziale Realität und soziale Erfahrung wirkte regulierend und ein¬ 
schränkend, ebenso wie die naturhafte. Psychische Tendenzen mu߬ 
ten unterdrückt und verdrängt werden, Stellung wurde genommen 
gegenüber eigenem Tun und Wollen, welches an den strengen kollek¬ 
tiven Normen gemessen wurde. 

Aber auch hier, ebenso wie innerhalb der Beziehung zur Natur¬ 
welt, wird das Endziel nicht auf einmal, ja nie vollständig, erreicht. 
Die zu unterdrückenden psychischen Tendenzen werden nur zum Teil 
verdrängt und drängen sich dem Bewußtsein mit um so stärkerer 
Macht auf, je mächtigeren Vorboten sie unterliegen. Das Gewissen, 
Symbol der kollektiven Normen, wird als eine besondere Instanz auf¬ 
gerichtet, mächtig genug, gegen die unzulässigen Rivalen seine 
Stimme zu erheben, aber nicht ausreichend, um sie vollständig zu 
unterdrücken und sich dienstbar zu machen. 

Wie es Freud 1 ) besonders nachdrücklich betonte, ist das psy¬ 
chische Leben des Primitiven von der Macht der Triebe und deren 
starker Ambivalenz beherrscht, was in der Macht der Tabuverbote 
zum Ausdruck kommt. 

Bei dieser Konstellation ist es verständlich, wenn die gewissens¬ 
fremden Tendenzen mit besonderer Kraft ausgestattet werden. Dem 
Subjekt nur halbbewußt, werden sie von ihm als starke aber fremde 
Mächte erfaßt, deren es sich zu entledigen sucht. Auch sein Gewis¬ 
sen, das ihn zum Träger der kollektiven-Normen stempelt, muß ihm 
als eine besondere Macht erscheinen, die auf höhere Realität hin¬ 
deutet. 

Diese Konstellation: innerhalb der Beziehung zur außermensch¬ 
lichen Welt, die Anerkennung der objektiven Realität als einer beson¬ 
deren Macht, welche man autistisch beeinflussen will, aber nicht 
immer beeinflussen kann, innerhalb der Beziehung zur sozialen Welt, 
das dumpfe Bewußtsein der Kollektivität mit ihren imperativen For- 


') Freud, Totem und Tabu, Leipzig und Wien 1918 bei Heller. 



113 


derungen und überindividuellen Normen, welche das Gewissen be¬ 
dingen und gegen welche die persönlichen Triebe umsonst an¬ 
kämpfen, diese Konstellation ist es, welche die psychische Grund¬ 
lage für die Götterbildung ergibt. Die ersten Götter sind 
natürlich nichts weniger denn begrifflich klar gedacht, sie werden 
erlebt, empfunden, aber nur höchst unvollkommen vorgestellt. Ihre 
Distapz vom Menschen, der sie geschaffen hat, ist recht gering, sie 
tragen an sich die Erbschaft der mystischen Anteilnahme, die den 
Primitiven mit der Welt verbindet und sie sind der erste Ausdruck 
ihrer Differenzierung und des Einsetzens der Korrektur der Realität. 

Der psychische Ursprung der Gottheit zeigt sich deutlich darin, 
daß sie zunächst als alles durchdringende Kraft aufgefaßt wird, 
durchaus immanent und unpersönlich. Sie hat keine Persönlichkeits¬ 
attribute, ähnlich dem Primitiven, der auf dieser Stufe in dem sozia¬ 
len Milieu vollkommen aufgeht und an seiner ganzen Umgebung teil¬ 
nimmt. 

Von den Bafiotain Westafrika heißt es: „Die Stämme kennen 
weder Gott noch Teufel, denn sie haben dafür keinen Namen; sondern 
sie beschränken sich auf das Wort m o k i s i e, das sie auf alles an¬ 
wenden, worin sie eine verborgene Kraft sehen, kurz sie kennen 
keine Geister; nach ihnen gibt es nur Elemente der Kraft und des 
Lebens, überall verbreitet, dann sie selbst und zwischen beiden die 
Seelen der Toten; nichts mehr.“ 

In Australien ist dieses Kraftprinzip eng an den Stamm und 
seinen Totem gebunden, es ist in einem gewissen Sinne der Totem 
selbst, weshalb es auch von Dürkheim 1 ) das totemistische 
Prinzip genannt wird. Diese Kraft ist zwar in dem Totemtier 
wie in den Totemmitgliedem diffus verbreitet, trotzdem wird sie nicht 
abstrakt sondern in der konkreten Totemform vorgestellt. Es ist aber 
eine Kraft in des Wortes wirklichstem Sinne und erzeugt materielle 
Wirkungen. Man muß sie mit besonderer Vorsicht behandeln und 
durch Überschreitung des Tabu kann man sich Krankheit und Tod 
zuziehen. 

In Melanesien glaubt man an M a n a, „d. i. eine Kraft, ein Ein¬ 
fluß immaterieller Ordnung und in einem gewissen Sinne übernatür¬ 
lich; aber sie offenbart sich durch physische Kräfte und durch jede 
Art von Macht und Überlegenheit, welche der Mensch besitzt. 

Die ganze Religion des Melanesiers geht darauf hin, sich den 

') D u r k h e i m 1. c. 

Bycbowski, Metaphysik und Schizophrenie. (Abhandl. H. 21.) 8 



114 


Mana zu verschaffen, sei es, um ihn selbst zu benützen, sei es, um ihn 
einen anderen benützen zu lassen“ 1 ). 

Die höchste Entfaltung erreicht jedoch diese dynamische un¬ 
persönliche Gottheit bei den Indianern Nordamerikas, insbesondere 
bei den Mitgliedern der großen Gruppe Sioux. W a k a n ist das 
Prinzip jedes Lebens, jeder Kraft,, jeder Macht. Alles, was man 
verehrt, die Erde, die vier Winde, Sonne, Mond und Sterne sind Er¬ 
scheinungen dieses geheimnisvollen Lebens und dieser Macht, wel¬ 
che in allen Dingen kreist. „Es ist dies keine bestimmte und be¬ 
stimmbare Macht, die Macht, dies oder jenes zu tun; es ist die Macht 
schlechthin, ohne irgendwelche nähere Bestimmung“. So ist Wakan 
die Macht der Winde und Wolken, aktive Kraft, wie der passive 
Widerstand des Felsstückes auf dem Wege. 

Bei den Irokesem heißt dieselbe Macht Orenda. Der Schah- 
mane hat viel Oranda, aber auch ein Mensch, welcher in seinen Un¬ 
ternehmungen Erfolg hat. Wenn es einem Tiere gelingt, vor dem 
Jäger zu flüchten, so heißt es, daß das Tier mehr Orenda hat als 
der Jäger. 

Dieses einheitliche Prinzip, welches die Macht der Wirklichkeit 
ausdrückt, differenziert sich alsbald in speziellere Kräfte. Diese 
werden konzentriert in wichtigeren Objekten, welche für den Primi¬ 
tiven vom praktischen oder kultischen Standpunkte aus, von beson¬ 
derer Bedeutung sind. In einem ursprünglichen Kontinuum von 
Kräften wird so eine Menge von dynamischen Faktoren immer schär¬ 
fer umzeichnet. Individuelle Geister bewohnen und beleben alle 
möglichen Gegenstände, welche als aktive, selbständige, 
verwandlungsfähige Substanzen gedacht werden. 
(Der Ausdruck ist von P r e u ß.) Diese Stufe entspricht der Speziali¬ 
sierung der Grundbeziehung Psyche-Welt, sowie der fortschreitenden 
Betonung der Persönlichkeit in dem einheitlichen Milieu der Kol¬ 
lektivität. ' v 

Noch sind aber diese „Geister“ nicht als antropomorphe Perso¬ 
nifizierungen gedacht, sie symbolisieren nur die Eigenmacht und die 
besondere Bedeutung der Objekte und Handlungen. Es sei daran 
erinnert, daß z. B. in den ältesten bekannten Schichten der römi¬ 
schen Religion unzählige Götter verehrt wurden, welche alle mög¬ 
lichen Gegenstände und Verrichtungen vertraten resp. beschützten. 
Auch die späteren persönlichen Götter verleugnen keineswegs diese 
Abstammung, es genügt, an die vielfachen Bezeichnungen des Jupi- 


*) Zitiert bei Dürkheim, 1. c. p. 277. 



115 


ter zu erinnern, die fast wie selbständige Potenzen und Personen an¬ 
muten und alle an bestimmte Tätigkeiten und Naturerscheinungen 
geknüpft sind 1 ). 

Hand in Hand mit dieser Entwicklung geht die Distanzierung 
des Menschen von seiner Gottheit, die Lockerung der primitiven An¬ 
teilnahme. Die ursprünglich unmittelbar erlebte Gemeinschaft wird 
in immer stärkerem Maße vorgestellt, begrifflich ausgedrückt und 
vermittelt. Sie löst sich so in ein System von Vorstellungen und kul¬ 
tischen Handlungen auf; die Gottheit aber kann immer schwerer von 
dem Einzelnen erreicht und beeinflußt werden. Diese wichtige Macht 
konzentriert sich bei den Spezialisten und der Priesterstand ent¬ 
wickelt sich als -der Mittler zwischen dem Menschen und seinem 
Gotte. Wird erfahren, daß die eigenen Wünsche die nötige Reali- 
sierangskraft nicht haben, um unmittelbar die Götter, die äußere Re¬ 
alität zu beugen, so wird an den Mittler appelliert, der gleichsam den 
Erben früherer ausgedehnteren Möglichkeiten darstellt.' 

Die mystische Symbiose, in welcher der Stamm mit der 
Gottheit gelebt hatte, weicht einer zeitweise erstrebten Vereinigung 
mit dem Kultobjekt und einer zur begrifflichen Ausbildung tendie¬ 
renden Religion. 

Es kann nicht unsere Aufgabe sein, die weitere Entwicklung der 
unpersönlichen göttlichen Kräfte zu persönlichen Göttern darzustel¬ 
len, ebensowenig wie wir die monotheistischen Tendenzen eingehend 
würdigen können. 

Wir wollten nur den tiefsten psychischen Boden aufzeigen, wel¬ 
cher den Menschen zur Bildung göttlicher Wesenheiten führen mußte. 
So ist unsere Auffassung nicht exklusiv gegenüber anderen Erklä¬ 
rungsversuchen, da sie sich gleichsam in der tiefsten grundlegenden 
Schicht bewegt. Der Wahrheitsgehalt der W u n d t sehen Theorie 
von der Entstehung Gottes aus der Verschmelzung der Vorstellungen 
von Helden und Dämon wird keineswegs in Frage gestellt. Es kann 
auch, um von neuesten Hypothesen zu sprechen, zu Freud Stellung 
genommen werden, welcher bekanntlich die Herrschaft des allmäch¬ 
tigen Ödipuskomplexes auch auf dieses Gebiet ausdehnte, indem er 
in Gott den Ersatz für den ermordeten Vater der Urhorde zu er¬ 
kennen glaubte. Aber auch ohne dieses „Unterbrechen“, welches 
ja eine geniale Hypothese darstellt, können wir die hohe 

') Nachträglich erfahre ich, daß schon Hermann Usener in seinen 
-Oöttemamen“ nachgewiesen hat, daß die griechischen und römischen Götter 
U! sprilnglich unpersönliche Kräfte waren, welche nur in der Funktion ihrer 
Atribute vorgestellt wurden. 


8 * 



116 


Bedeutung der Vaterimago zugeben und ihre Rolle bei der Ge¬ 
staltung der Götter würdigen. Wir verstehen es, wenn die von uns 
aufgezeigten götterbildenden Tendenzen dieses Bild ergreifen und 
benützen; wird doch dem Vater besondere Macht zugeschrieben und 
er repräsentiert seit jeher den Träger der machtvollen, objektiv gel¬ 
tenden Normen, welche die autistischen Regungen des Individuums 
unterdrücken. 

Sollten wir mit unserer psychologischen Ableitung Recht haben, 
so müssen sich in der Analyse der Religiosität Belege zu ihren Gun¬ 
sten auffinden. 

Vergegenwärtigen wir uns, daß die Differenzierung der primi¬ 
tiven Religiosität Hand in Hand mit fortschreitender Objektivierung 
der zugänglichen Erfahrungswelt einher^eht, so verstehen wir die 
allmähliche Ablösung der mystischen Anteilnahme von Objekten, 
welche gesetzmäßig bestimmte, von jedem Wunder ausgeschlossene 
Kausalreihen bilden; schließlich steht der Mensch mitten in einer 
Welt, welche er nach dem Maße seines Verständnisses beeinflussen 
und umbilden kann, was aber nur dann möglich ist, wenn er sie in 
ihrer Eigengesetzlichkeit anerkennt; auch ist er sich bewußt, daß er 
sich den Gesetzen des objektiven Geschehens zu fügen hat und daß' 
es Kausalreihen gibt, welche von seinen Wünschen und Wollen un¬ 
berührt bleiben müssen. 

Während sich so die objektive Einstellung ausbildet und das 
Walten der mystischen Kräfte und des Wunders der Herrschaft der 
Naturgesetze weicht, bleibt das Göttliche noch immer die letzte Zu¬ 
flucht des Wunderbaren, die einzige Möglichkeit, den eisernen Ring 
der objektiven Kausalität zu durchbrechen und die ursprüngliche 
Zauberkausalität walten zu lassen. So ist Gott gleichsam die 
Wirklichkeit, welche sich selbst entschlüpft, 
indem sie sich den autistischen Strebungen des 
Menschen anpaßt. Der einfachere Gläubige stellt sich noch 
heute vor, der Gott sei nur dazu da, um die Wünsche und Bedürf¬ 
nisse der Gläubigen zu befriedigen, man muß nur stark genug beten 
und glauben; so wird hier in urprimitiver Weise die endopsychische 
Macht der Wünsche der Macht zur Verwirklichung gleichgesetzt. 
Die ganze Naturkausalität wird da auf einmal über den Haufen ge¬ 
worfen, man sperrt sie einfach ab, durch die Vermittlung des all¬ 
mächtigen Gottes lenkt man die Begebenheiten der Welt nach, 
eigenem Gutdünken. 

In der primitiven religiösen Betätigung spielt die Götter¬ 
bezwingung eine nicht unwesentliche Rolle. F r a z e r bringt dar- 



117 


über einige hübsche Beispiele'), von denen ich nur eins anführen 
will. Im Jahre 1710 herrschte auf der Insel Tsong Ming (Provinz 
Nan King) große Trockenheit. Der Vizekönig versuchte den Gott 
des Regens umzustimmen, indem er Weihrauchstäbchen verbrannte, 
jedoch vergebens. Daraufhin warnte er den Gott, sollte der Regen 
in bestimmter Frist nicht eintreffen, so würde er ihn aus der Stadt 
verweisen und seinen Tempel zerstören. Diese Drohung blieb ohne 
Erfolg, und der Vizekönig, empört, verbot dem Volke, dem wider¬ 
spenstigen Gotte Opfer zu bringen und versiegelte die Tore des Tem¬ 
pels. Endlich gab der Gott nach, ließ den Regen fallen und gewann 
so die Herzen seiner Getreuen wieder. 

Schon diese Tendenz der Religiosität weist deutlich auf ihre tiefe 
Verwandtschaft mit der Magie hin. In der Tat bedarf es nicht erst 
der völkerpsychologischen Untersuchungen, um zu sehen, daß Magie 
in der Religion implizite enthalten ist; diese aber lehren die innigste 
Vermengung der beiden Gebiete und zeigen, wie die Magie sich erst 
allmählich von der Religion abgespalten hat*). 

Die magischen Elemente der Religion illustriert vortrefflich fol¬ 
gender Passus aus dem Roman ColasBreugnon von Romain 
Rolland. 

Die Bauern belagern den Pfarrhof und verlangen, der Pfarrer solle mit 
dem Allerheiligsten gegen die Plage der Maikäfer ausziehen. Die Menge: 
-Verflucht! bist du unser Pfarrer? antworte uns ja oder nein? bist du es (und 
du bist es), dann mußt du uns dienen“ . . . Der Pfarrer gibt folgende Schil¬ 
derung von der Mentalität seiner Gemeinde. „Diese Heiden, welche sich <ms 
dem ewigen Leben nichts machen und ihre Seele nicht mehr reinigen als ihre 
Füße, verlangen von ihrem Pfarrer Regen und schönes Wetter. Ich muß der 
Sonne, dem Monde befehlen: „Ein bißchen Wärme, Wasser, genug, nicht zuviel, 
kleine, sanfte Sonne, leichter Wind, vor allem kein Frost, auch keinen Guß, 
... o Herr, dies für meine Weinberge. Nun brauche ich etwas Sonnenglut.“ 

Wenn man diese Lumpen hört, könnte man glauben, Gott habe nichts 
besseres zu tun unter der Peitsche des Gebetes, als der Esel des 
Gärtners, welcher angebunden an seinen Sodbrunnen, das Wasser hinaufbringt; 
und dazu — und das ist das Schönste — sind sie untereinander nicht einig; 
der Eine will Regen haben, während der andere Sonne möchte. Und dann 
rufen sie zur Hüfe ihre Heiligen herbei. Es sind deren 37 da oben, welche 
Wasser machen ... Sie tun, als ob ich und das Kreuz ihr Talisman 
wären, gegen alles Untier, welches ihre Äcker beschädigt. Eines Tages ist 
es gegen Ratten, welche das Korn in den Speichern fressen ... Prozession, 
Exorzismus, Gebete an den heiligen Nicaise. Dann gegen Raupen. Gebete an 
die heilige Gertrud, Prozession ... Heute Maikäfer. Noch eine Prozession!...“ 


') F r a z e r , Le rameau d’or, I, p. 114*—115. 

*) Siehe besonders Hubert u. Mause, Theorie generale de la magie. 



118 


Das Schönste an der Geschichte ist, daß der gute Pfarrer die Mentalität 
seiner Pfarrkinder teilt. Man bringt ihm die Nachricht, daß die Bauern, wütend 
über seine Absage, gegen die Maikäfer auszuziehen, Exorzismen machen, um 
das Ungeziefer in seine eigenen Weinberge und seinen Weinkeller zu senden. 
Darüber gerät er in größte Verzweiflung und um der sicheren Kalamität zu 
entgehen, entschließt er sich, dem Wunsche der Bauern zu willfahren und zieht 
mit dem Kreuze aus. Er nennt dies „der Kreuzzug der Maikäfer“ (croisade 
des hannetons). 

Der Glaubende greift zu Gott besonders gerne in schwierigen 
Situationen, wo sich sein bewußtes Können als unzureichend erweist; 
die umgebende Realität ist machtvoller, unüberwindbar und man 
wendet sich an jene umgebildete Allmächtige, aber dem Menschen 
zugängliche Realität, welche Gott heißt. 

Diese Tendenz zum Umgehen der natürlichen Kausalität, unter 
Benützung des eigenen zur Verabsolutierung neigenden Wollens, 
kann sich übrigens auch sonst zeigen unter gewöhnlichen, nicht 
affektbetonten Umständen. Es bleibt mir deutlich in Erinnerung, 
wie ich als kleiner Knabe das Brennen eines angezündeten Zündhölz¬ 
chens durch starke Willensanspannung verlängern wollte und fast zu 
spüren glaubte, wie sich der Willensimpuls dem Holzstäbchen mit¬ 
teilte. Ich wußte damals ganz genau, nach welchen Gesetzen das 
Brennen vor sich ginge und war ein entschiedener Gegner jeder 
theologischen Weltanschauung. 

Auch die besonderen Attribute der göttlichen Macht weisen deut¬ 
lich auf den psychologischen Ursprung Gottes hin. Gott ist zugleich 
persönlich und allwesend, er ist über und in jeder Realität. 
Seine Persönlichkeit läßt sich aber mit seiner Allwesenheit nur so 
vereinigen, daß zwischen seiner Substanz und Wirkung nur sehr un¬ 
vollkommen unterschieden wird. Er ist überall, weil sich seine Wir¬ 
kung überall hin erstreckt. Er kann überall durchdringeri, kennt 
keine Undurchdringlichkeit der Materie, weil er eben überall ist. Mit 
dieser Charakterisierung ist die Auffassung seiner Kraft nach geisti¬ 
gem Modus gegeben. Zugleich aber bringt diese Kraft materielle 
Wirkungen hervor und in dieser geistig materiellen, also nach diesen 
Kategorien noch nicht differenzierten Eigenheit liegt, wie wir sahen, 
das Typische der Kraftwirkungen nach der prälogischen Mentalität. 
Die göttliche Substanz erfüllt im höchsten Grade das Gesetz der 
mystischen Anteilnahme, sie ist etwas, und ist zugleich etwas ande¬ 
res, ohne aufzuhören, das erste zu sein. Sie ist eine verwandlungs¬ 
fähige Substanz (Preuß). Kommt noch das Attribut der Persön¬ 
lichkeit, Verdichtung der Kraft zu einem persönlichen Geiste hinzu, 
so erscheint uns der Gott im wesentlichen als ein mit höchsten Po¬ 
tenzen begabter Magier. 



119 


Sehen wir von der Persönlichkeit Gottes ab, so bleibt nur übrig 
das Machtvolle, Wirksame, Beseelende an der Realität, um mit Philo¬ 
sophen zu reden, etwa die Substanz Spinozas, vereinigt mit dem 
w5c des Anaxagoras. Als voüc, als Kraft, kann Gott jedem Teile der 
Realität innewohnen, womit sich die prinzipielle Forderung der prä¬ 
logischen Mentalität erfüllt: der Teil gilt für das Ganze. 
Entspricht so die Immanenz Gottes dem wenig differenzierten Kon¬ 
takte zwischen Psyche und Welt, welcher die Beseelung der Welt 
möglich macht, so entspricht seine Transzendenz der ersten Spaltung 
dieser ursprünglichen Einheit und dem werdenden Wissen um die 
Unzulänglichkeit der äußeren Realität. Die historische Entwicklung 
der religiösen Grundbegriffe bestätigt dies vollauf; zwischen dem 
Göttlichen und der Realität wird zunächst gar nicht unterschieden 
und die Scheidung des Weltgeschehens in das Natürliche und Über¬ 
natürliche ist unbekannt, da alles ebensowohl natürlich als über¬ 
natürlich aufgefaßt wird. Es gibt keine Wunder, weil alles ein Wun¬ 
der ist. Die ursprünglichen göttlichen Kräfte der Primitiven, das 
Mana, Orenda, Wakan usw. sind ihrem Wesen nach immanent. Erst 
die spätere Entwicklung schafft die Distanz zwischen der göttlichen 
und „natürlichen“ Realität und volle Transzendenz existiert wohl 
nur in theologischen und metaphysischen Doktrinen, nicht aber im 
Glauben des einfachen Volkes. 

Ein weiterer psychologischer Beweis der Richtigkeit unserer 
Anschauungen ist unmittelbar aus den religiösen Bekenntnissen zu 
schöpfen. Die Vereinigung mit Gott wird von den Mystikern als das 
Erfassen aller Realität erlebt und gepriesen; die Extase beglückt sie 
als Aufhebung der Subjekt-Objektspaltung. 

So berichtet die Mystique moderne von Flournoy') 
über die triumphierende und nicht erschlossene (irraisonnee) Über¬ 
zeugung, welche sie in der Extase erlebte, des Kontaktes mit dem 
was ist, des „Herannahens der wesentlichen Realität“. Sie „fühlt: 
dasjenige, womit sie im Kontakt war, ist die Norm, das was sein soll, 
was an sich ist (ce qui est en soi)“. 

Diese letztere Charakterisierung des Göttlichen macht es zum 
Träger der überindividuellen Normen, des moralischen Sollens; Gott 
ist so die Realität, welche über die gegebene Re¬ 
alität hinausgeht, er ist das Höhere, Normative, unbedingt 
Seiende gegenüber dem Vergänglichen, Bedingten, Individuellen. 
Auch diese letztere Betonung, das Erleben Gottes als des Allgemei- 

') Archives de Psychologie, Tome XV. 1915. 



120 


nen gegenüber eigener Beschränktheit durch die Rahmen der Indivi¬ 
dualität, wird gerade in den Berichten der Mystique moderne 
scharf beleuchtet. 

Es zeigt sich deutlich, warum Gott zugleich als Träger der Natur- 
wie der moralischen Weltordnung aufgefaßt wird. Es sind dies die 
beiden Elemente der Wirklichkeit, mit welchen sich der Mensch seit 
jeher abzufinden hatte und welche sich aus seinem engen Ver¬ 
wachsensein mit der Kollektivität und der umgebenden Natur, all¬ 
mählich herauskristallisierten. 

Sehen wir uns andere religiöse Attitüden an, so können wir 
nebst der vorhin besprochenen, die man als magische bezeich¬ 
nen kann, hauptsächlich zwei andere unterscheiden, welche, obwohl 
eher der höheren Religiosität eigen, ihren tiefliegenden psychologi¬ 
schen Ursprung klar offenbaren. Die teleologische Attitüde 
leugnet zwar nicht die kausale Determinierung des Naturgeschehens, 
vermag sich aber mit dieser objektiven, von jedem subjektiven Ein¬ 
greifen unabhängigen Realität nicht einfach abzufinden, sondern sieht 
in ihr das Walten höherer Vernunft und statt der „blinden“ Natur¬ 
kausalität vernünftige Zweckursachen. Diese entsprechen nämlich 
viel besser den psychischen Bedürfnissen des Gläubigen und verhel¬ 
fen ihm zur verhüllten Eigenbeziehung, mit welcher er sein gesamtes 
Weltbild durchtränkt. 

Denn, so vertröstet er sich, bleiben ihm auch die Absichten 
Gottes unbekannt, so besteht immerhin die Hoffnung, sie einmal zu 
erkennen, jedenfalls gestaltet sich das Weltgebäude wohnlicher, 
sympathischer, indem es seiner Psyche besser angepaßt ist. 

Diese Motive führen zu der dritten Attitüde über, welche sich 
noch persönlicher gestaltet, und welche wir die fatalistische 
nennen wollen. Man empfindet es als unerträglich, einer Menge von 
objektiv gegebenen und nicht beeinflußbaren Faktoren unterworfen 
zu sein, man will sein Geschick ändern und doch anerkennt man die 
objektive (oder auch subjektive) Unmöglichkeit dieses mächtigen 
Wunsches. Die Vorstellung der göttlichen Fügung des Schicksals 
vermittelt zwischen diesen beiden entgegengesetzten Tendenzen. Man 
erlebt sein Schicksal als von einer höheren Realität durchgängig be¬ 
stimmt, einer Realität, welche man sich vernünftig vorstellt. So 
kann das scheinbar Sinnlose, Unzweckmäßige, Unberechenbare des 
eigenen Daseins in einen vernünftigen, sinngemäßen Zusammenhang 
eingereiht werden, welchen man nur vorläufig nicht übersieht, wel¬ 
cher aber um so sicherer postuliert wird. 

Ist man so einerseits resigniert gegenüber den Ereignissen, wel- 



121 


che mit eigenen Wünschen nicht übereinstimmen, so gewinnt man 
andererseits die wunderbare Zuversicht des Gläubigen, welcher mutig 
in die Welt zieht, sicher, daß ihm ohne Gottes Willen kein Haar ge¬ 
krümmt wird. 

Diesem letzteren Motiv begegnet man auch sonst bei nichtreligi- 
öä€n Menschen, welche an ihren besonderen „Stern“ glauben, als ob 
sie für etwas Besonderes „bestimmt“ wären, so daß ihnen kein Un¬ 
heil zustoßen kann. 

Wie mannigfaltig sich die hier angedeuteten Tendenzen in der 
Geschichte der religiösen Entwicklung der Menschheit verwirklichen, 
sei nur an dem Beispiele der griechischen Götter erläutert. Diese 
waren machtvoll, jeder in seinem bestimmten Gebiete, ihre Macht 
war aber eingeschränkt nicht nur durch diese Spezialisierung, son¬ 
dern vor allem durch duapnq > das unabwendbare Schicksal, die 
eiserne Notwendigkeit, welcher sich selbst die Olympier beugen 
mußten. So war hier die objektive Notwendigkeit eigenartig hypo- 
stasiert, ja sogar personifiziert'), jedenfalls in ihrer* vollkommenen 
Unabhängigkeit von allen subjektiven Motiven anerkannt; trotzdem 
blieb ein weiter Rahmen für das Spiel menschlicher Wünsche, welche 
sich durch die Vermittlung der Götter die Wirklichkeit in autistischer 
Weise zu eigen machten. 

Berücksichtigen wir die Art der Zuwendung zur Welt, so sehen 
wir in der Religiosität zwei Grundtendenzen miteinander kämpfen, 
ater auch ruhig nebeneinander bestehen; die weltliebende und die 
weltflüchtige. Die höhere göttliche Realität wird in der gegebenen 
Wirklichkeit erlebt und jegliches Ding als Erscheinung Gottes aner¬ 
kannt und geliebt; man bejaht, man liebt die Welt, weil man in ihr 
das Göttliche erblickt. Oder aber verneint man die Welt und sieht 
in ihr eine niedrigere Stufe der wahren göttlichen Realität; um dieses 
Ideal zu erreichen, glaubt man auf die gegebene Wirklichkeit ver¬ 
zichten zu müssen. In dieser selbsterwählten Abwendung liegt die 
tiefe Wurzel der Askese. 

Wir werden so gezwungen, das Problem nach dem Ursprung und 
der Bedeutung der Askese anzuschneiden, welches zutiefst mit unse¬ 
rer Fragestellung zusammenhängt. Es ist nämlich sofort klar, daß 
hier eine besondere Einstellung der Psyche zur Welt verwirklicht 
wird, welche bei ihrer ungemein großen Verbreitung, tiefe Wurzeln 
in der Grundstruktur der menschlichen Psyche haben muß. 

') Den höchsten Grad erreicht diese Personifizierung des Schicksals bei 
Spitteier, Der olympische Frühling, wo Ananke als ein persönlicher Gott 
dargestellt wird. 



122 


In der Tat sind die asketischen Motive in den primitivsten Reli¬ 
gionen nachzuweisen und sie bilden bekanntlich einen wichtigen Be¬ 
standteil aller späteren hochentwickelten Religionsformen. 

Bei den Primitiven spielen die sogenannten negativen Riten, 
vor allem die Tabuverbote, eine ganz hervorragende Rolle und auch 
sonst wird das gesamte Leben durch schwere Einschränkungen und 
Verzichtleistungen geregelt. Bevor man etwas wichtiges unter¬ 
nimmt, zum Beispiel auf die Jagd geht, muß man fasten und sich vom 
Umgänge mit der Frau fernhalten; dasselbe gilt auch für die wichti¬ 
gen kollektiven Zeremonien wie der Intichiuma. Besonders hervor¬ 
ragend ist die Rolle der asketischen Tendenzen in den Pubertäts- 
w'eihen der Primitiven. Die Jünglinge, welche in die Gesellschaft 
der Männer aufgenommen werden sollen, müssen nicht nur jeden Ver¬ 
kehr meiden, müssen jeder Frau, auch der eigenen Mutter, fern- 
bleiben, ihre Nahrung auf das Mindeste reduzieren; außer diesen 
obligatorischen Verzichtleistungen werden sie wahren Qualen aus¬ 
gesetzt, geschlagen, von Ameisen gebissen, durch allerlei Übungen, 
Durst und Hunger erschöpft und betäubt. 

Schon diese kurze Übersicht zeigt, daß die asketischen Ver¬ 
zichtleistungen und Übungen besonders wichtigen Lebensmomenten 
vorauszugehen pflegen, welche dem Individuum Positives bieten. 
Man fastet vor der Jagd, als ob man sich dadurch eine mystische 
Kraft zu sichern glaubte, man übt sexuelle Abstinenz, bevor man in 
den Krieg zieht, man verzichtet auf die gewohnte Umgebung und 
lebt in der Waldeinsamkeit, um dadurch auf die Männerweihe vor¬ 
bereitet zu werden. 

Prinzipiell nicht verschieden ist die Enthaltsamkeit vor den 
großen religiösen Zeremonien. Der Gläubige hält sich weit von allem 
Profanen, um an dem Heiligtum teilnehmen zu können. Er ver¬ 
zichtet auf das Gewohnte, um das Großartige, Mystisch-Religiöse zu 
besitzen. 

Preuß') zeigt an demonstrativen Beispielen, wie die asketi¬ 
schen Praktiken das Ziel anstreben, die Zauberkraft des Menschen zu 
erhöhen und so der autistischen Beeinflussung der Realität dienen. 

„Ja, sogar irgendwelche Ereignisse, mit denen man nichts zu 
tun hat, kann man durch Fasten nach seinem Willen lenken. Die 
Azteken und Tepehuana von Pueblo viejo in Tepic z. B. fasteten zwei 
Monate, damit Porfirio Diaz Präsident von Mexiko würde, und 
wandten auch sonst das Mittel an, um beliebte Beamte in ihrer Stel¬ 
lung zu erhalten.“ 


») Globus 87, p. 417. 



123 


Wir sehen, daß schon in den primitiven Formen die Askese ein 
Mittel zum Zweck ist, niemals bloßer Verzicht um des Verzichtes 
willen. Würde sie als Selbstzweck ein biologisches Paradoxon sein, 
so ist sie hingegen in ihrer wirklichen Bedeutung biologisch ver¬ 
ständlich und notwendig. 

Die ganze Entwicklung der menschlichen Psyche zählt den Ver¬ 
zicht zu ihren Hauptmotiven. Die Differenzierung und die Ausbil¬ 
dung der Grundbeziehung Psyche-Welt baut sich auf die zunehmende 
Realitätskorrektur auf, welche dem Lustprinzip Einbuße tut und zum 
fortwährenden Aufschub der Befriedigung, zum Verzicht, zwingt. 
Natürlich spielt dabei die Vergesellschaftung eine besonders hervpr- 
ragende Rolle, indem die Gesellschaft den Einzelnen notwendiger¬ 
weise einschränkt, um ihr Bestehen überhaupt zu ermöglichen. 

Wir sehen auch dementsprechend, daß die primitive Askese von 
der Kollektivität gefordert wird, welche sich hier als ein mächtiger 
Entwicklungsfaktor erweist. 

Dieselben Faktoren, welche den Verzicht als ein Leitmotiv der 
psychischen Entwicklung bedingen, setzen zugleich die differenzie¬ 
rende Wertung der Objekte, welche dem Menschen erstrebenswert 
erscheinen; indem er lernt, seine Triebe in den Dienst seiner Absich¬ 
ten und Ziele zu stellen, bildet er auch die Werttafeln aus, nach 
welchen er die Dinge beurteilt. Er sieht sich gezwungen, manches 
zu opfern, um anderes zu erreichen. 

Die kollektiven asketischen Praktiken sind nur ein gesteigerter 
Ausdruck dieses tief verwurzelten psychischen Verhaltens. Von be¬ 
sonderer Bedeutung ist aber die religiöse Weihe, welche diese Zere¬ 
monien erhalten und welche durch die obigen Ausführungen ungenü¬ 
gend erklärt ist. 

Ihre nächste Quelle liegt sicherlich in ihrem kollektiven Ur¬ 
sprung*). Dieser verleiht ihr den normativen, unbedingt gültigen 
Charakter und läßt jedes Übertreten der entsprechenden Vorschrif¬ 
ten als ein schweres Verbrechen erscheinen. 

Andererseits wird die religiöse Weihe des negativen Zeremo¬ 
niells durch die psychologische Grundstruktur der religiösen Realität, 
wie wir sie vorhin besprochen haben, verständlich. Denn die reli- 
. giöse Wirklichkeit ist die Welt, gesehen im Lichte der autistischen 
Tendenzen der Psyche, die Welt, ausgestattet mit besonderer Macht, 
i durch die psychischen Potenzen beseelt und an der Psyche teilneh- 
■ mend. Um diese höhere, mächtigere Realität zu erlangen, mit deren 

I 


') Vgl. D u r k h e i m , 1. c. 



124 


Hilfe man auch die gegebene Welt des Alltags zu beeinflussen hofft, 
verzichtet der Gläubige auf die letztere, trennt sich zeitweise von 
der gewohnten Umgebung, um in sich die religiösen Kräfte zu voller 
Entfaltung, zu voller Spannung zu bringen. 

Daß dabei von bloßem Verzicht zum Schmerz leicht Uber¬ 
gegangen wird, zeigt, daß der Primitive seine willenserhärtende 
Wirkung rechtzeitig erfaßt hatte und das Bedürfnis fühlte, die Be¬ 
deutsamkeit des Verzichts und die Wichtigkeit des zu Erlangenden 
mit starken Mitteln zu dokumentieren. 

Die asketischen Praktiken sind eine starke Übungsschule der 
Triebe, ein Regulator des mächtigen Lebenstriebes, welcher alles für 
sich fordert und welcher doch in seiner unbändigen Betätigung alles 
höhere geistige und soziale Leben unmöglich machen würde. 

Durch den obligatorischen Verzicht wird der Mensch daran er¬ 
innert, was er der Gemeinschaft und jener weiteren Gemeinschaft, 
welche die gesamte Realität heißt, schuldet; in dem Verzicht lebt 
diese Gemeinschaft des Menschen mit seiner Welt auf, er opfert 
den Mächten, mit denen er sich aufs engste verbunden und ab¬ 
hängig fühlt. 

In diesem Sinne ist eigentlich jede Opferbringung eine 
asketische Betätigung. Der Opfernde bringt tatsächlich ein 
Opfer, wodurch er symbolisch zeigt, daß er der Gottheit alles 
zu verdanken hat. Er fühlt das Bedürfnis, dieses Verhältnis zu 
bezeugen, offenbar, um von der höheren Macht in dem Besitz seines 
Teiles der Welt aufrechterhalten zu werden. So ist in jedem 
Opfernden etwas von Polykrates, welcher die Götter, ob seines 
übermäßigen Glückes willen, versöhnen zu müssen glaubte. 

Von den negativen Riten des Primitiven zur konsequenten 
Askese des christlichen oder buddhistischen Einsiedlers führen alle 
Übergänge. Die zum freiwilligen Verzicht führenden psychischen 
Tendenzen neigen zur Verabsolutierung, die Wertbetonung wird 
der tatsächlich gegebenen Realität gänzlich entzogen, dieweil die 
autistische Realität als ausschließlich erstrebenswerte erscheint. So 
ergibt die Verallgemeinerung und Verabsolutierung der asketischen 
Motive den Wunsch nach dem Transzendentalen, welcher von so 
großer Bedeutung in der Entwicklung des menschlichen Ge¬ 
dankens ist. • 

Wir sehen sogleich, wie leicht sich hier der Übergang aus dem \ 
praktischen in das theoretische Gebiet vollzieht. Während man zu- \ 
nächst auf die Realität praktisch verzichtet, weil sie schlecht und/ 


V 



125 


unwürdig erscheint, kommt man sekundär dazu, sie auch theoretisch 
tu verleugnen und als imwirklich hinzustellen. 

Diese theoretische Form der asketischen Einstellung, welche 
für die Gestaltung der metaphysischen Systeme offenbar von größter 
Bedeutung ist, wollen wir im letzten Kapitel besprechen. 


V. KapiteL 

Prälogische und logische Mentalität bei Normalen. 

Die prälogische Mentalität, welche den Auffassungen der Pri¬ 
mitiven und unserer Schizophrenen zugrunde liegt, ist nicht etwa 
eine gänzlich verschüttete, prähistorische Denkweise. Schon die 
Möglichkeit einer Regression bei unseren Kranken beweist, daß die 
prälogischen Mechanismen neben oder besser unter den logischen 
latent vorhanden waren. In der Tat ergibt nähere Prüfung, daß 
dieselben eine nicht unerhebliche Rolle spielen und sogar wichtige 
Lebensgebiete gänzlich beherrschen. 

Zunächst ist auf die Psychologie des Kindes hinzuweisen. Schon 
der Urheber des Begriffs vom autistischen Denken, Bleuler, be¬ 
tont den besonderen Charakter des kindlichen Denkens, welches so 
leicht die umgebende Wirklichkeit absperrt und auf deren Stelle 
die imaginativ geschaffene setzt. Wachträumen und Spielen sind 
typische Manifestationen des kindlichen Autismus, und von be¬ 
sonderer Bedeutung ist hier der Emst, mit dem das Spielen betrieben 
wird; die gespielte Wirklichkeit wird zur tatsächlichen, bedeut¬ 
samen, und die Kinder scheuen sich sehr vor dem kritischen Auge 
der Erwachsenen, welche das zerbrechliche Gebäude ihrer Einbil¬ 
dung zu zerstören drohen. 

Im Spiele identifizieren sich Kinder mit anderen Personen oder 
Objekten. Objekte werden leicht zu Trägern bedeutsamer Wünsche 
und affektiver Tendenzen, sie verlieren ihre gewöhnliche, wirkliche 
Bedeutung; ein Stock wird zum Pferde, zusammengeknüllte Fetzen 
zur Puppe, ein Stuhl zum Eisenbahnwagen. Der kleine Junge ist der 
Vater, der Herr Doktor, der Zugführer, das kleine Mädchen die Mut¬ 
ter, die Prinzessin, die Marktfrau. 

Besonders gerne identifizieren sich Kinder mit geliebten Objek¬ 
ten, sie verwandeln sich in den Hund, in das Kätzchen und suchen 
sich deren Verhalten anzueignen. In besonderen Situationen werden 
komplizierte Zusammenhänge autistisch umgebildet und den subjek¬ 
tiven Tendenzen angepaßt. Der achtjährige Gymnasiast von M a r - 
kuszewicz 1 ), bedrängt durch die Not der Eintrittsprüfung, bildet 

') Markuszewicz, Beitrag zum autistischen Denken bei Kindern, 
Intern. Zeitschr. f. Psychoanalyse VI, 1920. 



die Situation stufenweise um, indem er zunächst den von ihm ge¬ 
machten Fehler in den aufgegebenen gedruckten Text hineinschreibt, 
sodann das ganze Buch, wo dieser Text enthalten war, beschädigt 
und so die Schuld auf den Vater wälzt, indem er sich einbildet, daß 
ihm dieser ein altes Lesebuch verschafft hatte. 

Momentane Einfälle beherrschen die kindliche Psyche, die Ur¬ 
teile sind überwiegend affektiv gefärbt und zwischen Wunsch und 
Wirklichkeit wird nur unvollkommen unterschieden. 

Es wäre falsch, zu meinen, diese Besonderheiten der kindlichen 
Psyche beruhen nur auf ihrem ungenügenden Erfahrungsschätze. 
Denn auch der Imbezille verfügt über ungenügende Erfahrung und 
vermengt trotzdem die subjektive mit der objektiven Wirklichkeit in 
unvergleichlich geringerem Maße. Die Bedeutung der ungenügenden 
Erfahrung kann man aber dahin präzisieren, daß sie bei dem Kinde 
Gebiete aussondert, welche für das prälogische Denken besonders 
prädestiniert sind. Die Tatsache des prälogischen Denkens selbst 
muß aber tiefere Gründe haben, welche in der mangelhaften Differen¬ 
zierung der kindlichen Grundbeziehung Psyche-Welt liegen. 

Mit eigenem Leben beschenkt das Kind umgebende Gegenstände. 
Ich sah ein 6jähriges Mädchen vor dem ersten Schulgang verweint 
von den Bäumen des elterlichen Gartens Abschied nehmen, sie um¬ 
armte jeden einzelnen Baum und sprach mit jeder Blume. Auch be¬ 
schuldigt das kleine Kind den bösen Tisch, woran es sich angeschla¬ 
gen hat. Ein zweijähriges Mädchen schimpfte auf den bösen Wind, 
der die Mutter zerrauft hatte (Q u e y r a t). 

So legt das Kind in die umgebenden Gegenstände eine lebendige 
Kausalität hinein, es überträgt auf sie seine eigenen bewußten Ab¬ 
sichten und verleiht ihnen seinen eigenen zweckmäßigen Willen. 
Sully erzählt von einem 5jährigen Mädchen, welches eines Tages 
ihren Reifen aufhielt und zu ihrer Mutter äußerte: „Mutter, ich 
glaube, mein Reifen ist lebendig, er ist so intelligent, er geht, wo 
ich will.“ 

Durch die Analogie mit eigenem Tun geleitet, frägt das Kind 
nach dem Wozu zumindest ebenso eifrig, wie es nach dem Warum 
frägt. Diese teleologische Betrachtungsweise wird leicht anthropo¬ 
zentrisch gefärbt, indem das Kind glaubt, die Dinge existieren nur 
ihm zu Liebe, sie richten sich nach seinen Befürchtungen und Wün¬ 
schen. Drastisch illustriert diese typisch primitive Auffassung das 
von Queyra t zitierte Beispiel: ein kleines Mädchen glaubt, daß der 
Wind, der Regen und der Mond kommen, während sie spazieren geht, 
nur um sie zu betrachten, und daß die Blumen mit der gleichen 
lobenswerten Absicht erwachen. 



128 


Bei der mangelnden Selbstkritik und dem unausgebildeten Be¬ 
dürfnis nach der Objektivität und nach objektiver Kontrolle subjek¬ 
tiver Gegebenheiten, ist es natürlich, daß Kinder ihre Einfälle so oft 
für Wirklichkeit halten. Kindliche Suggestibilität und Autosuggesti- 
bilität sind wohl bekannt. Mit erwünschter Klarheit äußert sich dazu 
S u 11 y: „alle Ideen, welche bei Kindern unter dem Stachel eines 
starken Interesses klar und scharf werden, sind sehr dauerhaft und 
abnorm lebhaft. Das kindliche Gehirn hat in einem gewissen Maße 
die Fähigkeit der täuschenden Suggestion gleich dem Gehirne eines 
Hypnotisierten“ 1 ). 

Einbildung wird von Realität oft nicht unterschieden und bei der 
lebhaften Phantasie des Kindes ist so die Grundlage für pseudologi¬ 
sche Produktionen gegeben, welche in dem viel zitierten Passus aus 
Gottfried Kellers „Grünem Heinrich“ eine lebendige Illustra¬ 
tion gefunden haben. 

In der Mentalität des Erwachsenen finden sich vielfach Gebilde, 
welche mit logischen Normen nichts zu tun haben, zu ihnen im direk¬ 
ten Widerspruch stehen und von jedem logischen Einwand unberührt 
bleiben. Ebensowenig werden sie durch die Erfahrung verändert, ja 
sie widerstehen jeder Korrektur der Realität, was darauf hinweist, 
daß ihre tiefsten Wurzeln nicht in der objektiven Wirklichkeit lie¬ 
gen können. 

Von denjenigen, welche beim Anblick einer Sternschnuppe einen 
Wunsch aussprechen, glauben gar viele an die Möglichkeit der Er¬ 
füllung und bereuen es sehr, wenn ihnen in dem entscheidenden 
Augenblick kein Wunsch einfällt. Keiner weiß den Glauben zu be- 

*) Folgender Passus von Compayre, „L’Evolution intellectuelle et 
morale de l’enfant“ gibt eine gute Charakteristik gewisser Züge des kindlichen 
Denkens: 

„L’ötourderie, qui charactörise presque toujours le jeune äge, n’a pas de 
principe plus certain. Chez l’adulte, chez l’homme röflöchi, la pensöe se 
possöde, prend son temps, intercale entre la (onception de l’idöe et le juge- 
ment un plus ou moins grand nombre d'intermödiaires, Chez l’enfant la 
pensee eclate, jaillit comme mue par un ressort, avec les caracteres presque 
d’une action reflöxe. Son Intelligence repond par une röaction immödiate 
k l’excitation des idöes, comme sa volontö cöde sans rösistance k la sollicitation 
des desirs. En d’autres termes il n’y a pas, chez l’enfant de facultö 
d’inhibition intellectuelle qui puisse modörer, suspendre, mürir ses jugements, 
pas plus quil’ n’y a de faculte d’inhibition volontaire qui tempere ses im- 
pulsions actives. D bondit, pour ainsi dire, sur la premiöre idee qui se prä¬ 
sente, comme U se jette sur ses jouets, etourdiement, tete baissöe. La plupart 
de ses erreurs proviennent de la meme cause que ses faux pas et ses chutes: 
de ce qu’il va trop vite et se pröcipite impatiemment vers le but.“ 



129 


gründen und viele sind sich klar über seine logische Unzulänglich¬ 
keit, was sie aber nicht im geringsten hindert, an dem Brauche mit 
voller Überzeugung festzuhalten. Sie wissen, daß die Erschei¬ 
nungen des Sternenhimmels in eine Kausalkette gehören, welche sich 
mit ihrem Menschengeschick keineswegs berührt, sie wissen, daß die 
beiden Erscheinungsgruppen zueinander in rein zufälligem Verhältnis 
bleiben und sie kümmern sich nicht mehr um astrologische Horo¬ 
skope. Dieses Wissen entwurzelt aber nicht ihren Aberglauben, 
welcher subjektiven Wunsch mit objektivem Geschehen unmittelbar 
vermengt und jede objektive Kausalität umgeht. 

Bekanntlich sind ähnliche Aufstellungen den meisten Kultur¬ 
menschen gemeinsam. Bei den modernen Wahrsagerinnen der Gro߬ 
städte setzt sich das meistens außerordentlich zahlreiche Publikum 
durchaus nicht nur, und nicht einmal vorwiegend, aus ungebildeten 
Ständen zusammen und ich habe intellektuelle und gebildete Men¬ 
schen gesehen, welche sich mit großem Interesse Karten legen ließen 
und dem Ergebnis einen erheblichen objektiven Wert beimaßen. 

Warum ist es ein schlechtes Vorzeichen, einer schwarzen Katze 
oder einer Nonne zu begegnen? Jeder Denkende weiß ganz genau, 
daß zwischen den ihn erwartenden Ereignissen und dem Treiben 
einer Katze resp. der Begegnung einer Nonne kein objektiver Zu¬ 
sammenhang besteht. Dieses Wissen um die vollkommene Zufällig¬ 
keit dieser ominösen Erscheinungen bleibt aber theoretisch und hin¬ 
dert nicht den praktischen Aberglauben. 

Man findet wenige Menschen, die sich nicht ab und zu Orakel 
stellen. Man macht die Zukunft, das Gelingen eines Unternehmens, 
das Erhalten einer Stelle, die entscheidende Antwort der Geliebten, 
abhängig von der Teilbarkeit einer Zahl, der Zahl der Stufen an der 
Treppe und anderem mehr. Diese prälogischen Aufstellungen sind eine 
unmittelbare Anlehnung an die Mentalität des Primitiven. Dieser 
aber wußte noch nichts von der Scheidung zwischen verschiedenen 
Kausalketten und so war bei ihm das Orakelstellen eine geradezu 
logische Konsequenz seiner Denkweise. Der moderne Kulturmensch 
verzichtet nicht auf den prälogischen Einschlag, welcher von seinem 
von logischen Normen beherrschtem Denken sonderbar absticht. 

Das letztere Beispiel, welches uns an die wichtigen kollektiven 
Erscheinungen der M a n t i k und der 0 r d a 1 i e n erinnert, führt 
uns zu kollektiven Niederschlägen der prälogischen Mentalität, 
welche seit jeher eine bedeutsame Rolle spielen. Wir hatten schon 
Gelegenheit, über die logische Struktur der religiösen Phänomene zu 

Bychowski, Metaphysik und Schizophrenie. (Abhandt. H. 21.) 9 



180 


sprechen und wollen darum nur kurz den prälogischen Charakter 
mancher Glaubensdogmen und Praktiken beleuchten. 

Ich erinnere mich an meinen Lehrer der Logik, welcher sich bei 
der Besprechung der Induktion folgendermaßen über die unbefleckte 
Empfängnis äußerte: „Meine Beobachtung lehrt mich,“ sagte er uns, 
„daß Jungfrauen nicht gebären, dies beweist aber keineswegs, daß 
sich dies nicht doch einmal hat ereignen können. Hingegen gibt mir 
die Heilige Schrift die Sicherheit, daß dieses wunderbare Vorkomm¬ 
nis in der Tat stattgefunden hat.“ In typischer Weise ist hier jene 
doppelte Buchführung ausgedrückt, welche für das religiöse Denken 
so charakteristisch ist. Neben der objektiv beobachteten Realität, 
für welche gesetzmäßige, logisch geprüfte Zusammenhänge gelten, 
wird ein weites Reich für das Wunderbare gelassen, welches von 
allen Normen des objektiven Denkens unberührt bleibt. 

Noch deutlicher wird dies durch die Betätigung religiöser Men¬ 
talität in der Praxis beleuchtet. 

In katholischen Ländern wird kein Haus gebaut, ohne daß der 
Grundstein nicht vorher mit Weihwasser besprengt und vom Prie¬ 
ster der Segen Gottes auf den Neubau herabgefleht wird. Desglei¬ 
chen gilt für die Eröffnung einer Fabrik, eines Spitals, einer Eisen¬ 
bahn usw. Diese Praktiken sind gleichbedeutend mit den Vorschrif¬ 
ten, welche der Primitive beobachten muß, bevor er auf die Jagd 
oder in den Krieg zieht. In beiden Fällen genügt es den Beteiligten 
nicht, daß sie alles nach bestem Wissen und Gewissen vorbereitet 
haben, dem Primitiven, daß sein Geschütz bereit, sein Mut, Kraft 
und Geschicklichkeit erprobt sind, dem Katholiken, daß sein 
Haus nach allen Regeln der Architektur gebaut wird, man 
muß sich die unsichere, teilweise unzugängliche und unberechen¬ 
bare Realität durch Zauberpraktiken sichern, denen im Grunde eine 
größere ausschlaggebende Bedeutung beigemessen wird, als sämt¬ 
lichen technischen Fertigkeiten. 

Wichtige Lebensgegebenheiten stehen im Banne magisch religi¬ 
öser Zeremonien. So bekommt die Ehe ihre eigentliche Weihe in der 
Kirche, und selbst in protestantischen Ländern, wo die Zivilehe ein¬ 
geführt wurde, betrachtet man auch von ungläubiger Seite die Ehe 
als vollgültig, erst nachdem sie auch vom Priester gesegnet wurde. 
Erst der Vermittler zwischen dem Menschen und der Gottheit voll¬ 
zieht jenen starken Bund (man denke an die ganz durchsichtige Sym¬ 
bolik der Zeremonie), sichert ihm Bestand und Gedeihen und schützt 
ihn vor feindlichen Mächten. 



131 


Es wäre ein Leichtes, die logische Struktur anderer Riten und 
Dogmen aufzuzeigen, welche, sämtlich in der prälogischen Mentalität 
verwurzelt, deren hohe Bedeutsamkeit beweisen. 

Ich will nur noch auf die typisch primitiven Einschläge in man¬ 
chen noch heute bestehenden Glaubensformen hinweisen. Wir sahen: 
dem Primitiven ist das Bild gleichbedeutend mit dem Original, es hat 
alle Eigenschaften des letzteren, es entfaltet die gleichen Wirkungen. 
Dem gläubigen Katholiken ist das Marienbild gleichbedeutend mit 
der Jungfrau Maria selbst, es kann Wunder bewirken, ja es gibt be¬ 
rühmte Marienbilder, welche mit besonderer Wunderkraft begabt sind 
und welche das Ziel weiter Pilgerfahrten bilden. 

Der ganze weit verbreitete Reliquienglaube hat die Übertragung 
wunderbarer Eigenschaften der heiligen Persönlichkeit auf Gegen¬ 
stände, welche mit derselben in Berührung kommen, zur Vorausset¬ 
zung. In Rußland verkaufte man noch vor kurzem Heiligenasche, 
Heiligenhaare usw., welche gleichsam als Amulette gegen allerlei 
Übel getragen wurden, ein Aberglaube, welcher von dem Primitiven 
geradezu entlehnt zu sein scheint. 

Aber auch gebildete Europäer tragen nicht selten Amulette, be¬ 
sonders wenn sie ihnen von einer teueren Person geschenkt wurden; 
sie sollen beschützen, sie sollen einen heil und gesund bewahren, man 
trennt sich von ihnen nicht beim Schwimmen, nicht in der Schlacht 
usw. Bei den nüchternen Holländern bekommen die Kinder von den 
Eltern Amulette, welche sie immer tragen müssen. 

Ganz einfache Akte bekommen auch eine immense magische Be¬ 
deutung. Man klopft dreimal auf den Tisch, um ein Unglück zu ver¬ 
hüten und der gläubige Russe bekreuzigt sich, wenn er eine Tram¬ 
fahrt oder gar Eisenbahnfahrt unternimmt. Kein Wunder, daß die 
Bedeutsamkeit des Aktes jedes Detail wichtig erscheinen läßt, wo¬ 
durch unter Umständen eine ungeheure Formalistik entwickelt und 
mit starkem Affekt besetzt wird. Im Rußland des 17. Jahrhunderts 
gab es blutige Kämpfe darüber, ob man sich mit zwei oder drei Fin¬ 
gern bekreuzigen solle und jede Partei verteidigte ihre unerschütter¬ 
liche Überzeugung mit größter Hartnäckigkeit. 

Mit gleicher Hartnäckigkeit klammert man sich an Worte, For¬ 
meln, welche an und für sich einen mystisch magischen Sinn bekom¬ 
men, dadurch, daß sie au bedeutsamen religiösen metaphysischen 
oder gar politischen Zusammenhängen teilnehmen. Das Wort wird, 
ähnlich wie bei Primitiven und Schizophrenen, zu einer Zauber¬ 
substanz. 


9* 



132 


Auch die Massenpsychologie bildet ein überaus günstiges Gebiet 
für die Betätigung der prälogischen Mentalität. Es ist ja bekannt, 
wie oft die Masse absurd urteilt, da wo der Einzelne einer vernünfti¬ 
gen Einsicht fähig wäre. Widerspruchsvolle Aufstellungen werden 
kritiklos geglaubt, blitzartige Eingebungen und unbegründete Ein¬ 
fälle für objektive Begebenheiten gehalten. Ein kleines Beispiel aus 
der Literatur. Anatole France erzählt einmal (Les dieux ont 
soif), wie während der französischen Revolution das Volk vor dem 
Bäckerladen auf die Brotverteilung wartet. Die Menge, welche sich 
stundenlang anstellen muß, diskutiert und erörtert die Tagesereig¬ 
nisse, als plötzlich eines der wartenden Mädchen mit Entsetzen das 
Verschwinden ihres Geldbeutels bemerkt. Alles ist über den Dieb¬ 
stahl entrüstet und man schickt sich an, den Dieb streng zu be¬ 
strafen. Man muß ihn aber doch erst ausfindig machen und da 
richten sich die Augen aller auf einen ruhig wartenden Mann, 
welcher durch seine offensichtlich priesterliche Herkunft der radi¬ 
kalen und antiklerikalen Menge verdächtig erscheint. Der kollektive 
Verdacht wird sofort zur Gewißheit und die kleine Tatsache, daß 
sich der Mann, welcher seinen Platz in der Reihe nicht verlassen hat, 
dem bestohlenen Mädchen nie genähert, wird gar nicht beachtet. 
Auch nicht, als ein Vernünftiger darauf aufmerksam macht; den 
hält man dann für den Komplizen des Diebes. 

Subjektive Überzeugung, verwurzelt in allgemeiner affektiver 
Konstellation, unterdrückt hier die Korrektur der objektiven Er¬ 
fahrung, so daß der Widerspruch nicht beachtet und nach seinem 
tatsächlichen Wert eingeschätzt, sondern falsch ausgedeutet wird. 

Die Kulturgeschichte der Menschheit ist erfüllt von Beispielen 
dieser Mentalität, welche ihr so oft sonderbares und tragisches Ge¬ 
präge verleihen. Die Tatsachen sind so naheliegend, daß ich nur 
an den Hexenglauben verweisen will, der wohl das prägnanteste 
Beispiel des kollektiven Wahns darstellt 1 ). Dank den überaus 
mächtigen psychischen Wurzeln der prälogischen Mentalität ge¬ 
staltete sich das Vordringen der Herrschaft der logischen, das 
Werden der europäischen Aufklärung zu einem dramatischen blu¬ 
tigen Ringen'). 

Diese letzteren Beispiele aus der kollektiven Psychologie legen 

') Andere Beispiele siehe bei Friedmann, Über Wahnideen ira 
Völkerleben. Bergmann, Wiesbaden 1900 bis 1901. St oll, Suggestion und 
Hypnotismus in der Völkerpsychologie, Leipzig 1894. 

*) W. H. L e c k y , Geschichte des Ursprungs und der Aufklärung in 
Europa, deutsch übersetzt, II. Aufl., Leipzig u. Heidelberg 1873. 



133 


uns die Frage nahe, welche wir schon mehrfach berührt haben, ohne 
auf sie einzugehen. Ich meine die Frage nach dem Verhältnis 
der primitiven Mentalität zur Affektivität. 

Zu Beginn des völkerpsychologischen Kapitels haben wir vor¬ 
läufig eine bloß negative Formulierung gewagt: das affektive 
Denken ist, so sagten wir, zuweilen und durchaus nicht unbedingt 
unlogisch, das primitive hingegen alogisch. 

In der Tat liegt es nicht im Wesen des emotionalen Denkens, 
unlogisch zu sein. Wenn es nichtsdestoweniger oft unlogisch ist, so 
liegt das offenbar an der Einschränkung des Überblicks, an der 
Reduktion der Denkmöglichkeiten durch den einseitig affektiv ge¬ 
richteten Gedankengang. Die dem bestimmenden Affekt günstigen 
Vorstellungen werden stärker betont, die ungünstigen wenig beachtet 
oder ausgeschaltet. 

Schon dadurch, daß es in.allgemein verständlichen Worten aus¬ 
gedrückt wird, bekommt das emotionale Denken eine gewisse kon¬ 
zeptuelle, logische Prägung und erweist sich mitteilungsbedürftig — 
und fähig. Nicht darin aber liegt seine wahre Mitteilungskraft. So 
wie sich der Affekt innerhalb der Psyche ausbreitet und danach 
tendiert, sämtliche Vorstellungen und Tendenzen in seine besondere 
Atmosphäre herüberzuziehen,, so strebt er auch danach, sich nach 
außen zu betätigen und die Mitmenschen zu ergreifen. Jeder von 
uns erlebt es fast täglich, daß er durch Affekte anderer angesteckt 
wird, wobei die logisch begründete begriffliche Mitteilung zumeist 
keine wesentliche Rolle spielt. Bekanntlich ist es ein großes Ver¬ 
dienst Bleuler s‘), auf diese innerste Verwandtschaft der Sug- 
gestibilität und Affektivität hingewiesen zu haben. 

Diese Kontagiosität des Affektes, welcher bekanntlich so leicht 
kollektiv wird und große Menschenmengen erfaßt, ist aber an 
sich durchaus nicht etwas absurdes, alogisches. Denn der Affekt 
ist im Grunde eben verständlich. Es genügt, sich in die 
gleiche Gemütslage zu versetzen, um den emotionalen Urteilen und 
Schlüssen, seien sie noch so unlogisch, folgen zu können. Mag man 
die Unrichtigkeit der Einschätzung, welche der Liebende seinem 
Liebesobjekt zuteil werden läßt, noch so scharf einsehen, man ist 
sich doch sofort darüber klar, daß man in der gleichen Lage ähnliche 
Fehler begehen könnte. 

Auch kann der vom Affekt Beherrschte die Realität trotzdem 
richtig einschätzen. So muß, um das obige Beispiel aufzunehmen, 


*) Affektivität, Suggestibilität und Paranoia. Marhold, Halle. 



134 


der Liebende nicht den wirklichen Charakter der Geliebten ver¬ 
kennen, er kann sich sehr wohl des Unterschiedes zwischen dessen 
subjektivem und objektivem Bilde bewußt sein und trotz der Heftig¬ 
keit der Erotik ist gerade auf diesem Gebiete, vorausgesetzt natürlich 
bewußte reflexionsfähige Charaktere, das Bewußtsein des „deteriora 
sequor“ nicht so selten'). 

Der Betreffende hat dann das Bewußtsein einer Fatalität, wel¬ 
cher er trotz der besseren Einsicht nicht entkommen kann. 

Indem so das emotionale Denken den Unterschied zwischen sub¬ 
jektiver und objektiver Realität wesentlich nicht aufhebt und das 
Beachten der objektiven Widersprüche gestattet, bedingt es noch 
keine Undurchdringlichkeit für die Erfahrung. Gewiß, die Erfah¬ 
rung wird subjektiv gefärbt, umgestaltet, ja teilweise abgesperrt, 
aber die Korrektur der Realität kann immer einsetzen, wenn sich 
diese nur stark genug erweist. Auch treibt das letzten Endes ob¬ 
jektgerichtete Interesse des Affektes dazu, der Realität Rechnung 
zu tragen, da er doch normalerweise nur in ihr wirkliche Befriedigung 
finden kann. 

Aber auch innerhalb des emotionalen Denkens selber ist der Satz 
des Widerspruches durchaus nicht ausgeschaltet. Wenn auch diese 
Behauptung die Autorität eines R i b o t gegen sich hat, welcher fol¬ 
genden Satz aufstellt: „Das Prinzip des Widerspruches, welches die 
rationelle Logik beherrscht, ist der Logik der Affekte fremd“'), so 
glaube ich dennoch, sie begründen zu können. 

Nachdem R i b o t selbst jene, wie er sich ausdrückt, halbintel¬ 
lektuellen, halb affektiven Fälle ausschließt, wo der Widerspruch 
zwischen einer logischen und einer emotionalen Aufstellung besteht, 
bleibt die scharf umgrenzte Frage nach dem Widerspruch innerhalb 
rein emotionaler Sphäre und da müssen wir sagen: Die bekannte Ambi¬ 
valenz der Affekte bringt es tatsächlich mit sich, daß entgegen¬ 
gesetzte Tendenzen nebeneinander bestehen, daß der Liebe der Haß 
am nächsten steht usw. Die wohlbekannte Tatsache muß aber in 
dieser Formulierung eine eigentlich selbstverständliche Korrektur er¬ 
leiden. In dem normalen, affektiven Leben gewinnt von den beiden 
Affektkomponenten doch nur eine die Oberherrschaft, während die 
andere gewissermaßen nur im Unterton mitschwingt, vielleicht zeit¬ 
weise die Farbe und Intensität der dominierenden trübt, aber sich 


*) Zahlreiche Beispiele in der Literatur z. B. Alc£ste in MoliöreB Mi- 
santhrope. 

') La logique des Sentiments. Paris, Alcan 1906. 



135 — 


doch nicht neben ihr gleichberechtigt durchsetzt, geschweige denn sie 
vollkommen aufhebt. Auch kann der Normale jene widersprechende 
Tendenz unter Umständen bemerken und nach der Ausschaltung 
dieses Widerspruches bewußt hinstreben. 

Aber auch die eigentlichen Inkonsequenzen des emotionalen 
Denkens beruhen keineswegs auf der Unterdrückung des Satzes vom 
Widerspruche. Wer Menschenliebe predigt und sich auch sozial be¬ 
tätigt, in eigenem Heim aber ein liebloser Tyrann ist, der hat dafür 
seine guten affektiven Gründe und ist bekanntlich gerade seine sozial 
gerichtete Tätigkeit oft nur ein Ersatz für die Unmöglichkeit, seine 
Familie zu lieben. 

Die Stärke des Affektes bedingt an sich noch keineswegs das 
Geltungsbewußtsein, d. h. das Wissen um die objektive Gültigkeit der 
subjektiv gegebenen Zusammenhänge. Auch der Theoretiker des 
emotionalen Denkens Heinrich Maier muß zugeben, „daß es 
doch nicht eigentlich die Stärke des Affektes, sondern zuletzt die Art, 
wie der starke Affekt von dem Bewußtsein Besitz ergreift, ist, was die 
Vorstellung mit dem Bewußtsein der objektiven Gültigkeit aus- 
stattet“ 1 ). 

Hingegen ist es dem primitiven Denken ein Leichtes, subjektive 
Zusammenhänge zu objektivieren und als reelle zu werten. Es küm¬ 
mert sich um keine logischen Normen des wirklichkeitsgerichteten 
Denkens, es befindet sich, gleichsam ein Ding an sich, außerhalb der 
Grundsätze des Widerspruches und des zureichenden Grundes. 
Darum können bei ambivalent gefärbten Vorstellungen und Affekten 
beide Komponente nebeneinander bestehen und ihre Geltung mit 
gleicher Intensität behaupten. 

Das primitive Denken ist, wo es nicht schon von vornherein 
kollektiv entstanden ist, an sich nicht kontagiös. Unverständlich, 
weil dem Verhältnis zur Realität in dessen aktueller Form entrückt, 
bleibt es prinzipiell eingeschränkt auf das Individuum und schließt 
es leicht vom Kontakte mit der Kollektivität aus. Da nämlich die 
Normen des objektiv gerichteten Denkens eminent sozial sind, be¬ 
droht ihre Nichtbeachtung zugleich die soziale Einstellung und den 
sozialen Zusammenhang des Individuums. 

Die begriffliche Scheidung zwischen dem emotionalen und pri¬ 
mitiven Denken, so begründet sie auch ist, kann uns nicht über die 
Tatsache der überaus häufigen Vermengung beider Denkarten hin¬ 
wegsetzen. 


’) Die Psychologie des emotionalen Denkens, p. 389. 



136 


Diese Vermengung ist aber verständlich und notwendig. 

Der Affekt vermindert die Geltungskraft logischer Normen und 
begünstigt so die Invasion prälogischer Mechanismen. Gr hemmt 
manche Vorstellungen und begünstigt andere, indem er ihnen eine 
starke suggestive Kraft verleiht'). So bekommen die affektiv beton¬ 
ten Vorstellungen eine gewisse Tendenz zur Objektivie¬ 
rung, eine mehr oder weniger bedeutende Geltungskraft, was sie 
ohne Zweifel zur Überschreitung der Schranke Psyche-Welt dis¬ 
poniert. 

So kommt es zunächst zu der Illusions-Objektivie¬ 
rung (H. Maier), welche das affektive Surrogat für die Objekti¬ 
vierungstätigkeit darstellt. Die so geschaffene eingebildete 
Wirklichkeit wird aber als solche nicht verkannt. „Ist auch die 
Gefühlstendenz mächtig genug, um uns eine gewisse Heraussetzung 
der Inhalte aus der subjektiven Vorstellungssphäre zu ermöglichen, 
so nimmt sie doch im Bewußtsein keine derart dominierende Stellung 
ein, daß sie die Vorstellung der Erfahrungswirklichkeit, die als Norm 
und Maßstab sich an die affektiven Phantasieprozesse herandrängt, 
ganz aus dem Bewußtsein bannen könnte. An diesem Ma߬ 
stab messen sozusagen die affektiven Phanta¬ 
sievorstellungen implizite ihre Objekte. So ver¬ 
mögen sie für dieselben nur die eingebildete, die Illusionswirklich¬ 
keit, in Anspruch zu nehmen“’). 

Daß sich das Illusionsbewußtsein in das Geltungsbewußt¬ 
sein wandelt und an Stelle der Illusionsurteile, Pseudourteile 
(Maie r) treten, dazu bedarf es, wie schon hervorgehoben, mehr als 
bloßer gradueller Steigerung der Affektstärke, denn mit Maier 
müssen wir feststellen: „Nicht auf die Intensität der Affektgefühle 
kommt es an, auch die heftigste Freude und der stärkste Schmerz 
können sich ganz im Rahmen des rein präsentativen Vorstellens hal¬ 
ten, sondern auf das Maß, in welchem sich die Aufmerksamkeit 
auf eine affektive Vorstellung fixiert“'). Und hier greift nun das 
primitive Denken ein, welchem nach allem oben Erwähnten die emo¬ 
tionalen Mechanismen einen überaus günstigen Boden vorbereitet 
haben. 

Schon im Wesen des Affektes liegt es, daß er das Eindringen 

') „Der Affektzwang bewirkt ganz wie die Suggestion eine partielle 
Lähmung und Hemmung der Vorstellungsbewegung. Heinrich Maier, 1. c. p. 436, 
in Anlehnung an L i p p s. 

*) H. M a i e r , 1. c. p. 435. 

’) Von mir unterstrichen. 



137 


der prälogischen Mechanismen einleiten kann. Er treibt die Psyche 
nach der Welt hin, er läßt subjektive Tendenzen in das Objekt hinein¬ 
strömen, welches, in seiner besonderen von dem Ich unabhängig 
gegebenen Existenz nicht mehr gewertet, leicht als ein bloßes Mittel 
zur Verwirklichung des subjektiven Strebens erfaßt wird. 

So tendiert der Affekt nach der Verwischung der Schranke 
Psyche-Welt hin. 

Nach alledem ist es verständlich, daß das primitive Denken von 
dem emotionalen bisher nicht unterschieden wurde. Und in der Tat 
spielen in prälogischen Betätigungen, sei es kollektiver, sei es indi¬ 
vidueller Herkunft, die affektiven Mechanismen eine eminente Rolle. 
Denn nicht nur begünstigt die Affektivität die Entfaltung der prä¬ 
logischen Denkweise, sondern auch umgekehrt, leistet die primitive 
Mentalität Vorschub der ungehemmten Betätigung affektiver Ten¬ 
denzen. Dieses Verhalten entspringt notwendig aus dem Wesen des 
prälogischen Denkens, welches die Grundbeziehung Psyche-Welt 
zugunsten des Subjektes verschiebt und das Gitterwerk der objek¬ 
tiven Normen, welche unser Verhältnis zur Realität beherrschen, auf¬ 
hebt. Die subjektiven Tendenzen können sich leichter verwirklichen 
und aus potentiellen dynamisch werden, ohne daß es die Anpassung 
an die Realität verlangt. 



VL Kapitel. 

Metaphysik und Schizophrenie. 

Wir haben die Wege angedeutet, welche die schizophrene Per¬ 
sönlichkeit zum Verluste der normalen Weltbeziehung und der 
Schranke Psyche-Welt führen. Da dieser Prozeß naturgemäß nur 
selten abgeschlossen und vor allem nur selten in die Bewußtseins¬ 
schicht erhoben wird, so erreicht er nicht allzuhäufig seinen End¬ 
ausdruck, die vollständige Verleugnung der Welt der Objekte in 
ihrer unabhängigen Existenz und die Identifizierung des Ich und der 
Realität. 

Um so beachtenswerter ist der Fall von Mur alt'). Der Pa¬ 
tient ist ein alter Insasse der Anstalt Waldau, wo er nach der Ermor¬ 
dung seines Vaters hingebracht wurde. Er halluzinierte, äußerte 
Verfolgungs- und recht bald auch hypochondrische Wahnideen. Er 
erklärte: „Le corps ne tire pas. Le monde est maitre de 
moi,jesuisläparlabonnevolontedumond e“. Dem 
Arzt gegenüber äußerte er: „Vous avez tort quoi que vous ayez raison. 
Vous etes injuste quoique vous soyez juste etc“. 

Alles ist ein Stück von ihm, und er bezeichnet die 
Existenz (marque l’existence) von allem, allen Menschen, allen Häu¬ 
sern der ganzen Umgebung. 

Bei einer klinischen Vorstellung erklärt er, er sei der Vater der 
Zuhörer. Trotzdem er 1870 auf die Welt gekommen und am 30. Juli 
sterben werde, existiere er von jeher. Seinen Vater habe er getötet, 
weil er ihn quälte, doch lebe sein Vater, denn er sei ja Vater und 
Sohn zugleich. 

„Vous c ’ e s t m o i,“ begrüßt er den Arzt bei jeder Visite und 
erklärt: „Wir sind dieselbe Person; Sie sind eine Frau, eine Tochter, 
ein Mann, ein Pferd und ein Bär und ich auch, ich bin all das. Ich 
bin dieser Tisch. Ich bin alles, was existiert. Ich habe alles 
gemacht, ich bin die allein existierende Verkör¬ 
perung der Menschheit. Ich bin Gott und dieses Bild 
an der Wand ist auch Gott, alles ist eins.“ 

‘) Ein geisteskranker Philosoph. Schweiz. Arch. f. Neur. u. Psych. VI, II. 
Es war mir möglich, in die Krankengeschichte des Falles Einsicht zu be¬ 
kommen, was ich Herrn Prof, von Speyr Direktor der Waldau verdanke. 



139 


Von diesen Voraussetzungen ausgehend, weigert sich der 
Patient, Holz zu sägen, da er selbst Holz sei und 
sich doch nicht selbst zersägen könne. 

„Als er einmal renommierte, wie er aus einer Bettdecke Men¬ 
schen und Tiere schaffen könnte, wollte ich ihn beim Wort nehmen 
und verlangte von ihm, daß er einen Menschen schaffe. Nun er¬ 
eignete sich etwas bemerkenswertes. Er drehte sich von mir weg, 
blickte zum Fenster hinaus und sagte: „Jetzt existieren Sie 
nicht“. Auf meine Protestation hin war seine Antwort: „Ich höre 
Sie zwar reden, aber es ist nur die Luft, die ich reden mache“. Hier¬ 
auf drehte er sich mit einem Ruck herum, schaute mich durchdrin¬ 
gend an: „Voilä, je vous ai fait“. Die anderen Menschen, die nicht 
im Zimmer anwesend sind, sind zerlegt (defaits). Als ich ihn ein¬ 
mal zufälligerweise auf das Bein schlug, meinte er: „Sie sind es, der 
schlägt, aber ich bin’s, der mir weh tut“. 

Dieses Wahnsystem ist uns besonders wertvoll, als nahezu voll¬ 
kommenes Analogon der indischen Vedänta-Philo- 
sop h i e. 

Also wird belehrt der Brahmanenschüler Cvetaketu von seinem 
Vater, dem Brahmanen Uddälaka (Chändogya Upanishad 6, 8, 16): 

„Diese Ströme, o Teurer, fließen im Osten gen Morgen und im 
Westen gegen Abend; von Ozean zu Ozean strömen sie, sich vereini¬ 
gend, sie werden lauter Ozean. 

Gleich wie diese daselbst nicht wissen, daß sie dieser oder jener 
Fluß sind, also fürwahr, o Teurer, wissen auch alle diese Kreaturen, 
wenn sie aus dem Seienden wieder hervorgehen, nicht, daß sie aus 
dem Seienden wieder hervorgehen. Selbige, ob sie hier Tiger sind 
oder Löwe, oder Wolf, oder Eber, oder Wurm, oder Vogel, oder 
Bremse, oder Mücke: was sie immer sein mögen, dazu werden sie 
wieder gestaltet. 

Was jene Feinheit ist, ein Bestehen aus dem ist dieses Weltall, 
das ist das Reale, das ist die Seele, dasbistdu,o Cvetaketu!“ 

Dieses „das bist du“ (tat tvam asi) bildet den Grundstein 
der gesamten Vedäntalehre. Das gemeinsame Wesen aller Dinge, 
das Brahman, ist gleich dem innersten Prinzip des Menschen, dem 
A t m a n , dem Selbst. 

„Hier in dieser Brahmanenstadt (dem Leibe) ist ein Haus, eine 
kleine Lotosblume (das Herz); inwendig darinnen ist ein kleiner 
Raum; was in dem ist, das soll man erforschen, das wahrlich soll 
man suchen zu erkennen... So groß dieser Weltraum ist, so groß 
ist dieser Raum inwendig im Herzen; in ihm sind beide, der Himmel 



140 


und die Erde, beschlossen; beide, Feuer und Wind; beide, Sonne und 
Mond, der Blitz und die Sterne und was einer hinieden be¬ 
sitzt und was er nicht besitzt, das alles ist darin beschlos¬ 
sen.“ (Chändogya Upanishad 8, 1 bis 4.) „Dieser ist meine 
Seele (Atman) im innern Herzen, kleiner als ein Reiskorn oder Ger¬ 
stenkorn, oder Senfkorn, oder Hirsekorn, oder eines Hirsekornes 
Kern; dieser ist meine Seele im innern Herzen, größer als die 
Erde, größer als der Luftraum, größer als der Himmel, größer als 
diese Welten. 

Der Allwirkende, Allwünschende, Allriechende, Allschmeckende, 
das Allumfassende, Schweigende, Unbekümmerte, dieser ist meine 
Seele im innern Herzen, dieser ist das Brahman, zu ihm werde ich 
von hier abscheidend eingehen. Wem dieses ward,' fürwahr, der 
zweifelt nicht!“ (Chändogya Upanishad 3, 14.) 

Der Atman ist überall vorhanden, einheitlich, in sich selbst 
ruhend, unveränderlich, wunschlos, machtvoll, ent¬ 
rückt den Formen der Zeit und des Raumes. 

Indem so das unendliche Wesen der Dinge absolut einheitlich 
ist, erscheint die bunte Mannigfaltigkeit der empirischen Realität als 
eine Täuschung, in welcher der Mensch befangen lebt, solange er 
nicht die wahre Erkenntnis erlangt hat. Schleier der M ä y ft. 
nennt der Inder diese scheinbare Mannigfaltigkeit, welche das Wesen 
der Welt verdeckt und die einheitliche Realität der Dinge in mannig¬ 
faltige Formen auflöst. 

„Atman aber ist das Höchste selbst und durch sich selbst 
leuchtend; er erkennt und erkennt doch nicht, denn sein Erken¬ 
nen ist objektlos, ist Innewerdung.“ (Nrisinhotta- 
ratapariya Upanishad IX.) Denn der Atman ist eigentlich das wahre 
Selbst, das unvergängliche seelische Prinzip des Menschen, welches 
als Absolutes „zeitlos“ ist. Die wahre Erkenntnis besteht somit in 
vollkommener Aufhebung jeder Subjekt-Objekt-Spaltung, welche nur 
einen besonderen Fall der allgemeinen täuschenden Verschiedentlich- 
keit der Dinge darstellt. 

Bei diesen Voraussetzungen ist es nur selbstverständlich, daß 
vom Atman keine bestimmte Aussage gemacht werden kann. Jede 
Determinierung würde ihn einschränken und darum ist er „nicht 
so und nicht so (neti, neti)“ 1 ). „Verschieden ist’s vom Wiß- 
baren und doch darum nicht unbewußt! ... Nur wer es nicht er- 


') Man möge damit vergleichen, das „vous avez tort, qnoique vous ayez 
raison“ des schizophrenen Philosophen. 



141 


kennt, kennt es, wer es erkennt, der weiß es nicht, nicht erkannt 
vom Erkennenden, erkannt vom Nicht-Erkennenden!“ (Kena Upani- 
shad 1, 2.) „Nicht nach innen erkennen und nicht nach außen er¬ 
kennen, noch nach beiden Seiten erkennen, auch nicht durch und 
durch aus Erkenntnis bestehend, weder bewußt noch unbewußt, un¬ 
sichtbar, unbetastbar, begreifbar, uncharakterisierbar, undenkbar, 
unbezeichenbar, nur in der Gewißheit des eigenen 
Selbstes gegründet, die ganze Weltausbreitung 
auslöschend, beruhigt, selig, zeitlos ..., das ist das erste 
Viertel, das ist der Atman, den soll man erkennen.“ (Mandukya 
Upanishad 1, 7.) 

Das „Tat tvam asi“ bildet auch den Kernpunkt der indi¬ 
schen Ethik. Das Mitleid ist ihr die Kardinaltugend. Da man näm¬ 
lich in jedem Wesen sich selbst wiederfindet, soll man keinem etwas 
zuleide tun, man würde sonst nur sich selbst schädigen, eigenen, all¬ 
gemein gültigen und überall webenden seelischen Urgrund ver¬ 
leugnen*). 

Weigert sich nicht auch der schizophrene Philosoph, Holz zu 
sägen, weil er sich selber nicht zersägen kann? 

Als letzte Konsequenz der Lehre erscheint bekanntlich das Ideal 
der absoluten Loslösung von der Maya, der Vielheit der Objekte und 
der steten Ansprüche, welche diese an den Menschen stellen, — 
kurzum, das Nirvana, Erlöschung und Seligkeit. Der Weg zu diesem 
Endziele des Weisen führt durch die allmähliche Abtötung der 
Wünsche und Bedürfnisse und die praktische Ausübung des Atman- 
prinzips durch das Mitleidhaben mit anderen Geschöpfen. 

„Wer ohne Verlangen, frei von Verlangen, gestillten Verlan¬ 
gens, selbst sein Verlangen ist, dessen Lebensgeister ziehen nicht aus; 
sondern Brahman ist er und in Brahman geht er auf.“ (Brihadara- 
nyaka Upanishad 4, 4, 7.) 

Um aber ohne Verlangen da zu stehen, .muß man das wahre 
Wesen der Welt erkennen, man muß einsehen: „Der Atman ist ohne 
Weltanhaftung: drum seid Ihr selbst er, und das Licht, mit dem Ihr 
leuchtet, ist Euer eigenes. Ja, die Welt, da sie ganz aus Sein und 
Bewußtsein besteht, ist nur Ihr Selbst!“ ... (Nrisinhottaratapaniya 
Upanishad IX.) 

Durch das Bewußtsein „ich bin Brahman“ (aham Brahma asmi) 


*) „Denn indem er allerwärta denselben Gott wohnen sieht, wird er nicht 
sich selbst durch sich selbst verletzen wollen und so geht er den höchsten 
Weg.“ Mahabharatam. Zitiert bei Deussen I, III. p. 16. 



142 


wird das Selbst, der Atman zum Weltall. „Und auch heutzutage, 
wer also eben dieses erkennt: Ich bin Brahman!, der wird zu 
diesem Weltall; und auch die Götter haben nicht Macht, zu bewirken, 
daß er es nicht wird, denn er ist die Seele (Atman) derselben.“ (Bri- 
hadaranyaka Upanishad 1, 4, 10.) 

Ist diese restlose Identifizierung des eigenen Ich und der Welt 
vollendet, dann kann der Weise, der Erlöste, mit Fug und Recht be¬ 
haupten: 

„In mir entstand das Weltganze, in mir nur hat Bestand das 
All, in mir vergeht dies Brahman, das Zweitlose, ich bin es selbst.“ 
(Kawalaya 18, 23.) 

Wie sprach unser schizophrener Philosoph? „Ich bin alles, 
was existiert. Ich habe alles gemacht. Ich bin die allein existie¬ 
rende Verkörperung der Menschheit. Ich bin Gott und dieses Bild 
an der Wand ist auch Gott, alles ist eins.“ 

Wie der zwischen dem Nichts und der ganzen Welt oszillierende 
Schizophrene, sagt der entsagende König Janaka: 

„Nunmehr glaube ich, daß ich überhaupt kein Reich habe 
oder daß mein Reich allumfassend ist: auch mein eigener Leib ist 
nicht mein, oder auch die ganze Erde ist mein, und wie sie mir ge¬ 
hört, so auch den anderen“ 1 ). „Des Kleinen bin ich und nicht weniger, 
bin groß, bin das bunte reiche Weltall, der Alte bin ich, bin der Gott¬ 
herr, ganz golden bin ich, seliger Erscheinung, ohn’ Hand und Fuß 
bin ich, unendlich mächtig, seh’ ohne Augen, höre ohne Ohren; ich 
bin der Wissende und außer mir ist kein anderer Wissender in ewigen 
Zeiten.“ (Kavalya 18, 23.) 

In diesem Zusammenhang ist es nötig, auf die Bedeutungen des 
Wortes Brahman im Laufe der religiösen Entwicklung Indiens in 
aller Kürze hinzuweisen’). 

Ursprünglich bedeutet Brahman das Gebet, den Zauberspruch, 
die heilige Rede, welche drei Bedeutungen eng aneinander grenzen. 
Brahman, als Gebet bedeutet zugleich „die Anschwellung“ des Ge¬ 
mütes, die Ergebung des Betenden, also die Andacht und die eksta¬ 
tische Tendenz nach der Vereinigung mit dem All und den Zauber¬ 
spruch, welcher in magischer Weise die Götter selbst zwingt und den 
Wünschen des Betenden willig macht. „Früher waren es die Götter, 
welche durch das Gebet angetrieben wirkten, jetzt wird das Gebet 
das eigentliche Agens, welches vermittelst der Götter die gewollte 

') Mahabharatam XIV. 32, zit. bei Deussen I, III. p. 82. 

*) Deussen, Allg. Geschichte der Philosophie, I. p. 239 bis 264. 



143 


Wirkung übt oder auch sie (die Götter) ganz beiseite läßt; in dem 
einen wie in dem anderen Falle aber nicht mehr an den guten Willen 
der Götter gebunden ist, sondern durch sie oder ohne sie mit magi¬ 
scher Kraft als Zauberformel gesprochen, den gewollten Zweck un¬ 
fehlbar bewirkt.“ 

So wird das Gebet rechtzeitig verabsolutiert und zu einer selb¬ 
ständigen Macht umgebildet, was in dem charakteristischen Aus¬ 
spruche zum scharfen Ausdruck kommt: „Der Brahmane, der solches 
weiß, in dessen Gewalt sind die Götter.“ (Wag. Samhita 31, 21.) 

Weiterhin bedeutet Brahman das heilige Wissen (Veda) und den 
heiligen Stamm der Brahmanen. Die oben angedeutete Tendenz des 
Gebetes, sich zu einer selbständigen Macht zu verabsolutieren, führt 
stufenweise dazu, daß dieses Brahman, das Gebet zu dem göttlichen 
Urprinzip der Welt, dem Absoluten, schlechthin gemacht wird. Zu¬ 
nächst ist noch das Brahman vom Schöpfer der Welt, Prajäp&ti, ab¬ 
hängig, welcher mittels des heiligen Wissens sein Werk vollbrachte. 
Später wird Brahman Prajäpäti gleichgesetzt und schließlich wird 
Prajapäti vom Brahman abhängig, das Brahman zum höchsten 
schöpferischen Prinzip. „Brahman fürwahr war diese Welt zu 
Anfang. Dasselbe schuf die Götter.“ (Otäp brahmana 11, 2, 3.) 

Nicht um des historischen Interesses willen führen wir hier diese 
Entwicklungsstadien an. Es gilt zu zeigen, wie in der indischen 
Lehre die rein psychische Potenz, die uneingeschränkte, ungebän- 
digte Wucht des Gebetes, also im Grunde die Macht des primitiven, 
die unbekannte Welt umspannenden Wünschens zu einem kosmischen 
Prinzip wurde. Es ist nicht zu verwundern, daß bei diesem Ursprung 
des Systems auch seine Konsequenzen vielfach den großzügig magi¬ 
schen Charakter tragen. Der Brahmanschüler (Brahmacarin) wird 
gepriesen als Inkarnation des Brahman, er ist Schöpfer und Beleber 
von allem im Himmel und auf Erden. Er ist kurzum ein großartiger 
Zauberer. In der Tat: 

„Der Brahmanschüler belebend beide Welten geht. 

In ihm sind einmütig die Götter alle. 

Er hält und trägt die Erde und den Himmel, 

Er sättigt durch sein Tapas selbst den Lehrer. (Tapas = 
Askese, hier betteln.) 

Als Brahman macht er Tag und Nacht, schützt die Welten, 
beherrscht Feuer, Sonne, Gewitter und Regen.“ (Atharvä- 
vedä 11.) 

W\T haben da vor uns eine Lehre von großartiger kultur¬ 
geschichtlicher Bedeutung, welche Philosophie, Religion und Mystik 



144 


des ältesten Kulturvolkes geworden ist, sein historisches Geschick 
bestimmt hat und jahrtausendelang bis heute wesentlich unverän¬ 
dert blieb. Ein solches System muß in der Volkspsyche tief ver¬ 
wurzelt sein und erscheint uns als Ausdruck tiefster psychischer Ten¬ 
denzen'). 

Und da müssen wir zunächst in dem ganzen System eine gro߬ 
artige Verzichtleistung sehen, eine gewaltige Abkehr von der äuße¬ 
ren Welt und eine damit notwendig verknüpfte Verinnerlichung. 

Es ist für uns bedeutsam, festzustellen, mit welcher Deutlichkeit 
die Inder die Abkehr von der Welt als die Grundlage der Erkenntnis 
und der Erlösung hinstellten. 

„Unbefriedigt erfaßt er mit dem Auge der Erkenntnis die Welt¬ 
verdrossenheit (nirveda). Und wenn das Auge der Erkenntnis keinen 
Gefallen mehr findet an Begierde, an Geschmack und Geruch und er 
auf Ton, Gefühl und Gestalt nicht mehr seinen Geist lenkt, dann 
kommt er los von der Begierde, aber die Rechtschaffenheit läßt er 
nicht los ... Nach und nach ergreift er die Weltverdrossenheit und 
läßt das böse Werk fahren, dann wird er von Gerechtigkeit erfüllt 
und erlangt die höchste Erlösung... (MAhäbhäratam XII, 242, 
II, 12.) 

Und in knapper Formulierung: „Aus Weltverdrossenheit wende 
man sich dem Nirvanam zu, und nicht sorge man sich über irgend 
etwas, denn als ein Glück erlangt der Brahmane durch die Welt¬ 
verdrossenheit das Brahman“. (Daselbst XII, 189, 17.) 

Es ist, als ob hier das Volk, ob der Stärke seiner Wünsche, seiner 
dämonischen Leidenschaften erschrocken, der Unzulänglichkeit seiner 
psychischen Kräfte zu ihrer Verwirklichung bewußt, systematisch der 
Welt der Objekte sein tiefes lebendiges Interesse entzog. In sich 
gekehrt, verleugnete es die Welt, es sah dann in seinem eigenen In¬ 
nern die Quelle der Macht und das Wesen des Kosmos und leitete 
daraus die Kraft und die Möglichkeit ab, in der Welt des Scheines 
das Wirkliche, welches ihm mit der Wunschlosigkeit gleich war, zu 
erreichen. 

Wir erinnern an die Enormität indischer mythologischer Ge¬ 
stalten, an das Gigantische, oft Ungeheuerliche der göttlichen und 
menschlichen Helden des indischen Epos; mit handgreiflicher Klar- 

') Vgl. Schopenhauer, Welt als Wille und Vorstellung. I. p. 459. 
„Was sich solange unter einem so viele Millionen umfassenden Volke in Aus¬ 
übung erhalten hat, während es die schwersten Opfer auflegt, kann nicht 
willkürlich ersonnene Grille sein, sondern muß im Wesen der Menschheit seinen 
Grund haben.“ 



145 


heit offenbart sich hier die Unbändigkeit des primitiven Wünschens 
und Wollens, ohne jede Rücksicht auf objektive und subjektive Mög¬ 
lichkeiten. Zugleich aber erschrickt der Inder ob der gewaltigen 
Naturmächte seiner Umgebung und verzweifelt an der Möglichkeit, 
die Welt der Objekte zu beherrschen. Kann auf diesem Wege der 
Macht des Wünschens nicht Genüge getan und die Macht über die 
Welt erlangt werden, so wird ein anderer entgegengesetzter Weg ein¬ 
geschlagen, der Weg des Verzichtes. Verschließt man sich den Weg 
zur Welt, so muß man den Weg von der Welt ab betreten, welcher 
zu der großartigen rücksichtslosen Introversion führt. 

Erscheint so die Askese als ein Mittel zur Macht und als 
solche verwurzelt in durchwegs praktischen Motiven, so darf 
man doch die theoretische Tragweite dieser Einstellung nicht 
außer acht lassen. Praktische und theoretische Motive werden aufs 
Engste vermengt, die Welt der Objekte wird nicht nur entwertet, als 
Ziel der Wünsche und Strebens, sie ist auch Täuschung, Schein, 
Schleier der Mäyä. 

Nach dem allgemeinen Verhalten, daß die praktischen Interessen 
den theoretischen vorausgehen, dürfen wir wohl annehmen, die theo¬ 
retische Entwertung der Welt der Objekte war auch hier zum Teil 
sekundär, eine Konsequenz, oder ein Vorwand des praktischen Ver¬ 
zichtes. Die Konsequenz gewann aber bald große Bedeutung und in 
dem fertigen System des Vedanta spielt die theoretische Verneinung 
der wahrnehmbaren Welt die erste Rolle. Von nun an verschwindet 
dieses Motiv nicht mehr aus der Metaphysik und erfährt die mannig¬ 
faltigsten Gestaltungen. „Es besteht unbestreitbar, solange es Philo¬ 
sophen auf Erden gibt und überall, wo es Philosophen gegeben hat 
(von Indien bis England, um die entgegengesetzten Pole der Bega¬ 
bung für Philosophie zu nehmen), eine eigentliche Philosophen-Ge- 
reiztheit und Ranküne gegen die Sinnlichkeit. Desgleichen be¬ 
steht eine eigentliche Philosophen-Voreingenommenheit und Herz¬ 
lichkeit in bezug auf das ganze asketische Ideal“ 1 ). 

Woher diese Verachtung für die Sinnlichkeit, woher die Ver¬ 
neinung der dem gesunden Verstände sichersten Gegebenheit, der 
körperlichen Welt der Wahrnehmung? 

Gemäß der unbändigen Macht des Wollens nehmen wir einmal 
einen stark entwickelten Erkenntnistrieb an, der sein Ziel sofort weit 
faßt und alles erkennen will, jedoch mit vollständig unzulänglichen 

*) Nietzsche: Zur Genealogie der Moral. Körners Taschenausgabe 
p. 411. 

Bychowski, Metaphysik und Schizophrenie. (Abhandl. H. 21.) 10 



146 


Mitteln. Er weiß die Realität noch nicht richtig anzupacken, weiß 
sich aber dennoch in seinem kosmischen Streben nicht zu bescheiden, 
er will alles kennen, trotzdem er nur weniges erkennen könnte. 
Taucht das Bewußtsein dieser Diskrepanz zwischen dem Wollen und 
Können auf, so wird es als allzu peinlich — man will eben doch 
alles erkennen — verdrängt und umgebildet. Und welche Trans¬ 
formation kann es dem Erkennenden gefälliger gestalten, als jene, 
welche die Unzulän glichkeit des Subjektes zur 
Nichtswürdigkeit des Objektes macht, das Nicht- 
erkennen-können, dahin deutet, daß in der Welt des Scheines eben 
nichts zu erkennen ist, als der Schein, der Schleier der Mäyä selbst. 
Dieser traurige Trost wird zu der höchsten Wahrheit erhoben und 
hinter die täuschenden Erscheinungen das einzig 
wahre, reelle Ding an sich gesetzt, welches auf dem Wege der 
bloßen Innewerdung (sanskr. anubhüti) erkannt werden kann. So 
bekommt die Introversion ihre höchste Weihe und Begründung, aus 
einem Ausweg, einer Ausflucht wird sie zu dem einzigen Weg, dem 
höchsten Ideal der Erkenntnis. So vollendet sich denn die indische 
Lehre in dem Yoga-System, welches eine Praxis der Introversion, 
eine Anweisung zum willkürlichen Stupor darstellt. 

Die fundamentale Erscheinung des menschlichen Geistes, wel¬ 
cher hinter der einzig gegebenen Erscheinungswelt eine Welt der 
Dinge an sich wittert, ja die Welt überhaupt in zwei unterschiedliche, 
ja entgegengesetzte Teile zerspaltet und die Wertbetonung von der 
täglich gegebenen auf die nur erdachte, intelligible Welt der Nou- 
mena verschiebt — diese Erscheinung wurzelt zutiefst in der Ent¬ 
wicklung der menschlichen Psyche und ihrer Beziehung zur Welt. 

So erscheint das Ding an sich, der Atman, als das theoretische 
Korrelat der Gottheit, welcher Begriff, wie gezeigt worden, aus ana¬ 
logen Motiven der Entwicklung der Grundbeziehung nach der prak¬ 
tischen Seite hin entspringt. Die engste Beziehung der religiösen 
Wesenheiten zu den metaphysischen Begriffen, welche die Geschichte 
des menschlichen Geistes beherrscht, wird verständlich und aus den 
Grundtatsachen der Psyche abgeleitet. — Und die praktischen Kon¬ 
sequenzen des indischen Systems? 

Wir sahen: der Yoga leitet zur vollkommensten Introversion an, 
man versetzt sich in eine Art Stupor, in welchem Zustand die äußere 
Welt verschwindet und nur noch die innere wahrgenommen wird. 
Diese Introspektion erscheint als das höchste Ziel der Erkenntnis. 
„Sie erinnern sich, daß es unser Ziel ist, die Seele selbst wahrzuneh- 



147 


men,“ sagt der moderne Yogalehrer 1 ). „Erkenntnis ist Macht“, und 
.Jn der Mitte des Herzens“ oder zwischen den Orbitalbögen, wo der 
Yogin das Zentrum seiner introvertierten Geisteskonzentration wahr¬ 
nimmt und den Sitz seiner Persönlichkeit lokalisiert, findet er auch 
den Zentralpunkt, den Ruhepunkt der Welt’). 

Es ist überaus bezeichnend, wie trotz der Weltabkehr und der 
Vernichtung des Verlangens, der „Weltanhaftung“, von welcher das 
System ausgeht, und der höchsten Introversion, in welcher es gipfelt, 
die grenzenlosen Machtwünsche des Yogins in uneingeschränkter 
Phantasie verwirklicht werden. Die Yoga Sutras des Patanjali*) ver¬ 
sprechen dem Yogin allerlei magische „Machtvollkommenheiten“, 
welche er durch die Anwendung der „Allzucht“ auf die verschieden¬ 
sten Verhältnisse erlangen soll: Unsichtbarmachung, Kräfte eines 
Elefanten, Verstehen der Stimmen aller Tiere, Eingang des Bewußt¬ 
seins in einen fremden Leib, Aufleuchten, Gehen im Lufträume 
u. a. m. Dies alles sind Äußerungen der großartigen, typisch magi¬ 
schen Macht, welche der Yogin über die Realität erlangt, nur da¬ 
durch, daß er sich von ihr frei macht und mit ihr nicht mehr rechnet. 

Es bekunden sich hier die tiefsten Motive der Doktrin, das Ver¬ 
langen, die Welt autistisch zu beherrschen, ohne sie zu kennen, indem 
man die Psyche mit ihren Potenzen in den Vordergrund stellt und 
wenn nötig, die ganze äußere Realität einfach verleugnet. 

Dieses System, aufgebaut auf der konsequentesten Abkehr von 
den Objekten konnte nicht wieder zu Objekten führen und so konnte 
das Volk der Inder keine Kultur in unserem Sinne des Wortes schaf¬ 
fen. Denn unsere Kultur ist ja ein zweckbewußter, systematischer 
Ausbau der Grundbeziehung, wo das Subjekt seine Aktivität in der 
Welt der Objekte entfaltet, aus ihr dann wiederum neue Kräfte 
schöpfend, dieselben wieder objektiviert. So erwies sich die indische 
Lehre verhängnisvoll für das Geschick des Volkes. Der Analogie 
der Struktur des schizophrenen Wahnsystems entspricht die Analogie 
der praktischen Folgen, Analogie zwischen dem individuellen Schick¬ 
sal des Kranken und dem kollektiven Schicksal des Volkes. 

Die psychologischen Inhalte der indischen Lehre aus unbewußten 
Motiven in konsequenter Weise verarbeitet, erscheinen mit größerer 
Deutlichkeit, wenn sie in einer individuellen Schöpfung bewußt aus- 

') Svami Vivekanda. Yoga Philosophy, Lectures on Raja Yoga, Longnans, 
Green and Co, London 1905, Zit. bei Morel. 

’) Siehe Morel. Essai sur l’introversion mystique. Geneve Kundig 1918. 

*) IV.er Text 3, 16; 3, 49. 


10 * 



148 


gebildet sind. Ich meine die moderne Auflage der Vedanta, das 
metaphysische System Schopenhauers. 

Von dem Bewußtsein der Übermacht — er sagt des Primats — 
des Willens ausgehend, welcher seinem Wesen nach ewig unbe¬ 
friedigt und darum leidend sein muß, betrachtet der Philosoph die 
Welt der Objekte als endlose Objektivierungen dieses einzigen und 
unendlichen Weltwillens. Der empirischen Erscheinung, in welcher 
von diesem Gesichtspunkte aus nur Leiden und immer neue Selbst¬ 
täuschung des Willens gesehen wird, wird jede Realität abgesprochen, 
Erscheinung wird gleich Schein gesetzt. Raum und Zeit sind Formen, 
durch welche die große Täuschung, der Schleier der MAyft. zustande 
kommt; sie sind, das Prinzipium Individuationis, in¬ 
dem sie den Anschein der Vielheit erwecken, wo im Grunde nur ein 
Ding an sich, weder Subjekt noch Objekt existiert. Die Abkehr von 
der Welt der Objekte, die Befreiung und schließliche Vernichtung 
des individuellen Willens wird als das höchste Ideal hingestellt. 

Das letzte Wort des Schopenhauerschen Hauptwerkes, der 
letzte Ausdruck des kunstvoll und tiefsinnig aufgebauten Welt¬ 
systems ist das „Nicht s“, und so erfüllt sich hier das tiefe Wort 
Nietzsches über die Bedeutung der asketischen Ideale: „Daß 
aber überhaupt das asketische Ideal dem Menschen soviel bedeutet 
hat, darin drückt sich die Grundtatsache des menschlichen Willens 
aus, sein horror vacui: er braucht ein Ziel..., und eher 
will er noch das Nichts wollen als Nichtwollen...“ 1 ). 

Es war seit jeher klar, daß das Schopenhauersche System in 
besonders starkem Maße die persönlichen Motive des Schöpfers 
realisiert, daß es eine gewaltige Projektion und Verabsolutierung seines 
eigenen Selbst ist. In diesem Sinne kann man auf diese Metaphysik 
mit besonderer Berechtigung die Worte D i 11 h e y s anwenden; es 
seien „Bilder des eigenen Selbst, Bilder des psychischen Lebens, 
welche den Metaphysiker geleitet haben, als er über Denkarbeit 
entschied und deren insgeheim wirkende Gewalt ihm die Welt um¬ 
wandelte in eine ungeheure phantastische Spiegelung seines eigenen 
Selbst“’). 

Die gewaltige Projektion geht hier offenbar von dem Erleben 
des eigenen starken Willens aus, welcher in seinem unbändigen 
Streben nach Macht und Lust — man beachte nur, wie stark 

') Zur Genealogie der Moral p. 399. 

*) D i 11 h e y , Einleitung in die Geisteswissensehaft, zit. bei H. Maier, 
p. 324. 



149 


hedonistisch Schopenhauers Lebenswertung gefärbt ist —, auf den 
unüberwindlichen Widerstand der Realität stößt. Aus diesem Wider¬ 
stand leitet Schopenhauer bekanntlich die Allverbreitung des 
Willens ab, welcher von dem motivierten menschlichen Willen über 
die Reizempfänglichkeit der organischen Welt zum blinden Drang 
des mechanischen Geschehens herabsinkt 1 ). 

Dieser eigene unbefriedigte Wille wird zu dem allgemeinen 
grundlosen Willen hypostasiert, welcher nur sich selbst zum Gegen¬ 
stände hat; er will nur wollen und ist an sich ewig rastlos. Die Vor¬ 
stellung täuscht ihm immer neue Befriedigung vor, nur in ihr liegt 
die Wurzel der wechselnden Erscheinung. So sagt Schopenhauer 
eigentlich seinem Willen: Verzichte auf die Welt der Erscheinung, 
wolle sie nicht, denn es ist bloßer Schein, erkenne nur das Ding an 
sich, welches du selbst bist. 

In dieser Erkenntnis liegt die Erlösung und diese erweist sich 
als das eigentliche treibende Motiv des ganzen Systems. An einer 
Stelle der „Aphorismen zur Lebensweisheit“ rühmt der Philosoph 
das intellektuelle Leben als „Schutzwehr gegen die schlechte Ge¬ 
sellschaft und gegen die vielen Gefahren, Unglücksfälle, Verluste 
und Verschwendungen, in die man gerät, wenn man sein Glück ganz 
in der realen Welt sucht. So hat z. B. mir meine Philosophie nie 
etwas eingebracht; aber sie hat mir sehr viel erspart.“ Nach diesem 
Geständnis bemitleidet er den „realen“ Menschen, welcher „hinsicht¬ 
lich des Genusses seines Lebens auf Dinge außer ihm angewiesen ist“. 

Die „Welt als Wille und Vorstellung“ spricht, sucht man in ihr 
nach Belegen für die verstehende Psychologie des Systems, eine 
überaus deutliche Sprache. Besonders bezeichnend ist die scharfe 
Betonung, mit welcher Schopenhauer die angebliche Uninteressiert¬ 
heit des ästhetischen Genusses, die Befreiung vom Willen, welche 
die Betrachtung des Schönen verschafft, preist. „Das ist der 
schmerzenlose Zustand, den Epikuros als das höchste Gut und als 
den Zustand der Götter pries; wir sind für jenen Augenblick des 
schnöden Willensdranges entledigt, wir feiern den Sabbat der 
Zuchthausarbeit des Wollens, das Rad des Ixion steht still. Ohne 
Ruhe aber ist durchaus kein wahres Wohlsein möglich. So liegt das 
Subjekt des Wollens beständig auf dem drehenden Rade des Ixion, 

*) Ein Yogatext besagt: Wegen der Schmerzen, die aus der Unbeständig¬ 
keit des Genusses, aus der Beängstigung während des Genießens und aus den 
nachbleibenden und künftig abzubüßenden Charaktereindrücken entspringen 
. . . ist für den Weisen alles ein Leiden. Yoga Sutras des Patanjali III. 2, 15. 
übersetzt von D e u s s e n. 



150 


schöpft immer in Liebe der Danaiden, ist der ewig schmachtende 
Tantalus“ 1 ). Durch die Auffassung der Welt als Wille und Vorstel¬ 
lung wird jener kurze, selige, weil interesselose Augenblick auf das 
ganze Leben ausgedehnt. Die Zuwendung zur Welt verliert jene 
„Weltanhaftung“ des Inders und verwandelt sich in befreite und be¬ 
freiende Kontemplation, an welcher der Wille sich nicht mehr be¬ 
teiligt. Von der Vielheit der Dinge, welche man als Schein durch¬ 
schaut, kehrt man sich ab, diesen Schein braucht man nicht mehr 
zu wollen. 

Bewußt und konsequent, unter eingehender Berücksichtigung 
des gesamten empirischen Wissens werden in diesem metaphysischen 
System psychische Tendenzen ausgebildet, die sich im Keime bei den 
Schizophrenen Vorfanden. Was auf der einen Seite dem Unbewußten 
entsprungen, unbewußt verarbeitet, die kranke, auf die Realität nicht 
mehr eingestellte Psyche zum Wahne führt, das ergibt auf der ande¬ 
ren Seite ein konsequentes, logisch und begrifflich durchgebildetes 
System, welches seinen Schöpfer nicht in Konflikt mit der Welt der 
Objekte bringt. Bei seiner Begriffsbildung, mag sie auch aus durch¬ 
aus subjektiver Quelle entspringen, hält sich der Philosoph an die 
logischen Normen des objektiven Denkens und wo er ihre Aufhebung 
fordert, bei der Bestimmung des metaphysischen Willens, als Dinges 
an sich, tut er es bewußt, indem er erklärt, die für die Welt der Er¬ 
scheinungen geltenden Normen können nicht auf das Ding an sich 
ausgedehnt werden. 

So ist es dem Philosophen möglich, trotz theoretischer 
Verleugnung der Welt, in ihr p r a k t i s c h zu leben, sie zu erkennen 
und den Kontakt mit der Realität, auch mit der sozialen, nicht zu ver¬ 
lieren. Es ist, als ob die bewußte Verallgemeinerung ihn von dem 
Schicksal des Kranken rettete. Während dieser seine Ablösung von 
der Welt offensichtlich an einer affektiven Lebenswunde beginnt, 
kehrt sich der Philosoph vom Leben ab, welches ihm in seiner Ganz¬ 
heit als Lebenswunde erscheint. 

Die Bewußtheit der Motive, der Anspruch auf Allgemeingültig¬ 
keit, also im Grunde die gewollte, erzwungene, aber nicht bis in die 

’) Die Welt als Wille und Vorstellung, I. 231. Nietzsche bemerkt, 
daß Schopenhauer die ästhetische Kontemplation als Antidotum gegen die 
sexuelle Interessiertheit, ähnlich also, wie Lupulin und Kampher empfiehlt und 
frägt „ob nicht seine Grundkonzeption von ,Wille und Vorstellung 1 der Ge¬ 
danke, daß es eine Erlösung vom ,Willen 1 durch die Vorstellung* geben könne, 
aus einer Verallgemeinerung jener Sexualerfahrung ihren Ursprung genommen 
habe.“ Zur Genealogie der Moral, p. 409. 



151 


tiefen unbewußten psychischen Schichten, geschweige denn ins Orga¬ 
nische dringende Abkehr von der Realität ermöglicht dem Philoso¬ 
phen eine konsequente und logische Systembildung, welche dem 
Schizophrenen versagt bleibt. Man kann sich den Metaphysiker 
nicht vorstellen, welcher sein System für sich allein ausspinnen 
würde, ohne jedes Bedürfnis nach allgemeinem Interesse und An¬ 
erkennung; unsere Kranken aber können ihre Systeme für sich haben, 
zu ihrer ausschließlichen Befriedigung, ohne sich um die divergente 
Realität zu kümmern, sie sind Könige und Thronfolger an und für 
sich und können so in der Anstalt eine noch so niedrige Arbeit ver¬ 
richten. Der Metaphysiker wird eben auch von kognitiven Tendenzen 
beherrscht’), er strebt nach Allgemeinheit und nach Allgemeingültig¬ 
keit der Erkenntnis, während bei dem Kranken die kognitiven Motive 
durch die affektiven gänzlich unterdrückt werden und er so in seinen 
engen Zauberkreis eingesponnen bleibt. 

So ist denn nur die unbewußte Ablösung von der Welt patho¬ 
logisch. Nicht bewußt, kann sie auch nicht konsequent sein, die 
affektbetonten Komplexe, die verdrängten Triebkomponenten werden 
um so stärker betont (in psychoanalytischer Sprache zu reden: mit 
Libido besetzt), und verzerren die Struktur der Persönlichkeit, wie 
ihr Weltbild. 

Das dem Denken eigene Streben nach Einheit muß, um sinn¬ 
gemäß zu sein, mit den Nonnen des objektiven Denkens und der 
Realität selbst rechnen. Die schizophrene Vereinheitlichung ge¬ 
schieht aber unter dem Umgehen der Normen und der gegebenen 
Realität, weswegen ihre Bildungen innerlich widerspruchsvoll und 
ohne Kontakt mit der Realität bleiben müssen. 

Es würde eine reizvolle Aufgabe sein, die Geschichte des mensch¬ 
lichen Denkens, insbesondere der Philosophie, vom Gesichtspunkte 
der verschiedenen Gestaltung der Grundbeziehung Psyche-Welt dar¬ 
zustellen; wir würden sehen, wie immer wieder eines der beiden Ele¬ 
mente überragt, wie immer wieder eine Synthese der beiden erstrebt 
wird und so dasjenige, was der unmittelbar lebende Mensch immer 
in irgendwelcher Weise verwirklicht auf bewußtem und komplizier¬ 
tem Wege gesucht wird. Um den Rahmen der Arbeit nicht zu über¬ 
schreiten, muß ich mir versagen, dieser Aufgabe nachzugehen. 

Nachdem wir den Vergleich zwischen metaphysischen und schi¬ 
zophrenen Systembildungen gezogen haben, ist es notwendig, auch 


') Vgl. darüber Heinrich Maier, 1. c 



152 


das religiöse Denken heranzuziehen, woraus sich dann allgemeine Ge¬ 
sichtspunkte zur Psychologie des Denkens ergeben werden. 

Wir haben die enge Verwandtschaft des religiösen und des 
schizophrenen Denkens gesehen, welche beide in der prälogischen 
Mentalität wurzeln. Das primitive Element schien uns auf dem Ge¬ 
biete des Glaubens und der betreffenden Praktiken von einer nicht 
hoch genug zu schätzenden Bedeutung zu sein, wir sahen in dem 
Gebet einen direkten Abkömmling des Zauberspruches und in den 
Riten das Mittel, die unzulängliche höhere Realität direkt zu beein¬ 
flussen. Die gesamte religiöse Begriffsbildung erwies sich durch¬ 
drungen von mystischen Anteilnahmen, welche die Normen des ob¬ 
jektiv gerichteten Denkens außer Acht lassen und in Wirklichkeit 
einander fremde Gebiete und Erscheinungen verbinden. Wenn der 
Gläubige jedes Ereignis auf sich beziehen kann und darin ein Zeichen 
oder eine Fügung Gottes sieht, der sich mit ihm so eingehend be¬ 
schäftigt, so ist das ohne Zweifel ein sublimierter begrifflicher Aus¬ 
druck jener hervorragenden Eigenbeziehung des Primitiven, welcher 
an der gesamten Umgebung irgendwie teilnahm und von ihr beein¬ 
flußt werden konnte. Andererseits aber läßt uns diese Attitüde an 
die Eigenbeziehung des Schizophrenen denken; auch ihm kann die 
geringste Begebenheit bedeutsam erscheinen und zu seiner Person in 
engster Beziehung stehen, auch ihm können sich gute oder schlechte 
ihn betreffende Ereignisse durch die kleinsten Veränderungen in der 
Umgebung kundgeben. 

Auch ergibt sich weitgehende Übereinstimmung zwischen der Mo¬ 
dalität, nach welcher der Gläubige seine Glaubensobjekte denkt und 
der Art und Weise, wie der Schizophrene seine Wahnobjekte mit 
Attributen ausstattet. Wenn mir der Kranke erzählt, in seinem 
Varech befinde sich eine Boa, die so groß sei, daß sie von hier (Lau¬ 
sanne) bis Genf reiche und, um mir den Widerspruch zu erklären, 
hinzufügt, die Boa befinde sich auch in den beiden Nachbarzellen: 
wenn ich bei dem Versuch, den Kranken zu einer schärferen Präzi¬ 
sierung des Gedankens zu bringen, sofort feststelle, daß er zwischen 
dem Raume, welchen die Boa einnimmt und ihrem Wirkungsgebiete 
keinen Unterschied macht und daß ihm das Ungeheuer den „esprit du 
mal“ bedeutet, so kann ich nicht umhin, diese Denkweise als eine 
typisch religiöse zu bezeichnen. In der Tat wird auch Gott zugleich 
personifiziert und als überall anwesend gedacht, auch zwischen seiner 
Person und Wirkung seiner Allmacht wird weder begrifflich noch 
räumlich scharf unterschieden; die heilige Jungfrau wirkt Wunder in 
einem bestimmten Bilde und heilt gleichzeitig Kranke in einem ande- 



153 


ren weit entfernten, ja, sie steigt von dem Bilde herab, um in die 
Geschicke der Sterblichen tätig einzugreifen 1 ). 

Bei näherem Zusehen ergibt sich, daß jeder Paranoide seinen 
Verfolger mit teilweise göttlichen oder dämonischen Attributen aus¬ 
stattet, worunter die Wirkung auf Distanz das Vornehmste bildet. 

Wir sind übereingekommen, diese tiefe Analogie des schizophre¬ 
nen und religiösen Denkens auf die in beiden festgelegte prälogische 
Mentalität zurückzuführen. Aber woher der Unterschied? Denn es 
wird doch niemandem einfallen, das schizophrene Denken dem reli¬ 
giösen gleichzusetzen. 

Der Unterschied liegt zunächst offenbar in den Resultaten und 
in dem Wert der beiden Denkweisen. Der Glaube ist im großen und 
ganzen ein hervorragender Faktor der Vergesellschaftung 1 ), er be¬ 
festigt und vertieft den Zusammenhang des Einzelnen mit der Gesell¬ 
schaft und letzten Endes mit der Welt, mit dem All. Hingegen son¬ 
dert der Wahn den Kranken von der Kollektivität ab, er ist verur¬ 
teilt, aus sich und für sich allein eine imaginäre Welt zu spinnen, 
welche sein ausschließlicher, nicht teilungsfähiger Besitz bleiben 
muß, auch wenn seine Ideen human oder gar kosmisch, seine Stre¬ 
bungen altruistisch gerichtet sind. 

Auch gestaltet sich dementsprechend das ganze Verhältnis zur 
Realität sehr verschieden. Der Gläubige kann mit der objektiven Er¬ 
fahrung ebenso gut rechnen wie der Nichtgläubige, nur ist er sich 
ihrer höheren Verwurzelung bewußt und hypostasiert gleichsam im 
Göttlichen. Alles, was ihm an der Realität theoretisch und praktisch 
unzugänglich erscheint. Der Glaube aber an sich hindert ihn nicht 
im Geringsten, sein Interesse der Welt der Objekte zuzuwenden und 
dieselbe sinn- und zweckgemäß zu beeinflussen. Denn auch wenn er 
vom Gott gar vieles erhofft und seinem innigen Gebete eine nicht 
geringe Zaubermacht zuschreibt, so weiß er sich dennoch in eine Welt 
hingestellt, wo die Kausalität nach eigenen Gesetzen waltet und wo 
den Wunsch von der Erfüllung eine aus mannigfachen kausalen Zu¬ 
sammenhängen bestehende Distanz trennt. 

Anders der Schizophrene. Ihm wird Wunsch in Realität un¬ 
mittelbar umgesetzt und sein wahnhafter Glaube sperrt die objektive 
Wirklichkeit oder deren Teile vollständig ab. So büßt er seine Zu¬ 
wendung zur Welt ein und die Geschichte seiner Krankheit besteht 

') Vgl. Maeterlinck, La soeur Beatrice. 

') Vgl. darüber Simmel, „Die Religion“ in der Sammlung der sozialen 
Monographien, herausgegeben von Martin Buber. Dürkheim, Les 
Fonne8 ölementaires de la vie r41igieuse. 



154 


zum Teil aus verzweifelten Versuchen, diese verlorene Welt zurück¬ 
zufinden. Die Auflösung seiner- Grundbeziehung geht so weit, daß er 
nicht nur den Kontakt mit der Umgebung verliert, sondern selbst die 
im Laufe der Entwicklung des menschlichen Denkens herausgearbei¬ 
teten Denknormen einbüßt. So wird er unfähig, die Wirklichkeit 
richtig zu beurteilen und subjektive Zusammenhänge von den objek¬ 
tiven zu unterscheiden. 

Dieser Abbau der Funktion, wie wir hier mit voller 
Berechtigung den krankhaften Prozeß bezeichnen können, führt not¬ 
wendigerweise zu einer Art von Betätigung, welche für die Persön¬ 
lichkeit sowie für die Gemeinschaft wertlos ist. Gewiß können die 
Produktionen des Kranken denen des Primitiven gleich sein, welcher 
ja von seinen Volksgenossen keineswegs als ein Verrückter ange¬ 
sehen wird, da sie seine Mentalität teilen. Aber eben darin liegt 
das Verhängnis des Kranken. Die Psychose löst ihn ab von der Welt 
und von der Gesellschaft, für diese ist er, muß er als abnorm gelten, 
weil er sich an die von ihr stillschweigend angenommenen und inne¬ 
gehabten Normen nicht mehr halten kann. Die Krankheit zwingt 
sein Denken zu einem Rückschlag, sie drängt es in uralte verschol¬ 
lene Formen hinein und entfremdet ihn der Welt, wie sie nun einmal 
für seine Mitmenschen gegeben ist. 

Die Tatsache aber, daß er so zu den Formen des primitiven Den¬ 
kens gelangt, welche der bestimmte Ausdruck einer Entwicklungs¬ 
stufe der Grundbeziehung waren, läßt uns einen Einblick in den 
schichtenartigen Aufbau der Psyche gewinnen. 
In der Tat lehrte uns die Betrachtung des normalen Denkens, daß 
auch darin jene prälogische Mentalität keineswegs gänzlich ver¬ 
schwunden, daß sie vielmehr nur teilweise verschüttet ist, überbaut 
von höheren Formen des objektiv gerichteten Denkens. Es ist, als 
ob die Krankheit die Grundbeziehung Psyche-Welt in ihrer aktuellen, 
normalen Gestaltung schädigte, auflöste und verschob, so daß die 
Psyche auf frühere, aufgegebene Beziehungsformen zurückgreifen 
muß, will sie sich noch überhaupt betätigen. Von diesem Gesichts¬ 
punkte aus ist es auch besonders bezeichnend, daß die Krankheit Re¬ 
missionen, ja jahrelange Besserungen gestattet, welche Heilungen 
gleichkommen. Die ganze Invasion des primitiven Denkens hört auf, 
die höheren Schichten werden wieder in ihr Recht eingesetzt und die 
normale objektiv gerichtete Grundbeziehung hergestellt. 

Eine ungeahnte Bedeutung erlangt die vergleichend historische 
Betrachtung der Psyche, wenn wir das prälogische Denken, wie es 
sich in den großen Gebieten der Religion, der Magie und des Aber- 



155 


glaubens betätigt, mit dem metaphysischen und dem objektiv gerich¬ 
teten xarifrzr/v dem Wissenschaftlichen vergleichen. Die erste Be¬ 
trachtung könnte leicht schließen, daß da große unüberbrückbare 
Distanzen vorliegen, daß vor allem der stolze auf Erfahrung gestützte 
und logisch durchgebildete Bau der Wissenschaft mit jenen primi¬ 
tiven Gebilden keine Berührungspunkte hat. Eine vertiefte Betrach¬ 
tung wird aber lehren, daß auch das wissenschaftliche Denken in 
mannigfacher Weise in der primitiven Mentalität wurzelt und daß 
somit gewisse Modalitäten der Grundbeziehung Psyche-Welt wohl 
fortgebildet, aber prinzipiell festgehalten und auf die höheren Ent¬ 
wicklungsstufen mitgenommen werden. 

Nehmen wir ein Grundgesetz des primitiven Denkens, das Gesetz 
der mystischen Anteilnahme (Formulierung siehe S. 73). In seiner 
ursprünglichen scharfen Fassung ist es naturgemäß dem wissen¬ 
schaftlichen Denken fremd, wir können uns nicht vorstellen, daß 
Gegenstände, Organismen, Erscheinungen, gleichzeitig sie selbst und 
etwas anderes sein können. Viel verständlicher erscheinen uns die 
Konsequenzen jenes Grundsatzes. Die Vermengung verschiedenarti¬ 
ger Bereiche von Erscheinungen, das Aufeinander- und Durcheinan¬ 
derwirken getrennter Kausalketten — dies alles widerspricht zwar 
unserer an begriffliche Scheidungen gewöhnten Denkweise; aber 
liegt nicht im Wesen jedes wissenschaftlich schöpferischen Strebens 
die Tendenz, verschiedenartige Erscheinungsgruppen zu vereinigen, 
sie aus einem Prinzip zu begreifen und zu erklären? Ist diese Ten¬ 
denz nicht der eigentliche Spiritus movens des wissenschaftlichen 
Schaffens? 

Und was zunächst als eine künstliche und oberflächliche Ana¬ 
logie erscheinen mag, wird einleuchtend, sobald wir die speziellere 
Betätigung des forschenden Denkens prüfen. Bekanntlich arbeiten 
wir besonders gerne mit Begriffen, welche allgemein genug gefaßt 
sind, um die mannigfaltigsten Erscheinungsgruppen einzuschließen. 
So bildet die Energie eine heutzutage selbstverständliche und 
nicht zu vermeidende Vorstellung. Wir sprechen von Energiebetäti¬ 
gung. Energieumsetzung, Energiesumme und wir können auf diese 
Begriffe nicht verzichten, trotzdem wir große Mühe hätten, eine De¬ 
finition der Energie selbst zu geben. Desgleichen wird in der Psy¬ 
chologie vielfach von psychischer Energie gesprochen und mit dem 
Begriff der Libido werden komplizierte Theorien aufgebaut, welche 
große Tatsachengruppen zusammenfassen und erklären, ohne daß es 
zurzeit möglich wäre, den Grundbegriff selbst mit genügender 
Schärfe zu umgrenzen. Und mögen die Pedanten alle solche Ver- 



156 


suche unwissenschaftlich, unkritisch und was sonst alles mehr nennen, 
sie entstehen und entwickeln sich doch und verschaffen dem Forscher 
und allen an der Forschung Interessierten eine hohe Befriedigung. 
Denn man mag noch so viel vor Hypothesen und Theorien warnen, 
eine Tatsachensammlung und Registrierung ist noch keine Wis¬ 
senschaft. 

Was hat aber dies alles mit dem primitiven Denken zu tun? Nun 
das Energieprinzip befriedigt uns, weil es große und sehr verschieden¬ 
artige Erscheinungsgebiete in ein einheitliches System bringt. Aber 
auch der Primitive hat seinen Energiebegriff, es ist der Mana des 
Melanesiers, der Wakan der Sioux, der Orenda des Irokesers. „Wenn 
der Irokese sagt, das Leben der ganzen Natur sei das Produkt der 
Konflikte, welche zwischen den ungleich verteilten Orenda verschie¬ 
dener Wesen stattfinden, da drückt er in seiner Sprache den moder¬ 
nen Gedanken aus, nach dem die Welt ein System von Kräften ist, 
welche sich gegenseitig einschränken und im Gleichgewicht halten“'). 

Dieses Prinzip erlaubt offenbar dem Primitiven, die Welt auf 
seine Art zu verstehen und zu begreifen, wie uns das Energieprinzip 
ein zusammenhängendes Weltbild ermöglicht. Wenn der Primitive 
von den magischen Wirkungen der Gegenstände durch Kontakt oder 
auf Distanz spricht, so können wir diese Übertragung der mystischen 
Kraft als ein erstes Symbol unserer Energieumsetzung auffassen. Von 
diesem Gesichtspunkte aus scheint es uns nicht mehr absurd, daß der 
Fetisch eine besondere Kraft beherbergt und sie Personen und ande¬ 
ren Fetischen mitteilen kann, denn vorausgesetzt, daß er in sich tat¬ 
sächlich besondere Energie enthält, so ergibt sich alles weitere von 
selbst. Ein Milligramm Radium ist der wunderbarste Fetisch der 
Welt. 

Wir haben zwar das Gesetz der mystischen Anteilnahme ver¬ 
lassen, aber unser Denken kann sich keineswegs mit der begrifflichen 
Scheidung verschiedener Kausalketten und Bereichen von Erschei¬ 
nungen begnügen. Immer wieder brechen die monistischen Grund¬ 
tendenzen des Denkens durch und bemächtigen sich der disparatesten 
Gebiete, welche sie von einem Prinzip durchwalten lassen. Vom 
Standpunkte der Psychologie des Denkens aus ist 
es wesentlich dasselbe, ob man die ganze Welt als 
Atman auffaßt oder ob man das einzige Heil, 
sei es in den Atomen, sei es in der Energie, sieht. 
Versucht man die psychischen Phänomene aus den chemisch physi¬ 
kalischen Hirnvorgängen abzuleiten oder sieht man in dem Gei- 


') Dürkheim, 1. c. p. 291. 



157 


stigen das allein Wirkliche, man unterliegt immer trotz der angeb¬ 
lichen, empirischen Grundlage seiner Aufstellungen den gleichen 
a priori gegebenen Tendenzen der lebenden und erkennenden Psyche. 

Es wäre naiv, diese Tendenzen zu mißbilligen, denn sie sind es, 
wie wir sahen, die das Werden der Wissenschaft bedingen, wenn sie 
es auch in ihrer verabsolutierten Betätigung ungünstig beeinflussen 
können. 

Wichtige Prinzipien der Wissenschaft verdanken ihre Formulie¬ 
rung nicht so sehr der Erfahrung, welche sie erst nachträglich bestä¬ 
tigte, als vielmehr jenem Grundstreben des Denkens nach Einheit, 
nach Identität. Es ist dies für die Prinzipien der Trägheit, der Hal¬ 
tung des Stoffes, Erhaltung der Kraft, besonders eingehend von 
Meyerson 1 ) nachgewiesen worden, wurde aber schon vielfach von 
Philosophen und Physikern ausgesprochen. Schopenhauer spricht 
von dem a priori gesichterten, weil aus der Kausalität folgenden 
Gesetz der Trägheit, Descartes leitet dieses Gesetz daraus, daß „Gott 
gar keiner Veränderung unterliegt und imm er in der gleichen Weise 
handelt“. Was das Gesetz der Erhaltung der Energie anbelangt, so 
sagt einer seiner experimentellen Begründer Joule: „Wir könnten 
a priori beweisen, solche absolute Zerstörung der lebendigen Kraft 
mV* sei unmöglich, denn es wäre augenscheinlich absurd, anzuneh¬ 
men, die Kräfte (powers), mit welchen Gott den Stoff ausstattete, 
könnten zerstört oder durch Menschenwirkung geschaffen werden; 
aber wir verfügen nicht nur über dieses eine Argument, wie sehr es 
auch für einen jeden vorurteilsfreien Verstand entscheidend schei¬ 
nen muß“*). 

Ohne Streben nach Einheit, kein Erfassen der Realität, keine 
Wissenschaft. Aber dieses Streben selbst hat notwendige Grenzen 
und so sehr es als Tendenz zum Begreifen der Wirklichkeit notwendig 
ist, so verderblich ist es als erreichtes Endergebnis. In der Tat, man 
kann die Erscheinungen ohne Vereinheitlichung nicht verstehen, aber 
man versteht sie nicht mehr, wenn man sie aus vollkommener Ein¬ 
heit ableiten will. Dem Inder ist die ganze Welt nur eine Täuschung, 
da die Vielheit nur aus dem Nichtwissen entspringen kann, während 
der Atman das einzig Wirkliche ist. Aber noch mehr: diese Einheit 
vernichtet schließlich die Realität und der Atman grenzt an das 
Nichts an. Vergebens versucht der indische Philosoph die Welt zu 
erklären und aus dem Avidya (Nichtwissen) abzuleiten. Er kann 

*) Identitö et r6alit6. Paris. 

’) Die drei Zitate nach Meyerson. 



158 


wohl dem Yogin, welcher in sich einkehrt und sich von jeder äußeren 
Realität befreit, eine großartige magische Macht über dieselbe ver¬ 
sprechen, ebenso ein divinatorisches Wissen, ohne ihm jedoch das Ge¬ 
ringste über die tatsächlichen Erscheinungen dieser Realität mitteilen 
zu können, ja zu wollen. 

Hierin liegt eine tiefe Polarität des Denkens, daß es die Realität 
einheitlich zu erfassen sucht, erfassen muß, aber daß es in unablässi¬ 
ger verabsolutierten Verfolgung dieser Tendenz die Realität ver¬ 
nichtet. 

Dies ist aber im Grunde die Polarität der Grundbeziehung 
Psyche-Welt selbst. Die Psyche lebt und entfaltet sich an der Welt 
und indem sie diese sich immer mehr zu eigen zu machen sucht, muß 
sie der selbständigen eigengesetzlichen Existenz der Realität immer 
mehr Rechnung tragen. So bemächtigt sie sich zwar der Welt, wird 
ihr aber zugleich entfremdet, distanziert. Darum muß im Grunde 
jedes objektiven Erkennens eine gewisse Unbefriedigung liegen, 
welche das subjektive Korrelat jener tatsächlich und von uns unab¬ 
hängig gegebenen Schranke Psyche-Welt bildet. 

Den Primitiven verbanden mit der Welt intime und mannigfache 
Beziehungen. So wie alles mit allem Zusammenhängen konnte, so 
war auch er in mystische Anteilnahmen aller Arten verstrickt. Dafür 
kannte er die Realität nicht, wie sie das objektiv gerichtete Denken 
kennt, aber er besaß sie in einer ganz anderen Art, als wir dies ver¬ 
mögen, denn wir haben eben von dem Baume der Erkenntnis 
genossen. 

Aber eingedenk jener uralten, unzerstörbaren Grundtendenzen 
unserer Psyche können auch wir auf den vollen Besitz nicht verzich¬ 
ten. In der Religion, in der Metaphysik, versucht der Mensch immer 
wieder die ganze Welt zu ergreifen, die Distanz zwischen sich und 
dem Kosmos aufzuheben. Nur gelingt dies keineswegs dem begriff¬ 
lichen Denken, welches auf Unterscheidung seinem Wesen nach nie 
verzichten kann. Schon in den metaphysischen Systemen sehen wir 
darum mystische Elemente und das rationalistische xa^i^ijv Ge¬ 
bäude der Ethik Spinozas gipfelt in dem Amorintellectu- 
a 1 i s D e i. 

Bewußt strebt nach der Verschmelzung mit dem Objekte der 
Mystiker; in der Extase, wo die Subjekt-Objekt-Spaltung aufgehoben 
wird, glaubt er die Realität zu schauen, wie es ihm sonst nie ver¬ 
gönnt ist. So stehen gleichsam an zwei Polen des Geistes: die ur¬ 
sprüngliche participatio mystica und die erstrebte unio 
m y 81 i c a. 



Verzeichnis der benützten Literatur. 

Abraham: Die psychosexuellen Differenzen der Hysterie und der 
Dementia praecox. Zbl. f. Neur. u. Psych. 1908, p. 521. — BergsonH.: 
Essai sur les donnöes immödiates de la conspience. Alcan, Paris. — Derselbe, 
Mattere et Memoire. Alcan, Paris. — Derselbe, Energie spirituelle. Alcan, 
Paris. — Berze: Die Schizophrenie im Lichte der Assoziations- und in dem 
der Aktionspsychologie. Allg. Ztsch. f. Psych. 1919, p. 123. — Bleuler: 
Die Schizophrenien. Aschaffenburgs Handbuch. — Derselbe, Affektivität, 
Suggestibilität und Paranoia. Marhold, Halle a. S. 1916. — Derselbe, Über 
negative Suggestibilität. Psych.-neur. Wchsch. 1904, Nr. 27/28. — Derselbe, 
Zur Theorie des schizophrenen Negativismus. Psych.-neur. -Wchsch. 1910/11, 
Nr. 18—21. — Derselbe, über die Störung der Assoziationsspannung etc. 

Allg. Ztsch. f. Psych., Bd. 74, S. 1. — Derselbe, Das autistisch undisziplinierte 
Denken in der Medizin und seine Überwindung. Springer, Berlin 1919. — Der¬ 
selbe, Schizophrenie und psychologische Auffassungen. Allg. Ztsch. f. 
Psych. 1920, p. 135. — Derselbe, Über extrakampine Halluzinationen. Psych.- 
neur. Wchsch. 1913. — Derselbe, Zur Theorie der Halluzinationen. Vortrag, 
gehalten auf der Versammlung des Schweizer Vereins für Psychiatrie am 
5. Juni 1920. — Derselbe, Das autistische Denken. Jahrb. f. Psych., IV. — 
B1 o n d e 1: La consience morbide. Alcan, Paris 1914. — B o v e n: Caractdre 
individuel et altenation mentale. Schweizer Arch. f. Neur. u. Psych., VI., 2. — 
Dar d el: Impressions d’un catatonique. Schweiz. Arch. f. Neur. u. Psych., VI., 
2. —* Deussen: Allg. Gesch. d. Philosophie. I. Bd., 1 ., 2. u. 3. Abt. die Philo¬ 
sophie der Inder. Leipzig, Brockhaus, 1894—1908. — Derselbe, Sechzig 

Upanishads des Veda. Leipzig, Brockhaus, 1897. — Dürkheim: Les 
formes 616mentaires de la vie röligicuse. Alcan, Paris 1912. — Derselbe, 
R£presentations individuelles et räprösentations collectives. Revue de Metap. 
et de Morale 1898. — Ferenczi: Introjektion und Übertragung. Jahrb. f. 
Psychoanal. — Derselbe, Über die Entwicklungsformen des Wirklichkeits¬ 
sinnes. Int. Ztsch. f. Psychoanal. 1913. — Flournoy: Une mvstique 
moderne. Arch. de Psychologie, XV., 1915. — Frazer: Le rameau d’or. 
Paris 1903. — Freud: Sämtliche Arbeiten, insbesondere aber: Kleinere 
Schriften zur Neurosenlehre, IV. Folge, 1918; Totem und Tabu; Formulierungen 
über die zwei Prinzipien des psychischen Geschehens, Jahrb. f. Psychon. III.; 
Die Traumdeutung. — Friedman: Über die Beziehung der pathol. Wahn- 
bildung zu der Entwicklung der Erkenntnisprinzipien, insbesonders bei Natur¬ 
völkern. Allg. Ztschr. f. Psych. 1896. 52. Bd. — Derselbe: Weiteres zur 
Entstehung der Wahnideen und über die Grundlage des Urteils. Mtsch. f. 
Psych. u. Neur. 1897. — Derselbe: Über Wahnideen im Völkerleben. Berg¬ 
mann, Wiesbaden. 1900/1901. — H o p p e , A.: Beitrag zur Pathologie der Er¬ 
kenntnis. Ztbl. f. Nervenk. 1908. — Derselbe: Zur logischen Grundlage der 
Psychopathologie. Ztsch. f. d. ges. Neur. u. Psych., Bd. II. Wahn und Glaube. 
Ibid. — Derselbe: Erkenntnistheoretische Fragen in der Psychopathologie. 
Psych.-Neur. Wchsch. Nr. 15/16, 1920/21. — Heveroch: Der Beziehungs¬ 
wahn und das Problem der Kausalität. Ztsch. f. Pathopsych. Bd. UI.—Hubert 
& Mau s 8: Thöorie gänörale de la magie. Ann6e sociologique. VII. 144. — Ja- 
net, P.: Les obaessions et la psychasthönie. III6me Edition. Alcan,Paris 1919.— 
Jaspers, K.: Allgemeine Psychopathologie. Berlin 1913. — Derselbe, 
Psychologie der Weltanschauungen. Berlin 1919. — Derselbe, Zur Analyse der 
Trugwahmehmung. Ztsch. f. d. ges. Neur. u. Psych., Nr. 6. — Derselbe, Über 



160 


leibhaftige Bewußtheiten. Ztsch. f. Pathopsych. 1913. — Derselbe, Referat über 
Trugwahrnehmung. Ztsch. f. d. ges. Neur. u. Psych., Ref. 4. Derselbe, 

Kausale und verständliche Zusammenhänge zwischen Schicksal und Psychose 
bei der Dementia praecox (Schizophrenie). Ztsch. f. d. ges. Neur. u. Psych. 
1913, 14. — Jung, C.: Symbole und Wandlungen der Libido. — Derselbe: 
La structure de l’inconscient. Archives de Psych., XVI., 1917. — Krae- 
pelin: Psychiatrie. VIII. Auflage, 1. Band. — Kretschmer: Die 
Willensapparate des Hysterischen. Ztsch. f. d. ges. Neur. u. Psych., 54, 1920. — 
Derselbe, Der sensitive Beziehungswahn. Berlin 1918. — Krüger: Über die 
Genese und klinische Bewertung der Trugwahrnehmungen und Wahrvorstel¬ 
lungen in ihrem Verhältnis zueinander. Ztsch. f. d. ges. Neur. u. Psych., 51. — 
L e c k y: Geschichte des Ursprunges und des Einflusses der Aufklärung in 
Europa. II. Aufl., Heidelberg 1873. — Lehmann: Aberglaube und Zauberei. 
Stuttgart 1908. — L6 vy-Bruhl: Les fonctions mentales dans les soci6t6s 
primitives. Alcan, Paris 1918. — Maier, H.: Psychologie des emotionalen 
Denkens. Tübingen 1908. — Maier, H. W.: Über katathyme Wahnbildung. 
Ztsch. f. d. ges. Neur. u. Psych., 13, 1912. — Markuszewicz: Beitrag 
zum autistischen Denken bei Kindern. Int. Ztsch. f. Psychoanal., VI., 1920. — 
Meyerson: Identite et r^alite. Paris. — v. Monakov: Biologie und 
Psychiatrie. Schweiz. Arch. f. Neur. u. Psych., IV., 1, 2. — Morel: Essai 
sur l’introversion mystique. Geneve 1918. — v. M u r a 11: Ein geistes¬ 
kranker Philosoph. Schweiz. Archiv für Neur. und Psych., VI., 2. — 

M u r i s i e r: Les maladies du sentiment räligieux. Pari» 1903. — 

Nietzsche: Zur Genealogie der Moral. Menschliches — Allzumensch¬ 
liches. Leipzig. — Preißig: Note sur le langage chez des alignäs. 
archives de psych. t. X. 1911. p. 91. — Preuß: Der Ursprung der Religion 
und Kunst. Globus 86/87. — R e i k: Probleme der Religionspsychologie. Int. 
psychonal. Verlag, Wien 1919. — R e p o n d: Über die Beziehungen zwischen 
Parästhesien und Halluzinationen, besonders bei deliriösen Zuständen. Mtseh. 
f. Psych. u. Neur. Bd. 38. Heft 4. — R i b o t: La logique des sentiment«. — 
Derselbe: Essai sur les passions. — Derselbe: Psychologie des Senti¬ 
ments. Paris. — R o h d e: Psyche. II. Aufl. Tübingen 1898. — Schil¬ 
der, P.: Selbstbewußtsein und Persönlichkeitsbewußtsein. Berlin 1914. — 
Derselbe: Wahn und Erkenntnis. Berlin 1918. — Schilder u. Weid¬ 
ner: Über symbolähnliche Vorstellungen im* Rahmen der Schizophrenie. 
Mtschr. f. d. ges. Neur. u. Psych. 1914. 26. Schopenhauer: Werke. 

Hrsgg. v. Frauenstädt. — S i 1 b e r e r: Zur Symbolbildung. Jahrb. f. Psych. 
HI. IV. — Derselbe: Bericht über eine Methode, gewisse Halluzination s- 
erscheinungen hervorzurufen unu zu beobachten. Ibid. I. — Derselbe: 
Symbolik des Erwachens und Schwellensymbolik überhaupt. Ibid. HI. — 
Derselbe: Die Probleme der Mystik und ihrer Symbolik. Wien. — Sim¬ 
mel: Hauptprobleme der Philosophie. Leipzig 1913. — Derselbe: Die Reli¬ 
gion. Die Gesellschaft — Sammlg. soziolog. Monogr., hrsgg. v. Martin Buber. —• 
Specht: Zur Phänomenologie u. Morphol. d. pathol. Wahrnehmungstäuschun- 
gen. Ztschr. f. Pathopsych. 1913/14. — Stern, W.: Die Analogie im volks¬ 
tümlichen Denken. Diss. Berlin 1893. — Stöcker: Zur Genese der Hallu¬ 
zinationen. Ztschr. f. d ges. Neur. u. Psych. 50. — S t o 11: Suggestion und 
Hypnose in der Völkerpsychologie. Leipzig 1894. — S u 11 y: Etudes sur 
l’enfance. — Queyrat: La logique chez Penfant. Paris 1902. — W u n d t 
W.: Elemente der Völkerpsychologie. Leipzig 1913. 



| l CU o 

aShäNDLUNGTEN AUS DER NEUROLOGIE, 
PSYCHIATRIE, PSYCHOLOGIE UND IHREN 
GRENZGEBIETEN 

5HHEFTE ZUR MONATSSCHRIFT FÜR PSYCHIATRIE UND NEUROLOGIE 
HERAUSGEGEBEN VON K. BONHOEFFER 


HEFT 22 


(Aus der Psychiatrischen und Nervenklinik der Universität in Frankfurt a. M. 
[Direktor: Prof. Dr. Kleist)) 


Der Selbstmord 


Privatdozent Dr. med. R. Weichbrodt 


■ 

S.IL 


BERLIN 1923 

VERLAG VON S. KARGER 

KARLSTRASSE 15, 







Medizinischer Verlag von S. Karger in Berlin NW. 6 


In den 

Abhandlungen aus der Neurologie, Psychiatrie, 
Psychologie und ihren Grenzgebieten 

Beiheftez. Monatsschrift für Psychiatrieu.Neurologie, sind bisher erschienen; 
Heft 1: Typhus und Nervensystem. Von Prof. Dr. Georg Stertz in 
Breslau. (Vergri ffen.) 

Heft 2: Ueber die Bedeutung von Erblichkeit und Vorgeschichte 
für das klinische Bild der progressiven Paralyse. Von Dr. 

J. Pernet in Zürich. (Vergriffen.) 

Heft 3: Kindersprache und Aphasie. Gedanken zur Aphasielehre auf 
Grund von Beobachtungen der kindlichen Sprachentwickelung und 
ihrer Anomalie.. Von Priv.-Doz Dr. Emil Fröschels in Wien. Mk.5.50 
Heft 4: Epilepsie und Dementia praecox. Von Professor Dr. W. 

Vorkastner in Greifswald. Mk. 5.— 

Heft 5: Forensisch-psychiatrische Erfahrungen im Kriege. Von Priv^- 
Doz. Dr. W. Schmidt in Heidelberg. Mk. 8.— 

Heft 6: Verbindung endogener und exogener Faktoren in dem 
Symptomenbilde und der Pathogenese von Psychosen. Von 
Priv.-Doz. Dr. Hans Seelert in Berlin. Mk. 3.50 

Heft 7: Zur Klinik und Anatomie der reinen Worttaubheit, der 
Heilungsaphasie und der Tontaubheit. Von Priv.-Doz. Dr. Otto 
Pötzl in Wien. Mit zwei Tafeln. Mk. 4.— 

Heft 8: Die Spielbreite der Symptome beim manisch-depressiven 
Irresein. Von Prof. Dr. P. Schröder in Greifswald. Mk. 3.— 
Heft 9: Die symptomatischen Psychosen und ihre Differential¬ 
diagnose. Von Priv.-Doz. Dr. Hans Krisch in Greifswald. Mk 2.25 
Heft 10: Die AbderhaldenscheReaktion raitbes.BerücksichtigungihrerEr¬ 
gebnisse i.d.Psychiatrie. Von Priv.-Doz. Dr.G.E wa Id in Erlangen. Mk.9.— 
Heft 11: Der extrapyramidale Symptomenkomplex (das dystonische 
Syndrom) und seine Bedeutung in der Neurologie. Von Prof. 
Dr. G. Stertz in München, (Vergriffen.) Mk. 6.— 

Heft 12: Der anethische Symptomenkomplex. Eine Studie zur Psycho¬ 
pathologie d. Handlung. Von Priv.-Doz. Dr. 0. Albrechtin Wien. Mk. 4.— 
Heft 13: Die neurologische Forschungsrichtung in der Psychopatho¬ 
logie und andere Aufsätze. Von Prof. Dr. A. Pick in Prag. Mk. 8.— 
Heft 14: Ueber die Entstehung der Negrischen Körperchen. Von 
Prof. Dr. L. Benedek und Dr. F. O. Porsche in Kolozsvar. Mit 
10 Tafeln. Mk. 8.- 

Heft 15: Ueber die Bedeutung und Entstehung der Stereotypien. 

Von Priv.-Doz. Dr. Jakob Kläsi in Zürich. Mk. 1.50 

Heft 16: Ueber Psychoanalyse. Von Dozent Dr. R Aller s in Wien. Mk. 2.— 
Heft 17: Die Zergliederung des psychischen Krankheitsbildes bei 
Arteriosklerosis-cerebrl. Von Nervenarzt Dr. S. J. R. de Monchy 
in Rotterdam. Mk. 2.— 

Heft 18: Epilepsie und manisch-depressives Irresein. Von Dr. Hans 
Krisch in Greifswald. Mk. 2 — 

Heft 19: Ueber die paranoiden Reaktionen in der Haft* Von Dr. 

W. Försterling in Landsberga d. W. Mk. — 

Heft 20: Dementia praecox, intermediäre psychische Schicht und 
Kleinhirn - Basalganglien - Stirnhirnsysteme. Von Priv.-Doz. 
Dr. Max Loewy in Prag-Marienbad. Mk. —.— 

Heft 21: Metaphysik und Schizophrenie. Eine vergleichende psycho¬ 
logische Studie. Von Dr. G. Bychowski in Warschau Mk. — .— 
Heft 22: Der Selbstmord. Von Priv.-Doz. Dr. med. R. Weichbrodt in 
Frankfurt a. M. Mk. —.— 


Die Abonnenten der „Monatsschrift für Psychiatrie und Neurologie“ 
erhalten diese Abhandlungen zu einem um 20 °l 0 ermäßigten Preise. 


Die obigen Preise sind Grundpreise, die nach dem jeweiligen Umrechnungsschlüssel verviel¬ 
facht, die jeweiligen Verkaufspreise ergeben. Pür das Ausland gelten obige Preise In 
Schweizer Pranken als Verkaufspreise, ohne jeden Aufschlag; mit Ausnahme des Portos. 




ABHANDLUNGEN AUS DER NEUROLOGIE, 
PSYCHIATRIE, PSYCHOLOGIE UND IHREN 
GRENZGEBIETEN 

BEIHEFTE ZUR MONATSSCHRIFT FÜR PSYCHIATRIE UND NEUROLOGIE 
HERAUSGEOEBEN VON K. BONHOEFFER 

~ - HEFT 22 


(Aus der Psychiatrischen und Nervenklinik der Universitäi in Frankfurt a. M. 
[Direktor: Prof. Dr. Kleist]). 


Der Selbstmord. 

Von 

Privatdozent Dr. med. R. Weichbrodt. 




BERLIN 1923 

VERLAG VON S. KARGER 

KARLSTRASSE 15. 



Alle Rechte Vorbehalten 



Druck von Ernst Klöppel in Quedlinburg 


-i 

\ 






Dem Andenken Emil Siolis 




In seiner umfassenden Arbeit sagt G. v. M a y r über den Begriff 
des Selbstmords: „Unter Selbstmord begreift man die akuten Einzel¬ 
fälle des beabsichtigten, vorzeitigen Scheidens von Menschen aus 
dem Kreise der Lebenden, möge diese Absicht vom Täter in geistes¬ 
gesundem oder geisteskrankem Zustande verwirklicht worden sein.“ 
Den eingebürgerten Ausdruck „Selbstmord“ zugunsten des neuzeitlich 
gebrauchten Ausdrucks „Selbsttötung“ aufzugeben, trage er Bedenken. 
In der Tat wird in neuester Zeit versucht, das Wort „Selbstmord“, 
bei dem einem ein Schauem durch die Knochen riesele, durch das 
Wort „Selbsttötung“ zu ersetzen. Ein Mord wäre, wie Rudolf Krauß 
ausführt, nach modernem Rechtsgefühl das unverzeihlichste aller Ver¬ 
brechen, ein Mörder der verabscheuungswürdigste, mit der schwersten 
gesetzlichen Strafe bedrohte Bösewicht. Und mit einem solchen werde 
durch einen sprachlichen Unfug ein Mensch auf dieselbe Stufe gestellt, 
der freiwillig aus dem Leben scheide, weil ihm seine Bürde zu schwer 
geworden sei. Rudolf Krauß weist darauf hin, daß in der deutschen 
Literatur das Wort „Selbstmord“ erst seit der Mitte des 17. Jahr¬ 
hunderts nachweisbar sei, in der älteren Sprache sei noch von „Selbst- 
*°d“ die Rede. Kant und Novalis hätten auch später nur von 
«Selbsttötung“ gesprochen. Krauß schlägt vor, hinfort nur von 
»Freitod“ zu reden. Sicherlich hat die juristische Definition, die 
unter Mord eine vorsätzliche Tötung mit Überlegung versteht, bei der 
Einbürgerung der Bezeichnung „Selbstmord“ den Ausschlag gegeben, 
über man muß bedenken, worauf B i n d i n g wieder hinweist, daß 
keinem Selbstmörder und keinem seiner Beurteiler auch nur von ferne 
e 'nfäUt, in der Selbsttötung eine verbotene Handlung zu erblicken 
un< ^ diese wirklich qualitativ auf eine Linie mit Mord und Totschlag 
** stellen. 

Dem Problem des Selbstmords sind von theologischer, philo- 
8 °phischer, nationalökonomischer und vor allem medizinischer Seite 
ff r oße Abhandlungen gewidmet worden, und mit heißem Bemühen ist 
v ° ö verschiedener Seite die Analyse der Selbstmörderpsyche an- 
ffestrebt worden. Wer aber zu den Schriften der alten Autoren greift, 
det die alte Weisheit Goethes bestätigt: „Wer kann was Dummes, 

was Kluges denken, das nicht die Vorwelt schon gedacht.“ 
e Ansicht, daß der Selbstmord fast immer ein Zeichen geistiger 



2 


Störung sei, hat schon vor 100 Jahren £ s q u i r o 1 ausgesprochen, 
und die Meinung, daß der Selbstmord eine Erscheinung der Mono¬ 
manie sei, stammt nicht von den Franzosen, sondern schon im Jahre 
1783 hat sie der Deutsche Auenbrugger veröffentlicht, der schon 
damals erkannt hatte, wie sehr man bei der Melancholie auf die Ver¬ 
hütung des Selbstmordes Bedacht haben müsse. Auch die anato¬ 
mische Richtung, die jetzt auf Heller zurückgeführt wird, ist viel 
älter. Schon im Jahre 1792 hat Elvert auf die körperlichen Ur¬ 
sachen und die Prädisposition beim Selbstmorde hingewiesen; einige 
Jahre nach ihm tat es Osiander, der als erster Vorträge über 
den Selbstmord hielt. Wir finden diese historischen Tatsachen in dem 
Buche von P1 a c z e k „Selbstmordverdacht und Selbstmordverhü¬ 
tung“ zusammengestellt. Wenn trotz so vieler Arbeiten über das 
Selbstmordproblem diesem Problem von neuem Beachtung geschenkt 
werden soll, so kann man sich wieder an Goethe halten, der im 
13. Buch von Dichtung und Wahrheit sagt: „Der Selbstmord ist ein 
Ereignis der menschlichen Natur, welches, mag darüber schon so viel 
gesprochen und gehandelt sein, als da will, doch einen jeden Men¬ 
schen zur Teilnahme fordert, in jeder Zeitepoche wieder verhandelt 
werden muß. Es wäre etwas Unnatürliches, daß der Mensch sich von 
sich selbst losreiße, sich nicht allein beschädige, sondern vernichte; 
jener Ekel vor dem Leben habe seine physiologischen und seine sitt¬ 
lichen Ursachen, jene solle man dem Arzte, diese dem Moralisten zu 
erforschen überlassen.“ Wenn man die nichtmedizinische Literatur 
Über den Selbstmord durchsieht, so findet man es oft so dargestellt, 
als ob die Selbstmordhäufigkeit ein Gradmesser der Kultur und der 
Moralkraft eines Volkes wäre. Man stößt häufig auf die Ansicht, 
daß die Religionslosigkeit, Literatur und Kunst, die Presse schuld 
daran wären, daß die Selbstmorde Btändig zunähmen. So schreibt 
Masaryk in seinem Buche „Der Selbstmord als soziale Massen¬ 
erscheinung der modernen Zivilisation“: „Da wir mit Recht an¬ 
nehmen, daß sich alle zivilisierten Völker der Gegenwart aus dem 
Naturzustand allmählich entwickelt haben, und die krankhafte Selbst¬ 
mordneigung bei Naturvölkern gar nicht, bei den zivilisierten aber 
in hohem Grade vorhanden ist, so folgt, daß sich bei allen Völkern 
mit fortschreitender Entwicklung die krankhafte Selbstmordneigung 
allmählich entwickelt; die soziale Massenerscheinung des Selbstmords 
ist die Frucht des Fortschritts, der Bildung, der Zivilisation.“ Soll 
wirklich RousseausWort von dem Sitten verderbenden Einfluß der 
kulturellen Vervollkommnung Wahrheit sein? Sollen wirklich die 
epochalen Leistungen menschlichen Forschergeistes nur den sittlichen 



3 


Verfall der Menschheit besiegeln? Die historische Forschung zeigt 
uns, daß zu allen Zeiten unter allen Völkern der Selbstmord bekannt 
war, wenn auch bei denen monotheistischer Religion seltener als 
bei anderen. 

Bei den alten Juden war der Selbstmord selten. Man findet einen 
Namen für „Selbstmord“ und „Selbstmörder“ in der Bibel nicht, ein 
Beweis, daß der Selbstmord bei den Juden kein Heim gefunden hat. 
Die 24 Bücher der heiligen Schrift, die die Geschichte eines Zeit¬ 
raumes von ungefähr tausend Jahren umfassen, kennen nur 4 Selbst¬ 
morde. Erst als die Juden in stärkere Berührung mit anderen 
Völkern gekommen waren und vieles kennen und nachahmen ge¬ 
lernt hatten, was Sitten und Gebräuche der Väter femgehalten 
hatten, treten Selbstmorde bei ihnen auf. Der Talmud spricht dann 
von Selbstmord als bewußter und absichtlicher Selbstvemichtung, 
und der Selbstmörder wird bezeichnet als der absichtliche und be¬ 
wußte Selbstvemichter. Nicht als Selbstmord galt der des Unzu¬ 
rechnungsfähigen, d. h. des Wahnsinnigen, des Gemütskranken, des 
Trunkenen, des Unmündigen, ferner des im Kriege sich Befindenden 
nach unglücklichem Ausgang eines Kampfes, wo ihm der Tod durch 
Feindeshand bevorstand. Erst zur Zeit der Zerstörung Jerusalems 
hören wir von häufigen Selbstmorden unter den Juden, und Jo¬ 
se p h u s, der sich später tötete, als ihm der Tod vom Feinde be¬ 
vorstand, fühlte sich damals veranlaßt, mit Eifer gegen den Selbst¬ 
mord zu sprechen: „Warum eilen wir so sehr, unser eigenes Blut 
zu vergießen? Warum wollen wir das innigste Band gewaltsam 
zerreißen, das Band zwischen Leib und Seele? ... Ist doch der 
Selbstmord überall, in der ganzen Natur, allem, was da lebt, fremd 
und ein Frevel gegen Gott, unseren Schöpfer. Es gibt kein Her, 
das absichtlich sich selbst tötet . . .“ 

Auch unter den Griechen herrschte in der frühesten Zeit kein 
besonderer Hang zum Selbstmord. Die griechischen Philosophen 
verwarfen ihn von verschiedenen Grundsätzen aus. Aristoteles 
verwarf ihn als unsittlich nicht gegen sich, sondern gegen den Staat. 
E p i k u r fand es lächerlich, sich aus Lebensüberdruß zu töten. Die 
erste philosophische Schule, die als Grundsatz bekannte, daß der 
freiwillige Ausgang aus dem Leben nicht nur in manchen Fällen 
erlaubt, sondern auch eine Tugend sei, war die stoische. Zeno 
bängte sich im hohen Alter auf, als er sich bei einem Fall den Finger 
brach. Das Volk errichtete ihm ein Ehrendenkmal mit der Auf¬ 
schrift: „Sein Leben stimmte mit seinen Lehren überein.“ 



4 


In Ägypten predigte Hegesias, ein Schüler Aristipps, mit 
solchem Erfolge den Selbstmord, daß der damalige König Ptolemäus 
einschritt und ihm verbot, die Lehre weiter vorzutragen. 

Bei den Römern war die Selbstmordneigung anfangs ebenfalls 
nicht groß. Der politische und religiöse Emst, die Strenge, mit der 
sie den einzelnen an seine Pflichten gegen das Gemeinwesen und 
gegen die Götter mahnten, ließen nicht zu, mit dem eigenen Leben 
zu spielen. Wie N i e b u h r zeigt (zitiert bei H i r z e 1), verdammte 
die Religion der Römer die Selbstmörder und versagte ihnen ehr¬ 
liches Begräbnis und Totenfeier. Nach H i r z e 1 verordneten die 
Bücher der Pontifizes, daß wer sich erhängt hatte, nicht bestattet 
werden durfte; ja noch weiter habe der am Selbstmord haftende 
Makel gereicht, indem auch, wer sich selbst auf den Tod verwundet 
habe, dem Büttel gleichgeachtet worden sei. Aber die Religion und 
ihre Vertreter hätten keine rechtliche Macht gehabt, die Anerkennung 
dieses Makels, den sie als solchen erklärten, auch andern abzunötigen 
und die Erlegung von Bußen, das Dulden von Strafen zu erzwingen. 
Durch die griechische Kultur und Philosophie wurden auch ihre An¬ 
schauungen über den Selbstmord sehr beeinflußt. Die Ansicht der 
Stoiker fand bei ihnen sehr großen Anhang; so pries es S e n e c a , 
daß die Natur dem Menschen nur einen Eingang ins Leben, aber 
mehrere Ausgänge aus dem Leben gelassen habe: 

„Kommt das Unglück allzuschwer, so kann der Mensch jeden 
Augenblick aus dem Leben scheiden. Die Tür ist offen. Wer nicht 
länger bleiben will, der kann gehen. 

Siehst du jenen Steilabhang? Dort hinab geht’s in die Freiheit! 
Siehst du jenes Meer, jenen Fluß, jenen Bmnnen? Auf ihrem Grunde 
wohnt die Freiheit! Siehst du jenen kleinen, dürren, verkrüppelten 
Baum? An ihm hängt die Freiheit! . . . Fragst du nach dem 
leichtesten Weg zur Freiheit — jede Ader deines Körpers ist ein 
solcher Weg!“ 

Nach S e n e c a mache es nichts aus, früher oder später zu ster¬ 
ben, wohl aber, gut oder übel zu sterben. Gut sterben heiße, der 
Gefahr, übel zu leben, zu entgehen. Wie außerordentlich häufig zeit¬ 
weise der Selbstmord bei den Römern gewesen sein muß, geht aus der 
Bemerkung des T a c i t u s über den Selbstmord des Lucius Piso, des 
Präfekten von Rom, hervor, er sei eines natürlichen Todes gestorben. 
Durch das Christentum wurden die Anschauungen der Römer über 
den Selbstmord geändert. 

Bei den Germanen töteten sich häufig alte Leute bei herannahen¬ 
dem Siechtum, bei den Herulern durfte das Weib den Mann nicht 



5 


überleben; diese Selbstmorde, wie auch die der indischen Witwen bei 
dem Tode ihres Gatten und der indischen Diener bei dem Tode ihres 
Herrn sind als Volkssitten allerdings anders zu werten, als die 
eigentlichen Selbstmorde. 

Die monotheistischen Religionen verabscheuen und brandmar¬ 
ken als Verbrechen den Selbstmord, nur wenige Kirchenlehrer, z. B. 
Eusebius, Chrysostomus, Hieronymus geben den 
Selbstmord für den Fall zu, daß die Unschuld in Gefahr stehe. Auch 
Mohammed hat im Koran Sura 4 den Selbstmord ausdrücklich 
verboten: „Seid keine Selbstmörder, wer aber gegen dieses Verbot 
handelt, den wird das Feuer der Hölle verzehren.“ 

Im Mittelalter soll infolge des kirchlichen Einflusses der Selbst¬ 
mord sehr selten gewesen sein. Wohl wurde das Leben von vielen 
verneint, die sich in Klöster zurückzogen, nicht aber der Wille zum 
Leben. Wir hören aber, daß unter den Frauen der Priester, die durch 
die Einführung des Zölibats von ihren Männern verlassen werden 
mußten, der Selbstmord sehr häufig gewesen sein soll. 

Zitieren wir noch kurz einige Ansichten über den Selbstmord von 
Philosophen und Dichtem des 18. und 19. Jahrhunderts. Kant be¬ 
trachtet die Selbsttötung als eine unsittliche Handlung, diese Tat sei 
eine Herabwürdigung der Menschheit in unserer Person. Schopen¬ 
hauer ist der Ansicht, daß der Selbstmord der Erreichung des 
höchsten moralischen Zieles entgegenstehe, indem er der wirklichen 
Erlösung aus dieser Welt des Jammers eine bloß scheinbare unter¬ 
schiebe. Er lehnt es aber ganz entschieden ab, den Selbstmord als 
ein Verbrechen zu erklären, und meint, man verurteile den Selbst¬ 
mord, um nicht vom Selbstmord verurteilt zu werden. Schon Scho¬ 
penhauer weist darauf hin, daß wir auf dem Theater, dem Spiegel 
des Lebens, edle Charaktere durch Selbstmord enden sehen, ohne daß 
es uns einfiele, zu meinen, sie begingen ein Verbrechen. 

Nietzsche schreibt in Zarathustra: „Meinen Tod lobe ich 
euch, den freien Tod, der mir kommt, weil ich will“, und an anderer 
Stelle (Menschliches, Allzumenschliches, n. Teil) heißt es bei ihm: 
„Was ist vernünftiger, die Maschine still zu stellen, wenn das Werk, 
daß man von ihr verlangte, ausgeführt ist, — oder sie laufen zu las¬ 
sen, bis sie von selber stille steht, das heißt, bis sie verdorben ist? 
Ist letzteres nicht eine Vergeudung der Unterhaltungskosten, ein 
Mißbrauch mit der Kraft und Aufmerksamkeit des Bedienenden? 
Wird hier nicht weggeworfen, was anderswo sehr not täte? Wird 
nicht selbst eine Art Mißachtung gegen die Maschinen überhaupt 
verbreitet, dadurch, daß viele von ihnen so nutzlos unterhalten und 


Weichbrod t, Der Selbstmord. (Abhandl. H. 22.) 



6 


bedient werden? — Ich spreche vom unfreiwilligen (natürlichen) und 
vom freiwilligen (vernünftigen) Tode. Der natürliche Tod ist der 
von aller Vernunft unabhängige, der eigentlich unvernünftige Tod, 
bei dem die erbärmliche Substanz der Schale darüber bestimmt, wie 
lange der Kern bestehen soll oder nicht: bei dem also der verküm¬ 
mernde, oft kranke und stumpfsinnige Gefängniswärter der Herr ist, 
der den Punkt bezeichnet, wo sein vornehmer Gefangener sterben 
soll. Der natürliche Tod ist der Selbstmord der Natur, das heißt die 
Vernichtung des vernünftigen Wesens durch das unvernünftige, 
welches an das erstere gebunden ist. Nur unter der religiösen Beleuch¬ 
tung kann es umgekehrt erscheinen: weil dann, wie billig, die höhere 
Vernunft (Gottes)- ihren Befehl gibt, dem die niedere Vernunft sich 
zu fügen hat. Außerhalb der religiösen Denkungsart ist der natür¬ 
liche Tod keiner Verherrlichung wert. — Die weisheitsvolle Anord¬ 
nung und Verfügung des Todes gehört in jene jetzt ganz unfaßbar 
und unmoralisch klingende Moral der Zukunft, in deren Morgenröte 
zu blicken ein unbeschreibliches Glück sein muß.“ 

Giacomo Leopardi verteidigt ebenfalls den Selbstmord, 
und in dem Gedichte „Brutus, der Jüngere“ (ins Deutsche übersetzt 
von Hamerling) klagt er: 

„Schuldunbewußt, unkundig eignen Leides 
Hinleben stets die Tiere, 

Die Glücklichen; zum ungeahnten Ziele 

Führt sie gemach die Zeit. Doch wenn es einem 

Von ihnen je, vom Schmerz bedrängt, gefiele, 

Freiwillig zu zerschmettern sich die Glieder, 

Kein innrer Zwiespalt würde, kein geheimes 
Gesetz Einspruch erheben 
Je gegen solchen Drang. Euch nur von allen 
Geschlechtern, die da leben, euch, den Söhnen 
Prometheus, wird zum Überdruß das Leben, 

Und euch allen auch immer 

Verbeut ein Götterwille 

In Leid den Pfad zu heiliger Todesstille.“ 

Neben Lenau, dem Klassiker des Weltschmerzes (Der Selbst¬ 
mord), finden wir. auch bei FriedrichTheodorVischer den 
Selbstmord bejaht. In seinem Gedichte „Der Erste“ preist Vischer 
den Mann, der diese große, geradzu erhabene Idee, das Leben von sich 
zu werfen, zum ersten Male gehabt habe: 


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7 


„Dich möcht’ ich kennen, stolzer Göttersohn, 

Der du zuerst in ungeheurem Schmerz, 

Dem ewigen Fluch, der blassen Furcht zum Hohn, 

Den Stahl gezücket auf das eigene Herz. 

Der du zuerst geboren und erfaßt 

Den Wutgedanken, den kein Mensch noch trug. 

Von sich zu schleudern dieses Lebens Last.“ 

In seinen Tagebüchern äußert sich Hebbel verschiedentlich 
über den Selbstmord: „Selbstmord setzt noch nicht Lebenshaß vor¬ 
aus.“ „Selbstmord ist immer Sünde, wenn ihn eine Einzelheit, nicht 
das Ganze des Lebens veranlaßt.“ „Gott gab dem Menschen die 
Fähigkeit, die Welt zu verlassen, weil er ihn nicht gegen die Erniedri¬ 
gung der Welt schützen konnte.“ 

Diese wenigen Beispiele zeigen, daß im 18. und 19. Jahrhundert 
die Anschauungen über den Selbstmord, beeinflußt durch H u m e, 
Montesquieu und vor allem Rousseau, dessen Beziehungen 
zu Friedrich dem Großen diesen zu dem Reskript veranlaß- 
ten, die Selbstmordstrafe in Preußen aufzuheben, bei vielen Philoso¬ 
phen und Dichtern nicht mehr die der Kirche waren. 

Eine Statistik über die Selbstmorde in den europäischen Staaten, 
die erst ein objektives Urteil über die Häufigkeit der Selbstmorde er¬ 
laubt, haben wir erst seit ungefähr 100 Jahren. Diese Statistik be¬ 
weist uns, daß die Selbstmorde ständig zunehmen. Eine Zusammen¬ 
stellung z. B. der Selbstmorde in Preußen, Bayern und Sachsen aus 
den Jahren 1836 bis 1910 führt es uns deutlich vor Augen, wobei zu 
berücksichtigen ist, daß die Bevölkerung nur um ungefähr 40 Pro¬ 
zent wuchs. 


Jahr 

Preußen 

Bayern 

Sachsen 

1836 

1446 

— 

162 

1850 

1736 

282 

390 

1860 

2105 

419 

548 

1870 

2963 

452 

657 

1880 

4769 

688 

1171 

1890 

5978 

661 

1066 

1900 

6660 

885 

1282 

1910 

8179 

1047 

1573 


Diese starke Zunahme der Selbstmorde finden wir aber nicht nur 
in deutschen Bezirken, sondern, wie die Zusammenstellung K r o s e s 
zeigt, in allen europäischen Staaten; so stiegen in den Jahren 1870 bis 



8 


1900 die Selbstmorde in Österreich von 1560 auf 4215, in Italien von 
836 auf 2040, in Frankreich von 4490 auf 8926, in England von 1495 
auf 2896, in der Schweiz von 321 auf 746, in Belgien von 367 auf 786, 
in Dänemark allerdings nur von 505 auf 550 und in Irland von 112 
auf 118; in Norwegen allein sehen wir eine geringe Abnahme, von 
128 auf 117; also in fast allen europäischen Staaten ein enormes An¬ 
steigen der Selbstmorde. Berechnen wir die Selbstmorde auf eine 
Million Einwohner, so sehen wir deutlich die Unterschiede in der 
Selbstmordneigung der verschiedenen Völker; es kommen in Däne¬ 
mark 244, in der Schweiz 225, in Frankreich 222, in Deutschland 
207, in Rußland jedoch nur 31 und in Spanien sogar nur 21 Selbst¬ 
morde auf eine Million Einwohner. Auch in denselben Staaten zei¬ 
gen sich zwischen verschiedenen Gebieten große Differenzen; so 
haben wir z. B. in Deutschland auf eine Million Einwohner berechnet 
im Liegnitzer Bezirk 389 und im Aachener Bezirk nur 57 Selbst¬ 
morde. 

Der Selbstmord ist auch bei der städtischen Bevölkerung häufi¬ 
ger als bei der agrarischen. Bei den häufigen Selbstmorden in den 
großen Städten darf man aber nicht vergessen, daß viele Stadtfremde 
sich in der Großstadt das Leben nehmen; würde man ferner bei allen 
Selbstmördern der Großstädte die Geburtsorte berücksichtigen, so 
würde man zu ähnlichen Befunden wie K u e r t e n kommen. Nach 
Kuerten waren in den Jahren 1896—1898 in Dresden 14,5 bis 
22,4 Prozent der Selbstmörder Stadtfremde, in Leipzig hatten aus 
den Jahren 1890—1910 von den Selbstmördern 11 Prozent der Män¬ 
ner und 7,2 Proz. der Frauen ihren Wohnsitz nicht in Leipzig. An¬ 
ders lägen aber die Verhältnisse für Leipzig, wenn man die Selbst¬ 
mörder nach der Gebürtigkeit unterschiede. Während nach der 
Volkszählung vom Jahre 1900 in Leipzig 55,17 Prozent der Männer 
und 54,88 Prozent der Frauen außerhalb Leipzigs geboren waren, 
waren es von den Selbstmördern 75,7 Prozent der Männer und 78,03 
Prozent der Frauen; unter den Selbstmördern also ist der Prozent¬ 
satz der Nichtortsgebürtigen bedeutend größer als unter der Gesamt¬ 
einwohnerschaft. Demnach wären es also weniger die zugereisten 
Selbstmörder, die die Selbstmordziffer der Städte erhöhten, als viel¬ 
mehr solche Fremde, die sich bereits kürzere oder längere Zeit in der 
Stadt aufgehalten hätten. 

Was den Beruf und damit oft untrennbar das Milieu betrifft, so 
bestehen unverkennbare Einflüsse auf die Selbstmordhäufigkeit. 
Handel und Gewerbe stellen die meisten Selbstmörder, auffallend 
häufig ist die Selbstmordneigung der Dienstmädchen; Bergbau, Hüt- 




9 


ten- und Salinenwesen haben die geringste Selbstmordhäufigkeit. Es 
sind nicht die Ärmsten, Tiefstehendsten, Ungebildetsten, die sich vor¬ 
wiegend das Leben nehmen, sondern mehr Gebildete und Höher¬ 
stehende, also nicht die, die nicht mehr sinken können, sondern vor 
allem die, die herabgleiten oder herabzugleiten fürchten. So sehen 
wir auch in Gefängnissen mehr Selbstmorde als in Zuchthäusern. 

Eine besondere Betrachtung verlangen die Selbstmorde der Sol¬ 
daten. Nach den vorliegenden Statistiken haben sich die Soldaten 
viel häufiger das Leben genommen als dieselben Altersklassen der 
Zivilbevölkerung. Besonders hoch war die Selbstmordhäufigkeit in 
der österreichischen Armee, dort nahmen sich ungefähr 8mal so viel 
Soldaten als gleichaltrige Zivilisten (auf 1 Million Männer der Alters¬ 
klasse berechnet) das Leben. Auch in Deutschland war der Selbst¬ 
mord unter den Soldaten weit häufiger als unter den gleichaltrigen 
Zivilpersonen. War auch hier in den letzten Jahren eine deutliche 
Abnahme der Soldatenselbstmorde zu bemerken, so war die Selbst¬ 
mordhäufigkeit der Soldaten immerhin noch ungefähr doppelt so groß, 
wie die der gleichaltrigen Zivilpersonen. Es gab deutliche Unter¬ 
schiede zwischen den einzelnen Armeekorps, die nicht durch die ver¬ 
schiedene Selbstmordneigung der verschiedenen deutschen Bezirke 
bedingt sein konnten, obwohl diese verschiedene Selbstmordneigung 
auch in der Armee zum Ausdruck kam, so stellten die sächsischen 
Armeekorps analog der sächsischen Bevölkerung die meisten Selbst¬ 
mörder. Es sei hier schon kurz darauf hingewiesen, daß die Ver¬ 
teilung der Soldatenselbstmorde auf die einzelnen Monate von der im 
allgemeinen festgestellten Regel erheblich abweicht. Während bei 
der Zivilbevölkerung, worauf noch später zurückzukommen sein wird, 
die Monate Mai und Juni die meisten Selbstmorde aufweisen, sehen 
wir bei den Militärpersonen an erster Stelle den Januar, an zweiter 
Stelle den Februar. Hier soll auch gleich der weitverbreiteten An¬ 
sicht entgegengetreten werden, daß im Kriege und in erregten Zeiten 
die Selbstmordziffer fällt. Daß z. B. nach dem Erdbeben in San Fran- 
zisko in den darauffolgenden 3 Jahren die Selbstmordhäufigkeit um 
97 Prozent gesunken ist, hängt doch wohl mit dem wirtschaftlichen 
Aufschwung nach dem Erdbeben zusammen, war doch wohl durch 
den Wiederaufbau die Arbeitslosigkeit sehr zurückgegangen. Wenn 
wir uns aber über die Selbstmordhäufigkeit im Kriege ein Urteil 
bilden wollen, so müssen wir die Frauen- und Männerselbstmorde ge¬ 
trennt betrachten; dann sehen wir, wie z. B. in diesem Kriege, daß 
die Männerselbstmorde erheblich zurückgehen, die Frauenselbstmorde 
dagegen auf derselben Höhe bleiben oder sogar ansteigen. Bei den 



10 


Männerselbstmorden wird man auch berücksichtigen müssen, daß 
i viele Selbstmorde an der Front nicht als Selbstmorde erkannt und, 
wenn erkannt, nicht als Selbstmorde gebucht worden sind. Daß 
V Selbstmorde und Selbstmordversuche an der Front und in der Etappe 
relativ häufig waren, beweist z. B. ein Befehl des Generalgouverneurs 
Rvon Belgien vom 21. Januar 1910: „Im Laufe der letzten Monate 
haben sich die Selbstmorde und Selbstmordversuche unter den Trup¬ 
pen des Generalgouvernements auffallend gehäuft. In der Mehrzahl 
der Fälle war als Grund zur Tat eine allgemeine seelische Verstim- 
.rnung des Täters anzunehmen, bedingt durch eine gewisse krankhafte 
Veranlagung, die durch die Anstrengungen des Dienstes, häusliche 
. Sorgen und Heimweh bis zur Katastrophe gesteigert wurden. Bemer¬ 
kenswert ist, daß mehrfach in darüber erstatteten Meldungen ange¬ 
geben ist, daß solche Verstimmungen schon längere Zeit vor der Tat 
bei den Unglücklichen aufgefallen waren. 



Es unterliegt keinem Zweifel, daß in solchen Fällen oft noch 
Rettung möglich ist, wenn Truppenkommandeur und Arzt gemeinsam 
und unter tunlichster Beteiligung des Geistlichen auf solche aus ihrem 
, seelischen Gleichgewicht geratene Menschen einwirken. Offiziere 
und Unteroffiziere müssen dem Truppenarzt dauernd von ihren Be- 


. , - 

obachtungen Mitteilung machen, der Arzt muß durch gesteigertes 



Leute sich rechtzeitig ein klares Urteil über ihren Seelenzustand ver¬ 
schaffen und bei etwaigen Bedenken die ungesäumte Sicherung der¬ 
selben durch Überweisung in ein Lazarett herbeiführen. In vielen 
Fällen wird es so möglich werden, die Leute von ihrer unglücklichen 
Tat zurückzuhalten. Ich ersuche alle beteiligten Dienststellen, hier¬ 
auf ihr besonderes Augenmerk zu richten.“ 

Schon Napoleon I. sah sich am 12. Mai 1802 in Saint-Cloud ver¬ 
anlaßt, gegen den Selbstmord in der Armee Stellung zu nehmen: „Der 
erste Konsul befiehlt, daß auf den Tagesbefehl der JGrarde gesetzt 
werde: Daß ein Soldat den Schmerz und die Schwermut der Leiden¬ 
schaften zu besiegen wissen muß; daß es ebensosehr von wahrem 
Mut zeugt, wenn man die Leiden der Seele mit Standhaftigkeit er¬ 


trägt, als wenn man unter dem Kartätschenhagel einer Batterie un¬ 
beweglich stehen bleibt. Sich dem Kummer ohne Widerstand über¬ 
lassen, sich töten, um sich ihm zu entziehen, heißt das Schlachtfeld 
verlassen, ehe man gesiegt hat.“ 


Einen unverkennbaren Einfluß auf die Selbstmordhäufigkeit muß 


man den Familienverhältnissen einräumen. Die Ehe wirkt, wie alle 
Statistiken zeigen, selbstmordbeschränkend, allerdings mehr bei Män- 


rr 








11 


nem als bei Frauen; eine Ausnahme hiervon machen nur Ehemänner 
unter 20 Jahren, die sich häufiger das Leben nehmen als Ledige der¬ 
selben Altersstufe. Die Selbstmordhäufigkeit der Geschiedenen, vor 
allem der männlichen, ist am höchsten. Auch Verwitwete, hier vor 
allem weibliche, nehmen sich relativ viel häufiger als Ledige das 
Leben. Wir sehen mitunter, daß sich Verlobte kurz vor der Ehe 
töten, hier spielen meist depressive Ideen eine Rolle. Ob auch die 
uneheliche Geburt einen Einfluß auf die Selbstmordhäufigkeit hat, ist 
aus den Statistiken nicht klar erkennbar. 

Mehr als die Familienverhältnisse spielt das Lebensalter bei der 
Selbstmordhäufigkeit eine Rolle. Berechnet man die Selbstmorde der 
verschiedenen Altersstufen auf alle Personen dieser Altersstufen, so 
ist mit zunehmendem Alter ein starkes Ansteigen der Selbstmord¬ 
häufigkeit feststellbar, nur mit der Ausnahme, daß die Altersstufe 
20—25 Jahre meist eine höhere Selbstmordhäufigkeit hat, als die 
Altersstufe 25—30 Jahre. 

Eine besondere Betrachtung verlangen die Kinderselbstmorde. 
Es ist nicht wahr, daß sie erst eine Erscheinung unserer Zeit sind, 
schon der Talmud erzählt von Kinderselbstmorden, so „vernichtete 
sich“ ein Knabe, weil er am Sabbat ein Glas zerbrochen hatte. Über 
die Kinderselbstmorde liegen zahlreiche Arbeiten vor; die statisti¬ 
schen Angaben dieser Arbeiten untereinander zu vergleichen, bringt 
gewisse Schwierigkeiten; gilt doch dem einen das Kindesalter mit 
14 Jahren, dem andern mit 15—16 Jahren als abgeschlossen, und 
wird gar von Schülerselbstmorden gesprochen, so wird oft die Grenze 
erst bei 20 Jahren gezogen. Unter diesen Umständen sind die An¬ 
gaben über das Verhältnis der Knaben- zu den Mädchenselbstmorden 
sehr verschieden. Aus den Arbeiten aber, die das Kindesalter mit 
14 Jahren als abgeschlossen ansehen, bekommt man den Eindruck, 
daß wohl die Knabenselbstmorde häufiger als die Mädchenselbstmorde 
sind, aber nicht erheblich häufiger, vielleicht im Verhältnis 2:1. 

Bei den Erwachsenen ist das männliche Geschlecht viel stärker 
als das weibliche am Selbstmorde beteiligt. Die Ansicht, daß der 
Selbstmord der Frauen früher äußerst selten war und erst eine Er¬ 
rungenschaft der Zivilisation ist, läßt sich leicht als irrig abtun. Was 
Franz v. Kleist gesungen hat: 

„Du bist ein Weib, du mußt den Selbstmord hassen. 

Dem Weibe ziemt nicht eines Cato Mut“, 

wurde schon vor ihm von den Frauen leider nicht immer beherzigt, 
und daß auch der Selbstmord der Frauen bei unkultivierten Völkern 




— 12 — 

nicht selten ist, können wir in dem Buche von Ploß-Bartels 
„Das Weib“ (Kap. LXXVII) nachlesen. Wir finden dort Mc. Ches- 
n e y zitiert, der von den Wah-Peton- und Sisseton-Sioux-Indianern in 
Dakota berichtet: „Vor 20 und mehr Jahren war es ein ganz gewöhn¬ 
liches Vorkommnis, daß, wenn einer Frau ihr Lieblingskind starb, sie 
sich mit ihrem Lariot an dem Aste eines Baumes erhängte.“ Von den 
Munda-Kohls in Bengalen hören wir durch Nottrott, daß hier die 
Weiber bisweilen wegen ganz geringfügiger Ursachen ihrem Leben 
durch Erhängen ein Ende machen. Die Dayakinnen in Borneo 
werden nach L i n g Roth nicht selten schon durch ein unfreund¬ 
liches Wort zum Selbstmord getrieben. Von den Wakinga (Ostafrika) 
berichtet Missionar Hübner (auch OttoPeiper) ganz ähnliches; 
hin und wieder komme es vor, daß eine Frau sich das Leben nehme, 
und zwar nur aus Ärger, um sich für schlechte Behandlung an ihrem 
Manne zu rächen, ihm einen besonderen Streich zu spielen und Trauer 
um den durch ihren Tod entstehenden Vermögensverlust bei ihm her¬ 
vorzurufen. Ganz dasselbe kommt in Deutsch-Neuguinea vor; so be¬ 
richtet K e y ß e r , daß bei den Kai Selbstmord bei Frauen häufiger 
als bei Männern vorkomme und dann mehr ein Akt der Rache als 
der Verzweiflung sei. Die Frauen brächten nämlich durch ihre Tat, 
die ihnen freilich das Leben koste, den Mann in eine nicht geringe 
Verlegenheit; denn die Angehörigen der Frau machen ihn für den 
Todesfall verantwortlich und verlangen Entschädigung. Auch bei 
den Mädchen der Chewsuren ist der Selbstmord nicht unbekannt, 
wenn sie ihre Keuschheit nicht unverletzt zu erhalten vermochten; 
hier ist der Tod durch Erhängen am gewöhnlichsten, es kommt jedoch 
auch vor, daß sich die Mädchen erschießen. In Angola bringt Kin¬ 
derlosigkeit die Weiber dazu, sich das Leben zu nehmen. Kät¬ 
scher spricht von der großen Geneigtheit der Chinesinnen zum 
Selbstmord. Die Vielweiberei erzeuge in den Familien, die ihr huldi¬ 
gen, Neid, Bosheit, Lieblosigkeit, Haß und treibe viele eifersüchtige 
Weiber zum Selbstmord. Interessant ist auch der von Ploß-Bar¬ 
tels angeführte Artikel der Tientsiner Zeitung „Shilvpao“ vom 
8. Januar 1888. „. . . Es ist dabei Gebrauch, den Selbstmord in 

Gesellschaft von sechs andern, also zu sieben, zu vollziehen. Wenn 
diese jungen Mädchen, die geschworen haben, ewig jungfräulich zu 
bleiben, entdecken, daß ihre Eltern Gatten für sie ausgesucht haben, 
so tun sie sich mit sechs anderen Leidensgenossinnen zusammen, 
stehlen sich um Mitternacht heimlich aus ihren Häusern und suchen 
Hand in Hand den Tod, indem sie sich ins Wasser stürzen. . . 

Es sind bei Ploß-Bartels noch manche Beispiele von Frauen- 


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13 


Selbstmorden bei Naturvölkern zu finden, und der Hinweis dort, diese 
ethnologische Forschung fortzusetzen, kann nur unterstrichen wer¬ 
den. Bemerkenswert sind in dieser Hinsicht die Angaben von Paul 
G ä d e k: e n , daß unter den Farbigen der Kapkolonie die Selbst- 
mordneigTJng bei beiden Geschlechtern gleich groß ist, während unter 
den Weißen dort die Frauen keine größere Selbstmordneigung als die 
Farbigen, haben, die Männer aber eine siebenmal größere. 

Die Statistik zeigt uns, daß die Selbstmorde der Männer viel 
häufiger als die der Frauen sind. In Japan kamen zwar in den Jah¬ 
ren 1881.—1905 auf 100 Männerselbstmorde 62 Frauenselbstmorde, 
in Europa aber war im 19. Jahrhundert das Verhältnis der Männer- zu 
den Franenselbstmorden ungefähr 4:1. In den letzten Jahren ver¬ 
schieben sich aber auch hier diese Verhältnisse sehr. Die Frauen¬ 
selbstmorde nehmen weit mehr als die Männerselbstmorde zu. Im 
Jahre 1893 gab es z. B. in Preußen 5135 Männer- und 1244 Frauen- 
selbstmorde, im Jahre 1913 aber 6831 Männer- und 2383 Frauen¬ 
selbstmorde. In Sachsen verschob sich in derselben Zeit das Verhält¬ 
nis 918 : 265 auf 1221 :464. Noch mehr änderten sich die Unter¬ 
schiede in und nach dem Kriege, wie die hier folgende Zusammen¬ 
stellung der Selbstmorde aus den Jahren 1901 bis 1919 zeigt. 




c hbrodt. Dar Selbstmord. (Abhandl. H. 22.) 



Auf 100 Männerselbstmorde kommen demnach Prauenselbstmorde 


14 


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18 


Aus dieser Zusammenstellung geht also hervor, daß schon in 
den letzten Jahren vor dem Kriege die Frauenselbstmorde weit mehr 
als die Männerselbstmorde zugenommen haben; es kamen in Preußen - 
im Jahre 1901 auf 100 Männerselbstmorde 24,5, im Jahre 1913 aber 
schon 34,9 Frauenselbstmorde. In ganz Deutschland verschob sich 
die Beteiligung der Frauen an den Selbstmorden in den Jahren 
1901—1913 von 25,2 auf 34,2 (auf 100 Selbstmorde berechnet). 
Nehmen wir die absoluten Zahlen, so nahmen die Männerselbstmorde 
im Jahre 1901—1913 um ungefähr 23 Prozent zu, während die 
Frauenselbstmorde in derselben Zeit um ungefähr 70 Prozent stiegen. 

In den Kriegsjahren nahmen dann die Männerselbstmorde ab, die 
Frauenselbstmorde dagegen ständig zu, so daß in Deutschland im 
Jahre 1918 auf 100 Männerselbstmorde 03,4 Frauenselbstmorde 
kommen. In einzelnen Bezirken traten sogar mehr Frauen- als 
Männerselbstmorde auf, so kommen auf 100 Männerselbstmorde in 
Berlin 123,6 und in Hamburg 100,1 Frauenselbstmorde. Nach dem 
Kriege nahmen die Männerselbstmorde wieder zu, aber auch die 
Frauenselbstmorde stiegen weiter an. So nahmen sich in Preußen 
im Jahre 1919 2663 Frauen das Leben, also fast doppelt soviel wie 
im Jahre 1901. Aus der Statistik geht also hervor, daß je mehr die 
Frauen am Erwerbsleben teilnehmen, desto größer die Selbstmord¬ 
häufigkeit der Frauen ist. Daß das Erwerbsleben bei der Häufigkeit 
des Selbstmordes eine große Rolle spielt, zeigt auch eine dieser Tage 
durch die Zeitung gehende Notiz über die Zunahme der Selbstmorde 
in Amerika: „. . . Die Selbstmordstatistik, die sich voii 1911—1915 
in Amerika ziemlich auf derselben Höhe hielt, wies mit dem Auf¬ 
schwung der amerikanischen Kriegsindustrie immer geringere Ziffern 
auf. Jetzt aber, wo durch den Friedensvertrag von Versailles die 
Arbeitslosigkeit in den Vereinigten Staaten ungeheuer zugenommen 
hat, ist die Zahl der Selbstmorde wieder sehr angewachsen.“ 

Was den Einfluß der Religion auf die Häufigkeit der Selbst¬ 
morde betrifft, so ist diese Frage noch umstritten. G a u p p erklärt 
es für zweifellos falsch, in der Zugehörigkeit zu einer Konfession 
einen schützenden Faktor von Bedeutung zu suchen, es wäre gerade¬ 
zu sinnlos, aus derartigen statistischen Feststellungen den höheren 
sittlichen Wert einer Konfession ableiten zu wollen; wohl würden 
Religionen, die dem Selbstmord indifferent oder gar günstig gegen¬ 
über ständen, seine Häufigkeit vermehren, es lasse sich auch im 
allgemeinen sagen, daß die protestantischen Länder mehr Selbst¬ 
morde als die katholischen aufweisen, aber wie ein Blick auf Frank¬ 
reich und England zeige, gäbe es auch Ausnahmen. Rost dagegen 


I 



19 


behauptet, daß in der Irreligiosität die eigentliche Ursache der 
modernen Selbstmordneigung zu suchen wäre. Das Weib töte sich 
viel seltener als der Mann, weil es frommer wäre. P1 a c z e k 
schreibt: „Von welchem Standpunkte immer man die Frage auf¬ 
werfen mag, ob und wie weit das religiöse Empfinden und die 
religiöse Überzeugung — ganz allgemein gesprochen — einen uner¬ 
schütterlichen Halt gegen Selbstvernichtungsanwandlungen bietet, 
ihre tatsächliche Bedeutung im Widerstand gegen einen auftauchen¬ 
den Selbstmorddrang ist unbestreitbar.“ Daß nicht die Religion an 
sich, sondern die Religiosität einen Einfluß auf die Selbstmord¬ 
häufigkeit ausübt, beweist wohl auch die Tatsache, daß bei Sekten 
die Selbstmorde äußerst selten, bei Dissidenten aber äußerst häufig 
sind. Auch die Verschiebung der Selbstmordhäufigkeit unter den 
Juden in den letzten 70 Jahren beweist es deutlich, daß die Re¬ 
ligiosität und nicht die Religion von Einfluß ist. 

So kamen auf 1 Million Einwohner in: 

Preußen 


im Jahre 

kath. 

evang. 

jüd. 

Selbstmorde 

1849/1855 

50 

160 

46 

11 

1869/1872 

69 

187 

96 


1891/1900 

93 

247 

241 

11 

1901/1907 

101 

252 

Bayern 

294 

11 

1844/1856 

49 

135 

106 


1870/1879 

74 

195 

115 

11 

1880/1889 

95 

222 

186 


1890/1899 

93 

210 

212 

H 

1900/1908 

102 222 
Württemberg 

253 

11 

1844/1860 

80 

114 

66 

11 

1873/1880 

135 

177 

98 

11 

1881/1890 

118 

169 

138 

.. 

1891/1900 

112 

155 

263 


1901/1907 

117 

193 

Baden 

215 

11 

1864/1870 

121 

159 

95 


1871/1880 

155 

213 

151 

11 

1881/1890 

160 

237 

222 

11 

1891/1900 

159 

250 

229 

11 

1901/1905 

169 

268 

269 

11 




20 


Aus diesen Zahlen geht hervor, daß die Juden, solange sie 
religiös waren, die geringste Selbstmordhäufigkeit aufwiesen, daß 
mit dem Schwinden der Religiosität die Selbstmordhäufigkeit stieg, 
um heute die Selbstmordhäufigkeit der anderen Religionen zu ttber- 
treffen. Das ist auch aus folgender Statistik zu erkennen: 

In den Jahren 1901—1907 nahmen sich das Leben in der 


Provinz: 

kath. 

evang. 

jüd. 

Ostpreußen 

129 

1839 

24 

Westpreußen 

308 

1123 

17 

Berlin 

382 

3647 

209 

Brandenburg 

414 

6345 

120 

Pommern 

58 

1980 

21 

Posen 

488 

758 

31 

Schlesien 

2484 

5192 

78 

Sachsen 

237 

5935 

28 

Schleswig-Holstein 

84 

2887 

17 

Hannover 

273 

3656 

42 

Westfalen 

949 

1940 

34 

Hessen-Nassau 

617 

2171 

112 

Rheinprovinz 

2545 

2514 

93 

Hohenzollem 

48 

4 

0 

in Preußen also 

9016 

39991 

826 

1 Million Einwohner berechnet: 



Provinz: 

kath. 

evang. 

jüd. 

Ostpreußen 

67 

153 

250 

Westpreußen 

53 

213 

141 

Berlin 

265 

316 

312 

Brandenburg 

303 

294 

518 

Pommern 

188 

177 

292 

Posen 

53 

184 

135 

Schlesien 

133 

356 

236 

Sachsen 

155 

317 

497 

Schleswig-Holstein 

334 

294 

719 

Hannover 

110 

227 

387 

Westfalen 

78 

169 

235 

Hessen-Nassau 

158 

227 

326 

Rheinprovinz 

86 

202 

247 

in Preußen also 

101 

252 

294 


Auch diese Statistik beweist, daß in Preußen die Selbstmord¬ 
häufigkeit der Juden die Selbstmordhäufigkeit der anderen Re- 



21 


ligionen übertrifft, in den Provinzen aber, in denen noch eine starke 
Religiosität unter den Juden vorherrscht, wie Posen und West¬ 
preußen, ist die Selbstmordhäufigkeit der Juden geringer als die der 
evangelischen Christen. Noch deutlicher käme es zum Ausdruck, 
daß es auf die Religiosität ankomme, wenn man auch hier die 
Statistik nach Geschlechtern trennte. K u e r t, e n führt eine solche 
Statistik für Sachsen aus den Jahren 1905—1909 an. 

Selbstmordziffer auf 1 Million Lebender nach der Volkszählung 
von 1905: 


Religion: 


männlich 

weiblich 

Evangelisch-lutherisch 

t 

482,4 

150,6 

Evangelisch reformiert 

j 


Römisch-Katholisch 


563,1 

184,5 

Andere Christen 


138,7 

43,5 

Israeliten 


583,3 

117,5 


Aus dieser Statistik ersehen wir, daß in Sachsen bei den Juden 
die Männer an erster Stelle, die Frauen aber an dritter Stelle in bezug 
auf die Selbstmordhäufigkeit stehen. Diese Statistik zeigt uns auch 
gleichzeitig, daß die Behauptung, bei den schwach vertretenen Be¬ 
kenntnissen bestünde eine geringere Selbstmordhäufigkeit, — was 
L e g o y t damit zu erklären suchte, daß die Angehörigen solcher Be¬ 
kenntnisse im Kampf mit der Intoleranz der Mehrheit und dem Be¬ 
streben, keinen Anstoß zu geben, sich an moralische Disziplin ge¬ 
wöhnen und so auch gegen geistige Verwirrungen widerstandsfähiger 
werden, — nicht unbestritten hingenommen werden kann. 

Auch den klimatischen Einflüssen wird ein Einfluß auf die 
Selbstmordhäufigkeit eingeräumt. Die Ansicht Montesquieus, 
daß sich im Winter mehr Menschen als im Sommer töten und daß das 
nebelreiche trübe England das klassische Land der Selbstmorde sei, 
ist durch die Statistik gründlich widerlegt worden. Wie eine Stati¬ 
stik von B o d i o zeigt, steigen die Selbstmorde im Frühling an, um 
im Mai und Juni ihren Höhepunkt zu erreichen, sie fallen dann wieder 
ab, um im Dezember und Januar den tiefsten Stand zu haben. Diese 
Erscheinung tritt in fast allen Ländern auf, betrachtet man aber auch 
hier die Selbstmordzahlen nach Geschlechtern getrennt, so kann man 
bei den Frauenselbstmorden keine derartig ausgesprochene Gesetz¬ 
mäßigkeit feststellen. Daß diese Gesetzmäßigkeit auch für Soldaten¬ 
selbstmorde nicht zutrifft, daß da vielmehr der höchste Stand im 
Januar und Februar erreicht wird, ist bereits bei der Besprechung 
der Soldatenselbstmorde angegeben worden. Daß also, wie Prin¬ 
zin g meint, die Sommerhitze, namentlich solange der Organismus 



22 


noch nicht an dieselbe gewöhnt ist, Kongestionen, die den Menschen 
leichter erregbar machen, zur Folge hat und so ein gewaltsames Ende 
herbeiführen kann, ist noch gar nicht bewiesen. Von Mayr will 
auch ebensowenig die gesteigerte soziale Reibung als die Temperatur 
an sich für die Zunahme der Selbstmorde im Sommer verantwortlich 
machen, sondern die Gesamtheit der in ihrem vollen Detail nach 
dieser Richtung noch gar nicht erschöpfend geprüften Natureinflüsse. 
Man muß K u e r t e n zustimmen, daß alles, was bisher zur Begrün¬ 
dung der Zunahme der Selbstmorde im Frühjahr gesagt worden ist, 
unbewiesene Hypothesen sind, daß es bisher noch unmöglich er¬ 
scheint, eine kausale Beziehung zwischen Jahreszeit und Selbstmord¬ 
häufigkeit klar nachweisen zu können. In diesem Zusammenhang 
wäre vielleicht von Interesse, daß Wilmanns für die Aufnahmen 
der Psychosen in der Heidelberger Klinik einen Frühjahrsgipfel fest¬ 
gestellt hat. 

Was nun die von den Selbstmördern gewählte Todesart, die 
Technik des Selbstmordes, betrifft, so werden wir auch hier gut tun, 
die Geschlechter getrennt zu betrachten. Wir sehen unter den ver¬ 
schiedenen Völkern oft weitgehende Unterschiede; oft beeinflußt der 
Beruf, oft auch die Mode die Wahl der Todesart, oft sprechen auch 
gesellschaftliche Anschauungen mit, so gilt in manchen Kreisen es 
als unehrenhaft, sich zu erhängen. In Deutschland steht bei den 
männlichen Selbstmördern an erster Stelle das Erhängen, an zweiter 
das Erschießen, an dritter das Ertränken, während bei den weiblichen 
Selbstmördern an erster Stelle das Vergiften, an zweiter das Er¬ 
tränken und an dritter das Erhängen steht. Manchmal läßt schon die 
Wahl einer Todesart darauf schließen, daß wir es mit keinem geistes¬ 
gesunden Menschen zu tun haben können. Schon Griesinger 
weist darauf hin: „Je ungewöhnlicher und je grausamer die ange¬ 
wandten Mittel der Ausführung sind, um so mehr hat man Grund, die 
Tat als Ergebnis krankhafter Verstimmung zu betrachten.“ Auf 
diesen Punkt wird später noch einzugehen sein. 

Sehr eingehend beschäftigen sich manche Statistiken mit den 
Beweggründen zum Selbstmord. Bei einem gelungenen Selbstmord 
wird es oft sehr schwierig, ja sogar oft unmöglich sein, die wahren 
Gründe in Erfahrung zu bringen. Die Selbstmörder hinterlassen oft 
keine Zeile, die Anverwandten wissen aber mitunter nicht die Gründe 
oder werden sie meist zu verheimlichen suchen, um den Ruf der 
Familie nicht zu gefährden. Religiöse Rücksichten werden oft dazu 
führen, daß direkt falsche Angaben gemacht werden, um den Selbst¬ 
mord als krankhafte Tat erscheinen zu lassen, auch vermeintliche An- 




23 


spräche an Versicherungsgesellschaften spielen eine Rolle. Mögen 
auch die in Frage kommenden Behörden mit der größten Sorgfalt 
Nachforschungen anstellen, den meisten Beamten wird die Schulung 
fehlen, durch geeignete Fragen brauchbare Anhaltspunkte für die 
wahren Beweggründe zum Selbstmord in Erfahrung zu bringen oder 
aus den verschiedensten Erhebungen das wahrscheinlichste heraus¬ 
zufinden. Aus diesen Erwägungen wird man einer Statistik der 
Motive nicht allzuviel Wert beimessen. 

Im Anschluß an die statistischen Ergebnisse könnten die statisti¬ 
schen Erhebungen der Gothaer Lebensversicherungsbank, die für 
75 Jahre von K. S a m w e r zusammengestellt sind, interessieren. 
Bei der Gothaer Lebensversicherungsbank, wie wohl bei jeder ande¬ 
ren Gesellschaft auch, galt jede Selbstentleibung als unsittlich. 
Unter Selbstmord wurde die absichtliche Selbsttötung verstanden, 
man nahm dabei an, daß auch der Unzurechnungsfähige die Absioht, 
sich das Leben zu nehmen, haben und ausführen könne. Aber schon 
im Jahre 1836 trat Medizinalrat Dr. Müller aus Pforzheim dafür 
ein, den Selbstmord wie einen gewöhnlichen Sterbefall zu behandeln, 
da er nicht aus freier Willensbestimmung, sondern aus Krankheit her¬ 
vorgehe. Die Versicherungsbank machte aber geltend, daß es sich 
nicht um die Strafe für ein begangenes Verbrechen, sondern um 
einen Rechtsnachteil wegen Verletzung eines Vertragsverhältnisses 
handle. Im Jahre 1849 räumt sie aber bei erwiesener Unzurechnungs¬ 
fähigkeit das Recht auf volle Prämienreserve ein. Aber erst im Jahre 
1896 gibt sie Rechtsanspruch auf die volle Versicherungssumme, wenn 
die Selbstentleibung durch geistige Störung oder schwere körper¬ 
liche Leiden veranlaßt war. Seit 1904 ist die Auszahlung der vollen 
Prämie unanfechtbar, wenn die Versicherung schon 2 Jahre bei Be¬ 
gehung des Selbstmordes bestanden hat. Es war eben nicht möglich, 
ein einwandfreies Urteil über den Geisteszustand des Selbstmörders 
zu erhalten, und durch die zweijährige Karenzzeit glaubt man sich 
vor Versicherungsbetrügem geschützt. 

Nach § 169 der R.-V.-O. ist bei einer Versicherung für den 
Todesfall der Versicherer von der Verpflichtung zur Leistung frei, 
wenn derjenige, auf dessen Person die Versicherung genommen ist, 
Selbstmord begangen hat. Die Verpflichtung des Versicherers bleibt 
beateben, wenn die Tat in einem die freie Willensbestimmung aus- 
scbWeßenden Zustande krankhafter Störung der Geistestätigkeit be¬ 
gangen worden ist. 

Die Versicherung muß beweisen, daß ein Selbstmord vorliegt, die 
Angehörigen, daß der Selbstmord im unzurechnungsfähigen Zustande 


'rr- 



24 


ausgeführt worden ist. Aus Sam wer s Zusammenstellung ersehen 
wir, daß in den Jahren 1829—1903 bei der Gothaer Lebensversiche¬ 
rungsbank 1629 Selbstentleibungsfälle vorkamen, die sich folgender¬ 
maßen verteilten: 

1829—1878 1879—1903 

15—30 Jahre 0,28 pro Tausend 0,30 pro Tausend 


31—40 

77 

0,27 

7? 

77 

0,34 „ 

7? 

41—50 

7’ 

0,35 

77 

77 

0,49 „ 

77 

51—60 

77 

0,56 

77 

77 

0,63 „ 

77 

61—70 

?7 

0,50 

77 

77 

0,39 „ 


71—90 

77 

0,29 

77 

77 

0,27 „ 

77 


0,40 pro Tausend 0,44 pro Tausend 
Diese kleinen Zahlen ergeben also relativ dieselben Verhältnisse 
wie die großen Zahlen der Statistiken der einzelnen Staaten. Inter¬ 
essant ist ferner, daß auch hier die Verteilung der Selbstmorde auf 
die einzelnen Monate eine ähnliche Kurve zeigt, wie wir sie aus der 
Statistik der Selbstmorde kennen. 

1829—1903 


Januar und Februar 199 Fälle 
März und April 226 „ 

Mai und Juni 239 „ 

Juli und August 208 „ 

September und Oktober 201 „ 

November u. Dezember 196 ,, 


15.7 Prozent 

17.8 

18.8 „ 

16.4 „ 

15,8 „ 

15.5 „ 


Also auch hier fallen die meisten Selbstmorde in die Monate Mai 
und Juni. Auch die Unterschiede in der Technik des Selbstmordes 
sind dieselben. Wir haben es bei den Versicherten vor allem mit 
Männern zu tun, und wie die Statistiken bei Männern an 1. Stelle den 
Tod durch Erhängen, an 2. Stelle durch Erschießen, an 3. Stelle durch 
Ertränken angeben, so sehen wir auch bei den Versicherten, daß 
durch 


Erhängen 

470, 

Sturz aus dem Fenster 

19, 

Erschießen 

424, 

Erstechen 

17, 

Ertränken 

151, 

Überfahrenlassen 

16, 

Vergiften 

83, 

Verbrennen 

2, 

Halsabschneiden 

48, 

unbekannte Ursache 

6, 


öffnen der Pulsader 23, 


geendet haben. 

Da die Lebensversicherungsgesellschaften auch vor Ablauf der 
Karenzzeit die volle Versicherungssumme auszahlen, sofern der Selbst- 



25 


mord nachweisbar in unzurechnungsfähigem Zustande ausgeführt 
worden ist, wird hier und dort zu derartigen Fragen von sachverstän¬ 
diger Seite Stellung genommen werden müssen; und nicht nur bei 
Lebensversicherungen, sondern auch bei Kranken-, Invaliden- und 
Unfallversicherungen, sowie bei Dienstbeschädigungen wird manch¬ 
mal die Frage zu beantworten sein, ob der Selbstmörder zur Zeit der 
Tat in einem unzurechnungsfähigen Zustande war, oder ob er etwa 
voraussehen konnte, daß sein Versuch auch anders als mit dem Tode 
enden könnte. Nach einer Entscheidung des 3. Senats des Preußi¬ 
schen Oberverwaltungsgerichts vom 14. 1. 1899 ist, wie dem Buche 
Hübners „Über den Selbstmord“ zu entnehmen ist, ein Selbstmord¬ 
versuch kein vorsätzliches Sichzuziehen einer Krankheit. „Wie von 
dem Gerichtshöfe wiederholt nachgewiesen worden ist, kommt es für 
die Anwendung des § 26a, Ziffer 2, K.-V.-G. nicht darauf an, ob das 
Mitglied die Krankheit selbst veranlaßt hat, sondern darauf, ob sein 
Vorsatz auf die Erzeugung der Krankheit gerichtet gewesen ist. Dies 
wäre im vorliegenden Falle dann anzuerkennen, wenn Sch. wußte, 
daß dasjenige Mittel, welches er zur Herbeiführung seines Todes ge¬ 
wählt hat, nicht unmittelbar den Tod, sondern zunächst eine Erkran¬ 
kung zur Folge haben werde . . .“ Bei der Frage der Dienst¬ 
beschädigung hat der 1. Senat des Reichsmilitärversorgungsgerichts- 
am 13. 4.1920 eine zur Versorgung berechtigende Dienstbeschädigung 
auch für den Fall angenommen, daß die Tat zwar nicht im Zustande 
der Unzurechnungsfähigkeit begangen worden ist, sich aber infolge 
der dem Militärdienst eigentümlichen Verhältnisse bei einer Person 
des Soldatenstandes ein derartiger Gemütszustand entwickelt hat, daft 
hierdurch die natürlichen Hemmungsvorstellungen gegen die Selbst¬ 
tötung zurückgedrängt wurden. Auch in diesem Falle ist der durch 
krankhafte Vorstellungen beeinflußte Gemütszustand die als Dienst¬ 
beschädigung anzunehmende Gesundheitsstörung und der Tod ihre 
zwangsmäßige Folge. 

Derartige Erörterungen führen uns zu der Frage: Ist der Selbst¬ 
mord, wie E s q u i r o 1 behauptet, immer eine krankhafte Handlung? 
Entspringt er immer krankhaften Zuständen? W e r n i c k e sagt in 
seinem Grundriß der Psychiatrie: „Wer nach dem Verlust eines Ver¬ 
mögens, nach der Verurteilung zu entehrender Strafe, nach dem Tode 
einer geliebten Person sich das Leben nimmt, handelt sicher unter 
dem Einfluß einer überwertigen Idee, und wir werden die Handlungs¬ 
weise auch als abnorm bezeichnen müssen, obschon sie nicht auf 
Geisteskrankheit zurückzuführen ist. Es wird also in jedem einzel¬ 
nen Falle erst festzustellen sein, ob eine krankhafte überwertige Idee 



20 


vorliegt, oder noch eine in die Gesundheitsbreite fallende. Die Ent¬ 
scheidung dieser Frage werden wir geneigt sein, davon abhängig zu 
machen, ob das Motiv für den der betreffenden Erinnerung anhaften¬ 
den dominierenden Affekt ausreichend ist oder nicht.“ 

G r u h 1 e führt in der „Psychiatrie für Ärzte“ aus: „Es ist ein 
müßiges Spiel mit Begriffen und Worten, wenn man erörtert, ob der 
Selbstmord an sich schon eine pathologische Tat ist oder noch in die 
Breite des Normalen gehört. Fest steht die Tatsache, daß er häufig 
aus Stimmungen hervorgeht, die eine abnorme Tiefe und Kraft be¬ 
saßen. Fest steht die andere Tatsache, daß sich die Schicksals¬ 
umstände eines Menschen zuweilen derart verwirren, daß jeder 
ruhigen Überlegung der Selbstmord als die einzige Lösung erscheint. 
Hier ist dann nichts von Abnormität zu entdecken.“ 

In den „Psychopathologischen Dokumenten“ äußert sich Birn¬ 
baum: „Die zahlreichen, in sich verflochtenen inneren und äußeren 
Zusammenhänge, das ganze verwickelte Gewebe, in welchem seelische 
Anlage und Entwicklung, innere Motive und äußere Anlässe, psychi¬ 
sche Situation und äußere Lebenslage zusammenwirkend zu .diesem 
einen Endpunkt hinführen — sind niemals durch einseitiges Auf¬ 
greifen eines Fadens restlos aufzulösen. Aber ebensowenig voll lös¬ 
bar ist dieses Rätsel der Selbsttötung, wenn nicht dieser wesentliche 
Einschlag des Pathologischen herausgeholt und verwertet wird. Der 
Selbstmord ist an sich nocli kein psychopathologisches Phänomen, 
aber er ist es doch vielfach, und er ist es oft genug in erster Linie.“ 
Und weiter betont Birnbaum: „Das Rätsel des Selbstmords ist 
ganz gewiß nicht mit dem Hinweis auf das Psychopathische gelöst.“ 
Bei diesen Untersuchungen kommt es natürlich sehr darauf an, 
was man unter Psychopathie versteht. So sagt z. B. KurtSc h nei¬ 
de r in den „Studien über Persönlichkeit und Schicksal eingeschrie¬ 
bener Prostituierten“: „Ich sehe in den Psychopathien keine Krank¬ 
heiten, sondern von Gewohnheiten abweichende, rein quantitative 
Variationen und Spielarten menschlichen Wesens, die allerdings für 
das betreffende Individuum oder die Gesellschaft unerfreulich sind.“ 
G a u p p spricht von zahlreichen Menschen, die wir nicht als 
geisteskrank bezeichnen, die aber doch krankhafte Züge mannig¬ 
facher Art aufweisen: es sind die Nervösen, die Psychopathischen, 
die Entarteten infolge krankhafter Veranlagung. Häufig stammen sie 
von geisteskranken oder von nervenkranken, trunksüchtigen, 
schwächlichen Eltern ab. Die Entarteten zeigen eine Geistesbeschaf¬ 
fenheit, die für den Selbstmordgedanken einen günstigen Boden ab¬ 
gibt: Leidlich guter Verstand, große Gefühlserregbarkeit ohne Nach- 


r 



27 


haltigkeit, schwächliche Willensantriebe ohne Erfolg, egoistische 
Triebe von starker Ausprägung, gesteigerte Empfindlichkeit für un¬ 
lustbetonte Eindrücke und Erlebnisse — ein solches Gemisch geistiger 
Fähigkeiten erweist sich dem Ansturm des Lebens gegenüber nur 
allzu leicht als unzureichend; es kommt zu Enttäuschungen, die bei 
der gemütlichen Erregbarkeit des Nervösen leicht zur raschen Tat 
führen. 

Was die erbliche Belastung anbetrifft, so können wir in der Tat 
oft bei Kranken, die infolge eines mißlungenen Selbstmordversuches 
in eine Anstalt gebracht werden, feststellen, daß sie geisteskranke 
oder nervöse Angehörige haben. Sehr oft zeigt es sich auch, daß in 
derartigen Familien Selbstmorde oder Selbstmordversuche bekannt 
sind. Schon Voltaire spricht davon, wie bei R i b o t zitiert zu 
finden ist, daß die Neigung zum Selbstmord erblich wäre. „Ich habe 
fast mit eigenen Augen einen Selbstmord angesehen, der es verdient, 
von den Ärzten beachtet zu werden. Ein Mann reiferen Alters, der 
sich in geordneten, auskömmlichen Verhältnissen befand, einem 
ernsten Beruf nachging, keinerlei Passionen hatte, tötete sich am 
17. Oktober 1769 und ließ ein für den Magistrat seiner Geburtsstadt 
bestimmtes schriftliches Entschuldigungsschreiben wegen seines frei¬ 
willigen Todes zurück, das zu veröffentlichen man nicht für zweck¬ 
mäßig fand, aus Furcht, hierdurch andere Menschen zur Flucht aus 
dieser verleumdeten Welt zu veranlassen. Bis hierher sehen wir 
nichts Außergewöhnliches, ähnliche Fälle kommen überall vor. Er¬ 
staunlich ist nur folgendes: Sein Bruder und sein Vater hatten sich im 
selben Alter getötet wie er. Welche geheime Anlage des Geistes, 
welche Sympathie, welches Zusammenwirken psychischer Gesetze 
läßt hier den Vater und seine beiden Söhne im selben Lebensalter auf 
gleiche Weise durch eigene Hand zugrunde gehen?“ 

Derartige Beobachtungen sind auch von anderer Seite mitgeteilt 
worden, schon Cicero kennt das Fortwirken des Beispiels des 
Vaters, so berichtet z. B. auch E s q u i r o 1 von einer Familie, wo 
Großmutter, Mutter, Tochter und Enkel sich das Leben genommen 
haben. Nun wäre es verfehlt, anzunehmen, daß die Selbstmordneigung 
an sich erblich ist, vielmehr liegen die Verhältnisse doch wohl so, daß 
in sehr vielen Fällen solchen Eltern, die aus irgendwelchen Gründen 
das Leben wegwerfen oder wegzuwerfen versuchen, die Fähigkeiten 
abgehen, Kinder zu erziehen, daß solche Eltern vor allem nicht im¬ 
stande sind, ihren Kindern die Hemmungen beizubringen, die den 
Menschen befähigen, Uber viele Widerwärtigkeiten des Lebens hin¬ 
wegzukommen, vielen Lockungen aus dem Wege zu gehen. Wir dür- 



28 


fen uns daher auch nicht wundem, daß unter den Eltern von Ver¬ 
brechern der Selbstmord relativ häufig ist. So fand M a r r o, wie 
Lombrosos Buche „Die Ursachen und Bekämpfung des Ver¬ 
brechens“ zu entnehmen ist, Selbstmord der Eltern bei Dieben in 5,0 
Proz., Brandstiftern in 8,2 Proz., Sittlichkeitsverbrechern in 3,9 Proz., 
Meineidigen in 2,1 Proz., Gaunern in 1,5 Proz. 

Den willensschwachen Menschen fällt vielleicht in widerwärtigen 
Lagen der Selbstmord der Angehörigen ein, und leicht bringt sie die 
Nachahmung zu derselben Handlung. Daß die Nachahmung bei den 
Selbstmördern eine große Rolle spielt, ist eine uralte Erfahrung. So 
können wir in den „Fröschen“ des Aristophanes, was ich L. L e w i n s 
Buche „Die Gifte in der Weltgeschichte“ entnehme, lesen: 

Euripides: Was schade ich denn nun wohl dem Staatswohl, wenn 

ich über Sthenoboia dichte? 

Aischylos: Du hast ehrbare Frauen, ehrbare Männer durch 

deine Bellerophosgeschichte verlockt, Schierling zu 
trinken. 

Die Nachahmung hat zu Zeiten sogar Selbstmordepidemien her¬ 
vorgerufen. So erzählt P1 u t a r c h , daß in Milet sich nacheinander 
auffallend viele junge Mädchen das Leben genommen hätten, und 
man habe nicht eher dieser Epidemie beikommen können, als bis man 
dazu geschritten wäre, die toten Mädchen nackt auf dem Markte aus¬ 
zustellen. Im Hotel der Invaliden zu Paris hatte sich ein Soldat an 
einer Säule erhängt; an derselben Säule erhängten sich 12 andere 
Soldaten, und man mußte diese Säule entfernen, um den Selbstmorden 
zu steuern. Nach dem Erscheinen von Goethes „Werther“ soll, wie 
wir aus Berichten jener Zeit entnehmen, eine Selbstmordepidemie in 
Deutschland eingesetzt haben, „viele gleichgestimmte Jünglinge 
sollen Werthers vielbeweintem Schatten ins Grab gefolgt sein“. Es 
ist auch bekannt, daß Leute, die einer Beerdigung eines Selbstmörders 
beigewohnt haben, sich danach das Leben genommen haben. Beson¬ 
ders stark haben wir bei den Kinderselbstmorden mit der Nach¬ 
ahmung zu rechnen, so sind unter den 323 Kinderselbstmorden, die 
Eulenburg zusammengestellt hat, eine Reihe, bei denen nachzu¬ 
weisen ist, daß sie durch Nachahmung zu dem Selbstmord gekommen 
sind. Einen sehr interessanten Fall finden wir in dem Buche „Über 
kindliche Selbstmorde“ von Redlich und L a z a r: „Als der Bau¬ 
unternehmer E. E. gestern abend von einem Ausfluge in seine Woh¬ 
nung zurückkehrte, fand er auf einem Kanapee sein 3jähriges Söhn- 
chen und sein 1 Vä Jahre altes Töchterchen bewußtlos auf. In der 




29 


Wohnung war ein starker Gasgeruch zu verspüren. Der Gashahn 
war offen. Mit vieler Mühe gelang es, die beiden Kinder wieder zum 
Bewußtsein zu bringen. Der 3jährige Knabe gab an, daß er sich und 
seine Schwester töten wollte aus Gram darüber, daß die Mutter ihn 
nicht spazieren geführt habe. Bei dem Mittagsmahl soll der Vater 
von einem Selbstmord erzählt haben, den ein Junge durch Einatmen 
von Leuchtgas beging. Der kleine Knabe hatte der Erzählung auf¬ 
merksam gelauscht.“ 

Neben dem Nachahmungstriebe kann auch gegenseitige Beein¬ 
flußbarkeit den Menschen zu einem Selbstmord führen. Wir kennen 
Doppelselbstmorde, wo die suggestive Kraft des einen den andern 
dahin gebracht hat, mitzusterben. Man könnte einen solchen Selbst¬ 
mord einen „induzierten Selbstmord“ nennen. Als Beispiel wäre der 
Dichter Heinrich von Kleist anzuführen. A. Leppmann schreibt 
darüber: „Die Stetigkeit seines Handelns scheiterte immer an Stim¬ 
mungen und Verstimmungen, öfters hatte er davon gesprochen, daß 
der Selbstmord die erlösende Tat für ihn sein werde, und wiederholt 
hatte er den besonderen Wunsch geäußert, mit einem Freunde gemein¬ 
sam sterben zu können. Da führte ihn der Zufall mit einer Frau zu¬ 
sammen, welche ein körperliches Leiden hatte, durch das ihr angeb¬ 
lich nach der Meinung eines Chirurgen qualvoller Tod bevorstand. 
Jedenfalls war sie zur Zeit des Zusammentreffens in keiner Weise 
etwa sichtbar schwer körperlich leidend, nein, sie krankte „an einer 
tiefen Schwermut“, wie es in der Schilderung heißt. Sie war eine 
..emotionsbedürftige, überspannte“ Frau, welche, nachdem ihr der 
Dichter seine Selbstmordneigung andeutete, ihm offenbarte, sie könne 
das Leben nicht mehr ertragen, und die Tötung durch ihn als Freund¬ 
schaftsdienst verlangte. Sie packte ihn bei seiner Ehre, indem sie 
zweifelte, daß er es tun würde, da es ja auf Erden keine Männer mehr 
gäbe. Sie stachelten sich gegenseitig durch überschwengliche Briefe 
und Gespräche auf. Äußere Gründe hatte auch v. Kleist. Er war 
mit seinem Vermögen fertig, hatte in keiner der angestrebten Lebens¬ 
stellungen sich gehalten und war auch mit seiner Familie zerfallen. 
So zogen sie denn beide an einem Novembertage hinaus nach dem 
Wannsee an die Stelle, wo Heinrich v. Kleist schon 10 Jahre vorher 
Freunden gegenüber Selbstmordideen ausgesprochen hatte. Sie wohn¬ 
ten in einem Wirtshaus nachts in getrennten Zimmern, schrieben Ab¬ 
schiedsbriefe voll todessüchtiger Phantasien, tranken im Freien zu¬ 
sammen Kaffee und dann bestellte sich Heinrich v. Kleist (ein be¬ 
zeichnender Beweis für seine degenerative Persönlichkeit [?]) noch 
für 8 Groschen Rum, nachdem übrigens am Abend vorher die beiden 
Wein und Rum getrunken hatten. Kurz nach dem Genüsse des Rums 




schoß Kleist erst seiner Freundin eine Kugel ins Herz und dann sich 
eine solche durch den Mund ins Hirn.“ 

Für die Selbstmörder, die durch die suggestive Kraft eines an¬ 
dern zum Selbstmord gebracht werden, wird meist die vorhin ange¬ 
führte Beschreibung zutreffen, die G a u p p von den zum Selbstmord 
Veranlagten entwirft. Auch A. Leppmann ist der Ansicht, daß 
es sich bei diesen Selbstmördern meist um Menschen handelt, deren 
seelisches Gleichgewicht durch dauernde Wesenseigentümlichkeiten 
gestört ist. A. Leppmann führt dabei weiter aus, was hier schon 
vorweggenommen werden soll, daß die Schilderung G a u p p s für den 
Selbstmordkandidaten im allgemeinen durchaus gelten könne. Man 
würde aber dabei betonen müssen, daß der Umfang derartiger Ent¬ 
artungseigenschaften sehr verschieden sein könne, und daß in man¬ 
chen Fällen von Selbsttötung bzw. Selbsttötungsversuch dieselben an 
und für sich nicht umfangreich zu sein brauchten, und erst eine Sum¬ 
mierung besonderer innerer und äußerer Ursachen hinzukommen 
müsse, um die Selbsttötung auszulösen. So gäbe es Fälle, bei wel¬ 
chen die Konstellation, welche zu der Tat Anlaß gäbe, vielleicht nur 
ein einziges Mal während der ganzen Dauer des Lebens einträte, 
wie z. B. Entartungseigenschaft, Pubertätsentwicklung, Augenblicks¬ 
furcht vor Strafe bei Entdeckung eines Fehltritts. Dann wäre die 
einfache Selbsttötung meist eine Momentshandlung, die Wirkung 
eines im Augenblick explodierenden Affekts. 

Nun sind für gewisse Selbstmorde Anschauungen und Erziehung 
fraglos bestimmend gewesen und noch bestimmend, wir brauchen 
z. B. nur an die Selbstmorde der Greise bei den alten Germanen und 
die Witwenverbrennungen in Indien zu denken. Auch den Selbst¬ 
mord des Generals Nogi mit seiner Gattin, den P1 a c z e k als Bei¬ 
spiel eines physiologischen Selbstmords anführt, möchte ich von die¬ 
sem Gesichtspunkte aus betrachten. Wir müssen bedenken, daß auch 
zu unserer Zeit in bestimmten Kreisen im Gegensatz zur Kirche der 
Selbstmord als Sühne für ehrlose Handlungen angesehen wird; die 
Kinder werden schon in den Anschauungen erzogen, daß man den 
Verlust der Ehre nicht überleben dürfe, daß „ein freier, mutiger Tod 
anständiger als ein entehrtes Leben zu achten wäre“. Wenn nun in 
manchen Kreisen jemand für ehrlos gehalten wird, der eine körper¬ 
liche Züchtigung nicht rächt oder rächen kann, so wird der Selbst¬ 
mord eines Generalssohns verständlich, der sich erschoß, weil er in 
einer Nacht von einem Matrosen geohrfeigt wurde, ohne den Täter 
erkannt zu haben. Daß nach der Katastrophe sie nicht ihrem Leben 
ein Ende gemacht hätten, wird von Cicero dem Marbod, von 
Byron Napoleon vorgeworfen. 



31 


Nun ist allerdings damit, daß ein Selbstmord verständlich ist, 
daß die Beweggründe ausreichend erscheinen, noch nicht bewiesen, 
daß der Selbstmörder psychisch gesund war. Helenefriederike 
Stelzner führt als Beispiel eines philosophischen Selbstmords — 
sie versteht darunter Selbstmörder, die aus der Summe der Er¬ 
kenntnis heraus, als Fazit eines langen, gedankenreichen Lebens, 
ohne Affekt, ohne äußeren Zwang in den Tod gehen — Charlotte 
Stieglitz an, jene Frau, die sich im Jahre 1834 mit einem sechs Jahre 
vorher auf der Hochzeitsreise gekauften Dolch ins Herz sticht, um 
ihrem Manne, den sie für ein großes dichterisches Genie hält, jenes 
große und ergreifende Leid zu bereiten, welches seinen Genius wieder¬ 
erwecken und seiner Poesie neuen Inhalt geben werde. Wer sich 
aber eingehend mit dieser gewiß sehr interessanten Frau und der 
damaligen Zeit befaßt, wird Stelzner nicht ohne weiteres zu¬ 
stimmen können. 

So wenig man aber auch immer aus den Beweggründen und der 
Art des Selbstmords Schlüsse auf den Geisteszustand des Selbst¬ 
mörders ziehen kann, so läßt doch mitunter die Wahl der Todesart 
erkennen, daß es sich um die Tat eines Geisteskranken handelt. 
Wenn z. B. eine Frau sich Hände und Füße mit Nägeln durchbohrt 
und dann in einen heißen Backofen kriecht, wenn ein Mann sich 
Nägel in den Kopf treibt, wenn ein anderer Mann sich mit einer 
Axt den Schädel einschlägt, so wird wohl niemand zweifeln, daß in 
diesen Fällen eine Geisteskrankheit bestanden hat. Mit Adolf 
Wagner, Kraepelin u. a. wird angenommen, daß ungefähr 
ein Drittel aller Selbstmörder geisteskrank sind. Ob diese Annahme 
den Tatsachen entspricht, oder ob der Prozentsatz nicht zu hoch ge¬ 
griffen ist, muß noch eingehender Forschung überlassen werden. Wir 
haben schon auf alle die Schwierigkeiten, die dieser Klärung ent¬ 
gegenstehen, hingewiesen; auch der Pathologe wird uns vorläufig 
dieser Klärung nicht viel näher bringen können, solange wir bei 
einer Reihe von Psychosen die typischen pathologischen Verände¬ 
rungen noch gar nicht kennen, wobei noch ganz außer acht zu lassen 
ist, daß, worauf Vera Strass er in ihrem Buche „Die Psychologie 
der Zusammenhänge undBeziehungen“hinweist,auch derForscher, der 
den Selbstmörder auf dem Seziertisch untersucht und die Organminder¬ 
wertigkeit feststellt, noch lange nicht wissenschaftlich verpflichtet ist, 
zwischen dem Gefundenen und den seelischen Konflikten, die dem 
Tode vorangegangen sein können, einen Zusammenhang herzustellen. 

Bei der Beurteilung der geisteskranken Selbstmörder muß be¬ 
rücksichtigt werden, daß die Selbstmordneigung der Geisteskranken 
im direkten Verhältnis zur Selbstmordneigung der übrigen Bevölke- 



32 


rungsschicht steht. So lesen wir z. B. in einer Arbeit Heil- 
bronners „Zur Psychopathologie der Melancholie“: „Wenn ich 
die poliklinischen Fälle mitberücksichtige, so sehe ich hier (in Hol¬ 
land) mindestens ebenso viele reine Melancholien wie unter der 
sächsichen Bevölkerung mit ihrer bekannten Tendenz zu depressiven 
Psychosen, mit der Differenz allerdings, daß uns die Suizidneigung, 
die die sächsische Bevölkerung auszeichnet, hier viel weniger zu 
schaffen macht.“ Während in Holland auf 1 Million Einwohner nur 
56 Selbstmorde kommen, sind es in Sachsen 332. Wir sehen also auch 
an diesen Beispielen, daß die Selbstmordneigung in der Psychose 
nicht etwas ganz Neues, nicht etwas dem Menschen sonst Fremdes 
ist, daß vielmehr durch die Psychose nur Gegenvorstellungen, Hem¬ 
mungen nicht mehr funktionieren und in manchen Fällen ganz auf¬ 
gehoben werden. Man kann auch hier einen Schillerschen Satz paro¬ 
dieren: die Psychose erfindet nichts, sie schwatzt nur aus. Aus 
dieser Erkenntnis müssen wir aber die Lehre ziehen, in Gegenden, in 
denen eine stärkere Selbstmordneigung feststeht, bei depressiven 
Psychosen ganz besonders mit der Suizidgefahr zu rechnen. 

Von den Psychosen haben wir natürlich vor allem bei der Melan¬ 
cholie mit dieser Gefahr zu rechnen, besonders bei der ängstlichen, 
traurigen Verstimmung und der Ratlosigkeit. Kraepelin weist 
darauf hin, daß die Selbstmordgefahr im Beginn und gegen Ende des. 
Anfalles am größten zu sein pflege, da dann die Willenshemmung den 
Kranken nicht unfähig mache, sich zum Handeln aufzuraffen. Be¬ 
sondere Aufmerksamkeit verdienen jene Kranke, die viele hypochon¬ 
drische Klagen Vorbringen und ständig erklären, es helfe ihnen doch 
nichts, sie würden doch nie mehr gesund. Man darf sich von depres¬ 
siven Kranken nicht täuschen lassen, sie dissimulieren oft, um den 
Arzt zu veranlassen, die strenge Bewachung aufzuheben, die sie an der 
oft sehr gut durchdachten Ausführung des Suizids hindert. In einigen 
Fällen besteht sozusagen eine Selbstmordsucht, die Kranken ver¬ 
suchen immer und immer wieder, sich zu beschädigen, sich zu töten, 
und mitunter können sie trotz strengster Bewachung doch ihr Ziel 
erreichen. Wir müssen ehrlich bekennen, daß es selbst bei den aller- 
erdenklichsten Vorsichtsmaßregeln auch in der besten Anstalt nicht 
immer möglich ist, einen Selbstmord zu verhindern, wir können es 
aber uns schon als positive Leistung buchen, daß es uns wenigstens in 
ungefähr 99 Proz. gelingt. Besteht bei den melancholischen Kranken 
eine starke Willenshemmung, so ist freilich die Selbstmordgefahr nicht 
in besonderem Maße in Rechnung zu stellen, man darf aber nicht 
außer acht lassen, daß auch bei derartigen Kranken unerwartet im¬ 
pulsive Handlungen Vorkommen können und daß eine solche impul- 



33 


Bive Handlung ein Suizid sein kann. Auch bei der Manie muß man 
daran denken, daß plötzlich eine depressive Phase mit Suizidneigung 
einsetzen kann. Aber nicht nur bei den zirkulären Psychosen, son¬ 
dern auch bei den depressiven Zuständen aller andern Psychosen ist 
mit einer Suizidgefahr zu rechnen. Wir kennen depressive Zustands¬ 
bilder bei den arteriosklerotischen und senilen Geistesstörungen, bei 
der progressiven Paralyse, bei den Defektpsychosen, bei der Epilep¬ 
sie, bei den alkoholischen Geistesstörungen, bei den Fieberpsychosen. 
Depressive Zustände bei senilen und arteriosklerotischen Geistesstö¬ 
rungen sind nicht ungewöhnlich; auch die progressive Paralyse be¬ 
ginnt häufig mit einem Depressionszustand, im neurasthenischen Sta¬ 
dium dieser Krankheit werden alle möglichen hypochondrischen Kla¬ 
gen vorgebracht, die Kranken sind schlaflos, verstimmt, haben hef¬ 
tige Kopfschmerzen. Daß auch Neurastheniker mit Lues aüs Furcht 
vor einer Paralyse Suizid begehen können, ist bekannt. Bei derarti¬ 
gen Kranken sollte der Arzt seine Fragen mit äußerster Vorsicht 
stellen, sie sind oft sehr hellhörig und fühlen, daß auch der Arzt an 
eine beginnende Paralyse denkt. Bei der Epilepsie sind es oft heftige 
Affektentladungen und periodische Verstimmungen, die zur Selbst¬ 
beschädigung und zum Selbstmord führen. Mitunter bestehen Angst¬ 
zustände, schreckhafte Halluzinationen, die den Kranken z. B. gegen 
seine vermeintlichen Angreifer wild um sich schlagen lassen oder 
auch bestimmen können, all den Schrecknissen durch Selbstmord aus 
dem Wege zu gehen. Ähnlich liegen die Verhältnisse bei den alko¬ 
holischen Geistesstörungen, auch hier können schwere Angstzustände 
und schreckhafte Halluzinationen auftreten. Kurz vor Ausbruch 
eines Deliriums oder bei der abortiven Form des Deliriums sehen wir 
Schlaflosigkeit, ängstliche Unruhe und mitunter Selbstmordneigung. 
J. S e r r 6 (zitiert nach Hoppe) hat unter 1500 Fällen von Deli¬ 
rium tremens 12,86 Proz. Selbstmordversuche gesehen. Bei der Alko- 
holhalluzinose kann es unter dem Einfluß der lebhaften Halluzinatio¬ 
nen zu Selbstbeschädigungen und zum Selbstmord kommen. Auch bei 
den Dipsomanen, jenen Kranken, die periodisch von krankhaften 
Stimmungen beherrscht werden und dann Alkoholmißbrauch treiben, 
bestehen häufig Selbstmordneigungen. Man findet oft die Behaup¬ 
tung, daß der Alkoholismus eine der wichtigsten Ursachen der Selbst¬ 
morde sei. P r i n z i n g nimmt an, daß mehr als der 4. Teil der 
Selbstmorde des männlichen Geschlechts und im vollen Mannesalter 
ein volles Drittel durch Alkoholmißbrauch herbeigeführt werde; er 
führt auch die Zunahme der Selbstmorde auf die Zunahme des Alko¬ 
holismus zurück. Dem wird man nicht ohne weiteres zustimmen kön- 




34 


nen; haben wir doch im Kriege so gut wie gar keinen Alkoholismus 
gehabt, und doch nahmen die Selbstmorde nicht in dem Maße ab, sie 
nahmen sogar bei den Frauen ständig zu. Wir dürfen dabei auch 
nicht vergessen, daß damit, daß uns bei einem Menschen der Alkoho¬ 
lismus bekannt wird, noch nicht gesagt ist, auf welchem Boden dieser 
Alkoholismus entstanden ist. Daß z. B. haltlose Psychopathen, die 
doch einen sehr hohen Prozentsatz der Selbstmörder stellen, häufig 
Alkoholmißbrauch treiben, ist bekannt, wie ja überhaupt Psycho¬ 
pathen zum Mißbrauch von Giften, wie Morphium und Kokain, neigen. 
Bei den Morphinisten sehen wir während der Entziehungskur Selbst¬ 
mordneigungen auftreten, und mitunter wird der Selbstmord während 
der Abstinenzerscheinungen ausgeführt. Bei dem Kokainismus kommt 
noch hinzu, daß er zu einer reizbaren, ängstlichen, mißtrauischen 
Stimmung führt mit Unstetigkeit und Ruhelosigkeit, dazu mitunter 
noch alle möglichen Halluzinationen, oft ängstlichen Charakters, die 
Selbstmordneigung mit sich bringen. 

Ganz besonders muß darauf aufmerksam gemacht werden, daß 
auch bei Fieberpsychosen mit einer Suizidgefahr gerechnet werden 
muß. Bonhoeffer weist darauf hin, daß unbeabsichtigte Selbst¬ 
beschädigungen und gewollte Suizidversuche im Beginn der Fieber¬ 
psychose zu fürchten seien. 

Bei den Imbezillen besteht im allgemeinen keine besondere 
Selbstmordneigung, allerdings kann es bei ihrer Affektlabilität aus 
ganz geringfügigen Anlässen, z. B. Heimweh, zu einem Selbstmord¬ 
versuch oder Selbstmord kommen. 

Kranke mit Zwangsvorstellungen fühlen sich in einigen Fällen 
von diesen Vorstellungen derart belästigt, daß sie Selbstmord be¬ 
gehen. Zu erwähnen wären noch die schweren Selbstbeschädigungen 
von Katatonen, deren impulsive Handlungen auch zu einem Selbst¬ 
mord führen können. 

Bei der Hysterie wird vielfach mit Recht angenommen, daß die 
Suizidversuche nicht ernst gemeint sind, oft nur inszeniert sind, um 
die Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. Man soll sich aber hüten, 
dem Kranken derartiges zu sagen, solche Äußerungen könnten ihn 
dahin bringen, den Ernst seiner Absicht zu beweisen. Manchmal 
täuscht sich der Hysteriker, worauf auch B u m k e hinweist, über die 
Gefährlichkeit des gewählten Mittels, und der Selbstmord gelingt. 
Wenn auch den Statistiken zu entnehmen ist, daß ungefähr ein Drittel 
der Selbstmörder geisteskrank ist, so wird man sich klar machen 
müssen, daß diese Zahlen keinen Anspruch auf Genauigkeit haben. 
Ist doch in den meisten Fällen die Diagnose „Geisteskrankheit“ auf 
die Angaben von Laien zurückzuführen. Nun sind diese Angaben oft 



35 


von religiösen Rücksichten diktiert, und auch zivilrechtliche Ansprüche 
an Versicherungsgesellschaften können die Angaben beeinflussen. 

Während nun Friederike Stelzner, Gaupp u. a. bei 
den Personen, die nach einem Selbstmordversuch in die Klinik einge¬ 
liefert wurden, feststellten, ob und welche psychischen Anomalien Vor¬ 
lagen, fragten wir uns, wer von denen, die zu einer bestimmten Zeit 
in Frankfurt a. M. einen Selbstmord oder Selbstmordversuch verübt 
hatten, vor der Tat in der Frankfurter Heilanstalt gewesen war. Aus 
den Polizeiakten konnten wir die Namen für die Zeit von Januar 1906 
bis Juli 1920 feststellen. In dieser Zeit nahmen sich 1272 Männer und 
572 Frauen in Frankfurt a. M. das Leben, und bei 242 Männern und 
217 Frauen wurde der Polizei ein Selbstmordversuch bekannt. Von 
den Selbstmördern waren 35 Männer und 9 Frauen, von den Personen, 
die wegen eines Selbstmordversuches der Polizei gemeldet waren, 
40 Männer und 22 Frauen zu irgendeiner Zeit vor der Tat in der 
Frankfurter Heilanstalt gewesen. Wenn man auch annimmt, was 
Kuerten für Leipzig und Dresden gezeigt hat, daß ungefähr 20 
Proz. der Selbstmörder zugereist waren, so bleiben immerhin noch 
ungefähr 1400 Selbstmorde, von denen nur 44 vor der Tat in der 
Frankfurter Anstalt waren. Nun lagen die Verhältnisse gerade in 
Frankfurt so, daß die meisten, die wegen einer psychischen Anomalie 
in eine Anstalt mußten, die Frankfurter Anstalt zum mindesten pas¬ 
sierten. Man wird mit Recht einwenden, daß häufig im Beginn der 
psychischen Erkrankung, also zu einer Zeit, wo die psychischen Ano¬ 
malien noch nicht so in Erscheinung getreten zu sein brauchen, daß 
an eine Anstaltsbehandlung gedacht wird, eine Reihe von Selbst¬ 
morden verübt werden; auch das wird zugegeben werden müssen, daß 
die Furcht, wegen der „Nervosität“ in eine Irrenanstalt gebracht zu 
werden, hier und dort zu einem Selbstmord führen kann. Aber es 
bleibt immerhin auffällig, daß nur 44 von ungefähr 1400 Selbstmör¬ 
dern vorher zu irgendeiner Zeit in der Frankfurter Anstalt waren, 
also kaum ein Zehntel von denen, die ungefähr zur Zeit der Tat 
geisteskrank gewesen sein müßten, wenn die Statistik Recht hätte, die 
in ungefähr 30 Proz. der Fälle Geisteskrankheit annimmt. Auch 
Pilcz, der die Sektionsprotokolle der Selbstmörder des Instituts für 
gerichtliche Medizin in Wien durchmusterte, mußte feststellen, daß 
von 1245 Männern 42, von 426 Frauen 35 notorisch geisteskrank 
waren, also Feststellungen, die nicht sehr von unseren Erhebungen 
abweichen. Man wird es demnach verstehen, daß die vorhin gegen 
den hohen Prozentsatz geäußerten Bedenken nicht grundlos sind. 

Bei den Selbstmordversuchen sind es ungefähr 20 Proz. der Män- 




ner und 10 Proz. der Frauen, die vor der Tat in der Frankfurter An¬ 
stalt gewesen sind. Wir müssen aber bedenken, daß es sich nur um 
die Selbstmordversuche handelt, die der Polizei bekannt geworden 
sind; die Mehrzahl der Selbstmordversuche kommt ihr wohl gar nicht 
zu Ohren, denn wir können nicht annehmen, daß in einer Zeit, in der 
rund 1800 Selbstmorde verübt worden sind, nur rund 450 Selbstmord¬ 
versuche vorgekommen sein sollen. Der Umstand muß auch bei der 
Betrachtung des von G a u p p beigebrachten Materials berücksichtigt 
werden; auch in München werden sicher in 2 Jahren weit mehr als 
124 Selbstmordversuche vorgekommen sein. 

Wenn man nun sieht, wie gering der Prozentsatz der Selbst¬ 
mörder ist, die vor der Tat zu irgendeiner Zeit in der Anstalt gewesen 
sind, im Gegensatz zu denen, die einen Selbstmordversuch begangen 
haben, so werden die Bedenken noch stärker, die schon früher da¬ 
gegen erhoben worden sind, daß die Ergebnisse bei Menschen mit 
Suizidversuchen auf Selbstmörder angewendet werden. In einem be¬ 
stimmten Alter, in den Pubertätsjahren, beschäftigen sich viele mit 
dem Tode, spielen eine Reihe von Menschen mit Selbstmordideen, wir 
brauchen nur in Autobiographien bedeutender Männer zu blättern. 
So lesen wir z. B. bei L i c h t e n b e r g: „Ich habe schon auf Schulen 
Gedanken vom Selbstmord gehegt, die den gemein angenommenen 
in der Welt schnurstracks entgegenliefen, und erinnere mich, daß ich 
einmal lateinisch für den Selbstmord disputierte und ihn zu verteidi¬ 
gen suchte. Ich muß aber gestehen, daß die innere Überzeugung von 
der Billigkeit einer Sache (wie dieses aufmerksame Leser werden ge¬ 
funden haben) oft ihren letzten Grund in etwas Dunklem hat, dessen 
Aufklärung äußerst schwer ist oder wenigstens scheint, weil eben der 
Widerspruch, den wir zwischen dem klar ausgedrücktem Satze und 
unserm undeutlichen Gefühle bemerken, uns glauben macht, wir haben 
den rechten noch nicht gefunden. Im August 1769 und in den fol¬ 
genden Monaten habe ich mehr an den Selbstmord gedacht als je¬ 
mals, und allezeit habe ich bei mir befunden, daß ein Mensch, bei dem 
der Trieb zur Selbsterhaltung so geschwächt worden ist, daß er so 
leicht überwältigt werden kann, sich ohne Schuld ermorden könne. 
Ist ein Fehler begangen worden, so liegt er viel weiter zurück. Bei 
mir ist eine vielleicht zu lebhafte Vorstellung des Todes, seines An¬ 
fangs, und wie leicht er an sich ist, schuld daran, daß ich vom Selbst¬ 
mord so denke. Alle,- die mich nur aus etwas größeren Gesellschaf¬ 
ten und nicht aus einem Umgänge zu zweit kennen, werden sich wun¬ 
dern, daß ich so etwas sagen kann. Allein Herr L. weiß es, daß es 
eine meiner Lieblingsvorstellungen ist, mir den Tod zu gedenken, und 
daß mich dieser Gedanke zuweilen so einnehmen kann, daß ich mehr 



37 


zu fühlen als zu denken scheine und halbe Stunden mir wie Minuten 
vorübergehen. Es ist dieses keine dickblutige Selbstkreuzigung, wel¬ 
cher ich wider meinen Willen nachhinge, sondern eine geistige Wollust 
für mich, die ich wider meinen Willen sparsam genießen, weil ich zu¬ 
weilen fürchte, jene melancholische nachteulenmäßige Betrachtungs¬ 
liebe möchte daraus entstehen.“ 

Wie chronische körperliche Leiden lebhafte Selbstmordideen auf- 
kommen lassen, zeigt uns z. B. eine Stelle aus dem Heiligenstädter 
Testament Beethovens vom 6. Oktober 1802: „Noch war’s mir nicht 
möglich, den Menschen zu sagen: Sprecht lauter, schreit, denn ich bin 
taub! Ach, wie wäre es möglich, daß ich damit die Schwäche eines 
Sinnes zugeben sollte, der bei mir in einem vollkommeneren Grade als 
bei anderen sein sollte, eines Sinns, den ich einst in der größten Voll¬ 
kommenheit besaß, in einer Vollkommenheit, wie ihn wenige von 
meinem Fache gewiß haben, noch gehabt haben! 0, ich kann es nicht! 
. . . Welche Demütigung, wenn jemand neben mir stand und von 
weitem eine Flöte hörte und ich nichts hörte, oder jemand den Hirten 
singen hörte und ich auch nichts hörte! Solche Ereignisse brachten 
mich nahe an Verzweiflung; es fehlte wenig, und ich endigte selbst 
mein Leben. — Nur sie, die Kunst, sie hielt mich zurück! Ach, es 
dünkte mir unmöglich, die Welt eher zu verlassen, bis ich das alles 
hervorgebracht, wozu ich mich aufgelegt fühlte. . . 

Bei derartigen Menschen können plötzlich eintretende unange¬ 
nehme Ereignisse je nach der Stärke dieser Ereignisse und der Wider 
Standskraft des einzelnen Individuums eine Explosion herbeiführen; 
der Lebenserhaltungstrieb entgleist. Gewiß, eine Reihe von Selbst¬ 
mördern ist geisteskrank, wobei es noch dahingestellt bleiben muß, 
wie hoch dieser Prozentsatz ist; sehr viele Selbstmörder sind ohne 
Frage haltlose oder erregbare Psychopathen und weisen, wie G a u p p 
hervorhebt, krankhafte Züge mannigfacher Art auf. Es hieße aber 
den Bogen überspannen, wenn wir fast alle Selbstmorde auf krank¬ 
hafte Zustände zurtickführen wollten. Die Grenzen zwischen Krank¬ 
heit und Gesundheit sind zwar oft schwer zu ziehen, und sie ändern 
sich mit der Änderung wissenschaftlicher Anschauungen, die Medizin 
ist eben keine exakte Wissenschaft, wie z. B. die Mathematik. Es 
geht aber nicht an, alle Absonderlichkeiten und Abweichungen eines 
Menschen als krankhaft zu bezeichnen. „Es gibt“, wie P1 a c z e k 
betont, „Situationen im Leben, aus denen der vollwertigste Mensch 
keinen andern Ausweg findet. Situationen, die ein vollwertiger 
Mensch klar und nüchtern überschaut, die daraus sich ergebende 
Lösung klar durchdenkt und in voller Ruhe den einzigen, ihm denk¬ 
baren Ausweg wählt. Gewiß können nun in jedem Falle die Meinun- 


r 




38 


gen über die Notwendigkeit auseinandergehen . . Wir, die wir 
ohne jeden Affekt die Vorgänge überschauen, werden in vielen Fällen 
noch einen Ausweg erkennen, wie ja auch der Zuschauer beim 
Schachspiel mitunter noch einen Zug sieht, der das Spiel retten 
könnte, während der Spieler es als aussichtslos aufgibt. Es ist aber 
noch nicht gesagt, daß der Ausweg, der uns möglich erscheint, auch 
für den Selbstmordkandidaten gangbar ist. Daß bei einem großen 
Teil der Selbstmörder eine Einengung aller psychischen Fähigkeiten 
besteht, wird Friederike S t e 1 z n e r zugegeben werden müssen; viele 
Selbstmörder befinden sich vor der Tat gewissermaßen in einem Aus¬ 
nahmezustand, in dem eine Reihe von Möglichkeiten, die Situation 
zu retten, einem entgehen können. In einen solchen Zustand aber 
kann unter bestimmten Voraussetzungen jeder Mensch geraten, ohne 
daß ein ernster Psychiater ihn für einen Geisteskranken oder Psycho¬ 
pathen erklärt. Gewiß — man kann es gar nicht scharf genug be¬ 
tonen — ist damit, daß der Selbstmord verständlich erscheint, ganz 
und gar nicht der Beweis für die geistige Gesundheit des Selbst¬ 
mörders erbracht, auch für das von P1 a c z e k angeführte Beispiel 
der Charitekrankenschwester, die bei einer Operation durch Ver¬ 
wechslung von Kokainlösungen den Tod eines Kindes herbeiführte 
und sich darauf mit einer starken Kokainlösung tötete, gilt dieser 
Einwand. Der Geisteskranke kann aus einem verständlichen Motiv 
Selbstmord begehen. Wenn z. B. ein Kranker unter dem Namen 
seines Arztes bei dem zugezogenen Facharzt telephonisch anfragt, 
was er gefunden habe, und erfährt, es handle sich um eine beginnende 
Paralyse, so werden viele den daraufhin erfolgten Selbstmord ver¬ 
ständlich finden. Aber wie man nicht das Verständliche der Tat als 
Beweis für die geistige Gesundheit anführen kann, so geht es nicht 
an, den Selbstmord an sich schon als ein Symptom einer geistigen 
Störung anzusehen oder zu behaupten, daß er fast immer krankhaften 
Zuständen entspringe. Es gibt eine Reihe von Selbstmördern, bei 
denen keinopsychischen Anomalien nachweisbar sind. Schopen¬ 
hauer schreibt, daß unter Umständen auch der gesundeste und 
vielleicht selbst der heiterste Mensch sich zum Selbstmord ent¬ 
schließen kann, wenn nämlich die Größe der Leiden oder des unaus- 
weichbar herannahenden Unglücks die Schrecken des Todes über¬ 
wältigt. Wie hoch der Prozentsatz dieser Selbstmörder ist, kann 
nicht gesagt werden, zur Beantwortung dieser Frage reichen die 
Unterlagen nicht aus. H o c h e schreibt darüber: „Verhältnismäßig 
selten, wenn auch nicht so selten wie man gewöhnlich annimmt, ist 
diejenige Selbsttötung, die man als Bilanzselbstmord bezeichnen 
könnte, d. h. ein solcher, bei dem in kühler und klarer Besonnen- 



39 


heit alle dafür und dagegen sprechenden Gründe abgewogen werden, 
etwa wie in den Fällen von Kassierern oder Bankiers, die jahrelang 
von fremden Geldern ein gutes Leben führen und dabei die ganze 
Zeit über schon das Gift bei sich führen, mit dem sie im Augenblick 
der Verhaftung ihrem Leben ein Ziel setzen. Auch jetzt hören wir 
von wohlüberlegtem freiwilligem Tode geistig hochstehender Men¬ 
schen, die nicht die Absicht haben, den jetzigen Umschwung und die 
politische Demütigung vor unseren Feinden mitzumachen . . 

Unsere Betrachtungen zeigen uns, daß in der wissenschaftlichen 
Erforschung des Selbstmordproblems noch manches zu leisten ist. 
In allen großen Städten, in denen Abteilungen für psychisch Kranke 
bestehen, müßte der Polizei die Verpflichtung auferlegt werden, nicht 
nur jeden ihr zu Ohren kommenden Selbstmordversuch, sondern auch 
jeden Selbstmord sofort dieser Abteilung zu melden, damit von sach¬ 
verständiger Seite eingehende Erhebungen angestellt werden können. 
In jedem Falle müßte eine genaue Sektion erfolgen, Körpermessungen 
könnten ebenfalls vorgenommen werden, und alle Befunde müßten an 
einer Stelle gesammelt und bearbeitet werden. Derartige Bestim¬ 
mungen könnten unter Umständen die Nebenwirkung haben, daß die 
Selbstmordhäufigkeit beeinflußt würde. Sagt doch Hebbel in 
seinem Tagebuch: „Ich glaube, wenn mich nichts vom Selbstmord 
zurückhielt, so wär’s der Gedanke, auf die Anatomie geschleppt und 
dort zerschnitten zu werden.“ 

Bei den statistischen Erhebungen wäre zu wünschen, daß alle 
Daten für Männer und Frauen gesondert zusammengestellt würden; 
man sollte auch den Fragen besondere Aufmerksamkeit schenken, ob 
Selbstmorde in der Familie schon vorgekommen sind, ob der Selbst¬ 
mörder einziges oder uneheliches Kind ist. Die während des Krieges 
begangenen Selbstmorde in den verschiedenen Armeekorps sollten 
auf Grund der Rentenakten eingehend einheitlich bearbeitet werden. 

Fassen wir zum Schluß noch einmal alles kurz zusammen: Die 
Statistik zeigt, daß das Wirtschaftsleben in erster Linie die Häufigkeit 
der Selbstmorde beeinflußt. Recht deutlich kommt diese Tatsache zum 
Ausdruck, wenn die Zunahme der Männer- und Frauenselbstmorde 
getrennt betrachtet wird. In den letzten 13 Jahren vor dem Kriege 
nahmen die Männerselbstmorde ungefähr 20 Proz., die Frauenselbst- 
morde aber um 70 Proz. zu. Nun ist gerade in diesen Jahren die Zahl 
der Frauen, die sich dem Berufsleben zugewendet haben, sehr gestie¬ 
gen; auch die Selbstmorde der Großstadt zeigen es uns, sind doch un¬ 
gefähr 75 Proz. der Selbstmörder in Großstädten nicht in der Gro߬ 
stadt geboren, sondern später zugezogen, also Menschen, die nicht fähig 
gewesen sind, in der Großstadt festen Fuß zu fassen. Man sucht der 



40 


Ansicht, daß das Wirtschaftsleben der wichtigste Faktor beim Selbst- 
mord sei, mit dem Einwande zu begegnen, daß gerade bei den Ärmsten 
der Selbstmord selten sei; es töten sich aber gewöhnlich doch nicht die, 
die sich an ihr Elend gewöhnt haben oder keine besseren Tage kennen, 
sondern die, die ins Gleiten kommen oder zu gleiten fürchten. In zweiter 
Linie ist die Religiosität, nicht die Religion bei der Selbstmordhäufig¬ 
keit von Einfluß. Wir haben es an den Juden zeigen können, wie sie 
mit der Abnahme der Religiosität von der 3. an die 1. Stelle in der 
Selbstmordhäufigkeit rückten; und neben dem Wirtschaftsleben ist 
es wohl auch die Religiosität, die die Tatsache miterklärt, daß die 
Selbstmordhäufigkeit der Männer 3—4mal so groß ist, wie die der 
Frauen, ist doch die Frau religiöser als der Mann. Daß auch die 
größere Aktivität des Mannes für den Unterschied verantwortlich zu 
machen ist, soll keineswegs bestritten werden. 

Ein sehr großer Einfluß auf die Selbstmordhäufigkeit muß dem 
Volkscharakter eingeräumt werden. Verschiedene Autoren sprechen 
hier von Rasse; wir kennen indessen keine klare wissenschaftliche 
Definition dieses Begriffes, den namhafte Autoren völlig ablehnen, 
aber es steht fest, daß die Neigung zur Selbstvemichtung bei den ver¬ 
schiedenen Stämmen verschieden stark ausgeprägt ist; und nicht nur 
in der Selbstmordneigung der verschiedenen Völker, auch innerhalb 
derselben Stämme bestehen weitgehende Unterschiede. 

Die Selbstmordneigung nimmt mit dem Alter zu und wird durch 
den Familienstand stark beeinflußt, die Ehe wirkt selbstmord- 
beschränkend. 

Daß die Selbstmordhäufigkeit im Frühling ansteigt, um im Mai 
und Juni den höchsten Stand zu erreichen, dann abfällt, um im De¬ 
zember und Januar am tiefsten zu stehen, ist eine Erscheinung, die 
noch sehr der Klärung bedarf, und die damit nicht genügend begrün¬ 
det ist, daß man sie auf die klimatischen Verhältnisse zurückführt, 
denn betrachtet man auch hier die Männer- und Frauenselbstmorde 
getrennt, so zeigt sich bei den Frauenselbstmorden nicht diese Gesetz¬ 
mäßigkeit, und bei den Soldatenselbstmorden wurde in den Monaten 
Januar und Februar der höchste Stand gefunden, also 3—4 Monate 
nach der Einstellung. Nachahmung, suggestive und erzieherische 
Einflüsse werden als wichtige Momente bei der Selbstmordhäufigkeit 
bewertet werden müssen. 

Ein bestimmter Prozentsatz der Selbstmörder ist geisteskrank, 
begeht infolge depressiver oder sonstiger krankhafter Ideen die Tat. 
Daß aber die Geisteskrankheit bei ungefähr einem Drittel der Selbst¬ 
mörder in Frage kommt, diese Annahme erscheint auf Grund eigener 
Untersuchungen und kritischer Betrachtungen anderer Arbeiten nicht 



41 


genügend begründet, dieser Prozentsatz ist sicherlich viel zu hoch. 
Daß sehr viele Selbstmörder „geistig irgendwie abnorme Persönlich¬ 
keiten sind, oder mindestens solche, die an der Grenze geistiger Ge¬ 
sundheit stehen“, kann nicht bestritten werden; es gibt aber eine 
Reihe von Selbstmördern, bei denen irgendwelche psychische Anomalien 
nicht zu finden sind, die als geistig gesund angesprochen werden 
müssen; es gibt, um mit H o c h e zu reden, einen Bilanzselbstmord. 

Unter gewissen Umständen kann die Widerstandsfähigkeit eines 
jeden Menschen gebrochen werden, je nach Anlage werden bei dem 
einen erhebliche, bei dem anderen ganz geringe Reize notwendig sein; 
aber auch ein und derselbe Mensch kann auf dieselben Reize zu ver¬ 
schiedenen Zeiten verschieden reagieren, körperliche Beschwerden, 
Ermüdung, Alkoholgenuß u. a. m. können dabei eine Rolle spielen. 
Wenn aber auch im allgemeinen selbst bei sehr schweren Gemüts¬ 
bewegungen noch genügend Hemmungen vorhanden sind, eine Flucht 
aus dem Leben zu verhindern, „die Scheu vor dem Eingreifen in den 
eigenen Körper“ nicht zum Schweigen bringen zu lassen, so kann es 
doch durch die Summierung verschiedener Momente zu einer Explo¬ 
sion kommen. Man wird A. Leppmann zustimmen müssen, daß 
eine derartige Konstellation wohl nur ein einziges Mal während der 
ganzen Dauer des Lebens eintritt, und ein Mensch über eine derartige 
Situation gebracht wird im allgemeinen nie mehr einen Selbstmord 
begehen. Daß dies für Geisteskranke nicht zutrifft, bedarf wohl 
keiner besonderen Betonung. 

Daß die Selbstmordhäufigkeit ein Gradmesser deT Kultur und 
Moralkraft eines Volkes sei, daß die Zunahme der Selbstmorde als ein 
Signal zunehmender Volksdegeneration zu gelten habe, muß ganz 
entschieden bestritten werden. Es ist nicht wahr, daß der Selbstmord 
bei unzivilisierten Völkern unbekannt ist. 

Mit der Kenntnis einer Reihe von Momenten, die für die Selbst¬ 
mordhäufigkeit von Belang sind, ist der Weg gegeben, der Selbst¬ 
mordhäufigkeit beizukommen. Bei uns gilt zwar nicht mehr das atti¬ 
sche Gesetz: „Wer nicht länger leben will, der zeige es an und scheide 
nach erhaltener Erlaubnis aus dem Leben.“ Das Prinzip aber ist in 
unserer Zeit durch die Einrichtungen der Heilsarmee und der Ber¬ 
liner Stadtmission, die eine Selbstmörderfürsorge betreiben, in ge¬ 
wisser Beziehung verwirklicht.. Auch die Psychopathenfürsorge, die 
auf Veranlassung des Reiches jetzt in allen Städten aufgenommen 
werden soll, gibt Gelegenheit, überall derartige Einrichtungen zu 
schaffen, sozusagen Sprechstunden für Selbstmordkandidaten abzu¬ 
halten. Abgesehen davon, daß in vielen Fällen mit Rat und Tat ein¬ 
gegriffen werden könnte, würde schon die Aussprache an sich häufig 


r 



42 


günstig wirken. So erklärt z. B. schon Lichtenberg die gerin¬ 
gere Selbstmordhäufigkeit der Katholiken im Verhältnis zu den Pro¬ 
testanten damit, daß den Katholiken die Ohrenbeichte Gelegenheit 
gäbe, sich auszusprechen und so dem gefährlichen Grübeln ein Ziel 
setze. Die Hauptarbeit aber, der Selbstmordhäufigkeit zu begegnen, 
wird Haus und Schule zu leisten haben. „Erziehen heißt, das Kind 
für das wirkliche Leben heranbilden. . . . Jener Erzieher, der sein 
Kind zum Verzichten anleitet, steht ethisch viel höher, als derjenige, 
der es von Genuß zu Genuß führt.“ Diese Worte S t e k e 18 können 
nicht stark genug unterstrichen werden. Auch die Schule wird ihre 
Hauptaufgabe darin sehen müssen, lebenstüchtige Menschen heranzu¬ 
bilden, die Kinder für den Lebenskampf mit genügend Hemmungen 
auszurüsten. Der Erzieher kann, muß vielleicht sogar den Glauben 
haben, daß die Macht der Erziehung, wie St. Mi 11 meint, fast gren¬ 
zenlos ist, daß es keine einzige natürliche Neigung gäbe, welche sie 
nicht stark genug wäre einzuschränken, und, wenn es erforderlich 
wäre, durch Entwöhnung zu zerstören. Die Schule soll auch den 
Kindern nicht eine zu große Ehrfurcht vor jedem geschriebenen 
Wort einimpfen, sie vielmehr belehren, daß nicht alles, was gedruckt 
ist, geglaubt werden muß. Auch Ansichten sehr bedeutender Män¬ 
ner müssen nicht immer von der Allgemeinheit geteilt werden, sie 
können unter Umständen sogar der Allgemeinheit sehr schädlich sein. 
Deshalb braucht man aber nicht gleich gegen eine Reihe von Werken 
anzugehen, nicht gleich zu behaupten, Kunst und Literatur wären 
Schuld an der Selbstmordhäufigkeit. Manche Werke sind eben nicht 
für Unreife und Halbgebildete geschaffen. Wenn wirklich hier und 
da ein haltloser Psychopath durch einen Ausspruch z. B. Nietz¬ 
sches: „Meinen Tod lobe ich euch, den freien, der mir kommt, weil 
ich will“, angefeuert, sich töten sollte, so wäre es übertrieben, des¬ 
wegen derartige Werke zu bekämpfen, die Millionen von Menschen 
Freude, Unterhaltung, Erbauung bringen. 

Bei der Erziehung darf selbstverständlich die religiöse Erzie¬ 
hung nicht außer acht gelassen werden. Es müßte besonders darauf 
gesehen werden, daß hier Haus und Schule Hand in Hand arbeiten. 
Die Statistik zeigt, daß die Religiosität einen sehr großen Einfluß auf 
die Selbstmordhäufigkeit hat, daß religiöse Menschen viel mehr Hem¬ 
mungen als indifferente oder irreligiöse gegen die Selbstvernichtung 
haben. Mit Goethes Satz: „Wer Wissenschaft und Kunst besitzt 
— Hat auch Religion, — Wer jene beiden nicht besitzt, — Der habe 
Religion“, ist diese Frage nicht abgetan. Gerade dem haltlosen 
Psychopathen wird Wissenschaft und Kunst nicht die Hemmungen 
geben, die eine tiefe Religiosität ihm geben könnte. Was man aber 



43 


auch immer noch zur Bekämpfung der Selbstmordhäufigkeit anführen 
könnte, immer müssen einem Lichtenbergs Worte einfallen: 
„Man schreibt wider den Selbstmord mit Gründen, die unsere Ver¬ 
nunft in dem kritischen Augenblick bewegen soll. Dieses ist aber 
alles vergeblich, solange man sich diese Gründe nicht selbst erfun¬ 
den hat, das heißt, sobald sie nicht Früchte, das Resultat unserer 
ganzen Erkenntnis und unseres erworbenen Wesens sind. Also alles 
ruft uns zu: bemühe dich täglich um Wahrheit, lerne die Welt kennen, 
befleißige dich des Umganges mit rechtschaffenen Menschen, so wirst 
du jederzeit handeln, wie dir’s am zuträglichsten ist . . .“ 

Es bleibt aber noch die Frage zu erörtern, ob und wie die Selbst¬ 
morde Geisteskranker zu verhindern sind. Wir haben die krank¬ 
haften Zustände, die zur Selbstvernichtung führen können, geschil¬ 
dert, haben gesehen, daß vor allem depressive Zustände in Frage 
kommen, und haben darauf hingewiesen, daß solche Kranke am 
allerbesten in einer geschlossenen Anstalt aufgehoben sind. In vielen 
Fällen handelt es sich um heilbare Psychosen, um Menschen, die wäh¬ 
rend ihrer Krankheit unbedingt vor sich selbst geschützt werden müs¬ 
sen. Es kommt also darauf an, recht früh derartige Zustände richtig 
zu erkennen und sofort für eine geeignete Unterbringung solcher Kran¬ 
ken zu sorgen. Es ist besser, einmal zu viel als zu wenig mit der 
Selbstmordmöglichkeit gerechnet zu haben. Gewiß, auch in einer ge¬ 
schlossenen Anstalt wird nicht immer trotz energischster Bewachung 
der Selbstmord verhindert werden können, aber in mehr als 90 Proz. 
gelingt es doch. Dazu aber, daß die Kranken sich nicht weigern, 
rechtzeitig die geschlossene Anstalt aufzusuchen, daß auch ihre An¬ 
gehörigen nicht einen solchen Vorschlag weit von sich weisen, ist es 
unbedingt erforderlich, daß Vertrauen zu den geschlossenen Anstalten 
geschaffen wird, daß man sich von den irrigen Anschauungen über die 
„Tollhäuser“ freimacht und einsieht, daß heute eine gut geleitete ge¬ 
schlossene Anstalt sich kaum von einem modernen Krankenhaus un¬ 
terscheidet. Wenn aber sogar noch Ärzte der Ansicht sind, daß es 
Gummizellen und Zwangsjacken gibt, kann man nicht darüber stau¬ 
nen, daß Laien an diesen Vorstellungen festhalten. Die Gummizelle 
ist aber ein Märchen, und die Zwangsjacke ist seit fast vierzig Jahren 
in einer modernen Anstalt nicht mehr im Gebrauch. Wie jeder andere 
Kranke wird auch der Geisteskranke während seiner akuten Erkran¬ 
kung mit Bettruhe behandelt. 

Bei einer Selbstmörderfürsorge werden die Ärzte in erster Linie 
heranzuziehen sein, und vor allem psychiatrisch geschulte. Wenn 
auch der Erfolg wie bei vielen anderen Fürsorgeeinrichtungen gar 



44 


nicht im Verhältnis zur aufgewandten Mühe stehen wird, so wird es 
doch für die Ärzte eth befriedigendes Gefühl sein, wenigstens einige 
Menschen dem Leben erhalten zu haben. 


Literatur. 

(Die in Placzeks Buch „Selbstmordverdacht und SelbBtmordverhütung“ ange¬ 
gebene Literatur ist hier nicht wiederholt) 

B inding und Ho che: Die Freigabe und Vernichtung lebensunwerten 
Lebens. Meiner, Leipzig 1920. — Birnbaum: Psychopathologische Doku¬ 
mente. Springer, Berlin. — Brenning, £.: Der Selbstmord in der Literatur. 
Vortrag. — B r e s 1 e r: Wichtige Entscheidungen auf dem Gebiete der gericht¬ 
lichen Psychiatrie. 16. Folge.—Gädeken,Paul: Über die psycho-physiologische 
Bedeutung der atmosphärischen Verhältnisse, ins. des Lichts, Ztschr.f.Psychother. 

— G a u p p: Einige neuere Arbeiten über die Lehre vom Selbstmord. Mon. f. 
Kriminalpsychologie u. Strafrechtsreform, 3. Jahrg., 1906. — Geiger, K. A.: 
Der Selbstmord. — Heilbronner, Karl: Zur Psychopathologie der Me¬ 
lancholie. M. f. Psych. u. Neur., Bd. 22. — H i r z e 1, Rudolf: Der Selbstmord. 
Archiv f. Religionswissenschaft, 11. Bd., 1908. — H o c h e: Vom Sterben. 
G. Fischer. 1919. — Hoppe: Die Tatsachen über den Alkohol. — K tl r t e n, 0.: 
Statistik der Selbstmorde im Königreich Sachsen. Erg. H. zum D. Stak Zen¬ 
tralblatt 1912/14, H. 3. — Leppmann, A.: Tötung auf ausdrückliches ernst¬ 
liches Verlangen. Z. f. ges. Strafrechtswissenschaft, 32. Bd. — L e w i n, L. M.: 
Die Gifte in der Weltgeschichte. Springer, Berlin. — G. Ch. Lichtenbergs 
Werke. Eugen Diederichs, Jena 1907. — Märker, Johann: Von den Ur-. 
Sachen des häufigen Selbstmords. Frankfurt a. M. 1818. — v. Mayr: Hand¬ 
wörterbuch der StaatswisBenBchaften. 3. Auf]., 7. Bd. — Möbius: Über 
Entartung. — Ollendorff: Krankheit und Selbstmord. Diss. Greifswald 
1907. — Pelm an: Grenzfragen. — Ribot: Vererbung. — Roth, A.: 
Über den Selbstmord, Budapest 1878. — Sam wer, K.: Die Selbstentleibung 
der Gothaer Lebensversicherungsbank A.-G. 1829—1903, Masius Rundschau, 
17. Jahrg., 4. Heft — Scharrenbroich: Erlaubtheit des Selbstmordes. 

— Schlegel: Das Heimweh und der Selbstmord. 1835. — Schneider y 
Kurt: Studien über Persönlichkeit und Schicksal eingeschriebener Prosti¬ 
tuierter. Springer 1921. — Stegmann: Über den Geisteszustand der Selbst¬ 
mörder. A. Z. f. Psych. 1909. —Strasser, Vera: Psychologie der Zu 
sammenhänge und Beziehungen. 1921. — Wertheimer, E. J.: Zur Patho¬ 
logie und Pathogenese der Selbstmorde. Diss. München 1892. — Wilmanns: 
Über die Zunahme des Ausbruchs geistiger Störungen in den Frühjahrs- und 
Sommermonaten. M. m. W. 1920, H. 7. — Porträtgalerie aus Lamp rechts 
Deutscher Geschichte. Reel. Univ.-Bibl. Nr. 5181/82. — Über den Selbstmord^ 
herausgegeben von einem Menschenfreunde zur Warnung, Beruhigung und 
Trost für Zagende, Leidende und Mutlose. Frankfurt a. M. 1819. 




ABHANDLUNGEN AUS DER NEUROLOGIE, 
PSYCHIATRIE, PSYCHOLOGIE UND IHREN 
GRENZGEBIETEN 

BEIHEFTE ZUR MONATSSCHRIFT FÜR PSYCHIATRIE UND NEUROLOGIE 
HERAUSGEGEBEN VON K. BONHOEFFER 


HEFT 23 


Ober die Stellung der 
Psychologie im Stammbaum der 
Wissenschaften und die Dimension 
ihrer Grundbegriffe 


Von 


Dr. Heinz Ahlenstiel 



BERLIN 1923 

VERLAG VON S. KARGER 

KARLSTRASSE 15. 








Medizinischer Verlag von S. Karger in Berlin NW. 6. 


In den 

Abhandlungen aus der Neurologie, Psychiatrie, 
Psychologie und ihren Grenzgebieten 

Beihefte z. Monatsschrift für Psychiatrie u. Neurologie, sind bisher erschienen: 
Heft 1: Typhus und Nervensystem. Von Prof. Dr. Georg Stertz in 
Breslau. (Vergriffen.) 

Heft 2: Ueber die Bedeutung von Erblichkeit und Vorgeschichte 
für das klinische Bild der progressiven Paralyse. Von Dr, 

J. Pernet in Zürich. (Vergriffen.) 

Heft 3* Kindersprache und Aphasie/ Gedanken zur Aphasielehre auf 
Grund von Beobachtungen der kindlichen Sprachentwickelung und 
ihrer Anomalie. Von Priv.-Doz Dr. Emil Fröschels in Wien. Mk 5.50 
Heft 4: Epilepsie und Dementia praecox. Von Professor Dr W. 

Vorkastner in Greifswald. Mk. 5.— 

Heft 5: Forensisch-psychiatrische Erfahrungen im Kriege. Von Priv.- 
Doz. Dr. W. Schmidt ip Heidelberg. Mk. 8.— 

Heft 6: Verbindung endogener und exogener Faktoren in dem 
Symptomenbilde und der Pathogenese von Psychosen. Von 
Priv.-Doz. Dr. Hans Seelert in Berlin. Mk. 3.50 

Heft 7: Zur Klinik und Anatomie der reinen Worttaubheit, der 
Heilungsaphasie und der Tontaubheit. Von Priv.-Doz. Dr. Otto 
Pötzl in Wien. Mit zwei Tafeln. Mk. 4.— 

Heft 8: Die Spielbreite der Symptome beim manisch-depressiven 
Irresein. Von Prof. I)r. P. Schröder in Greifswald. Mk. 8.— 
Heft 9: Die symptomatischen Psychosen und ihre Differential¬ 
diagnose. Von Priv.-Doz. l)r. Hans Krisch in Greifswald. Mk. 2.25 
Heft 10: Die AbderhaldenscheReaktion mitbes.BerücksichtigungihrerEr- 
gebnissei.d.Psychiatrie. Von Priv.-Doz.Dr.G.Ewa ld in Erlangen. Mk.9.— 
Heft 11: Der extrapyramidale Symptomenkoraplex (das dystonische 
Syndrom! und seine Bedeutung in der Neurologie. Von Prof. 
Dr. G. Stertz in München (Vergriffen.) 

Heft 12: Der anethische Symptomenkomplex. Eine Studie zur Psycho¬ 
pathologie d. Handlung. Von Priv.-Doz. Dr. O. Al brecht in Wien. Mk. 4.— 
Heft 13: Die neurologische Forschungsrichtung in der Psychopatho¬ 
logie und andere Aufsätze. Von Prof. Dr. A.Pick in Prag. Mk. 8.-— 
Heft 14: Ueber d. Entstehung d. Negrischen Körperchen. Von Prof. Dr. 

L. Benedek u. Dr. F.O. Porsche in Kolozsvar. Mit 10 Tafeln Mk. 8 — 
Heft 15: Ueber die Bedeutung und Entstehung der Stereotypien. 

Von Priv.-Doz. Dr. .Jakob Kläsi in Zürich. Mk. 1.50 

Heft 16: Ueber Psychoanalyse. Von Dozent Dr. R A11 e rs in Wien. Mk. 2.— 
Heft 17: Die Zergliederung des psychischen Krankheitsbildes bei 
Arteriosklerosis-cerebri. Von Nervenarzt Dr. S. J. R. de Monchy 
in Rotterdam. Mk. 2.— 

Heft 18: Epilepsie und manisch-depressives Irresein. Von Dr. H^ns 
Krisch in Greifswald. Mk. 2 — 

Heft 19: Ueber die paranoiden Reaktionen in der Haft. Von Dr. 

W. Försterling in Landsberg a. d. W. Mk. 2 10 

Heft 20: Dementia praecox. Intermediäre psychische Schicht und 
Kleinhirn - Basalganglien - Stirnhirnsysteme. Von Priv.-Doz. 
Dr. Ma x Loewy in Prag-Marienbad. Mk. 2.40 

Heft 21: Metaphysik und Schizophrenie. Eine vergleichende psycho¬ 
logische Studie. Von Dr. G. Bychowski in Warschau. Mk. 3.60 
Heft 22: Der Selbstmord. Von Priv.-Doz. Dr. med. R. Weichbrodt in 
Frankfurt a. M. Mk. 0.90 

Heft 23: Ueber die Stellung der Psychologie im Stammbaum der 
Wissenschaften und die Dimension ihrer Grundbegriffe. Von 
Dr. Heinz Ahlenstiel in Berlin. Mk. 1.80 

Die Abonnenl^p der „Monatsschrift für Psychiatrie und Neurologie* 

erhalten diese Abhandlungen zu einem ermäßigten Preise. __ 

Die obigen Preise sind Grundpreise, die. nach dem jeweiligen Fmreciinungsschliisscl 
vervielfacht, die Verkaufspreise ergehen. Für das Ausland gelten obige Preise 
in Schweizer Franken als Verkaufspreise. ohne jeden Aufschlag, mit Aus¬ 
nahme des Portos. 






■J 


ABHANDLUNGEN AUS DER NEUROLOGIE, 
PSYCHIATRIE, PSYCHOLOGIE UND IHREN 
GRENZGEBIETEN 

BEIHEFTE ZUR MONATSSCHRIFT FÜR PSYCHIATRIE UND NEUROLOGIE 
HERAUSGEGEBEN VON K. BONHOEFFER 


HEFT 23 


Uber die Stellung der 
Psychologie im Stammbaum der 
Wissenschaften und die Dimension 
ihrer Grundbegriffe 


Dr. Heinz Ahlensiiel 




BERLIN 1923 

VERLAG VON S. KARGER 

KARLSTRASSE 15. 












Medizinischer Verlag von S- Karger in Berlin NW. 6. 

In den 

Abhandlungen aus der Neurologie, Psychiatrie, 
Psychologie und ihren Grenzgebieten 

Beihefte z. Monatsschrift für Psychiatrie u. Neurologie, sind bisher erschienen: 
Heft 1: Typhus und Nervensystem. Von Prof. Dr. Georg Stertz in 
Breslau. (Vergriffen.) 

Heft 2; Ueber die Bedeutung von Erblichkeit und Vorgeschichte 
für das klinische Bild der progressiven Paralyse. Von Dr. 

J. Fern et in Zürich. (Vergriffen.) 

Heft 3* Kindersprache und Aphasie/ Gedanken zur Aphasielehre auf 
Grund von Beobachtungen der kindlichen Sprachentwickelung und 
ihrer Anomalie. Von Priv.-Doz. Dr. Emil Frischeis in Wien. Mk 5.50 
Heft 4: Epilepsie und Dementia praecox. Von Professor Dr W. 

Vorkastner in Greifswaid. Mk. 5.— 

Heft 5: Forensisch-psychiatrische Erfahrungen im Kriege. Von Priv> 
Doz. Dr. W. Schmidt ip Heidelberg. Mk. 8.— 

Heft 6: Verbindung endogener und exogener Faktoren in dem 
Symptomenbilde und der Pathogenese von Psychosen. Von 
Priv.-Doz. Dr. Hans Seelert in Berlin. Mk. 3.50 

Heft 7: Zur Klinik und Anatomie der reinen Worttaubheit, der 
Heilungsaphasie und der Tontaubheit. Von Priv.-Doz. Dr. Otto 
Pötzl in Wien. Mit zwei Tafeln. Mk. 4.— 

Heft 8: Die Spielbreite der Symptome beim manisch-depressiven 
Irresein. Von Prof. Dr. P. Schröder in Greifswald. Mk. 3.— 
Heft 9: Die symptomatischen Psychosen und ihre Differential¬ 
diagnose. Von Priv.-Doz. I)r. Hans Krisch in Greifswald. Mk. 2.25 
Heft 10: Die AbderhaldenscheReaktion mitbes.BerücksichtigungihrerEr¬ 
gebnisse i.d. Psychiatrie. Von Priv.-Doz. Dr.G.Ewald in Erlangen. Mk.9.— 
Heft 11: Der extrapyramidale Symptomenkoraplex (das dystonische 
Syndrom) und seine Bedeutung in der Neurologie. Von Prof. 
Dr. G. Stertz in München (Vergriffen.) 

Heft 12: Der anethische Symptomenkomplex. Eine Studie zur Psycho¬ 
pathologie d. Handlung. Von Priv.-Doz. Dr. 0. Al brecht in Wien. Mk. 4.— 
Heft 13: Die neurologische Forschungsrichtung In der Psychopatho¬ 
logie und andere Aufsätze. Von Prof. Dr. A. Pick in Prag. Mk. 8.— 
Heft 14: Ueber d. Entstehung d. Negrischen Körperchen. Von Prof. Dr. 

L. Benedek u. Dr. F.O. Porsche in Koiozsvar. Mit 10 Tafeln Mk. 8 
Heft 15: Ueber die Bedeutung und Entstehung der Stereotypien. 

Von Priv.-Doz. Dr. Jakob Kläsi in Zürich. Mk. 1.50 

Heft 16: Ueber Psychoanalyse. Von Dozent Dr. R A1 le rs in Wien. Mk. 2.— 
Heft 17: Die Zergliederung des psychischen Krankheitsbildes bei 
Arteriosklerosis-cerebri. Von Nervenarzt Dr. S. J. R. de Monchy 
in Rotterdam. Mk. 2.— 

Heft 18: Epilepsie und manisch-depressives Irresein. Von Dr. Hgns 
Krisch in Greifswald. Mk. 2.— 

Heft 19: Ueber die paranoiden Reaktionen in der Haft. Von Dr. 

W. Försterling in Landsberg a, d. W. Mk. 2 10 

Heft 20: Dementia praecox, intermediäre psychische Schicht und 
Kleinhirn - Basalganglien - Stirnhirnsysteme. Von Priv.-Doz. 
Dr. Max Loewy in Prag-Marienbad. Mk, 2.40 

Heft 21: Metaphysik und Schizophrenie. Eine vergleichende psycho¬ 
logische Studie. Von Dr. G. Bychowski in Warschau. Mk. 3.60 
Heft 22: Der Selbstmord. Von Priv.-Doz. Dr. med. R. Weichbrodt in 
Frankfurt a. M. Mk. 0.90 

Heft 23: Ueber die Stellung der Psychologie im Stammbaum der 
Wissenschaften und die Dimension ihrer Grundbegriffe. Von 
Dr. Heinz Ahlenstiel in Berlin. __ Mk. 1.80 

Die Abonneitl^u der „Monatsschrift für Psychiatrie und Neurologie** 
erhalten diese Abhandlungen zu einem ermäßigten Preise. 

Die obigen Preise sind Grundpreise, die, mich dem jeweiligen UmrecimungsscbÜissel 
vervielfacht, die Verkaufspreise ergeben. Für das Ausland gelteQ obige Preise 
in Schweizer Franken als Verkaufspreise, ohne jeden Aufschlag, mit Aus¬ 
nahme des Portos. 




ABHANDLUNGEN AUS DER NEUROLOGIE, 
PSYCHIATRIE, PSYCHOLOGIE UND IHREN 
GRENZGEBIETEN 

BEIHEFTE ZUR MONATSSCHRIFT FÜR PSYCHIATRIE UND NEUROLOOIE 
HERAUSOEOEBEN VON K. BONHOEFFER 

HEFT 23 


Uber die Stellung der 
Psychologie im Stammbaum der 
Wissenschaften und die Dimension 
ihrer Grundbegriffe 


Von 


Dr. Heinz Ahlenstiel 



BERLIN 1923 

VERLAG VON S. KARGER 

KARLSTRASSE 15. 















Formal nach der Art ihrer Eingliederung im Universitätsbetriebe 
wie inhaltlich nach der Art ihrer Fragestellung, ihrer engen grund¬ 
begrifflichen Verbindung mit der Philosophie ist die Psychologie von 
heute noch ein Glied der Geisteswissenschaften. Sind auch vielfach, 
wie in den experimentellen Zweigen, Berührungspunkte mit der Natur¬ 
wissenschaft vorhanden, so fühlt sie sich doch in ihrer Grundlage, in 
der Auffassung des Wesens des Psychischen grundsätzlich geschieden 
oder doch zum mindesten unabhängig von der Naturwissenschaft. 

Auch in der Medizin teilt man ganz allgemein diese Stellung¬ 
nahme. Selbst dort, wo Versuche vorliegen, wie die der neueren 
Temperamentlehre, deren Ausbau die medizinische Psychologie zu 
einem der wichtigsten Gebiete der gesamten heutigen Psychologie 
machen und das Schwergewicht so sehr nach der naturwissenschaft¬ 
lichen Seite verschieben müßte, daß ihr Verbleibenkönnen im geistes¬ 
wissenschaftlichen Verbände zum mindesten doch recht fraglich 
werden würde, selbst dort ist man (ein allerdings nicht gerade selte¬ 
ner Vorgang) in der theoretischen Grundlegung konservativ geblie¬ 
ben, man ist sich zwar klar, daß unsere Vorstellungen über die Seele 
und ihre Stellung im modernen Weltbild noch „widerspruchsvoll, 
unabgeklärt, in einem Übergangsstadium begriffen“ sind, benutzt aber 
doch erkenntnistheoretische Begriffe und Fragestellungen zur Grund¬ 
legung der Wissenschaft und glaubt beispielsweise etwas zu sagen, 
wenn man sich eingangs zu einer erkenntnistheoretischen Einstellung 
wie der des „spiritualistischen Monismus“ bekennt. 

Auch die weiter zurückliegenden theoretischen Vorstöße zu¬ 
gunsten einer naturwissenschaftlichen Auffassung der psychologi¬ 
schen Grundbegriffe von einer Seite, die sonst aus ihrer ablehnenden 
Stellung zu mancher Fragestellung der Philosophie kein Hehl gemacht 
hat, haben an einem gewissen Punkte haltgemacht, auch hier hat 
man das Bedürfnis behalten, sich zunächst erkenntnistheoretisch zu 
orientieren, ein Beginnen, das für die restlos klare naturwissenschaft¬ 
liche Gestaltung des Bewußtseinsbegriffs und konsekutiver Frage¬ 
stellungen verhängnisvoll geworden ist. 



4 


Die grundlegende Orientierung mit den Mitteln der Erkenntnis¬ 
theorie am Anfang aller Psychologie ist in der Naturwissenschaft 
eben noch ganz allgemein, bezeichnend ist, daß sie nicht einmal bei 
den Vertretern der Richtungen vermißt wird, die am wenigsten Ver¬ 
anlassung hätten, an hergebrachte Anschauungen Konzessionen zu 
machen. 

Im folgenden wird nun versucht zu zeigen, daß die bisher 
übliche, im Anschluß an die Erkenntnistheorie erfolgte grundlegende 
Formulierung des Begriffes Psychisch nicht zu halten ist, daß sie 
einen Widerspruch zu der Art und Weise des Begriffsgebrauchs be¬ 
deutet, durch den die Wissenschaft — nicht nur etwa die Natur¬ 
wissenschaft allein — groß geworden ist, daß die tatsächliche 
Dimension der fraglichen Begriffe außerhalb erkenntnistheoretischer 
Spekulation betrachtet eine völlig andere und den sonstigen natur¬ 
wissenschaftlichen Begriffen durchaus vergleichbare ist und daß eine 
erkenntnistheoretische Grundlegung der Psychologie völlig inhaltslos 
ist. Die Psychologie wird nach dieser Auffassung zur Naturwissen¬ 
schaft, zu einer Wissenschaft, die sich nicht nur einzelner natur¬ 
wissenschaftlicher Methoden bedient, sondern die in Forschungsziel 
und Methodik ein organisches Glied jenes großen Körpers bildet, 
dessen Hauptteil die unter dem Namen Naturwissenschaft zusammen¬ 
gefaßten Wissenschaften ausmachen. In dieser Auffassung gestaltet 
sich die Fassung der psychologischen Grundbegriffe wie der wissen¬ 
schaftlichen Begriffe überhaupt so, daß schon die erkenntnistheore¬ 
tische Fragestellung entfällt, die ersteren erscheinen jedoch in einer 
etwas anderen Beleuchtung als etwa auch vom Standpunkte des 
materialistischen Monismus aus, diese wie jede andere Lösung des 
Problems entfällt mit der Frage selbst. 

Ehe wir uns zur Kritik des Begriffes Psychisch wenden, ist es 
unerläßlich, auf Ziel und Wesen naturwissenschaftlicher Forschung 
und Methodik überhaupt, wenn auch in äußerster Kürze, einzugehen, 
ist doch das, was wir heute Naturwissenschaft nennen, kein irgend¬ 
wie mit theoretischer Begründung abzugrenzender Zweig des großen 
Ganzen Wissenschaft, sondern nur der Teil, an dem sich ein Reini- 
gungs- und Reifungsprozeß bereits vollzogen hat, der den restlichen 
Teilgebieten der Wissenschaft, den sogenannten Geisteswissenschaf¬ 
ten, noch bevorsteht — der Psychologie beginnt er gerade eben 
seinen charakteristischen Stempel aufzudrücken. Nur wenn wir ge¬ 
nügend weit zurücktreten, den ganzen Entwickelungsgang der 
Wissenschaft überhaupt im Auge behalten und uns erinnern, daß 



5 


eben dieser Prozeß mit seinen Widerständen auch zum Teil ein 
psychologisches Problem ist, dürfen wir hoffen, das Problem richtig 
za sehen und die Kluft zwischen jenen beiden Gruppen richtig zu be¬ 
urteilen, in die heute noch unser wissenschaftliches Leben geschieden 
ist, zwischen Naturwissenschaften und Geisteswissenschaften. 

Versuchen wir ganz allgemein zunächst zu definieren, was wir 
unter Wissenschaft vom naturwissenschaftlichen Standpunkte aus 
zu verstehen haben. Angesichts der Tatsache, daß man sich — so 
lange Jahre nachdem C o m t e bereits weit auf dem richtigen Wege 
vorangeschritten war — heute noch gern bei der Frage nach der Ein¬ 
teilung der Wissenschaften auf Wundt und Stumpf bezieht, die 
sich im Aufstellen L i n n § scher Systeme der Einzelwissenschaften 
gefallen konnten unter ausdrücklicher Ablehnung der Auffassung, 
die hier eine Berücksichtigung der Entwickelungstendenz forderte 
(W. Wundt, 115, S. 28f., H. C. Stumpf, 103, S. 57), angesichts 
dieser Tatsache ist zunächst darauf hinzuweisen, daß die Wissen¬ 
schaft niemals ein fester zu verwaltender Besitz, sondern eine Auf¬ 
gabe ist. Die Wissenschaft wird somit zu einer Aktion, einer Hand¬ 
lung. Die biologische Formel einer Handlung ist nun ihr Ziel und als 
dies Ziel können wir mit Wilhelm 0 s t w a 1 d die „Voraussicht 
künftiger Ereignisse zum Zwecke praktischer Prophezeiung“ setzen. 
Der Zusatz praktisch darf hier nicht mißverständlich zu eng auf¬ 
gefaßt werden (0 s t w a 1 d selbst hat eine derartige Mißdeutung seiner 
Auffassung scharf zurückgewiesen), er wendet sioh gegen ein Über¬ 
sehen der biologischen Bedeutung der Wissenschaft, dieser großen 
intelligenten Orientierungsfunktion der Spezies Mensch, gegen eine 
Verdunklung der Fragestellung, wie sie etwa Poincare (96) mit 
der Forderung „la Science pour la Science“ in seiner Hymne über -den 
Wert der Wissenschaft unterläuft. Die Wissenschaft arbeitet zwar 
nicht auf Bestellung, sondern auf Lager, aber das, was sie herstellt, 
ist brauchbares Werkzeug, zwar nicht der Forderung des Augenblicks 
angepaßt, sondern für universellen Gebrauch bestimmt und kein 
Luxusartikel. Wie vorsichtig man sein muß, ehe man ein Wissens¬ 
gebiet als außerhalb der praktischen Verwendungsmöglichkeit stehend 
bezeichnet, und dem die Nutzbarkeit abspricht, was mit Helm- 
boltz’ Worten „ohne direkte Aussicht auf möglichen Nutzen, nur 
um der wissenschaftlichen Vollständigkeit der Gesamterkenntnis 
wfllen“ gewonnen ist, zeigt das Beispiel C o m t e s selbst, der nach 
Poincar6 die Ansicht aussprach, ,,qu’ il serait vain de chercher k 
connaitre la composition du soleil“, ihn hat der Nachweis des luft- 



6 


schiffüllenden Heliums auf der Erde und der bestätigte Rückschluß, 
den man auf die Häufigkeit des Skandiumvorkommens auf Grund 
von Fixstemspektralanalysen machte, u. a. ad absurdum geführt. 

Mit anderen Worten könnte man auch sagen, Ziel der Wissen¬ 
schaft ist die größtmöglichste Annäherung an die Laplacesche 
Intelligenz mit universeller Voraussagefähigkeit, „une intelligence 
qui par un instant donng connaitrait toutes les forces dont la nature 
est animee et la Situation respective des etres qui la composent, si 
d’ailleurs eile 6tait assez vaste pour soumettre ces donnGes ä l’analyse, 
embresserait dans la meme formule les mouvements des plus 
grands corps de l’univers et ceux du plus 16ger atome: rien ne 
serait incertain pour eile et 1’ avenir comme le passte serait präsent 
ä ses yeux“. (Laplace 71, S. Vif.) 

Eine Spezies,' ausgerüstet mit einem Wissen, das dem der 
Laplac eschen Intelligenz möglichst nahe käme, das die Frage 
„was muß geschehen, damit“, in gleicher Weise beantworten könnte 
wie die Frage: „was geschieht, wenn“, wäre biologisch gesehen die 
beste an den Daseinskampf angepaßte Art. 

Als handelnde und interessierte Person haben wir dabei nicht 
eine Reihe einzelner Individuen, sondern eins der organismusartigen 
Individuen hoher Ordnung im Sinne Verworns und Hertwigs 
einzusetzen (Verworn 110, S. 71; 0. Hertwig 5, S. 15, S. 48ff.), 
heute also teilweise den einzelnen modernen Kulturstaat, teilweise 
die Gesamtheit derselben, jedenfalls eine Person fünfter Ordnung, wie 
Verworn sagen würde, ein Gebilde, das ruhig ein paar Jahr¬ 
hunderte in einzelnen Wissensgebieten mit universeller Einstellung 
arbeiten kann und nicht ängstlich darauf zu sehen braucht, daß 
alles Erarbeitete sofort seine praktische Verwendung finde. 

Unter Wissenschaft ist im folgenden immer nur die Komponente 
reine Wissenschaft zu verstehen, in die praktisch realisierte, unter 
diesem Namen gehende Resultante sind noch sehr viel andere Stre 1 
bungen, unabweisbare praktische Forderungen des Alltags (wie in 
Technik und Medizin), affektive Bedürfnisse, rein persönliche Ziele 
und tausend Zufälligkeiten aller Art bestimmend eingegangen. Wie 
erheblich der Fortschritt ist, den die Formulierung des Wissenscbafts- 
begriffes durch Ostwald bedeutet, wird deutlich, wenn wir die 
herkömmlichen inhaltslosen Definitionen betrachten, wie etwa die 
zwei nachstehenden, die zwei gebräuchlichen Wörterbüchern der 
Philosophie entstammen: 



„Wissenschaft bedeutet . . . Material in objektivem Sinne den 
durch Schrift und Leben überlieferten Schatz des Wissens der Mensch¬ 
heit, formal den nach logischen Regeln geordneten Inbegriff von 
Uhrsätzen“ (62, S. 1104). 

„Wissenschaft ist objektiv die systematische Einheit prinzipiell 
zusammengehöriger, ein eigenes Gebiet ausmachender Erkenntnisse, 
formal der methodische Betrieb der Forschung“ (42, S. 1856). 

An dem eigentlichen Problem gehen diese Definitionen völlig 
vorbei. Nur die oben gegebene Definition vermag ein Handlungsziel 
wenigstens mit einer gewissen Präzision zu benennen, nur sie vermag 
uns den Blickpunkt zu geben, den wir in praxi, ob eingestandener¬ 
maßen oder nicht, doch ständig vor Augen haben müssen. Bei der 
Beurteilung des Fortschrittes, bei der Auswahl des Materials, bei der 
Scheidung des wichtigen vom unwichtigen sind wir ständig ge¬ 
zwungen, Ziele zu setzen, die sich letzthin wieder nach einem gemein¬ 
samen Ziel orientieren. Dies Ostwaid sehe Ziel der Wissenschaft 
ist das einzige, dessen Abstraktion aus der Aktion Wissenschaft bisher 
gelungen ist, — dafür ist nicht Bedingung, daß nun dem Einzelnen 
bei seiner Arbeit das Ziel bewußt vorschwebe oder daß ihm seine 
Formulierung überhaupt möglich sei, es genügt, daß es sich aus seiner 
Arbeit abstrahieren läßt. Nur diese Formel wird der biologischen 
Dimension des Wissenschaftsbegriffes gerecht, und wenn man auch an 
Bedeutung für die positive Arbeit in der Wissenschaft von ihr nicht 
mehr verlangen darf, als eben eine so allgemeine Formulierung ent¬ 
halten kann, so liegt doch ein nicht zu unterschätzender Wert darin, 
daß die Bezugnahme auf sie gestattet, die lästigen, immer wieder¬ 
kehrenden, die Fragestellung übersehenden Definitionsversuche des 
Wissenschaftsbegriffs en bloc abzulehnen. (Anmerkung.) 

Das Gebiet, auf das sich wissenschaftliche Arbeit erstreckt, läßt 
sich in drei große Felder teilen, in das der 

3 . Gesellschaftswissenschaften, 1 _ 

2 . Lebenswissenschaften 1 _ 

1. Arbeitswissenschaften 1 

wobei deren Begriffe so weit zu fassen sind, daß in den drei Stufen 
der in Frage kommende Bereich restlos aufgeteilt sei. Stufe 1 um¬ 
faßt alle Wissenschaften des Unbelebten (Astronomie, Physik, 
Chemie, Mineralogie usw.), Stufe 2 die biologischen Wissenschaften 
(allgemeine Biologie, Zoologie, Botanik, Physiologie usw.), Stufe 3 
endlich die Geisteswissenschaften oder, wie wir sie besser nennen, 
die Gesellschaftswissenschaften (Geschichte, Rechts- und Staats- 



8 


Wissenschaft, Sprachwissenschaft). Auf ihren Inhalt und Umfang 
wird später noch zurückzukommen sein. (0 s t w a 1 d, 9, 10, 88, 84.) 

Die Psychologie ist, wie hier vorwegnehmend bemerkt sei, eine 
Grenzwissenschaft mit Anteilen aus der zweiten wie der dritten Stufe, 
wenn auch zum größten Teile der letzteren angehörig. 

Diese Einteilung berührt nur die materialen Wissenschaften. 
Von den formalen oder Ordnungswissenschaften, wie der Mathematik 
und verwandten Gebieten, sehen wir hier ab, da sie allein noch nicht 
Wissenschaft im obigen Sinne sind, sondern erst in ihrer Anwendung 
in einer der obigen Stufen die biologische Dimension einer (erhal¬ 
tungsgemäße Voraussage leistenden) Wissenschaft erhalten. Die 
Stufenfolge des obigen Schemas, wie es von Wilhelm Ostwald 
aufgestellt und hier durch die Fortlassung der formalen Wissenschaf¬ 
ten modifiziert ist, bringt den Reifezustand, den Kompliziertheitsgrad 
wie die gegenseitige Abhängigkeit bzw. Unabhängigkeit der einzel¬ 
nen Stufen in der Gesetzaufstellung, Regel- und Begriffsbildung und 
endlich damit auch die für jede Stufe erforderliche Vorbildung zum 
Ausdruck. Diese Stufenfolge, die im wesentlichen schon auf C o m t e 
zurückgeht, beginnt mit der Wissenschaft größten Umfanges und 
kleinsten Inhaltes oder geringster Spezialisierung und schreitet unter 
regelmäßiger Einengung nach oben fort. Auf die gegenseitige Ab¬ 
grenzung und das Verhältnis der einzelnen jeweils eine der drei Stu¬ 
fen zusammensetzenden Einzelwissenschaften brauchen wir hier nicht 
einzugehen, gegenüber dem genannten Problem der begrifflichen Ab¬ 
hängigkeit usw. sind sie als Einheit aufzufassen. 

Damit das obige Stufenschema sowie die ihm zugrunde gelegte 
Definition der Wissenschaft gültig sei, müssen drei Voraussetzungen 
erfüllt sein. Die erste bezieht sich auf die Arbeitswissenschaften 
selbst. Zunächst muß — wir können uns hier kurz fassen — das 
Kausalitätsprinzip als gültig vorausgesetzt werden. P e t z o 1 d 
formuliert es unter dem Namen „Gesetz der Eindeutigkeit“ dahin 
(86, Bd. I, S. 89): „Es lassen sich für jeden Vorgang Elemente bezw. 
Mittel finden, vermöge deren kein anderer als der gerade vorliegende 
beschrieben wird.“ Hilbert formuliert es für die Physik (58, H, 
S. 61): „Aus der Kenntnis der 14 physikalischen Potentiale in der 
Gegenwart folgen alle Aussagen über dieselben für die Zukunft not¬ 
wendig und eindeutig soweit sie physikalischen Sinn haben.“ 

Wir können das Gesetz hier kurz dahin formulieren, daß bei ide¬ 
aler Kenntnis aller arbeitswisBenschaftlicher Bedingungen eines Ge¬ 
schehens unter allen Umständen der fernere Verlauf eindeutig gegeben 



9 


ist. Negativ ausgedrückt: es gibt keine Zufallsmöglichkeiten, auch 
nicht in Form jener mikroskopischen Lücken in der Kausalität, wie 
sie beispielsweise Driesch in seinen indeterminierten, äquipoten¬ 
tiellen Systemen, an denen die Entelechie „leitend“ angreifen kann, 
„ohne Arbeit zu leisten“, aufgestellt hat. 

HansDriesch (38, vol. II, S. 185ff.): „We have not imputed 
any action to entelechy that might seem to represent any amount of 
energy in itself . . . we think it right to assume, that on the basis of 
the Chemical System actually present in the organism an indefinite 
though not strictly infinite variety of reactions regarding the pro- 
duction of ferments is possible. It is this sum of possible reactions 
that entelechy takes part in, suspending and relaxing suspensions 
according to its purposes of regulation.“ 

In den Beweis, wieso die Annahme der eindeutigen Bestimmtheit 
nach dem heutigen Stande unseres Wissens die sparsamste und daher 
methodisch allein zulässig ist, braucht und kann hier nicht einge¬ 
treten werden. 

Die zweite Voraussetzung betrifft das Verhältnis von Arbeits¬ 
wissenschaft zu Lebenswissenschaft. Man darf in dem Leben nur ein 
— wenn auch hochkompliziertes — physiko-chemisches Geschehen 
sehen, was dem sonstigen arbeitswissenschaftlichen Geschehen durch¬ 
aus vergleichbar ist und was nur darum begrifflich als belebt heraus¬ 
genommen ist, weil die Körper, die es zeigen (Organismen), die 
Fähigkeit haben, solange die äußere energetische Situation im Sinne 
Semons (102, S. 8) nicht über eine gewisse Breite hinaus schwankt, 
sich in ihrer Spezies in der Umwelt zu erhalten. Mit anderen Wor¬ 
ten, wir müssen die Frage nach dem Wesen des Lebens in der Formu¬ 
lierung, wie sie Bütschli gestellt hat, bejahen: „Ist es zulässig, 
das Entstehen des eigentümlichen Bedingungskomplexes, von dem 
die Lebenserscheinungen abhängen, sowie dessen Fortschreiten zu 
höherer Ausbildung als ein im Lauf der Erdentwickelung oder Welt¬ 
entwickelung zufällig eingetretenes zu beurteilen oder nicht?“ 

Da nun von den untersten Lebewesen bis zu den höchsten Stu¬ 
fen, die die psychischen Erscheinungen zeigen, eine lückenlose onto- 
genetische und eine allerdings lückenhafte aber doch deutlich erkenn¬ 
bare phylogenetische Stufenfolge führt, müssen wir uns in dritter 
Voraussetzung darüber klar sein, daß eine Theorie wie die der 
Wechselwirkung mit der Bejahung der beiden obigen Voraussetzun¬ 
gen ausgeschlossen ist. Mit anderen Worten, auch die Aktionen der 
mit einer Psyche versehenen Lebewesen müssen im Prinzip ebenso 
eindeutig physiologisch und in letzter Linie arbeitswissenschaftlich 



10 


bestimmbar sein, wie die der niedersten Spezies, ja wie ein beliebiges 
physiko-chemisches Geschehen. 

Das Abhängigkeitsverhältnis, in dem die einzelnen Wissenschaf¬ 
ten miteinander stehen, ist folgendes: Das Stufenschema besagt: Die 
Gesetzlichkeiten einer oberen Stufe können in letzter Linie immer 
nur auf solche einer unteren Stufe erklärend zurückgeführt werden, 
d. h. die Begriffe der Gesellschaftswissenschaften können nur in sol¬ 
chen der Lebenswissenschaften und diese wieder nur in solchen der 
Arbeitswissenschaften ihre letzte erklärende Definition finden. Eine 
Erklärung der Lebensvorgänge ist nur aus physiko-chemischem Ge¬ 
schehen möglich, des soziologischen, gesellschaftswissenschaftlichen 
Geschehens nur aus physiologischem bzw. biologischem. Die Arbeit 
in einer oberen Stufe setzt ein gewisses Vertrautsein mit allen unte¬ 
ren voraus, die höheren Stufen wurzeln in den niederen, aber nie 
umgekehrt, der Physiologe muß Physiker und Chemiker sein, wäh¬ 
rend der Physiker von der Existenz einer Physiologie keine Kenntnis 
zu haben braucht. Die Abhängigkeit ist eine völlig einseitige. Der 
Stufenbau will mit dieser Anordnung der drei Gruppen übereinander 
also beispielsweise besagen, daß ein Versuch der Bereicherung der 
Arbeitswissenschäft durch der Psychologie entnommene Begriffe zii- 
rückzuweisen ist, wie ihn etwa M e y n e r t unternahm, wenn er 
sagte: „Bewußtseinsfähigkeit muß im Wesen des Atoms schlummern, 
sonst könnte ein Komplex von Atomen, unser Gehirn, kein Bewußt¬ 
sein haben“, oder H a e c k e 1 mit seiner „Atomseele“ oder Mach- 
P e t z o 1 d mit ihrer Zerlegung der Atome in „analytische Empfin¬ 
dungselemente“. Auf diese Versuche wird später zurückzukommen 
sein. 

Die Kompliziertheit der Wissenschaften entspricht ihrer Stufen¬ 
höhe, so ist das Leben das komplizierteste physiko-chemische, arbeits¬ 
wissenschaftliche Geschehen und das psychische oder — weiter ge¬ 
faßt — das auf psychischen Funktionen beruhende gesellschafts¬ 
wissenschaftliche, staatsorganistische das komplizierteste lebens¬ 
wissenschaftliche Geschehen. 

Der ganze Stufenbau der Wissenschaften zeigt nun einen fort¬ 
schreitenden Prozeß der Organisierung, neben dem Wachsen in die 
Breite durch registrierendes Anhäufen von Beobachtungen geht die 
Arbeit einher, das einzelne isolierte für eine Voraussage nur be¬ 
schränkt verwertbare Geschehen als Spezialfall eines allgemeinen Ge¬ 
schehens zu erkennen, es, wie man sagt, zu erklären (cf. Helm- 
h o 11 z, 5, Bd. I, S. 341; Bd. II, S.' 187). Möglichst viel Dinge und 
Vorgänge dergestalt zu erklären, zu möglichst vielen Begriffen den 



11 


Oberbegriff zu finden, ist die Hauptaufgabe der Wissenschaft, da pro¬ 
portional mit dem Vorschreiten auf dieses Ziel ihre Fähigkeit zur 
Voraussage aller Geschehensmöglichkeiten wächst. Der Reifezustand 
der einzelnen Wissenschaften, gemessen an dieser Fähigkeit zur Vor¬ 
aussage, entspricht direkt dem Grade ihrer Mathematisierung, der von 
Stufe 1 bis 3 entsprechend der steigenden Komplizierung fortschrei¬ 
tend abnimmt. 

Helmholtz beurteilt den Fortschritt der Naturwissenschaft 
nach dem Maße, in welchem die Kenntnis eines alle Naturerscheinun¬ 
gen umfassenden ursächlichen Zusammenhanges fortgeschritten ist 
(5, Bd. I, S. 343). Die Führung haben hier die Arbeitswissenschaften 
— für die Physik sieht Hilbert „die Möglichkeit nahegerückt, daß 
aus ihr im Prinzip eine Wissenschaft von der Art der Geometrie 
werde“ — (57,1, S. 407) —, es folgen die Lebenswissenschaften und 
endlich in weitem Abstande die Gesellschaftswissenschaften, die sich 
noch im Vorstadium der Wissenschaft befinden und erst Material für 
die Gesetzlichkeiten Zusammentragen, die ihnen einmal eine voraus¬ 
schauende Beherrschung ihres Wissensgebietes ermöglichen sollen. 

Man hat die Abhängigkeit der einzelnen Wissenschaften von¬ 
einander, wie sie oben angedeutet wurde, hier und da darum ver¬ 
kannt und geleugnet, weil die höheren Stufen in ihrer Regel und Be¬ 
griffsbildung teilweise selbständig vorgegangen sind. So beherrscht 
die physikalisch-chemische Betrachtungsweise zwar die Physiologie 
vollständig, in der allgemeinen Biologie spielt jedoch das Zurück¬ 
greifen auf die Grundwissenschaft keine Rolle, hier sind besondere 
Betrachtungsweisen im Gebrauch, wie die teleologische, in deren 
„finaler“ Richtung man einen grundsätzlichen Gegensatz zur kausalen 
Forschungsweise zu sehen geglaubt hat. 

Aber was heißt denn eigentlich teleologisch erklären? 

Erklären heißt immer einen Spezialfall als Sonderfall eines um¬ 
fassenderen Geschehens deuten, und diese Gesetzlichkeit ist bei der 
Teleologie eine Beobachtung, die wir ganz grob schematisch etwa 
folgendermaßen ausdrücken können: Innerhalb einer gewissen 
Schwankungsbreite der äußeren energetischen Situation haben die 
Organismen die Fähigkeit, ihre Spezies zu erhalten. In den Dienst 
dieses Erhaltungsbestrebens ist nun bis zu einem sehr hohen Grade, 
solange die betrachteten Spezies bzw. das einzelne Individuum sich 
nicht allzuweit von der Normbreite entfernt, die ganze Formgestal¬ 
tung und Organbildung gestellt, wie auch die ganze Organfunktion, 
bis hinauf zur Handlung, wo seine Wirksamkeit sich bis in die Ziel- 



12 


setzung der einzelnen Handlungen und die Abstimmung ihrer spezi¬ 
fischen Schaltungskraft erstreckt. 

Die teleologische Betrachtungsweise ist die bedeutungsvollste der 
allgemeinen Biologie. Vielleicht läßt sich auch auf absehbare Zeit ihr 
Ersatz durch eine physiologische, bei der maßlosen Kompliziertheit 
der fraglichen Probleme und Objekte nicht einmal als möglich vor¬ 
stellen. Das hindert aber nicht, daß die teleologische Betrachtungs¬ 
weise eine behelfsmäßige und vorläufige und der kausalen durchaus 
subordinierte Betrachtungsweise ist, und daß eben diese Stabilisie¬ 
rungsfähigkeit der Organismen selbst nur wieder durch physiko¬ 
chemische Mechanismen erklärbar ist. Was es dagegen besagen soll, 
wenn man der Teleologie einen „höheren Wirklichkeitswert“ zu¬ 
schreibt, ist schwer zu verstehen. 

Die dritte Stufe, die Gesellschaftswissenschaft, hat bisher nur in 
einzelnen Teilwissenschaften (Sprachwissenschaft) engbegrenzte und 
nur über kleinste Betrachtungskreise reichende Gesetzlichkeiten auf¬ 
gestellt. Von soziologischen, historischen, kulturgeschichtlichen 
Gesetzlichkeiten ist bislang kaum die Rede. Dies darf uns nicht wun¬ 
der nehmen, da hier das komplizierteste Geschehen vorliegt. Zu 
einer Resignation, zum Glauben, daß die Soziologie verurteilt sei, 
ewig auf der Stufe kompilatorischen Materialsammelns zu verharren, 
liegt nicht der geringste Anlaß vor. Nur darf man diese Leistung 
nicht von heute auf morgen erwarten. Erste bedeutsame Ansätze 
sind bereits gemacht in der Erkenntnis, daß sich der Staat mit einem 
Metazoenorganismus vergleichen läßt und daß für die Leistung gegen 
über der Umwelt wie für das Verhältnis der einzelnen zusammen- 
setzenden Teilelemente (Zellen bzw. Personen) zueinander in puncto 
Differenzierung und Zentralisation die gleichen Voraussetzungen gel¬ 
ten. Eine Ableitung von Gesetzlichkeiten aus dieser Analogie ist 
freilich nur von physiologisch geschulter Seite möglich. Da die 
Analogie nahezu eine vollständige ist, ist nur dort eine fruchtbare 
Durchführung möglich, die mehr ist als ein interessanter Vergleich, 
wo die tausendfache Wechselwirkung zwischen Zelle und Gesamt¬ 
organismus bis in Einzelheiten hinein bekannt ist. 

Versuchen wir nun den Umfang des Arbeitsgebietes der Psycho¬ 
logie innerhalb des oben umrissenen Rahmens abzugrenzen. Was 
gemeint ist, wenn wir ohne Spekulation leichthin von Psychologie 
sprechen, ist klar. Wir meinen die Wissenschaft von der mensch¬ 
lichen Persönlichkeit, wie sie uns in Wort und Handlung entgegen¬ 
tritt, die Lehre von den Charakteren, den Temperamenten, den indi¬ 
viduellen Reaktionstypen, den Begabungen, den wirtschaftlichen 



Eignungen, von den Handlungszielen, von der Art und Weise, wie 
sich die Persönlichkeiten und ihre Aktionen (ganz individuell ge¬ 
sehen) unter den verschiedensten Einstellungen in den tausenderlei 
verschiedenen Situationen des Lebens, oder, dem Alter, dem Ge¬ 
schlecht, dem Beruf, dem sozialen Niveau oder nationalen Verbände 
nach (generell betrachtet) verhalten. Mit anderen Worten: Die Psy¬ 
chologie soll uns Menschenkenntnis vermitteln und mögliche Rich¬ 
tungen für Menschenbehandlung angeben, wenn wir ihre Aufgabe 
ganz naiv formulieren wollen. Sie ist im Verein mit der Gesell¬ 
schaftswissenschaft die Wissenschaft, an die wir auf Schritt und Tritt 
die meisten Fragen zu stellen haben. 

Eine Psychologie in dem angedeuteten Ausmaß ist in einem 
Wurf auch nur in den gröbsten Umrissen noch nicht einmal versucht 
worden. Die physiologische Psychologie ist eine Grundlage der neuen 
Wissenschaft, aber sie steht der Physiologie viel näher als der Psy¬ 
chologie. Erst in der Temperamentlehre betreten wir von physio¬ 
logischer Seite her eigentlich psychologischen Boden. Hier liegt die 
eine große Wurzel der Psychologie. Ihre Entwicklungsfähigkeit nach 
dieser Seite hin ist einstweilen noch nicht zu übersehen. Der anderen 
Seite der Individualitätsdarstellung, der Darstellung von Anlagen, 
Zielen, Dispositionen und Aktionen hat die Psychologie erst in locker 
verbundenen Ansätzen nahezukommen versucht, von einem Gerecht¬ 
werden auch nur im Umfange der Fragestellung ist bisher noch nicht 
die Rede. Die lebendige Menschenschilderung lag lange Zeit aus¬ 
schließlich und liegt auch heute noch zu einem wesentlichen Teile in 
der Hand von Dichtern und Schriftstellern. Die Zeiten liegen doch 
erst in jüngster Vergangenheit, daß jedes Lehrbuch der Psychologie 
jedem guten Roman an eigentlichem psychologischen Gehalt weit 
unterlegen war. Die Zeit ist aber reif dafür, an die lehrbuchmäßige 
Erfassung von Menschenkenntnis, ja bis zu einem gewissen Grade 
von Lebenserfahrung zu gehen. Ehe man zu Abstraktion von Ge¬ 
setzlichkeiten in weiterem Umfange wird vorgehen können, ist aller¬ 
dings noch ungeheuer viel deskriptive Arbeit zu leisten. — In ihren 
letzten Fragestellungen geht die Psychologie in die allgemeine Ge¬ 
sellschaftswissenschaft über. Die Frage nach der psychologischen 
Bedeutung der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Schicht, 
des Sichbefindens in einer Berufsklasse, die Fragen nach dem Um¬ 
fange des Wirkungskreises, der Weite des Kreises, aus dem die Reize 
bezogen werden, die Frage nach dem Horizont schlechthin und die 
Frage nach den Verschiebungen die durch Differenzierungs- und Zen¬ 
tralisierungsprozeß des Staates, durch die rapiden Organbildungen 



im Staatsorganismus auf technischem Wege in psychologischer Hin¬ 
sich bewirkt werden, sind nur im engsten Zusammenhänge mit den 
übrigen Problemen der Gesellschaftswissenschaft zu lösen. 

Wir können die Psychologie, wenn wir uns mit unserer Frage¬ 
stellung an den oben umrissenen streng systematischen Zusammen¬ 
hang der Wissenschaften halten, definieren als die Wissenschaft von 
Menschen, eventuell auch der höheren Wirbeltiere, die nicht nach 
dem physiologischen Körper, sondern nach der Handlung, der Hand¬ 
lungsdisposition, fragt, die allgemein biologisch-gesellschaftswissen¬ 
schaftlich nach dem Verhalten gegenüber der Umgebung und wich¬ 
tiger noch nach dem Verhalten im sozialen Verbände fragt (der letzte 
Begriff dabei im weitesten Sinne gefaßt). Diese Psychologie hat zwei 
große Wurzeln, die eine haftet in der Psychologie, die andere in der 
Gesellschaftswissenschaft. Der Gegenstand ist ungeheuer kompli¬ 
ziert, prinzipiell ist er aber ebenso restlos möglicher Gegenstand der 
Voraussage, wie etwa die Bewegung eines Himmelskörpers. Es ist 
nicht ganz überflüssig, dies zu betonen, denn man hat gemeint, das 
Wesen der Individualität sei mit Gesetzen nicht oder doch nicht 
restlos auszuschöpfen. Auch bei William Stern finden sich 
Äußerungen dieser Art, die bedenklich stimmen können und jeden¬ 
falls das Problem eher verdunkeln als erhellen. So heißt es bei¬ 
spielsweise (104, S. 3): „Individualität bedeutet stets Singularität. 
Jedes Individuum ist ein in identischer Form nirgends und niemals 
sonst vorhandenes Gebilde. An ihm betätigen sich wohl gewisse 
Gesetzmäßigkeiten, in ihm verkörpern sich wohl gewisse Typen, es 
ist in vielen Hinsichten mit anderen Individuen vergleichbar — aber 
es geht nicht restlos auf in diesen Gesetzmäßigkeiten, Typen und 
Gleichungen, stets bleibt ein Plus, durch welches es sich von anderen 
Individuen unterscheidet, die den gleichen Gesetzen und Typen 
unterliegen.“ Diese Behauptung ist entweder eine elementare Selbst¬ 
verständlichkeit, dann gilt sie keineswegs für die Psychologie allein 
sondern überhaupt für die Wissenschaft, dann ist jedes Objekt in 
seiner Besonderheit ein Individuum, beispielsweise jeder Vulkan, 
aber es wäre doch sehr mißverständlich, wenn man sagen wollte, die¬ 
ser ginge nicht restlos in physiko-chemischen Gesetzmäßigkeiten auf. 
Auch sein individueller Charakter ist gesetzmäßig bedingt, freilich 
kommt man mit der Ableitung der jeweils gerade vorliegenden Kon¬ 
figuration einmal praktisch an einen Haltepunkt, man kann eben 
immer nur von einem bestimmten Potentialwert zu einem bestimmten 
Zeitpunkt aus ableiten. Aber dies ist schließlich eine der grund¬ 
legenden Selbstverständlichkeiten jeder Wissenschaft und klingt in 



15 


der Einleitung zu einem psychologischen Lehrbuch doch recht mi߬ 
verständlich. 

Es wird sich später noch Gelegenheit bieten, auf den außer¬ 
ordentlich unglücklichen Unterschied einzugehen, den R i c k e r t 
zwischen nomothetischer und idiographischer Betrachtungsweise kon¬ 
struiert hat. Die idiographische, den besonderen Vorfall schildernde 
Betrachtungsweise hat ihre Bedeutung nur als Messung eines als Aus¬ 
gangswert in die Rechnung zu setzenden Faktors oder als Vorstufe der 
nomothetischen, allgemeingültige Gesetzmäßigkeiten aufstellenden 
Wissenschaft, so wird sich die Historie beispielsweise noch eine Weile 
mit dieser Betrachtungsweise behelfen müssen, aber eine derartige 
Feststellung ist höchstens zur Unterscheidung des Reifezustandes 
zweier Wissenschaften brauchbar, keineswegs aber zur Aufstellung 
irgendwelcher Gegensätzlichkeiten zwischen Naturwissenschaft und 
Geisteswissenschaft. * 

Bis hierher wird man von naturwissenschaftlicher Seite im all¬ 
gemeinen geneigt sein, der entwickelten Auffassung zuzustimmen, 
— eine abweichende Ansicht, wie die der Neovitalisten aller Rich¬ 
tungen, muß sich nur darüber klar sein, daß sie zu recht weittragen¬ 
den Konsequenzen auf arbeitswissenschaftlichem Gebiet gezwungen 
ist, zu deren weiterem Ausspinnen ihr doch wohl schließlich der Mut 
fehlen würde, das gleiche gilt von den Anhängern einer Wechsel¬ 
wirkung. Aber auch dort, wo man die Berechtigung des entwickel¬ 
ten Standpunktes zugibt, wird man folgende Einwendung machen: 
Die Möglichkeit einer Wissenschaft, wie sie oben umrissen wurde, sei 
durchaus zugegeben, aber das Psychische ist doch eben etwas grund¬ 
sätzlich anderes als die Gesamtheit der Objekte, denen eben die 
Untersuchung galt, es ist ein „ganz unvergleichbar anderes“, ein auf 
ganz andere Weise in der „inneren Anschauung und Erfahrung“ ge¬ 
gebenes. Erst diese Frage führt uns zu unserem eigentlichen Pro¬ 
blem, doch möge man sich den etwas weiten Weg hierher nicht ver¬ 
drießen lassen, denn die Antwort auf diese Frage kann nur aus dem 
Zusammenhang der oben entwickelten Gedankengänge heraus erfol¬ 
gen und verstanden werden. 


Machen wir uns zunächst klar, was wir unter dem Begriffe 
Psychisch im gewöhnlichen Sprachgebrauch verstehen. Jedesmal, 
wenn wir in der Praxis des täglichen Lebens ohne Spekulation etwas 
über die Psyche aussagen, machen wir damit in jedem Falle Aus¬ 
sagen bezüglich des Ob und Wie ganz bestimmter Funktionen des 



16 


fraglichen Individuums, und zwar sind es gewisse hochkomplizierte 
und koordinierte Funktionen unseres Muskelapparates, unseres Or¬ 
gans für Effekt in der Außenwelt, auf die diese Aussagen gehen. Von 
den sonstigen psychischen Funktionen an der glatten Muskulatur, an 
den Drüsen usw., Funktionen, deren Effekt im wesentlichen auf den 
Körper beschränkt bleibt und sich nicht in die Außenwelt hinein er¬ 
streckt, wird der Einfachheit wegen hier nicht die Rede sein, es ge¬ 
nügt, sich daran zu erinnern, daß sie da sind, an Bedeutung für die 
Psychologie treten sie völlig hinter den Effektleistungen in der 
Außenwelt zurück. — Überhaupt sei darauf hinzuweisen gestattet, 
daß die Aufgabe dieser Darlegung nur die ist, die Dimension der 
Grundbegriffe der Psychologie in systematisch-enzyklopädischem 
Rahmen aufzuzeigen, um so endlich den Fehler einer alten mißbräuch¬ 
lichen Anwendungsform deutlich zu machen, aber nicht die, den In¬ 
halt des Begriffes für den Spezialforscher zu vertiefen. — 

Wir können diese Funktionen negativ etwa so umreißen, daß wir 
sagen, es handelt sich um alle Funktionen des benannten Organs, die 
sich nicht als Reflexe darstellen. Diese Unterscheidung zwischen 
psychischen und reflektorischen Funktionen ist eine völlig unmißver¬ 
ständliche. Unter normalen Verhältnissen wird kaum je ein Zweifel 
entstehen können, ob eine Aktion oder Reaktion als psychisch oder 
reflektorisch anzusehen ist. Für die Reflexe gilt etwa folgendes 
Charakteristikum: Mit gegebenem Reiz oder mit einer geringen Zahl 
gegebener Reize ist der resultierende motorische Effekt sofort gege¬ 
ben, einmal überhaupt als solcher, d. h. sein Auftreten ist nur von 
Setzen weniger Reize abhängig und bleibt unbeeinflußt von der übri¬ 
gen gesamten äußeren energetischen Situation, dann ferner seiner 
Gestaltung nach, d. h. diese ist bei vergleichbaren Individuen prak¬ 
tisch die gleiche. Innere und äußere energetische Situation, 
individuelle Differenzen und Umgebungsbeschaffenheit spielen für 
die Zeiträume, auf die sich unsere Aussage erstreckt, keine 
Rolle, die reflektorischen Funktionen sind allein abhängig von 
wenigen Reizen. Diese Reize sind, ebenso wie die resultierenden 
Effekte, einfacher Natur. Hierdurch, sowie durch die Starrheit 
ihrer Gestaltung und die Bestimmtheit ihres Eintretens erhalten 
die reflektorischen Funktionen den Charakter des Maschinen¬ 
mäßigen. Demgegenüber gilt für die psychischen Funktionen: 
Auch sie stellen Reizbeantwortungen dar, die Reize sind aber 
sehr viel komplizierterer Natur, sie wirken gestaltmäßig, ganz geringe 
Variationen lösen grundverschiedene Reaktionen aus, es ist ferner 
eine individuell verschiedene Konstante in Rechnung zu setzen, die 



17 


gesamte äußere Situation hat ebenfalls eine mehr oder minder hohe 
Bedeutung. Reiz und resultierender Effekt folgen vielfach zeitlich 
durchaus nicht alsbald aufeinander, sondern können durch sehr lange 
Zeiträume getrennt und derselbe einmalige Reiz kann mehreren zeit¬ 
lich und der Gestaltung nach geschiedenen motorischen Äußerungen 
•zugeordnet sein. Die bewirkten Effekte sind ebenfalls meist hoch¬ 
komplizierte und erstrecken sich zum Teil über unvergleichlich län¬ 
gere Zeiträume. Dementsprechend stößt hier die Voraussage bezüg¬ 
lich der Gestaltung des Effektes und seiner zeitlichen Daten auf 
außerordentliche Schwierigkeiten, so daß sie sich in der Regel nur in 
Möglichkeiten bewegt. 

Die angeführten Charakteristika unterscheiden die beiden Grup¬ 
pen nur graduell, prinzipielle Unterschiede haben sich bisher nie¬ 
mals finden lassen. Das Fehlen solcher Unterschiede berechtigt aber 
nicht, diese Sonderung prinzipiell anzugreifen. So hat man gemeint, 
da anzunehmen sei, daß die vom Willen abhängigen Innervationen 
den gleichen Gesetzmäßigkeiten folgen wie die Reflexe, da also kein 
prinzipieller Unterschied zwischen reflektorischer und willkürlicher 
Bewegung bestünde, daß man darum die Unabhängigkeit vom Willen 
und das Maschinenmäßige des Ablaufes als Charakteristika des 
Reflexes fallen lassen müsse. Wer so argumentiert, begeht einen 
Fehler gegen eine der Grundvoraussetzungen des Begriffsgebrauchs, 
er vergißt, daß die Grenzen der Begriffe, wenn über¬ 
haupt, nur äußerst selten scharf sind, daß der 
Inhalt der Begriffe ja gerade in der Begrenzung 
liegt, und daß die Begriffe das an Gehalt ver¬ 
lieren, was sie an Volumen gewinnen, wenn wir 
sie verwässern, daß wir begrifflich ganz allgemein auch nur 
graduell Geschiedenes trennen, wobei es genügt, daß sich die Zentren 
der Begriffe scharf voneinander scheiden lassen. Will man zum Aus¬ 
druck bringen, daß zwischen zwei Vorgängen, die als prinzipiell ge¬ 
sondert galten, kein solcher Unterschied besteht, so kann dies nur auf 
die Weise geschehen, daß man die beiden Begriffe aus einem gemein¬ 
samen Oberbegriffe (im vorliegenden Falle wäre das „die durch Ver¬ 
mittlung von Nervenzellen erfolgende Reizbeantwortung“) als Son¬ 
derfälle ableitet. Die engen Begriffe bleiben in den meisten Fällen 
trotz der Anerkennungen des Zusammenhanges nach wie vor not¬ 
wendig, und der ganze Gewinn besteht in der Verwirrung, die man 
durch das Belegen eines weiteren Begriffes mit dem eingebürgerten 
Wortsymbole eines engeren Begriffes angerichtet hat. Meist läßt 
sich auch aus der Arbeit der Urheber derartiger Versuche der Beweis 

Ahlenstiel, Ober die Stellung der Psychologie new. (AbhandL B. 23 .) 2 



18 


des Gesagten bringen, in der Praxis brauchen sie trotz ihrer De¬ 
finition die Begriffe im alten engen Sinne weiter. 

Wie sehr die Dinge hier manchmal im argen liegen, auch dort, 
wo man es nicht erwarten sollte, zeigt der Kampf Verworns gegen 
den Ursachenbegriff (112). V. sah in dem Begriff der Ursache 
noch ein spekulatives Element, das er zwar einmal besaß, aber 
heute verloren hat und wollte den Begriff der Ursache zugunsten des 
Begriffes der Bedingungen fallen lassen. Er übersah dabei, daß Ur¬ 
sache im gewöhnlichen Sprachgebrauch eben die für die fragliche 
Betrachtung wichtigste Bedingung bedeutet und daß eine derartige 
Begriffserweiterung, wie sie die Nivellierung des Ursachebegriffs auf 
den Bedingungsbegriff bedeutet, eben nur die Preisgabe eines wert¬ 
vollen Arbeitsbegriffes darstellt. 

Verwandt mit der obigen Fassung des Begriffes Psychisch ist die 
Gestaltung dieses Begriffes in der Pathologie. Hier ist die Frage¬ 
stellung allerdings nicht ganz parallel gerichtet. Es handelt sich hier 
um die Auswertung des organischen und des funktionellen Ursachen¬ 
anteils eines Symptoms. Wo die Fragestellung zusammenfällt ist die 
Begriffgestaltung die gleiche, die durch die psychischen Funktionen 
charakterisierten Funktionsabläufe sind biegsam, plastisch, modifika¬ 
tionsfähig, während die physischen starr sind (Bleuler, 29). 

Die vorstehend charakterisierten Funktionsabläufe unseres Hand¬ 
lungsapparates sind nun jedesmal Inhalt unserer Aussage, wenn wir 
etwas über die Psyche oder die psychischen Größen: Intelligenz, 
Wille, Bewußtsein, Empfindung, Wahrnehmung, Gedächtnis, Charak¬ 
ter, Persönlichkeit aussagen. Diese schwerwiegende Tatsache hat 
man vielfach scheinbar völlig vergessen. Jedesmal, wenn 
wir die obigen Begriffe im Alltagsleben gebrau¬ 
chen, machen wir Aussagen über Art und Zeit des 
Ablaufes jener oben beschriebenen durch ihre 
Modifikationsfähigkeit ausgezeichneten Aktio¬ 
nen, wenn auch nur insoweit, daß wir gewisse Funktionen oder — 
da es sich meist um hochkomplizierte koordinierte motorische Funk¬ 
tionen handelt von charakteristischem biologischen Effekt auf die 
Umgebung, können wir statt dessen auch Handlungen sagen — 
ganz allgemein als mögliche oder zu erwartende setzen und andere 
als das Gegenteil ausschließen. Nur in der Bezugnahme 
auf diesen Handlungsapparat haben die psycho¬ 
logischen Begriffe der Praxis ihren Inhalt. Cha¬ 
rakterisieren wir beispielsweise eine Persönlichkeit als heiter oder 
traurig, willensstark oder willensschwach, intelligent oder dumm 



19 


osw., so machen wir damit — wenigstens in allgemeiner Form — be¬ 
stimmte Voraussetzungen bezüglich des bei ihr zu erwartenden Ver¬ 
haltens, wir schaffen bei uns eine charakteristische Einstellung ihr 
gegenüber, deren Wie als allgemein bekannt hier nicht näher aus¬ 
geführt zu werden braucht. 

Halten wir die Tatsache fest, der Begriff Psyche des alltäglichen 
Sprachgebrauches hat einen Sinn, der klar und wohlumschrieben ist, 
er deckt sich mit der oben getroffenen Begriffsbestimmung der Wis¬ 
senschaft der Psychologie. Wir haben unter Psyche also 
den Inbegriff der Verhaltungsweise eines Orga¬ 
nismus gegenüber seiner lebenden und toten Um¬ 
gebung zu verstehen, soweit dieses Verhalten, 
im wesentlichen bewirkt durch unser Hand¬ 
lungsorgan, plastisch, modifikationsfähig, ein¬ 
stellungsfähig und nicht maschinenmäßig und 
starr ist. Dieser Begriff der Psyche, wie er uns im Alltags¬ 
gebrauch ohne Spekulation dient, ist also ein soziobiologischer und 
keineswegs ein physiologischer Begriff. Er gilt nicht den das psychi¬ 
sche Verhalten steuernden Himfunktionen, von denen wir ja auch 
bisher noch gar nichts wissen, sondern er geht auf Handlungen bzw. 
auf Handlungsdispositionen. In diesem Sinne haben Psychologie und 
Physiologie nichts miteinander zu tun. 

In der Philosophie, speziell in der Erkenntnistheorie, steht nun 
das Wortsymbol Psychisch für etwas grundsätzlich anderes, für etwas, 
das nicht nur verschiedener, sondern „unvergleichbarer“ Art ist. 
Es sei gestattet, im folgenden eine Reihe derartiger Verwendungen 
des Wortsymbols Psychisch und der Wortsymbole anderer psycho¬ 
logischer Grundbegriffe zusammenzustellen, und zwar in wörtlichem 
Zitat, zunächst ohne anschließende Kritik. 

R. Avenarius: „Das Resultat unserer Untersuchung war, daß 
alles Sein dem Inhalt nach als Empfindung, der Form nach als Be¬ 
wegung zu denken ist“ (14, S. 61). 

W. v. Bechterew: „Wir brauchen kaum auseinander zu 
setzen, daß wir objektiv keine exakten Kriterien der Bewußtheit 
haben . . . Die Psychoreflexologie in unserem Sinne läßt die Er¬ 
scheinungen des Bewußtseins ganz beiseite . . . Man muß auch 
noch bedenken, daß das Bewußtseinselement nichts in die sogenann¬ 
ten psychischen Vorgänge hineinbringt, was uns das Wesen der Vor¬ 
gänge selbst erklären oder sie von den unbewußten automatischen 
Vorgängen unterscheiden lassen könnte“ (19, S. 8ff.). 

E. Becher: „Die Wirklichkeit von Bewußt-Seelischem steht 
mit völliger Sicherheit fest“ (17, S. 93). 


2 * 



20 


E. Bleuler: „Unmittelbar kennen wir nur die (eigene) psychi¬ 
sche Reihe. Einen Existenzbeweis für die physische gibt es nicht 
und kann es nicht geben“ (28, S. 17). 

E. du Bois Reymond: „Kein mathematisch überlegender 
Verstand könnte in beiden Fällen (Hören eines Akkords und Ge¬ 
branntwerden mit einem Glüheisen. Ref.) a priori bestimmen, wel¬ 
ches der angenehme und welches der schmerzhafte Vorgang sei. Daß 
es vollends unmöglich sei und stets bleiben werde, höhere geistige 
Vorgänge aus der als bekannt vorausgesetzten Mechanik der Him- 
atome zu verstehen, bedarf nicht der Ausführung . . . Unser Natur¬ 
erkennen ist also eingeschlossen zwischen den beiden Grenzen, wel¬ 
che die Unfähigkeit, einerseits Materie und Kraft zu verstehen, an¬ 
dererseits geistige Vorgänge aus materiellen Bedingungen herzulei¬ 
ten, ihm ewig steckt“ (33, S. 42). 

Driesch: „Am Anfänge alles Philosophierens steht der allein 
von allen Sachverhalten völlig unbezweifelbare Ursachverhalt. Ich 
habe bewußt geordnetes Etwas . . . Unsagbar verwoben ist das eine, 
was ich da habe, im vollsten eigensten Sinn des Wortes, denn ein 
eigentliches Sagen gibt es hier nicht, weil die Sprachen mit Rücksicht 
auf die Bedürfnisse des Naturerfassens, aber nicht mit Rücksicht auf 
die Bedürfnisse des Seelenerfassens gebildet wurden“ (37, S. 91, S. 57). 

Ebbinghaus: „Seele und Nervensystem sind nichts real Ge¬ 
trenntes und einander Gegenüberstehendes, sondern sie sind ein und 
derselbe reale Verband, nur dieser in verschiedenen und auseinander¬ 
fallenden Manifestationsweisen. Seele ist dieser reichhaltige Ver¬ 
band, so wie er sich gibt und darstellt für seine eigenen Glieder, für 
die ihm angehörigen Teilrealitäten. Gehirn ist derselbe Verband, 
so, wie er sich anderen analog gebauten Verbänden darstellt, wenn 
er von diesen, menschlich ausgedrückt, gesehen und getastet 
wird“ (41). 

Friedrich J o d 1: „Auf der Scheidung von äußerer und in¬ 
nerer Erfahrung beruht die Trennung der Psychologie von den Natur¬ 
wissenschaften, welche die Inhalte der äußeren Erfahrung bearbei¬ 
ten . . . Naturwissenschaft und Psychologie können also niemals 
dasselbe Objekt zu bearbeiten haben“ (61). . 

H ä b e r 1 i n: „Psychologie allein verarbeitet Wirklichkeits¬ 
material . . . Naturwissenschaft hat in gewissem Sinne keine Idee, 
materialiter nämlich, denn sie verzichtet grundsätzlich auf Erkennt¬ 
nis der im Sinne der Bestimmtheit wahren Wirklichkeit. Aber aller¬ 
dings ist auch sie begründet in der Idee der Psychologie (weil dies 
die Idee der empirischen Wissenschaft ist), doch erst mittelbar . . . 



21 


Und auch sie sucht die psychische Wirklichkeit, bescheidet sich aber 
mit ihrem allgemeinen Bilde. So ist auch Naturwissenschaft nach 
Material und Gegenstand eine Psychologie“ (49, S. 114, S. 146). 

K r ä p e 1 i n: „Ja, wir könnten das eindringendste Verständnis 
für alle in der Hirnrinde sich abspielenden körperlichen Vorgänge 
besitzen, ohne an sich auch nur einen Augenblick zu der Vermutung 
gezwungen zu werden, daß wir in jenem Gebiete den Träger des 
Seelenlebens vor uns haben. Aus diesen Erwägungen ergibt sich die 
Notwendigkeit, außer den körperlichen Zuständen der Hirnrinde auch 
die seelischen Erscheinungsformen jener letzteren gesondert zu er¬ 
forschen. Wir erhalten auf diese Weise zwei Reihen innig miteinan¬ 
der verbundener, aber ihrem Wesen nach unvergleichbarer Tat¬ 
sachen, das körperliche und das psychische Geschehen“ (65, Bd. I, 
S. 7f.). 

H. Kleinpeter: „Was psychisch ist, wissen wir aus unserer 
direkten Erfahrung, wir erleben es, es anderweitig ersetzen oder be¬ 
schreiben zu wollen, hat gar keinen Sinn“ (63, S. 248). 

Fr. Kraus: „Das psychische Geschehen ist stets begleitet von 
einem physischen“ (66, S. 366, S. 377). „Die Person ist nicht psy¬ 
chisch oder physisch, sie ist neutral.“ 

Kretschmer: „Andererseits vergißt der Materialismus, daß 
die Materie uns niemals direkt, sondern nur in Form seelischer Emp¬ 
findungen gegeben, daß also die primäre und unmittelbare Erfahrung 
stets die psychische ist.“ 

„Immerhin wird man sagen dürfen, daß gewisse Ausprägungen 
des spiritualistischen Monismus diejenige Weltanschauung bilden, 
die offenbar dem geschulten modernen Denken noch am besten ent¬ 
spricht. Eine Weltanschauung also, die unter strenger Betonung 
einer letzten Einheit aller Dinge den empirisch unzweifelhaften Er¬ 
kenntnisprimat des Seelischen vor dem Materiellen anerkennt, die 
weiß, daß uns in unserer Erkenntnis unmittelbar nur Seelisches ge¬ 
geben ist“ (67, S. 11). 

Th. Lipps: „Das Ich ist ein doppeltes Auge, nämlich ein sinn¬ 
liches und zum anderen ein geistiges Auge. Das Bewußtseinswirk¬ 
liche ist das unmittelbar oder das erste Wirkliche. Und dies muß 
zugleich als das letzte Wirkliche gedacht werden“ (72, S. 105ff.). 

„Die körperlichen Vorgänge und die ihnen zugrunde liegenden 
mechanischen Gehimprozesse samt ihrem Substrat, dem Gehirn, sind 
der Gegenstand der Forschung des Physiologen, allgemeiner gesagt: 
der naturwissenschaftlichen Erkenntnis. Diese aber besteht hier wie 
überall in der Fassung des zu erkennenden in die allgemeinen mecha- 



22 


nisehen Begriffe und die Unterordnung desselben unter mechanische 
Gesetzmäßigkeiten. In diesem Begriffssystem und dieser Gesetz¬ 
mäßigkeit findet aber das Bewußtsein keine Stelle. Dagegen hat es 
die Psychologie einzig zu tun mit jener Seele und dem, was in ihr 
geschieht. Sie geht aus von den Bewußtseinserlebnissen und be¬ 
stimmt das reale seelische Geschehen, wie es diese Bewußtseinserleb¬ 
nisse fordern. Mit einem Worte, Physiologie, insbesondere des Ge¬ 
hirns, und Psychologie sind Wissenschaften, die in ganz verschie¬ 
denen Welten sich bewegen und absolut voneinander geschieden 
sind. — Das psychologische Denken aber schließt vor allem dies in 
sich, daß man Bewußtseinstatsachen nicht an Begriffen mißt, die aus 
einer anderen Sprache, etwa der physikalischen oder auch der bio¬ 
logischen, hergenommen sind, sondern daß man seine Begriffe einzig 
gewinnt aus der Beobachtung der Bewußtseinserlebnisse“ (73, 
8. 39ff.). 

F. A. L a n g e: „Man muß sich zu dem Schlüsse erheben können, 
daß also das ganze Tun und Treiben des Menschen, des Einzelnen 
wie der Völker, durchaus so vor sich gehen könnte, wie es wirklich 
vor sich geht, ohne daß übrigens auch nur in einem einzigen dieser 
Individuen irgend etwas wie Gedanke, Empfindung usw. vor sich 
ginge“ (70, S. 155). 

Ernst Mach: „Vielmehr ist das Ding ein Gedankensymbol 
für einen Empfindungskomplex von relativer Stabilität. Nicht die 
Dinge, Körper, sondern Farben, Drucke, Räume, Zeiten (das, was wir 
gewöhnlich Empfindungen nennen) sind eigentliche Elemente der 
Welt“ (75, S. 458f.). 

„. . . Aufgabe der Physik, die Gesetze des Zusammenhanges der 
Empfindungen (Wahrnehmungen) aufzufinden“ (77, S. 58). 

J. P. M o e b i u s: „Jeder kann nur an einer einzigen Stelle in 
das Innere sehen, nämlich in sich selbst. Er schreibt seinen Mit¬ 
menschen ähnliches zu, wie er es in sich findet, aber er schließt nur 
darauf aus Analogie, egomorphistisch sozusagen. Empirische Psy¬ 
chologie kann daher nur Selbstbeobachtung mit denkender Bearbei¬ 
tung sein. Alles, was über die Möglichkeit der Erfahrung hinaus¬ 
geht, nennen wir Metaphysik, eine Psychologie daher, die den An¬ 
spruch auf Allgemeingültigkeit erhebt, ist Metaphysik. Erst recht 
Metaphysik ist jede Psychologie, die über, den Menschen hinaus- 
greift“ (79, S. 12). 

C. von Monakow: „In der Horme erblicke ich die Urgenesis, 
das sich fortgesetzt entzündende und latent glimmende Feuer des 
Lebens. Die Horme, welche einen metaphysischen Begriff darstellt, 



23 


— sie ist das objektive Gegenstück der von jedem bewußt gefühlten 
Seele — bildet den Mittelpunkt jeder seelischen Manifestation, und 
zwar nicht nur beim Menschen, sondern auch beim Tier“ (80, S. 19). 

H. Münsterberg: „Der Weg zur Psychologie muß von der 
Philosophie ausgehen. — Das psychische Objekt ist nur einem erfahr¬ 
bar. Der fremde Bewußtseinsvorgang kann somit nicht für uns da 
sein, sondern muß für das fremde Subjekt existieren. 

Sobald wir aber im Auge behalten, daß alles Psychische aus der 
Aktualität wirklicher Subjekte stammt, so werden wir für die Psy¬ 
chologie das Recht zurückfordem, unabhängig von naturwissen¬ 
schaftlichen Konstruktionen, nur aus dem Zusammenhänge des 
Lebens über das Dasein psychischer Objekte zu urteilen, aus ihren 
eigenen Bedürfnissen heraus ihre Hilfsbegriffe zu bilden“ (81, S. 1, 
S. 104). 

Wilhelm Ostwald: „Hiernach schlage ich vor, das Be¬ 
wußtsein als eine Eigenschaft einer besonderen Art der Nervenenergie 
aufzufassen.“ — Es muß „während des Denkens ein Anteil der ge¬ 
wöhnlichen Energien verschwunden sein“ (82, S. 378ff.). 

Friedrich Paulsen: „Der psychische Vorgang ist an sich 
nichts als ein physischer Prozeß. Wenn der Materialismus hieran 
entschlossen festhält, dann ist er durchaus unwiderleglich. Der Satz, 
Gedanken sind eigentlich nichts anderes als Bewegungen im Gehirn, 
ist völlig unwiderleglich. Freilich nicht weil er wahr, sondern weil 
er absolut sinnlos ist, das Sinnlose teilt mit der Wahrheit den Vor¬ 
zug, daß es nicht widerlegt werden kann. Ein Gedanke, der im 
Grunde nichts-anderes als eine Bewegung ist, ist ein Eisen, das 
eigentlich von Holz ist. Dagegen ist nicht zu disputieren, man kann 
nur sagen, ich verstehe unter einem Gedanken einen Gedanken und 
nicht eine Bewegung von Gehimmolekülen“ (88, S. 91). 

„Seele ist die auf nicht weiter sagbare Weise zur Einheit ver¬ 
bundene Vielheit innerer Erlebnisse“ (88, S. 887). 

„Erkennen wir unser eigenes Innere wie es an sich ist? Sicher¬ 
lich, es ist im Bewußtsein, wie es an sich ist“ (88, S. 394). 

J. P e t z o 1 d t: „Innerhalb des Gebietes des psychologischen Ge¬ 
schehens fehlt die eindeutige Bestimmtheit“ (11, S. 90). 

„Unter dem psychophysischen Parallelismus habe ich immer nur 
die Lehre verstanden, daß das psychische Leben, wenn es soll be¬ 
griffen werden, in allen seinen Phasen eindeutig Vorgängen des Zen¬ 
tralnervensystems zugeordnet werden müsse oder daß es keine 
Empfindung und Vorstellung geben könne, ohne einen gleichzeitigen 
Vorgang im Gehirn“ (91, S. 288). 



24 


B 6 1 a R 6 y e s z: . eine sichere Tatsache, daß das Psy¬ 

chische an einen Ort nicht gebunden sein kann“ (100, S. 303). 

Reinke: „Die psychischen Vorgänge in den Lebewesen halte 
ich nicht für materiell oder energetisch, sondern für supramateriell, 
soweit sie auf das körperliche Substrat einwirken, kann man sie 
supramaterielle Kräfte nennen“ (98, S. 62). 

Reichardt: „Was man Seele im alten ursprünglichen Sinn 
genannt hat, dies ist also eine unmittelbare, nicht weiter zu definie¬ 
rende, an sich vorpsychische Lebenserscheinung. — Das Seelische, 
Psychische, sich im Bewußtsein abspielende, durch unmittelbare Er¬ 
fahrung gegebene ist gewissermaßen das Instrument, dessen sich die 
Zentralstelle . . . bedient, um sich . . . zweckmäßig zu betätigen“ 
(97, S. 172ff.). 

William Stern: „Psychisch nennen wir diejenigen Phäno¬ 
mene, welche Gegenstände innerer, dem Erlebenden allein zugäng¬ 
licher Erfahrung sind oder sein können. . . . Physisch nennen wir 
diejenigen Phänomene, welche Gegenstände äußerer, also mit ande¬ 
ren Menschen gemeinsamer Erfahrung sind oder sein können. . . . 
Die Alternative Psychisch-Physisch kann lediglich für die Phänomene 
als zureichend erkannt werden, an die personalen Akte des Indivi¬ 
duums reicht die phänomenale Scheidung von psychisch und physisch 
gar nicht mehr heran, sie sind psychophysisch neutral“ (104, S. 19ff.). 

Stumpf: „Es liegt hierin (in der Tatsache, Ref., „daß das er¬ 
schließbare eigene psychische Leben vor dem gegenwärtigen Moment 
sowie das fremde psychische Leben, das wir aus seinen Äußerungen 
mit annähernder Sicherheit erschließen können, qualitativ dem un¬ 
mittelbar Gegebenen gleichartig ist“) doch ein gewaltiger erkenntnis- 
theoretischer Vorzug gegenüber den Naturwissenschaften, der sehr 
wohl als Ausgleich für die Unmöglichkeit räumlicher Maßbestimmun- 
gen beim Psychischen gelten kann“ (107, S. 21). 

V a i h i n g e r: „Als letzte unmittelbare Wirklichkeit ist uns 
streng genommen aber doch immer nur die Empfindung gegeben. 
Hier verwickelt man sich freilich in ein Labyrinth von Fragen. . . . 
Soviel scheint aber doch wahrscheinlich, daß die Reduktion der 
Atombewegungen auf Empfindungen leichter ist als das umgekehrte. 
Die Empfindungen sind uns zuerst gegeben und die Ausdeutung der¬ 
selben zu materiellen Körpern scheint doch später zu sein. . . .“ 
(108, S. 99). 

Max Verworn: „Es ist richtig, daß ich die Welt nur als die 
Summe meiner Empfindungen und Vorstellungen kenne, aber es ist 
falsch, daraus zu folgern, daß nichts weiter existiert . . .“ (12, S. 22). 



25 


Wilhelm Wundt: „Das Bewußtsein und die es begleitenden 
Gehimprozesse begrenzen sich aber nicht im mindesten, sondern sie 
sind, vom Standpunkte der Naturerkenntnis betrachtet, Funktionen 
von an sich unvergleichbarer Art, die im Verhältnis unabänderlicher 
Koexistenz stehen“ (114, S. 331). 

Ziehen: „AU© Argumente, die gegen ihn (den Materialismus, 
Ref.) vorgebracht werden, lassen sich kurz in den Satz zusämmen- 
fassen, daß selbst die kompliziertesten chemischen Verbindungen, die 
wir uns ersinnen könnten, doch eben immer nur physikalisch-chemi¬ 
sche Prozesse sind und der Materialismus schlechterdings nicht im¬ 
stande ist, uns ein gemeinschaftliches durchgängiges Merkmal oder 
irgendeinen Übergang von diesen chemisch-physikalischen Prozessen 
zu den psychischen nachzuweisen. Gegenüber diesem Argument ist 
der Materialismus in der Tat ohnmächtig“ (119, S. 50). 


Wir haben eine bunte Reihe von Anwendungsformen des Wort- 
symboles Psychisch wie der damit fast gleichartig gebrauchten 
Symbole Bewußtsein und Empfindung an uns vorüber ziehen lassen 
und zwar in wörtlicher Wiedergabe. Diese erschien darum angebracht, 
weil ein Referat über das hier gesagte nur möglich ist, wenn wir den 
Begriff Psychisch in der hier gebrauchten Art überhaupt als ernstlich 
diskussionsfähig annehmen. Hier müssen wir den Trennungsstrich 
machen, wir müssen der unzählige Mal wiederholten, aber durch die 
Wiederholung nicht mit einem Inhalt beschenkten Behauptung zu 
Leibe rücken, daß uns in „innerer“ Erfahrung ein Etwas, eben das 
Psychische, gegeben sei. Wir müssen dem ..unsagbaren“ Psychischen 
das unvorstellbar entgegensetzen. Nur an dieser Stelle 
istdas Problem anzugreifen. Das Befremden, das dieses 
Vorgehen gegenüber dem „einzigen völlig unbezweifelbaren Ursach- 
verhalt“ zunächst hervorrufen mag, schwindet, sobald wir uns die 
Verwendung des Wortsymboles Psychisch näher ansehen. 

Es handelt sich bei den oben angeführten Verwendungsweisen 
des Wortes Psychisch nicht mehr um begrifflichen Gebrauch, wenig¬ 
stens nicht, wenn wir einem Begriff den Sinn geben, den er eben in 
der Praxis für uns enthält, wenn wir in ihm überhaupt noch ein defi- 
nitionsfähiges Gebilde sehen. Hier verstehen wir unter einem Begriffe 
eine Gesamtheit miteinander verbundener Merkmale, deren Zusam¬ 
menhang abstrahiert ist aus einer Reihe von Erfahrungen. Von dem 
Besitz eines Begriffes sprechen wir dann, wenn jemand fähig ist, alle 
oder meist nur die für den betrachteten Punkt in Frage kommenden 



26 


* Qualitäten bei seinem aktiven Angreifen (Begreifen) des Objektes 
richtig als Voraussetzungen einzusetzen. — Für die Gesamtheit aller 
der Eigentümlichkeiten, die der Begriff umfaßt, steht ein Zeichen, 
das Wortsymbol des Begriffes. Dies Zeichen allein sagt nichts aus, 
nur insoweit, als es für die damit gedeckten Merkmale steht. Was 
psychisch und physisch in der Praxis der Umgangssprache bedeuten, 
das ist, sahen wir oben, ein fester Begriff, der wohl verständlich ist, 
die in den oben angeführten Aussagen statthabende Verwendung des 
Wortsymbols Psychisch können wir dagegen nicht mit irgendeinem 
begrifflichen Inhalt erfüllen. 

Was soll es denn heißen, das „undefinierbare“, in der „inneren 
Erfahrung gegebene“ Psychische? Wenn wir unter „innen“, „geben“ 
und „Erfahrung“ das verstehen sollen, was wir gewöhnlich darunter 
verstehen, dann können wir nur sagen, wir verstehen nicht, was es 
heißt, „in innerer Erfahrung etwas gegeben“ bekommen. 

Hier liegt der Schwerpunkt unserer Darlegung, wir müssen uns 
darüber klar werden, daß die psychische der „inneren Erfahrung“ 
nichts ist, daß einen begrifflichen oder überhaupt verständlichen 
Inhalt hat. Es ist sehr wohl klar, was der Begriff Psychisch in der 
Umgangssprache, ohne jede Spekulation gebraucht, besagt, hier hat 
er die besprochene soziobiologische Dimension, ein Umstand, den man 
vielfach übersehen hat. Wird dagegen dies Wortsymbol seines gan¬ 
zen begrifflichen Gehaltes aus der Praxis entkleidet, so wird es so 
nichtssagend wie eine beliebige Wortneubildung. 

Charakteristisch für das Verkennen der Dimension des Begriffes 
psychisch der Umgangssprache ist die Auffassung, wie sie etwa 
Jaspers entwickelt (58, S. 14). 

„Von der Einsicht in den prinzipiellen Gegensatz statischen Ver¬ 
stehens zur sinnlichen Wahrnehmung, genetischen Verstehens zum 
Erklären, hängt die Möglichkeit eines geordneten Studiums und eines 
klaren Forschens in der Psychopathologie ab. Es handelt sich hier 
um völlig verschiedene letzte Erkenntnisquellen. Es gibt Forscher, 
die die Neigung besitzen, diese Erkenntnisquellen für die Wissen¬ 
schaft zu leugnen, die nur das sinnlich Wahrnehmbare als solches, 
nicht das durch das Sinnliche hindurch Verstandene als objektiv gel¬ 
ten lassen wollen. Dagegen ist nichts einzuwenden, insofern man 
nicht mehr einen Beweis für die Berechtigung einer letzten Erkennt¬ 
nisquelle bringen kann. Aber man kann unter allen Umständen Kon¬ 
sequenz fordern. Diese Forscher müssen, um widerspruchslos zu blei¬ 
ben, aufhören, von Seelischem überhaupt zu reden, an Seelisches als 
Wissenschaftler überhaupt zu denken, sie müssen aufhören Psycho- 



27 


pathologie zu treiben, sich vielmehr auf Himprozesse und körper¬ 
liche Vorgänge bei ihrem Studium beschränken. Sie müssen kon¬ 
sequenterweise aufhören, als Sachverständige vor Gericht aufzu¬ 
treten, denn sie wissen nach ihrer eigenen Ansicht von dem, wonach 
sie gefragt werden, wissenschaftlich nichts; sie dürfen nicht die Seele, 
sondern nur das Gehirn begutachten . . 

Hier wird, und das geschieht in der Regel, übersehen, daß Be¬ 
griff Psychisch der Umgangssprache eben gar nicht auf das nach viel¬ 
facher Ansicht ja eben auch „unsagbare innere Erleben“ geht, son¬ 
dern daß die psychologischen Begriffe des gemeinen Sprachgebrauchs 
immer Aussagen machen bezüglich des — ganz allgemein gesprochen 
— handlungsmäßigen und sozialen Verhaltens, wissenschaftlich aus¬ 
gedrückt der plastischen Aktion des fraglichen Objektes. 

Wir haben ein volles Recht, von Seele zu 
sprechen, denn in der Praxis wird dieses Wort - 
Symbol mit dem eingangs scharf umrissenen Be¬ 
griff verbunden und erschöpft in diesem Begriff 
seinen Inhalt; daß daneben noch ein inhalt- und begriffloser, 
noch nicht einmal gleichnismäßiger Gebrauch oder richtiger Mi߬ 
brauch desselben Wortsymbols in der Philosophie vorliegt, der nur 
aus der Verwendung eben dieser fremden Firmenmarke einen Schein 
von Solidität erhält, kann uns nicht zum Vorwurf gemacht werden. 

Die ganze philosophische und speziell die erkenntnistheoretische 
Spekulation lebt überhaupt nur davon, daß sie die Wortsymbole der 
klaren Begriffe Psychisch und Physisch der Alltagssprache benutzt, 
aber ohne deren Inhalt, und so bei flüchtiger Betrachtung den Schein 
von Verständlichkeit erhält, setzt man die Begriffe mit ihrer tat¬ 
sächlichen Dimension in diese Fragestellungen ein, so werden diese 
sofort wesenlos. 

Alle Probleme dieser Art: Idealismus — Mate¬ 
rialismus — Parallelismus, Empirismus — Ratio¬ 
nalismus, Realismus — Phänomenalismus kann 
man nicht einmal aufwerfen, ohne sich der hoff¬ 
nungslosesten Doppelsinnigkeit schuldig zu 
machen. Die Kritik hat hier bei der Fragestellung einzusetzen. 

Was soll es heißen, wenn man beispielsweise nach der Realität 
der Atome (Elektronen) fragt. Wenn man damit nicht ernstlich zur 
Diskussion stellen will, ob hunderte von Physikern und Chemikern 
an verschiedenen Orten zu verschiedenen Zeiten bei experimentellen 
Beobachtungen das Opfer genau gleichartiger Sinnestäuschungen 
beim Ablesen ihrer Instrumente geworden sind, ist die Frage völlig 



28 


sinnlos. Den Begriff Real kann man nur auf Inhalte 
von Wahrnehmungen anwenden, ich kann fragen, ob 
die Person, die ich jetzt vor mir sehe, wirklich oder eine Vision ist. 
Von den Wahrnehmungen aber versuchen wir weiter zu den Begriffen 
zu gelangen, indem wir aus den vorliegenden Reihen nach Möglich¬ 
keit abstrahieren und es heißt die Realität aller dieser Wahrnehmun¬ 
gen bezweifeln, wenn wir nach der Realität der aus ihnen gewonne¬ 
nen Begriffe fragen. Bei einem Begriffe aber fragen 
wir, ob er richtig oder vollständig sei, in dem oder 
dem Punkte. Plank (94, S. 73) hat sich sehr deutlich in diesem 
Sinne ausgesprochen: „Die Atome, so wenig wir von ihren näheren 
Eigenschaften wissen, sind nicht mehr und nicht weniger real, als 
die Himmelskörper oder als die uns umgebenden irdischen Objekte, 
,und wenn ich sage, ein Wasserstoffatom wiegt 1,6.10 — M g, so ent¬ 
hält dieser Satz keine geringere Art von Erkenntnis wie die, daß der 
Mond 7.10” g wiegt. 

Von der gleichen Größenordnung ist meistens auch die Frage 
nach der „Abbildung der Wirklichkeit“, die Frage nach der „Subjek¬ 
tivität und Objektivität der Erkenntnis“, das Problem vom Verhält¬ 
nis unserer Erkenntnis zur Wirklichkeit. Wenn man sich vergegen¬ 
wärtigt, daß wir die unvollkommene Wahrnehmung benutzen, um 
den vollkommeneren Begriff zu erarbeiten, und sich weiter vergegen¬ 
wärtigt, daß auch das Begriffssystem in einem stän¬ 
digen Wandel begriffen ist, der, wie wir hoffen, zu immer 
weiterer Vertiefung im Sinne gesteigerter Voraussagefähigkeit führt, 
ein Wandel, für den wir jedoch in keiner Weise 
mögliche Grenzen absehen können, dann haben wir 
alles gesagt, was sich prinzipiell über diese Frage sagen läßt. 

Welchen Zweck hat es, von einer im philosophischen Sinne abso¬ 
luten Wirklichkeit — eine contradictio in adjecto — überhaupt als 
diskussionsfähig zu sprechen, sei es auch nur, um sie zurückzuweisen. 

Der Fehler philosophischer Fragestellungen liegt ganz allgemein 
darin, daß sie übersehen, daß man nicht voraussetzungs¬ 
los beginnen kann, mit jedem Wortsymbol, das 
wir benutzen, machen wir, wenn es überhaupt 
begrifflich verständlich sein soll, mehr oder 
minder weittragende Voraussetzungen. Wer sich 
überhaupt menschlicher Sprache bedient und damit ein riesiges kon¬ 
ventionelles Begriffsnetz voraussetzt, der kann nicht mehr, wie die 
erkenntnistheoretischen Versuche des cogito, ergo ... ab ovo be¬ 
ginnen. 



29 


So ist die Frage sinnlos, ob die Welt um mich wirklich sei oder 
nicht, denn wirklich und unwirklich haben ihren Sinn nur in ihrem 
gegenseitigen Nebeneinander, es sind Teilbegriffe, die einem Ganzen 
entnommen sind und von denen (ex definitione) daher nie einer das 
Ganze charakterisieren kann. Wir können fragen, ob etwas, das wir 
sehen, eine wirkliche Vision oder greifbare Wirklichkeit ist. Be¬ 
zeichne ich aber die ganze Welt als wirklich oder eingebildet, so 
verlieren diese Teilbegriffe ihren spezifischen 
Inhalt bei dieser Anwendung auf das Ganze. 

Es gibt überhaupt keine gesonderte philo¬ 
sophische Fragestellung mehr außerhalb des 
Rahmens der Einzelwissenschaften, dies muß mit 
aller Schärfe betont werden, die Philosophie ist heute nicht mehr 
existenzberechtigt, nachdem sie ihren Gehalt an tatsächlicher Wissen¬ 
schaft nach und nach und nunmehr restlos an die Einzelwissenschaf¬ 
ten abgegeben hat, die ein lückenloses Netz über das denkbar mög¬ 
liche Gebiet der Wissenschaft bilden. Es gibt keine übergeordnete 
Wissenschaft, die das Recht hätte, mit gesonderter Fragestellung 
die Ergebnisse einer oder mehrerer Einzelwissenschaften zu behan¬ 
deln oder zusammenzufassen. 

Ein solcher Mißbrauch liegt beispielsweise vor bei dem Begriffe 
des Mach sehen, von P e t z o 1 d t übernommenen analytischen 
Elementes (12, S. 88, S. 67). Die Feststellung, daß sich die 
Atome in analytische Elemente, in Begriffe und Empfindungen zer¬ 
legen lassen, ist eine Aussage, die völlig aus der hier in Frage kom¬ 
menden Einzelwissenschaft herausfällt. Die Physik erfährt durch 
eine Aussage dieser Art nicht die geringste Bereicherung. Die Täu¬ 
schung liegt hier in der Verwendung des Wortsymboles Element. 
Wo ich. sonst in der Welt Elemente suche und finde, da haben diese 
Elemente die Eigenschaft, daß ich aus ihnen aufbauen kann. Die 
Verwendbarkeit zur Synthese ist ein integrierender Bestandteil des 
Elementbegriffes, nimmt man dem Begriff diese Eigenschaft, dann 
bleibt von ihm nicht mehr übrig als von einem klingenlosen Messer, 
dem das Heft fehlt. Derartige analytische Elemente gibt es nur eben 
in der Philosophie. So bleibt von dieser Aussage bestenfalls nicht 
mehr als die recht mißverständlich formulierte Selbstverständlich¬ 
keit übrig, daß die Atome Begriffe sind — wie aller Inhalt der 
Wissenschaft — und daß sie, wie dieser, auf dem Wege über Wahr¬ 
nehmungen erarbeitet werden. 

Philosophische Schulung hat heute nur noch eine negative Be¬ 
deutung. Es ist zweifellos von einem gewissen Wert, wenn man sich 



30 


darüber klar geworden ist, daß der Vertiefungsprozeß, in dem sich 
unsere Begriffe befinden, nirgends endlich zu denken ist, 
wenn man vermeidet, den Physiker zu belehren, daß er bei der Erfor¬ 
schung des Aufbaues der Materie einmal an einen Halt kommen 
müsse, und womöglich noch hinzufügt, daß dieser aus harten und 
glatten Kügelchen bestehen müsse, — positive Aussagen außerhalb 
des Rahmens der EinzelwiBsenschaften vermag uns die Beschäftigung 
mit allgemeinen Problemen dagegen nicht zu geben. 

Ein Schulbeispiel für die Inhaltlosigkeit solcher selbständiger 
Versuche, außerhalb des Rahmens der Einzelwissenschaften Gesetze 
aufzustellen oder überhaupt etwas zu schaffen, ist etwa die Z i e h e n - 
sehe Parallelgesetzlichkeit (119, S. 64). 

Das Koordinatennetz läßt sich heute bereits restlos über den 
Gegenstand der Wissenschaft legen. Die Philosophie hat ihr einstiges 
Ödland längst in die Parzellen der Einzelwissenschaften aufgeteilt, 
wie sie in dem Ostwald-Comteschen Stufenschema sämtlich 
und lückenlos zusammengefaßt sind. Die Philosophie hat keinen 
eigenen Boden mehr zu fruchtbringender Bestellung. Bei der Allge¬ 
meinheit ihrer Problemstellungen ist ihre Aussage bestenfalls eine 
Selbstverständlichkeit, häufiger aber dank der Nichtbeachtung der 
Voraussetzungen, die der Gebrauch eines Begriffes in sich schließt, 
inhaltlos. 

Darin liegt die große Bedeutung des 0 81 w a 1 d sehen Systems 
der Wissenschaften, das es für den, der sich hineingedacht hat, alle 
möglichen prinzipiellen Fragestellungen der Wissenschaft in ihrer 
systematischen Abhängigkeit enthält, wie dies hier auch mehrfach 
angedeutet wurde. Dies implizite auch einmal ausführlich explizite 
zu entwickeln, wäre eine dankbare Aufgabe. 

Die Verwirrung, die in die psychologischen Grundbegriffe durch 
den erkenntnistheoretischen Mißbrauch hineingetragen ist, hat sei¬ 
nerzeit Beer-Bethe-Üexküll zu einem heute noch inter¬ 
essanten und immer wieder zitierten Versuche veranlaßt, für die ver¬ 
gleichende Physiologie des Nervensystems folgendes Schema der 
Reizbeantwortungen aufzustellen (20, S. 138f.): 

Reizbeantwortungen: 

A. ohne Vermittlung differenzierter Elemente — Einzeller u. Pflanzen 

= Antitypien. 



31 


B. durch differenzierte Elemente (Nerven) — bei Metazoen 

= Antikinesem 

a) in immer gleicher Weise wiederkehrend = Reflexe 

b) modifizierbar = Antiklisen. 

Unter den Begriff der Antiklise sollen nach den genannten 
Autoren „alle die Vorgänge fallen, die man bisher als bewußt be¬ 
zeichnet hat“. Der Versuch der Einführung dieser neuen Termini 
ist gescheitert, zum Teil schon aus formalen Gründen. Der hier ent¬ 
wickelte Antiklisenmechanismus deckt sich im wesentlichen mit dem 
Begriff der Psyche, wie er oben entwickelt wurde. Und hier steckt 
doch auch eine nicht mehr rein formale Schwäche. Denn mit dem 
Begriff der Antiklise ist die Physiologie hier schon auf das Gebiet der 
angrenzenden Nachbarwissenschaft der Psychologie übergetreten, 
und die neue Namengebung hätte doch ungleich weitere Gebiete be¬ 
rührt als nur die vergleichende Physiologie des Nervensystems, wie 
die Autoren glaubten. Denn die tatsächliche Wissenschaft der Psy¬ 
chologie, wie sie gedeiht und sich entwickelt, ist eben nicht die 
Wissenschaft von der subjektiven Seite der Dinge, die die Physio¬ 
logie von der objektiven Seite betrachtet. 

Einen ähnlichen Standpunkt finden wir vertreten in der B e c h - 
terewsehen „Psychoreflexologie“. Der Fehler der viel zu weiten 
Fassung des Reflexbegriffes wird hier veranlaßt durch die Verken¬ 
nung der tatsächlichen Dimension der psychologischen Begriffe. 

Erwähnung mag in diesem Zusammenhänge noch der A v e n a - 
r i u 8 sehe Begriff der Vitalreihe finden, die zerfällt in eine unab¬ 
hängige physische und eine abhängige psychische Reihe, da F r i e d - 
rieh Kraus seine Wiederbelebung versucht hat. Wir glauben 
nicht, daß diese Bemühungen, ebensowenig wie die Petzoldts, 
diesen Begriff retten können. Ein Versuch, von außen in eine Wis¬ 
senschaft — hier die Physiologie — neue Wortsymbole hinein¬ 
zutragen, ist wohl immer zum Scheitern verurteilt. Der psycho¬ 
logische Anteil des Begriffes ist nicht nennenswert — von unse¬ 
rem Standpunkt aus gesprochen — aus dem herkömmlichen der 
erkenntnistheoretischen Einstellung herausgetreten, der Begriff Psy¬ 
chisch ist nicht in seiner sozialen Dimension gefaßt worden, sondern 
das Innen von Hirnfunktionen geblieben, eine von diesen abhängige 
Reihe, deren Glieder ,glicht eindeutig bestimmt“ seien. 

Wie weit herab wir in der Tierreihe von einer Psyche sprechen 
wollen,^ist von dem entwickelten Standpunkt aus eine fast rein prak- 



32 


tische Frage, die sich von selbst entscheiden wird. Wie wir die 
Dinge heute übersehen, wird man außer bestenfalls bei Wirbeltieren 
und sozialen Anthropoden kaum noch von einer Psyche sprechen 
wollen. Steigen wir allzutief herab, so werden die Funktionen doch 
zu sehr verschieden, als daß wir sie mit Vorteil noch unter einen ge¬ 
meinsamen Begriff fassen könnten. Dehnt man den Begriff Beseelt 
so weit wie F e c h n e r, wenn er von einer „Pflanzenseele“, ja sogar 
von einem „Pflanzenbewußtsein“ spricht (44), oder wie Becher 
(18, S. 371), wenn er die Annahme einer Beseelung alles Lebenden 
macht oder noch weiter, daß man mit H a e c k e 1 auch die Atome 
beseelt sein läßt, dann verliert der Begriff Beseelt all den speziellen 
Gehalt, den er eben, ohne Spekulation in der Praxis gebraucht, durch 
seine enge Begrenzung hat, dann besagt der Begriff nur noch so viel 
wie der Begriff Belebt oder bei noch weiterer Ausdehnung über¬ 
haupt nichts mehr. Wenn Haeckel sagt (51, S. 38): „Ohne die 
Annahme einer Atomseele sind die gewöhnlichsten und allgemein¬ 
sten Erscheinungen der Chemie unerklärlich. Lust und Unlust, Be¬ 
gierde und Abneigung, Anziehung und Abstoßung müssen allen 
Massenatomen gemeinsam sein; denn die Bewegungen der Atome, die 
bei Bildung und Auflösung jeder chemischen Verbindung stattfinden 
müssen, sind nur erklärbar, wenn wir ihnen Empfindung und Willen 
beilegen“, so ist eine derartige Aussage keine Bereicherung unse¬ 
rer chemischen Kenntnisse durch die Psychologie, sondern nur noch 
ein Operieren mit einem Wortsymbol, dessen Begriff zugrunde ge¬ 
gangen ist. Niemals kann eine untere Stufe des 
Baues der Wissenschaften in ihren Grundbegrif¬ 
fen derart aus einer übergeordneten Stufe berei¬ 
chert werden. Eine derartige Befruchtung ist nur an Grenz¬ 
gebieten möglich. 

Aber wir haben das volle Recht, von einer Psyche auch bei Tie¬ 
ren zu sprechen, und es ist doch eine recht eigenartige Konsequenz 
aus dem spekulativen Mißbrauch des Wortsymbols Psychisch, wenn 
man die Auffassung vertritt: „Die Tierpsychologie wird also trotz 
ihres Namens besser daran tun, wenn sie ihre Aufgabe unter Weg¬ 
lassung der Frage des Psychischen folgendermaßen formuliert. . . .“ 
Ziehen (118, S. 1142). 

Neuerdings hat sich unter dem Einfluß der Gestaltforschung in 
der Psychologie eine Umgestaltung der Fassung des Begriffes Psy¬ 
chisch angebahnt. Der Begriff beginnt, ohne die erkenntnistheore¬ 
tische Ungreifbarkeit völlig abzustreifen, doch wenigstens einige 
greifbare Züge anzunehmen. In der Medizin hat man von dieser Um- 



33 


Stellung allerdings bisher kaum Kenntnis genommen. — Man höre 
darüber K ö h 1 e r (64, S. 192f.): 

„Hernach, wie ja schon auf Grund unserer physikalischen Vor¬ 
untersuchung, müssen wir uns sagen, daß der Gegensatz von physi¬ 
scher Welt und Bewußtsein, besonders aber der von nervösem Ge¬ 
schehen und Phänomenen, gewöhnlich etwas übertrieben dargestellt 
wird . . . Das Auftreten komplexer Einheiten, welche doch zugleich 
von jedesmal spezifischer Gliederung sind, wird z. B. mit Recht als 
charakteristisch selbst für höchste psychische Leistungen angesehen, 
wenn diese Erscheinung auf optischem Gebiete ihre Korrelat in phy¬ 
sischem Strukturzusammenhang findet, wird im Bereiche der Denk¬ 
vorgänge dasselbe gelten müssen. Es war stets einer der Haupt- 
einwände gegen die Annahme physischer Korrelate des Denkens (der 
höheren psychischen Vorgänge überhaupt), daß „Einheiten von spe¬ 
zifischer Gliederung“ nicht als physische Realitäten vorkämen, ja 
nicht Vorkommen könnten. Da dieser Einwand bei Anerkennung der 
dynamisch-übergeometrischen Strukturen oder Gestalten überall fort¬ 
fällt, so erkennt man wohl jetzt schön, was die Gestaltstheorie zu¬ 
künftig für die höhere und für die Psychologie des Denkens wird be¬ 
deuten müssen.“ ... A. a. 0.: „Aktuelles Bewußtsein ist in jedem 
Falle zugehörigem psychophysischem Geschehen den (phänomenal 
und physisch) realen Struktureigenschaften nach verwandt, nicht 
sachlich sinnlos, nur zwangsläufig daran gebunden. Man pflegt zu 
sagen, daß selbst bei genauester physikalischer Beobachtung und 
Kenntnis der Hirnprozesse würde doch aus ihnen nichts über die 
entsprechenden Erlebnisse zu entnehmen sein. Dem muß ich also 
widersprechen: Es ist im Prinzip eine Himbeobachtung denkbar, 
welche in Gestalt und deshalb in wesentlichsten Eigenschaften ähn¬ 
liches physikalisch erkennen würde, wie der Untersuchte phänome¬ 
nal erlebt.“ 

Hierzu ist zu sagen, so unendlich viel wir auch von einer Klä¬ 
rung von Mechanismen dieser Art im einzelnen erwarten dürfen, die 
Frage nach der Dimension der psychologischen Grundbegriffe bedarf 
ihrer nicht zu ihrer Entscheidung, darf ihrer nicht bedürfen, sie 
ist nur eine Frage des Stehens zu den eigenen Voraussetzungen, eine 
Frage begrifflicher Sauberkeit, über sie und über die Stellung der 
Psychologie lassen sich die Akten heute schon schließen. 

Verstehen wir unter der Psyche die Gesamtheit derjenigen 
Funktionen, die modifiziert, plastisch, biegsam, verlaufen und cha¬ 
rakteristische, hochkomplizierte soziobiologische Effekte hervor- 
rufen, dann ist das psychische Geschehen im Prinzip selbstverständ- 

Ahlenstiel, Über die Stellung der Psychologie usw. (AbhandL H. 23.) 


3 



34 


lieh eindeutig bestimmbar. In diesem Sinne gibt es also eine psy¬ 
chische Kausalität oder, anders ausgedrückt, die psychischen Funk¬ 
tionen unterliegen, was bei ihrer Dimension selbstverständlich ist, 
der einen, das arbeitswissenschaftliche, biologische und soziologische 
Geschehen beherrschenden eindeutigen Bestimmtheit, — sind doch 
alle oberen Stufen nur Komplizierungen des arbeitswissenschaftlichen 
Grundgeschehens. Die Psychologie steht nicht in dem Gegensatz 
zur Physiologie, daß die eine das „innen“, die andere das „außen“ 
schildert, das ist ein Gleichnis, dem wir nichts, auch nicht das Ge¬ 
ringste entnehmen können, — wohl aber ist Aufgabenkreis und Be¬ 
trachtungsweise beider einstweilen völlig verschieden, ebenso wie die 
Betrachtung eines Automobils als Verkehrsmittel und als Maschine 
völlig gesondert möglich ist. Ebenso wird einstweilen die Psycho¬ 
logie in weiter Hinsicht unabhängig von der Physiologie in der Auf¬ 
stellung ihrer Begriffe, Regeln und Gesetzlichkeiten vorgehen kön¬ 
nen und vorgehen müssen, ebenso wie etwa ja auch die teleologische 
Betrachtungsweise selbständig ihre Regeln gebildet hat, ohne die 
Physiologie, aber keineswegs im Gegensatz zu ihr, denn im Prinzip 
hat diese einmal in ihr Erbe einzurücken, ebenso wie in das der Psy¬ 
chologie, wenn wir heute auch angesichts der ungeheuer komplizier¬ 
ten Verhältnisse dieses nicht einmal als ernstlich möglich ausdenken 
können. 


Es bleibt zu zeigen, daß auch die übrigen Grundbegriffe der 
Psychologie in ihren praktischen Dimensionen sich in den Rahmen 
des umrissenen Begriffes Psychisch fügen. Auch der Begriff „Be¬ 
wußtsein“ hat im gemeinen Sprachgebrauch, ohne Spekulation an¬ 
gewandt, seine klare und scharfe Dimension. 

Die weite Fassung des Bewußtseinsbegriffes bewußt im Sinne 
von „bei Bewußtsein“ (Gegensatz: die Bewußtlosigkeit des Komas), 
bedarf keines Eingehens. Bewußt heißt hier so viel wie temporär 
beseelt. Der praktische Inhalt dieser Aussage bei Bewußtsein bzw. 
bewußtlos ist evident. 

Den Ausgangspunkt für die Differenzierung der Begriffe Be¬ 
wußt und Unbewußt in der Praxis bildete die Beobachtung, daß 
die Psyche das gleiche ein- und ausgehende oder in ihr vorhandene 
Material zu verschiedenen Zeiten einer sehr verschiedenen Behand¬ 
lung teilhaftig werden läßt. So steht uns Gedächtnismaterial zu Zei¬ 
ten zur Verfügung, zu anderen nicht, so beeinflussen Reize unsere 
Handlungen einmal sofort einschneidend, während sie ein anderes 



35 


Mal ohne Wirkung bleiben, endlich gibt es Handlungen, völlig gleich¬ 
artige Handlungen, die wir praktisch sehr verschieden werten müs¬ 
sen, je nachdem wir sie als bewußt oder unbewußt geschehen bezeich¬ 
nen. Das Wissens- und Willensmaterial, das wir nun als bewußt zu¬ 
sammenfassen und dem un- bzw. unterbewußten gegenüberste'llen, 
hat das Gemeinsame, daß es für die jeweils der Betrachtung zugrunde 
gelegte Handlung oder Handlungsgruppe verwertbar ist — ganz all¬ 
gemein gesprochen —, oder bei dieser zur Verwertung kommt. (Das 
Physiologische interessiert uns als Praktiker wie als Psychologen 
dabei zunächst gar nicht.) Ob die besagte Verwertung eintritt, ist 
praktisch außerordentlich bedeutsam und wir haben, in der Praxis 
gemessen, an der ungeheuren Kompliziertheit des fraglichen Objek¬ 
tes zureichende Kriterien, um zu entscheiden, in vielen Fällen wenig¬ 
stens, ob eine solche Verwertung stattgefunden hat oder eine Ver¬ 
wertbarkeit besteht. Wir haben also in der Praxis ob¬ 
jektive Kriterien der Bewußtheit, ja noch mehr, 
in diesen Kriterien erschöpft der Begriff in der 
Praxis seinen Inhalt. So urteilen wir über das Bewußt-sein 
einer Tatsache, um nur eine Erstreckung der praktischen Dimension 
des Begriffes anzudeuten, durch die Feststellung ihrer Mitteilbarkeit, 
so sagen wir andererseits, wenn wir beispielsweise eine stattgehabte 
Kränkung als unbewußt erfolgt charakterisieren, damit aus, daß sie 
bei vorheriger Erkenntnis der kränkenden Wirkung unterblieben 
wäre, daß jetzt nach dem Offenbarwerden des verletzenden Effektes 
eine Aktion zu seiner Behebung zum mindesten als möglich zu er¬ 
warten ist, daß jedenfalls mit dem Auftreten weiterer kränkender 
Akte in unmittelbarem Anschluß daran nicht zu rechnen ist, während 
von allem das Gegenteil gilt, sobald die Kränkung als bewußt ange¬ 
sprochen wird. 

Welche praktischen Eigentümlichkeiten des Verhaltens endlich 
der Begriff Doppelbewußtsein“ (der mit zwei mehr oder minder 
hochgradig getrennten Personen in demselben Körper rechnen läßt) 
oder der der Bewußtseinstrübung (zusammenhangloses Verhalten, 
Desorientiertheit, Amnesie usw.) besagt, bedarf nach dem Gesagten 
wohl kaum der weiteren Ausführung. 

Lehnen wir die Verwendung des Wortsymbols Bewußt in der 
Erkenntnistheorie als inhaltlos ab — Beispiele dafür waren oben 
gegeben —, so ist das Bewußtsein kein Begriff mehr, von dessen 
physiologischer Erklärung, so wie sie heute möglich ist, eine Ver¬ 
tiefung des Begriffes zu erwarten ist. Wir werden also nicht sagen, 
„Bewußtsein entsteht, wo es gilt, nach Wahl zu handeln“, sondern 


3 * 



36 


umgekehrt, eine Wahlhandlung nennen wir immer auch eine bewußte 
Handlung. Wir werden auch nicht mit Bleuler sagen: „Wir neh¬ 
men nun an, daß diese Verbindung einer psychischen Funktion mit 
dem bewußten Ich dasjenige sei, was einem Psychismus die bewußte 
Qualität gibt“ (25, S. E. 92), wir werden den Satz umkehren: Wir 
nennen die Psychismen bewußt, die Glieder jener den Schaltapparat 
zu unserem Handlungsorgan beherrschenden Schaltgruppe sind oder 
diese beeinflussen können (an diese assoziiert sind), wofür wir Kri¬ 
terien in der beschriebenen Verhaltungsweise des betrachteten Indi¬ 
viduums haben. 

Die Frage nach der Ausdehnung des Bewußtseins im Tierreiche 
ist nach dem Gesagten eine rein praktische Frage. Und die Praxis 
hat die Frage einstweilen so beantwortet, daß sie nur beim Menschen 
bewußte und unbewußte Funktionen unterscheidet. Ob hier in näch¬ 
ster Zeit ein Wandel bevorsteht, wage ich nicht zu entscheiden. 
Sicher aber ist wohl, daß der Kreis der Arten, auf die man diese 
Begriffe anwenden wird, ein außerordentlich eng begrenzter sein 
wird. Natürlich besteht gar kein prinzipieller Unterschied zwischen 
Mensch und Tier, auch nicht in diesem Punkte, aber beim Tier liegen 
diese Verhältnisse doch sehr viel einfacher, so daß es im allgemeinen 
kaum möglich sein wird, Bewußtes und Unbewußtes einander gegen¬ 
über zu stellen. Einseitig nach dem Vorhandensein von Bewußtsein 
fragen, etwa wie Clapar6de (35, S. 1196): „Suchen wollen, in 
welchem Moment das Bewußtsein im Tierreiche beginnt, ist eine vom 
Standpunkte des Parallelismus unmögliche Aufgabe und außerdem 
nutzlos“, ist auch von unserem Standpunkt nicht angängig; von 
Bewußtem zu spreche*n hat nur dort Sinn, wo man 
gleichzeit ig auch von Unbewußtem sprechen kann. 
Dies übersieht auch, wer in dem Pflüger sehen Rückenmarks¬ 
bewußtsein oder gar in den „empfindenden und wollenden Tierfrag¬ 
menten Pflügers“ ein ernstes Problem sieht. Diese Frage läßt 
sich mit völliger Bestimmtheit beantworten. Im isoliert gedachten 
Rückenmark gibt es nur einerlei Funktionen und das sind Reflexe. 
Wir können also nicht einmal von einer Rücken¬ 
marksseele, geschweige denn von einem Rücken¬ 
marksbewußtsein sprechen. 

Zell- und Molekularbewußtsein endlich sind in unserem Sinne 
ebenfalls überhaupt keine zulässigen Begriffsbildungen mehr, sie 
stehen etwa auf gleicher Stufe mit dem Versuch, die Funktion eines 
gegen Geldeinwurf Waren abgebenden Automaten durch ein rudi¬ 
mentäres Verkaufsbedürfnis seiner einzelnen maschinellen Bestand- 



37 


teile zu erklären. Das Problem, ob sich ein handelndes Wesen kon¬ 
struieren ließe, das kein Bewußtsein hätte, hat nach all dem Gesagten 
für uns natürlich keinen Inhalt, denn wo wir Handlungen von einer 
speziellen Art sehen, wie sie oben beschrieben wurde, da nennen wir 
diese im allgemeinen Sprachgebrauch der Umgangssprache ja eben 
bewußt, und fassen in Konsequenz auch die Schaltgruppe, von der sie 
ein Teil sind, begrifflich unter der Bezeichnung „Bewußtsein“ zu¬ 
sammen. 

Bewußtsein ist für uns nicht die Eigenschaft, die seelische Vor¬ 
gänge von den automatenhaften unterschiede, denn wir haben das 
Seelische ja schon definiert als das nicht automatenhaft Starre, son¬ 
dern als die plastische Funktion, die wir beim Menschen wieder in 
die beiden Gruppen bewußter und unbewußter Funktionen sondern. 
Die Frage also, ob man sich das ganze Handeln des Menschen auch 
automatenhaft ohne Bewußtsein denken könne, läuft von diesem 
Standpunkte auf eine contradictio in adjecto hinaus. 

Die Frage nach dem Zwecke des Bewußtseins werden wir aus 
der entwickelten Fassung des Begriffes heraus formulieren als Frage 
nach der biologischen Bedeutung der Weite des Bewußtseins, und 
diese ist dahin zu beantworten, daß ceteris paribus dort die größere 
Vollkommenheit im Sinne einer größeren Haltbarkeit im Lebens¬ 
kämpfe vorliegt, wo der richtunggebend modifizierende Einfluß der 
unter dem Bewußtsein verstandenen Schaltungsgruppen der grö¬ 
ßere ist. 

Neben dem Begriff des Bewußtseins und dem der Psyche steht 
als dritter Begriff, dessen Wortsymbol besonders von der erkenntnis- 
theoretischen Spekulation benutzt worden ist, der Begriff der 
Empfindung. In der Praxis des alltäglichen Gebrauchs hat der 
Begriff, wie leicht zu zeigen, ebenfalls seinen festen Inhalt, der wohl 
beschreibbar ist, wenn dies auch, wie bei einem so hochkomplizierten 
psychologischen Begriffe selbstverständlich, nicht mit wenigen Wor 
ten erschöpfend möglich ist. 

Jedesmal, wenn wir von dem Statthaben bzw. nicht Statthaber 
einer Empfindung bei einer Person reden, so machen wir damit ganz 
bestimmte Voraussetzungen bezüglich des Verhaltens dieser Person. 
Voraussetzungen, die eben den Inhalt des Begriffes der Empfindung 
ausmachen, wenn sie auch vielfach nur sehr allgemein oder nur nega 
tiv, ausschließend gehalten sein können. Wir können diesen Begrif: 
etwa folgendermaßen formulieren: man versteht unter Empfindung 
die aktuelle Dispositionsänderung, die die Psyche oder ihr bewußter 



38 


Teil durch die qualitative Erregung eines Sinnesorgans erfährt. Spre¬ 
chen wir beispielsweise von einer Schinerzempfindung, so machen 
wir damit die praktisch sehr bedeutsame Aussage, daß das Verhalten 
der betroffenen Person aktuell oder zum mindesten potentiell eine 
charakteristische Umstellung erfahren hat, deren Einzelheiten von 
Fall zu Fall außerordentlich variieren, die aber alle doch in einer 
gemeinsamen Richtung liegen. So erwarten wir beispielsweise eine 
Klage oder einen Seufzer dort, wo ein Schmerz empfunden wird, oder 
falls diese ausbleiben, doch keine harmlos heitere Äußerung, zum min¬ 
desten aber nehmen wir an, daß diese, wenn sie erfolgt, jetzt ganz 
anders zu werten sei als sonst, daß sie gegen Widerstände erfolge, 
deren Damm unter Umständen durchbrochen werden könne und 
keineswegs jetzt betrachtet werden dürfe wie gewöhnlich, etwa als 
Indikator jener Einstellung, die man gute Laune nennt usw. Muta- 
tis mutandis gilt das hier Gesagte für alle Empfindungen, Geruchs-, 
Geschmacks-, Tast-, Gesichts- und Gehörsempfindungen. 

Dieser Begriff „Empfindung“, wie wir ihn in der Umgangssprache 
alltäglich ohne Spekulation gebrauchen, enthält eine Aussage von 
klarer Dimension. 

An dem Gebrauch des Wortes Empfindung in der Philosophie 
haftet dagegen kein begrifflicher Inhalt mehr. Mit dem Begriff 
der Empfindung ist unweigerlich ein Organis¬ 
mus vorausgesetzt, an dem die durch diesen 
Begriff ausgedrückte Schal t u ngsänderung vor 
sich geht. Was soll es da heißen, wenn man sagt, alles Sein sei 
„dem Inhalt nach als Empfindung zu denken“, wenn man die Welt in 
„Empfindungselemente“ zerlegt, wenn man den Reiz eine „objek¬ 
tivierte Empfindung“ nennt. „Die eigentliche Empfindung ist an sich 
nur empfindbar, nicht wiedergebbar“, sagt man sehr schön. 
(Kleinpeter 63, S. 14.) Aber was soll es heißen: „eine Empfin¬ 
dung empfinden“? Wir empfinden keine Empfindung, sondern nur 
Qualitäten, wir erleben auch kein Bewußtsein, sondern nur Ereig¬ 
nisse. Was man hier sagt, hat keinen begrifflichen Inhalt mehr, ist 
auch nicht ein Gleichnis, sondern nur ein Aneinanderreihen der Be¬ 
griffe barer Wortsymbole. 

Als des letzten aus der Reihe der Grundbegriffe der Psycho¬ 
logie sei des Ich begriffes in Kürze gedacht. Welches der Sinn des 
Begriffes ist, bedarf keiner weiteren Ausführung. Spricht eine Person 
von sich als „ich“, so kann über die damit gemeinte Person kein 
Zweifel obwalten. Was bleibt nun von diesem Begriffe außer dem 
gemeinsamen Wortsymbol noch übrig, wenn wir sagen: „alles Psychi- 



39 


sehe hat Ichcharakter (Oesterreich), oder wertn wir von „frem¬ 
den Ichen“ reden. Ein „fremdes“ Ich ist eine contradictio in adjecto, 
der Begriff, der mich und den anderen zu vergleichen vermag, ist der 
Begriff der Persönlichkeit, unter dem wir die spezifischen Eigenheiten 
umfassen, wie sie sich in der inhaltlichen Zielsetzung der Wollens- 
richtungen, in dem Habitus der Aktions- und Reaktionsabläufe, in 
der Intelligenz, in dem Einfluß der Erlebnisse usw. offenbaren. 

Sagen wir aber solipsistisch: „Mein Ich ist die Welt“, oder sagen 
wir: „Ich bin das einzige Wesen, dessen Existenz sicher ist, die Per¬ 
sonen um mich existieren nur in meiner Einbildung“, so versuchen 
wir beide Male, ein Ganzes durch seine Teile zu charakterisieren, bei 
welcher Erweiterung der Teilbegriffe natürlich deren spezifischer, 
eben in der Begrenzung liegender Inhalt verloren geht. 

Die Geschichte des Entwicklungsganges der psychologischen Be¬ 
griffe in der Philosophie und ihres allmählichen Dimensionslos¬ 
werdens, ihres Abstreifens der Kraftkomponente, wie sie bei der 
Begriffsbildung der Psychovitalisten noch erkennbar ist, kann uns 
hier nicht beschäftigen. Wir möchten auch glauben, daß die Bedeu¬ 
tung philosophischer Gedankengänge für die fortschreitende Ver¬ 
tiefung der Begriffe doch stark überschätzt worden ist, die eigentlichen 
Träger des Fortschrittes sind die Hunderte unphilosophischer Köpfe, 
die in mühsamer Einzelarbeit Zoll um Zoll die Grenze unseres Wis¬ 
sens weiter stecken. Wenn Mach einmal meint, die Wissenschaft 
sei „fast mehr durch das gewachsen, was sie zu ignorieren verstan¬ 
den, als durch das, was sie berücksichtigt hat“, so dürfen wir dies 
doch nicht dahin auffassen, als ob die Arbeit der großen Begriffs- 
zertrümmerer in gleicher Weise entscheidend für den Fortschritt sei, 
wie etwa ein entscheidendes Experiment in einer Einzelwissenschaft, 
jene sprechen nur formal begriffliche Bankerott- und Todeserklärun¬ 
gen aus, die andere bewirkt haben. Die einzige Aufgabe, in die sich 
noch ein Teil der alten philosophischen Einstellung retten kann, ist 
die der enzyklopädischen Zusammenfassung der Inhalte der Einzel¬ 
wissenschaften, besonders soweit diese Aufgabe den Inhalt angeht, 
der für die Vertreter anderer Wissenschaften von besonderer Bedeu¬ 
tung ist. Dieser Verbindungsdienst zwischen den 
einzelnen Wissenschaften und im Zusammenhang 
damit die ebenfalls noch unverdient arg ver¬ 
nachlässigten Fragen nach der Technik der 
Wi s s e n s t h e s a u r i e r u n g, der Be g r i f f s s y m b o 1 i k 
usw. ist die einzige allerdings außerordentlich 
dankbare Aufgabe, die den sy stemati sch-1heo- 



40 


retisch eingestellten Naturen noch bleibt, nur 
darf dabei nicht die Erkenntnis verloren gehen, daß dieser Etappen¬ 
dienst für die Front der Einzelwissenschaften da ist und von dieser 
ihre Weisungen zu erhalten hat ohne meinerseits das Recht zu haben, 
diese bestimmend zu beeinflussen. 

Um den Entwicklungsprozeß, der sich an der Gesamtheit der 
Wissenschaft abspielt und in dessen Zusammenhang erst die Konse¬ 
quenzen deutlich werden, die in der Ablehnung des dimensionslosen 
Psychischen und in der soziobiologischen Dimensionierung der Grund¬ 
begriffe der Psychologie liegen, wenigstens in groben Zügen anzu¬ 
deuten, sei gestattet, noch auf die Differenzen zwischen Naturwissen¬ 
schaft und Geisteswissenschaft einzugehen und die zu postulierende 
und in Ansätzen bereits nachweisbare naturwissenschaftliche Um¬ 
gestaltung der letzteren zu berühren. 


Die erste Forderung, die sich ergibt, können wir zusammenfassen 
in dem Motto: Anschluß der Geisteswissenschaften oder, wie wir 
besser sagen, der Gesellschaftswissenschaften an den naturwissen¬ 
schaftlichen Unterbau, die Lebenswissenschaften. Dieser Anschluß 
könnte heute bereits in einem hohen Grade realisiert sein, wenn er 
auch zunächst noch nicht die Innigkeit der Verbindung der Lebens¬ 
wissenschaften, speziell die der Physiologie mit ihrem Unterbau, den 
Arbeitswissenschaften, Physik und Chemie, besitzen würde. Eine 
Konsequenz dieses Anschlusses wäre die schon von C o m t e er¬ 
hobene Forderung, beim Betrieb jeder höheren Stufe die Kenntnis der 
unter ihr liegenden Stufen der Wissenschaften zu verlangen. Man 
kann Physiker sein, ohne etwas von Biologie zu verstehen, man kann 
aber nicht Soziologe sein, ohne eingehende biologische Kenntnisse 
und ohne die Fähigkeit strenger Gesetzes- und Begriffsanwendung, 
ohne die Kenntnis der durchgehenden eindeutigen Bestimmtheit, wie 
sie uns die Arbeitswissenschaft vermittelt. Daß natürlich die Ge¬ 
sellschaftswissenschaft, ebenso wie die Lebenswissenschaft in ihrer 
teleologischen Betrachtungsweise, gegenüber der Unterstufe einst¬ 
weilen eine gewisse Selbständigkeit haben kann, ohne dabei das 
Subordinationsverhältnis aufzugeben, war schon erwähnt. Wie weit 
wir heute noch von der Erfüllung dieser Forderung naturwissen¬ 
schaftlicher Vorbildung auch für den Soziologen entfernt sind, bedarf 
keiner Ausführung. Einen Schritt vorwärts in dieser Richtung dür¬ 
fen wir vielleicht erwarten, sobald die erste ernstliche Durchführung 
des Vergleiches Staat = Metazoenorganismus erfolgt ist, zu der 



41 


schon Ansätze vorliegen und die vielleicht nicht allzulange mehr auf 
sich warten lassen dürfte. 

Des weiteren ist mit dem Verzicht auf jede begriffliche Sonder¬ 
stellung der Geistes- bzw. Gesellschaftswissenschaften ernst zu 
machen. Diese müssen sich klar sein, daß auch ihr ideales Ziel das 
„voir pour prövoir“ Comtes, die vorhersehende Beherrschung des 
ihrer Betrachtung zugrunde liegenden gesellschaftswissenschaft¬ 
lichen Geschehens ist, wenn auch die Annäherung hier in der kom¬ 
pliziertesten Oberstufe immer am kleinsten Sein muß, gemessen an 
den Unterstufen mit einfacheren Verhältnissen. Einstweilen wird 
sich die Geschichte noch mit dem Zusammentragen von Material be¬ 
gnügen müssen, aber eine Entwicklungsmöglichkeit in diesem Sinne 
werden wir ihr nicht absprechen dürfen, ihr bisheriger Weg vom 
Heldenlied zur Kulturgeschichte führt durchaus in dieser Richtung. 
Die Behauptung Rickerts: „Der grundlegende Unterschied zwi¬ 
schen Naturwissenschaft und Geisteswissenschaft besteht darin, daß 
die eine Begriffe mit allgemeinem, die andere mit individuellem In¬ 
halte bildet“, ist richtig, wenn wir sie durch den Zusatz vorwie¬ 
gend einschränken, aber was soll es heißen, wenn R i c k e r t (101, 
S. 469) darin einen „prinzipiellen logischen Unterschied“ sieht, der 
„nie zu einem bloß graduellen werden kann“ wenn er von der „Un¬ 
möglichkeit“ spricht, „die Geschichte als Darstellung einmaliger Ent¬ 
wicklungsreihen zu einer generalisierenden Naturwissenschaft zu 
machen“, wenn er „dem naturwissenschaftlichen Denken jede Indivi¬ 
dualität eines zukünftigen Ereignisses absolut verschlossen“ lassen 
sein will. 

Es wurde oben schon gezeigt, wie gänzlich ungeeignet es ist, in 
idiographischer.und nomothetischer Begriffsbildung einen Unterschied 
zwischen Naturwissenschaft und Geisteswissenschaft zu sehen. Der 
i d i o g r a p h i s c h e Begriff ist eine Vorstufe des 
nomothetischen. Nomothetische Begriffe im Sinne von 
Helmholtz (54): „Das Wesen unseres Begreifens den Natur¬ 
erscheinungen gegenüber ist, daß wir Gattungsbegriffe und Natur¬ 
gesetze zu finden suchen. Naturgesetze sind nichts anderes als 
Gattungsbegriffe für Veränderungen in der Natur“, sind auch in der 
Geschichte möglich. 

Umgekehrt kennt auch die Naturwissenschaft mit Helm¬ 
holtz’ Worten (4, Bd. II, S. 359) „zwei Wege, den gesetzlichen 
Zusammenhang der Natur aufzusuchen, den der abstrakten Begriffe 
und den einer reichen experimentierenden (auf gesellschaftswissen- 



42 


schaftliche Verhältnisse übertragen würde es heißen „beobachten¬ 
den“, Ref.) Erfahrung. Der erstere Weg führt schließlich mittels der 
mathematischen Analyse zur genauen quantitativen Kenntnis der 
Phänomene, aber er läßt sich nur beschreiten, wo der zweite schon 
das Gebiet einigermaßen aufgeschlossen, d. h. eine induktive Kennt¬ 
nis der Gesetze mindestens für einige Gruppen von dahin gehörigen 
Erscheinungen gegeben hat, und es sich nur noch um Prüfung und 
Reinigung der schon gefundenen Gesetze und den Übergang von 
ihnen zu den letzten und allgemeinsten Gesetzen des betreffenden 
Gebietes und um die vollständige Entfaltung von deren Konsequen¬ 
zen handelt. Der andere Weg führt zu einer reichen Kenntnis des 
Verhaltens der Naturkörper und Naturkräfte, bei welcher zunächst 
das Gesetzliche nur in der Form, wie es die Künstler auffassen, in 
sinnlich-lebendiger Anschauung des Typus seiner Wirksamkeit er¬ 
kannt wird, um sich dann später in die reine Form des Begriffes 
herauszuarbeiten.“ 

Das hier Gesagte ist für die ganze Wissenschaft einschließlich 
der Gesellschaftswissenschaften gültig. Die Geschichte der Natur¬ 
wissenschaft gibt das Beispiel, wie wenige von denen, die einst auf 
dem Zickzackgange suchenden Beobachtens die ersten Wege bahn¬ 
ten, auch nur im entferntesten ahnten, wie stolz einst die via regia 
des entwickelten Begriffs sein würde, die ihre Nachfolger schreiten. 

Wenn auch das, was an historischen Gesetzen bisher aufgestellt 
wurde, nach Stumpf (107, S. 55) auf Besonnene eher abschreckend 
gewirkt hat, und w T enn man sich heute auch noch besser darauf be¬ 
schränkt, „zu zeigen, wie es eigentlich gewesen“, so ist dies kein Be¬ 
weis, daß es auch in Zukunft so sein wird. Eine derartige Argumen¬ 
tation übersieht völlig die Möglichkeit einer Entwicklung und schätzt 
die Zeiträume weniger Jahrhunderte, während der der beobachtete 
Stillstand bestanden hat — für biologische Rechnung .ein Moment —, 
fälschlich viel zu lang ein. 

Es könnte überflüssig scheinen, wenn der von R i c k e r t geltend 
gemachten Bedenken hier überhaupt so eingehend gedacht wurde. 
Auch das soziologische Geschehen ist ein Lebensvorgang und geben 
wir dem Leben keine begriffliche Sonderstellung prinzipieller Natur, 
wie dies ja auch in der Regel nicht geschieht — der Neovitalismus 
hat doch nur eine beschränkte Anhängerzahl —, so sind auch Hand¬ 
lungen eindeutig bestimmbar und gesetzmäßig erfaßbar. Aber frei¬ 
lich, „das Bedürfnis, Begriffe, die sehr verschiedenen Denkgebieten 
angehören, in gegenseitigem Einklang zu halten, ist sehr verschieden 
stark entwickelt . . ., und noch geringer ist die Dringlichkeit der 



43 


Forderung, sämtliche benutzten Begriffe in Übereinstimmung zu hal¬ 
ten, falls diese Begriffe sich nicht in einem einzigen Bewußtsein ver¬ 
einigt finden, sondern von verschiedenen Personen in verschiedener 
Tätigkeit angewendet werden . . ., es wird dann .„ein Widerspruch 
innerhalb der Gesamtheit der angewendeten Begriffe keineswegs als¬ 
bald als ein unerträglicher Zustand erfunden,“ wie 0 s t w a 1 d ein¬ 
mal sagt. 

Eine gewisse „Laxheit in der Anwendung streng allgemeingülti¬ 
ger Gesetze“, wie sie H e 1 m h o 11 z bei seinen Schülern „aus unseren 
grammatikalischen Schulen“ beobachtet hat, begünstigt die Geistes¬ 
wissenschaft bei der Schwierigkeit, hier einen Schluß als falsch zu 
erkennen, oder eine Frage experimentell zu entscheiden überhaupt. 
Hier kann von Gesetzen, ja selbst nur von Regeln, einstweilen kaum 
die Rede sein. Bei diesem Stande der Dinge, angesichts der gering¬ 
gradigen Verarbeitung des Materials, die der Eigenart der einzelnen 
Persönlichkeit im guten wie im schlechten Sinne sehr viel mehr Spiel¬ 
raum läßt, bei der, systematisch betrachtet, vielfach wenig strengen 
Zielsetzung der Fragestellung ist es des weiteren nicht verwunder¬ 
lich, wenn die Autorität eine so große Rolle spielt, während die 
Mathematik und die bis zu einem gewissen Grade mathematisierten 
Wissenschaften „keine Autorität kennen, als die des eigenen Ver¬ 
standes“. Ungünstig in diesem Sinne wirkt das Vorbild der Philo¬ 
sophie, in der die Persönlichkeit die stärkste Rolle spielt und spielen 
muß, da sie keinen sachlichen Inhalt mehr hat. Hier versammeln 
Lebende wie Tote förmliche Gemeinden um sich. 

Den Gegensatz der beiden Gruppen hat H e 1 m h o 11 z einmal 
auf zwei Worte pointiert: Die Naturforscher wurden von den Philo¬ 
sophen der Borniertheit geziehen, die letzteren von den ersteren der 
Sinnlosigkeit (4, Bd. I, S. 124f.). Dieser Satz, die treffendste Formu¬ 
lierung der Differenz, kann auch für die Gegenwart noch gelten. 
Borniertheit meint, die naturwissenschaftliche Betrachtungsweise 
erscheint der Gegenseite nüchtern, materialistisch, trivial, sie fühlt 
sich durch sie in der Wärme ihres Gefühls und ihrer Begeisterung 
gestört, sie empfindet sie als ungeistig, als bar dessen, was die eigent¬ 
liche Erhebung gibt, während umgekehrt von naturwissenschaftlicher 
Seite das Fehlen affektiver Momente als Vorzug empfunden und als 
Notwendigkeit gefordert wird und man hier den von diesen Strebun¬ 
gen diktierten Fragestellungen der Philosophie keinerlei Inhalt ab¬ 
gewinnen kann. Das Hineinspielen affektiver Nebenziele in die 
Arbeit der Geisteswissenschaften ist begreiflich, da es sich hier gene¬ 
rell um Dinge handelt, denen wir in der Praxis ständig wertend 



44 


gegenübertreten müssen, aber es ist doch wieder ein Zeichen für die 
relative begriffliche Unreife dieser Wissenschaften. Wenn beispiels¬ 
weise Lamprecht (69, S. 5) den Rat gibt, „jedem Geschichts¬ 
werke bewußtermaßen den Charakter eines Kunstwerkes zu geben, 
wenn man es für angezeigt hält, den Problemen der Universal¬ 
geschichte mit dem vollen Emst religiöser Gefühle zu nahen, so sehen 
wir hierzu eine Parallele in jenen Zeiten, da die Naturwissenschaften 
selbst noch in den Kinderschuhen staken, bei ihrem behaglichen Be¬ 
triebe Lehrgedichte möglich waren, da in Land- und Sternkarten 
bildliche Darstellungen, Personen, Landschaften und Gegenstände 
auf die weißen Flächen hineingezeichnet wurden, Mikroskope und 
wissenschaftliche Instrumente aller Art mit schmückenden Reliefs 
versehen wurden usw. Arbeitstempo und geraffte Zielvorstellung 
lassen heute überhaupt nicht einmal den Gedanken an derartige 
Möglichkeiten auftauchen, bezeichnend ist außerdem, daß etwa auf 
unseren kartographischen Darstellungen schon rein räumlich kein 
Platz mehr vorhanden sein würde. 

Selbst ohne mit Hegel die Vernunft in der Geschichte zu 
suchen, Erlebenwollen dramatischer Wirkung, seelenläutemder 
Katharsis, eines „sittlichen in Erhebung beim Nachfühlen der Per¬ 
sönlichkeiten und der sie beherrschenden Ideen liegenden Wertes der 
Geschichte“ und andererseits Arbeit im Interesse objektiver Voraus¬ 
sage fördern einander nicht. Ein Nebeneinander ist hier immer ein 
Kompromiß im schlechten Sinne, hemmende und bahnende Tenden¬ 
zen arbeiten hier einander entgegengesetzt. 

Der ontogenetische Entwicklungsgang, wie ihn C o m t e sche¬ 
matisiert (3, S. 11): „Or chacun de nous, en contemplant sa propre 
histoire, ne se souvient-il pas qu’il a 6te successivement quand ä. 
ses notions les plus importantes, theologicien dans son enfance, m6ta- 
physicien dans sa jeunesse et physicien dans sa virilite?“ ist nach 
seiner Auffassung auch etwa der phylogenetische der Wissenschaft, 
— vom „etat thöologique“ durch den „6tat metaphysique“ zum 
„etat positive“. Die Naturwissenschaften sind in den letzteren ein¬ 
getreten, die Geisteswissenschaften befinden sich noch im etat meta¬ 
physique. Ein Beispiel dafür ist die Münsterberg sehe Lehre 
von einem freien Willen in der Geschichte, der einer Sphäre angehört, 
wo es keine Ursachen gibt, weil er im Zeitlosen liegt, — ist überhaupt 
die Tatsache, daß hier in der Frage nach der Willensfreiheit ein ernst¬ 
liches Problem gesehen wird. In den Geisteswissenschaften glauben 
die Metaphysiker unserer Tage noch eine Freistatt zu besitzen, hier, 
wo es, wie Becher meint (17, S. 304), noch eine echte Zweck- 



45 


forechung im Gegensatz zur Zweckmäßigkeitsforschung der Natur¬ 
wissenschaften gibt. 

In der berühmten Zweckfrage haben wir wieder ein Beispiel für 
das Inhaltloswerden eines festen Begriffes, sobald man ihn von dem 
Zusammenhänge löst, in dem er wurzelt. Fragen wir beispielsweise 
mit M o e b i u s nach einem „Zweck des Daseins“ (78, S. 323), so ist 
es unzulässig, auch nur mit der „Möglichkeit“ zu antworten, „daß 
die allgemeinen Erwägungen uns zu der Annahme berechtigen, es 
gebe überhaupt einen Zweck des Lebens“, es sei denn, daß wir ge¬ 
willt seien, einen Organismus außerhalb der Welt vorauszusetzen, der 
mit dieser einen Zweck verfolge. Der Zweckbegriff setzt 
ein Objekt voraus, das von einem Subjekt eben 
in der Weise wie es der Begriff zweckhaft aus¬ 
sagt, benutzt wird. Gegen diese Voraussetzung vergeht sich 
auch die Charakterisierung als „Selbstzweck“, die völlig inhaltslos 
ist und eben nur durch die Benutzung des Wortes „Zweck“, das hier 
aber den Begriff nicht mehr deckt, bei oberflächlicher Betrachtung 
als etwas aussagend imponieren kann. 

So hat ein Zahn etwa den Zweck des Beißens, aber nur für seinen 
Träger, für sich selbst, den Zahn, hat er keinen'Zweck. 

Avenarius stellt einmal bei Besprechung des Welträtsels 
(16, Bd. II, S. 510) zwei Typen einander gegenüber. „Dem einen 
hat mit der Beantwortung aller das Weltproblem ausmachenden Fra¬ 
gen die Welt nunmehr alles Problematische verloren, während der 
andere entgegnet: das alles berührt meine höchsten oder tiefsten, 
meine ersten oder letzten Fragen gar nicht. Mit einem Worte, die 
ganze naturwissenschaftliche Erkenntnis der Weltbeschaffenheit läßt 
mich noch immer gerade die Hauptsache zur Gewinnung eines wahr^ 
haften Welterkennens vermissen.“ Bei einer derartigen Fragestellung 
handelt es sich nicht mehr um eine Erkenntnis im wissenschaftlichen 
Sinne des Begriffs, und im Sinne eines planmäßigen Fortschreitens 
wissenschaftlicher Forschung ist zu hoffen, daß die Anpassung an den 
ereteren Typ eine zunehmend allgemeinere werden möge. Jedenfalls 
liegt der Versuch außerhalb der Leistungsfähigkeit der begrifflichen 
Mittel, hier das Stillschweigen der Tatsachen zu ersetzen. 

Diese Erkenntnis wird gern verdrängt, auch sonst ist der Ab¬ 
schluß gegenüber elementaren Tatsachen der Naturwissenschaft un¬ 
verkennbar, man will gar nicht realisieren, daß das Leben — physi¬ 
kalisch gesprochen — ein hochgradig unfreies System ist, daß die 
Potentialdifferenz eines Organismus gegenüber seiner Umgebung so 
steil ist, daß Form und Funktion im Dienste der ausschließlichen 



46 


Erhaltungsgemäßbeit stehen müssen, daß auch bei den Funktionen, 
die wir die Psyche nennen, nicht einfach eine bereichernde Addition 
von Fähigkeiten und Eigenschaften erfolgen kann, daß auch hier 
altes abgeworfen und neues gebildet wird in genau so strenger Ab¬ 
hängigkeit vom Gesetz der ausschließlichen Erhaltungsgemäßheit, 
wie etwa bei den ins Meer steigenden, zu Walen werdenden Säugern, 
bei den eine hochdifferenzierte Struktur verlierenden Schmarotzern 
usw. An alles dies ist man affektiv im allgemeinen hier zweifellos 
minder gut angepaßt, man atmet mit Bangen die dünne Luft, die von 
der Gegenseite herüber weht. Aus diesem Zusammenhänge ist auch 
die oft maßlos scharfe Abwehr zu verstehen, den die Propagierung 
naturwissenschaftlicher Denkweise gefunden hat, man erinnere sich 
etwa der „brennenden Scham“ Paulsens, der „Scham über den 
Stand der allgemeinen Bildungund der philosophischen Bildung unseres 
Volkes“, angesichts der H a e c k e 1 sehen Welträtsel, eines Buches, 
über dessen offenkundigen Mängeln man nicht seine ungeheuren Ver¬ 
dienste um die Verbreitung des Entwicklungsgedankens vergessen 
darf, einer Erkenntnis, der keine Philosophie etwas auch nur an¬ 
nähernd Gleichwertiges entgegen zu stellen vermag. „Den eigenen 
Erfolg kann man ungefähr an der steigenden Unhöflichkeit der Rück¬ 
äußerung beurteilen“, — diese Abwehr ist die einer Gruppe, die die 
eigene liebgewordene Geisteswelt dem Andringen einer übermächti¬ 
gen anderen Betrachtungsweise erliegen sieht. 

Noch sehr viel ließe sich über die Differenzen beider Einstellun¬ 
gen sagen, das hier nur gestreift werden kann, wie die ausschlie߬ 
liche Einstellung der Philologie auf die rein formale Seite der Ver¬ 
ständigung, die Wortsymbole, die an die eines Liebhabers, eines 
Sammlers erinnert, die rein formal-historische Einstellung der Rechts¬ 
wissenschaft usw. Im allgemeinen sind die Vorstöße von natur¬ 
wissenschaftlicher Seite mit radikalem Programm ziemlich selten 
gewesen, man hat sich zu sehr durch die behauptete begriffliche 
Selbständigkeit der Gegenseite imponieren lassen und zu wenig den 
Entwicklungsgang der ganzen Wissenschaft selbst im Auge gehabt. 
Selbst an die Philosophie, die, wie zu zeigen versucht, keine Möglich¬ 
keit einer eigenen Fragestellung hat, hat man sich nicht herangewagt, 
das zeigen am besten die erkenntnistheoretischen Einleitungen und 
teilweise auch die Begriffsdimensionierungen und Fragestellungen in 
unseren Lehrbüchern der Psychopathologie. Einige kräftige Worte 
hat Bleuler gegen die Philosophie gerichtet (32, S. 107): „Wenn 
man unter Wissenschaft das verstehen will . . ., so ist sie, soweit sie 
Wissenschaft ist, nicht Philosophie, und soweit sie Philosophie ist 



47 


nicht Wissenschaft, sondern ein logisches (?, Ref.) Spiel zur Befrie¬ 
digung autistischer Bedürfnisse.“ Andererseits gibt es auch Außen¬ 
seiter, die ernsthaft bei der Neuregelung des ärztlichen Studienganges 
vier Stunden Philosophie gegenüber drei Stunden Zoologie verlangt 
haben, diesen Respekt vor der Philosophie ein wenig zu erschüttern, 
war ein Ziel dieser Ausführung. 

Die erfrischendsten Worte der Kritik hat der stärkste Systema¬ 
tiker, den die Naturwissenschaft besitzt, Wilhelm Ostwald, 
gefunden, mit seiner Verachtung der „Papierwissenschaft“, seiner 
Kritik der scholastischen Einstellung der Geschichtswissenschaften, 
wie der Sprachwissenschaften, des Schulmeistersinns der letzteren 
gegenüber den praktischen Problemen, des fortschritthemmenden 
Heilighaltens der Sprache, ihrer nutzlosen Kleinarbeit, Äußerungen, 
die man an Ort und Stelle (9, 10, 82, 83, 86) nachlesen möge. 

Man darf eine derartige Stellungnahme, die der Methode und 
nicht dem letzten Inhalt gilt, nicht dahin mißverstehen, als würde 
die Bedeutung dieser Wissenschaftsgruppe verkannt, voll entwickelt 
zur Gesellschaftswissenschaft ist diese Gruppe die Krönung des 
Stufenbaues der Wissenschaften. Die Beackerung dieses letzten jung¬ 
fräulichen Bodens der Wissenschaft nach naturwissenschaftlicher 
Methode könnte in den ersten Anfängen heute schon begonnen wer¬ 
den. Freilich sind vorher noch mächtige Widerstände zu brechen, 
sehen wir doch sogar in der Medizin noch Reste ihres Kampfes zwi¬ 
schen verstaubter Tradition und neuem naturwissenschaftlichen 
Geiste. Die Blüte der Saat und ihre Ernte ist aber erst spät zu er¬ 
warten, ist doch das begonnene Jahrhundert, wie wir das Tempo 
der Entwicklung heute einschätzen, kaum sehr viel mehr als erst das 
Jahrhundert einer der Unterstufen der Gesellschaftswissenschaften, 
das „Jahrhundert der Psychologie“. 


Zusammenfassung. 

Die Stellungnahme konnte bei der Weite der Gebiete, die be¬ 
rührt werden mußten, zur Wahrung der nun einmal für geboten er¬ 
achteten Kürze im Eingang und Schluß vielfach nur formelhaft er¬ 
folgen. Hierin liegt ein und in der Verschwommenheit der fraglichen 
zentralen Probleme und Begriffe, deren Dimensionen jeweils nur aus 
dem Gebrauche deutlich werden, ein zweiter Grund dafür, daß eine 
Zusammenfassung nicht mehr geben kann, als eine ganz grobe Orien 
tierung über die Einstellung des Autors, doch sei sie versucht. 



48 


Der Schwerpunkt dessen, was gesagt werden soll, ist darin zu 
sehen, daß daran erinnert wird, daß die psychologischen Begriffe, wie 
wir sie in der Umgangssprache ohne Spekulation gebrauchen, gar 
nicht auf das eine „unbeschreibbar andere“ gehen, das man in der 
Erkenntnistheorie dadurch näher zu bezeichnen versucht, daß man es 
die „innere Seite“ dessen nennt, was von „außen“ gesehen Him- 
geschehen ist, sondern daß dipse Begriffe, wie es für die Größen 
Psyche — Bewußtsein, Empfindung — Ich ausgeführt wurde, ihre 
wohldefinierbare soziobiologische Dimension haben. Physiologie und 
Psychologie unterscheiden sich nicht durch das „Innen“ und „Außen“ 
ihrer Betrachtungsweise, sondern dadurch, daß sie konsekutive, hin¬ 
tereinanderliegende Fragestellungen haben, dadurch, daß die eine 
physiko-chemisch, die andere biologisch-gesellschaftswissenschaftlich 
betrachtet. Dabei bleibt die Fragestellung und Begriffsbildung der 
Psychologie streng der der Physiologie trotz aller großen temporären 
Selbständigkeit subordiniert. 

Alle Begriffe bilden, was ihr erklärtes Hervorgehen aus einander 
anlangt, einen von unten nach oben sich immer weiter verzweigenden 
Stammbaum (mit dem stärksten Wachstum an den Zweigspitzen), wie 
er mit groben Strichen in dem Comte-Ostwaldsehen Stufen¬ 
schema der Wissenschaften charakterisiert ist, in dem sich Arbeits-, 
Lebens- und Gesellschaftswissenschaften übereinander schichten. Die 
Psychologie hat als Grenzwissenschaft zwischen Lebens- und Gesell¬ 
schaftswissenschaften zwei große Wurzeln ihrer Fragestellung, eine 
physiologische und eine soziologische. In der Stufenhöhe ist der Um¬ 
fang der erforderlichen Vorbildung, der Kompliziertheitsgrad und 
der Reifezustand der einzelnen Wissenschaft ausgedrückt, den wir 
ausnahmslos an dem Grade messen, in dem die Kenntnis der die 
Objekte beherrschenden Gesetzmäßigkeiten vorgeschritten ist. 

Die Philosophie hat in dem fraglichen Stammbaum der Wissen¬ 
schaften kein Feld, ihre einstigen realen Inhalte sind heute längst an 
die Einzel Wissenschaften abgegeben, eine gesonderte Fragestellung 
besitzt sie überhaupt nicht, sie lebt nur von der begriffslosen Ver¬ 
wendung der Wortsymbole echter Begriffe der Einzelwissenschaften, 
so die Erkenntnistheorie vom Mißbrauch der Wortsymbole der sozio- 
biologisch dimensionierten psychologischen Grundbegriffe, und erhält 
dadurch ihren Schein von Verständlichkeit. 

Es ist somit Ernst zu machen mit der restlosen Entfernung aller 
erkenntnistheoretischen sog. Begriffe (Augenblicksbildsr charakteri¬ 
stischer begriffsloser Anwendung gibt eine Reihe wörtlicher Anfüh¬ 
rungen) wie auch aller erkenntnistheoretischen, überhaupt aller phi- 



49 


losophisehen Fragestellungen, die als solche den Anspruch auf Selb¬ 
ständigkeit außerhalb einer Einzel Wissenschaft erheben; hier vergeht 
sich die Fragestellung ganz gewöhnlich gegen die Voraussetzungen, 
die in dem fragenden Begriffe schon gegeben sind, daher bleibt jede 
Lösung ebenso inhaltslos wie die Frage selbst. 

In der Differenz Naturwissenschaft—Geisteswissenschaft haben 
wir nicht zwei in der Natur ihres Objektes grundsätzlich geschiedene 
Gruppen zu sehen, sondern zwei verschiedene Behandlungsweisen, 
von der die eine die Vorstufe der anderen ist und die sich durch die 
mehr oder minder strenge Fragestellung aus dem systematischen 
Aufbau der Wissenschaften heraus, durch das mehr oder minder um¬ 
fangreiche Hineinspielen affektiver Bedürfnisse, durch die mehr oder 
minder strenge Bezugnahme auf den Unterbau und allgemein durch 
die Größe des Wirkungsfeldes unterscheiden, das der persönlichen 
Eigenart des Forschers offensteht. 

In der Fragestellung ist die vorstehende Ausführung dem Ge¬ 
dankenkreise der 0 s t w a 1 d sehen Wissenschaftslehre entnommen, 
der Lösung wurde die Bleuler sehe Auffassung der Grundbegriffe 
der Psychologie zugrunde gelegt. Dabei wurde noch weitgehender 
als bei beiden und bei Petzoldt jede selbständige philosophische 
Fragestellung aufgehoben. Dies Verbundensein allen drei Genannten 
gegenüber hervorzuheben schien darum nötig, weil bei dem Versuch, 
gerade hier zur Klarheit zu kommen, das Trennende in erster Linie, 
Petzoldt gegenüber sogar fast ausschließlich, hervortreten 
mußte. 

Die Literaturzusammenstellung soll nur als Beleg der angeführ¬ 
ten Anschauungen dienen, jedoch ist eingangs eine Anzahl der ent¬ 
weder grundlegenden oder ergänzenden oder in den zugrunde liegen¬ 
den Anschauungen verwandten Arbeiten — ohne dabei irgendwelche 
Ansprüche zu erheben — vorangestellt, die Fernerstehenden einen 
raschen Überblick über den Fragekreis von verwandtem Standpunkte 
aus gestatten. 


Literatur. 

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psychologischen Grundbegriffe. Allgem. Zeitschr. f. Psych. Bd. 50. 1894. — 
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Bd. I: Über das Verhältnis der Naturwissenschaften zur Gesamtheit d. Wissen¬ 
schaft — Über Ziel und Fortschritte der Naturwissenschaft — Bd. II: Das 

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50 


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Bd. 19. Jena 1920. — 9. Wilhelm Ostwald, Grundriß der Naturphiloso¬ 
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1900. — 23. Derselbe, Allgem. Anatomie u. Physiologie d. Nervensystems. 
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30. Derselbe, Diagnostische Assoziationsstudien v. Bewußtsein u. Assozia¬ 
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33. E. du Bois-Reymond, Uber die Grenzen d. Naturerkennens. Die 7 
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wörterbuch d. NatuTwissensch.“ Bd. 9. 1913. — 36. C. Detto, Die Theorie 
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logie in „Kultur d. Gegenwart“. Teil I. Abtlg. 4. Leipzig 1908. — 40. Der- 



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1908. — 45. V. F r a n z, Die Welt d. Lebens in Objekt, nicht anthropozentrisch. 
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philosopb. 3. Bd. 1904. — 79. Derselbe, Die Hoffnungslosigkeit aller 
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Biologie. Schweiz. Arch. f. Neurol. u. Psychiatr. IV. Bd. — 81. H. Mti n s ter¬ 
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4* 



Vorlesungen über Naturphilosoph. Leipzig 1902. — 88. Derselbe, Monist 
Sonntagspredigten. II. Leipzig. Akadem. Verlagsges. (42. Der Bau d. 
Wisßensch. 43. Naturgeschichte d. Begriffe. 44. Wissenschaft u. Technik.) — 
84. Derselbe, Die chem. Literatur u. d. Organisation d. Wissensch. Leip¬ 
zig 1919. Akadem. Verlagsges. — 85. Derselbe, Das System d. Wissensch. 
Annalen d. Naturphilosoph. VI.—VIII. Bd. Leipzig. — 86. Derselbe, Die 
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1900/04. — 91. Derselbe, Die, Notwendigkeit u. Allgemeinheit d. psycho¬ 
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Philos. 19. Jahrg. 1895. — 93. E. Pflüger, Die sensorischen Funktionen d. 
Rückenmarks d. Wirbeltiere. Berlin 1853. — 94. M. Planck, Die Einheit 
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ehardt, Theoretisches über d. Psyche. Journ. f. Psychol. u. Neurol. Bd. 24. 
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Zentralbl. f. Psychol. Bd. 88. (Zit als Beispiel einer tierpsychol. Arbeit mit 
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Berlin 1906. — 108. H. Vaihinger, Die Philosophie des als ob. 4. Aufl. 
Leipzig 1920. — 109. M. Verworn, Die biolog. Grundlagen d. Kulturpolitik. 
Jena 1915. G. Fischer. — 110. Derselbe, AlJg. Physiologie. 5. Aufl. Jena 
1909. — 111. Derselbe, Die Frage nach d. Grenzen d. Erkenntnis. 2. Aufl. 
Jena 1908. — 112. Derselbe, Kausale u. konditionale Weltanschauung. 
2. Aufl. Jena 1918. — 113. W. Wundt, System d. Philosophie. 4. Aufl. 
Bd. I u. II. Leipzig 1919. — 114. Derselbe, Grundzüge d. physiolog. 
Psychologie. 5. Aufl. Leipzig 1902/03. — 115. Derselbe, Ober die Ein¬ 
teilung d. Wissenschaften. Philosoph. Studien. Bd. V. 1889. — 116. Th. Zie¬ 
hen, Erkenntnistheorie auf psycho-physiolog. u. physikal. Grundlage. Jena 
1913. — 117. Derselbe, Leitfaden d. physiolog. Psychologie. 8. Aufl. Jena 
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schaften“. VII. Bd. 1912. — 119. Derselbe, Zum gegenwärtigen Stand der 
Erkenntnistheorie. Wiesbaden 1914. 



Anmerkung. Die tiefgehende Mißdeutung, der die im Vor¬ 
stehenden entwickelte Auffassung vom Wesen der Wissenschaft als 
einer in letzter Linie die Spezies im Daseinskampf mit belebten und 
unbelebten Mächten immer vollkommener stabilisierenden Funktion 
bei einem der Naturwissenschaft nahestehenden Philosophen wie 
Schlick unterliegt (M. Schlick: Allgemeine Erkenntnislehre. 
Berlin 1918), sei hier, da sie typisch für das Verkennen der Frage¬ 
stellung in weiten Kreisen ist, zum Anlaß genommen, um noch einmal 
erweiternd auszuführen, was mit der Aussage von der biologischen 
Bedeutung der Wissenschaft eigentlich besagt werden soll. 

Schlick führt aus (S. 791!.): 

„Dieser innige Zusammenhang zwischen Erkenntnis und prak¬ 
tischem Nutzen hat nun viele Denker zu der Meinung geführt, der 
Wert des Erkennens bestehe, jetzt wie einst, überhaupt bloß in die¬ 
sem Nutzen. Wissenschaft, sagen sie, diene allein der praktischen 
Voraussicht, der Herrschaft Uber die Natur; nur hierin finde sie 
ihren Sinn und Wert. Die Forderung, Erkenntnis um ihrer selbst 
willen zu suchen, ganz ohne Rücksicht auf ihre Anwendung im 
Leben, fließe aus mißverstandenem Idealismus und bedeute in 
Wahrheit eine Entwertung der Wissenschaft (z. B. 0 s t w a 1 d).... 
Diese Ansicht übersieht einige Punkte, die für das Verständnis der 
menschlichen Geistesentwicklung gerade die wichtigsten sind. So 
gewiß der Verstand anfänglich nur ein Instrument der Lebens¬ 
haltung war, so gewiß ist seine Tätigkeit heute nicht mehr bloß das, 
sondern selbst eine Quelle der Lust. Es ist ein allgemeiner, auch 
sonst wirksamer Naturprozeß, der diesen Wandel hervorbringt: der 
Prozeß der Umwandlung der Mittel in Zwecke. Tätigkeiten näm¬ 
lich, welche notwendige Mittel zur Erreichung bestimmter Zwecke 
bilden, deren Ausübung aber zunächst nicht unmittelbar mit Lust 
verknüpft ist, werden uns durch Gewöhnung allmählich so ge¬ 
läufig und vertraut, daß sie einen integrierenden Bestandteil des 
Lebens ausmachen: schließlich geben wir uns ihnen auch um ihrer 
selbst willen hin, ohne einen Zweck damit zu verbinden oder zu er¬ 
reichen; ihre Ausübung selbst bereitet uns Lust, sie sind aus Mitteln 
zu Zwecken geworden. Waren sie einst nur als Mittel wertvoll, so 
sind sie es jetzt an sich selber.... Erkenntnis, sofern sie Wissen¬ 
schaft ist, dient also nicht irgendwelchen anderen Lebensfunktio- 



nen. Sie ist nicht auf praktische Beherrschung der Natur gerich¬ 
tet, obwohl sie hinterher oft auch dazu nützlich sein mag, sondern 
sie ist eine selbständige Funktion, deren Ausübung uns unmittel¬ 
bar Freude bereitet, ein eigener, mit keinem anderen vergleichbarer 
Weg zur Lust. Und in dieser Lust, mit der der Erkenntnistrieb 
das Leben des Forschenden füllt, besteht ihr Wert.“ 

Die Tatsache, daß wissenschaftliche Tätigkeit für den Forscher 
lustbetont ist, wird gewiß niemand abstreiten wollen. Man kann 
gewiß sehr wohl sagen, daß der Einzelne die Wissenschaft um der 
unmittelbaren Befriedigung willen suche, die die Arbeit in ihr ge¬ 
währt. Aber Schlicks Argumentation wird dem, was hier gesagt 
werden soll, in der Fragestellung nicht gerecht. Was unter¬ 
sucht werden soll, sind hier garnicht die Motive des Forschens beim 
Einzelnen. Es soll vielmehr für die Handlung „reine 
Wissenschaft“ eine kurze Formel gefunden werden. 

Solange wir nicht mit physico-chemischen oder mit hirnphysiolo¬ 
gischen Formeln an die Formulierung der Handlung herantreten 
können, ist die einzig mögliche Formel für eine Handlung die teleolo¬ 
gische, die Benennung ihres (allermeist biologischen) Effektes. Diese 
Formel für die Komponente reine Wissenschaft — die einen Teil bil¬ 
det der großen komplexen Aktion Wissenschaft des praktischen Be¬ 
griffes, in welche, wie bereits ausgeführt wurde, noch sehr viel andere 
Momente bestimmend eingegangen sind —, diese Formel für die 
Aktion reine Wissenschaft ist die einzige überhaupt ernstlich etwas 
aussagende Formel geblieben, die bisher versucht worden ist. 

Über ihre Möglichkeit kann man — allenfalls — diskutieren, nur 
möge man sie in dem angreifen und durch vollkommeneres zu er¬ 
setzen suchen, was sie eigentlich besagen will. Die Handlung Wissen¬ 
schaft soll durch sie erklärend definiert werden, d. h. es sollen in 
gröbsten Umrissen Gesetzlichkeiten oder Regeln angedeutet werden, 
die für die Richtungnahme des wissenschaftlichen Interesses, wenn 
man das Objekt aus der nötigen Distanz betrachtet, für die Schal¬ 
tungskraft — Wichtigkeitsbeimessung — verschiedener Fragestellun¬ 
gen beim Einzelnen wie in der Allgemeinheit sowie möglicherweise 
auch für die Schaltungskraft der Aktion Wissenschaft (als Gesamtheit 
gefaßt) gegenüber anderen Aktionen etwa der Aktion Kunst usw. 
innerhalb des Staatsorganismus wirksam sind. 

Diese Definition beansprucht natürlich nicht, ein fertiges Schema 
zu sein, mit dem man alle berührten Probleme ohne weiteres lösen 
könne, dazu ist sie zu allgemein und dazu liegen die Dinge viel zu 
kompliziert, wohl aber will sie eine ganz grobe Regel geben und zum 



56 


Ausdruck bringen, daß man nur auf dem Wege der teleologischen 
Betrachtungsweise hoffen darf, hier überhaupt Gesetzlichkeiten auf¬ 
zustellen. Ordnen sich — selbstverständlich — auch nicht alle die 
große Handlung Wissenschaft zusammensetzenden zahllosen Einzel¬ 
funktionen beim Einzelnen wie bei der übergeordneten Persönlichkeit, 
der Gemeinschaft, eindeutig auf das angegebene Ziel, so können wir 
doch aus der behaupteten Gesetzlichkeit eine ganze Reihe von Aus¬ 
sagen, Rücksagen und Voraussagen ziehen, die, auch wo sie nur 
negativ gerichtet sind, uns immerhin schon etwas weiter helfen. 

Wer die Definition ablehnt, der behauptet damit theoretisch einen 
Bankerott der Voraussage, an den er selbst praktisch nicht glaubt. 
Wir haben eben alle einen leidlich klaren und festen Begriff von dem, 
was wir eigentlich unter Wissenschaft verstehen. Zur Verdeutlichung 
sei ein krasses Beispiel gebildet. Wenn sich beispielsweise alle 
Mineralogen und Geologen der Welt in der gegenwärtigen wie in allen 
folgenden Generationen ausschließlich darauf vereinten, Form, Ge¬ 
stalt und Lage aller unzähligen kleinen und kleinsten Kristalle zu 
einander, die ein beliebiges Granitmassiv, etwa das des Brockens, 
zusammensetzen, auf das genaueste zu beschreiben, eine Arbeit, die 
nur in unabsehbaren Zeiträumen zu Ende geführt werden könnte, so 
würde wohl übereinstimmend ein solches Unternehmen als eine Ver¬ 
irrung bezeichnet werden. Ja, noch mehr, wir werden es als außer¬ 
ordentlich unwahrscheinlich ansehen, daß ein ähnlicher Fall über¬ 
haupt je einträte, wir behaupten also das Walten von bestimmten 
Gesetzlichkeiten und die Möglichkeit eines Maßstabes. Für beides 
eine Formel in ganz grober Annäherung zu geben, ist der Sinn der 
Definition der Wissenschaft als einer in letzter Linie praktischen 
Größe. 

Treten wir so weit zurück wie in der gegenwärtigen Betrach¬ 
tung und überhaupt in dieser ganzen Darstellung, dann wirkt die 
Betonung des Umstandes, daß die Wissenschaft von Mittel zum Zweck 
geworden sei (um uns der Ausdrucksweise Schlicks zu bedienen) 
eher verwirrend als weiterführend, denn sie berührt nur den Punkt, 
wie sich mit der zunehmenden Zusammenschweißung der Individuen 
zum Staatsorganismus bei der Einzelpersönlichkeit Motivierung und 
Zielbewußtsein der Handlung Wissenschaft verschoben haben. Dies 
sollte hier garnicht zur Diskussion gestellt werden, für das, was 
hier gesagt werden soll, ist es — wie bereits oben betont — natürlich 
völlig gleichgültig, ob der zur Formulierung benutzte Zweck dem Ein¬ 
zelnen in so deutlicher Form, daß er formulierbar sei, bewußt vor¬ 
schwebe, wenn er sich nur aus der Arbeit abstrahieren läßt. 



56 


überhaupt lftfit sich doch vielleicht in höherem Grade, als man 
bisher in der Regel und als S c h 1 i c k in den z. T. angeführten Zeilen 
zu meinen scheint, bei Handlungen der verschiedensten Art sowohl 
des Einzelnen wie des Staatsörganismus das Prinzip der Erhaltungs- 
gemäöheit als — allerdings mit besonderem Verständnis zu ver¬ 
stehende — Voraussage leistende Gesetzlichkeit zur Anwendung 
bringen. 

Die im Vorstehenden behandelten Fragen der Wissenschaftslehre, 
des Begriffsaufbaues usw., in deren Zusammenhang das zentrale Pro¬ 
blem, die soziobiologische Dimension der psychologischen Grund¬ 
begriffe, behandelt wurde, wären als soziologische bzw. als sozial¬ 
psychologische Probleme zu bezeichnen. Die Sozialpsychologie ist 
aufzufassen als Oberstufe der allgemeinen Biologie, wie zu zeigen 
versucht wurde. Und so wendet sich diese Arbeit neben den Kreisen, 
an die sie sich nach dem Orte ihres Erscheinens richtet, auch an den 
vorerst leiderkleinen Teil derjenigen, die von der organischen Natur¬ 
wissenschaft aus den Weg zu diesen Fragen gefunden haben, ln 
diesen Kreisen hofft sie homophon zu klingen und die fttr ein Ver¬ 
stehen nun einmal erforderlichen präformierten Gedankengänge 
anzutreffen. 




ABHANDLUNGEN AUS DER NEUROLOGIE, 
PSYCHIATRIE, PSYCHOLOGIE UND IHREN 
GRENZGEBIETEN 

BEIHEFTE ZUR MONATSSCHRIFT FÜR PSYCHIATRIE UND NEUROLOGIE 
HERAUSGEGEBEN VON K. BONHOEFFER 

HEFT 24 


(Aus der psychiatrischen und Nervenklinik der Universität Berlin 
[Direktor: Geh.-Rat Professor Dr. Bonhoeffer].) 

Zur Klinik der nichtparalytischen 
Lues-Psychosen 

Von 

* 

Dr. H. Fabriiius 

Dozent, Chefarzt in Helsingfors. 


BERLIN 1924 

VERLAG VON S. KARGER 

KARLSTRASSE 15. 









Medizinischer Verlag von S. Karger in Berlin NW. 6. 


In den 

Abhandlungen aus der Neurologie, Psychiatrie, 
Psychologie und ihren Grenzgebieten 

Beihefte z. Monatsschrift für Psychiatrie u. Neurologie, sind bisher erschienen: 
Heft 1: Typhus uud Nervensystem. Von Prof. Dr. Georg Stertz in 
Breslau. (Vergriffen.) 

Heft 2: lieber die Bedeutung von Erblichkeit und Vorgeschichte für das 
klinische Bild der progressiven Paralyse. Von Dr. J. Pernet in 
Zürich. (Vergriffen.)^ 

Heft 3: kindersprache und Aphasie. Gedanken zur Aphasielehre auf 
Grund von Beobachtungen der kindlichen Sprachentwickelung und 
ihrer Anomalie. Von Priv.-Doz Dr. Emil Fröschels in Wien. Mk.5.50 
Heft 4: Epilepsie uud Demeutia praeeox. Von Prof. Dr. W. Vorkastner 
in Greifswald. Mk. 5.— 

Heft 5: Forensisch-psychiatrische Erfahrungen im Kriege. Von Priv.-Doz. 

Dr. W. Schmidt in Heidelberg. Mk. 8.— 

Heft 6: Verbindung endogener und exogener Faktoren in dem Symptomen¬ 
bilde und der Pathogenese von Psychosen. Von Priv.-Doz. Dr. Hans 
Seelert in Berlin. Mk 4.-~ 

Heft 7: Zur Klinik und Anatomie der reinen Worttaubheit, der lleilungs- 
aphasle und der Tontaubheit. Von Priv.-Doz. Dr. Otto Pötzl in 
Wien. Mit zwei Tafeln. Mk. 6.— 

Heft 8: Die Spielbreite der Symptome beim manisch-depressiven Irresein. 

Von Prof. Dr. P. Schröder in Greifswald. Mk 3.— 

Heft 9: Die symptomatischen Psychosen und Ihre Diiferentinldiagnose. 

Von Priv.-Doz. Dr. Hans Krisch in Greifswald. Mk. 2 25 

Heft 10; Die Abdcrlmldeiische Reaktion mit bes. Berücksichtigung ihrer Er¬ 
gebnisse i.d. Psychiatrie. Von Priv.-Doz. Dr.G. Ewa Id in Erlangen. Mk.9.— 
Heft 11: Der extrapyramidale symptomeiik<*niplex (das dy«tonisChe Syn¬ 
drom) uud seine Bedeutung in der Neurologie. Von Prof Dr. G. 
Stertz in München. (Vergriffen.) 

Heft 12: Der anelltische Symptomenkomplex. Eine Studie zur Psychopatho¬ 
logie d. Handlung. Von Priv.-Doz. Dr. O. Albrecht in Wien. Mk 4.- - 
Heft 13: Die neurologische Forsehuugkriclttuiig lu der Psychopathologie 
und andere Aufsätze. Von Prof. Dr. A. Pick in Prag. Mk. 8.— 
Heft 14: lieber die Enterbung der Neurisclieii Körperchen Von Prof. Dr. 

L. Benedek u. Dr. F.O. Porsche in Kolozsvar. Mit lOTafeln. Mk 15 — 
Heft 15: lieber die lledeutuug uud Eutstekuiig der Stereotypien. Von Priv.- 
Doz. Dr. Jakob Kläsi in Zürich. Mk. 3.— 

Heft 16: lieber Psychoaualyse. Von Dozent Dr. R. Allere in Wien. Mk. 3.60 
Heft 17: Die Zergliederung des psychischen Krauklieitshildcs bei Artcrio- 
sklerosis-cerebri. Von Nervenarzt Dr. S. J. R. de Monchy in 
Rotterdam. Mk. 3 — 

Heft 18: Epilepsie u. manisch-depressives Irresein. Von Dr. Hans Krisch 
in Greifswald. Mk. 3 — 

Heft 19: lieber die paranoiden Reaktionen in der Haft. Von Dr. W. För- 

sterling in Landsberg a d. W. Mk. 3 60 

Heft 20: Demeiitia praecox, intermediUre psychische Schiebt und Kleinhirn- 
Ba8alganglieu-Stirnhirnsystcme. Von Priv.-Doz. Dr. MaxLoewy 
in Prag-Marienbad. Mk. 4 20 

Heft 21: Metaphysik uud Schizophrenie. Eine vergleichende psychologische 
Studie. Von Dr. G. Bychowski in Warschau. Mk. 5.— 

Heft 22: Der Selbstmord. Von Priv.-Doz. Dr. R. Weichbrodt in Frank¬ 
furt a. M. Mk 1.60 

Heft 23: Leber die Stellung der Psychologie im Stammbaum der Wissen¬ 

schaften und die Dimeusion ihrer Grundbegriffe» Von Dr. Heinz 
Ahlenstiel in Berlin. Mk. 180 

Heft 24: Zur Klinik der lilclitparalytisehen Lues-Psychosen. Von Dozent 
Dr. H. Fahritius in Helsingfors. Mk. 4.— 

Die Abonnenten der „Monatsschrift für Psychiatrie und Neurologie* 
e« halten diese Abhandlungen zu einem ermäßigten Preise. 

Obige Preise sind Goldpreise, eine Gold mark gleich 10 ; 42 Dollar. 








ABHANDLUNGEN AUS DER NEUROLOGIE, 
PSYCHIATRIE, PSYCHOLOGIE UND IHREN 
GRENZGEBIETEN 

BEIHEFTE ZUR MONATSSCHRIFT FÜR PSYCHIATRIE UND NEUROLOGIE 
HERAUSGEGEBEN VON K. BONHOEFFER 

HEFT 24 


(Aus der psychiatrischen und Nervenklinik der Universität Berlin 
[Direktor: Gelu-Rai Professor Dr. Bonhoeffer].) 

Zar Klinik dernichtparalytiscüen 
Lues-Psychosen 


Von 

Dr. H. Fabritius 

Dozent, Chefarzt in Helsingfors. 



BERLIN 1924 

VERLAG VON S. KARGER 

KARLSTRASSS 15- 













Als Plaut im Jahre 1913 seine Monographie über Halluzinose 
der Syphilitiker schrieb, scheint er mit einer gewissen optimistischen 
Schaffensfreude an die Sache gegangen zu sein. „Unsere neuen 
diagnostischen Hilfsmittel,“ schreibt er, „setzen uns nunmehr in den 
Stand, annähernd in jedem Falle, unabhängig von den psychischen 
Befunden, festzustellen, ob eine Syphilis vorliegt.“ Und gegenüber 
der Skepsis einiger von ihm zitierter Forscher, die in ihren Fällen 
nicht mit einer .einfachen Lueswirkung, sondern mit verwickelteren 
kombinierten exo- und endogenen Momenten rechnen wollen, äußert 
er sich: „Dieses Bedürfnis, nach komplizierten Erklärungsmöglich¬ 
keiten zu suchen, die ja wohl in einzelnen Fällen auch einmal zu¬ 
treffen mögen, ist gerade bei der Himsyphilis befremdlich. Warum 
soll die Tätigkeit der Spirochaeten im Gehirn mit ihren zahlreichen 
Folgezuständen nicht in vielen Fällen allein eine Psychose bewirken 
können? Daß die Reaktionsweise des Individuums auch hier eine 
große Rolle spielt, bleibt unbestritten. Warum soll sie aber eine so 
besonders große Rolle spielen, eine größere, wie etwa bei Intoxika¬ 
tionspsychosen mit chemischen Giften? Dies scheint mir ein Vorurteil 
zu sein, das für den Fortschritt der Erkenntnis hinderlich ist.“ 

Nun sind 10 Jahre seit der Veröffentlichung der Arbeit Plauts 
verstrichen. Ob wir aber dem Ziele in der von ihm erhofften Rich¬ 
tung näher gekommen sind, erscheint mir auf Grund der allerdings 
leider recht spärlichen diesbezüglichen Literatur der letzten Jahre 
zweifelhaft. Wenn man z. B. die Arbeit des Dänen Wimmer vom 
Jahre 1918 liest, die — wie Plaut in einem Referat derselben zu¬ 
gibt — eine wertvolle Bereicherung unseres Wissens auf diesem 
Gebiet darstellt, wird man im Gegenteil von einem gewissen Pessi¬ 
mismus ergriffen. Wimmer will das Vorhandensein spezifischer 
Luespsychosen zwar nicht ganz in Abrede stellen, das Meiste aber, 
was er unter seinem großen Material gesehen, will er als „typische 
oder atypische“ Paralysen auffassen. Auch der Holländer B o u m a n 
drückt sich ähnlich in sehr vorsichtiger und kritischer Weise aus. 

Zu diesen kommen noch einige andere Umstände, die unsere 
Gesichtspunkte in der Psychiatrie in den letzten Jahren stark ver¬ 
schoben haben und die m. E. Bedenken gegen eine Fragestellung 
ähnlich wie PI au t’ s aufkommen lassen. 

Man muß wohl zugeben, daß die Regungen und Strebungen, die 
in den ersten 10—15 Jahren dieses Jahrhunderts die Psychiatrie 
beherrschten, wenigstens vorläufig gescheitert sind. Unter Krae- 

l* 



4 


pelins Führung jagte man nach Krankheitseinheiten, hoffte zu 
jedem exogenen Reiz ein anatomisches Substrat und ein klinisches 
Bild zu finden, und es schien schon, als ob Kraepelin durch die 
Schaffung der beiden großen Gruppen der manisch-depressiven und 
der Dementia-praecox-Kranken in das Chaos der vielen Symptomen- 
bilder Ordnung geschaffen hätte. Aber gleichzeitig erleben wir das 
eigenartige Schauspiel, daß er und zahlreiche andere Forscher am 
Niederreißen des mühevoll errichteten Baues tätig sind. Immer neue 
Gruppen, Untergruppen und Übergangsformen müssen aufgestellt 
werden, man hat, wie Körthe „mit Schrecken“ feststellt, nicht 
nur Begriffe wie Dementia praecox, manisch-depressives Irresein 
und degenerative Seelenstörung, sondern auch Dementia praecox 
im weiteren Sinne, manisch-depressives Irresein im weiteren Sinne 
und degenerative Seelenstörung im weiteren Sinne. Und außer 
dieser „Diagnose im weiteren Sinne“ haben wir Bezeichnungen wie 
„wirkliche“ oder „echte“ Paranoia“, oder echte Dementia praecox 
usw. Wie weit kann die Grenze ausgedehnt werden, fragt er schlie߬ 
lich, und diese Äußerung erinnert an Hoch es bekannte „Be¬ 
fürchtung“ auf der 40. Jahresversammlung der südwestdeutschen 
Irrenärzte 1909, daß die Gruppen, um wirklich nur Identisches zu 
umschließen, schließlich so klein werden würden, daß sie überhaupt 
nur einen Fall enthalten. 

Eine starke Erschütterung dieser Anschauungen rief sodann 
vor allem die Lehre Bonhoeffers von den exogenen Reaktions¬ 
typen hervor. Bekanntlich will er festgestellt haben, daß bei einer 
gewissen Intensität und Dauer der einwirkenden Schädigung, „un¬ 
abhängig von derArt derNoxe“ (zu der auch die Traumen 
gehören), gemeinsame „psychopathologische Mechanismen“ ausgelöst 
werden, und zwar sollen hierbei vor allem Bilder von delirantem, 
epileptoidem und dämmerzustandsartigen Charakter, Halluzinosen, 
Amentiabilder und Korsakoffsehe Symptomenkomplexe ent; 
stehen. Diese Feststellungen sind wohl den Hauptzügen nach als 
richtig anerkannt worden, und man kann nur Erwin Popper 
zustimmen, wenn er sagt: „Trotzdem hier eine letzte Übereinstimmung 
noch nicht geschaffen werden konnte, vermögen die neuen Fest¬ 
stellungen und Streitpunkte jedoch nicht mehr der Bonhoeffer 
sehen Lehre den Boden zu entziehen.“ 

Über die Deutung und Ursache dieser Erscheinungen hat, 
soviel ich gesehen, Bonhoeffer keine theoretischen Spekulationen 
gemacht. Er spricht nur — wie bereits oben gesagt — von ge- 



5 


wissen „psychopathologischen Mechanismen“, die zur Auslösung ge¬ 
langen Bollen. Dieser Ausdruck wirft aber — scheint mir — ein 
gewisses Streiflicht auf das Problem. 

Durchmustem wir die von Bonhoeffer geschilderten Reak¬ 
tionstypen, so finden wir in den deliranten, epileptoiden usw. Bildern 
als gemeinsamen Zug eine Störung oder Trübung des Bewußtseins 
oder richtiger der synthetischen, kohärenten Kräfte des Seelen¬ 
lebens. Das mehr oder weniger feste Gefüge des normalen Seelen¬ 
lebens zerfällt, anstatt Kohärenz tritt Inkohärenz ein, die Fähigkeit 
der Aufmerksamkeit leidet, eine Teil- oder Obervorstellung kann 
nicht genügend festgehalten werden oder das Einprägungsvermögen 
neuer Eindrücke und ihre Einordnung in den früheren Wissens¬ 
bestand versagt, also — wie auch Kraepelin zeigt — Störungen 
der Auffassung, Sinnestäuschungen, Bewußtseinstrübung, Merk¬ 
schwäche, Unklarheit, abenteuerliche Wahnbildungen. Gewisse für 
das normale seelische Geschehen notwendige Fähigkeiten leiden also 
und die Bonhoeffer sehen Erfahrungen besagen nur, daß diese 
empfindlicher, vulnerabler anderen exogenen Schädlichkeiten gegen¬ 
über sind. 

Hier, finde ich, liegt das Neue und Eigenartige der B o n h o e f - 
fersehen Lehre, und es scheint mir deshalb, daß eine Kritik der¬ 
selben, wie die Spechts, nicht das Richtige trifft. Dieser Autor 
will geltend machen, daß auch manische und melancholische Zu¬ 
standsbilder durch exogene Reize ausgelöst werden könnten, und 
wenn er sie der „langen Liste“ Bonhoeffers hinzufügt, würde 
diese fast alle psychiatrischen Symptomenbilder umfassen. Bei den 
Bonhoeffer sehen Bildern aber handelt es sich um gewisse vulne¬ 
rable Gehirnmechanismen und dadurch hervorgerufene wesensver¬ 
wandte Symptomenbilder, bei den manischen und depressiven Bil¬ 
dern dagegen um ganz andersartige klinische Erscheinungsformen. 

Aus demselben Grunde repräsentieren auch die exogenen Reak¬ 
tionstypen Jelgersmas in Holland etwas ganz anderes als die 
Bonhoeffer sehen. Als Folgen exogener Reize sollen nach J e 1 - 
gersma drei „primäre Symptome“ entstehen, und zwar: 

1. Affektstörungen manischer und depressiver Färbung, die 
der Ausdruck einer „Erhöhung der Stoffwechselvorgänge 
im Gehirn“ sein sollen, 

2. Verwirrtheit und 

3. Demenz. 



6 


Unter sich stellen diese Typen offenbar etwas Verschieden¬ 
artiges dar und bilden nicht dieselbe geschlossene Einheit, wie die 
exogenen Reaktionstypen Bonhoeffers. Hier werden Folge¬ 
zustände exogener Einwirkungen mit Reaktionsweisen zusammen¬ 
geführt, was nur zu einer Verwischung der Begriffe führen kann. 

Kehren wir aber nach diesen Betrachtungen zur Frage der 
Luespsychosen zurück, so fordert uns das soeben Gesagte zum Suchen 
eventueller exogener Reaktionstypen auch bei der Lues auf. Ver¬ 
hält sich die Lues in dieser Hinsicht anders wie andere Infektions¬ 
krankheiten? Sind die Halluzinosen der Syphilitiker, denen Plaut 
seine Monographie widmete, nicht als exogene Reaktionstypen auf¬ 
zufassen? Und sind die anderen Reaktionstypen Bonhoeffers 
unter den Luespsychosen vertreten? 

Sodann müssen wir einige andere Gesichtspunkte berücksich¬ 
tigen, die besonders in den letzten Jahren eine so große Rolle 
spielen. Ich meine die heutigen endogenen Reaktionsformen, die 
jetzt fast die früheren Krankheitseinheiten verdrängt haben. Ge¬ 
rade die bereits zitierte Arbeit Wimmers zeigt, daß zur Auffassung 
einer Psychose keineswegs die Feststellung positiver Luesreaktionen 
in Blut und Liquor genügen, sondern daß wir auch auf andere, vor 
allem endogene Momente Rücksicht nehmen müssen. 

Die Auffassung der Psychosen als endogene Reaktionsweisen 
hat bei niemand eine so scharfe Prägung erhalten, wie bei dem 
Schweden Gadelius in seinem großen Werke „Det menskliga 
själslivet“ (das menschliche Seelenleben). Anstatt Psychosen will er 
Reaktionsweisen und Verbindungen derselben stellen, und zwar kennt 
er eine manisch-depressive, eine schizophrene, eine paranoische oder 
egozentrische und eine epileptische Reaktionsform. Sogar die Ver¬ 
wirrtheit stellt er als eine endogene Reaktionsform dar, die im 
normalen Leben ihr Gegenstück in den Träumen haben soll. Die 
Gestalt und die Züge einer Psychose sollen nun vor allem durch die 
angeborenen Reaktionstendenzen bestimmt werden. 

Eine fast ähnliche Ansicht finden wir in einer Arbeit Kretsch¬ 
mers (Zeitschr. f. d. ges. Neur. und Ps. 48, S. 370), sowie in seiner 
bekannten Arbeit vom Körperbau und Charakter. Durch die Kon¬ 
stitution soll der seelische Habitus des Menschen bestimmt sein, und 
sie bestimmt auch «der Hauptsache nach seine Psychose, ja diese 
sollen, wie er sich an einer Stelle ausdrückt, nur „Schwankungen 
und Katastrophen“ des normalen Zustandes sein, die wir aber mit 
Ausdrücken, wie „Depression, Katatonie, epileptischem Dämmer¬ 
zustand“ bezeichnen. „Im großen biologischen Rahmen beobachtet 



7 


aber sind die endogenen Psychosen nichts anderes als persönliche 
Zuspitzungen normaler Temperamentstypen“ (Körperbau und Cha¬ 
rakter, S. 93). 

Eine Reihe anderer Forscher sind sodann bezüglich einzelner 
Psychosen zu ähnlichen Resultaten gelangt. 

So schuf K1 e i s t als Grundlage seiner Involutionsparanoia die 
hypoparanoische Konstitution. Friedmann hat mit seinen „mil¬ 
den“, Gau pp mit seinen „abortiven“ Paranoiaformen die Bedeu¬ 
tung der Anlage für die paranoische Erkrankung hervorgehoben. 
Und neuerdings fügt Kretschmer seine „Sensitiven“ in den 
bereits beschriebenen paranoisch disponierenden Konstitutionstypen 
hinzu. 

Aber auch von einer spezifisch schizophrenen, in der individuellen 
Anlage versteckten Reaktionsweise hat man zu sprechen angefangen. 
So wollen Friedlaender und Erwin Popper in zahlreichen 
Fällen bei ihren Kriegsneurotikern typisch schizophrene Bilder ge¬ 
sehen haben, die keineswegs als latente Schizophrenie gedeutet wer¬ 
den können, sondern als Reaktionstypen, die auf der Basis einer 
psychopathischen, bzw. degenerativen schizoiden Reaktionsbereit¬ 
schaft entstanden sind. Kahn hat ihnen dann begeistert zuge¬ 
stimmt, nur sieht er die Sache vom Standpunkt des Erbbiologen aus 
an und wendet eine andere Terminologie an; anstatt vom schizoiden 
Charakter zu sprechen, redet er von einem krankhaften Genotypus, 
der durch verschiedene Momente aus der Latenz ins Leben wach¬ 
gerufen werden kann, sei es nun, daß es sich um psychogene Reize 
handelt, die eine schizophrenieähnliche psychopathische Erkrankung 
hervorrufen, oder um „Prozeßfaktoren“, die die Psychose der 
Schizophrenie erzeugen. 

Schließlich will ich noch an jene Strebungen erinnern, denen vor 
allem Bumke und Seelert Ausdruck gegeben haben. Ihnen zu¬ 
folge haben wir nicht nur mit endo- und exogenen Faktoren bei der 
Gestaltung des Symptomenbildes einer Psychose zu rechnen, sondern 
auch mit einer Verbindung derselben. Daß auch dies ein Gesichts¬ 
punkt ist, der unzweifelhaft als richtig anerkannt werden muß, 
muß wohl zugegeben werden. Man muß nach Kenntnisnahme des¬ 
selben fast erstaunen, daß die Kraepelinsehe Forschungsrichtung 
(Thalbitzer,Dreyfuß) sich soviel Mühe gab, um auszuklügeln, 
ob die Melancholie des Rückbildungsalters zum manisch-depressiven 
Formenkreis gezählt werden sollte, oder ob sie eine eigene Krankheit 
darstellte, da sie doch so recht markante eigenartige Züge und an¬ 
scheinend so oft freistehend ohne Anlehnung an frühere manische 



8 


oder depressive Schübe vorkoinmt. So ungezwungen — und wenig¬ 
stens vorläufig richtig — erscheint die Erklärung, daß wir es hier 
nicht nur mit einem durch die Altersinvolution ausgelösten Depres¬ 
sionszustand zu tun haben, sondern auch mit einem Zustand, der 
durch jenes Moment die spezifische Färbung der Angst bekommen 
hat. Wir müssen also nicht nur mit einer Verbindung oder einem 
Danebenstehen von verschiedenen Faktoren, sondern auch mit einer 
gegenseitigen Beeinflussung derselben rechnen, und zwar bei de» 
verschiedensten geistigen Störungen. 

Durch alle diese Momente scheint sich die Fragestellung in der 
Diagnostik und Systematik der Geisteskrankheiten in den letzten 
Jahren wesentlich verändert zu haben. Vor 4 Jahren hat Körtke 
auf die Unzulänglichkeit der jetzigen Systematik hingewiesen, die 
unter Berücksichtigung „gemischt psychologisch-somatischer“ Ge¬ 
sichtspunkte nach Krankheitseinheiten jagt. Anstatt dessen will er 
eine „Doppelsystematik“ einführen, die in gleicher Weise den psycho¬ 
logischen, wie den somatischen Bedürfnissen gerecht wird. In dieser 
Betrachtungsart will er „die logische Fortentwicklung der Krae- 
pe 1 insehen Begriffe und das von Alzheimer verlangte Zuende¬ 
gehen des von Kraepelin beschrittenen Pfades erblicken“. 

Kurz darauf kommt Kretschmer und — unbefriedigt sowohl 
von der Kraepelin sehen „eindimensionalen“ Diagnostik, wie von 
der Körtke sehen Doppelsystematik — will eine „mehrdimensio¬ 
nale“ Diagnostik einftihren. Bei den psychischen Erkrankungen 
haben wir nicht nur mit mehreren kausalen Faktoren: Charakter. 
Erlebnis, Milieu, Trauma usw. zu rechnen, sondern wir müssen uns 
auch vergegenwärtigen, daß diese den Zügen der Störung ihr eigen¬ 
artiges spezifisches Gepräge geben. Anstatt eine „Mischdiagnose“ 
will er deshalb eine „Schichtdiagnose“ aufbauen, die alle am Krank¬ 
heitsbild beteiligten Komponenten nach ihrer Lagerung und führen¬ 
den Wichtigkeit, jede nach ihren eigenen Gesetzen deuten und am 
Schluß in der Gesamtdiagnose zum Ausdruck bringen. 

Nach dieser Abweichung von unserem Thema, die durch die 
Arbeit Wimmers veranlaßt wurde, wollen wir zu dieser zurück¬ 
kommen. Für Wimmer ist — wie gesagt — die Feststellung einer 
sogen, manifesten Lues in einem Psychosefall keineswegs Grund 
genug, um den Fall als eine Luespsychose aufzufassen. Es ist schon 
höchst bezeichnend, daß er seine Arbeit „Nichtsyphilitische Geistes¬ 
krankheiten bei Syphilitikern“ bezeichnet. Die Fälle, die sehr gut 
und gewissenhaft beobachtet sind — „die Analyse der Fälle verrät“, 
sagt Plaut in seiner Besprechung der Arbeit im Referatenteil der 



9 


Zeitschr. f. d. ges. Neur. u. Psych., „den erfahrenen, kritischen Beob¬ 
achter und enthält manche feine Bemerkung“, zeigen fast alle 
positive Wa Rea, im Liquor und Blut zur Zeit der Psychose und 
mehrere bieten außerdem Symptome von Lues, bzw. Lues cerebri dar. 
Trotzdem betrachtet Wimmer nur einen einzigen Fall als 
eine Psychose auf der Basis einer luetischen Gehimerkrankung. In 
den übrigen 10 Fällen findet er in der Vorgeschichte des Kranken, 
in den endogenen Verhältnissen, in der Milieu- und Erlebniswirkung 
eine genügende Erklärung der geistigen Störung. Er ist überhaupt 
der Ansicht, daß die meisten (cf. S. 294) der bisher veröffentlichten 
Krankengeschichten nur einen Beweis für „die Wahrscheinlichkeit des 
ätiologischen Zusammenhangs der betreffenden Psychose mit Syphi¬ 
lis“ liefern, und obwohl er die syphilitischen Psychosen nicht in 
Abrede stellt, findet er doch an seinem großen Material „erstaunlich 
wenig Fälle, wo die Diagnose einfache syphilitische Psychose“ ge¬ 
stellt werden konnte. Die große Mehrzahl der Fälle stellt typische 
oder atypische Paralysen dar. 

Als Beispiel seiner Auffassungsweise will ich zwei von seinen 
Fällen anführen. 

Fall 2. 25jähriger Mann. Aufgenommen im Sommer 1905. Lues 1901, 
die einen malignen Verlauf nahm (Gumma nasi, Gibbusbildung, luetischer 
Matur nach Wimmers) und spastische Parese 1905. Pat ist trotzdem 
verlobt und soll am 19. Mai 1905 seine Hochzeit auf dem Lande feiern. Am 
Morgen des festgestellten Tages schwerer Dämmerzustand und mehrtägiges 
verwirrtes Umhertreiben ln den Straßen. Nachfolgend Amnesie. In der 
Klinik klar, orientiert, gummöses Syphiloid auf dem rechten Augenlid und 
der Unterlippe, Gibbusbildung im mittleren Teil des Rückens. Paraparese. 
8päter keine Symptome. 

Trotz der aktiven Lues hält Verf. den Fall für eine „Situations¬ 
psychose in optima forma“; der schwere Konflikt — eine Ehe bei 
der schweren und verheimlichten Krankheit zu schließen — treibt 
ihn dazu, vor der Braut die Flucht zu ergreifen. 

Fall 3. 29jähriges Ladenfräulein. Herbst 1916 Lues. Erst Septem¬ 
ber 1917 wurde ihr wegen Exanthems die sichere Diagnose Syphilis mitge¬ 
teilt; das machte auf sie einen tiefen Eindruck. Etwa 4—5 Wochen später 
ängstlich, deprimiert, halluziniert Im Krankenhause anfangs orientiert, 
ohne Wahnvorstellungen und Halluzinationen. Etwas später aber wieder 
GehörBhalluzinationen, unnihig, jammert; zwei Monate später ruhig — exta- 
tische nicht expansive Halluzinationen, Desorientierung, „jedoch kein allge¬ 
meines Umnebeltsein“. Wa. Rea. im Blut pos., im Liquor pos. (der Kranken¬ 
geschichte zufolge, obwohl Wimmer bei der Besprechung von negativem 
Liq. — Wa. spricht). 

Körperlich hat Pat. maculopapulöses Exanthem. Papeln an dem 
Lab. min. 



10 


Auch hier sieht Wimmer nur ein „genaues zeitliches Zusam¬ 
menfallen“ zwischen nicht nervösen syphilitischen Manifestationen 
und einer „psychogenen Geisteskrankheit“, im Anschluß an die Mit¬ 
teilung von der syphilitischen Infektion. 

Wenn man diesen Maßstab anlegt, so muß man wirklich 
Wimmer recht geben, daß nur eine ganz geringe Zahl von den bis 
jetzt veröffentlichten Fällen als Luespsychosen angesehen werden 
können. Man muß zu den von ihm wie von Nonne geforderten 
4 Kriterien einer Luespsychose, nämlich: 1. sichere Infektion, 2. zeit¬ 
gemäßes Zusammenfallen der Psychose mit nervösen und nicht ner¬ 
vösen luetischen Manifestationen, 3. ein Schwanken der psychischen 
Störungen parallel den neurologischen Erscheinungen und 4. posi¬ 
tive Wa—R. im Liquor (allerdings nach Wimmer auch kein 
sicheres Zeichen eines Lues des N. S.), — die Forderung aufstellen, 
daß keine anderen schwerwiegenden, psychogenen, endogenen oder 
anderen Umstände vorliegen dürfen, die die Psychose in anderer 
Weise erklären könnten. 

Zu festeren und greifbareren Resultaten ist dagegen Walther 
(1914) gelangt. Vor allem scheinen mir seine Halluzinosefälle, 
sowie auch seine Korsakoffbilder eine sehr wertvolle Bereicherung 
unserer Kenntnis der Luespsychosen zu sein. Sie bestätigen die 
frühere Erfahrung, daß die Lues in irgendeiner Weise zur Auslösung 
von Halluzinosen disponiert. Walther zählt sie zu den exogenen 
Reaktionstypen zusammen mit den Verwirrtheitszuständen. Wir 
werden auf diesen Punkt später noch zurückkommen. 

Auch L. Bouman in Amsterdam hat einen guten Beitrag zu 
den paranoisch-halluzinatorischen Formen geliefert (1916) und will 
besonders die akut verlaufenden Fälle als luetisch bedingte auf¬ 
fassen, weil sie wenigstens einigermaßen von der Therapie beein¬ 
flußt zu werden scheinen. Er teilt unter seinen 6 Fällen 3 hierher¬ 
gehörige mit, und gibt uns wertvolle differentialdiagnostische Be¬ 
sprechungen. Ähnlich wie Wimmer ist er sehr kritisch und skep¬ 
tisch und fordert zur genauen Erwägung aller Umstände auf. Be¬ 
sonders der präpsychotische Zustand des Kranken zeigt uns oft, 
wie vorsichtig wir in unserem Urteil bezügl. eines vermutlichen Zu¬ 
sammenhangs zwischen einer Psychose und Gehirnlues sein müssen.' 
Er will sogar die Forderung aufstellen, daß wir, um einen Fall als 
Luespsychose betrachten zu können, einen gewissen Erfolg von der 
kombinierten Quecksilber-Salvarsantherapie sehen sollen. 

Bezüglich der Entstehung der Halluzinosen und ihre Stellung 
zur Lues cerebri haben übrigens die Arbeiten der letzten Jahre viel- 



11 


leicht einige Aufklärungen gebracht. Schon Plaut widmete in 
seiner anfangs erwähnten Arbeit dieser Frage Aufmerksamkeit. Er 
untersuchte nämlich das Paralytikermaterial der psychiatrischen 
Klinik in München bezüglich der Häufigkeit von Gehörstäuschungen. 
Schon früher hatten Kraepelin, Obersteiner, Ziehen u. a. 
gefunden, daß diese in der Paralyse verhältnismäßig selten Vor¬ 
kommen, Plaut aber fand unter 713 Fällen nur 3 Fälle, bei denen 
er die Gehörstäuschungen auf einen paralytischen Prozeß zurück¬ 
führen mußte, und sogar in diesen drei Fällen lagen ganz ungewöhn¬ 
liche eigenartige Verhältnisse vor. Dies scheint ja stark zugunsten 
der Auffassung zu sprechen, daß nicht die sogen, metaluetischen 
Prozesse besonders geeignet sind, Gehörshalluzinationen zu erzeugen. 
Dies wird noch durch die Arbeiten anderer Forscher wahrschein¬ 
lich gemacht. 

So fanden auch Banse und Rodenburg neulich, daß Gehörs¬ 
und Gesichtstäuschungen bei der Paralyse selten sind. Wenn vor¬ 
handen, treten sie entweder als flüchtige Begleiterscheinungen bei 
lebhaften Erregungszuständen mit Bewußtseinstrübung auf, oder sie 
sind auf psychopathische Anlage, Potatorium oder Kopftraumen 
zurückzuführen. Morawcsik ist allerdings zu einer entgegenge¬ 
setzten Auffassung gelangt. 

Weiter hat S i o 1 i 1910 einen, auch mikroskopisch untersuchten 
Fall von halluzinatorischer Tabespsychose veröffentlicht, in der er 
spezifisch-syphilitische Veränderungen im Gehirn vorfand. Infolge¬ 
dessen wirft er die Frage auf, ob nicht auch die Tabesfälle, die 
während ihres Verlaufs halluzinoseartige Psychosen aufweisen, patho¬ 
logisch-anatomisch durch eine Lues cerebri kompliziert seien. 

Dieser Ansicht tritt auch Schroeder bei, der 1916 einen wert¬ 
vollen Beitrag zum Kapitel Lues cerebri und ihre Beziehungen zur 
progressiven Paralyse geliefert hat. Er will einen vermittelnden 
Standpunkt einnehmen, und glaubt — gestützt auf einige Fälle —, 
daß wenigstens in den chronischen Halluzinoseformen luetische zere¬ 
brale Vorgänge die Grundlage der Erscheinungen bilden, wogegen 
wir die akut verlaufenden Fälle bei der unkomplizierten Tabes 
fänden. 

Neulich hat wiederum Urechia (1922) einen Fall von Cha¬ 
rakterveränderung bei einem langjährigen Tabiker beschrieben, der 
zufällig an einer Grippe zugrunde ging. Die Veränderungen in der 
Hirnrinde veranlassen auch ihn, von Himlues, nicht von Tabes¬ 
psychose zu sprechen. 



12 


Schließlich will ich noch kurz die auch von Plaut, Walther 
u. a. zitierten Resultate Otto Meyers aus dem Jahre 1903 er¬ 
wähnen. Bei seinen „nicht-paralytischen“ Psychosen bei Tabes 
dorsalis fand er, daß die basalen Himnerven ganz auffallend oft am 
„tabischen“ Krankheitsprozeß mitbeteiligt sind, worauf bereits auch 
Moeli hingewiesen hatte. Auch dies darf vielleicht mit aller 
Reserve in dem Sinne verwertet werden, daß es sich hier vielleicht 
um spezifisch-basale luetische Erkrankungen gehandelt hat. 

Andererseits hat Carl v. Rad 4 Fälle von Halluzinosen bei 
Tabikern veröffentlicht (von denen der dritte Fall doch kaum ver¬ 
wertet werden kann, da es sich um einen chronischen Alkoholiker 
handelt). Klinisch lag einerseits eine sichere Tabes vor, anderer¬ 
seits Psychosen mit Halluzinationen und nicht systematisierten 
Wahnideen, und die Fälle scheinen folglich zugunsten der alten Er¬ 
fahrung zu sprechen, daß die Tabes, also irgendwelche „metalue¬ 
tische“ Prozesse, halluzinoseerzeugend wirken würden. Der Einwand 
muß aber erhoben werden, daß wir hier — gleich wie in fast allen 
übrigen Tabesfällen, die durch eine Psychose kompliziert waren — 
keine mikroskopisch-anatomische Untersuchung haben, und daß 
folglich die Unterlage dieser „metaluetischen Psychosen“ uns völlig 
rätselhaft bleiben muß. 

Wie ersichtlich ist die Frage nach der Stellung der Halluzinosen 
zur Lues noch keineswegs gelöst. Die soeben besprochenen Ver¬ 
mutungen sind aber in der Zukunft der Beachtung wert. 

Die Beiträge zu unserer Frage sind außer den bereits zitierten 
sehr spärlich, offenbar weil die Weltereignisse so viele andere 
Themen in den Vordergrund des Interesses brachten. Außer der 
großen Arbeit Krauses von 1915 habe ich in der Literatur nur 
kleinere kasuistische Mitteilungen gefunden, die keine neueren 
Gesichtspunkte bringen. 

Auch die Arbeit Krauses gibt uns hauptsächlich eine Zu¬ 
sammenstellung von eigenen kasuistischen Beiträgen zur pathologi¬ 
schen Anatomie der Ilimsyphilis und zur Klinik der Geisteskrank¬ 
heiten bei syphilitischen Himerkrankungen. Sie bildet aber — wie er 
selbst sagt — auch nur einen ersten vorläufigen Teil. Als Nach¬ 
schlagewerk sowohl bezügl. der beschichte der luetischen Gehirn¬ 
krankheiten, wie ihrer pathologischen Anatomie leistet das Buch vor¬ 
zügliche Dienste. 

Von anderen Verfassern will ich vor allem Schroeder nennen, 
der unser Wissen bezügl. der Abgrenzung der Luespsychosen von der 
Paralyse — besonders von der atypischen und stationären Form der- 



13 


selben — bereichert hat, und zwar vor allem vom pathologischen 
anatomischen Gesichtspunkt aus. Kleinere kasuistische Mitteilungen 
Meiern Jessen, Urechia und ßusdea und der Holländer 
F. S. Meyer zeigt an 6 Fällen, wie schwierig die Differential¬ 
diagnose zwischen der Paralyse und der Psychose bei der Lues 
eerebri sein kann. 

Nach diesem kurzen geschichtlichen Überblick werde ich zu. 
meinen eigenen Fällen gehen. Ich habe dabei dank der Zuvor¬ 
kommenheit des Herrn Geheimrat Prof. Bonhoeffer die Gelegen¬ 
heit gehabt, die Fälle der 11 letzten Jahre zu verwerten, die in der 
Nervenklinik der Charit6 zur Beobachtung kamen. Es sind Fälle, 
in denen die Diagnose Luespsychose gestellt wurde, und in denen 
also genügende Gründe für ihre Auffassung als Paralyse nicht vor¬ 
zuliegen schienen. Außer diesen Fällen habe ich zwei eigene Fälle 
aus meinem Krankenhaus in Helsingfors benützt. 

Ehe wir zu den Fällen gehen, wird es nötig sein, die Frage der 
Gruppierung der Luespsychosen zu besprechen. 

Selbstverständlich kann ich mich dabei in dieser wesentlich 
klinischen Arbeit nicht von pathologisch-anatomischen Gesichts¬ 
punkten leiten lassen. In diesem Punkte ist man ja übrigens zu einer 
gewissen Einigung der Ansichten gekommen, aber die gewonnenen 
Resultate sind für die Klinik nicht von derselben Bedeutung. Wenn 
wir auch die arteriellen, meningealen und gummösen Erscheinungen 
auseinanderhalten können, und wenn man auch von Heubner, 
Fournier, Teissin, Roux, Oppenheim und mehreren 
anderen an bis zu Krause versucht hat, die klinischen Symptome 
dieser pathologisch-anatomischen Erkrankungsformen festzustellen, 
so konnte man — wie bereits oben kurz erwähnt wurde — zu keinem 
befriedigenden Schluß kommen, weil 1. die Kranken uns fast nie den 
Gefallen tun, nach den Schemen unserer pathologischen Lehrbücher 
zu erkranken, sondern meistens Mischzustände darbieten, und weil 
2. auch die Topographie der krankhaften Prozesse von außerordent¬ 
lich hoher Bedeutung ist. In der Neurologie haben wir vielleicht 
mehr Nutzen von der pathologischen Anatomie gehabt. In der 
Psychiatrie müssen wir uns — wenigstens vorläufig — bemühen, die 
Krankheitserscheinungen zu gruppieren. 

Kuriositätshalber will ich nur das Einteilungsprinzip Baums 
erwähnen. Er will die Psychosen infolge von Syphilis auf 5 Gruppen 
aufteilen, je nachdem sie vor der Lues oder im 1., 2. oder 3. Stadium» 
oder schließlich in metaluetischen Stadien auftreten. 



14 


Gleichfalls finde ich die Einteilung Walthers nicht glücklich. 
Er teilt nämlich die Luespsychosen in zwei große Gruppen: 1. chro¬ 
nische Defektzustände, 2. akute Psychosen, zu denen er akute Hallu- 
zinosen, Angstpsychosen und Dämmerzustände zählt. Auch sonst 
wird ja nicht der zeitliche Verlauf als Einteilungsprinzip verwendet. 
Praktisch wird es wohl auch in vielen Fällen unmöglich sein, zu be¬ 
stimmen, wann ein Fall als ein akuter, wann als ein chronischer an¬ 
gesehen werden soll. 

Bei der großen Mehrzahl der Autoren, die sich mit den syphi¬ 
litischen Geistesstörungen im weiteren Sinne befaßt haben, gehen — 
wie es mir scheint — die Ansichten bezügl. der Systematik und der 
Auffassung derselben nach zwei Richtungen. 

Wir haben auf der einen Seite die Skeptiker, wenn ich so sagen 
darf, deren typischer Vertreter Wimmer ist. An seinem großen 
Krankenhausmaterial findet er durchaus überwiegend Dementia 
paralytica, „typische oder atypische“ Fälle. Von seinen 11 veröffent¬ 
lichten erkennt er nur einen als Lues- (nicht Metalues-)psychose 
an, und zwar als einen exogenen Reaktionstypus, einen torpiden 
Verwirrungszustand. Bei den zahlreichen übrigen Geistesstörungen, 
die bei Syphilitikern zum Vorschein kommen und beschrieben wor¬ 
den sind, handelt es sich aber — wenn nicht um Paralyse — um 
ein zufälliges Zusammentreffen von Lues mit einer psycho- oder 
endogenen bzw. andersartigen Psychose. Auch Plauts Fälle und 
Zahlen aus einer Großstadt, wie München, deuten — sagt Wimmer 
— wenigstens nicht darauf, daß einfache syphilitische Psychosen 
besonders häufig sind. Auch L. B o u m a n erinnert in seiner Haltung 
sehr an Wimmer. 

Auf der anderen Seite finden wir Autoren, die entweder mehr 
kritisch einige Typen von Geistesstörungen als luetisch bedingte 
herauswählen wollen, oder die überhaupt fast alle bis jetzt bekannte 
psychiatrische Zustandsbilder als mögliche Erscheinungsformen des 
luetischen Irreseins ansehen. Ich werde hier nicht mit einem 
Autorenverzeichnis prahlen, es handelt sich ja doch um bekannte 
Sachen, und bei Krause finden wir genügend geschichtliche No¬ 
tizen, sondern werde versuchen, mich aus diesem Wirrwarr von An¬ 
schauungen herauszufinden, also dasjenige herauszugreifen, was als 
sichergesiellt angesehen werden kann, und wiederum das Unklare 
womöglich aufzuklären. 

Zunächst drängt sich dabei — wie bereits anfangs erwähnt 
•wurde — jener Typus auf, den auch Wimmer als eine spezifische 
syphilitische Psychoseform ansieht, der exogene Reaktionstypus, der 



an Heubners Rauschzustände erinnert, wie er es auch bemerkt. 
Bereits 1903 hat Marcus eine gute zusammenfassende Darstellung 
derselben gegeben. Kraepelin faßt diese Zustände deliriöser 
Verwirrtheit als eine Gruppe zusammen, und neulich hat Krause 
ans zahlreiche Beispiele derselben geliefert, und auch die uneinheit¬ 
liche, bunte Pathogenese derselben durch seine pathologisch-anato¬ 
mischen Untersuchungen beleuchtet. 

Das Wesen der Störung in diesen Fällen liegt m. E. und wie 
ich bereits oben darzulegen versuchte, in einem Versagen der kohären¬ 
ten, zusammenhaltenden Kräfte des Seelenlebens, und wir finden in 
ihnen vor allem eine mehr oder weniger hochgradige, dauernde oder 
kurze vorübergehende Bewußtseinstrübung, Erschwerung der Auf¬ 
fassung, Merkschwäche, Unklarheit, Halluzinationen, Wahn¬ 
ideen usw. 

Klinisch sind die zu diesem Typus gehörigen Fälle in ihrer 
extremsten Ausprägung scharf und klar gezeichnet. Ich meine die¬ 
jenigen Fälle, in denen die Bewußtseinsstörung stark im Vorder¬ 
gründe der Erscheinungen steht und die zuerst von Heubner be¬ 
schrieben wurden. In seinen Rauschzuständen steht der psychische 
Symptomenkomplex „ungefähr in der Mitte zwischen den beiden 
Krankheitsbildem, die man von der Hirnhautentzündung und von 
der umschriebenen Hirnerweichung zu geben pflegt“. Sie entstehen 
meistens nach diffusen Vorbotserscheinungen ziemlich. akut und 
nehmen entweder einen ganz stürmischen, nicht selten letalen Ver¬ 
lauf, oder auch einen mehr protrahierten. Diese letzteren Fälle 
stellen Übergangsformen zu den Fällen dar, die von Anfang an 
einen mehr schleppenden, unpräzisen Charakter aufweisen, die aber 
m. E. imbedingt zur selben Gruppe, wie die extremen Formen ge¬ 
hören und mit ihnen wesensgleich sind. 

Gar nicht so selten stoßen wir nämlich auf Fälle — ich werde 
auch Beispiele derselben geben — in denen sich die Vorgänge nicht 
so stürmisch entwickeln. Die Kranken verändern sich allmählich, 
werden erregt, ohne jedoch die Orientierung zu verlieren. Es treten 
dann — oft des Nachts — Schübe von mehr oder weniger deutlicher 
Verwirrtheit auf: die Kranken glauben im Theater zu sein, schreiben 
einen Brief an den Kaiser, knien plötzlich nieder, schreien: „sie 
wollen mich tot machen“ und laufen davon. Bald klärt sich das 
Bewußtsein wieder auf. 

Halluzinationen kommen vor, oft massenweise, wie in den Fällen 
von Marcus: wir haben hier amentiaähnliche Fälle, sie können 
aber auch fehlen oder jedenfalls in dem Hintergrund der Erschei- 



16 


nungen bleiben. Gleichfalls können wir katatone Züge sehen, wie 
sie Bonhoeffer auch in seinen exogenen Reaktionstypen be¬ 
schreibt. Treten aber ausgesprochene katatone Symptomenbilder 
auf, werde ich die Fälle nicht zu den exogenen Reaktionstypen 
führen, sondern bespreche sie zusammen mit manisch-depressiven u. a. 
Zustandsbildern. 

Vorläufig habe ich noch gar nicht die Halluzinosefälle behandelt. 
Bekanntlich zählt Bonhoeffer sie zu den exogenen Reaktions¬ 
typen. Ich werde es jedoch aus gewissen praktischen Gründen nicht 
tim, sondern werde sie zusammen mit den paranoiden Luespsychosen 
zu einer Gruppe führen. Zum exogenen Reaktionstypus der Lues¬ 
psychosen werde ich folglich Fälle von akuten oder mehr protrahier¬ 
ten Verwirrtheitszuständen mit oder ohne Halluzinationen zählen, 
in denen der Verwirrtheitszustand nicht Teilerscheinung einef 
Gruppe von Symptomenbildem ist, sondern das Wesentliche der 
psychischen Veränderung. An diese Fälle lehnen sich auch die 
Fälle von dämmerzustandsartiger Verwirrtheit bei luetischer Epi¬ 
lepsie an. Auch hier müssen wir wohl mit einem exogenen Reaktions* 
typus zu tun haben, obwohl die Verhältnisse etwas verwickelter und 
etwas anders liegen. 

Wir kommen sodann zu den Halluzinosen, bzw. den halluzina¬ 
torisch-paranoiden Formen der Luespsychosen. 

Außer Plaut hat vor allem Walther sehr schöne Fälle von 
Halluzinosen bei Syphilitischen veröffentlicht und Bo um an lieferte 
einen Beitrag zur Kenntnis der paranoiden Form. Die Ähnlichkeit 
mit der Alkoholhalluzinose wird hervorgehoben. Außer den Hallu¬ 
zinationen und Wahnideen, die nicht systematisiert werden, tritt die 
ängstliche Stimmungslage stark in den Vordergrund der Symptome. 

Wenn ich diese Fälle zu einer Gruppe zusammenführe, so ge¬ 
schieht es — wie bereits gesagt — aus praktischen Gründen. Sie 
bilden nämlich einen recht scharf umgrenzten eigenartigen Kreis mit 
recht markanten Zügen. Die Grenze gegenüber den Verwirrtheits¬ 
zuständen kann allerdings auch ganz fließend sein, wie z. B. der 
erste Fall Plauts sehr schön zeigt. In seiner Epikrise bezeichnet 
ihn Plaut selbst als eine Psychose, die „am ehesten an gewisse 
Erregungszustände, die man bei Paralytikern beobachtet“, erinnerte. 
Halluzinationen wurden überhaupt nur „auf der Höhe der Erregung“ 
(und gar nicht in der Münchener Klinik) beobachtet. Von einer wirk¬ 
lichen Halluzinose würde ich jedoch ein wenigstens einigermaßen 
geordnetes und ruhiges Verhalten fordern, in dem die Halluzinationen 
und event. Wahnideen als Hauptsymptome auftreten. Sehr be- 



17 


merkenswert ist hier auch ein schweres psychisches Trauma, das neben 
dem zweifelsohne vorhandenen luetischen Prozeß vorlag. Die 
Symptome entstanden nämlich im Anschluß an eine gerichtliche Be¬ 
nachrichtigung, daß er ein uneheliches Kind habe. 

Gleichfalls muß der Fall III bei Plaut richtiger als ein Ver¬ 
wirrtheitszustand bezeichnet werden, wie es wiederum auch Plaut 
selbst zugibt. Das Krankheitsbild war vielmehr „eine depressive 
Verstimmung“ mit „einzelnen stürmischen Erregungszuständen von 
großer Flüchtigkeit, die ohne distinkte Sinnestäuschungen und ohne 
ausgeprägte Wahnvorstellungen verliefen“. 

Von einer Halluzinose muß man aber ein recht verschiedenes 
Bild verlangen, wie bereits oben gesagt wurde, und wie wir es sehr 
schön z. B. in den Fällen von Walther, v. Rad und auch in 
mehreren von Plauts übrigen Fällen finden. 

Als dritte Gruppe der Luespsychosen bieten sich uns sodann die 
Defektzustände mit mehr chronischem Verlauf. Der Beginn kann 
entweder von Anfang an schleppend unmerklich sein, oder die 
Krankheit kann sich im Anschluß an einen akuten Erregungs¬ 
zustand entwickeln. Die Berechtigung, diese Gruppe zu schaffen, 
braucht wohl kaum motiviert zu werden. Seitdem die ersten Ar¬ 
beiten über Syphilis und Geistesstörungen Mitte des vorigen Jahr¬ 
hunderts erschienen, tritt fast bei allen Autoren die Hervorhebung 
des ruinierenden Charakters der Hirnsyphilis hervor, sei es in der 
Gestalt der echten Paralyse oder der cerebral-luetisch bedingten Er¬ 
scheinungen. Überhaupt bekommt man beim Durchlesen der Lite¬ 
ratur den Eindruck, daß wenn die syphilitische Durchseuchung des 
Gehirns zu Geistesstörungen führt, dies immer als etwas Ernstes 
betrachtet werden muß. 

Klinisch unterscheidet man m. E. am zweckmäßigsten zwei ver¬ 
schiedene Typen: 

Die Pseudoparalyse Fourniers und 

die postsyphilitische Demenz Binswangers. 

Zu der ersten müssen wir Fälle zählen, die klinisch das Bild 
einer Paralyse darbieten, und zwar gehören. ihr sowohl einfach 
demente, wie expansive, gehemmte, gemischte und atypische Formen 
an. Auf die Differentialdiagnose der echten Paralyse gegenüber 
brauche ich hier nicht einzugehen, da sie genügend bekannt ist; 
äußerst wertvolle Hilfsmittel haben wir gerade hier in den Blut- und 
Liquoruntersuchungen. 

Die zweite Form entwickelt sich mehr oder weniger unmerklich 
im Anschluß an Schübe von gehimluetischen Erscheinungen, Apo- 

Pabrftius, Zur Klinik der nichtparalytischen Lues-Psychosen. (Abhandl. H. 24) 2 



18 


plexien und dergl., auch unter den Fällen der Charite fanden sich 
solche. Ich habe sie jedoch nicht verwertet, da sie bereits ge¬ 
nügend bekannt sind. Bei 11. Birnbaum (1908) finden wir 
mehrere solche Fälle. 

Sodann werden von einigen Autoren auch Kraepelin — 
Fälle, in denen raumbesehränkemle luetische Prozesse meistens 
Gummen, psychische Symptome hervorrufen, zu einer Gruppe zu- 
sammengefaßt. Mir scheint kein Grund hierfür vorzuliegen. Die 
psychischen Störungen bei Gehirntumoren werden ja auch nicht als 
eine geschlossene Krankheitseinheit vorgeführt. 

Wir hätten hiermit diejenigen drei Grundformen von Lues¬ 
psychosen dargestellt, in die sich die große Mehrzahl von Lues¬ 
psychosen einreihen lassen und von deren Vorhandensein bei der 
meisten Autoren Einstimmigkeit herrscht. Wir gelangen aber jetzl 
zu den Formen, die von zahlreichen Beobachtern beschrieben worden 
sind und über deren tatsächliche Existenz kein Zweifel bestehen 
kann — auch ich werde in meiner Kasuistik mehrere solche Fälle 
vorführen —, die uns aber sowohl bezüglich ihrer Pathogenese wie 
ihrer klinischen Einordnung und Zugehörigkeit vorläufig recht un¬ 
verständlich sind. 

Es sind dies jene Formen, die als melancholisch-hypochondri¬ 
sche, maniakalische, ausgesprochen katatone und zyklisch-zirkuläre 
beschrieben worden sind. Das Unsichere, der Streitpunkt, liegt hier 
in der Frage: sollen wir sie als echte selbständige Krankheitsformen 
auffassen, sollen wir also dem luetischen Gehirnprozeß die Fähigkeit 
zusprechen, melancholische, manische, katatone und andere Psycho¬ 
sen zu schaffen, oder sind diese nur vorübergehende Zustandsbilder 
auf dem Wege zur Paralyse oder anderen luetischen Psychosen 
chronischen Charakters? Oder handelt, es sich um ein zufälliges 
Auftreten von manischen, depressiven oder anderen Psychosen bei 
Luetikern? 

Man kann der Frage gegenüber zwei verschiedene Positionen 
einnehmen. Entweder begnügt man sich, wie neulich Walther, 
damit, ganz einfach festzustellen, daß Zustandsbilder der erwähnten 
Art bei Patienten Vorkommen, die syphilitisch infiziert waren und 
neurologische Erscheinungen von Hirnlues darboten, oder man sucht 
in ihre Pathogenese einzudringen, um dadurch womöglich die Berech¬ 
tigung und das Verständnis dieser Krankheitstypen zu ergründen. 

Wir sahen bei der Besprechung der Gruppe der Verwirrtheits¬ 
zustände, daß diese sich wahrscheinlich als exogene Reaktionstypen 
auffassen lassen. Es ist aber fraglich, ob wir berechtigt sind, die 



19 


manische», depressive», katatonen und zirkuläre» Forme» in der¬ 
selben Weise aufzufassen. Bekanntlich bestreitet Bonhoeffer 
dieses, und zwar aus empirischen Gründen. Andere aber, vor allem 
Specht, Jelgersma und Gadelius ziehen mehrere Gründe 
heran, die zu Gunsten einer solchen Auffassung spreche». Wenn 
einmal — sagt man — die Verwirrtheitszustände infolge einer Locke¬ 
rung oder eines fehlerhaften Funktionierens gewisser seelischer Me¬ 
chanismen auftreten, müssen wir auch Gründe haben, anzunehmen, 
daß diejenigen Gehirnprozesse, welche die Grundlage der Affekte 
bilden, durch verschiedene exogene Momente funktionell verändert 
werden können. Dafür zeugen die manische/i Zustände bei akuten 
Alkoholintoxikationen oder bei den paralytischen Gehirnvorgängen. 
Specht will außerdem bei sich selbst zwei typische akute exogen 
hervorgerufene Depressionsschübe beobachtet haben, einmal infolge 
einer leichten Gasvergiftung, ein andercsmal im Anschluß an eine 
Influenza, und er glaubt, daß ähnliche Fälle oft Vorkommen, obwohl 
sie selten zur ärztlichen Beobachtung kommen. 

Specht hebt, weiter hervor, daß manische Zustände und Ver¬ 
wirrtheitsbilder nicht wesensverschieden sein können, da wir 
fließende Übergänge zwischen ihnen sehen, und will die letzteren 
nur als eine Steigerung, eine „Cerebrationsstufe“. wie er mit 
Sc hü Ile sagt, der ersteren auffassen. Andererseits macht er, sowie 
andere, darauf aufmerksam, daß die Verwirrtheitszustände keines¬ 
wegs als ausschließlich exogen-toxische Reaktionstypon angesehen 
werden dürfen, da sie auch psychogen ausgelöst werden können. 

Wenn diese Auffassung zu Recht bestehen würde, könnten wir 
also die manisch-depressiven u. a. ähnliche Bilder als exogene 
Reaktionstypen den Verwirrtheitszuständen angliedern. Wenn nicht, 
so können frir trotzdem durch eine leichte Verschiebung des Ge sichts¬ 
punktes zu einer Verständigung gelangen. Anstatt von einer exogen 
hervorgerufenen krankhaften Tätigkeit zu sprechen, müssen wir uns 
die Vorgänge als exogen ausgelöste endogene Bereitschaften betrach¬ 
ten. Diese Betrachtungsweise ist ja heutzutage sehr beliebt, und 
mehrere Autoren: Seelert, Schroeder, Pernet, Kalb 
haben z. B. bezüglich der Paralyse geltend machen wollen, daß die 
Gehimvorgänge hier zu einer Steigerung endogener manischer, 
depressiver oder anderer Konstitutionskomplexe führen können, was 
ja praktisch einer Auslösung eines manischen oder anderen Zu¬ 
standes durch exogene Momente gleichkommt. 

Wie ersichtlich, läßt sich also das Auftreten von den verschie¬ 
denen Seelenstörungen bei der Gehimsyphilis gut verstehen, und 

2 * 



20 


rein empirisch können wir auch nicht anders, als ihr tatsächliches 
Vorhandensein registrieren. Es könnte unter diesen Umständen ge¬ 
boten erscheinen, die manischen, depressiven, katatonen und zirku¬ 
lären Psychosen als Erscheinungsformen des Irreseins bei Gehirn¬ 
lues einzureihen. Eins ist aber versäumt worden. 

Man vermißt nämlich in der Literatur Notizen über den weiteren 

\ 

Verlauf der veröffentlichten Fälle; die Symptome der akuten oder 
subakuten Erkrankung oder Schübe werden geliefert, vom weiteren 
Schicksal der Kranken erfahren wir aber nichts. Auch ich werde 
keine großen Aufklärungen in diesem Punkte bringen können, erstens 
sind meine Fälle zu gering an Zahl, zweitens habe ich — trotz ge¬ 
machter Nachforschungen — in verhältnismäßig wenigen Fällen 
Auskunft über das spätere Verhalten der Kranken bekommen können. 
Ich glaube aber doch, daß es eine wichtige Aufgabe der Zukunft werden 
könnte, diese Lücke auszufüllen. 

Aus dem, was ich erfahren, scheint mir jedoch hervorzugehen, 
daß viele von diesen Fällen gerade zu denjenigen gehören, von 
denen Wimmer sagt, daß ihre psychischen Symptome nur Mani¬ 
festationen einer Krankheit waren, die sich doch schließlich als eine 
Paralyse entpuppte. Und noch in einer anderen Hinsicht sind sie 
interessant. Sie können uns vielleicht einige Aufklärungen über die 
Beziehungen der Himlues zur Paralyse bringen. Hier steckt m. E. 
ein Problem, das mehr Aufmerksamkeit verdient hätte, als ihm zuteil 
geworden ist. 

Man stellt fast immer die Frage: Lues cerebri oder Paralyse? 
Vom praktischen Gesichtspunkt aus ist dies ja wohl verständlich, 
vom theoretischen aber nicht. Kraepelin, der auf 40 Seiten die 
Ursachen und das Wesen der Paralyse behandelt, sagt nur auf einer 
Stelle (II. .494) kurz: „Endlich ist noch auf die nahen klinischen Be¬ 
ziehungen der Paralyse zur Tabes und Lues cerebrospinalis . . . hin¬ 
zuweisen“, und zwar beabsichtigt er mit dieser Äußerung haupt¬ 
sächlich einen Beweis für die Abhängigkeit der Paralyse von der 
syphilitischen Infektion zu liefern. Auch Plaut sagt in seinem 
Referat über die syphilitischen Geistesstörungen (1909), daß der Pa¬ 
ralyse durch ihre durch Nißl, Alzheimer u. a. sichergestellte 
histologische Eigenart allerdings eine Sonderstellung verbleiben 
wird; nach der Nachweisung von Spirochaeten im Gehirn müssen 
wir aber „mit der Möglichkeit rechnen, daß sie diese Sonderstellung 
nicht außerhalb, sondern innerhalb der luetischen Gehirnerkrankun¬ 
gen angewiesen bekommt“. 



21 


Also auch bei ihm wird nur von einer „Sonderstellung“ der 
Paralyse, einem Nebeneinanderstehen dieser und der Gehirnlues ge¬ 
sprochen, nicht aber von einer eventuellen Beziehung zwischen den 
beiden Krankheitsformen. 

Nur Gennerich hat den metaluetischen Prozeß als eine 
Liquordurchtränkung des nervösen Gewebes auffassen wollen, die 
dadurch zustande käme, daß zunächst spezifisch luetische Prozesse 
langsam und allmählich die normale, wenn ich so sagen darf, 
liquorfeste Beschaffenheit der Pia zerstören würden. Die Diffusion 
des Liquors in das nervöse Gewebe würde hierdurch ermöglicht sein, 
und der Übergang von der „histologischen Hirnsyphilis zur Para¬ 
lyse“ ließe sich in dieser Weise durch einen neu hinzutretenden 
mechanischen Faktor, eben den Eintritt der „Liquordiffusion“ er¬ 
klären (Münch, med. Wochenschr. 92, S. 1195). Leider hat er mit gar 
keinen Beweisen seine Auffassung gestützt, die wohl deshalb ganz 
unbeachtet geblieben, bzw. abgelehnt worden ist. 

Ich werde im klinischen Teil noch auf diesen Punkt zurück¬ 
kommen. Es gibt Fälle, die uns zu ernstem Nachdenken auffordern. 
Ich werde Fälle vorführen, die uns ziemlich unverständlich bleiben, 
wenn wir uns auf den Standpunkt stellen: Himlues oder Paralyse, 
die aber in ein ganz anderes Licht rücken, wenn wir Hirnlues und 
Paralyse sagen. 

Ich werde also folgendes Einteilungsprinzip aufstellen: 

I. Exogene Reaktionstypen mit akutem oder protrahiertem 

Verlauf, 

a) ängstlich-verwirrte Erregungszustände, 

b) epileptisch-bedingte dämmerzustandsartige Bilder. 

II. Halluzinose bzw. halluzinatorisch-paranoide Fälle. 

III. Chronische Defektpsychosen. 

Zum Schluß werde ich die manischen, »depressiven, ausge 
sprochen katatonen u. a. Zustandsbilder behandeln. 


Für die Überlassung des Materials der Charite in Berlin, sowie 
für sein in jeder Hinsicht so freundliches Entgegenkommen erlaube 
ich mir auch an dieser Stelle, Herrn Geheimrat Prof. Dr. Bon- 
hoeffer meinen wannen Dank auszusprechen. 



Klinischer Teil. 

I. Exogene Reaktionstypen. 

Obwohl die ersten beiden Fälle recht alltäglich sind, werde ich sie 
mitteilen, weil sie erstens sehr typisch sind,und weil sif zweitens einen 
guten x\usgangspunkt zum Verständnis der folgenden Fälle bilden. 

Fall 1. W. B., 29 Jahre alt, Vizefeldwebel. Aufgen. 9. 3. 14, gest. 
25. 3. 14. Diagnose: Luespsychose? Progressive Paralyse? Bei der Aufnahme 
schwerer Erregungszustand. Pfeift, johlt, tanzt durchs Zimmer. Auch in der 
Packung nicht zur Ruhe zu bekommen. Nachts delirant, schreit: „Jetzt geht’s 
los, meine Nerven, meine Nerven.“ Kein Schlaf. 10. 3. Delirant« Unruhe 
dauert fort. 

Angaben der Frau: Familienanamnese o. B. Hat die Dorfschule be¬ 
sucht, Schulleistungen gut. Bis zum 20. Jahre auf dem Kahn gefahren. 
8—9 Jahre beim Militär gewesen, besuchte Festungsbauschule. War abstinent, 
ruhig und solide. 

11. 3. Schwer zu fixieren. Antwortet gar nicht oder verwirrt. Große 
motor. Unruhe. Nach dem Bericht eines Kameraden soll Pat. ein sehr 
ruhiger Mensch gewesen sein. Soll sehr strebsam gewesen sein, wollte ein großes 
Pensum auf der Festungsbauschule schaffen, sei sehr verschlossen gewesen. 

12. 3. Nachts sehr unruhig, auf Hyoscin ruhiger, jedoch kein Schlaf. 

Von einem Kameraden wird noch berichtet, daß Pat. als Rekrut einen 

Schlag auf den Kopf mit einer Kreuzhacke bekommen habe. 2 oder 3 Tage 
vor hiesiger Aufnahme einen „Anfall“, habe auf dem Bett gelegen und sich 
geschüttelt. Habe sich schon länger nicht wohl gefühlt, das Arbeiten sei ihm 
schwer gefallen. 

13. 3. Unruhe dauert immer noch an, spricht eigentümlich zusammen¬ 
gesetzte Worte. 

10. 3. Körperliche Untersuchung oder Exploration wegen des dauernd 
erregten Zustandes nicht möglich. Erst auf besondere starke Hvoscinspritzen 
etwas beruhigt. 

24. 3. Ernährungszustand sehr schlecht. An der rechten Hand und auf 
dem Handrücken eine 5-mark-stück-große, blau-schwärzlich verfärbte Stelle. 
Lymphangitis. Nahrung tägl. X A —1 Liter Milch, sonst nichts. 

25. 3. Blut — Wa. positiv. Lumbalpunktion (postmortal): Pb. I. und 
II. Trübung, massenhafte Lymphozyten. Wa. pos. 

Dauernde Verschlechterung des Befindens. Exitus. 

Sektionsprotokoll: Geringe fibröse Verdickung der Pia mater. 
Starke Hyperämie des Gehirns, geringe Unregelmäßigkeit in der Stärke der 
Windungen, zwei kleine linsengroße Exostosen des Schädeldaches. Fein¬ 
körnige diffuse ausgedehnte Fettdurchw’achsung der Herzmuskulatur, geringe 
Verfettung der Aortenintima. Akutes Emphysem beider Lungen. Taenia 
saginata. Gelappte Nieren. Rinde der Nebenniere sehr schmal, fettige 
Degeneration in den Nieren. 

Mikroskopisch keine Paralyse. 

Fall 2. K. Sch., 57 Jahre alt, Pförtner. Aufgen. 20. 10. 21. gest- 

14. 12. 21. Luespsychose. 




23 


Kommt von der medizinischen Klinik zur Aufnahme. Desorientiert über 
Ort und Zeit. Gibt auf Fragen Auskunft Angabe der Personalien richtig, als 
Beruf „Geiger und Trompeter“. Perseverationen. Glaubt in der Kaserne zu 
sein, spricht unverständlich vor sich hin, sagt „Tresse, Vizefeldwebel“ etc. 
(Krank?) „Im linken Arm habe ich keine Kraft.“ (Kopfschmerzen?) — „Die 
ganzen Drüsen! Sind Drüsen keine Kopfschmerzen? 

Somatisch: Kräftig, innere Organe o. B. Kopf nicht sicher klopf 
empfindlich, keine sicheren Schmerzäußerungen, kein Verziehen des Gesichtes. 
Beweglichkeit gut. 

Pup. mittelweit, Lichtreaktion träge. An den Hirnnerven nichts Patho¬ 
logisches. Bauchdecken- und Kremasterreflexe nicht sicher auslösbar. 

Arme und Beine: Tonus nicht sicher prüfbar, da Pat. nicht entspannt, im 
1. Arm wohl in toto etwas herabgesetzt (?). Armreflexe lebhaft, links viel¬ 
leicht mehr als rechts. Pat. und Ach. Reflexe gleich, lebhaft. Babinski links 
positiv, die übrigen spastischen Reflexe negativ. Kraft nicht sicher prüfbar, 
da Pat. Bewegungen nicht ordentlich ausführt und bei vorhergehenden Be¬ 
wegungen perseveriert. L. Arm anscheinend in allen Bewegungen etwas 
schwächer als rechts. ‘Ellenbogenbeugen wohl besser als -strecken. Unter¬ 
schenkelstrecker bds. gut, alle übrigen Bewegungen nicht prüfbar. Pat. legt 
sich plump auf die Erde, ist nicht zum Aufstehen zu bewegen. Diadochokinese 
mit der 1. Hand ungeschickter ausgeführt als rechts. 

Sensibilität: Nadelstiche werden bald links, bald rechts stärker ange¬ 
geben. Im allgemeinen im Gesicht, Armen und Rumpf links weniger als 
rechts, an den Beinen links stärker als rechts. — Befolgt Aufforderungen 
richtig. Benennen von gezeigten Gegenständen erschwert. 

21. 10. Ausdrucksloser Gesichtsausdruck, es gehe ihm gut. Spricht 
von Beamten, die ihn hergebracht hätten. Lacht, spricht undeutlich. 

Über Parese hinausgehende Ungeschicklichkeit der linken Hand, rechts 
keine Störung. — „Als ob ich links gar nicht weiß, was Drohen heißt“ (war 
dazu aufgefordert worden). (Motorische Apraxie?) Die Parese betrifft die 
Schulterbewegungen mehr als die anderen. 

Pup. Reaktion 1. prompt, wenig ausgiebig, Fundus o. B., r. träge, geringe 
Reaktion. 

Arme: Reflexe gegen rechts lebhafter, 1. leichte Hypertonie. Heben des 
linken Armes im Schultergelenk mit reduzierter Kraft möglich, bleibt rechte 
deutlich zurück. Beugen und Strecken im Ellenbogen- und Handgelenk in der 
Kraft gegen rechts etwas vermindert. Bei feineren Bewegungen links geringe 
Ungeschicklichkeit, links deutliche Adiadochokinese. Beim Zeigefingerver¬ 
such links geringe Ataxie. Lagegeftihl bds. erhalten, bei feineren Ausschlägen 
nicht sicher zu entscheiden, ob falsche Antworten auf Aufmerksamkeits¬ 
störung zurückzuführen sind. Beim Benennen von Gegenständen scheint er¬ 
schwerte Wortfindung zu bestehen. Pat. konfabuliert viel, erzählt ohne Zusam¬ 
menhang. Zeitlich und örtlich vollkommen desorientiert, schweift immer sofort 
ab. Bei einem neuen Satz bringt er Worte vom vorhergehenden mit herein. 

Unt. Extr.: Links leichte Hypertonie. Knie und Hüftbcugung mit 
reduzierter Kraft möglich. Pat. und Ach. Refl. bds. lebhaft, links Babinski. 
Oppenheim normal. Rossolimo, Mendel. 

26. 10. 21. Angaben der Ehefrau: Kennt Pat. seit 25 Jahren. Alkohola- 
busus, war aktiver Musiker. War oft betrunken. Sehr aufgeregter Mensch, 
jedoch nicht tätlich, sorgte gut für die Familie. Seit 21 Jahren Pförtner. 



24 


Vor 1 Jahr Klagen über Kopfschmerzen und Schwindel, Dienst fiel ihm 
schwer. Vor % Jahren bewußtlos nach Hause gebracht, nach % Stunde 
kam er zu sich. Schon August 21 konnte er nicht richtig sprechen, konnte 
die Worte nicht herausbringen. Schweifte im Gespräch oft ab. Sonst keine 
Wesensänderung. Keine Größenideen. 

11. 10. 21 machte Pat. nachts Greifbewegungen, sagte, er habe einen 
Schlaganfall bekommen, die Sprache verschlechterte sich plötzlich, konnte 
nicht sagen, was er wollte. Keine Bewußtlosigkeit, sprach wirres Zeug. 
L. Arm und 1. Bein waren angeblich gelähmt. Einige Tage später Besserung, 
Sprache unverändert. — Von früheren Krankheiten nichts bekannt, auch 
nichts von Geschlechtskrankheiten. 2 gesunde Kinder, eine Fehlgeburt. — 
Keine Veränderung der Stimmungslage, ist ordentlich, solide gewesen, trank 
nicht mehr. — 1 Schwester des Pat. seit 26 Jahren in Irrenanstalt, ein Bruder 
..nervenleidend“. Eltern tot. Ursache unbekannt. 

Angaben des Sohnes: Seit 1 Jahr plötzlicher Stimmungswechsel bei dem 
Pat., schimpfte ohne Grund, war mürrisch. 1914 Trauma: fiel von der Straßen¬ 
bahn. Verletzung an der Nase. Keine weiteren Folgen. Keine Bewußtlosigkeit 
Bestätigt die Angaben der Mutter, Gedächtnis seit Aug. 21 nachgelassen. 

2. 11. 21. Stumpf-euphorisch, liegt teilnahmslos im Bett. Zeitlich und 
örtlich immer noch desorientiert. Aufmerksamkeit stark herabgesetzt, auch 
vrenn Pat. sich fixieren läßt. Keine richtige Deutung der Situation. Kein 
deliranter Beschäftigungsdrang. Bleibt nach einigen sprachlichen Persevera¬ 
tionen ohne weitere sprachliche Äußerungen liegen. Kommt einzelnen Auf¬ 
forderungen nach, befolgt andeie nicht, wiederholt, was man zu ihm spricht 
Erkennt ihm vorgehaltene Gegenstände. Sprache undeutlich, verwechselt 
Silben. Pat. Refl. sehr lebhaft, links mehr als rechts, keine Ataxie der 
unteren Extremitäten. Mendel angedeutet. Feinere Bewegungen der 1. Hand 
ungeschickter als rechts. Händedruck links weniger stark als rechts. 

24. 10. Blut Wa. stark positiv; Liquor: Wa. stark positiv. Ph. I. 
Trübung, starke Pleozytose. 

14. 11. Spricht abgehackt, Sätze enden in unverständlichen Worten. 
Vollkommen desorientiert Befolgt Aufforderungen manchmal erst, nachdem 
es ihm dreimal gesagt worden ist. Starker Rededrang, auch ungefragt 
Drängt heraus. Benennen einfacher Gegenstände richtig, statt Streichholz¬ 
schachtel „Streichhölzer“. (Was macht man damit?) öffnet sie, schließt sie: 
„Da sieht man nach.“ Murmelt unverständliche Worte. Aufforderung zu 
lesen: dreht das Lesestück nach allen Seiten, wendet es: ..Das kann ich auch 
nicht lesen.“ 

Urin: Leichte Trübung. 

17. 11. Dauernd delirant, legt die Bettdecken hin und her. Körper¬ 
liche Unruhe, zieht die Beine auf und ab, die Hände sind viel in Bewegung, 
will aus dem Bett. Er sei in der Kaserne, habe sein Geld bekommen, könne 
gehen. Verfällt bei den Situationsverkennungen in seine frühere Militärzeit 
zurück. Zeitlich und örtlich desorientiert, erkennt den Arzt richtig. — Die 
am 26. 10. begonnene Schmier- und Salvarsankur wird ausgesetzt. 

26. 11. 21. Immer noch desorientiert. Beschimpft seine Frau. Eifer¬ 
suchtsideen. Spricht mühsam, wiederholt einzelne Worte z. T. unverständlich. 

12. 12. 21. Seit gestern benommen. Reagiert nicht auf Nadelstiche 
und Ansprechen, Glieder fallen schlaff herunter, wenn man sie hochhebt. Pup. 



25 


L. R. schwach auslösbar. Macht Abwehrbewegungen bei der Prüfung. Läßt 
Stuhl und Urin unter sich. 

14. 12. Aus dem komatösen Zustand nicht wieder erwacht. Ruhige 
gleichmäßige Atemzüge. Puls in den letzten Tagen beschleunigt, aber von 
guter Füllung. Kampfer. Coffein. Exitus. 

Sektionsbefund: Kreislauforgane: Mesoartitis productiva der aufsteigen¬ 
den Aorta und des Aortenbogens, sowie der absteigenden Brustaorta, endend 
etwa 2 cm oberhalb des Zwerchfells mit starker Erweiterung der Aorta, die 
dicht über den Aortasegln 10 cm weit ist mit leichter Verzerrung und Ver¬ 
dickung des Aortensegels und starker Sklerose der ganzen Aorta, ganz aus¬ 
geprägt in der Baucbaorta, in Becken- und Oberschenkelarterien, in den 
Carotiden und Kranzschlagadem. Starke Sklerose der Gehirnschlagadern und 
der Verzweigungen in der Pia. Schwielen der Herzmuskulatur, Hypertrophie 
der Herzmuskulatur, Dicke an der Basis 16, an der Spitze 11 mm. 

Nervensystem und Sinnesorgane: chron. produktive rezidiv. Lcpto- 
meningitis und Perienzephalitis, bes. des Vorderhirns. Rezidiv, hämorrhag. 
Pachymeningitis. Starke Ependymitis granularis d. 4. Gehirnkammer, ge¬ 
ringe der Seitenkammern. Starke Atrophie der Gehirnrinde im Stirnhirn und 
im Gebiete des Zentralnerven. Zahlr. ältere hämorrhag. Erweichungsherde 
im Streifenbündel bds. und an der Gehirnrinde. 

Mikroskopisch: Lues cerebrospinalis. Die kleinen Hirngefäße zeigen an 
vielen Stellen ausgesprochene Endarteritis syphil. An einigen Stel¬ 
len kleine Blutungen aus den Gefäßen und völlige Obstruktionen des Lumens. 
Sekundäre Verödungen. 

Zusammenfassung Fall 1 u. 2. 

Im Fall 1 erkrankt der Pat., ein „solider“ ruhiger, abstinenter, 
aber verschlossener 29jähriger Vizefeldwebel, ganz akut, und die 
Krankheit endet nach stürmischem, deliranten Verlauf in 2—3 Wo¬ 
chen tödlich. Vor der Erkrankung soll Pat. schon längere Zeit sich' 
nicht wohl gefühlt haben. Körperliche Untersuchung wegen des 
dauernd erregten Zustandes nicht möglich. Zeit der Ansteckung 
nicht bekannt. Wa in Blut und Liq. positiv. 

Der Fall stellt einen typischen tödlich verlaufenden Rausch¬ 
zustand dar. Vom Resultat der pathologisch-anatomischen Unter¬ 
suchungen bekommen wir leider nichts anderes zu wissen, als daß 
„keine Paralyse“ vorlag. 

Schließlich muß wohl auch noch erwähnt werden, daß in diesen 
— wie in mehreren von den folgenden Fällen — ein Kopftrauma 
stattgefunden hatte. Pat. erhielt nämlich, allerdings 7—8 Jahre vor 
der letzten Erkrankung, mit einer Kreuzhacke einen Schlag auf 
den Kopf. Auch von einem „Anfall“ 2—3 Tage vor der letzten 
Aufnahme wird berichtet. Pat. sei auf dem Bett gelegen und soll 
sich „geschüttelt“ haben. 

Fall 2 stimmt in vielen Punkten mit dem ersten Fall überein, 
•der Verlauf ist aber mehr protrahiert. 



l’at., ein bereits 57jährigerPförtner, der selbst keine Mitteilungen 
machen konnte, und bei dem keine anamnestiscken Angaben bezügl. 
der Lues zu erhalten waren, soll immer ein sehr aufgeregter Mensch 
gewesen sein, der aber gut für die Familie sorgte: er soll starker 
Trinker gewesen sein. Im Alter von 50 Jahren — also wie in Fall 1 
etwa 7 Jahre vor der Erkrankung — Trauma: fiel von der Straßen¬ 
bahn; Verletzung an der Nase, aber keine Bewußtlosigkeit. 

1 Jahr vor der Erkrankung Klagen über Kopfschmerzen und 
Schwindel. Vor % Jahren bewußtlos nach Hause gebracht, kam 
nach */•» Stunde zu sich. Etwa 2 Monate vor der Aufnahme wurde 
bemerkt, daß er nicht richtig sprechen konnte. Gedächtnis schlechter. 

Bei der Aufnahme deutliche Zeichen von linksseitiger Hemipa¬ 
rese. Babinski links positiv. Sehncnreflexe erhöht. Pupillenreaktion 
links prompt wenig ausgiebig, r. träge, geringe Reaktion. Leichte 
Apraxie links, erschwerte Wortfindung, konfabuliert zusammenhang¬ 
los. völlig desorientiert. Sprache undeutlich. 

Während des ganzen Aufenthaltes im Krankenhaus (20. 10. bis 
14. 12. 20) delirant, unruhig, desorientiert. Kann jedoch einzelne 
Gegenstände benennen. Befolgt Aufforderungen nach mehrmaliger 
Wiederholung. 

Wa. R. in Blut und Liq. stark positiv. Exitus. 

Hier liegt möglicherweise eine Kombination von Lues mit 
Arteriosklerosis cerebri vor. Zerebrale Erscheinungen (Schwindel. 
Ohnmachtsanfälle, Sprachstörungen, Gedächtnisabnahme) traten 
1 Jahr vor der letzten Erkrankung auf. Diese muß wohl trotzdem 
als ein luetisch bedingter Verwirrtheitszustand betrachtet werden. 
Dafür spricht ja nicht nur die stark positive W. Rea. in Blut und Liq.. 
sondern vor allem die Sektion, die die Diagnose Lues cerebri be¬ 
stätigte. 

Der Fall verläuft nicht ganz so stürmisch, w r ie Fall 1. Bessere 
Tage, an denen Pat. etwas zu fixieren ist, wechseln mit schwer 
deliranten ab. Der Fall stellt somit den Verwirrtheitszustand in 
etwas sozusagen verdünnter Form dar und bildet hierdurch einen 
Pbergang zu den mehr protrahierten Fällen. 

Fall 3 ist akut verlaufend, nimmt aber einen günstigen Ausgang. 

Fall 3. M. M., Kaufmannsfrau. 47 Jahre.. Aufgen. 23. Mai 17. entl. 
27. Mai 17. Diagnose: „Luespsychose?“ 

Angaben des Sohnes: Pat. klage seit 4 Wochen über heftige Kopf¬ 
schmerzen, die sie darauf zurückführt, daß sie einmal Kopfläuse bekommen 
habe. Seit etwa % Jahr schlechtes Gedächtnis, wisse mitten im Satz nicht, 
was sie sagen wolle, vergesse auch, was man ihr erzählt habe. Äußerte Be¬ 
fürchtung, „Gehirnerweichung“ zu bekommen. Wollte einmal Gashahn auf- 
drelten. Vor kurzer Zeit habe Pat. „Influenza“ gehabt, habe viel über Kopf- 



27 


schmerzen. Frieren und Schüttelfrost geklagt Sei immer ein geselliger 
Mensch gewesen, habe eine ganze Gesellschaft unterhalten können. Seit eini¬ 
gen Wochen Klagen über schlechten Schlaf. — Früher immer gesund ge¬ 
wesen, von depressiven Phasen nichts bekannt. Normale Entwicklung, in 
der Schule gut gelernt Nach der Schulzeit Wäschenäherin, mußte auch in 
der Ehe mitarbeiten, da der Mann trank. Jetzt zum zweiten Male verheiratet* 
kinderlose Ehe. Im Kriege 5—6 Monate in einer Munitionsfabrik, dann 
krank, Klagen über allgemeine Schwäche, Appetitlosigkeit, Herzkrämpfe, das 
Herz setze immer aus. Kopfschmerzen und Schlaflosigkeit. März 16 wegen 
„Scharlach“ und Herzkrämpfe 4 Wochen im Krankenhaus; vor 4 Jahren Unter 
leibsoperation. 

23. 5. örtlich und über die Situation orientiert, zeitlich etwas ungenau. 
Entsinnt sich, vor kurzem in der hiesigen Poliklinik untersucht worden zu 
sein, gibt Einzelheiten darüber an. Als Grund der Einlieferung gibt sie an, 
„einen schrecklichen Traum“ gehabt zu haben: habe ihren Sohn zu Hause 
deutlich schreien hören, sei in großer Angst gewesen, weil ihr Sohn geköpft 
und sie selbst habe verstümmelt werden sollen. Pat. kann nicht genau ab¬ 
grenzen, wieweit ihre traumhaften Erlebnisse sich vor oder nach dem Trans¬ 
port in die hiesige Klinik abgespielt haben. Habe deutlich gehört „Ernst 
Rad am (Sohn) erst verbrühen, dann Nase wegschneiden, dann köpfen, dann 
in die Hölle, dann in den heißen Ofen“. Habe geglaubt, ihren Sohn dadurch 
retten zu können, daß sie alle Gegenstände aus ihrer Wirtschaft hierherbringe. 
Habe alle Gegenstände hierhergebracht (in Gedanken), habe immer Angst 
gehabt, daß sie nicht das Richtige bringe. Stimmen hätten jedoch darauf be¬ 
standen, daß der Sohn geköpft werden solle. Erzählt von Erlebnissen auf der 
Hautklinik: man habe ihr ein Kind gezeigt, das aber keins gewesen sei, es 
habe von vorn wie eine Puppe ausgesehen. Habe ihr Hemd zerrissen, weil 
man sie wegführen wollte, „von einem Kerker in den anderen“, weil sie er¬ 
zählen sollte, wie Salvarsan entstanden sei, über den Erfinder *und über die 
Salvarsaninjektion. Sie habe „Schüttelfrost“ bekommen und 2 Decken ver¬ 
langt, die Schwester habe ihr das abgeschlagen. Das Mittagessen hier (gibt 
richtig an, was es war), habe Bie abgeschlagen, da sie noch „keinen Verstand“ 
hatte. Das erste, an das sie sich erinnern könne, sei, daß sie „nackt dage- 
sessen habe“. Nachdem sie ihr Sohn besucht habe, habe sie gewußt, daß 
alles „nur ein Traum“ gewesen sei. Stimmen und sonstige Halluzinationen 
für die Zeit der Krankheit werden negiert. 

Berichtet, daß sie 2- oder Bmal zu Haus auch „schreckliche Träume“ 
gehabt habe, auf deren Inhalt sie sich nicht besinnen will. 

Bestätigt die anamnestischen Angaben der Angehörigen. Sie habe bis 
zuletzt keinerlei Schwierigkeiten beim Einkauf gehabt, habe sich mit den 
Lebensmittelkarten gut zurecht gefunden. 

Ist über die politischen Ereignisse etc. gut orientiert. Rechnen gut. 
Merkfähigkeit nicht besonders gestört. Nachsprechen von Paradigmata 
fehlerlos. 

Luetische Infektion vor 6X* Jahren (in 2. Ehe). In erster Ehe 9 Aborte, 
4 Partus (2 klein gestorben). Vor 7 Jahren Gebärmutter und Eierstöcke operativ 
entfernt, soll „Polypen am Uterus“ gehabt haben. Vorher braungelber Ausfluß. 

Somatisch: Am Nervensystem kein pathologischer Befund. Innere 
Organe o. B. — Vorher auf der Hautklinik, mehrere Hg.-Kuren durchgemacht, 
letzte 1916, die wegen Stomatisis unterbrochen werden mußte. Jetzt wieder in 



28 


der Hautklinik Hg.-Kur und Salvarsan. Wegen der oben geschilderten Ver¬ 
wirrtheitszustände zur psychiatr. Station verlegt 

Zusammenfassung Fall 3. 

Diagnose: Luespsychose. 

47jährige Kaufmannsfrau. Immer gesund; ein geselliger Mensch. 
2 mal verheiratet. Lues vor 6 x /2 Jahren. 

Seit Vs Jahr schlechtes Gedächtnis, wisse mitten im Satz nicht, 
was sie sagen solle. Seit 4 Wochen heftige Kopfschmerzen. Vor 
kurzer Zeit auch akute Infektionskrankheit (Influenza?). 

23. 5. bis 27. 5. 17 in der Charite, überführt von der Hautklinik, 
in der Pat. antiluetische Behandlung erhielt. Daselbst plötzlich 
ängstlich verwirrt. Hatte schreckenhafte Halluzinationen, hörte 
deutlich Stimmen: „Ernst Radam (Sohn) erst verbrühen, dann Nase 
wegschneiden, dann köpfen, dann in die Hölle, dann in den heißen 
Ofen.“ Verwirrte Handlungen. Hemd zerrissen, flüchtige Wahnideen. 

In der Charit^ ziemlich ruhig, orientiert, zeitlich nicht genau. 
Rechnen, Merkfähigkeit gut. Keine Sprachstörung. Negiert Hallu¬ 
zinationen. Alles sei nur ein Traum gewesen. Nervenstatus o. B. 
Entlassen nach 4 Tagen. 

Der Fall muß als ein akuter Verwirrtheitszustand auf luetischer 
Basis aufgefaßt werden. Er ähnelt stark dem Fall 4 bei Marcus, 
der auch in kurzer Zeit abklang. Auslösend oder mitwirkend lag 
hier kurz vor dem Ausbruch der Krankheit eine akute fieberhafte 
Infektion vor. 

Im Krankheitsbilde waren die Halluzinationen so stark hervor¬ 
tretend, daß man fast versucht wäre, ihn als Halluzinose aufzufassen. 
Dagegen spricht jedoch vor allem das völlig verwirrte Benehmen 
der Kranken, das sich m. E. nicht mit der Diagnose der Halluzinose 
vereinigen läßt. . 

Fall 4. W. Ph., 28 Jahre alt, Schaufenster-Dekorateur, aufgen. 24. 6. 
20, entl. 12. 8. 20. Lues cerebri. Pseudobulb. Sprache. 

Angaben des Vaters: (Gibt einen ziemlich verworrenen Bericht, zeigt 
Neigung, seinen Sohn herauszustreichen.) Pat. hat früher ein flottes Leben 
geführt, mit 20 Jahren 400 Mark monatlich als Dekorateur verdient. Viel ge¬ 
raucht. 1912 luetische Infektion. Sehr viel Kuren (10) und Krankenhaus¬ 
behandlung deswegen. Frühjahr 1914 Schlaganfall. Vor 3 Jahren ira Virchow- 
Krankenhaus wegen seines schlechten Laufens. Im Jan. v. J. Trauma: Ver¬ 
letzung an Ohr und Hinterkopf. Wieder 6 Mon. im Virchow-Krankenhaus. 
Bis dahin als Bürovorsteher tätig in voller psychischer Rüstigkeit. Dann 
arbeitslos zu Haus, ging am Stock. Vor 4 Wochen Grippe, deswegen Kran¬ 
kenhausaufnahme, dort delirantes Bild, seitdem Sprachstörung. Gedächtnis¬ 
nachlaß, Verlust der geistigen Auffassung und Klarheit werden vom Vater 
streng verneint. Das 1. Bein sei bis vor der Grippe ganz gesund gewesen. 



29 


Somatisch: Großer, hagerer Patient in mäßigem Ernährungszustände, 
kräft Knochenbau. Alte Narbe hinter r. Ohrmuschel (Operation). Pup. 
mittelweit, gleich, ziemlich rund. Lichtreakt. fehlt bds., Conv. Rea. bds. vor¬ 
handen. Augenbewegungen frei. Zunge weicht etwas nach links ab. Sprache: 
nasal, langsam, schwerfällig. Beim Nachsprechen schwieriger Paradigmen 
unscharfes Verbinden der einzelnen Laute. Keine aphasischen Störungen. 

Arme: Tonus rechts >. links, grobe Kraft 1 > r. Keine Atrophie. 
Keine Ataxie. Armreflexe rechts Spur lebhafter als links. 

Untere Extr.: Tonus rechts > links, grobe Kraft 1 > r. Keine Atrophie, 
keine Ataxie. Sensibilität o. B. 

Pat. Refl. lebhaft bds., rechts > links, kein Klonus. Ach. Refl. bds. 
gesteigert, Klonus, rechts > links, ziemlich lange andauernd, gleichmäßig. 
Kein Oppenheim. Babinski pos. bds., r. deutlicher als links. Mendel-Bechte¬ 
rew rechts deutlich, links negativ, Rossolimo desgl. Gang spastisch-pare- 
tisch, geht schlürfend. Wenig Bewegung im Kniegelenk. Füße werden kaum 
vom Boden abgehoben. 

27. 6. Nachts ängstlich erregt, schrie „sie wollen mich totmachen 4 *, es 
liege jemand unter seinem Bett, der ihn töten wolle. Morgens weiterhin 
ängstlich, man werde seine Eltern nicht hereinlassen, sagen, daß er bewußtlos 
sei. 29. 6. Schlaf nach Schlafmitteln gut. Normales Verhalten. 1. 7. Lumbal¬ 
punktion. 5 ccm, klar, etwas erhöhter Druck. Ph. I. Trübung. Mittelstarke 
Lymphozytose. Wa. stark pos. 3. 7. Ängstliche Verfolgungsideen: im Essen 
sei Veronal, merke es daran, daß er gleich nachher einschlafe. Solle von 
der Reichswehr in einem Auto durch die Stadt gefahren und ans Krouz ge¬ 
schlagen werden; man wolle durch die Tür schießen. Sein Rückenmark solle 
herausgerissen werden, örtlich und zeitlich orientiert Hat — nach Pfleger¬ 
bericht — ein paarmal seinen Namen rufen hören. Dauer solcher Zustände 
24 Stunden und länger, Zwischenzeiten frei. 

15. 7. 20. Zeitweilig sehr unruhig und ängstlich, verläßt oft das Bett, 
heftiges Weinen und Schluchzen, er habe Gift im Körper, im Essen sei auch 
Gift. Nahrungsaufnahme und Schlaf mäßig. 

16. 7. Wieder freier. Freut sich, daß ein Mitkranker ihn für einen 
Kriminalbeamten hält. Stuhlgang schlecht, Einlauf. 

21. 7. Wieder ängstlich. Steht am Fenster, schaut hinaus. Äußert nur 
auf Befragen ängstliche Vorstellungen. 

29. 7. 2 Tage frei von Angst, lächelt über seine ängstlichen Ideen. 

Heute erneut ängstlich, ißt schlecht, es sei Gift im Essen. 

5. 8. Ablehnend. Nahrungsaufnahme verweigert. 

6. 8. Möchte aufstehen, hat Krankheitseinsicht 

12. 8. Bis heute psychisch frei geblieben. 

12. 8. Auf Wunsch des Vaters entlassen. 

Zusammenfassung Fall 4. 

Wir finden einen 28jährigen Mann, der ein flottes Leben geführt 
und viel geraucht hat. Lues mit 20 Jahren. 2 Jahre später rechts¬ 
seitige Hemiplegie. 4% Jahre später, also etwa 1*/* Jahr vor der 
jetzigen Erkrankung Trauma: Verletzung am Ohr und Hinterkopf. 
Vor 4 Wochen wegen Grippe aufgenommen in ein Krankenhaus. 



30 


Ein delirantes Bild entwickelte sich, weshalb Pat. in die Charite 
verlegt wird. 

Hier bds. lichtstarre Pupillen, gesteigerte Sehnenrcflexe. 
Babinski bds. positiv. Sprache, langsam schwerfällig, nasal. Resi¬ 
duen einer rechtsseitigen Lähmung. 

VVa Rea in Blut und Liq. stark positiv. 

Psychisch wechseln Tage und Nächte großer ängstlicher Er¬ 
regung mit flüchtigen depressiven Wahnideen mit ruhigen besonne¬ 
nen Tagen ab. Hört auch ein paarmal seinen Namen rufen. Ist 
jedoch örtlich und zeitlich orientiert. 

Wenn ich den Fall trotz der nur gering ausgesprochenen 
Symptome zu dem exogenen Reaktionstypus rechne, so geschieht es, 
weil erstens die Symptome auf eine Lockerung des seelischen Ge¬ 
füges verbunden mit einer ängstlichen Erregung zurückzuführen 
sind, weil zweitens der Fall weder als eine Depression, noch eine 
paranoide Erkrankung angesehen werden kann, dazu ist die Stiin- 
mungslage zu inkonstant und labil, die Wahnideen zu flüchtig, und 
die Halluzinationen viel zu wenig ausgesprochen, drittens weil der 
Fall doch stark mit denjenigen übereinstimmt, die Marcus zu 
seinen „Verwirrtheitszuständen“. Walther zum exogenen Reak¬ 
tionstypus führt. 

In Marcus Fall II lag eigentlich keine Verwirrtheit vor. 
sondern der Pat. war stumpf, apathisch, traumhaft. Trotzdem und 
obwohl seine übrigen Fälle viel stärker verwirrt seien, findet Mar¬ 
cus. daß der Fall zur „Amentia Meynerts“ gehört, in der auch 
„asthenische und stuporöse“ Fälle Platz finden. Als charakteristisch 
für die luetischen Verwirrtheitszustände hebt Marcus weiter das 
äußerst Wechselnde. Sprunghafte, Launische im Bilde hervor. Dies 
kam ja auch in meinem Falle zum Vorschein. 

Der Fall 10 bei Walt, her, der einzige von seinen 12,den er als 
einen deutlich exogenen Reaktionstypus ansieht, ähnelt sehr dem obigen. 

43jähriger Mann. Vor 3 Jahren Sprachstörung. Konnte 1 Tag 
lang nicht, sprechen. Vor 3 Monaten Doppelsehen, etwas später 
Kopfschmerzen, Erbrechen, Schwindelgefühl. Nach 2 Wochen nach 
diesen Erscheinungen psychischer Störungen desorientiert, unruhig. 
Selbstmord- und Verfolgungsideen. — Bei der Aufnahme April 1909 
Augenmuskelstörungen, Fazialisparese, rechtsseitige leichte Parese. 
Bl. Wa. R. pos., Liq. Wa. R. neg., aber Zellvermehrung. Ph. I + 
Psychisch unruhig, spricht dauernd, desorientiert, ab und zu ver¬ 
wirrt. Glaubt immer eines Mordes schuldig zu sein, weint. Nach 
Schmierkur bedeutend besser. — 2 Jahre später gesund. 



Auch hier also keine starke Ausprägung der Verwirrtheitserschei 
nungen, die jedoch deutlich genug ausgesprochen sind, um die Zu¬ 
ordnung des Falles zu unserer Gruppe zu berechtigen. 

Über weitere Fälle verfüge ich nicht. Aus diesem Grunde ver 
zichte ich auf eine zusammenfassende Darstellung des luetischen 
exogenen Reaktionstypus, die sielt wesentlich auf Literaturforschung 
stützen müßte. Der letale Ausgang in zwei von meinen vier Fällen 
darf keineswegs im Sinne einer sehr ernsten Prognose verallge¬ 
meinert werden, ln Walthers Fall trat Heilung ein, gleichfalls 
in 14 von Marcus 17 Fällen. Ebenso bestand in einem Fall- 
Meyers die Heilung wenigstens 5 Jahre. Wie sich die Zukunft 
des Kranken gestaltete, ob die durchgemachte Krankheit den Boden 
für irgendwelche andere luetische Gehirnerkrankungen vorbereitete, 
geht aus den Krankengeschichten nicht hervor. 

Als eigenartiges, wahrscheinlich aber nicht .bedeutungsloses 
Moment kam in drei von meinen vier Fällen ein Kopftrauma vor. 

Ehe ich zur folgenden Gruppe gehe, will ich kurz auf die 
Pathogenese unserer Fälle eingehen. 

Die exogenen Reaktionsbilder entstehen bekanntlich als Ant¬ 
wort auf die verschiedensten Einwirkungen meistens infektiös-toxi¬ 
scher Art. Wie verhält sich aber das krankmachende Agens bei der 
Lues cerebri? Sind es die lokalen entzündlichen Erscheinungen, 
oder Zirkulationsstörungen oder noch irgendwelche andere Momente, 
die krankheitsauslösend wirken? Oder haben wir mit toxischen 
Wirkungen zu tun? 

Ich glaube, daß die bis jetzt vorliegenden pathologisch-anato¬ 
mischen Untersuchungen eine gewisse Leitung zur Beantwortung der 
Frage werden geben können. 

Bereits Heubner fand in seinen Rauschzuständen, die ich 
ähnlich wie Wimmer zu den exogenen Reaktionstypen zählen will, 
syphilitische Neubildungen, und zwar meistens an der Basis. „Ganz 
besonders gewöhnlich“ aber lagen syphilitische Arterienerkrankun¬ 
gen in.den Häuten und Erweichungen, Infarkte u. ä. in den großen 
Ganglien vor. Die Hirnrinde soll aber Heubner zufolge verhält¬ 
nismäßig frei von Veränderungen gewesen sein. 

In anderen Fällen aber finden wir bei einem ungefähr ähnlichen 
klinischen Bilde andersartige pathologisch-anatomische Bilder. 
Krauses Arbeit liefert uns in dieser Hinsicht wertvolle Aufklärun¬ 
gen. Auch bei Schroeder finden wir manche feine Bemerkungen. 

Fall 2 (bei Krause). Nach langdauernden Kopfschmerzen 
und Schwindelanfällen entwickelte sich einige Wochen vor dem 



32 


Tode ein deliranter Zustand, der in Sopor überging. Nach vorüber¬ 
gehender Besserung wieder tiefe Verwirrtheit und schwere Unruhe. 
Exitus. 

Pathologisch-anatomisch liegt ein Gumma an den Häuten der 
Konvexität des Stirnlappens vor. 

Fall 5 (Krause). Etwa 2 Wochen Unruhe und motorische 
Erregung, dann delirante Verwirrtheit, die nach 14 Tagen zum Tode 
führt. Die Sektion zeigt einen chronischen, an der Basis tumorarti¬ 
gen Entzündungsprozeß, der auch an der Konvexität „an keinem 
Teile“ vermißt wurde. 

Fall 14 (Krause). Etwa 8—9 Monate nach der Ansteckung 
stürmischer akuter Verwirrtheitszustand, der in einigen Tagen zum 
Tode führt. Pathologisch-anatomisch: intensive Meningitis, außer¬ 
dem „in nicht erheblichem Grade“ entzündliche Vorgänge an dem 
mesodermalen Gewebe und an den Gefäßen. 

Fall 10 (Schroeder). Verwirrtheitszustand in acutissima 
forma, wilde Jaktationen, bald rasch zunehmende Somnolenz und 
Coma. Exitus. — Bei der Sektion findet man an zahlreichen Stellen 
Veränderungen an den Arterien, die alle den Charakter der gum¬ 
mösen Neubildung tragen. 

Fall 4 (Schroeder). Nach einjährigen Vorboten von 
Reißen, Kopfschmerzen und Angstgefühl plötzlich schwerer Ver¬ 
wirrtheitszustand; dann vorübergehend Besserung. Bald wieder hoch¬ 
gradige Erregung, schlägt ein paar Scheiben ein, schreit usw. 
Exitus nach etwa zwei Monaten. 

Bei der Sektion makroskopisch nichts für Paralyse, aber auch 
nichts für die gewöhnlichen Formen von Lues cerebri. Mikrosko¬ 
pisch: auffallend wenige Veränderungen, was in bemerkenswertem 
Kontrast zu der Schwere der Erscheinungen in vivo steht. Es 
handelt sich um geringe Infiltrationen und eine leichte Verdickung 
der Pia, und alsdann um Veränderungen, die als paralytisch ange¬ 
sehen werden können. Aber: in sehr geringer Ausprägung und nur 
„auf einem Teil der Schnitte“. Dagegen konnten auf „sehr großen 
Strecken“ der Gehirnrinde weder Infiltrationen, noch Gewebsunter- 
gang nachgewiesen werden. 

F a 11 9 (W a 11 h e r). Nach kurzen halluzinatorischen Vorboten, 
die jedoch später in den Hintergrund traten, ängstlicher und leicht 
verwirrter Erregungszustand mit etwas schwankendem Verlauf. 
Exitus nach etwa 3 Monaten. Die Sektion ergab eine — nicht sehr 
ausgedehnte entzündliche Infiltration der Meningen. 



38 


Fall 17 (Marcus). Ganz akut verlaufender schwerer Ver¬ 
wirrtheitszustand, der in 7 Tagen zum Tode führt. — Pathologisch¬ 
anatomisch: Basalmeningitis. An den Zellen der Hirnrinde Verände¬ 
rungen, die von Marcus als „Reizzustand“ bezeichnet werden. 

In meinem Fall 1 fand sich bei der Sektion (leider nur 
spärliche Notizen) geringe fibröse Verdickung der Pia und starke 
Hyperämie des Gehirns. Mikroskopisch „keine Paralyse“. 

Im Fall 2 lag pathologisch-anatomisch eine chronische 
Leptomeningitis und Perienzephalitis vor. • An vielen Stellen ausge¬ 
sprochene syphilitische Endarteritis. 

Die pathologisch-anatomischen und mikroskopischen Befunde 
zeigen also, daß die verschiedenartigsten luetischen Veränderungen 
des Gehirns ein recht einförmiges klinisches Bild erzeugen können. 
Wir finden — auffallend oft — Veränderungen an der Basis in Form 
von meningitischen und gummösen Prozessen, weiter endarteritische 
und gummöse Gefäßveränderungen, ein Gumma an der Konvexität 
des Stirnhims. Und die Veränderungen können, wie im Fall . 4 von 
Schroeder und in Walthers Fall verhältnismäßig gering 
sein bei den schwersten klinischen Erscheinungen. In dem einen 
Fall Sehroeders lagen sogar paralytische Veränderungen leich¬ 
terer Art vor, also auch hier exogene Reaktionsbilder. 

Alles dies scheint mir darauf zu deuten, daß wir die Symptomen- 
bilder des luetischen exogenen Reaktionstypus als toxisch bedingte 
aufzufassen haben. Wahrscheinlich kommen andere mitwirkende 
Faktoren, Zirkulationsstörungen, Hyperämie, Schwellung, Lymph- 
stauung, Hirndruck usw. auch in Betracht. Hauptsächlich haben 
wir hier wohl doch mit toxischen Schädigungen zu tun. Marcus 
sah Reizungserscheinungen an den Ganglienzellen, auch da, wo 
keine entzündlichen Prozesse sichtbar w r aren. Und Krause sagt 
bei der Besprechung seiner Fälle 13 und 14, „ich kann mich nicht dem 
Eindruck entziehen, daß eine Schädigung wahrscheinlich toxischer 
Art das nervöse Parenchym betroffen hatte“. 

Epileptisck-dämmerzustandsartige Verwirrtheitsbilder. 

In meiner Kasuistik finden sich zwei Fälle dieser Art. 

Fall 5. R. M., Kunstmaler, 41 Jahre. Aufgen. 3. 8. 22, entl. 19. 9. 22. 

Diagnose: Lues cerebrospinalis. 

3. 8. Angaben der Ehefrau: Kennt den Mann seit 1915, seit 6 Jahren 
verheiratet. Vor 10 Jahren luetische Infektion. Innerhalb 4 Jahren 4 Kuren. 
Von jeher leicht erregbar, doch leicht zu beruhigen. Immer gleichmäßig 
lebhaft, kein jäher Stimmungswechsel. Arbeitete viel, besonders in letzter 
Zeit, sorgte gut für die Familie. Glückliche Ehe. Herbst 1921 konnte er 
plötzlich nicht mehr unterrichten, verstand alles, fand die Worte nicht. 

Pa britius, Zur Klinik der aichtparalytlschen Lues-Psychosen. (Abhandl. H. }<) 3 



— 34 


Dauer etwa Stunde. Pat hatte Kritik dafür. Anfang 22 ähnliche Störung 
von minutenlanger Dauer, oberflächlicher als vorher, glaubte, es sei vom 
vielen Rauchern — Vor 2 Jahren änderte Pat seine künstlerischen Anschau¬ 
ungen. Damals nervös, erregbar. Dann wieder ruhiger. Juli 22 sehr über¬ 
arbeitet gewesen, nicht besonders auffällig, etwas „nervös“. 16. 7. vorüber¬ 
gehende Sprachstörung. 21. 7. plötzlich grundloses Lachen. Ging schwer¬ 
fällig, „wie umnebelt“. Bewußtseinsverlust, Zuckungen in den Extremitäten, 
Schaum vor dem Mund, Zungenbiß, unwillkürlicher Urinabgang, Gesicht stand 
schief. Dauer: einige Minuten. Kurz darauf 5—6 Anfälle, ohne das Bewußt 
sein wieder erlangt zu haben. Wurde erregt, schlug um sich, reagierte nicht 
auf Anruf. Am nächsten Tage Amnesie, sprach klar. 2 Tage darauf sprang 
Pat. aus dem Fenster, verkannte die Situation, glaubte hypnotisiert zu sein. 
In den letzten Tagen wieder klar. Nach Sanatoriumsaufenthalt Besserung: 
gegen früher unverändert, keine Veränderung im Sinne der progressiven 
Paralyse. Libido unverändert. — Früher nicht ernstlich krank gewesen; kein 
Potus; starker Raucher. 2 gesunde Kinder, kein Abort. Keine Nerven- oder 
Geisteskrankheiten. 

Angaben des Pat.: Über Lues die gleichen Angaben wie Ehefrau, bis 
Herbst 21 keine Erscheinungen. Dann plötzlich Bewegungsstörungen in der 
r. Hand, konnte Gegenstände nicht festhalten. Sprach ruckweise, konnte 
nicht anders sprechen, wußte, was er sagen wollte. Dauer etwa Vk Stunde. 
— 21. 7. 22 litt er unter starker Hitze, „der Kopf war nicht ruhig 4 *. Weiß 
von dem Anfall nichts mehr, erst im Krankenhaus zu sich gekommen. Glaubte, 
vom Mitpatienten hypnotisiert zu werden, glaubte im „Halbschlaf“ seinen 
Paß verloren zu haben, nahm an, daß Mitpatient ein Mörder sei. „Heute halte 
ich es für unmöglich.“ Sprang aus dem Fenster, rief um Hilfe. — Erinnert 
sich gut an den darauf folgenden Sanatoriumsaufenthalt, Längeres Reden 
strenge ihn an. Keine Kopfschmerzen, kein Schwindel, „dumpfes Gefühl im 
Kopf*. Viel gearbeitet in letzter Zeit, war Schüler von Corinth, jetzt Expres¬ 
sionist Schwere innere Kämpfe, bis er sich dazu durchgerungen. Kurz nach 
der luetischen Infektion vor 10 Jahren Lähmung der linken Gesichtshälfte. 
Sonst nie ernstlich krank. 

4. 8. 22. Lumbalpunktion: 5 ccm klarer Liquor, kommt im Strahl. 
Sprache etwas getragen, verlangsamt. Testworte werden richtig nachge¬ 
sprochen, leicht abgehackt 

Rechenaufgaben: prompte Lösung. Zahlenmerken gut Krankheiteein 
sicht für den Dämmerzustand, gute Kritik für die krankhaften Erscheinungen. 
Hofft gesund zu werden. Stimmungslage vielleicht etwas stumpf, erklärt 
sein Verhalten mit den neuen Eindrücken auf der Abteilung. 

Somatisch: Ziemlich kräftig, etwas hager. Kopf freibeweglich. Pupillen 
rund, bds. gleich. L. R. und C. R. prompt. Fundus o. B. Augenbewegungen 
frei. Fazialis: l. Nasolabialfalte stärker ausgeprägt als rechts, ab und zu 
Zuckungen in den Muskeln aller Äste inkl. Platysma. Geringe Parese der 
3 Äste (8. Anamnese). Arme: Reflexe gesteigert sonst o. B. Sensibilität am 
Rumpf normal. Geringe Hypotonie der unteren Extremitäten. 

Pat. und Ach. Refl. fehlen bds. Bei der Prüfung zuckt Pat ab und zu 
zusammen. Keine Ataxie, Gang o. B. Innere Organe o. B. Blut — Wa.: 
stark positiv (Neosilbersalvarsankur). — Lumbalpunktion: 18. 8. 22 stark 
pos. Pli. 1. starke Trübung, starke Lymphozytose. 



35 


Lumbalpunktion: 11. 9. 22 stark pos. 

Ph. I. deutliche Trübung, mittl. Lymphozytose. 

5. 8. Wollte gestern erst Frau fragen, ob er sich punktieren lassen 
solle, habe aus Äußerung des Oberpflegers entnommen, daß er dabei sterben 
müsse. — Hält an seinen Beziehungsideen fest. Kritik setzt erst spät ein. 

16. 8. Höre die Unterhaltung der Patienten im Nebenraum auf eigen¬ 
artige Weise; er vernehme kurze, ruckartige, schnell aufeinander folgende 
Laute, die er nicht als Worte identifizieren könne, nach einer Anzahl Laute 
komme eine Pause, dann wieder dieselben Wahrnehmungen. Nur im Liegen 
diese Erscheinungen, sonst nicht. Höre manchmal Laute „wie durch einen 
Schleier hindurch“. Ihm sei nicht aufgefallen, daß etwas auf ihn bezogen 
werde. Deswegen nicht sehr beunruhigt, schläft gut. Nachts keine solchen 
Wahrnehmungen. 

20. 8. Seit gestern keine Gehörswahrnehmungen, kann keinen Grund 
dafür angeben. Fühlt sich wohl, es gehe ihm „ausgezeichnet“. — Schlaf gut. 

19. 9. 22. Neosilbersalvarsankur beendet. Wohlbefinden; völlig ge¬ 
ordnet. Hält auf Wunsch einen sehr anregenden Vortrag über Expressionis¬ 
mus. Glaubt die Gehörswahrnehmungen auf die Kur zurückführen zu müssen. 
Sei im Anfang in der Klinik empfindlich gewesen, habe wohl nicht das rich¬ 
tige Vertrauen gehabt. Sprache ungestört. Möchte noch bei seinem Schwa¬ 
ger (Arzt) Hg.-Schmierkur und Neosalvarsankur durchführen. Gebessert 
entlassen. 


Zusammenfassung. 

F a 11 5. Diagnose: Lues cerebrospinalis. 

41jähriger Kunstmaler. Lues mit 31 Jahren. Kurz danach 
Lähmung der linken Gesichtshälfte. Leicht erregbar, lebhaft. 
Potus neg. 

Herbst 21 konnte er plötzlich während *4 Stunde Worte nicht 
finden, verlor Gegenstände aus der rechten Hand. Anfang 1922 ähn¬ 
licher Anfall, leichter. Juli 22 auffallend „nervös“. 16. 7. Sprach¬ 
störung. 21. 7. plötzlich grundloses Lachen. Kurz danach großer 
epileptischer Anfall, dem sich bald 5—6 neue Anfälle zugesellten, 
ohne daß Pat. das Bewußtsein wiedererlangt hatte. Danach Däm¬ 
merzustand. Am folgenden Tage klar. 2 Tage darauf sprang er aus 
dem Fenster, verwirrt. Nach Sanatoriumsaufenthalt besser. 

3. 8. bis 19. 9. 22 in der CharitA Krankheitseinsicht für den 
Dämmerzustand. 

Somatisch: Pupillen o. B. Leichte Residuen einer linksseitigen 
Fazialisparese. N. S. sonst o. B. 

Wa. R. in Bl. und Liq. stark pos. Ph. I starke Trübung. Starke 
Pleocytose. 

Psychisch: leichte Beziehungsideen und unbestimmte Gehörs¬ 
täuschungen. Gebessert entlassen. 

3 * 



36 


Der Fall ist in jeder Hinsicht typisch. Hier kommen Anfälle 
und postparoxymale Dämmerzustände sowie selbständige äquivalente 
Verwirrtheitszustände vor. 

Fall 6. P. S., 38 Jahre alt, Schlosser. Aufgen. 5. 4. 18, entl. 5. 11. 18. 
Luespsychose. 

Angaben der Frau: 1 gesundes Kind von 8 Jahren, 1 Fehlgeburt im 
4. Monat. Über Geschlechtskrankheiten ist ihr nichts bekannt. Pat. war 
auch sonst nie krank. War im Kriege von 14 ab, soll Jan. 17 den ersten 
Anfall bekommen haben: ist plötzlich umgefallen, hat mit den Armen um sich 
geschlagen, wußte nach dem Anfall nicht, was geschehen war. Am gleichen 
Tage 2. Anfall. Ref. weiß nichts über die Dauer des Anfalls. Pat. kam in 
Nervenheilanstalt. Erkannte dort seine Frau nicht, war aggressiv. Wurde 
später als ungeheilt entlassen. War 1 Monat bei seiner Frau, es fiel ihr 
nichts Besonderes an ihm auf. Pat. wollte sich noch erholen, arbeitete 
nicht viel. 

Okt. 17 Klagen über erschwertes Gehen, Fußgelenk schwoll an, kam ins 
Krankenhaus. Dann wieder zu Haus, fühlte sich wohl. 5. 4. 18 Anfall: als 
Ref. den Mann von der Feldarbeit abholen wollte, lag er auf der Erde, 
krümmte sich, wollte die Schuhe ausziehen, wälzte sich am Boden, machte zu¬ 
weilen die Augen auf, auf Fragen keine Reaktion, Blut tief aus dem Mund. 
Deswegen hierher gebracht, im Wagen unterwegs Kot und Urin unter sich 
gelassen. Vor diesem Anfall keinerlei Auffälligkeiten. 

Status: Kräftiger Knochenbau, gute Muskulatur, guter Ernährung* 
zustand. An vielen Körperstellen Ekzem. Pup. rund, rechts weiter als links, 
reagieren wenig prompt und unausgiebig auf Licht und Konvergenz. Tiefe 
Bißwunde auf der Zunge. Alle Reflexe vorhanden, kein Unterschied zwischen 
beiden Seiten. Links schlecht geheilter Knöchelbruch mit Subluxation des 
Fußes nach innen. Schmerz- und Bertihrungsempflndung nicht gestört. 

Angaben des Pat: Gibt über seine Geburt und seine Berufsbildung 
klar und sachlich Auskunft. Im Sommer 16 Doppelsehen. Berichtet über 
den Anfall im Jan. 17 wie die Frau, auch über die darauf folgende Zeit bis 
zur Aufnahme hier berichtet er den Angaben der Frau entsprechend. Ent¬ 
sinnt sich, daß er am Tage vorher auf seinem Laubenland einen Schlüssel 
gemacht habe, wisse weiter nichts, sei nur erstaunt gewesen, daß er jetzt im 
Krankenhaus sei. 1903 Schanker, vom Arzt mit Pulver äußerlich behandelt, 
keine spezifische Kur. Sonst nie ernstlich krank gewesen. Pat seit 1909 
verheiratet vorher Blut Wa. neg. Alkohol- und Nikotinabusus negiert. 

Ist über politische Ereignisse sehr gut orientiert drückt seine Unzu¬ 
friedenheit über dies und jenes auB, kommt dabei immer wieder mit Gedanken¬ 
gängen, die in keinem Zusammenhang mit der Politik stehen. 

Wassermann im Bl. stark pos. Lumbalpunktion 5 ccm, klar. Nonne- 
Apelt starke Trübung. Starke Vermehrung der Lymphozyten. Wa. R. stark pos. 

16. 4. 18. Fühlt sich gesund. Frau habe einen Fehler begangen, ihn 
hierherzubringen, erzählt dann in schwachsinniger, kritikloser Weise über 
Aufenthalt im anderen Krankenhause. Rechen- und Merkfähigkeit nicht grob 
gestört sagt die Monate rückwärts prompt und fließend auf. Aufgefordert 
berichtet Pat. über den Krieg ausführlich, zeigt sich gut orientiert ist jedoch 
weitschweifig, es fehlen ihm oft die passenden Ausdrücke, Redeweise des- 



37 


wegen etwas geschraubt, es besteht leichte artikulatorische Unsicherheit, 
bleibt häufig an den Anfangssilben der Worte hängen, schmiert auch die 
Silben ineinander. Uneinsichtig bezügl. seines Aufenthaltes hier, schimpft 
Aber Irrenanstalt Teupitz, in der er war, klagt über seinen Zustand, weint 
und jammert. Ist nicht ablenkbar. Auf Vorhalt, daß er während seines 
Lazarettaufcnthaltes den Arzt für Prinz Heinrich gehalten habe, gibt er an, 
es seien ihm damals solche Gedanken gekommen, er habe Stimmen gehört, 
ohne die Menschen zu sehen, es sei so gewesen, als wenn ein Sprechapparat 
aufgestellt gewesen sei, habe elektrischen Strom empfunden, die Fenstel seien 
von selbst „wie elektrisiert“ aufgegangen, „es muß eine elektrische Zelle ge¬ 
wesen sein“. Habe bekannte Stimmen gehört. Habe an der Wand eine 
Faust gesehen, daran habe man Gesichter erkennen können; gibt zu, daß es 
sich um Wahnideen gehandelt habe. Der Mörtel sei aus der Wand gewesen, 
habe sich die Sache mit den Gesichtern vielleicht nur eingebildet. Hält daran 
fest, daß die Zelle elektrisch war. Alles andere könne auf Irrtum beruhen. 
Rechte Krankheitseinsicht für die früheren Anstaltsaufenthalte besteht nicht. — 
Drängt auf Entlassung, wolle nicht mit „Idioten“ zusammen sein. Ist be¬ 
freundet mit einem „klugen“ Mitpatienten (Paralytiker). 

Frau berichtet noch, daß Pat. nach seinem Aufenthalt in Irrenanstalt 
Teupitz verändert gewesen sei: aufgebracht, reizbar, schimpfte, raisonnierte, 
sprach mehr als früher, war weitschweifig dabei. 

18. 4. 18. Erregt, gereizt, beklagt sich über schlechte Behandlung, will 
entlassen werden, läßt sich davon sehr schnell wieder abbringen. Keine Nei¬ 
gung, sich zu beschäftigen, döst vor sich hin, dann wieder sehr gesprächig. 

24. 4. Abends Erregungszustand. Beschimpft andere Pat. Weinerliche 
Erregung. — Gibt an, schon wiederholt bemerkt zu haben, daß mittags etwas 
ins Essen getan werde, man wolle ihn um die Ecke bringen. Nachmittags im 
Garten einen Anfall. Als er von der Bank aufstehen wollte, fiel er vornüber, 
blieb liegen. Gesichtsfarbe blaß. Dguer etwa % Stunde. Ins Bett gebracht, 
verhielt er sich ruhig. 

28. 4. Erneuter Anfall. War mürrisch und mißgestimmt, verweigerte 
das Essen. Anfall begann mit Zuckungen in beiden Armen, die ungefähr. 
6—7 Minuten anhielten. Atmung laut, Gesichtsfarbe blaß. Pupillen reagier¬ 
ten 1—2 Minuten nach Aufhören der Zuckungen nicht auf Licht, waren sehr 
weit. Auf Stiche keine Reaktion. Babinski bds. positiv. Nach dem Anfall 
gereizt. Weiß nachher nichts vom eigentlichen Anfall, es sei ihm so Übel 
gewesen, habe nichts essen mögen. 

4. 5. Stimmung unzufrieden. Drängt dauernd heraus. 

7. 5. Anfall, wie vorher. Wieder Erregungszustand danach. 

12. 5. Ist sehr laut, schimpft dauernd, daß er hier nicht hineingehöre. 
Schläft gut auf Medikamente. 

28. 5. Zufriedener, fügsamer, nicht mehr so affektbetont. Mitteilsam. 
Erzählt von Familienverhältnissen und Erlebnissen beim Militär, ohne Rück¬ 
sicht darauf, ob seine Mitteilungen zur Situation passen. Gelegentlich bei 
Spontansprache leichtes Stocken, ebenso geringe Unsicherheit der? Artiku¬ 
lation. Habe keine Beschwerden, nie Kopfschmerzen gehabt. Gegen anti- 
lnetische Behandlung ablehnend. — Gibt Dauer deB Aufenthaltes in der Klinik 
und Datum richtig an. Bei Rechenaufgaben Fehler infolge von Unaufmerk¬ 
samkeit 



38 


Pup. b. o. Rechte Nasolabialfalte erheblich tiefer als links, sonst F&ziar 
lis o. B. Zungenbißwunde gut vernarbt Beine ataktisch. Sonst gegen früher 
unverändert. 

2. 6. Anfall. 

6. 6. Erregungszustand. Muß zur unruhigen Station. 

17. 6. Erregung dauert immer noch an. Pat. ist unzufrieden, schimpft 
auf die schlechte Behandlung, werde ungerechtfertigt in dieser „Idioten- 
anstalt“ zurückgehalten. Verweigerte zuweilen Schlafmittel. Sammelte im 
Garten Scherben und schmutziges Papier, nahm den anderon Kranken Brot 
weg. Behauptet, das Hemd eines verstorbenen Patienten bekommen zu haben, 
man wolle ihn zugrunde richten, auch die Pantoffeln, die er anhabe, gehören 
einem Toten. Zeigt eine gerötete Stelle auf der Zehe, gibt an, sich angesteckt 
zu haben. Weigert sich zuerst, die Sachen anzuziehen, tut es aber später 
unaufgefordert. Sein „Fahneneid“ sei beleidigt, wenn Soldaten an der 
Charite vorübergingen, wendeten sie sich um. Bedauert seine Familie, seine 
Frau habe einen „Idioten“ zum Mann, er sei moralisch beleidigt. Frau habe 
deswegen ihren Mädchennamen wieder angenommen. Der Schwiegervater 
sei aus Kummer darüber gestorben. Bringt alle Äußerungen in pathetischer 
Weise vor, gestikuliert lebhaft dabei, ist jedoch nicht enttäuscht, wenn seine 
Ansichten nicht für richtig erkannt werden. 

20. 6. nachm. Anfall: wurde blaß, leichte Zuckungen im linken Arm und 
Bein (5 Min.). Nach 20 Min. kehrte das Bewußtsein zurück. Nach dem 
Anfall lebhafte motorische Unruhe, schrie zuweilen auf. 

21. 6. Wollte entlassen werden, weinte, war kaum zu beruhigen. 

24. 6. Lag apathisch im Bett, nahm keine Nahrung zu sich. Keine 
Blasen- und Daralentleerung. Reagierte nicht auf Fragen. 

2. 7. Seit 29. 6. wurde schlaffe Lähmung des r. Armes bemerkt 
Brachioradialis, Strecken der Hand und Finger, Abduktor und Extensor des 
Daumens, Supinator brevis sind völlig gelähmt, Trizeps ist paretisch. Beuger 
des Unterarms ebenfalls völlig gelähmt Funktion der Schultermuskeln sowie 
Beuger von Hand und Fingern ist gut. Hypalgesie nicht nachweisbar. Ver¬ 
letzung oder Spuren von Druckschädigung nicht zu konstatieren. — Liegt in 
absonderlicher Haltung im Bett, Arme nach beiden Seiten ausgestreckt, Kopf 
zur Seite geneigt, spricht nicht, gibt passiven Bewegungen nach. Nachts 
schlaflos, zog seine Schuhe über die Hände etc. 

4. 7. Armparese o. B. Elektrische Untersuchung o. B. 

15. 7. Liegt seit einigen Tagen regungslos im Bett, nimmt zeitweise 
überhaupt keine Nahrung zu sich. Spricht weder spontan, noch auf Fragen. 
Schlaf schlecht, geht nachte zuweilen aus dem Bett, hält den Kopf auf die 
Brust gesenkt, ist nicht zu bewegen, ins Bett zu gehen. Verkannte Pfleger, 
schimpfte auf sie. Im Untersuchungszimraer sieht er unentwegt ah die Decke, 
spricht vor sich hin, langsam pathetisch: „wir werden belauscht“. Spricht 
nach, was Babel, sein Pfleger, ihm oben im Zimmer vorspreche. Auch seinen 
Schwager habe er sprechen hören. Andere Stimmen habe er nicht gehört. 
Glaubt daran, daß der Pfleger hier sei, Babel sage, man solle ihn nicht danach 
fragen. Glaubt Pflegerinnen zu erkennen, die früher in Montm^dv als 
Bartholomäerinnen auf der Mädchenschule waren. — In letzter Zeit seien 
hier komische Dämpfe ins Fenster gekommen, das habe man ihm zum 
8chaden gemacht, „sie wollen mir den Tod vorbereiten“, auch das Essen 



39 


habe nach Dämpfen gerochen. Schleimhaut sei immer trocken, das rühre 
wohl von einem Gift her, „ich nehme das an“. Es werde ihm stets vergifte¬ 
tes Essen gereicht. Das Mundsptilwasser sei vergiftet. Auf die Frage nach 
der Nahrungsverweigerung gibt er an, „Eugen Babel sagt, gib dem Fräu¬ 
lein keine Antwort darauf, das gehört nicht zur Sache“. — Kann das Datum 
nicht angeben. Es sei im Juli. Sonst Angabe von richtigen Daten aus seiner 
Vorgeschichte. Weigert sich, sich eine Zahl zu merken. Klagt über Schmer 
sen im Rücken. Hat das Waschen verweigert, „ich war so eigensinnig“. Aus 
seinen Erzählungen geht hervor, daß er über seine Umgebung recht gut orien¬ 
tiert ist — Zeigt depressiven Gesichtsausdruck, habe seiner Familie viel 
Schaden zugefügt, das sei doch bekannt Es sei ihm zugerufen worden, daß 
er sich in allen Punkten, die die Sittlichkeit betreffen, vergangen habe. Daß 
seine Hand gelähmt sei, „sei eine Strafe Gottes“, „ich denke mir das so“. 

17. 7. Phoneme. Beeinträchtigungsvorstellungen. Ängstliche Befürch¬ 
tungen für seine Person, Mißdeutung unangenehmer körperlicher Empfindung 
im Sinne von Folgen äußerer beabsichtigter Schädigung durch die Umgebung. 
Trockenen Gaumen deutet Pat als Giftwirkung des Trinkwassers. „Die lassen 
mich nicht in Ruhe, Tag und Nacht flüstern sie mir zu“. — Krankhafte Eigen¬ 
beziehungen, wahrscheinlich im Zusammenhang mit Phonemen. Hypochon¬ 
drische, phantastische Vorstellungen. Habe im Bett ein Kalbsfell gehabt, das 
über den Kopf gezogen, seitdem das Gefühl, daß er einen Kuhmagen habe. 
„Ich vermute eben, ich habe einen Kuhmagen und da kann mir nichts helfen, 
kein Einlauf“. Aufmerksamkeit des Pat. ist zeitweise durch die Phoneme ab¬ 
sorbiert. Pat. antwortet dann nicht. — Auf Befragen gibt er an, daß jetzt 
wohl der Monat Juli sei, sagt dann: „Das stimmt wieder nicht, ruft mir mein 
Schwager zu“. — Die Stimmung sei nicht gut, fühle sich verraten und verkauft 
von seinen Familienangehörigen, es komme keiner her. Er bekomme hier hin 
und wieder neue Gesichter zu sehen, die ihm bekannt seien, komme aber nicht 
auf die Namen. In Gesichtsausdruck und Verhalten des Pat. kommt eine 
etwas unbehagliche mißmutige Stimmung zum Ausdruck“. „Ich bin doch kein 
Idiot, ich bin bloß gestempelt, weil ich in der Charitö bin.“ Beim Nach- 
sprechen Stocken, leichte Unsicherheit bei Aneinanderreihen der Silben, sonst 
aber keine Artikulationsstörung. 

24. 7. Gestern starke ängstliche Erregung, lief ängstlich umher, klopfte 
gegen die Türen, wurde aggressiv gegen Pfleger, schrie um Hilfe: „Menschen¬ 
leben in Gefahr, hier werden die Kehlen durchgeschnitten.“ Ein Pfleger habe 
sich mit seiner Frau eingelassen. — Heute ruhig, verweigert die Nahrung. 
Antwortet nicht. Zuweilen ausgesprochen negativistisch. 

29. 7. In den letzten Tagen wechselndes Verhalten. Zuweilen ruhig, 
liegt mit gefalteten Händen im Bett, es ginge ihm gut, läßt sich den Arm 
galvanisieren. Dann wieder unruhig, läuft umher, sagt, er sei von den Toten 
auf erstanden, sei jetzt Jude. 

30. 7. Glaubt, daß man ihn mit Petroleum begossen habe, „steckt mich 
nur an, damit ich verschwinde“. Er habe einen Kuhmagen, sei mit gespalte¬ 
ner Nase zur Welt gekomme^, werde neu geboren werden. — Gibt bald darauf 
an, daß er sich nur eingebildet habe, einen Kuhmagen zu haben, weil ex 
solange keinen Stuhlgang mehr hatte. ..Und mein Schwager hat es mir doch 
luge rufen.“ 



40 


„Vielleicht ist das meine Krankheit,“ sagt er auf die Frage, ob er die 
Stimme des Schwagers höre. — 

Anfall: beginnt angestrengt zu atmen, verdreht die Augen, etwas Schaum 
vor dem Mund. Keine Zuckungen. Dauer 6 Min. Lag % Stunde ruhig, 
wälzte sich dann im Bett, ‘schrie öfters laut auf. Nach 1 Stunde setzte 
Schlaf ein. 

22. 8. Abends vorher unruhig, schimpfte, sein Bett sei beschmutzt, er 
könne sich nicht hineinlegen. 

30. 8. War nachts wieder gelegentlich laut, weigerte sich, Schlafmittel 
zu nehmen. — Gibt auf Fragen an. es sei hier bo, als wenn die Leute nicht 
gut auf ihn zu sprechen seien, ..am Tage, da gebt es ja, bloß immer 
die Nacht“. „Es kommt mir so ein, ich höre d a Bemerkungen, und ich höre 
da Bemerkungen. Das Gefühl werde ich wohl nicht mehr los werden. Das 
beruht auf Wahrheit.“ — Im Garten gehe ihm alles aus dem Weg, wenn er 
sich auf eine Bank setze, verschwinden die anderen. Schlafmittel möchte er 
nicht nehmen, weil er sonst das Bett naßmache. Er sei verraten und verloren 
von der Welt — 

Jetzt etwas Unzufriedenes, gereizte, mißmutige Stimmung, gerät, wenn 
von den ihm unangenehmen patholog. Erlebnissen gesprochen wird, in ge¬ 
steigerten Affekt. Ist über Umgebung und Zeit orientiert — Bei der Explo¬ 
ration jetzt zugänglich, bleibt mit seinen Angaben sachlich beim Thema, nur 
gelegentlich Abschweifungen. Klagt, jetzt über Doppelsehen. Müsse beim 
Lesen ein Auge schließen, sehe sonst die Buchstaben doppelt. Pupillen 
gegen früher unverändert. Bei Konvergenz wird r. Bulbus nicht so stark 
adduziert wie links, dann tritt Doppelsehen auf. Beim Blick in die Ferne 
kein Doppelsehen, nur beim Sehen in die Nähe, die Lampe an der Saaldecke 
sehe er auch doppelt Periphere Armlähmung jetzt wieder geheilt Nur Funk¬ 
tion des Brachioradialis ist noch nicht voll zurückgekehrt. Spezialärztl. Augen¬ 
befund: Beim Blick in die Ferne macht bei abwecnselndem Verdecken des r. 
und 1. Auges im Moment des Freigebens das 1. Auge eine stärkere Außen¬ 
wendung wie das rechte. Es steht also das jeweils verdeckte Auge in Adduk¬ 
tion, links mehr wie rechts. In der Nähe ist dieses Verhalten nicht so ausge¬ 
sprochen. In Kombination mit der Kopfhaltung (Kopfdrehung nach rechts! 
erscheint die Diagnose einer länger bestehenden Abduzensparese rechts gerecht¬ 
fertigt, obwohl ein Beweglfthkeitsdefekt. nicht mehr sicher nachweisbar ist. 
Gleichnamige Doppelbilder. 

16. 9. Sehr reizbar. Schimpft viel, besonders gegen Abend, mürrisch. 

18. 9. Bittet von der unruhigen Station verlegt zu werden, verspricht, 
sich nicht störend zu benehmen. Bittet spontan, ihn doch zu „reklamieren“. 
Erzählt unter Tränen, daß Kranke ihn belästigen, über ihn sprechen. „Gehe 
ich in den Garten, dann sprechen sie, gehe ich nicht in den Garten, dann 
sprechen sie noch mehr.“ Sein Nachbar sei ein Fatzke. Er habe ihm seine 
Zigaretten geschenkt, um ihn sich vom Halse zu halten. 

18. 10. Bittet um Entlassung. Paranoide Mißdeutung: werde hier zurück 
gesetzt, der eine Kranke sehe aus wie sein Schwager. Der Oberpfleger sei 
gegen ihn, habe veranlaßt, daß er das letztemal keinen Besuch bekam. — 
Nachts wieder unruhig, schimpfte laut. Gab auf Befragen an, er habe Schmer¬ 
zen in den Gelenken, müsse elektrische Apparate haben. Meinte, der Wasch- 



41 


tisch stände zu nahe an seinem Bett, der elektrische Strom von der Lampe 
ziehe ihm in die Knochen. Läßt sich beruhigen, schläft aber nicht. 

5. 11. 18. Überführung in andere Irrenanstalt. 

18. 1. 20 gestorben in Teupitz. Diagnose: progressive Paralyse (kein 
Sektionsbefund). 

Zusammenfassung. 

Fall 6. Diagnose: Luespsychose. 

38jähriger Schlosser. Lues mit 28 Jahren, keine Behandlung, 
sonst nie krank. Im Kriege von 1914 ab. Im Sommer 1916 Doppel¬ 
sehen. Jan. 17 epileptischer Anfall, am selben Tage noch zwei An¬ 
fälle. Danach verwirrt, aggressiv, mußte ins Krankenhaus (Teupitz). 
Nach der Entlassung verändert, reizbar, sprach viel. 

3. 4. bis 5. 11. 16 in der Charite. Pat. wurde in schwerem 
Dämmerzustand nach einem Anfall eingeliefert. 

Im Krankenhaus wiederholte Anfälle, oft mit nachfolgender 
Verwirrtheit. Trotz guter Orientierung, Merk- und Rechenfähigkeit, 
macht Pat. einen kritiklosen, schwachsinnigen Eindruck. Wird all¬ 
mählich immer reizbarer, Erregungszustände werden immer schwe¬ 
rer, verworrener. Stimmungslage während der Dämmerzustände 
typisch epileptisch: „pathetisch“, „moralisch beleidigt“ usw. 

Seit Anfang Juli schlaffe Lähmung des rechten Armes. Liegt 
in absonderlicher Haltung, später regungslos im Bett. Spricht 
pathetisch vor sich hin. Halluziniert akustisch und will auch 
„Dämpfe“ gerochen haben. Beeinträchtigungs- und Vergiftungsvor¬ 
stellungen. Immerfort pathetische Redensarten und Benehmen. 
Orientiert. Ende Juli 17 wieder Doppelsehen, das auch von augen¬ 
ärztlicher Seite bestätigt wird. Wa. Rea. in Bl. u. Liq. stark positiv. 
Laut Mitteilung am 13. 1. 20 in Anstalt Teupitz an Paralyse ge¬ 
storben. 

Ich habe diesen Fall mitgenommen, obwohl ich auf den Ein¬ 
wand völlig vorbereitet bin, daß es sich hier nur um eine Paralyse 
handelt. Die Anfälle — wird man sagen — waren keineswegs 
epileptische, sondern von Anfang an paralytische. Schon recht früh 
spricht die Krankengeschichte von einem „kritiklosen, schwach¬ 
sinnigen Eindruck“, sowie von Sprachstörungen. 

Dies mag berechtigt sein. Der Fall bietet aber soviele eigen¬ 
artige Umstände, die offenbar auch die Diagnose: „Luespsychose“ 
in der Charite veranlaßten, daß ich ihn als ein bezeichnendes Bei¬ 
spiel jener „atypischen Paralysen“, von denen Wimmer spricht, 
angeführt habe. 

Die Krankheit fängt im Sommer 1916, also 3V& Jahre vor dem 
Tode mit Doppelsehen an; dann stellen sich % Jahr später die An- 



42 


fälle ein. Diese und besonders die schweren nachfolgenden Dämmer¬ 
zustände mit ihren pathetischen hochtrabenden Zügen hatten klinisch 
ganz den Charakter einer Epilepsie. Sodann sind die recht starken 
Halluzinationen bemerkenswert und passen vielmehr mit einer 
luetisch-epileptischen Psychose als mit einer Paralyse zusammen. 
Schließlich ist ja auch der 3%jährige Verlauf recht auffallend. 

Es mag sein, daß hier also eine Paralyse vorliegt, jedenfalls ist 
es eine atypische, und die Vermutung kann nicht ganz zurück¬ 
gedrängt werden, daß wir es anfangs mit einer Lues cerebri zu tun 
hatten, die zum Doppelsehen und epileptischen Manifestationen 
Anlaß gab, und die dann in eine Demenz, vielleicht Paralyse (eine 
mikroskopische Untersuchung lag nicht vor) überging. 

Halluzinose- bzw. halluzinatorisch-paranoische Fälle von 

Luespsychosen. 

Wenn ich diese Fälle nicht zusammen mit den exogenen Reak¬ 
tionstypen führe, so geschieht es — wie bereits gesagt — weil sie 
klinisch ein ziemlich stark abweichendes Bild darbieten. Ebenso 
wie der Alkohol- oder Cocainwahn eine eigene Gruppe bilden, 
scheint es mir berechtigt, die entsprechenden luetisch bedingten 
Störungen getrennt für sich zu behandeln. 

Es gibt von diesen Gruppen zwei Untergruppen, die fließend 
ineinander übergehen. 

Erstens haben wir die mehr halluzinose-ähnlichen Fälle. Hier 
stehen die Halluzinationen im Vordergrund der Symptome. Die 
Wahnideen sind meistens flüchtig, unsystematisiert, die Stimmung 
oft ängstlich oder ängstlich-erregt. Schwerere Bewußtseinstrübun¬ 
gen kommen dagegen — wie in den Verwirrtheitszuständen — 
nicht vor. 

Zweitens finden wir Fälle, in denen paranoische Züge, vor allem 
in Gestalt des Eifersuchtswahns hervortreten. Kraepelin erwähnt 
in seinem Lehrbuch diese Gruppe, und neulich hat Bouman Bei¬ 
träge zur Kenntnis derselben geliefert. Auch Fälle, die durch Ver- 
folgungs- und Beziehungsideen ausgezeichnet sind, treffen wir unter 
den Luespsychosen. 

Die Übergänge zwischen diesen beiden Gruppen sind natürlich 
fließend. In den mehr ausgesprochenen Halluzinosefällen sind 
Wahnideen immer vorhanden, und andererseits treffen wir in den 
paranoischen Fällen fast immer mehr oder weniger zahlreiche 
Halluzinationen. 

Ich verfüge über 5 Fälle dieser Art. 



43 


F all 7. F. S., Privatwächter, 33 Jahre alt. Aufgeii. 16. 6.. entl. 22. 7. 22. 
Diagnose: Luespsychose (oder progressive Paralyse). 

Kann keinen Grund angeben, weshalb er die Klinik aufsucht. Er sei 
ein Medium, werde von der Kriminalpolizei verfolgt Weint, knirscht mit den 
Zähnen, ruft: „Diese Verbrecher“, grimassiert stark, ist ablenkbar. Er stehe 
seit 2 Jahren „unter Beeinflussung 41 . Man habe gesagt, er habe das zweite 
Gesicht, sei gefährlich und müsse deshalb unschädlich gemacht werden. Des¬ 
halb habe er ,Einflüsterungen 44 bekommen. Müsse alles nachsagen, was er 
vor 2 Jahren schon gesagt habe, höre alles im rechten Ohr. Auch hätte 
man ihm „das Gesicht heruntergeklappt“, wie eine Mütze, da gehe plötzlich ein 
(Schatten vor seinem Gesicht vorbei, wie eine Gestalt. Andere Gesichtshallu¬ 
zinationen negiert. Früher als Steward zur See gereist, viel in der Welt 
herumgekommen. Vor langen Jahren Tripper, sonst immer gesund. Spricht 
in manirierter Weise mit manirierten Gesten, grimassiert stark. Starke 
Hyperhydrosis, rascher Farbenwechsel. 

Somatisch: Mäßig kräftig gebaut, in mittlerem Ernährungszustand. Ge¬ 
sichtsfarbe blaß, wechselt stark beim Sprechen. Innere Organe: o. B. Nerven¬ 
system: keine Störungen der Reflexe, gute Licht- und Konvergenzreaktion der 
Pup. Blut — Wa. neg., Liquor: Wa.: stark positiv. Phase I.: deutliche Trü¬ 
bung; starke Lymphozytose. 

17. 6. Es gefalle ihm „ausgezeichnet 44 hier. Sei ,nervös“, örtlich 
orientiert Seine Nervosität bestehe in ,Einflüsterungen“. Fragt plötzlich 
lebhaft: „Sie meinen es doch gut mit mir. 44 Bittet um Urlaub für seinen Ge¬ 
burtstag (22. 6.). Erzählt spontan weiter: er sei „ganz zerrissen“, wenn er 
sehe, dränge sein Inneres nach rechts, das Gesicht klappe herunter und wolle 
nach links, habe ein Gefühl, als ob er nicht aus sich hcrauskönne. Will nicht 
weiter reden, faßt sich in manirierter Weise an den Kopf: „Mein Kopf ist 
wie umgertihrt, wenn ich von meiner Krankheit sprechen soll“. Schweift ab, 
verliert den Zusammenhang. Vor 5 Jahren Friseur gewesen, habe viel Kri¬ 
mmalpolizisten in der Kundschaft gehabt, diese hätten gesagt, er müsse sich 
hüten, sei „Autosuggestionist“, er werde verfolgt. 1920 sei das Unglück über 
Ihn hereingebrochen. Er habe einer Kundin ein Bild von sich geschenkt, 
eines Tages seien Bekannte dieser Dame in den Laden gekommen, man habe 
ihm den geladenen Revolver ins Gesicht gehalten und gerufen: „Da ist der 
Kriminalspitzel.“ Man habe ihm geraten, Berlin zu verlassen. Seit dieser 
Zeit — besonders in den ersten 6 Monaten — lungere man um ihn herum. 
Leute, die unter allen möglichen Vorwänden ins Geschäft kämen, flüsterten 
ihm ins Ohr, „den Jungen werden wir schon kriegen, der wird noch irrsinnig 
werden, der hat das Hellsehen, der muß unschädlich gemacht werden, wir 
werden ja doch bis an sein Lebensende bei ihm sein, daß er von der Krank¬ 
heit nicht mehr loskommt“ u. ä. Wurde verfolgt auf der Straße, Leute sahen 
ihn boshaft an. Ging nur noch mit geladenem Revolver aus, wegen der Ver¬ 
folgungen mußte er einmal über eine Mauer in einen fremden Garten springen. 
Danach Hellseher, habe schon vor 2 Jahren die Sieger der heutigen Pferde¬ 
rennen ausgerufen. Wisse nicht, ob das auch etwas mit seinen Verfolgern zu 
tun habe. Habe eine Wut gegen diese Verbrecher, möchte sie töten. Im 
Jahre 21 habe er Ruhe gehabt. Plötzlich sagt er: man habe ihm gesagt: „Da 
kommt der Herr von 1920, das bringt Glück, immer duplizierte Zahlen, 20, 22, 


J 



— 44 


20, 30, 33 u , er halte es eigentlich für Witze, aber es könne doch möglich sein, 
daß es eine Bedeutung habe. Schweift ab, knüpft an das Wort Witz an: „Ich 
bin ja auch ein witziger Mensch“. Während der Unterhaltung dauerndes 
Grimassieren, grundloses Lachen, springt öfters auf, macht lebhafte Gesten. 

20. 6. Es gefalle ihm hier nicht, weil die Türen verschlossen seien, bittet 
wieder um Urlaub für seinen Geburtstag. (Nach Beziehungsideen gefragt?) 
Berichtet unklar, konfus, leicht abschweifend, 2 junge Leute hätten 1920 gesagt, 
sie wollten das stenographieren, was er sage, um ihn später ausliefern zu 
können, er sei doch aber ein einwandsfreier Mensch. Springt plötzlich auf, 
bittet um eine Zigarette, schmeichelt in kindischer Weise. — Schweift immer¬ 
fort ab, hört mitten im Satz auf zu sprechen. Verbrecher seien um ihn herum, 
hätten gesagt: „Da ist der Kerl, er trägt ja ein braunes Jackett“ usw. Habe 
diese Leute nur einmal gesehen, „sie waren jünger als ich“. Haben ihm 
sofort die Gedanken weggenommen und gesagt: „nun hat er keinen eigenen 
Willen mehr“. Ist entrüstet, als man ihn nach homosexuellen Neigungen fragt, 
habe immer nur Neigung zu älteren Frauen gehabt (ob er das Sprechen direkt ' 
gehört habe?). „Nein, es sei so über sein Gesicht gejagt, er habe den Kopf 
nach links gedreht“ Sagt plötzlich: „Ich habe einen physischen Ekel vor 
Kot“, kann das aber nicht begründen. Sei im Feld „Bombenschmeißer“ ge¬ 
wesen, wegen seiner „zarten. Gesundheit“, habe der Feldwebel gesagt. Habe 
gegen Schwarze gekämpft, einen Ekel — nicht Angst — vor diesen gehabt 
„weil die schwarze Rasse die weiße Rasse vernichten wollte“. 

Habe die Schule bis zur 3. Klasse besucht, nicht weitergekommen, „weil 
er so schwache Nerven“ hatte. Mit 20 Jahren Schanker (am dors. Rand 
präput peni8 sind 2 abgeheilte — offenbar Ulzera-Narben sichtbar). Blut 
Wa. sei immer positiv gewesen. — Plötzlich Affektlabilität: weint bitterlich, 
ist nicht zum Sprechen zu bewegen. Gleich darauf wieder freundlich, lacht 
Leicht beeinflußbar, geht sofort auf vorgeschlagenes Thema ein. Aufmerk¬ 
samkeit schwer zu fixieren. Auffallend ist eine starke Intelligenzschwäche. 
Beim Rechnen umständlich, oft Fehlresultate bei einfachen Aufgaben. — 
Weint plötzlich: „Ich habe immer meine Miete von meinem Gehalt gleich 
bezahlt, jetzt komme ich nicht mehr nach Hause, meine arme Mutter weint. 
Bin in Verbrecherhände gekommen, diese Hunde, verfluchten“. 

Beim Spontansprechen keinerlei paralytische Eigentümlichkeiten. Nach¬ 
sprechen von Paradigmata ist bei der Zerfahrenheit nicht möglich. Pat hat 
keinerlei Kritik für die Dürftigkeit seiner intellektuellen Leistungen. Rechnen 
sei ihm immer schwer gefallen. 

Angaben der Mutter: Veränderung Frühjahr 22 aufgefallen: sah oft so 
alt aus, wie ein Greis. Auffallend still, bei Ansprechen schrak er auf. Seit 
8 Wochen habe er berichtet, daß er schon seit 1920 Hellseher sei, daß er Er¬ 
eignisse prophezeit habe, die sich jetzt ereignen, sah Gestalten, besonders 
nachts, ein Schatten gehe dauernd neben ihm her. Bis vor 4 Tagen im Beruf 
tätig, tüchtig und beliebt gewesen. Fühlte sich elend und müde, wollte sich 
nicht waschen, ging mit Stiefeln zu Bett, verweigerte Nahrung, behauptete, er 
sei „suggestionskrank“. War früher sehr lebhaft, hatte für alles Interesse, 
las viel, ging gern spazieren. In der Schule zerstreut, gute Auffassung, aber 
faul. In seinem Beruf als Friseur ebenfalls tüchtig, wurde vor 1 Jahr Privatr 
Wächter aus pekuniärem Anlaß. Nach der Entlassung vom Militär 1 Jahr 



45 


J£opfschütteln“, sehr aufgeregt. — Außer Lungenentzündung als Kind immer 
gesund. Keine Nerven- oder Geisteskrankheiten in der Familie. 

27. 6. Neo-Salvarsankur. 

10. 7. Kur wird gut vertragen. Ist viel ruhiger, äußerst spontan keine 
Wahnideen mehr. Keine Halluzinationen, Stimmung euphorisch. Unterhält 
sich mit anderen. 

22. 7. 22. Verhalten in den letzten Tagen unverändert. Stimmung 
euphorisch, Affektlabilität nicht mehr so stark, wenn auch vorhanden. Kleinere 
Rechenaufgaben werden gelöst, etwas schwerere nicht. Gibt an, nicht ant¬ 
worten zu können, wenn er sich aufrege. Friseur wolle er nicht wieder 
werden, das mit den Messern sei zu gefährlich (erklärt das nicht weiter, lacht 
unmotiviert). Beharrt bei der Tatsächlichkeit seiner damaligen Wahr¬ 
nehmungen, verliert sich beim Erzählen sofort in Einzelheiten. Keine Hallu 
zinationen, keine Beziehungsideen mehr. 

Wird entlassen. Auf die Frage, ob er sich keine Gedanken mehr machen 
werde, sagt er mit großem Affekt: „davor werde ich mich jetzt schon sichern, 
ich gehe jetzt nur noch mit dem Revolver aus. % Stunde später bestreitet er, 
diese Bemerkung gemacht zu haben. 

Nach Auskunft der Mutter vom 26. 6. 23 ist Pat. nicht arbeitsfähig und 
muß von der Mutter erhalten werden. Er ist leicht erregbar, glaubt sich noch 
immer beobachtet, schreibt viel; kein Krankheitsgefühl, weigert sich, zum 
Arzt zu gehen. 

Zusammenfassung. 

Fall 7. Luespsychose (oder progr. Paralyse?). 

33jähriger Privatwächter. Schule bis zur 3. Klasse, soll lebhaft 
gewesen sein, viel gelesen haben. Lues mit 20 Jahren, keine Geistes¬ 
krankheiten in der Familie. 

16. 6. bis 22. 7. 22 aufgen. in der Charite. 

Seit Frühjahr 22 Veränderung aufgefallen. Still, erzählte, daß 
er Ereignisse prophezeit habe, sei Hellseher seit 1920, arbeitete 
trotzdem bis vor 4 Tagen. 

Er stehe seit 2 Jahren unter „Beeinflussung“, habe „Einflüste¬ 
rungen“. Halluziniert akustisch, vielleicht auch leicht optisch. 
Stimmen meist drohenden Charakters, „da ist der Kriminalspitzel, 
den Jungen werden wir noch kriegen“. Ziemlich flüchtige Verfol- 
gungs- und Beziehungsideen, Verbrecher seien um ihn herum, hätten 
ihm die Gedanken weggenommen und gesagt: „nun hat er keinen 
eigenen Willen mehr“. Manieriertes auffälliges Benehmen, dauerndes 
Grimassieren, grundloses Lachen, springt plötzlich auf, weint un¬ 
motiviert. Keine feste Affektlage, ängstlich-erregte Stimmung in 
deutlicher Beziehung zu den Halluzinationen. Orientiert. Auffallend 
ist eine starke Intelligenzschwäche. 

Somatisch: Pupillen und andere Reflexe in Ordnung. Wa. im 
Blut neg., Liq.: Wa. stark pos. Ph. I deutliche Trübung, starke 
Lymphozytose. 



46 


Nach Neo- und Silbersalvarsankur wird Fat. bedeutend ruhiger, 
■äußert spontan keine Wahnideen mehr, keine Halluzinationen. Stim¬ 
mung euphorisch. 

Die Mutter berichtet am 26. 6. 23, daß Pat. seit der Entlassung 
nicht arbeitsfähig sei. Sei leicht erregbar, glaubt sich noch immer 
beobachtet. Kein Krankheitsgefühl. Weigert sich zum Arzt 
zu gehen. 

Das absonderliche manierierte Benehmen des Kranken, seiner 
zerfahrenen Redensarten, der „Gedankenentzug“, die im ganzen 
euphorisch gleichgültige Stimmung und die Labilität der Affekte 
lassen wohl in erster Linie den Verdacht auf eine paranoide Schizo¬ 
phrenie aufkommen. 

Andererseits haben wir aber die stark positiven Liquorreaktio¬ 
nen und die Beeinflussung der Behandlung, die allerdings keine 
durchgreifende gewesen zu sein scheint. Auch ähnelt der Fall sehr 
stark z. B. Fall 5 bei Plaut. 

In der Klinik hat man differentialdiagnostisch vor allem an eine 
Paralyse gedacht, offenbar auf Grund des stark hervortretenden 
schwachsinnigen Zuges im Krankheitsbild. Ganz ungewöhnlich 
wäre in diesem Fall das Anfangsbild der paralytischen Krankheit. 
Auch der neg. Blut-Wassermann spricht ja vielleicht dagegen. Gegen 
eine Paralyse sprechen auch die stark hervortretenden Halluzi¬ 
nationen. 

Ein sicheres Urteil über den Fall können wir uns nur bilden, 
wenn wir den weiteren Verlauf überblicken können. Vorläufig 
müssen wir ihn als eine Halluzinose auf luetischer Basis auffassen, 
die allerdings mit katatonen und schwachsinnigen Zügen stark 
durchsetzt ist. 

Fall 8. F. S., 30 Jahre, Straßenbahnschaffner. Auf gen. 31. 12. 22, 
entl. 3. 4. 23. 

Bei Aufnahme Klagen über Kopfschmerzen, gibt an, von seinen Schwie¬ 
gereltern vergiftet worden zu sein. Schildert in •wortreicher Weise und mit 
Nebenumständen seine Vorgeschichte, damit man sähe, daß er kein Idiot sei. 
Ängstlich wegen „der Vergiftung“. 

Angaben der Ehefrau: Kennt Pat. seit 4 Jahren, seit 26. 7. 19 verb. 
Pat. war immer mißtrauisch und eifersüchtig, schloß die Frau in die Wohnung 
ein, glaubte trotzdem, daß jemand während seiner Abwesenheit in der Wohnung 
war. Pak war fleißig, sparsam und solide. Eifersucht steigerte sich immer 
mehr, ließ Frau durch andere kontrollieren. Ließ sich (Juli 22) Magen aus¬ 
pumpen, Frau habe „Hängepfeiffenpulver“ ins Essen getan (Frau hatte Erbsen 
mit Natron gekocht). Roch immer am Essen. Auch gegen die Schwieger¬ 
eltern in dieser Beziehung mißtrauisch, hielt geronnene Milch im Kaffee für 
„Giftbazillen“. Glaubte auch im Schlaf eine Spritze bekommen zu haben. 



47 


Vom 29./30. 12. 22 Suizidversuch. Grund: Frau habe ihn mit Tuberkulose 
und Syphilis infiziert, sei Giftmischerin. Ließ sich wieder den Magen aus¬ 
pumpen. Machte auch Polizei auf die Frau aufmerksam. — Sinnestäuschungen 
wurden nicht von den Angehörigen beobachtet. — 1 Kind von 2 Jahren. 

1 Fehlgeburt von 8 Wochen. Pat. wurde 18 wegen Lues spin., Alopecia speci- 
fica, Angina spec. und Exanthem in Hautklinik behandelt. Go.: pos. 

Angaben des Pat.: Letzte Gravidität $er Frau stamme nicht von ihm 
(Fehlgeburt). Frau sei in letzter Zeit sehr zurückhaltend gegen ihn gewesen, 
habe mit einer anderen Frau geflüstert von „Abtreibung“. Frau betrüge ihn 
seit August/September, hänge seine alten Kleider in den Schrank, damit ihr 
Liebhaber nicht merke, daß sie verheiratet sei; habe auch Fußspuren auf dem 
Balkon entdeckt — Frau habe versucht, ihm Gravidität und Abort zu ver¬ 
heimlichen, ihn aber nachher als „Mitwisser“ vernichten wollen, ihm u. a. 
auch eine mit „Nikotin“ vergiftete Zigarette gegeben, so daß ihm nach 

2 Zügen Übel geworden sei. Er glaube auch, daß seine Schwiegermutter ihm 
einmal, als er schlief, eine Spritze geben wollte. Im Essen sei bestimmt Gift 
gewesen, er habe jedesmal „Kreuzschweiß“ bekommen, auch Schüttelfrost 
und braunen Auswurf. Suizidversuch habe er gemacht, weil er doch „dran 
glauben“ müsse. Seine Mutter habe auch dreimal versucht, sich zu erhängen, 
weil der Vater ein „Hurenbock“ gewesen sei. 

15. 1. 18. Infektion mit Lues, mehrere Kuren gemacht. Fragt, ob seine 
Kopfschmerzen und der Schwindel etwa von einer Gehirn- oder Rückenmarks¬ 
erkrankung herrühren könnten; bringt seine Äußerungen mit großem Rede¬ 
schwall vor, schmückt sie viel mit retorischen Flocken und Redensarten aus, 
belegt alles mit genauen Daten. 

Angaben der Schwester: Pat. war als Kind etwas „graulich“, immer 
still, spielte nur mit seinen Geschwistern. Stets sehr eitel. Fleißig auf der 
8chule, Streber. Nach der Schule Maurerhandwerk erlernt, guter Arbeiter, 
solide gelebt. Im Kriege verschüttet gewesen, Nervenchok, Lazarettbe¬ 
handlung. In der Ehe ohne Veranlassung eifersüchtig. 

Seit dem Kriege „nervös“, regt sich über Kleinigkeiten auf. Sonst nicht 
auffällig, guter Gesellschafter. Nur gegen Frau Beeinträchtigungs- und Be- 
ziehungsideen. 

8. 1. 28. Glaubt wieder, daß Milch und Kakao, die die Frau mitgebracht 
hat, vergiftet waren, habe nach Genuß derselben Schüttelfrost, Zittern und 
Schmerzen im r. Bein bekommen. Hält auch auf Einwand an seiner Wahn¬ 
idee fest. Nach kurzer Zeit plötzlich einsichtig. 

18. 1. 28. Weinerlich, glaubte ins Irrenhaus zu kommen und entmündigt 
zu werden. Meint, Paralyse zu haben, die ihm „beigebracht“ worden sei. 
Frau wolle ihn um die Ecke bringen. Nimmt dann wieder alle Verdächtigun 
gen zurück, ist jedoch wechselnd in seinen Anschauungen. Gesichtsausdruck 
ängstlich gespannt, will nicht als geisteskrank betrachtet werden. 

17. 1. 23. In der r. Unterbauchgegend und dem oberen Drittel des r. 
Oberschenkels breite etwa 15 cm lange Narbe. L. R. 1. etwas träger als r. 
C. R. normal. N. VH 1. Spur geringere Innervation als r., nur bei Bewegun¬ 
gen. N. XH: leichtes fibrilläres Zucken. Sprache: bei Testworten leichtes 
Silbenstolpern, sonst o. B. Keine deutlichen Paresen. Pat. Refl. vorhanden, 
r. und 1. gleich, schwach auslösbar. Ach. Refl.: r. nicht sicher auslösbar, 1. —. 
Babinski: l. manchmal leichte Dorsalflexion. Sonst keine Pyramidensymptome. 



48 


Leichte Ataxie bds. K. H. V. nicht prompt, einzelne auffahrende unsichere 
Bewegungen. 

31. 1. Äußert Eifersuchtsideen gegen Frau, sie wolle ihn in eine 
Anstalt bringen, obgleich er nicht geisteskrank sei. Seine Eifersuchts- unri 
Verfolgungsideen seien berechtigt, habe nur keine Beweise. Die Schwieger¬ 
eltern seien wohl nett zu ihm gewesen, es sei aber erzwungene Liebe gewesen. 

1. 2. Widerruft seine Ansichten von gestern. 

14. 2. Läßt sich dauernd bestätigen, daß er nicht entmündigt und nach 
Gesundung entlassen wird. Sehr mitteilungsbedürftig. Seine früheren Äuße¬ 
rungen seien Hirngespinste gewesen, freue sich, wenn seine Frau ihn besuche. 
Überhöflich im Wesen. Fühlt sich ganz gesund, will aber Kur beendigen. 
Appetit gut. 

28. 2. Wieder Eifersuclitsideen gegen Frau. Ängstlich, glaubt wieder, 
man wolle ihn entmündigen. Bringt alles affektsteif vor, dazwischen kurzes, 
kaltes, unnatürliches Lächeln. Keine ängstlichen Äußerungen. 

4. 3. Beziehungsideen gegen den Pfleger. 

4. 4. Lebhaft und weitschweifig in seinen Reden. Korrigiert seine 
Eifersuchtsideen. Ängstlich in bezug auf seine Lues. Außer der Logorrhoe 
starke emotionelle Labilität, teils weinerlich, gleich darauf wieder leicht 
euphorisch-expansiver Grundstimmung. Merkfähigkeit: etwas gestört. 

2. 5. Geordnetes Benehmen. Führt dem Arzt gegenüber weitschweifig« 
Gespräche über seine Erkrankung, interessiert sich, wie der weitere Verlauf 
beurteilt wird. Krankheitseinsicht. In seinen Angaben etwas kindisch, kritik¬ 
los. Affektlage leicht euphorisch, expansiv. 

Blut — Wa.: negativ. 5. 1. 23. 

Lumbalpunktion: 19. 1. 23: Ph. 1. Üpalescenz, leichte Lymphozytose. 
Wa.: 0,2 und 0,4 schwach pos. 0,8 stark pos. — Lumbalpunktion: 27. 3. 23: 
Ph. I. leichte aber deutl. Trübung, mittl. Lymphozytose. Wa.: stark positiv. 
Therapie: Neo-Salvarsan, 10 Spritzen 0,3—0,6. 

29. 6. 23. Pat. stellt sich in der Klinik vor, arbeitet bei der Straßenbahn, 
aber nicht als Schaffner. Er ergänzt die frühere Krankengeschichte durch 
die Angabe, daß er ganz sicher Stimmen gehört habe, so die Stimmen seiner 
Frau und auch des Schwiegervaters, „so im Flüsterton“. Auch will er am 
Dach ein „blumenartiges Flimmern“ gesehen haben. — März 23 hörten die 
Stimmen allmählich auf. Nach Weihnachten will Pat. einen halbstündigen 
Anfall von Bewußtlosigkeit gehabt haben. 

Bezügl. der Eifersuchtsideen äußert Pat., daß er sie gänzlich überwunden 
habe. Den Abort erklärt er sich jetzt damit, daß das Kind der 2. oder 

3. Schwangerschaft bei einem syphilitischen Vater angeblich krank sei. Die 
Frau hätte deshalb die Schwangerschaft unterbrechen lassen. 

Pup. Refl. und Pat. Refl. o. B. Ach. Refl. —. 

In den letzten Tagen 11 Pfund zugenommen. 

Pat. — wie früher — auffallend — weitschweifig. 

Zusammenfassung. 

Fall 8. Diagnose: Luespsychose. 

30 Jahre alter Straßenbahnschaffner. Immer mißtrauisch, eitel, 
strebsam. Im Krieg verschüttet gewesen. 




49 


Lues: 15. 1. 18. Heiratete Juli 19. Soll immer eifersüchtig 
gegen Frau gewesen sein, schloß sie in die Wohnung ein. Roch 
immer am Essen. Ließ sich im Sommer 22 den Magen auspumpen, 
weil Frau ihn vergiftet habe. Auch gegen die Schwiegereltern mi߬ 
trauisch. 

Ende Dez. 22 Suicidversuch. Ursache: Frau habe ihn infiziert, 
sei Giftmischerin. Erregt. 

31. 12. 22 bis 3. 4. 23 in der Charite. 

Hält an seinen Eifersuchts- und Vergiftungsideen fest. Frau 
hätte eine Fruchtabtreibung machen lassen, weil das Kind nicht von 
ihm stamme. Halluzinierte besonders im Dez. 22 recht stark, hörte 
die Stimmen der Frau und des Schwiegervaters „wie im Flüsterton“. 
Auch leichte optische Halluzinationen. Äußerst weitschweifig, 
schmückt seinen Redeschwall mit retorischen Floskeln aus. Belegt 
alles mit genauen Daten. Affektlage im allgemeinen steif, mit expan¬ 
siver Grundstimmung, ab und zu ängstlich, weinerlich. Emotionelle 
Labilität. Benehmen geordnet. 

Somatisch: Lichtreaktion etwas träge links. 

VII. Spur geringere Innervation bei Bewegungen. 

XII. Leichtes fibrilläres Zittern. Leichtes Silbenstolpem. Pat. 
Refl. schwach auslösbar. Ach. R. r. unsicher, 1. —. Babinski ab und 
zu leichte Dorsalflexion. 

Bl. Wa. — Liq.: 19. 1. 23 Wa. pos. (von 0,2 an), 27. 3. 23 Wa. 
stark pos. Ph. I. Deutl. Trübung, mittlere Lymphozytose. März 23 
hörten die Stimmen allmählich auf. Pat. wurde ruhiger. 

29. 6. 23 stellt sich Pat. in der Klinik vor. Arbeitet bei der 
Straßenbahn, aber nicht als Schaffner. Keine Eifersuchts- oder 
Beziehungsideen, keine Halluzinationen. Auffallend gesprächig und 
weitschweifig. 

Dieser Fall nähert sich mehr dem klassischen halluzinatorisch¬ 
paranoischen Typus als der vorige Fall, weil das Bild nicht durch 
manierierte und demente Züge verwischt ist. Daß die Krankheit 
luetisch bedingt war, müssen wir wohl bei der sicheren Infektion 
und den starken Veränderungen des Liquors annehmen. 

Klinisch haben wir es mit einem Eifersuchtswahn im Sinne 
Jaspers, Meyers und Schuppius zu tun, nicht mit einer 
krankhaften Eifersucht. Die Wahnideen entstanden allmählich, 
offenbar auf Grund einer angeborenen Anlage. Pat. war immer 
mißtrauisch, von Anfang an eifersüchtig, hatte immer ein Bedürfnis, 
alles genau zu erklären und mit Daten zu belegen. Die Wahnideen 

Pabri t Ina, Zur Klinik der nicht paralytischen Lues-Psychosen. (Abhandl. H. J4) 4 



50 


werden systematisiert, und ziehen immer größere Gebiete des all¬ 
täglichen Lebens in ihren Kreis. 

Die luetischen Vorgänge im Gehirn haben in diesem Falle, 
scheint es, mehr eine endogene Bereitschaft mobilisiert, als einen 
exogenen Reaktionstypus geschaffen. 

F a 11 9. R. G„ Techniker. 43 Jahre. Aufgen. 25. 2. 16, entl. 23. 3. 16. 
Diganose: Luespsychose. 

Anamnese: Vater 67 Jahre, lebt noch, Mutter mit 42 Jahren gestorben an 
Schwindsucht. Angeblich kein Suizid der Verwandten (hat keine Beziehung 
zu Verwandten des Vaters). Großvater väterlicherseits konnte in letzten 
Lebensjahren nicht gehen. Onkel mütterlicherseits auch an Lungenkrankheit 
gestorben. Schwester des Pat. „nervenleidend“, leicht erregbar. Bruder als 
Kind lungenleidend. 1 Halbbruder von Vaters Seite ist geistig zurück, hatte 
nach Diphtherie Lähmungen, aber nur im Halse. Über erste Entwicklung weiß 
Pat. nichts. Litt seit den ersten Schuljahren an Stottern. Besuchte die 
ß-klassige Schule des Vaters (Lehrer), erhielt Unterricht in Franz, und Latein. 
Lernen fiel ihm nicht schwer. Keine Enuresis, keine Krampfanfälle. Nach 
der Konfirmation Unterricht beim Taubstummenlehrer. Seit 1892 beim Magi¬ 
strat in Berlin angestellt. Anfang der 90er Jahre geschlechtliche Infektion. 
Mit 30 Jahren eine Kur, bisher keine Wa. R. Gesund bis 1911, dann Herz¬ 
klopfen und Atembeschwerden, große Augenpupillen, die sich immer wieder 
zusammenzogen. Arzt konnte daher nichts finden. Seit 1909 verheiratet, 
7jähr. Mädchen, dann Knabe mit y 2 Jahr gestorben. 1 Abort. Frau gesund. 
Ehe bis vor 1—2 Jahren gut. War früher gern in Gesellschaft, trank gern 
Bier. Vertrug Alkohol mal gut, mal weniger, wurde dann ausgelassen, über¬ 
mütig. In der Ehe kein regelmäßiger Alkoholgenuß mehr. Habe vor 
10 Jahren in der Trunkenheit einem fast 14jähr. Mädchen an die Genitalien 
gefaßt. Keine Anzeige. Hatte starke Gewissensbisse deswegen. 1914 habe 
„das Theater um ihn herum angefangen“. Die Kollegen machten ,Andeu¬ 
tungen“, sprachen von Sachen, die 10 Jahre zurückliegen und bestraft werden 
können. Hätten es nicht zu ihm gesagt, habe aber gemerkt, daß er gemeint 
war. Zur Rede gestellt, wurde es von den Kollegen bestritten. Habe all¬ 
mählich gemerkt, daß er „auf Schritt und Tritt beobachtet werde“. Alle 
hätten vor ihm ausgespuckt, auch solche, die er nicht kannte, das seien „Auf¬ 
passer“ gewesen. Wenn er bei der Arbeit etwas verkehrt gemacht habe, sei 
gespuckt, gegrinst, geklopft und mit den Türen geklappt worden. Auch 
sonst habe man „Theater in dieser Art“ gemacht, es aber immer abgestritten. 
Empört über derartiges Verhalten habe er sich mit den Kollegen verfeindet 
Auch zu Hause sei ihm dasselbe aufgefallen. Phoneme werden bestritten. 
Brennen im Halse, auch Brustschmerzen. Habe schon Speichel untersuchen 
lassen. Kollegen seien von einer Stelle aufgehetzt, einer habe die Leitung 
übernommen. In letzter Zeit habe er den Eindruck, als ob er hypnotisiert 
werde durch „innerliches Brennen“. Das Brennen werde auf elektrischem 
Wege gemacht Warum man ihm das an tue, wisse er nicht Könne sich nicht 
richtig verteidigen, da alles nur „indirekt angedeutet“ werde. 

26. 2. Hat schlecht geschlafen, eigenartige Empfindungen gehabt „wie 
bei Pollutionen“. Hohes Glücksgefühl, meint, „weil vom Opium gesprochen 
wurde“, könne er vielleicht einen Opiumrausch gehabt haben. Habe öfters 



51 


Gedanken, von denen er nicht weiß, wo sie herkommen, habe schon an eine 
„Mordverdächtigung“ gedacht Dies sei seit 8 Tagen. Treffe manchmal auf 
der Straße frühere Bekannte, die längst tot seien. Könne sich das nicht er¬ 
klären, wisse genau, daß er sich irre. Einwendungen gegenüber ist er ein¬ 
sichtig, sagt selbst, daß es sich um schwierige, schwer faßliche Dinge handele, 
daß er sich vielleicht irre. Verfällt aber gleich darauf wieder in seine Wahn¬ 
ideen zurück. Es sei ihm doch klar geworden, daß scheinbar harmlose Dinge 
einen tieferen Sinn für ihn hätten. Es würden ihm auch Angewohnheiten 
nachgemacht 

Angaben der Frau: Kennt den Mann 10 Jahre, keine Stimmungsano- 
malien, aber viel „für sich“. Änderung des Charakters „allmählich“. Wurde 
mißtrauisch, meinte, daß Kollegen über ihn sprechen. Das dauerte 1 Jahr 
lang, dann glaubte er, „Sticheleien“ im Büro zu bemerken, zog deswegen aus 
einem Beamtenwohnhaus nach Berlin. Jedoch keine Veränderung seiner 
Wahrnehmungen. Dauernde Verschlimmerung seines Zustandes. Die Frau 
gibt die gleiche Schilderung des Krankheitsbildes wie der Pat. Gegen die 
Frau keine Eifersuchtsideen. In der Arbeit gut Es werde Rücksicht auf ihn 
genommen, arbeite allein im Zimmer. 

Somatisch: Kaum mittelkräftig. Muskulatur schwach, Fettpolster go 
ring. Innere Organe o. B. Pat und Ach. Reff, gleich, lebhaft Kein Babinski. 
Pup. spurweise entrundet, Weite etwas wechselnd, links weiter als rechts, 
Augenbewegungen frei. Wassermann positiv. Lumbalpunktion verweigert 

Therapie: Tinct amara Smal 20 Tr. tägl. Bad jeden 2. Tag. 

2. 8. 16. Schmierkur. — Findet, daß die Pat. früheren Bekannten sehr 
ähnlich sähen. Weiß aber, daß es sich nur um Ähnlichkeit handelt, daß es 
wirkliche Bekannte von ihm nicht sind. Hat den Eindruck, daß seine Ge¬ 
danken festgestellt werden können seit ein paar Wochen. 

22. 8. Hält sich für sich. Hat den Eindruck, daß zwischen seine Ge¬ 
danken aus dem Hals heraus andere Gedanken kommen, Krankheitseinsicht 
dafür. Eigenbeziehungen. Erklärungsvorstellungen für die patholog. 
Symptome. Oberflächliches Krankheitsgefühl, Empfindung, daß es sich um 
abnorme Vorgänge handelt Angeblich hat sich der Zustand hier gebessert 
Pat korrigiert seine Beziehungsvorstellungen gegen die Arbeitskollegen nicht 
Auch hier krankhafte Mißdeutung seiner patholog. Erscheinungen mit äußeren 
Erlebnissen. Habe den Eindruck, daß er hier nicht hergehöre, habe sich 
deshalb zurückgezogen. 

23. 3. Entlassen. — Soll nachher besser und arbeitsfähig gewesen sein. 
Juli 16 bei einem Bootsunglück ums Leben gekommen. 

Zusammenfassung. 

Fall 9. Diagnose: Luespsychose. 

43jähriger Techniker. Litt seit den ersten Schuljahren an 
Stottern. Lues mit etwa 20 Jahren. 

Seit 2 Jahren habe „das Theater um ihn herum“ angefangen. 
Die Kollegen machten „Andeutungen“, Pat. wurde „auf Schritt und 
Tritt“ beobachtet, man hätte vor ihm ausgespuckt, mit den Türen 
geklappt. Phoneme werden bestritten; „innerliches Brennen“, was 
auf elektrischem Wege gemacht werde. Zog aus einem Beamten- 

4 * 



52 


wohnhaus aus wegen angeblicher „Sticheleien“ im Büro. Trotzdem 
lange arbeitsfähig. Es werde Rücksicht auf ihn genommen, arbeite 
allein im Zimmer. Keine Eifersuchtsideen. 

25. 2. bis 28. 3. 16 in der Charite. 

Stimmungslage ziemlich indifferent. Empört über das Verhalten 
der Kollegen. Habe sonderbare Gedanken, wisse nicht, woher die 
kommen. Einwendungen gegenüber einsichtig, sagt aber gleich 
darauf, es sei ihm doch klar geworden, daß scheinbar harmlose 
Dinge einen tieferen Sinn für ihn hätten. 

Somatisch: Pup. spurweise entrundet, sonst N. S. o. B. Bl. Wa. 
positiv. Lumbalpunktion verweigert. Gebessert entl. Arbeitsfähig. 
Ertrank Juli 1916 bei einem Bootsunglück. 

Daß wir es hier mit einer Luespsychose zu tun haben, ist höchst 
wahrscheinlich, obwohl die Lumbalpunktion verweigert wurde. 
Pat. hatte sicher Lues gehabt, und die Wa. Rea. im Blut war positiv. 
Auch die bedeutende Besserung, die — laut mündlicher Mitteilung 
der Frau — nach der antiluetischen Behandlung eintrat, spricht zu¬ 
gunsten einer Luespsychose. 

Klinisch stellt der Fall ein schönes Beispiel eines rein paranoi¬ 
schen Typus dar, und zwar in der Gestalt eines Beziehungs- und Be¬ 
einträchtigungswahnes. Halluzinationen kommen wahrscheinlich 
vor („innerliches Brennen“), treten aber gegenüber den Wahnideen 
ganz zurück. Eifersuchtsideen sollen dagegen gar nicht vorhanden 
gewesen sein. 

Den folgenden Fall habe ich mitgenommen, obwohl die Verhält¬ 
nisse bei dem recht hohen Alter des Pat. (63 Jahre) etwas schwerer 
zu überblicken sind. Die Wa. Rea. im Liquor ist außerdem negativ, 
im Blut aber stark positiv. Lues lag sicher in der Anamnese vor 
und war nie behandelt worden. Sein Hauptinteresse bietet der Fall 
als Beispiel jener „syphilisverdächtigen“ Halluzination im Senium, 
von denen uns Plaut 3 Beispiele geliefert hat. 

Fall 10. R. F., 63 Jahre, Arbeiter. Aufgen. 2. 8. 12, entl. 9. 1. 13. 

Bei der Aufnahme ruhig, nicht abweisend. In der Schule mäßig gelernt, 
als Gerber gearbeitet 

Kleiner, untersetzter Mann, leidlich ernährt. Rechter Unterschenkel und 
Fuß stark geschwollen, blau-rot verfärbt, glänzend, teilweise mit Borken be¬ 
deckt, keine offenen Stellen. Zehen verdickt, Nägel schwarz verfärbt. 
Innere Organe o. B. 

Nervensystem: L. Pupille zeigt Trübung, Cornea verzogen. Pupülen 
normal. Pat Refl. nicht auslösbar, Achillesreflexe desgl. Nervenstatus sonst 
normal. 

Will in den Jahren 1880—90 als Restaurateur viel getrunken haben, jetzt 
Pot neg. Lues pos., keine Behandlung. Lungenentzündung vor ca. 6—7 Jahren. 




53 


Seit ca. 20 Jahren will Pat. an Ulcera cruris des r. Fußes leiden. L. starke 
Varizen. 

3. 8. Fühlt sich seit 4—6 Wochen verfolgt, leidet an Angstgefühlen, 
Beklemmungen in der Herzgegend, starkes Herzklopfen. Glaubt, daß man 
ihm die Hoden abschneiden wolle. Hört Stimmen: „schlagt ihn tot“. Beim 
Druck auf die Bulbi keine Halluzinationen. Bezieht alles auf sich, z. B. wenn 
die Leute auf der Straße die Köpfe zusammenstecken, glaubt er, man spreche 
über ihn. 

6. 8. Verhalten geordnet. Keine Klagen. 

8. 8. Wassermann stark pos. Lumbalpunktion: klare Flüssigkeit, keine 
Eiweißvermehrung; bis zu 20 Lymphozyten im Gesichtsfeld. Wassermann 
negativ. — Hg.-Injektionen. 

13. 8. Behauptet, daß man ihm den Sack abschneiden wolle, daß man 
ihm nach dem Leben trachte, was er später jedoch auf Befragen lächelnd 
zurtickweist Verhalten geordnet. Keine Angst oder Verstimmung. Füße besser. 

16. 8. Hält an seinen Wahnideen stark fest, „was er höre, höre er eben“. 

81. 8. Stimmen, die er in den letzten Tagen nicht gehört, hört er wieder, 
man wolle ihn töten. 

3. 9. Ruhiger, gibt zu, daß die Stimmen nur in seiner Einbildung be¬ 
standen haben könnten. 

9. 9. örtlich und über Umgebung orientiert. Obwohl er richtig angibt, 
vor 32 Jahren geheiratet zu haben, kann er das Jahr nicht ausrechnen. 
Erheblich reduzierte Merkfähigkeit. Recht starke Gehörshalluzinationen, die 
auf einen Mann bezogen werden, dem er Geld geborgt habe. „So’n dummer 
Kerl, Dusselkopf, Schafskopf.“ Die Äußerungen bezogen sich immer auf die 
Geldangelegenheiten: „von dem kann man verlangen, was man will, das 
kriegt man“. Teils waren die Halluzinationen eingekleidet in Selbstvor-* 
würfe. Hörte genau seinen Namen. Habe keine Abwehnnaßregeln anläßlich 
der Stimmen getroffen: „Was soll ich machen, er hat kein Geld.“ Stimmen 
nehmen allmählich eine drohende Haltung an, er solle totgeschlagen werden. 
Später mischten sich auch die Stimmen anderer Leute in die Drohungen. — 
Wahnideen werden immer systematisiert, im Mittelpunkt derselben die Geld¬ 
affäre. Jetzt wollen auch andere Menschen ihn töten. Halluzinationen nur 
auf akustischem Gebiet, sehr deutlich. 

1. 10. „Ich weiß, daß ich zum Tode verurteilt bin, da geben Sie mir 
doch gleich Gift zu trinken, damit ich nicht so gemartet werden kann.“ — 
Keine Krankheitseinsicht. 

23. 10. Ruhiger, hält sich für gesund, will nicht mehr Stimmen hören, 
blickt aber nach den Luftschachten über ihm und murmelt leise vor sich hin. 

1. 11. Wieder unruhiger. Mißtrauisch. Hin und wieder laute Zomes- 
ausbrüche. 

19. 11. Schlaf gut. Halluzinationen noch lebhaft. Keine Krankheits¬ 
einsicht 

9. 1. Alle paar Tage Zustände zorniger Gereiztheit Immerfort Gehörs¬ 
halluzinationen, die auf die Lüftungsklappen projiziert werden. Sonst still 
und ruhig, zieht sich von den anderen Pat zurück. Keine auffallenden intel¬ 
lektuellen Defekte. Gute Merkfähigkeit, gut orientiert über Zeit und Umgebung. 

Pat in Buch vom 9. 1. 18 bis 27. 3. 23. 

Diagnose: Dementia senilis mit paranoiden Ideen und Halluzinationen. 



54 


Zusammenfassung. 

Fall 10. 63jähriger Arbeiter, früher Restaurateur (vor 25 Jah¬ 
ren), danach viel getrunken. Lues positiv. Leidet seit mehreren 
Jahren an Ulcera cruris. Wa. R. im Blut pos., im Liq. —. 

Seit 4—5 Wochen Angstgefühle, Beklemmungen in der Herz¬ 
gegend. Fühlt sich verfolgt. Hört Stimmen bedrohenden Charak¬ 
ters. Bezieht alles auf sich. Man wolle ihm den Sack abschneiden, 
man trachte ihm nach dem Leben. Die Wahnideen werden immer 
mehr systematisiert. Intelligenz herabgesetzt. 

Stimmung ängstlich, mißtrauisch, gereizt. Hin und wieder 
laute Zomesausbrüche. — Sonst ruhig, gut orientiert. Keine Krank¬ 
heitseinsicht. 

Hier kommen pathogenetisch wahrscheinlich mehrere Kräfte in 
Betracht. Auf das Senium muß wohl die ängstliche bedrückende 
Stimmungslage zurückgeführt werden, sowie der geistige Schwäche¬ 
zustand. Dieser zusammen mit den Halluzinationen gibt vielleicht 
den Wahnideen ihren flüchtigen, absonderlichen Inhalt. Die Hallu¬ 
zinationen treten auffallend stark hervor. 

Die Ähnlichkeit des Falles mit den akustischen, syphilisverdäch¬ 
tigen Halluzinosen bei Plaut berechtigt die Veröffentlichung des 
Falles. Wir fordern uns auf, bei starken Halluzinationen auch im 
Senium nach Syphilis zu suchen. 

Der folgende Fall ist in der Hinsicht sehr interessant, daß wir 
den fast 7—8jährigen Krankheitsverlauf, der mit dem Tode ab¬ 
schloß, überblicken können. 

R. N., Tischler, 40 Jahre alt. Aufgen. 2. 8. 20. cnt.1. 13. 12. 20. 

Lues cerebri. Luespsychose. 

Bei der Aufnahme etwas widerstrebend. Gesichtszüge schlaff. Andeu¬ 
tung von maskenartigom Gesichtsausdruck. 

Pup. rechts eng, entrundet, links mittelweit. L. R. vorhanden, jedoch 
träge uijd nicht ausgiebig. C. R. prompt, normal, Augenbewegungen frei, 
kein Nystagmus. Augenhintergrund o. B. Fazialis gleichmäßig innerviert, 
beim Mundspitzen und Pfeifen auffallend ungeschickt. 

Zunge: Beim Hervorstrecken und Bewegen nach rechts und links zeit¬ 
weilig unregelmäßiges Wogen der Muskulatur. Sprache: Keine exakte Arti¬ 
kulation. Beim Nachsprechen schwieriger Paradigmen deutliches Silben- 
stolpem, auch Verwischen der Silben. Auffallend geringe Innervation der 
Gesichlsmuskulatur beim Sprechen (Gesichtszüge bleiben gleichmäßig schlaff). 
Innere Organe o. B. Feinere Fingerbewegungen bds. etwas ungeschickt. Pat 
'Refl. lebhaft, bds. gleich. Ach. Refl. normal, keine Pyramodenreflexe (Rosso- 
limo r. pos., links angedeutet, nichts Sicheres). Sensibilität am ganzen Körper 
intakt. Kein Klonus. Anfangs widerstrebend, will nicht mehr bleiben, jedoch 
leicht beeinflußbar, fügt sich. Macht gleichgültigen Eindruck, Stimmungslage 
schwankend. Während der Exploration gesprächig, redet lange Zeit spontan. 



55 


ohne besonderes Ziel, kommt vom Hundertsten ins Tausendste. Zeitweilig 
gereizt. Zeitlich, persönlich, örtlich orientiert. Widerspricht sich dauernd, 
ohne es zu merken. Uneinsichtig in seine Lage. Er sei jetzt hier, weil er 
krank sei. (Sind Sie krank?) „Nein, das ist dasselbe wie in der Maison de 
8ant6 (Anstalt), weil ich mich auch krank fühlte“. Zahlenmerken: nach 3 Min. 
richtig (31 minus 19?). „Das muß ich aufschreiben, im Kopfrechnen bin ich 
schwach.“ — (Jahr?) „21“, erst nach mehrmaligen Einwänden richtig. (Krieg?) 
„1813“, verbessert dann „1913“: war nicht eingezogen, war gerade in Nerven¬ 
heilanstalt. Klagen: Kopfschmerzen, die zeitweilig tagsüber auftreten und 
nicht heftig sind. Schlaf sei schlecht, Stuhlgang auch. Potenz sei erloschen. 
Erzählt umständlich und in weitschweifiger Weise von seinen Leiden, weicht 
dauernd vom Thema ab. 

4. 8. (Blut nach polikl. Blatt am 27. 7. 20 neg.) Lumbalpunktion: 5 ccm 
klar. Opalescenz. Mittelstarke Vermehrung der Lymphozyten. Wassermann: 
0.8 stark pos., 0,4 schwach pos., 0, 2 neg. 

25. 8. Drängt oberflächlich heraus. 

Habe bemerkt — schon vor der Aufnahme — daß Sachen seiner Frau 
abgenützt waren, Frau habe gemeint, es sei „Altersschwäche“. — Er habe keine 
bestimmte Person im Verdacht, aber von nichts kommt nichts. — Als er in 
Anstalt Neuruppin gekommen sei, sei ihm aufgefallcn, daß das Kopfkissen 
neubezogen worden sei. — Redet fahrig um die Dinge herum. Will offenbar 
mit seinen Eifersuchtsideen nicht heraus. In seiner ganzen Art etwas Unbe¬ 
stimmtes. Meist heiter, bittet nur ab und zu um Abführmittel. Es gefalle 
ihm hier nicht, weil er keine Freiheit, keinen Ausgang habe. Seit über 
6 Jahren keine rechte Erektion mehr gehabt. Auf der Straße keine Be¬ 
merkungen über sich gehört. Spricht gleichgültig von seiner Impotenz. Die 
Nerven seien kaputt, das zeige sich in allen Bewegungen. Könne nicht mehr 
tanzen. Gedächtnis sei schlecht, aber schon von Schulzeit an. 

Vor 5—6 Jahren in Nervenheilanstalt wegen „geschlechtlicher Sachteil “. 
Lächelt bei der Exploration, gleichgültiges Verhalten, langsam fahrig in seinen 
Bewegair gen, sieht ziellos zum Fenster hinaus. 

19GS infiziert bei seiner Frau. 3 Totgeburten, 1 Fehlgeburt. Eine jetzt 
18jährige Tochter bis 6 Jahren gesund, dann 6 Jahre in Anstalt in Potsdam, 
„weil sie nicht laufen konnte“. — Er halte sich hier für sich, sei immer so 
gewesen, höchstens mal mit Frau ins Konzert gegangen. Wenn man ihn ent¬ 
lassen würde, würde er Arbeit suchen. 

1. 10. Fühlt sich gut, glaubt arbeiten zu können. Gehen und Wasser¬ 
lassen sei in Ordnung. Nach der 3. und 4. Salvarsanspritze viel Erektionen 
bis zur 8., dann wieder schwach. 

2. 10. Beendigung der Silber-Salvarsankur. Insgesamt 2,1 g. 

27. 10. Pup. beide leicht entrundet. L. R. nur angedeutet Pup. ver¬ 
engern sich nur wenig über Mittelweite hinaus. C. R. prompter. R. maximale 
Konvergenz, links weniger intensiv. Sprache: beim Nachsprechen Neigung 
zu schmieren, nie scharf artikuliert. Bei Paradigmen hin und wieder leichtes 
Silbenstolpern. Schnelle Handbewegungen etwas ungeschickt, vor allem 
Handschütteln, rechts besser als links. F. N. V. prompt. Pat. Refl. lebhaft, 
gleich, Ach. Refl. normal. Rossolimo ist links nicht auszuschließen, r. neg. 
Gang mit offenen Augen nicht auffällig, bei geschlossenen Augen sehr große 
Unsicherheit schon beim ersten Schritt. Beim plötzlichen Aufstehen kommt 



56 


er ins Schwanken, greift nach einem Halt, kann sich dann gerade aufrecht 
halten. Gibt auf Befragen an, daß er solch verändertes Gefühl hin und wieder 
seit Monaten habe. Im April sei es ihm besonders aufgefallen, er habe mit 
seiner Frau tanzen wollen, sei umgefallen, ohne eine Erklärung dafür zu 
finden. Hält an den Eiferßuchtsideen nicht mehr fest, sehe auch, daß das 
Abgeschabte an der Bluse Altersschwäche sei. Beim Rechnen Defekte wie 
früher. Zahlenmerken: nach 2 Min. vergessen. 

Stimmungslage gleichgültig, etwas weinerlich, keine tiefen, affektbe¬ 
tonten Äußerungen. Drängt oberflächlich hinaus, bricht heute bei der Frage 
der Entlassung in Tränen aus. Was ihm hier nicht gefalle, könne er nicht 
sagen, möchte zu seiner Frau. Kein Widerspruch, als ihm gesagt wird, er 
müsse noch mehrere Wochen hier bleiben. Auf der Station falirig, ziellos, 
geht und sitzt ohne sich wesentlich zu beschäftigen umher. Ober politische 
Zeitereignisse unterrichtet. 

29. 10. Beginn der Schmierkur. 

Augenhintergrund: große physiolog. Exkavation, normal gefärbte Papille. 
R. Pap. temporal etwas blaß, vielleicht beginnende Atrophie. Schmale Rand¬ 
zone, die auch atrophisch erscheint. 

Vom 23. 10. 14 bis 20. 1. 15 Anstalt Neuruppin . 

Diagnose: prog. Paralyse. 

Gedächtnis für jüngste Vergangenheit lückenhaft. Geringes Krankheit*- 
bewußtsein. Eifersuchtsideen: deswegen aggressiv gegen Frau. Obszöne 
Redensarten. Typisches Silbenstolpern. 

1. 11. Angaben der Ehefrau: Pat habe erzählt, vor der Ehe (1897) ge¬ 
schlechtskrank gewesen zu sein. Schmierkur gemacht. Im ersten Jahr der 
Ehe zweite Schmierkur, Arzt sagt, es sei eine veraltete Sache. Arzt riet der 
Frau zur ärztlichen Behandlung (nach Untersuchung). Keine äußeren 
Zeichen der Ansteckung. In der Ehe sei sie nie krank gewesen. 3 Totge¬ 
burten im 7., 8. und Monat, letztes Kind war ausgetragen, soll nach ärzt¬ 
lichem Urteil kurz vor der Geburt abgestorben sein. Steißlage. Arzt habe 
Totgeburt auf die Ansteckung zurtickgeführt. 4. Kind 1902 normale Geburt 
Nach 14 Tagen blasenförmiger Hautausschlag, nach Behandlung mit Bädern 
zurückgegangen, nicht mehr aufgetreten. Körperlich und geistig normal 
entwickelt. Mit 5J4 Jahren plötzlich „Kinderlähmung“. Wurde als luetisch 
angesehen, Schmierkur. Konnte Schule nicht besuchen, störte Unterricht, war 
geistig zurück. Idiotenanstalt. Watschelte beim Gehen, konnte allmählich 
nicht mehr stehen, brach sofort zusammen. 

Bei der Frau keine luetischen Erscheinungen. Ab und zu seit Jahren 
Kopfschmerzen, führt das auf Sorgen zurück. Vor 4 Wochen 3—4 Tage 
Schwindelanfälle und Ohrensausen. Während der Ehe (1908—10) hat sich 
Pat außerehelich neu infiziert. Geschwüre an den Händen, Frau bekam 
Ausfluß. Pat. bekam flüssige Medikamente, Frau weiß nicht, ob Arzt innere 
Infektion annahm. Frau habe eingestanden (als er noch geistig gesund war), 
sich außerehelich angesteckt zu haben. Nach 3—4 Wochen Rückgang der 
Geschwüre. 

1913 geistige Veränderung: Eifersuchtsideen (bestanden auch noch 15 
nach Anstaltsentlassung). Ende 15 ganz plötzliche Besserung: „war ver¬ 
nünftiger als früher“, war sofort ruhig, wenn Ref. ihn wegen event Eifer¬ 
suchtsideen zurückwies. Bis Mai 20 beinahe vollwertig gearbeitet, zwischen- 



57 


durch mal nicht, weil er alles vergaß. Scheu und zurückhaltend schon vor 
der Erkrankung. Jetzt Eifersuchtsideen: Frau dürfe sich nicht im Saal Um¬ 
sehen. Karfreitag 19 „Sprachanfall“. Wurde nach Hause gebracht, sprach un¬ 
artikuliert, Speichel floß aus dem Munde. Arzt führte Anfall auf geschlecht¬ 
liche Infektion zurück. Nach 4—5 Wochen weiter bessere Sprache, jedoch 
gegen früher undeutlicher. 

Vor 8 Jahren % Jahr in Maison de sante, Arzt habe gesagt, es sei „eine 
schwere Gehirnparalyse“. Vor Aufnahme „tiefsinnig“, Eifersuchtsideen: sei 
5 Monate zu Haus gewesen, nicht gearbeitet, um Frau zu beobachten; Er¬ 
regungszustände, riß der Frau die Sachen vom Leib, bedauerte es nachher. 
Erregungen kamen plötzlich, mehrmals am Tage. 

Vor 5—6 Jahren schweres Blasenleiden, habe Vk Jahr lang Wasser nicht 
halten können. Vor 8 Jahren Unfähigkeit, den Stuhl zu halten, 14 Tage lang, 
damals auch Essen ausgebrochen. Seit 12 Wochen entlassen, weil er alles 
verkehrt mache. Nahrungsaufnahme gering seitdem. Vor 1 Jahr in Straßen 
Berlins verirrt, seitdem nicht mehr allein ausgegangen. Außerdem Schwin 
delanfäDe 3—4mal hintereinander mit nachfolgendem Erbrechen ohne vor¬ 
ausgegangenen Anlaß. 

3. 11. Augenhintergrund o. B. 

23. 11. Krankheit unverändert. Pat. ist weinerlich, bricht bei der Visite 
spontan in Tränen aus, begründet es damit, daß er nach Hause wolle, drängt 
nicht weiter auf Entlassung. Schlaffe Gesichtszüge. 

7. 12. Schmierkur 6 Wochen, tägl. 4,0 Hydr. ein. beendet. Bl. Wa. neg. 

Sieht Eifersuchtsideen als „Dummheit“ an, habe ja auch Gespenster ge¬ 
sehen, zuletzt vor 1 Jahr. Früher deswegen in Anstalt gekommen: „es war 
wie Spukgeschichten, als ob mich jemand am Halse packte“. Gesehen habe 
er niemand, „es war wie ein Traum“. Die Eifersuchtsideen wären ebenso 
unbegründet gewesen. Rechendefekt und Merkfähigkeitsstörung wie früher 
vorhanden. Sprache: keine sichere artikulatorische Störung. Bei Paradigmen 
zuweilen etwas verwaschen und silbenstolpernd. Geordnet, unauffällig, ge¬ 
ringe Initiative. Drängt nicht heraus. Möchte Weihnachten zu Haus sein. 
Zuweilen kurzer, weinerlicher Affekt. Fängt ohne Grund an zu weinen. Kann 
auf Befragen keine Ursache nennen. Schlaffe Gesichtszüge. 

Lumbalpunktion: klar, wasserhelk Druck nicht wesentlich erhöht, 6 ccm 
entnommen. Ph. I. Opalescenz. 

Lymphozytose: mittelstarke Vermehrung. 0,8 stark pos., 0,4 schwach 
pos., 0,2 negativ. 

9. 12. Augenhintergrund: bds. blaß, nicht pathologisch. Salvarsankur: 
Silbersalvarsan 0,1 (1) und 0,2 9 Spritzen. Entl. 13. 12. 20. 

Nachuntersuchung: 18. 3. 21. Befinden unverändert. Arbeitsunfähig. 
Eifersuchtsideen. Stumm, kein Interesse. Liest nicht die Zeitung, wechselnde 
Stlmmnng8lage. Zeitweise euphorisch, neigt zu Schimpfereien. Lenksam wie 
<ein Kind. Frau muß verdienen. Oberflächliche Äußerungen: er möchte Ar¬ 
beit haben. Verläuft sich gelegentlich in den Straßen. 

In der Nacht 22./23. Juli 1921 plötzlich im Schlaf ein Anfall, schnarchte 
auf, hatte Krämpfe, danach bewußtlos und regungslos im Bett, wurde inB 
Krankenhaus überführt und starb am 24. 7. 21. — Am Tage, als die Frau den 
Mann aus dem Krankenhaus* herausholte, bekam sie eine linksseitige Läh¬ 
mung. Wa. Rea. im Blut pos. Jetzt: typisch spastisch-paretischen Gang. 



58 


Zusammenfassung. 

Fall 11. Diagnose: Luespsychose. 

46jähr. Tischler. Mit etwa 22 Jahren luetische Infektion. Soll 
immer scheu und zurückhaltend gewesen sein. 1913 geistige Ver¬ 
änderung. Eifersuchtsideen. 23. 10. 14 bis 20. 1. 15 war Pat. in 
Anstalt Neuruppin aufgenommen. Diagnose: progr. Paralyse. Ge¬ 
dächtnis für jüngste Vergangenheit lückenhaft. Geringes Krank¬ 
heitsbewußtsein. Eifersuchtsideen. Deswegen aggressiv gegen Frau. 
Typisches Silbenstolpern. 

Ende 1915 plötzliche Besserung, „war vernünftiger als früher“, 
jedoch noch Eifersuchtsideen. Bis Mai 20 beinahe vollwertig ge¬ 
arbeitet, zwischendurch nicht, „weil er alles vergaß“. Vor 3—4 Jah¬ 
ren schwere Blasen- und Mastdarmstörungen (Inkontinenz). 

2. 8. 20 Aufnahme in die Charite wegen Eifersuchtsideen. 
Äußerst weitschweifig, „kommt vom Hundertsten ins Tausendste“, 
örtlich, persönlich, zeitlich orientiert. Affektlage recht indifferent. 
Keine Halluzinationen. In seiner ganzen Art etwa3 Unbestimmtes. 
Will offenbar mit seinen Eifersuchtsideen nicht heraus. Kopf¬ 
rechnen äußerst dürftig. 

Somatisch: L. Reakt. d. Pup. nur angedeutet, Pat. Refl. lebhaft. 
Sensibilität intakt. Gang mit geschlossenen Augen äußerst unsicher. 
Leichtes Silbenstolpern. Wa. R.: im Blut negativ, im Liq. positiv. 
Pleozytose: mittelstark. 

18. 3. 21: Nachuntersuchung. Interesselos, arbeitsunfähig, 
fortwährend Eifersuchtsideen. Juni 23 teilt die Frau mft, daß der 
Mann am 24. Juli 1921 infolge eines „Anfalls“ gestorben sei. Die 
Eifersuchtsideen waren in der letzten Zeit verschwunden. 

Der Krankheitsverlauf ist ganz eigenartig. Bereits 1913, etwa 
17 Jahre nach der Infektion und im 39. Jahre des Pat. wurde er — 
nach den Angaben der Frau — verändert. Im folgenden Jahre 
mußte er wegen Eifersuchtsideen in einem Krankenhaus aufge¬ 
nommen werden, und hier wurde die Diagnose: progressive Paralyse 
gestellt. Dann 5—6jährige Remission, in der Pat. arbeitsfähig war, 
und als sich wieder ein akuter Schub entwickelte, finden wir aber¬ 
mals ein — allerdings sehr schlaffes — paranoides Bild mit Eifer- 
suchtsideen vor. Danach bildet sich ein Demenzzustand aus, der den 
Kranken unfähig zur Arbeit macht. Auch zur Zeit der Remission 
1915 bis 20 muß wohl eine geistige Schwäche vorhanden gewesen sein, 
da er zwischendurch nicht arbeiten konnte, weil „er alles vergaß“. 

Ist die Krankheit nur als eine atypische Paralyse aufzufassen, 
in der flüchtige Eifersuchtsideen auftauchen? Denn hier handelt eä 



59 


sich tatsächlich mehr um flüchtige Einfälle als um systematische 
Wahnideen. Oder haben wir es mit einer Luespsychose zu tun, die 
allmählich in eine Paralyse übergeht? 

Eine Diskussion wird — glaube ich — zu keinem sicheren 
Schluß führen. Als Ergebnis des Falles können wir nur feststellen, 
daß der Fall — wenn eine Paralyse — sehr atypisch war, so daß 
in der Charite die Diagnose nach einem etwa 6—7jährigen Verlauf 
auf eine Luespsychose gestellt wurde. 

Von den fünf Fällen 7—11 gibt uns der erste ein typisch halluzi¬ 
natorisches paranoisches Bild, das allerdings mit schizoiden Zügen ge¬ 
mischt ist. Der zweite Fall liefert ein schönes Beispiel eines Eifer- 
suchtswahns bei einem offenbar paranoisch veranlagten Manne; im 
dritten treffen wir wiederum den Typus eines Beziehungswahns. 
In allen drei Fällen liegt Lues sicher vor, in den beiden ersten Fällen 
Ist der Liquor positiv, ira dritten das Blut (Punktion verweigert). 

Auffallend ist vor allem im zweiten und dritten Fall der günstige 
Einfluß der antiluetischen Behandlung. Auch im ersten wurde eine 
bedeutende Besserung erzielt, aber keine Arbeitsfähigkeit. 

Im vierten Falle haben wir vielleicht mit einer Verbindung von 
luetischen und senilen Wirkungen zu tun. Auffallend sind hier die 
stark hervortretenden Halluzinationen. 

Im letzten Falle schließlich haben wir mit einem 7jährigen 
Krankheitsverlauf zu tun. Die Krankheit beginnt mit stark hervor¬ 
tretenden Eifersuchtsideen, die nach einer Remission von 4—5 Jah¬ 
ren wieder zum Vorschein kommen. Pat. geht dann an einem 
klinisch als eine Paralyse erscheinenden Siechtum zugrunde. Der 
Fall muß entweder als eine höchst atypische Paralyse aufgefaßt 
werden, oder hier liegt eine Verbindung Ir/.w. ein Nacheinander¬ 
folgen von cerebral-luetischen Vorgängen und einer Paralyse vor. 
Wir werden ähnlichen Fällen noch bei der Besprechung der mani¬ 
schen, depressiven und katatonen Zustandsbilder begegnen. 

Bezüglich der Diagnose der Halluzinose- bzw. der halluzina¬ 
torisch-paranoischen Fälle will ich noch ihre Verwandtschaft und 
Ähnlichkeit mit manchen Verwirrtheitszuständen betonen. Wir 
finden bei diesen ja sehr oft sowohl Halluzinationen wie Wahnideen, 
und andererseits bei jenen auf der Höhe der Erregung eine mehr 
oder weniger deutlich ausgesprochene Verwirrtheit. Wir dürfen uns 
hierbei differential-diagnostisch vor allem vom Gesamteindruck leiten 
lassen, und vor allem von einer Halluzinose eine gewisse Besonnen¬ 
heit und ein geordnetes Benehmen fordern, wogegen hei den Ver- 



wirrtheitszuständen der Schwerpunkt auf der mehr oder weniger 
unberechenbaren launischen Bewußtseinstrübung liegt 
Chronische Defektzustände. 

Diese Formen von Luespsychosen gehören zu den längst und 
am besten bekannten, so daß eine Veröffentlichung neuer Beiträge 
zu denselben kaum berechtigt wäre. 

Ich werde deshalb auf einige Fälle von postsyphilitischer 
Demenz, die in der Charite zur Beobachtung kamen, verzichten, 
will aber einen Fall von einfacher pseudoparalytischer Demenz mit- 
teilen, weil er m. E. nicht alltäglich ist. Ich habe den Fall selbst in. 
Helsingfors beobachtet. 

Fall 12. 38jähr. Eisenbahnbeamter. Aufgen. 10. 5. 22. Immer gesund, 
eifriger Sportsmann gewesen. Nie getrunken. Lues negiert 

Im Herbst 17 war Pat. als Beamter am finnischen Bahnhof in Peters¬ 
burg. Es waren schwere Zeiten (der Kommunismus siegte damals gerade in 
Rußland) und Pat. wurde sehr überanstrengt und hatte allerlei Unannehmlich¬ 
keiten zu überstehen. Er wurde schlaflos, schweigsam und nervös und zog 
sich — wie auch sein Chef später vor dem Gericht bestätigte — zurück für 
sich selbst Während unseres Krieges in Finnland im Frühjahr 18 mußte er 
im Dienste der Roten in Petersburg arbeiten. Er wurde deshalb, als er im 
Mai 18 nach Finnland fliehen konnte, von den Weißen verhaftet und wurde 
seines Amtes verlustig erklärt Seine Nervosität nahm jetzt stark zu, und im 
Sommer 1918 wurde er in' einer privaten Irrenanstalt zu Helsingfors aufge¬ 
nommen. Hier wurde pos. Wa. R. im Blut und im Liq. festgestellt. Nachher 
war Pat noch fast 1J4 Jahre in einer Anstalt in Wiberg. 

Nach seiner Entlassung lebte er — ohne arbeiten zu können — bei seinem 
Vater auf dem Lande. Inzwischen hatte sein Vormund Einspruch gegen seine 
Verurteilung erhoben. Auf Grund einer ärztlichen Bescheinigung wurde 
auch das Urteil kassiert. Er forderte nun auch, zum Dienst wieder zuge 
lassen zu werden, und wurde mir zwecks Begutachtung überwiesen. 

Status Mai 1922. Kräftig gebaut. Am Nervensystem völlig normale 
Verhältnisse, nur die Lichtreaktion der Pupillen fehlt bei er¬ 
haltener Konvergenzreaktion völlig. Liq.: klar, Pandy X X. Phase L x , 
Goldsool: keine Paralysereaktion. Wassermann —. Pleozytose: Zelle in mm*. 

Bei der Intelligenzprttfung können keine Defekte nachgewiesen werden. 
U. a. schreibt Pat. mir einen Bericht über seinen Prozeß, der völlig korrekt ist. 
Das einzige Pathologische besteht in einer offenbaren leichten Ermüdbarkeit. 
Spricht man längere Zeit mit dem Pat., fängt er an, die Fragen zu wieder¬ 
holen und sagt oft: „Was sagen Sie?“, „ich verstand nicht ganz“ usw., wird 
auch leicht erregt und hat ab und zu etwas Gespanntes in seinem Wesen. 

In meinem Gutachten schlug ich vor, den Pat. versuchsweise auf 
einem einfacheren Posten zu verwenden. Er wurde auch jetzt als Rechen¬ 
gehilfe angestellt, mußte aber nach etwa IM Monaten entlassen werden, denn 
-er war nicht fähig, mehr als ungefähr % bis 1 Stunde zu arbeiten, dann 
sanken seine Leistungen fast bis auf 0. In seinem Benehmen lag nichts 
Auffälliges. 



61 


Zusammenfassung. 

Fall 12. 38jähriger Eisenbahnbeamter, der immer gesund ge¬ 
wesen war und seinen Dienst (am finnischen Bahnhof in Petersburg) 
versorgt hatte. Lues negiert. Im Herbst 17 und im Frühjahr 18 
z. Zt. der russischen Revolution und des finnischen Krieges hatte 
Pat. viel zu leiden, wurde düster, schlief nicht, zog sich zurück und 
mußte im Sommer 1918 in eine Privatanstalt aufgenommen werden. 
Hier wurde positive Wa. R. in Blut und Liq. festgestellt. Pat. war 
dann noch 1*4 Jahre in einer anderen Anstalt. Im Frühjahr 22 ver¬ 
langte er wieder in seinen Dienst einzutreten und wurde von mir 
untersucht. 

Status Mai 1922. Nervensystem o. B. Nur die Pupillen sind 
völlig lichtstarr, Konvergenzreaktion dagegen erhalten. Wa. R. 
in Bl. und Liq. negativ, Ph. I +, Pandy ++, Goldsool nicht para¬ 
lytisch. Die Intelligenzprüfung weist keine gröberen Defekte auf. Aus 
diesem Grunde erhielt Pat. versuchsweise wieder leichten Dienst bei 
den Staatseisenbahnen, es zeigte sich aber, daß er völlig unfähig war, 
etwa Verwendbares zu leisten. Sein Benehmen war völlig geordnet. 

Dieser Fall muß wohl als ein typisches Beispiel einer leichten, 
einfachen, pseudoparalytischen Demenz bezeichnet werden. Zur Zeit 
des akuten Schubes — der einen schlaffen, deprimierten Charakter 
hatte — war die Wa. Rea. in Liq. und Blut positiv und als Folge des 
überstandenen Prozesses hatte Pat. lichtstarre Pupillen. Danach 
entstand ein jetzt wenigstens 3Jahre dauernder stationärer Zu¬ 
stand von leichter Demenz mit negativen Reaktionen. 

Luespsychosen von manisch-depressivem oder 
katatonem Charakter. 

Wir kommen jetzt zu einer letzten Gruppe von Luespsychosen, 
die Zustandsbilder der soeben erwähnten Art zeigen. Es sind gerade 
diese Fälle, die bezüglich ihrer klinischen Stellung und Einordnung 
so unaufgeklärt sind. 

Ich verfüge über 11 zu dieser Gruppe gehörige Fälle, von denen 
drei uns nur durch einen einzelnen Schub bekannt sind, wogegen 
der Gesamtverlauf sich nicht überblicken läßt. In den übrigen 
8 Fällen habe ich diesbezügliche Notizen erhalten können, und sie 
stellen dadurch einen willkommenen Zuschuß zu unserer Kennt¬ 
nis dar. 

A. Manische bzw. depressive Zustandsbilder. 

Unter unserem Material befindet sich nur ein einziger Fall von 
ausgesprochen manischem Typus. 



62 


Fall 13. F. K., Kaufmannaehefrau. 27 Jahre. Aufgen. 22. 8. 21« 
enü. 24. 9. 21. Diagnose: Luespsychose. Manisches Zustandsbild 

Angaben des Ehemanns: Regt sich bei jeder Kleinigkeit auf, schimpft 
in den gemeinsten Ausdrücken, wirft mit Gegenständen, schimpft manchmal 
stundenlang, lacht manchmal gleich wieder. Schlaf seit Monaten schlecht, in 
den letzten 4 Wochen von Tag zu Tag schlimmer. Kauft sinnlos ein, Wirt¬ 
schaftsgeld verbraucht sie zu nebensächlichen Sachen, macht Anzahlungen. 
Will sich andere Einrichtung kaufen, will Verwandte noch anborgen. Läßt 
sich in Geschäften Pelze umhängen, die sie gar nicht kaufen kann. Regt sich 
über Kleinigkeiten auf, duldete keine Widerrede, glaubte sich von Mann und 
Verwandten tyrannisiert; glaubte sich von Männern verfolgt, sei so hübsch, 
bilde sich überhaupt viel auf ihre Person ein, sehr eitel. Macht alles mehr¬ 
mals; hat Selbstmordgedanken: Gift, Gas, will einen Revolver haben. Seit 
1 Mon. schlechte Nahrungsaufnahme, behauptet immer, schon gegessen 
zu haben. 

Vor der Aufnahme sehr aufgeregt, zankte mit jedem. Größenideen, wollte 
Schneideratelier aufmachen, sich reiche Kundschaft besoigen. Sprach von 
Scheidung. Aggressiv gegen Mann. Bei Überführung ins Krankenhaus Er- * 
regungszustand. — Hatte vorher einem Herrn im Lokal 1 Glas Bier ins Ge¬ 
sicht gegossen, als dieser mit Ref. in Streit geraten war. Als Pat ihren 
Eltern davon berichtete, bekam sie Krampfanfall, den Arzt für epileptisch 
hielt. 4—5 Tage im Bett gelegen, sehr ruhig, bekam Medizin. Fing die letzten 
Tage an im Bett zu suchen. Klagte in letzter Zeit über Übelkeit, habe Band¬ 
wurm. Sonst niemals — auch früher nicht — Ohnmächten oder Krämpfe. 
Menses einmal 6 Mon. weggeblieben, dann wieder, regelmäßig aufgetreten. 
Keine Gravidität. 

Seit 1 Jahr verheiratet. Geburt —. Fehlgeburt während des Krieges. 
Geschlechtskrank: Go. 1914, jetzt W. R. pos. (bei Ref. Wa. neg., lehnt luet 
Infektion ab). Außer Kinderkrankheiten keine Erkrankungen, öftere Klagen 
über Herzbeschwerden. Eltern gesund. Mutter sehr nervös, Geschwister 8, 
gesund, 1 gest Nichts Besonderes in der Familie. 

Ref. kennt Pat. seit 1914, erlebte jede Situation: war traurig, wenn sie 
etwas Trauriges erfuhr, dann wieder sehr lustig. Machte sich über alles sehr 
viel Gedanken, wurde leicht kopflos. Stimmungswechsel von 34 Stunde zu 
34 Stunde, länger andauernde traurige Verstimmungen nicht gewesen. Kaufte 
schon immer gern ein. 

Angaben der Pat.: Sei gesund, habe nur etwas „mit den Nerven**, sei 
ein bißchen „nervös“, habe schwere Arbeit gemacht, feine Handarbeiten. 
Mann erzähle viel, sei ein Nörgler, das Geld sei ja da, sie wolle sich nur neu 
einrichten, habe sich vom Vater 4000 Mark geliehen. Habe sich sehr zu ihren 
Ungunsten verändert, wolle sich vom Mann scheiden lassen. Sie sei eine 
fleißige Frau, habe Wirtschaft gemacht und noch 5 Stunden im Geschäft des 
Vaters gearbeitet. „Himmelhochjauchzend zu Tode betrübt“, sage die Mutter 
von ihr. Von luetischer Infektion nichts bekannt. Mai bis Juni 2 Sa. und 
5 Spritzen Hg. bekommen. Ist bei ihren Erzählungen weit ausholend und 
weitschweifig, „ich will weiter erzählen“, erzählt laut und lebhaft. 

Somatisch: Klein, guter Ernährungszustand. Innere Organe o. B. 
Pup. tibermittelweit, Lichtreaktion bds. — (Skopolamin?). Alle Reflexe vor¬ 
handen und gleich. Pat. Refl. bds. lebhaft Kein Babinski etc. 




63 


24. 8. Lumbalpunktion: 5 ccm klarer Liquor, Druck nicht erhöht. 
Phase I. Trübung, starke Lymphozytosenvermehrung. Wa. stark positiv. 
Wa. im Blut negativ. 

7. 9. Fast ständig hochgradig erregt, schimpft, schreit, singt beständig, 
tanzt im Zimmer herum, reißt sich die Kleider vom Leib, beschimpft den Arzt 
mit unflätigen Redensarten. Motorische Unruhe, spricht dauernd, zum Teil 
französisch. Schimpft auf ihren Mann, stößt alle Worte kurz hervor, ideen¬ 
flüchtig, macht ständig lebhafte Bewegungen, wälzt sich auf dem Stuhl herum, 
längt an zu weinen. Spricht völlig unzusammenhängend sinnloses Zeug. 
Gesicht stark gerötet, Atmung erregt, verlangt Wasser. 

20. 9. Motor. Unruhe dauert fort, redet ununterbrochen in ideen¬ 
flüchtiger Weise, meist in lauter, gehobener Stimmung. Nahrungsaufnahme 
schlecht. Schläft nur auf Skopolamin. 

24. 9. In Sanatorium überführt. 

Zusammenfassung. 

Fall 13. Diagnose: Luespsychose. Manisches Zustandsbild. 

Es handelt sich um eine 27jähr. Kaufmannsfrau, die früher 
keine manisch-depressiven Züge gezeigt hatte. „War traurig, wenn 
sie Trauriges erfuhr, dann wieder lustig“. — Schlaf seit einigen 
Monaten schlecht, sodann schnelle Entwicklung eines typisch-mani¬ 
schen Bildes mit Größenideen, machte Einkäufe, glaubt sich von 
Männern verfolgt, weil sie so hübsch sei. Fast ständig hochgradig 
erregt, schimpft, schreit, singt beständig, ideenflüchtig. 

Wa. Rea. im Blut negativ (vor der Aufnahme soll sie nach An¬ 
gabe des Mannes pos. gewesen sein). Wa. R. im Liq. stark pos. 
Ph. I, Trübung, starke Lymphozytenvermehrung. 

Somatisch: Pup. übermittelweit. Lichtreakt. bds. aufgehoben. 
Pat. Refl. lebhaft. 

Wie sollen wir nun den Fall auffassen? Als eine einfache Manie, 
die entweder durch die syphilitischen Vorgänge im Gehirn ausgelöst 
worden ist oder zufällig gleichzeitig mit diesen besteht? Oder als 
die erste Manifestation einer beginnenden Paralyse? 

Somatisch liegt nichts vor, das uns zu einer sicheren Ent¬ 
scheidung verhelfen könnte. Die Blut-Wa. R. war allerdings negativ. 
Erstens spielt dies ja aber keine entscheidende Rolle, zweitens war 
sie etwas früher vor der Aufnahme positiv gewesen. Wichtig war 
vielleicht der „Anfall“, den Pat. kurz vor der Aufnahme hatte, und 
den ein Arzt für luetisch-epileptisch hielt. Aber er kann ebenso gut 
ein paralytischer gewesen sein. Das einzige, was uns weiter helfen 
könnte, wären Nachrichten über den weiteren Verlauf. Vorläufig 
müssen wir den Fall als ein manisches Zustandsbild auf luetischer 
Basis auffassen. 

Die beiden folgenden Fälle stellen depressive Typen dar. 



64 


R. S., Unteroffizier (Bankbeamter), 44 Jahre alt. Aufgen. 8. März, entl. 
1. Juli 16. Diagnose: Luespsychose. Bei der Aufnahme ruhig. 

Anamnese: aktiv gedient 1893. Zum Heere eingezogen Sept 15. Vom 
3. 2. bis 20. 2. wurde er ins Lazarett gelegt, subjektiv völliges Wohlbefinden. 
Im D.-U.-Verfahren nach Haus entlassen. Wurde durch Blutentnahme auf den 
Zusammenhang mit seiner alten Lues aufmerksam gemacht (vor 25 Jahren 
acquiriert). Bekam Angstzustände, konnte nicht schlafen. Arzt ordnete Be¬ 
handlung an. Aufnahme in Lazarett. Hatte das Gefühl, als ob das Bett sich 
drehte, dachte: „jetzt geht die Krankheit los“. Kein Bewußtseinsverlust, 
keine Zuckungen. In den letzten Tagen das Gefühl, als ob die Füße ihn nicht 
mehr trügen. Heredität: Vater durch Selbstmord geendet, Bankdirektor, Geld 
an der Börse verloren. Mutter gesund. 5 Brüder, einer davon „mondsüchtig“, 
soll tagelang im Bett geschrien und um sich geschlagen haben. — Gibt spontan 
an, daß ihn mehr als die Angst vor der Lues die Angst vor der Entdeckung 
einer Unterschlagung drücke. Habe 18 000 Mark in Effekten verspielt. Erste 
Entwicklung o. B. Realgymnasium bis Obersekunda, gut gelernt. Als Bank¬ 
beamter gelernt. Bei Ausbruch des Krieges Börsenvertreter. — Lues mit 
19 Jahren, zwei Schmierkuren. 3 Spritzkuren, letzte 1909 oder 10. 1906 ge- ‘ 

heiratet. Keine Kinder, kein Abort. Hat sich immer gesund gefühlt. 

Somatisch: Mittelkräftige Muskulatur, etwas Fettpolster. Innere Organe: 
o. B. Pup. bds. eng, bds. entrundet. Lichtreaktion bds. — Konverg. Reakt 
erhalten. Sonst am Nervensystem kein pathologischer Befund. Blut — Wa.: 
stark positiv. Lumbalpunktion: Wa. stark pos. Starke Lymphozytose. 
Reichl. Blutbeimischung im Lumbalpunktat. 

Angaben der Frau: Bemerkte, daß Pat beim Rauchen blaß wurde, mit 
den Händen nach Stütze griff und sagte: „mir ist so schwindelig“. 10—12 Zi¬ 
garetten am Tag geraucht. Alkoholintoleranz. Leicht reizbar. Ist nach¬ 
lässig geworden, schiebt alles lange hinaus, an der Sprache nichts auf ge 
fallen. Lebensüberdrüssig, die Ärzte hätten gemeint, er hätte Para¬ 
lyse. Pat. sprach dauernd über die Krankheit und die Geldsache. 

10. 3. Glaubt, nicht wieder aus der Klinik herauszukommen. Abends 
sehr erregt, bittet, ihn der Militärbehörde zur Bestrafung zu überweisen. Er 
habe seine ganze Familie an den Bettelstab gebracht. Er müsse mit Zucht¬ 
haus bestraft oder zum Tode verurteilt werden. 

16. 3. Gibt an, seit Mitte März plötzlich Kopfschmerzen bekommen zu 
haben. Das Gehen sei ihm schwer geworden. Mitte März traten plötzlich 
Kopfschmerzen auf, erschwertes Gehen, mußte Sock nehmen. Beichtete die 
Geldangelegenheit seiner Mutter und seinem Bruder. — Mit 19 Jahren Syphi¬ 
lis gehabt. Im Febr. 16 in Lazarett gekommen zur Beobachtung wegen Ein¬ 
leitung des D.-U.-Verfahrens. Keine Beschwerden. Habe keinen leichten 
Dienst gehabt im Bekleidungsamt, sei durch Maschinenläim sehr gestört wor¬ 
den und habe sich nicht setzen dürfen. Beine hätten den Körper nicht ge¬ 
tragen. Es sei beim Militär gesagt worden, daß* in seinen Papieren stehe, er 
habe 9 Jahre im Zuchthaus gesessen, deswegen solle er aus dem Heere aus¬ 
gestoßen werden, die Kameraden hätten ihn nicht Seckel, sondern „Sauer“ 
genannt. Habe jeden Abend darauf gewartet, daß der Oberleutnant ihn etwas 
fragen würde. Den Offizieren sei verboten worden, ins Bekleidungsamt zu 
gehen (Pat war dort tätig), das sei nur seinetwegen gewesen. Habe wegen 
all dieser Sachen nicht schlafen können. Er habe auch schlecht gestanden 



65 


mit seinen Kameraden, da er bessere Schulbildung hatte. Die Vorgesetzten 
seien liebenswürdig gewesen, er sehe aber jetzt ein, daß es Pharisäer seien, 
da sie ihm 8 Jahre Zuchthaus verschafft hätten. Könne Krankenhauskosten 
nicht bezahlen. — Man habe auch behauptet, daß er gar nicht Unteroffizier sei, 
nicht gedient habe. Habe geweint deswegen. — Sei unehelich geboren, mit 
2 Brüdern unter dem Namen Schröder ins Standesamtsregister eingetragen. 
Er solle falsche Papiere haben. Vor der Militärzeit nichts von derartigen 
Verdächtigungen bemerkt. Von Hausbesitzer etc. auch jetzt beeinträchtigt 
gefühlt. — Hier auf der Abteilung keine gröberen Wahnideen geäußert, Angst 
vor Strafe geringer, habe sich alles überlegt, hin und wieder jedoch mi߬ 
trauisch, glaubt, in der Zeitung „Verdächtiges“ gelesen zu haben, äußert ab 
und zu Beeinträchtigungsideen. Gedächtnis gut Keine Sprachstörung. 
Gibt an, 3—4 Spritzkuren, 1 Schmierkur durchgemacht zu haben. 

Stttius: s. oben. Unterhalb der 1. Brustwarze Rumpfzone bis auf den 
Rücken von Hypalgesie und Hypästhesie, r. nur Hypalgesie. 

Therapie: Hydrag. salizyl. 1,0, ol oliv. 9,0. 

20. 3. Äußert spontan keine paranoischen Symptome. Depressiv ängst¬ 
lich, Selbstanklagen, Befürchtungen, daß er bestraft werde. Indolent gegen 
Umgebung, affektstumpfer Gesichtsausdruck. 

27. 3. Muß katheterisiert werden. Urin frei. 

12. 4. Muß dauernd katheterisiert werden. Temp. abends über 38. — 
Indolentes Verhalten dauert fort 

13. 4. Keine Blasenstörung mehr. Temp. normal. 

19. 4. Neo-Salvarsan Dos. ni. 

27. 4. Linksseitige Nebenhodenschwellung. — Glaubt noch immer, daß 
etwas mit seinen Papieren nicht in Ordnung sei, hält seine Beziehungsideen 
aufrecht. Das Gedächtnis habe nachgelassen. 

2. ö. . Nebenhodenschwellung stärker. Temp. gelegentlich 89,3. In¬ 
zision. Danach Besserung. 

15. 4. Neo-Salvarsan. Dos. IV. intravenös. Nebenhodenentzündung 
abgeheilt. 

30. 4. Spricht noch immer von falschen Papieren, jedoch einsichtiger, 
es könne auch eine Verwechselung sein, vielleicht sei es auch eine Krankheit, 
er habe vielleicht alles nur so aufgefaßt. Subjektives Wohlbefinden, möchte 
nach Haus und wieder auf der Bank arbeiten. 

2. 6. 1 ccm Hydrarg. salizyl. 0,1, ol oliv. 1,0. 

6. 6. Neo-Salvarsan, Dos. IV. intravenös. 

19. 6. Beschäftigungsbedürfnis, leicht euphorisch, wünscht entlassen zu 
werden. Krankheitseinsicht für seinen Zustand bei der Aufnahme: niemand 
habe ihm etwas gesagt, habe sich „alles zusammengereimt“, meint aber doch 
wieder: „ganz bringe ich den Gedanken nicht los“. Keine neuen Eigenbe¬ 
ziehungen. Subjektives Wohlbefinden. Interesse für die Umgebung und die 
politischen Ereignisse. 

Pupillen eng, gleich, lichtstarr. Sonst nichts Pathologisches. Schmerz¬ 
empfindung o. B. Im 1. Hodensack noch leichte Schwellung, kein Druck¬ 
schmerz. Inzisionsnarbe. 

SO. 6. Ist als d. u. entlassen. Hat das Bedürfnis durch logische Gründe 
darzulegen, daß seine damaligen Gedankengänge nicht zutreffend waren. 
Kommt nicht dazu, die früheren Gedankengänge vollkommen als Produkt 
Pabritlue, Zur Klinik der nicbtparalytiechen Lues-Ptyehoeen. (Abbandl. H. 24) 5 



66 


seiner psychischen Krankheit anzusehen. Möchte wieder in seinem Beruf 
tätig sein. Entlassen als arbeitsfähig in seinem Beruf. 

Zusammenfassung. 

Fall 14. Luespsychose. 

44jähr. Bankbeamter. Vater durch Selbstmord geendet. Ein 
Bruder nicht ganz in Ordnung. Immer gesund. Lues mit 19 Jahren. 
Zum Heere eingezogen. Entlassen Febr. 15, da Wa. R. im Blut pos. 
Schwindelanfall ohne Bewußtseinsverlust. Dachte „jetzt geht die 
Krankheit los“. Seitdem ängstliche Vorstellungen, leicht reizbar, 
„schiebt alles lange hinaus“. Mitte März 15 plötzlich Kopfschmer 
zen, erschwertes Gehen. Stark depressive Wahnideen. Beschuldigt 
sich einer Unterschlagung, müsse ins Zuchthaus. Beeinträchtigungs¬ 
vorstellungen. Spontan keine paranoischen Symptome, keine Hallu 
zinationen. Entlassen als arbeitsfähig. 

Somatisch: Pup. lichtstarr, Nervensystem sonst o. B. Blut und 
Liq. Wa. Rea. stark pos. Starke Lymphozytose. Die Pupillenver¬ 
änderungen, sowie die stark positiven Wa.-Reaktionen und die 
Lymphozytose berechtigen uns wohl, den Fall als eine Luespsychose 
anzusehen, und zwar haben wir mit einem typischen depressiven 
Zustandsbild zu tun. Pat. wurde als arbeitsfähig entlassen. Ob er 
es aber auch geblieben ist. wissen wir leider nicht. 

Fall 15. A. S„ 37 Jahre alt, Arbeiterfrau. Aufgen. 18. 6. 23. Lues 
psychose. 

Angaben des Mannes: Pat. sei sehr aufgeweckt gewesen, immer gut 
gelaunt. Vor 4 Wochen stark abgemagert. Seit 4 Wochen nicht mehr ordent¬ 
lich gegessen, „das tue ihr im Halse weh“. Der Schlaf sei unruhig gewesen, 
war oft die ganze Nacht schlaflos. Seit ca. 4 Wochen gereizt, schimpfte bei 
kleinsten Anlässen gegen ihre frühere Gewohnheit. 

Vor 14 Tagen plötzlich die Sprache fort, nur gurgelnde Laute. Dieser 
Zustand dauerte etwa % Tag, konnte die Worte nicht richtig aussprechen. 
Der gleiche Sprachverlust ist noch zweimal eingetreten vor 8 Tagen. 1917 
luetisch infiziert. Jammerte fast dauernd über ihre Krankheit, sie wolle ins 
Wasser gehen. Jammerte: „mir wird so schwindelig, so schlecht“. 

19. 6. Klagen: „der Kopf sei wirr“. 

Angaben der Pat.: Bis zur 2. Klasse gekommen. Vor 6 Jahren 
syphilitisch angesteckt Begann 2 Kuren (Salvarsan), führte keine zu Ende. 
Seit 3 Wochen keinen Appetit. Vor 14 Tagen sei ihr schlecht geworden. 
Dreimal die Sprache verloren. Das komme alles von der Ansteckung. Seit 
etwa 3 Wochen sei sie so leicht gereizt. Ist anscheinend schwerhörig, erst 
sei das rechte Ohr schlecht gewesen, jetzt das andere auch. Affektlage indif¬ 
ferent, wird für kürzere Zeit depressiv. Sprache undeutlich, öfter verwaschen. 

Liquor: starke Eiweiß- und Zellvermehrung. Wa.: stark positiv. 

Körperlich: asymmetrisches Gesicht 

Pup. bds. etwas verzogen. L. R. und C. R. bds. prompt und ausgiebig. 
Sonst Nervensystem o. B. Merkfähigkeit kaum gestört Bei Unterschieds¬ 
fragen ihrem Bildungsgrad entsprechende Antworten. 



67 


Zusammenfassung. 

Fall 15. Diagnose: Luespsychose. 

Leicht debile, 87jährige Arbeiterfrau. Immer gut gelaunt. Viel 
Kummer im Leben. Luetisch infiziert vor 6 Jahren. Seit etwa 
4 Wochen gereizt, müde, gänzlich appetitlos. Vor 14 Tagen plötz¬ 
lich Sprachverlust, konnte y% Tag nicht sprechen. Ähnliche An¬ 
fälle noch zweimal. Affektlage indifferent, für kürzere Zeit weiner¬ 
lich, depressiv, klagt dauernd, jammert. Bei den gewöhnlichen 
Intelligenzprüfungen keine Demenz festzustellen. 

Somatisch: blaß, schlechte Hautfarbe, unterernährt. Wa. Reakt. 
in Blut und Liq. stark positiv. Phase I +, starke Pleozytose. 

In diesem Fall, den ich selbst untersuchen konnte, scheint mir 
der Verdacht auf beginnende Paralyse sehr naheliegend zu sein. 
Das stumpfe, müde, gleichgültige Wesen der Kranken, das ab und zu 
von weinerlich-depressiven Affekten unterbrochen wird, kann aller¬ 
dings bei der Debilität der Pat. als ein depressives Zustandsbild 
angesehen werden. 

Eine sichere Entscheidung ist vorläufig noch nicht zu treffen. 
Fälle, die periodisch oder schubweise verlaufen. 

Die jetzt zu behandelnden 8 Fälle zeigen uns recht bunte 
Bilder. Teils haben wir mit mehr einheitlich gefärbten Zustands- 
bildem, z. B. mit depressiven oder katatonen zu tun, teils mit ab¬ 
wechselnden und gemischten. Zu dem kommt, daß in einigen Fällen 
offenbar periodische Manifestationen endogener Tendenzen vorliegen, 
in anderen Schübe, also Rezidive des luetischen Prozesses. 

Gemeinsam charakteristisch für alle ist das Atypische, sozusagen 
Unberechenbare. 

Fall 16. H. F., 38 Jahre, Schlächtermeister. Aufgen. 6. 8. 16, entl. 
25. 8. 16. Diagnose: Luespsychose. 

Bei der Aufnahme ruhig, sitzt auf dem Bett, fragt nach seinen Sachen 
und seiner Frau, legt sich dann hin und schläft gut. 

Angaben der Frau: Seit 1903 verheiratet. 13 Entbindungen, dabei 
2 Fehlgeburten, 2 Kinder leben (11. und 13. Kind). Pat. habe während der 
Militärzeit Geschlechtskrankheit gehabt, vor 3—4 Jahren Quecksilberkur durch¬ 
gemacht. Vor 7 Jahren Gelenkrheumatismus, Blinddarmoperation. Seit 
8 Jahren blasenleidend, Schwierigkeit der Blasenentleerung, soll Nieren¬ 
leiden gehabt haben, starke Schmerzen, bekam Einspritzung in Unterarm, 
seitdem Schmerzen im Unterarm. Oft Nasenbluten. Seit 5—6 Jahren Schwin¬ 
delanfälle, mußte sich wegen Schwindelgefühl öfters hinlegen, manchmal tilgt. 
6—6 Schwindelanfälle, in letzten 3 Wochen nicht so oft. Schwindelanfälle 
traten auch auf, wenn er sich plötzlich mit dem Kopf tieflegte, oder sich 
plötzlich von einer Körperseite auf die andere legte. Niemals Bewußtseins¬ 
verlust dabei. Seit 4—5 Jahren Anfälle von plötzlicher Steifigkeit und Un- 

6 * 



68 


fähigkeit zu Bewegungen in den Beinen, meist nur in einem Bein, r. oder L 
In Armen nie. Keine Sprachstörung. Seit Jahren psychisch verändert, all* 
mählich progressiv. Affektiv reizbar, zuletzt leicht wütend, schimpft. Ge¬ 
dächtnis bedeutend schlechter geworden, rechnet schlecht, unaufmerksam im 
Gespräch, ideenflüchtig, kann Arbeit nicht mehr leisten. Im letzten Winter 
viel gearbeitet, führt jetzt Geschäft seines Schwagers. Schläft wenig, stört 
die anderen, läuft umher, klagt über Angst und Ruhelosigkeit. 

Stand am Abend vorher aus dem Bett auf. wollte ins Theater. Alkohol- 
mißbrauch während der Militärzeit, später nicht mehr. Mißtrauisch-eifersüch¬ 
tig gegen Frau, glaubt sterben zu müssen, Frau solle sich dann nicht wieder 
verheiraten. Glaubt, man wolle ihm alles nehmen. 

Angaben des Pat Kein Krankheitsgefühl, habe nur etwas Kopf¬ 
schmerzen. Weiß nicht, daß er vor wenig Tagen in Poliklinik untersucht 
worden ist Gibt auf Befragen an, das Herz sei nicht gut, bekomme nicht 
genug Luft beim Arbeiten, müsse oft Arbeit stehen lassen, fühle sich nicht 
gut, müsse sich hinsetzen. Oft schwindelig. Gedächtnis sei „vielleicht“ 
schlechter geworden, verrechne sich oft im Geschäft. Müsse auch gelegentlich 
weinen (weint auch während der Unterredung). Schlafe schlecht ein. Sonstige 
Angaben über Vorgeschichte unsicher. Zeitliche Orientierung ungenau, könne 
gar nichts behalten, müsse sich alles aufschreiben. Zahlenmerken gelingt gar 
nicht. Liest die Uhr erst richtig ab, nachdem er vorher mehrfach Fehler 
gemacht hat. Kann nicht mit Geld umgehen. Macht Fehler beim Lesen, ,,er 
könne es eben nicht“. 

Schlechte Merkfähigkeit. Liegt mit geschlossenen Augen im Bett, nimmt 
aber keine Notiz von der Umgebung, auf Fragen kaum Antwort zu bekommen, 
ist schwerfällig und verlangsamt. Weinerliche depressive Stimmung, klagt, 
daß andere Kranke zu laut sind. 

9. 8. Status som.: Pup. mittelweit, gleich, r. Pup. reagiert nur ganz 
wenig, 1. besser, aber auch wenig auf Licht. Konverg. Reakt. bds. gut 
Augen-, Gesichts- und Zungenbewegungen normal. Herz: dilatiert nach links, 
diastol. Geräusch an der Aorta. Aortendämpfung verbreitert. Operations- 
narbe nach Appendizitisoperation. Pat. und Ach. Refl. normal, Fußsohlen¬ 
reflex plantar, kein Babinski. Sonst alle Reflexe regelrecht. Zyanotisches 
Gesicht, zyanotische kühle Hände. 

Blut — Wassermann stark positiv. 

12. 8. Dauernd motorisch gehemmt, hat oft Kopf von der Unterlage 
hochgehoben, freihaltend, ändert diese Stellung auch während der Unter¬ 
haltung nicht, antwortet mit leiser Stimme auf Fragen. Kopfschmerzen. 
Ängstlich gespannter Gesichtsausdruck. 

18. 8. Augenhintergrund (Prof. Brückner) unscharfe Papillengrenzen, 
leichte Schlängelung der Gefäße (kann leichte Neuritis gewesen sein), ob 
pathologisch ist fraglich. 

23. 8. Beim Versuch der Lumbalpunktion jammerte Pat., klagte, daß 
ihm schlecht werde, so. daß Lumbalpunktion aufgegeben werden mußte. — 
Am unteren Rücken und Unterschenkeln leichte Ödeme. Tägl. Smal 0,1- 
Digipuratum in Tabl. 

25. 8. Spontanverhalten unverändert. Bei Unterhaltung regsamer, 
spricht etwas weniger gehemmt. Angebl. keine Kopfschmerzen mehr, Stim¬ 
mung sei besser, Gedächtnis sei besser. Möchte nach Haus. Zählt Geld richtig 



timiwnun. Zeigt Einsicht für Unsicherheit in Zeitorientierung. Kann auch 
heute nicht eine gemerkte Zahl nach 6 Min. wiederholen. Artikulation gut, 
auch bei schwierigen Worten. Krankheitseinsicht und Krankheitsgefühl. — 
Sei immer ein ruhiger, stiller, ernster Mensch gewesen, Frau habe oft ge¬ 
schimpft, daß er so wenig spreche. Nach Alkoholgenuß lebhafter. Früher 
viel getrunken, dann nicht mehr. Seit ca. 6 Jahren reizbarer. 

Ödeme zurückgegangen, fast ganz geschwunden. 

25. 8. 1916. Entlassen, soll sich wieder vorstellen. 

Juni 1920 gestorben. 

Zusammenfassung. 

Fall 16. Diagnose: Luespsychose. 38jähriger Schlächter¬ 
meister, früher gesund, immer etwas mißtrauisch, eifersüchtig gegen 
Frau. Syphilis während der Militärzeit. Seit einigen Jahren 
Schwindelanfälle ohne Bewußtseinsverlust, seit 3 Jahren Schwierig¬ 
keiten der Blasenentleerung. Auch Anfälle von plötzlicher Steifig¬ 
keit in den Beinen und Unfähigkeit zu Bewegungen. 

Somatisch: r. Pup. reagiert nur ganz wenig auf Licht, 1. besser, 
aber auch wenig. Sehnenreflexe normal. Wa. R. im Blut stark pos. 
Lumbalpunktion muß wegen Jammern des Pat. aufgegeben werden. 

Psychisch: seit einigen Jahren verändert, reizbarer, unaufmerk¬ 
sam, kann Arbeit nicht mehr leisten. Beziehungs- und Beeinträch¬ 
tigungsvorstellungen. 

Im Krankenhaus: zeitlich nicht genau orientiert, „könne gar 
nichts behalten“. Zahlenmerken gelingt gar nicht. Schlechte Merk¬ 
fähigkeit. Schwerfällig und verlangsamt, weinerlich-depressive Stim¬ 
mung. Dauernd motorisch gehemmt, hält oft lange Zeit den Kopf 
von der Unterlage hochgehoben. 

Im Krankheitsbild mischen sich deutlich depressive, katatone 
und demente Züge. Das ganze Verhalten des Kranken ist auffallend 
schlaff. 

Die Frau teilte mir bezügl. des weiteren Verlaufs folgen¬ 
des mit: 

Nach der Entlassung vom Krankenhause wurde Pat., obwohl 
er noch sehr krank war, zum Heeresdienst eingezogen. Er diente 
dann bis zum Kriegsschluß an der Front, und war — als er nach 
Hause kam — todkrank. Er saß meist auf einem Stuhl herum oder 
lag zu Bett, konnte keine Arbeit leisten. Er starb im Juni 1920. 

Daß wir hier mit einer Luespsychose zu tun haben, ist sehr 
wahrscheinlich, obwohl die Lumbalpunktion mißlang. Pat. hatte 
sicher Lues gehabt, die Wa. Rea. im Blut war stark positiv, Pupillen¬ 
störungen lagen vor. 

Jetzt, wo wir den Verlauf überblicken können, scheint der Fall 



70 


ungezwungen als eine Paralyse aufgefaßt werden zu können. Zur 
Zeit der ersten Aufnahme in der Charit6 waren die Verhältnisse 
doch sehr atypisch, so daß man bei der Diagnose einer Luespsychosc 
blieb. Auffallend ist zum Schluß dann der verhältnismäßig lange 
Verlauf, wenigstens 4 Jahre, des Falles. Wir werden dasselbe in fast 
allen der folgenden Fälle erleben. 

Fall 17. 0. G., Ofensetzer. 29 Jahr. Aufgen. 7. 12. 16, entl. 7. 5. 17. 
Luespsychose. Progressive Paralyse. 

Bei der Aufnahme sehr laut, läuft sprechend umher, erzählt von Erleb- 
nissen, Beschwerden, redet durcheinander, springt vom Thema ab, schwer zu 
fixieren. Gelingt es, ihn zu fixieren, so gibt er Antworten, die inhaltlich offen¬ 
bar richtig sind. Zeitlich und örtlich und auch über sein Vorleben — soweit 
zu eruieren — orientiert. Durch nichts von seiner euphorischen Stimmung ab¬ 
zubringen. 

Vom Begleiter wird berichet, daß Pat. in der Kaserne das gleiche Ver¬ 
halten zeigte wie hier, von keinem Vorgesetzten Notiz nahm. Soll bereits seit 
14 Tagen durch vieles Sprechen und motorische Unruhe auffällig sein, jedoch 
nicht so, daß Bestrafung erfolgte. Erst allmähliche Steigerung der Erregung. 

8. 12. Heute völlig ruhig, sitzt still, ohne ein Wort zu sprechen. Ge¬ 
sichtsausdruck affektlos, Blick geradeaus gerichtet. Echopraxie für alle, auch 
ganz unauffällige, an sich gleichgültige und zufällige Bewegungen des Arztes, 
auch für absichtlich vorgenommene auffälligere Bewegungen. Zeitlich und 
räumlich durchaus orientiert. Weiß von seiner Verbringung hierher. Als 
Krankheit gibt er an: Schmerzen im Hals, Heiserkeit, berichtet von seiner 
früheren tuberkulösen Lungenerkrankung, deswegen vorzeitig vom Militär ent¬ 
lassen und Rente bezogen. 

9. 12. Verhalten auf der Abteilung völlig korrekt, keine wesentlichen 
Auffälligkeiten. Stimmungslage: leichte Euphorie, etwas kritiklos gegen 
Situation. 

10. 12. Euphorie: „Hilft“ dem Arzt bei der Visite, ist behilflich bei 
Krankenfütterungen etc. Antwortet schnell, lebhaft, deutlich ideenflüchtig, er¬ 
zählt von früheren Erlebnissen. Gesichtsausdruck fröhlich, glücklich, schreibt 
viele Briefe und Karten. Höflich, nie zornig. Keine Neigung zur Imitation 
von Bewegungen. 

Somatisch: Sieht älter aus als er ist, viel graue Haare. Herz: o. B. 
Lungen: perkutor. 1. h. vielleicht etwas schwächer als r. h. Ausk. über den 
Spitzen, Atmen unrein, Exspirium verschärft. Kein Husten, kein Auswurf. 
Pat. und Ach. Refl. mittelstark und gleich. Fußsohlenrefl. plantar, sonstige 
Reflexe vorhanden. Pupillen: rund, mittelweit, L. R. und C. R. prompt, aus¬ 
giebig. Sprache intakt. Wassermann: Blut und Liquor stark positiv. Starke 
Vermehrung des Eiweiß und der Lymphozyten. 

12. 12. Euphorie hält an, macht im wesentlichen richtige Angaben, gute 
Orientierung. Seiner Lage gegenüber kritiklos. Affektlage entspricht nicht 
durchgehend dem Vorstellungsinhalt. Gesteigertes Selbstbewußtsein. 

Angaben der Ehefrau: Pat. sei immer ein lustiger Mensch gewesen, 
Ordentlich, fleißig, sparsam. Seit 4% Jahren verheiratet, guter Ehemann. Kein 
Trinker, kein Raucher. 1 gesundes Kind, 2 Frühgeburten. Juli 16 Luftröhren- 



71 


und Lungenkatarrh, Selbstmordversuch mit Gas, glaubte lungenkrank zu sein. 
Keine weiteren Suizidversuche. 

Krankenhausaufnahme: Während der Zeit sehr still, sprach fast gar 
nicht. 7 Wochen Landaufenthalt, erzählte zwar, jedoch nicht so lebhaft wie 
früher. Nach Rückkehr allmähliche Besserung. Wurde lustiger, machte Be¬ 
suche. Keine psychische Veränderung. Nach Einziehung zum Heeresdienst 
immer lustig, keine Veränderung gegen früher. Anfang Dez. auffällig ge¬ 
sprächig, lustiger als sonst, wollte nur ganz allein erzählen. Keine Klagen, 
keine Größenideen. Vergeßlich, erzählte vieles doppelt. 

10. 1. 17. Anhaltende krankhafte Erregung, singt, spricht viel, mischt sich 
in alles hinein, gereizt, grob, aggressiv. Euphorische Stimmung, kritiklos 
gegenüber seiner Lage, örtlich orientiert, sei nicht nervenkrank, äußert 
gelegentlich den Wunsch nach Entlassung, gleichgültig, daß dies nicht ge¬ 
schieht. Auch nachts unruhig, auf Schlafmittel nicht die ganze Nacht Schlaf, 
Gesteigertes Mitteilungsbedürfnis, ideenflüchtiges Abschweifen. Artikulation 
bis auf gelegentliches unscharfes Aussprechen einzelner Silben bei Spontan¬ 
sprache und beim Nachsprechen schwieriger langer Worte gut. 

Zahlenmerken: nach 5 Min. richtig. 

(Früherer Suizid versuch?) Habe geglaubt, seine Familie nicht mehr er¬ 
nähren zu können. Sei damals im Krankenhaus „ganz dumm“ im Kopf ge¬ 
wesen (Diagnose Phthisis pulm.). 

12. 2. Unter Trionaldauerbehandlung Verhalten meist ruhig. Sobald 
Trlonal ausgesetzt wird, ist Pat. laut, lärmt, schlägt die Pfleger. Sprach- 
artikulation verwaschener. 

8. 3. In letzter Zeit viel ruhiger. Verhalten meist unauffällig. 

8. 4. Pat. kann plötzlich nicht sprechen, fängt zu schreien an, beruhigt 
sich dann wieder, nahm wenig Nahrung zu sich. 

11. 4. Sprache dauernd erschwert, sonst ruhig. Läßt Urin unter sich. 

14. 4. Liegt meist ruhig im Bett mit geschlossenen Augen, geht zu¬ 
weilen umher, ohne sich um seine Umgebung zu kümmern, läßt Urin unter sich. 
Ißt ungeschickt, stopft den Mund sehr voll. Fazialis rechts deutlich schwä¬ 
cher als links innerviert. Kein Babinski. Sagt nur immer lächelnd: „ja, ja“, 
vorgehaltene Gegenstände werden nicht richtig bezeichnet, oder so undeutlich 
benannt, daß man nichts verstehen kann. Sprache schmierend. Sprachver¬ 
ständnis offenbar schwer beeinträchtigt. Verwechselt rechts und links, muß 
oft auf gefordert werden, Körperteile zu zeigen, zeigt auch andere Stellen als 
die verlangten, perseveriert stark. Gesichtsausdruck leer, verständnislos, 
ohne Mienenspiel. Beim Sprechen häufig Verziehen des Gesichts zum Lächeln, 
r. Fazialisparese sehr deutlich. 

16. 4. Verhalten ruhig, freundlich. Liegt still im Bett. Nahrungsauf¬ 
nahme gut 

Babinskki: 1. plantar, r. neutral. 

Pat. Refl. und Ach. Refl. rechts stärker als links, gering. Keine sicht¬ 
bare Lähmung in Armen und Beinen. Fazialisparese unverändert. 

Schreiben nach Diktat: Schreibt anderes, als was ihm gesagt wird. 
Lesen von Druckschrift leicht paraphasisch, mühsam, stockend, nicht sinn¬ 
gemäß, aber besser als Spontansprechen. Bezeichnung von vorgelegten Gegen¬ 
ständen: gelingt nicht, benützt alle Gegenstände richtig, zeigt, daß er ihren 
Gebrauch kennt 



72 


Verstehen: Vorgemachte Bewegungen werden leicht nachgeahmt Auf¬ 
träge durch Gesten versteht er schnell und leicht Wortverständnis: Körper¬ 
teile zeigen: heute keine Reaktion außer paraphasischen Wortresten und Satz¬ 
teilen. Spontan produziert er zeitweise kleine Redewendungen, wie „wa3 
soll ich denn“, „danke, mir geht’s gut“ u. ä. fließend und schnell, im übrigen 
nur Paraphasien. Geschriebene Aufforderungen werden paraphasisch vorge¬ 
lesen, aber nie befolgt. Apraktische Störungen meist nicht nachweisbar 
beim Manipulieren mit Gegenständen. 

25. 4. Deutliche Besserung des Sprachverständnisses und der Fähigkeit, 
kleine alltägliche Sätze zu sprechen. Wortfindung noch sehr erschwert. 

7. 5. Sprachverständnis weiter gebessert, nur noch etwas erschwerte 
Wortfindung. Sonst Verhalten ruhig. Stimmungslage leicht euphorisch, im 
ganzen wenig verändert. Entlassen. 

2. Aufnahme 1. 2. 18 bis 9 . 10. 18. 

Ängstlich, glaubt, er solle erschossen werden. Seit S Tagen verfolgen 
ihn die Leute, die ihn umbringen wollen, weil er nicht gestreikt habe, sie 
wären in seine Wohnung gekommen, hätten gestohlen, Türen und Sicherheits¬ 
schlösser aufgemacht;. Aus Angst nicht mehr zur Fabrik gegangen, sei mit 
der Straßenbahn gefahren, um einen Krankenschein zu holen. Auf der 
Straßenbahn sei er mit Revolver bedroht worden, abgesprungen und zur 
Charitö gelaufen. Jammert, daß er schon sterben müsse. 

Kein pathologischer körperlicher Befund. Zunge weicht etwas nach 
links ab, leichter Tremor^ auch in der oberen Gesichtsmuskulatur. Erinnerung 
an den ersten Aufenthalt hier. Bis Sept. 17 regelmäßig gearbeitet, wegen 
Kohlenmangels entlassen worden, dann bei anderer Firma tätig. Seit einer 
Woche heftige Kopfschmerzen, beim Aufstehen morgens sei ihm schwindelig 
geworden. Gibt keine genaue Auskunft über die Schwindelanfälle. 

Pat. rechnet schnell und flott, keine Merkfähigkeitsstörung. Für den 
Krieg kein Interesse, das Lesen strenge ihn an. Während der Exploration 
unaufmerksam, steckt den Kopf unter die Decke, jammert, flüstert: „sie 
kommen“. 

Angaben der Ehefrau: Nach Entlassung hier (Mai 17) zuerst in anderer 
Klinik, dann auf dem Lande bei Verwandten. In der Landwirtschaft ge¬ 
holfen, keine Klagen geäußert Arbeitgeber (Fabrik) seien durchaus zu¬ 
frieden mit ihm gewesen. Gut für die Familie gesorgt. Stimmung ruhig und 

gut, habe aber keinen Widerspruch vertragen können. Am 2. Jan. bei der 

Arbeit plötzliche Lähmung des linken Arms und der linken Gesichtshälfte, 
vielleicht % Stunde. Anfall wiederholte sich in den nächsten Tagen dreimal, 
trotz der Beschwerden habe Pat. weitergearbeitet Bis 81. 1. gearbeitet Seit 
3 Tagen abends unruhig, ängstlich; Verfolgungsideen, durchsuchte die ganze 
Wohnung nach seinen Verfolgern. Für Gehörshalluzinationen keine sicheren 
Anhaltspunkte. Früher verträglicher Mensch, hatte nicht gern fremde Leute 
in seiner Wohnung, kamen jedoch Besucher, dann freundlich und gesprächig. 
Sehr sparsamer Mensch, nicht geizig. Keine Anhaltspunkte für tabische 
Beschwerden. 

5. 2. Immer noch ängstliche Beeinträchtigungsvorstellungen, glaubt, es 
sei geschossen worden, zieht Bettdecke über den Kopf. Vormittags schwerer 
Angstzustand, aggressiv gegen Mitkranke. „Ich weiß, daß welche auf der 
Treppe stehen“. Frau und Kind seien tot. Achtet aufmerksam auf Geräusche. 



73 


die draußen zu hören sind, begleitet sie im Sinne seiner ängstlichen Beein¬ 
trächtigungsvorstellungen. Ihm sei nicht zu helfen, sein Lungenflügel sei ab¬ 
geschnitten, unters Bett gepackt. Das Herz sei nicht getroffen worden. Trotz 
ängstlicher Erregung bei diesen Äußerungen gelegentlich lächelnder Gesichts- 
ausdruck. Anscheinend oberflächliches Krankheitsbewußtsein, er wolle nicht 
in Irrenanstalt. Berichtet geordnet über die Zeit seit seiner Entlassung aus 
der Klinik. Nennt Namen der Pfleger und Ärzte, erinnert sich auch an 
Patienten aus früherer Zeit 

Zahlenmerken: prompt. Rechenaufgaben rechnet er schnell. Artiku¬ 
lation gut Auch schwierige Worte spricht Pat. ohne Artikulationsstörung 
gut nach. Geht auf Untersuchung bereitwillig ein, vergnügte Stimmung. Will 
hier bleiben, ist mit Behandlung (der Lues) einverstanden, will nur nicht 
sterben. Trional tägl. 2mal 0,1. Seitdem ruhiger, bleibt im Bett. Skopolamin. 
Ängstliche Gedankengänge bestehen fort. Pat. äußert sie in den letzten 
Tagen weniger als vorher. 

11. 2. Unregelmäßiges Fieber (Ursache unbekannt). Ängstlich, solle 
sterben (Schmerzen?). „Ja von dem Schuß“ (zeigt auf die Brust). Nachts 
unruhig, ängstlich. 

22. 8. Unverändert. Mißdeutet Verhalten der Pfleger, aggressiv, „um 
sich zu verteidigen“. Läßt sich leicht beruhigen. 

2. 4. Änderung insofern, als sich Pat. in letzter Zeit weniger im Sinne 
seiner ängstlichen Gedanken betätigt, wird selten aggressiv. Unterhält sich 
nicht mit anderen Kranken, greift nur gelegentlich einmal Äußerungen, die 
er hört, auf, bringt sie in Beziehung zu seinen ängstlichen Gedanken, äußert 
mitunter irgendwelche Klagen über körperliche Belästigungen, bringt dies ohne 
Affektsteigerung vor, spricht sonst wenig. Pat hat wahrscheinlich viele 
Halluzinationen: der Bruder habe immer alle Sachen auf ihn hin umgedreht, 
er solle gestohlen haben, hätte Sachen aus der Charite mitgenommen. Es sei 
ihm „unterdrückt“ worden, daß er als Zweiter zur Welt gekommen sei, es 
seien damals mehrere Kinder zu gleicher Zeit geboten, seine Frau sei auch 
dabei gewesen. Mehrere Kinder seien in seinen Körper hineingebracht wor¬ 
den, eins habe schon einen Schnurrbart gehabt. Habe Schmerzen im Leib 
dabei verspürt. Das sei zum Nachwuchs des Volkes gemacht worden. Glaubt, 
daß er schon öfters verstorben sei, das letztemal in der vergangenen Nacht. 
Die Pat. seien Schulfreunde von ihm, alle syphilitisch krank. Er habe sich 
bei der Frau infiziert, und zwar durch deren Urgroßvater, das sei eine 
komplizierte Sache. Habe zwei Schrauben im Kopf gehabt, sein Bruder habe 
sie gefunden. Höre Pfeifen in den Ohren und im Kopf. „Mir ist überhaupt, 
als ob alles hohl ist“. Er sei ganz und gar krank. Hält an diesen hypochon¬ 
drischen Klagen fest, auch Einwänden gegenüber behauptet er, er habe es bei 
klarem Verstand genjerkt, daß ihm die Nieren abgeschnitten seien. In seinem 
Leibe innerlich würde genäht. Das sei ein Attentat von seinem Schwager. 
Zeitliche Orientierung ungenau, korrigiert sich zwischendurch. Rechnen 
schnell. 6 Zahlen werden richtig nachgesprochen, 7 nicht mehr. Bei der 
Untersuchung schwerfällig, wie ein leicht benommener Kranker. Aufmerk¬ 
samkeit wird besser, wenn er zu gesteigerter Aufmerksamkeit angeregt wird. 
Immer nur auf Fragen Äußerungen, spontan nicht Schläfriger Gesichtsaus¬ 
druck, verhält sich motorisch einförmig, ruhig. Zeitweise abgelenkt durch 
halluzinatorische Vorgänge: „das ist die Mutter, die da spricht“. Seine 



74 


schweren hypochondrischen und ängstlichen Gedanken bringt er in affektarmer 
Weise vor, spricht leise, schwer verständlich. Gute Artikulation. 

R. Pupille reagiert gut auf Licht, links etwas schlechter, beide werden 
während der Belichtung schnell wieder weiter. Beine schlaff. Pat. Reflexe 
nur mit Jendrassik schwach auslösbar, links besser als rechts. Zehen¬ 
reflexe plantar, keine Ataxie in den Beinen. Bauchdeckenrefi. bds. schwach. 

12. 4. Aggressiv gegen Pfleger und Patienten. 

23. 4. Liegt seit 10 Tagen im Dauerbad. Seit 2 Tagen sehr erregt und 
unruhig, springt aus der Wanne, hat sich am Bein verletzt. Fieber 88,7. 

4. 5. Trionalbehandlung täglich 2mal 1,0. 

10. 6. Unruhig, aggressiv. Läßt Kot und Urin unter sich. Sieht Fliegen 
an der Decke. 

22. 6. Will aufstehen, in den Garten gehen, auf der Abteilung sei es 
so unruhig. 

19. 7. Aggressiv gegen Mitpatienten. R. Pup. reagiert auf Licht gut, 
links ganz wenig. C. R. rechts gut, links etwas weniger (hat längere Zeit kein 
Skopolamin bekommen). 

22. 7. Geht in den Garten, benimmt sich geordnet 

6. 8. „Anfall“. (Nachtbericht.) Fiel um, schnarchte heftig, ganz steif, 
hatte Zuckungen an den Händen, Füßen, Gesicht, Augen geschlossen. Mor¬ 
gens dösig, führt Aufträge richtig aus. (Auf Befragen.) „Es kam ganz 
plötzlich, ich konnte den rechten Arm nicht bewegen und mit den Fingern 
nicht zufassen“. Ihm sei schlecht und dumm im Kopf gewesen. Keine 
gröbere apraktische Störung. Fazialis: der linke Mundwinkel hängt herunter, 
wird beim Zähnezeigen nicht angespannt. Augenschluß, Stirnfalten symme¬ 
trisch. Zunge: starker Tremor, weicht beim Vorstrecken etwas nach links ab. 
Kornealreflex different, rechts stärker als links, Korneasensibilität desgL 
Händedruck links herabgesetzt Feine Fingerbewegungen und Opposition 
rechts gut, links ungeschickt. Armbewegung und Beugung links gut Bauch- 
deckenrefl. rechts vorhanden, links —. Pat Refl. bds. vorhanden, mittelstark. 
Ach. Refl. vorhanden. Fußsohlenreflex: bds. gehen sämtliche Zehen nach 
dorsal, kein Mendel, kein Babinski. Grobe Kraft in den Beinen gut Nadel¬ 
stiche werden auf der ganzen 1. Körperseite weniger empfunden als rechts. 
^Jang o. B. Temp. 89,8. 

10. 8. Temp. nach Darmentleerung normal. 

28. 8. Lähmung ist allmählich besser geworden. Sinnestäuschungen 
und ängstliche Beeinträchtigungsvorstellungen sind im Laufe der letzten 
Woche zurückgetreten» Wünscht entlassen zu werden. Hält noch jetzt an 
den psychotischen Angsterlebnissen fest Gute Krankheitserinnerung. „Ge¬ 
schossen wurde hier auch, das kann ich auch sagen“. Sei am Organismus 
geschädigt worden. Das habe die Krankheit, die Lues, mit sich gebracht 
Es seien auch Sachen behauptet worden, die er nicht getan habe. Hält an 
Beinen Personenverkennungen fest. — Jetzt keine körperlichen Beschwerden, 
jetzt könne er die Schrauben nicht mehr fühlen. Tendenz zur Korrektur. 
Gute Merkfähigkeit, Interesse für die Umgebung, kennt die Namen der Pat 
und Pfleger. Zeitlich orientiert. Zahlenmerken gut. Geht auf Untersuchung 
* ein, bei der Unterhaltung bleibt er beim Thema, keine patholog. Steigerung 
des Mitteilungsbedürfnisses, der Gesprächigkeit. Stimmungslage zufrieden. 
Spricht monoton, hat aber kein Silbenstolpem. 



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S. 9. Nachts unruhig. Bat, daß seine Verwandten nicht fortgeschicki 
worden, wenn sie kämen. 

25. 9. Nächtl. Unruhe dauert fort, aggressiv gegen Pat. und Pflegerin, 
die ihm Bein Brot aufgegessen habe. 

4. 10. Derbe entzündliche Schwellung auf der rechten Backe, entzünd¬ 
liches ödem des rechten unteren Augenlides. 

9. 10. Furunkel im Gesicht heilt ab. Nach Irrenanstalt überführt 

IS. 12. 22 in Eberswalde gestorben. Obduktion: Gehirnerweichung, 
Progressive Paralyse. 

Zusammenfassung. 

Fall 17. Diagnose: Luespsychose. 

29jähr. Ofensetzer. Immer ein ordentlicher, lustiger, fleißiger 
Mann. Kein Trinker. — Die psychischen Störungen zeigten sich zum 
ersten Male Juli 1916 (Pat. war 29 Jahre alt). Gehemmt, deprimiert, 
glaubte lungenkrank zu sein. Suicidversuch. Krankenhausaufnahme. 
Nach etwa 2—3 Monaten wieder lebhafter, lustiger. Dez. 16 auf¬ 
fällig gesprächig, nahm von den Vorgesetzten in der Kaserne keine 
Notiz. Immer vergeßlicher, erregbar. Krankenhausaufnahme wie¬ 
der nötig. (7. 12. 16 bis 7. 5. 17.) 

Hochgradig erregt, schwer zu fixieren, redet ideenflüchtig durch¬ 
einander, euphorisch, abschweifend, orientiert. Beruhigt sich schnell 
durch Trional; ohne Mittel laut, lärmt, schlägt die Pfleger. 

Somatisch: Pup. reagieren gut, N. S. o. B. Wa. im Blut und 
Liq. stark positiv. Starke Vermehrung des Eiweißes und der 
Lymphozyten. 

April 1917: viel ruhiger in der letzten Zeit, kann plötzlich nicht 
sprechen. Fazialis rechts deutlich schwächer als links innerviert. 
Sprache schmierend, stark paraphasisch. Sprachverständnis offen¬ 
bar schwer beeinträchtigt. Gesichtsausdruck leer. Verhalten ruhig, 
freundlich. Refl. r. stärker als 1. 

2. Aufnahme 1. 2. 18 bis 9. 10. 18. ' 

Nach der Entlassung zuerst in anderer Klinik, dann in einer 
Fabrik zur Zufriedenheit gearbeitet. Am 2. Jan. 18 plötzlich 
Lähmung des 1. Armes und der 1. Gesichtshälfte, vielleicht % Stunde. 
Anfall wiederholte sich noch dreimal. Anfang Februar ängstliche 
Beeinträchtigungsvorstellungen, jammert, schwere Angstzustände und 
hypochondrische Wahnvorstellungen. Berichtet geordnet über die 
Zeit aeit seiner Entlassung. Nennt Namen der Pfleger und Ärzte, 
erinnert sich auch an Patienten aus früherer Zeit. Merkfähigkeit 
prompt. Rechnet schnell. Artikulation auch schwieriger Worte gut. 
Keine Artikulationsstörung. Zeitweise Halluzinationen. Erregt. 



76 


Somatisch: Pup. reagieren gut, 1. etwas schlechter. Beine 
schlaff. Pat. Reff, nur mit Jendrassik. 

6. 8. 18. „Anfall“. Zuckungen an den Händen, Füßen, Gesicht. 
Diffuse Lähmungserscheinungen bes. links, die sich in einigen Wochen 
zurückbilden. Unruhig. 

Am 13. 12. 22 ist Pat. in der Anstalt Eberswalde an Paralyse 
gestorben (makroskopischer Obduktionsbefund). 

Wir sehen also bei dem Pat. folgende Phasen: eine depressiv- 
manische; „Anfall“ mit nachfolgender starker Paraphasie. Remission. 
Auch Sprache wird wieder normal — linksseitige Lähmung — ängst¬ 
lich— deprimiert — Siechtum — Tod nach 6V 2 jährigem Verlauf im 
Alter von etwa 35 Jahren. 

Mit diesen Notizen vor Augen wird es leicht sein zu sagen: 
alles war nur eine lang ausgezogene Paralyse vom L i s s a u e r sehen 
Typus. Wenn man aber nur z. B. den ersten Schub gesehen hätte, 
in dem zum Schluß der Anfall mit der nachfolgenden sensorischen 
Aphasie auftrat, wird man zugeben müssen, daß die Diagnose eines 
depressiv-manischen Zustandsbildes einer Luespsychose nicht ganz 
unberechtigt gewesen wäre. 

Der zweite Schub scheint diese Auffassung noch zu erhärten. 
Einen Monat nach einer linksseitigen Hemiparese treten psychische 
Störungen in Gestalt von ängstlich-depressiven Wahnvorstellungen 
auf. Intelligenz dabei gut. Zudem kommt noch der ausgesprochen 
zirkuläre Verlauf, der sich im ganzen auf 6*4 Jahre ausdehnt. 

Der Fall ist also an und für sich schon eigenartig, seine Be¬ 
sonderheit wird aber durch die folgenden Fälle noch stärker hervor¬ 
gehoben. 

Fall 18. L. Sch., 53 Jahre alt, Maschinenputzer. Aufgen. 22. 9. 20, 
entl. 8. 11. 20. Luespsychose. 

*'Angaben der Ehefrau: Seit 28 Jahren mit Pat verheiratet 2 Kinder 
totgeboren, 1 nach 1 Jahr gest., keine Fehlgeburten. Arbeitsamer Mensch, nie 
getrunken. 

16. 8. 17. Quetschung der r. Rumpfhälfte. Heilte gut aus, geringe Ver¬ 
letzung, wollte sich gesund melden. 

April 17 eines Morgens plötzlich Gefühl, als ob Därme herausfallen 
wollten. Aufgeregt 4 Wochen im Sanatorium. Schlimmer geworden. 
Dauernd ängstlich verstimmt Steif, konnte nicht gebadet werden. Zu Haus 
stül, saß umher, könne nicht arbeiten. Essen leidlich, Schlaf gut Ver¬ 
stopfung. Krankheitsschub klang nach 1% Jahren allmählich ab. 4 Monate 
gesund. September 18 zweiter Schub, wie der erste J4 Jahr lang. 
Seit Ostern 19 Schmiedehandwerk wieder aufgenommen. 12. 4. Maschinen¬ 
putzer bei der Eisenbahn, vollen Lohn. Nicht auffällig. 



77 


31. 7. 20. Dritter Schub, wollte nicht zur Arbeit gehen, es sei 
alle« tot in ihm. Obstipation. Schlechter Schlaf. Appetitlosigkeit. Grübelte, 
schweigsam, keine Suizidgedanken. 

23. 9. 20. Leicht depressiver Gesichtsausdruck, liegt zu Bett, spricht 
spontan nichts. Sei „Nervenkrank“, „es fehlen mir die Gedanken“. Zeitlich 
orientiert. Es gefalle ihm nicht mehr hier. — Alle Antworten nach langen 
Pausen, mit mehrmaligem Ansetzen zum Sprechen und Suchen nach dem Wort. 
Zu längerem Sprechen nicht zu bewegen. 

24. 9. Beschmutzte das Bett, aggressiv gegen die Wärter, diese banden 
mittels Handtüchern Arme auf dem Rücken fest, daher Schwellung der Ober¬ 
arme, Drucklähmung des Nervus radialis, beide Hände hängen schlaff 
herunter. 

25. 9. Keine Erinnerung an die Vorgänge in der Nacht, spricht vom 
Unfall 1917, deutliche Paraphasien. Zeitlich und örtlich desorientiert. 

26. 9. Drängt nachts aus dem Bett. Antwortet nicht auf Fragen, un¬ 
willig, keine Spontanäußerungen. Sieht mißtrauisch auf den geschwollenen 
rechten Arm, läßt unter sich. Nahrungsaufnahme schlecht. 

27. 9. Urin: enthält Eiweiß, leichte Trübung im Sediment, hyaline und 
granulierte Zylinder. Spez. Gew. 1037. Z. —. Erkennt den Arzt, sonstige 
Orientierung schlecht. Antwortet langsam, zögernd. Gesichtsausdruck starr, 
keine Spontanäußerungen. 

Somatisch: Gut genährt, Haut fettig glänzend, Dermographismus. 
Pupillen mittelweit, rund, C. R. und L. R. normal. Hirnnerven — soweit 
prüfbar — o. B. Kommt Aufforderungen nicht oder unvollständig nach. 
Reflexe an den oberen Extremitäten o. B. R. Arm: Ober- und Unterarm ge¬ 
schwollen, am Oberarm im unteren Drittel rot entzündliche Streifen, einige 
Hautabschürfungen und Blasen (Druckstellen durch Umschnüren mit Hand¬ 
tuch s. o.). R. Hand hängt bei ausgestrecktem Arm schlaff herab, Finger sind 
etwas gebeugt. Dorsalflexion der Hand nur wenig möglich, ebenso Strecken 
und Abduktion des Daumens, die übrigen Finger können im Grundgelenk nur 
wenig gestreckt werden. Am 1. Arm die gleichen Erscheinungen, nur etwas 
geringer. — Refl. an der unteren Extr. o. B. Keine Pyramidenreflexe. Sen¬ 
sibilität und Berührungsempfindung nicht prüfbar, da Pat. keine Angaben 
macht. Systolisches Geräusch an der Spitze. Blutdruck 110 Hg. 

28. 9. Gut geschlafen. Ißt. Beantwortet Fragen sinngemäß, doch 
zögernd und langsam. Keine Spontanäußerung. 

29. 9. Desorientiert, konfabuliert, liegt bewegungslos im Bett, Gesicht 
maskenartig. Nahrungsaufnahme gut (Diät). Urin: Menge 5Q0, Spez. 1037, 
enthält Eiweiß, Gyl. hyal. und granul. 

Fundus (spezialärztl.) r. 3 kl. runde Herde in Fovea, 1. 2 kl. runde Herde 
in Fovea, fraglich ob nephritisch. 

Lumbalpunktion: 5 ccm klare Flüssigkeit entnommen. Mittelstarke 
Lymphozytose, Eiweiß +, Wa. R. stark pos. Ist orientiert. Erinnert sich 
an die Vorgänge des Festbindens der Arme, spricht mit leicht zornigem Affekt. 

7. 9. Fundus: r. 4 kl. weiße Herdchen in der Makulagegend, unten 
rechts im umgekehrten Bilde (nephritische Herde). L.: unverändert. Retä 
nitis albumin. 

10. 10. Urin: bei Kochprobe nur geringe Spur Trübung. 



78 


11. 10. Gesichtsausdruck trotzig, verschlossen, liegt zu Bett. Ant¬ 
wortet meist nur „ja“ und „nein“. 

Urin: durch Kochprobe kein Eiweiß nachweisbar. 

15. 10. Auf langes eindringliches Befragen keine Reaktion, gibt nur sein 
Alter an (r). Mürrisch verdrossener Gesichtsausdruck. Keine Abwehrbewe¬ 
gungen. Nicht zu bewegen, Zunge zu zeigen, gelähmte Hand zu bewegen. 
Pupillen und Reflexe unverändert. 

26. 10. Ähnliches Verhalten auch die letzten Tage. 

Fundus: keine Veränderung gegen früher. 

2. 11. Mürrisch-abweisend bei der elektrischen Untersuchung, kann 
nicht erfolgen. 

8. 11. Fundus: einzelne weiße Flecken. 

8. 11. Abweisend, setzt der Untersuchung passiven Widerstand ent¬ 
gegen. Somatisch: o. B. gegen früher. Ungeheilt entlassen. Therapie: 
Schmierkur. 

Zusammenfassung. 

Fall 18. Diagnose: Luespsychose. 

53jähriger, früher arbeitsamer, gesunder Mann, der nie ge¬ 
trunken hat. Erkrankte vor etwa 3 Jahren zum ersten Mal. 

16. 3.17: Quetschung der rechten Rumpfhälfte, die gut ausheilte. 
1. Schub April 17, plötzlich eines Morgens Gefühl „als ob Därme 
herausfallen wollten“. Aufgeregt. 4 Wochen im Sanatorium, 
schlimmer. Hielt sich still, steif, so daß er nicht gebadet werden 
konnte. Dauer dieses gehemmt-depressiven Schubes V /2 Jahre. 
4 Monate später 2. S c h u b, wie der erste. Y 2 Jahr. Danach 15 Mo¬ 
nate mit vollem Lohn als Maschinenputzer bei der Eisenbahn tätig, 
nicht auffällig. 3. Schub: 31. 7. 20 ganz plötzlich, wollte nicht zur 
Arbeit, „alles sei tot in ihm“. Grübelt, appetitlos. Keine Suicid- 
gedanken. Schweigsam. 

23. 9. 20 in der Charite. Depressiv, orientiert, sucht nach 
Worten, „es fehlen mir die Gedanken“. Dann wechseln aggressive, 
verwirrte, desorientierte Tage (an denen er sogar gebunden werden 
muß) mit ruhigeren Tagen ab. 

Somatisch: Pupillen reagieren. N. S. auch sonst 0 . B. Ham: 
Zeichen von Nephritis. Retinitis albumina. Liq.: Wassermann stark 
pos., Vermehrung des Eiweißes und der Lymphozyten. 

8. 11. 20. Wird ungeheilt entlassen. Stimmung trotzig, ver¬ 
drossen, abweisend gehemmt. Spricht kaum. Nephritis besser. 

Das Krankheitsbild zeigt uns also bei dem bereits 50jährigen 
Manne, dessen Liquor stark positive Wa. Reaktion aufweist, drei 
melancholische Schübe mit schwerer Hemmung. Während des letz¬ 
ten Schubes entwickelt sich außerdem ein deliranter Verwirrtheits¬ 
zustand, gleichzeitig besteht eine Nephritis. 



79 


Sollen wir nun alle diese Zustände nur als periodische Mani¬ 
festationen einer Rückbildungsmelancholie auffassen? Den letzten 
dritten Schub doch sicher nicht. Zeigt er doch allzu deutlich die 
Zeichen einer exogenen luetischen Vergiftung. Über die Zeit der 
Ansteckung erzählt die Krankengeschichte nichts. Aber die Frau, 
die 28 Jahre mit Pat. verheiratet war, berichtet, daß sie zwei tot¬ 
geborene und ein lebendes Kind hätte, das mit 1 Jahr starb. Höchst¬ 
wahrscheinlich lag also beim Manne eine alte Lues vor und wir 
müssen wohl deshalb alle drei Schübe der Krankheit auf eine Lues 
zurückführen, und die Erkrankung, die bereits 3*4 Jahre bestanden 
hat, würde vielleicht als ein Beispiel luetischer, periodischer Melan¬ 
cholie gelten können. 

Ich würde nicht wagen, diesen Schluß zu ziehen, solange wir 
das Ende der Krankheit nicht kennen. Der eigenartige fast apo- 
plektiforme Beginn der Schübe, das außergewöhnliche Bild im dritten 
Schub scheinen mir den Verdacht der Paralyse nicht wegjagen zu 
können. 

P. K„ Arbeiter, 80 Jahre. 

1. Aufnahme 25. 5. 20 bis 28. 10. 20. 

2. Aufnahme 30. 5. 21 bis 17. 9. 21. 

8. Aufnahme 4. 3. 22. 

25. 5. 20. Bei der Aufnahme sehr erregt, schimpft auf seine Frau, seine 
Sachen seien ihm gestohlen. Auf der Abteilung immer noch lebhaft, erregt. 
Er sei schon immer so hitzig gewesen. Wenn er so erregt sei, müsse er etwas 
zerschlagen, danach sei es dann besser, es tue ihm dann sehr leid, er weine, 
sei mehrmals wegen Schlägerei bestraft. Wenn jetzt Frau hier sei, hätte er 
sie verhauen, um ruhig zu werden. Man dürfe ihn auch nicht festhalten, 
sonst tobe er. „Da kommt mir’s nicht drauf an, und wenn ich meine Mutter 
erstechen sollte“. 

Mehrere Strafen wegen Einbruchsdiebstahls, bis 18 Monate Gefängnis. 
Sei jahrelang Ludewig gewesen, habe dabei das Messerstechen und Revolver- 
schiefien gelernt. 

1915 ins Feld, bald in franz. Gefangenschaft. Dort die meiste Zeit 
Arreststrafen, „weil er so frech gewesen sei“. Darum erst jetzt aus Ge¬ 
fangenschaft zurück (vor 9 Wochen). Für den Schaden, den er durch seine 
jetzige Arbeitslosigkeit habe, werde er von der Frau Rente verlangen. Wenn 
er sie nicht bekomme, werde er sich austoben, einbrechen, jeden über den 
Haufen schießen, oder sich ihm in den Weg stellen. 

Redet in rohen Ausdrücken Uber einen Pat. im Nebenbett (Paralyse). 
Der sei doch nicht mehr zu heilen. Der solle man ein paar reinkriegen, daß 
er weg sei. Als man darauf einzugehen versucht, was er doch für ein 
jämmerliches Leben hinter sich habe, fängt er an zu weinen, wendet Bich ab, 
versteckt das Gesicht in die Hände. 

26. 5. 20. Körperlich: klein, mäßiger Ernährungszustand, zarter 
Knochenbau. 



80 


Pup. mittelweit, rund, 1. Spur enger als r., L. R. und C. R. gut. Horn¬ 
hauttrübung links (mit 6—7 Jahren Augenkrankheit bis zum 10. Lebensjahr). 

Pat. und Ach. Refl. mittelstark, r. —. Keine patholog. Zehenreflexe 
Keine Lust zur Arbeit, könne nicht 8 Stunden ruhig sitzen. Wolle handeln 
mit Wäsche etc., abends als Artist auftreten. 

Mutter leide an Kopfschmerzen, 8—4 Tage lang, auch er habe darunter 
zu leiden, aber nur 10—20 Minuten lang. Er ärgere sich sehr leicht, lege sich 
dann hin. Vater sei ein ruhiger Mensch. 

Frühere Krankheiten: Einmal eiterndes Geschwür am Glied („wird wohl 
weicher Schanker gewesen sein“). Besinnt sich gut auf Vorgänge vor der 
Aufnahme, insbesondere auf seine Erregung. 

* Erregung läßt jetzt nach. 

1. 6. 20. Schreibt viel, erregt. Will Musik hören. Habe durch seinen 
Aufenthalt hier große pekuniäre Verluste. 

2. 6. 20. Vor 10 Jahren Syphilis, Spritzen, Schmierkur. Quecksilberbäder. 

Im Kriege Tripper, weichen Schanker. Beim Militär Ehrlich-H&ta, 

Schmierkuren. Letzte Kur vor 2—3 Jahren. Angaben sind verschwommen, 
unsicher, Rededrang. Wassermann stark pos. 

Angaben der Ehefrau: Kennt ihn seit 11 Jahren, seit 3 Jahren verhei¬ 
ratet. Nach Rückkehr aus Gefangenschaft verändert: erzählte alles doppelt, 
aggressiv gegen Frau und Mutter. Seit 4 Wochen Verschlimmerung, wollte 
alles in Brand stecken, zerschlug Möbel, sprach dauernd von Geld, verkaufte 
Sachen. 

3 Kinder: 1. gest., Herzlähraung, J4 Jahr, 2. gest.. Influenza, \V% Jahr. 

3. 5 Jahre, kränklich, schwächlich, kein Ausschlag. 

Infektion (eigene) negiert. Familienanamnese o. B. 

3. 6. 20. Lumbalpunktion: Ph. I. Trübung, sehr starke Lymphozytose. 

Wa. 0,8 -f* + + +♦ 0,4 -4- + + +, 0,2 -f “(■ + • 

19. 6. 20. Stimmung wechselnd, leicht beeinflußbar, auch in seinem 
Gedankengang. Rededrang. Er verdiene in 1 Min. 5 Millionen. Kritiklos, 
sprunghaft. 

20. 7. 20. Neigt zu Schlägereien, schimpft erregt, weint mitunter. 

28. 8. 20. Dauernd starker Rededrang und motorische Unruhe. Ver¬ 
wertet alle Vorgänge in seiner Umgebung ideenflüchtig. „Ich bin auch 
Arzt . . . Kaltwasserkur . . . psychische Behandlung“. Springt zum 
Französischen über. 

25. 9. 20. Ruhiger, bittet nur gelegentlich entlassen zu werden, oder 
um eine Zigarette. 

8. 10. 20. Gute Angaben über Vorgeschichte, Rechen- und Merkfähig- 
keit nicht wesentlich gestört. Über Umgebung recht gut orientiert. Immer 
lustiger Mensch gewesen, habe andere mitgerissen, nie verzagt gewesen. — 
Über depressive Phasen vor der Aufnahme nichts zu erfahren. Lebhaft, ge¬ 
sprächig, ausdrucksvolle Mimik und Gesten. Ideenflüchtige Reden. Affekt 
jetzt gleichmäßig euphorisch. Keine Sprachstörung. Keine Größenideen. 

12. 10. 20. Bei Exploration noch Neigung zu Erregungszuständen. 

13. 10. 20. Blutentnahme. Wassermann stark pos. Lumbalpunktion: 
5 ccm klar, Ph. I. Opaleszenz. Sehr starke Lymphozytose. Wa. 0,8 + + + + 

0,4+ + + + 

0,2 + + + + 



81 


20. 10. 20. Klagen über Kopfschmerzen, will entlassen werden. Wisse, 
was ihm fehle, lasse sich nichts vormachen. Blieb im Bett, fühlte sich 
nicht gut 

28. 10. 20. Drängt heraus, begründet dies in verständiger Weise. Dauernd 
Neigung zu erregter Stimmung. 

Entlassen. Therapie: Neosalvarsan. 

2. Aufnahme . 

81. ö. 21. Mürrisch-depressiver Gesichtsausdruck, antwortet nicht, be¬ 
folgt Aufforderungen nur auf energische Ansprache. 

1. 6. 21. Lumbalpunktion: 4 ccm klar. Keine Druckveränderung. Ph. II 
leichte, aber deutl. Trübung, starke Lymphozytose, Wa. stark pos. 

Noch depressiver Stimmung, gibt wohl Auskunft, Gesichtsausdruck leer. 
Muß mehrmals gefragt werden. Befolgt Aufforderungen zögernd, bleibt ratlos 
stehen. Ißt allein, nimmt dabei unbequeme Haltungen ein. 

3. 6. 21. Pat. macht zuckende Bewegungen mit dem Oberkörper nach 
vorn, hebt dann die Arme hoch über den Kopf, beugt den Rumpf nach links 
vorwärts, bis der Kopf auf dem Bettrand liegt, die Arme aus dem Bett nach 
unten gestreckt. Augen halb geöffnet, Blick geradeaus. Lichtreaktion —, 
Zucken am ganzen Körper. Gesicht verzerrt, Kopf rot, Lippen geöffnet, 
Zähne fest geschlossen, zeitweise Zähneknirschen. Nach 2 Min. löst sich der 
Krampf. Pat. liegt schlaff. Bab. bds. vorhanden, Kornealrefl. träge. Reagiert 
auf nichts. 

4. 6. 21. Angaben der Ehefrau: Inzwischen immer etwas aufgeregt, hat 
Frau aber nicht geschlagen. Vom 19. 11. 20 bis 13. 1. 21 gearbeitet, viel 
Klagen über Kopf- und Magenschmerzen. Anfang Mai Verschlimmerung: lag 
viel im Bett, beim Aufstehen Schwindel, sah schlecht aus. Übelkeit, kein 
Erbrechen. 

30. 5. Verstärktes Auftreten von Übelkeit, aß und trank nicht, schüttelte 
nur mit dem Kopf. Keine Krämpfe, keine Erregung. Selbstvorwürfe wegen 
der früheren sinnlosen Verkäufe. 

10. 6. Öl. Kein Anfall mehr. Unverändert, spricht nicht. Steife unbe¬ 
queme Stellungen. Muß zum Essen angehalten werden, zum Austreten geführt' 
werden. Läßt hin und wieder Urin unter sich. 

13. 6. 21. Gibt an, es sei ihm bisher unmöglich gewesen, zu sprechen, 
es falle ihm auch jetzt schwer. Weiß von dem epileptischen Anfall. Die 
Anfälle begannen mit optischen Halluzinationen. Er Bah Schmetterlinge und 
Spinnen durch das Krankenzimmer fliegen und wollte sie fangen, aber es 
gelang nicht 

Leichte artikulatorische Sprachstörung. Mitbewegungen im Gesicht. 
8tark herabgesetzte Merkfähigkeit. Einfache Rechenaufgaben werden falsch 
gelöst Spricht plötzlich nicht mehr, lächelt nur, sieht Ref. an, bewegt die 
Zunge im Munde, kein Zungezeigen auf Aufforderung. — Vor der Exploration 
lebhaft, heitere Mimik. „Mitunter kann ich nicht sprechen, als wenn ich die 
Zunge nicht heben kann.“ Im Beginn der jetzigen Erkrankung „so verschwom¬ 
mene Töne“, wenn er etwas ansehe, verschwimme alles vor den Augen, könne 
nach 3—4 Min. überhaupt nichts mehr sehen. Manchmal heftige Kopf¬ 
schmerzen l 1 /* bis 2 Tage. Sei hier in anderen Räumen gewesen, könne sie 
sich gar nicht so recht vorstellen, „es sei wohl Wald gewesen“. „Da oben 
war ich wohl 2 Tage.“ 

F a b r 11 i n ■ , Zur Klinik der nichtparaly tischen Luea-Psychosen. (Abhand]. H. 24) 6 



82 


14. 6. 21. Apathischer Zustand. Liegt steif mit abgehobenem Kopf im 
Bett Widerstand gegen passive Bewegungen. Läßt Urin ins Bett. Nahrung 
muß in den Mund geführt werden. 

27. 7. 21. Dauernd katatones Bild. Mutazistisch. 

17. 8. 21. Lebhaftere Mimik, antwortet auf Fragen. 

24. 8. 21. Katatones Bild weniger ausgesprochen. AffektloBer Gesichta- 
ausdruck. Bewegungsarmut. Keine optischen und akustischen Halluzina¬ 
tionen. Er fühle sich in seinem Denken völlig frei, die Stimmung sei gut 
Rechen- und Merkfähigkeit gut. Keine artikulatorischen Sprachstörungen. 

14. 9. 21. Gut orientiert über Ort, Zeit, Person, Wohnung. Gute Stim¬ 
mung. Gute Intelligenz. 

Fühlt sich gesund bis auf die Lues, die wohl nicht heilbar sei; geistes¬ 
krank sei er nicht gewesen, vielleicht nervös. Sinnestäuschungen habe er 
nicht gehabt Sei mal aufgeregt, wie jeder andere auch. 

Körperlich: Ach. Sehnenreflexe bds. nicht sicher auszulösen. Lumbal¬ 
punktion: 6 ccm wasserklarer Liquor entnommen. Vermehrter Druck. Blut¬ 
entnahme. Wa. neg. Liq. wie früher. Ph. I. Opaleszenz. Starke Lympho¬ 
zytose. Wa. stark positiv. 

17. fl. 21. Die Affektsteifheit ist noch nicht völlig abgeklungen, Be¬ 
wegungsarmut, jedoch weitere Neigung zum Abklingen. Außer der Affekt¬ 
stumpfheit besteht zur Zeit leichte Beeinflußbarkeit und Andeutung von 
Negativismus. Gibt einsilbige Antworten. Neurologisch o. B. Als gebessert 
entlassen. 

3. Aufnahme. 

Angaben der Ehefrau: Seit Entlassung vollkommen geordnet, auffallend 
eitel. Fing an, Ende Jan. sehr zu trinken, klagte über starke Kopfschmerzen. 
Ließ häufig Urin in die Hosen. Erkennt Arzt und Pfleger wieder. 

Somatisch: Pup. r. > 1., Reaktion auf L. und C. -f. Links Kornea 
wolkig getrübt in Zentren. Ach. Refl. —. Keine pathologischen Reflexe. 
8timmung8lage heiter. 

9. 8. Vollkommen ruhig, verlangt lächelnd seine Entlassung. 

18. 8. Läßt in wachem Zustand Urin ins Bett. Dauernd gleichgültig 
heiter — lächelnd. 

18. 4. Starke Hyperkinese. Dauernd rhythmische Bewegungen, schlägt 
in monotoner Weise die Hände um die Brust. Gesichtsausdruck starr, keine 
affektiven Veränderungen. 

2. 5. Hyperkinetischer Zustand hält an. Dabei stark ideenflüchtig. Stim¬ 
mung leicht gehoben. Größenideen. 

12. 5. Ausgesprochen ideenflüchtig. Bewegungsunruhe außerhalb des 
Bettes gesteigert, Bewegungen zeigen eine gewisse Monotonie. Affektlage 
ziemlich indifferent, gelegentlich auch Äußerungen mit sinnlosen Größenideen. 
Keinerlei Krankheitsgefühl. 

25. 6. Unverändertes Bild. Dauernd starker Bewegungsdrang. Schlägt 
andere Patienten. Starker ideenflüchtiger Rededrang, greift alle Begeben¬ 
heiten um sich herum auf. 

26. 7. Die Hyperkinese ist in den letzten Tagen erheblich abgeklungen, 
fast frei von psychomotorischen Störungen. In den letzten Wochen mehr¬ 
mals Äußerungen, er sei hier vergiftet worden, habe keine richtigen Salvar- 
sanspritzen bekommen, die Injektionsflüssigkeit sei so komisch gefärbt. Auch 



das Essen habe komisch bitter geschmeckt, — Stimmungslage euphorisch, 
ausgesprochener als zur Zeit der abgeklungenen psychomotorischen Störungen. 
Tdeenflucht, Rededrang, der sich im Verlaufe der Untersuchung steigert. 
Lebhafte Affektäußerungen, dabei behält aber der Gesichtsausdruck eine 
gewisse Starrheit und Steifheit. — Phantastische Größenideen, verspricht 
Millionen. Kein eigentliches Krankheitsgefühl, ,.nur etwas aufgeregt“. Sitzt 
nicht still, sehr ablenkbar. Keine paralytische Demenz. Grobe Störung der 
Aufmerksamkeit, offenbar keine Rechenstörungen und Merkfähigkeitsdefekte. 

Augenhintergrund: rechts wahrscheinlich beginnende Atrophie, links 
ebenso, aber wegen Iristrübungen nicht sicher zu erkennen. 

Achillesrefiexe fehlen. 

18. 10. 22. Drängt in den letzten Wochen sehr auf Entlassung. Auf der 
Station wechselnd, oft humorvoll, oft sehr gereizt. Interessiert sich für alles. 
Großideen; drängt heraus, kommt wieder darauf zurück. 

26. 10. 22. Lumbalpunktion: 5 ccm klarer Liquor unter sehr verstärktem 
Druck. Blut Wa. R. negativ. Liquor starke Eiweiß- und Zellenvermehrung. 
Wa. R. positiv. 

5. 12. 22. Im allgemeinen ruhig. Drängt nicht heraus, hält sich aber 
völlig gesund. Zeitlich und örtlich genau orientiert. Er sei hier das Ziel 
von Austragungen, Beobachtungen, man wolle ihn aushorchen. Die Frau habe 
ihn betiogen. Die Affektlage ist im allgemeinen stärkeren Schwankungen 
nicht mehr unterworfen. Stimmung jetzt ziemlich gleichmäßig, nur hin und 
wieder kurze ärgerliche Äußerungen. Fühlt sich gesund, hat an seiner Situa¬ 
tion, am Essen etc., nichts auszusetzen. Große Zukunftspläne, leicht ablenk¬ 
bar. Keine Sprachstörung. 

23. 12. Erregt, gereizt, verlangte seine Entlassung, schlug Mitpatienten. 

13. 4. 23. Drängt heraus, lasse sich nicht aushorchen. Müsse für Frau 
und Kinder sorgen „als gesunder Mann“. Eine geordnete Unterhaltung ist 
seit den letzten Wochen unmöglich. Pat. gibt sich wohl Mühe, wird aber 
wieder sehr bald erregt. Könne sich seine Lues allein kurieren. Mißtrauisch 
gegen andere Patienten. Recht gute Orientierung. Beteiligt sich an der 
Fütterung. Ist sehr eitel. 

18. 4. 23. Sehr ängstlich, berichtet von Männern mit Revolvern und 
Kanonen. Näheres ist nicht zu erfahren. Geht unruhig auf und ab, spricht 
von seinen Taten, seinen Reisen. Die motorische Unruhe steigert sich. Läßt 
«ich im Rede- und Bewegungsdrang nicht unterbrechen. Bittet um Beruhi- 
gungsmittel. 

19. 4. 23. Ruhiger. Beobachtet gut, besonders neu aufgenommene Pa¬ 
tienten. Im übrigen entwickelt er dieselben Ideen wie früher. 

22. 5. Liegt auf dem Bauche oder zusammengekauert ohne ITemd, die 
Decke über den Kopf gezogen. Kümmert sich um nichts, spricht dauernd vor 
sich hin. Läßt sich auch durch Fragen nicht von seinem Rededrang ab¬ 
bringen. Dieser ist inhaltlich völlig unzusammenhängend, ohne besondere 
Betonung. Motorische Unruhe, jedoch nicht aggressiv. Nahrungsaufnahme 
schlecht, muß gefüttert werden, läßt ab und zu unter sich. Offenbar gehobene 
Stimmung8lage, mitunter Andeutung von Größenideen. 

26. 6. Bis gestern das gleiche Verhalten. Häufig stark erregt, schlug um 
eich. Läßt unter sich. Stark abgemagert Auf dem Abort wurden krampf¬ 
hafte Zuckungen der Extremitäten mit geringen Exkursionen beobachtet 

6 * 



84 


Dauer 2—4 Minuten. Gestern nachm, plötzliches Abklingen der Hyperkinese 
and des Rededrangs. Ißt allein. Beklagt sich heute über andere Patienten, 
wird dabei wieder erregt, muß in Packung gelegt werden. Örtlich gut orien¬ 
tiert, zeitlich mangelhaft Hält sich für klug. Sprache heiser, undeutlich, 
schwer zu prüfen, ob artikulatorische Störung. Plötzlich weinerlich. 

Zusammenfassung. 

Fall 19. 30jähriger Arbeiter. Immer ein äußerst heftiger, 
erregbarer, rücksichtsloser (offenbar minderwertiger) Mensch, der 
mehrmals bestraft worden war. 1915 ins Feld, bald in französische 
Gefangenschaft, wo die meiste Zeit Arreststrafen, „weil frech“. 
Syphilis mit 20 Jahren. Mehrmals Geschwüre (weicher Schanker) 
am Gliede. 

25. 5. 20 bis 28. 10. 20 in der CharitA Sehr erregt, gewaltsam, 
leicht beeinflußbar, Rededrang und motorische Unruhe. Ideen¬ 
flüchtig. Orientierung gut. Rechen- und Merkfähigkeit nicht gestört. 

N. S. o. B. Wa. R. in Bl. und Liq. stark pos. Entl. Gearbeitet. 

30. 5. 21 bis 17. 9. 21 wieder in der Charite. Mürrisch-depres¬ 
siv. Folgt Aufforderungen zögernd. 3. 6. 21 Krampfanfall. Später 
apathisch, katatones Bild. Mutacistisch, affektlos. Besserung. Gute 
Orientierung. Gute Intelligenz. Läßt hin und wieder Urin unter sieb. 

Wa. R. in Bl. und Liq. stark pos. Gebessert entlassen, voll¬ 
kommen geordnet. 

4. 3. 22 bis Juli 23. Erregt, motorische Unruhe. Stereotype, 
rhythmische Bewegungen. Stimmung leicht gehoben. Phantastische 
Größenideen. Rededrang, ideenflüchtig. Keine paralytische Demenz. 
Keine Merkfähigkeitsdefekte. Später flüchtige, schwachsinnige 
Wahnideen. 

Während der jetzt mehr als 3jährigen Krankheit können wir 
3 verschiedene Schübe unterscheiden. Zuerst eine erregte manische 
Phase mit sehr starken Affektausbrüchen, die gut verständlich er¬ 
scheint, wenn man den gewaltsamen unruhigen und rohen Charakter 
des Kranken berücksichtigt. 

Sodann nach etwa 6 Monaten eine gehemmte Phase gemischt 
mit katatonen Zügen. 

Dann zuletzt — wiederum nach 5—6 Monaten — eine erregte 
Phase, die bis jetzt also fast 1% Jahre besteht und die allem Anschein 
nach mit dem Tode enden wird. 

Wiederum stehen wir vor der Frage: Luespsychose oder Para¬ 
lyse? Daß die Lues die causa mali ist, braucht wohl nicht be¬ 
zweifelt zu werden, da sämtliche Reaktionen trotz energischer Be¬ 
handlung immerfort äußerst stark positiv geblieben sind. Rein 



85 


klinisch sah der erste Schub typisch manisch aus, dann sind die 
Bilder unreiner, verwischter, zudem kommen noch Anfälle, die wohl 
am meisten den paralytischen ähneln. 

Soviel ist sicher, daß wir vor einer luetisch bedingten Psychose 
stehen, die innerhalb 3%—4 Jahren zu geistigem Siechtum geführt 
haben würde. 

Den folgenden Fall habe ich in Helsingfors beobachtet. 

Fall 20. Chauffeur, 25 Jahre. Immer gesund, energischer, tüchtiger 
Chauffeur, der in kurzer Zeit viel Geld verdient. Vor ca. 4 x j* Jahren Lues. 

Bereits vor l 1 / 1 Jahr (Winter 1918), ateo 3 Jahre nach der luetischen In¬ 
fektion schien es Pat„ „daß alles nicht ganz wie früher war u . Im Sommer 
und Herbst ging es ihm wieder gut. Ende 1918 wurde es wieder schlechter. 
Pat. wurde stumpf und interesselos und das Gedächtnis nahm ab. Das Ar¬ 
beiten wurde ihm unmöglich, obwohl er sich alle Mühe gab. Außerdem wurde 
er von einem schweren, früher nie gekannten Angstgefühl geplagt. 

Er wurde nun in ein Krankenhaus aufgenommen, und dort unter der 
Diagnose „Neurasthenie“ 2 Monate gepflegt 

Nach seiner Entlassung war der Zustand nicht besser, weshalb er bald 
wieder Aufnahme in einem Krankenhaus (Dr. H. Fabritius) fand. 

Status April 1919. 

Mittelkräftiger Mann. N. S. o. B. R. Pup. Spur > 1., reagieren beide 
aber entschieden etwas träge. 

Psychisch macht Pat. einen intelligenten Eindruck. Keine Intelligenz¬ 
störung. Klagt über schwere Kopfschmerzen und vor allem über eine 
schwere Depression. „Die Gedanken stehen still“, „ich kann nicht mehr 
denken“, „aus mir wird nichts“, ubw. Stimmung nie indifferent, sondern 
immer sozusagen positiv, deprimiert. 

Wa. R. im Blut —■, Liq. klar, Ph. I. —, Wa. R. schwach pos. Bekommt 
Ung. ein. Gebessert entlassen. 

2. 2. 20 bis 26. 5. 20. Wieder aufgenommen. Hat fast das ganze Jahr 
arbeiten können. Erkrankte an Grippe 3. 1. 20. Seitdem müde, niederge¬ 
schlagen, schläft schlecht. Wünscht wieder Krankenhausaufnahrae, „weil die 
Stimmung so gedrückt sei“. Wa. R. im Blut —. Rechte Pupille > 1., reagiert 
sehr schlecht Sprache völlig intakt. Deutlich gehemmt, antwortet ab und zu 
gar nicht Äußerst niedergeschlagen, gedrückt, klagt, „daß aus ihm nichts 
mehr wird“. 

Auf Wunsch der Eltern entlassen. Lebte auf dem Lande und wurde ein 
bischen besser, so daß er im Herbst 1920 und Frühjahr 1921 als Chauffeur 
an der Post angestellt werden konnte. Heiratete sogar im Sommer 21. 

Im Herbst 21 wurde er aber wieder so schwer verstimmt, daß er Selbst¬ 
mordgedanken äußerte, und im städt. Krankenhaus Stengard zu Helsingfors 
aufgenommen werden mußte (Dez. 21). Hier ist er seitdem geblieben. War 
anfangs schlaflos, gehemmt und deprimiert. Wurde aber allmählich immer 
gleichgültiger und dementer. 

Aug. 1923 konnte ich ihn untersuchen. Er ist körperlich gesund und 
arbeitete draußen. Geistig liegt aber ein hochgradiger Schwachsinn vor. 
Sprache schmierend, lichtstarre Pupillen. 



86 


Wa. Rea. im Bl. stark pos., Liq. nicht ganz klar, Wa. R. -}- -f + -, 
Ph. I. -f- +, Pandy -j—f- +, Pleozytose 34, Zellen in mm'. 

Zusammenfassung. 

Fall 20. 25jähr. Chauffeur. Früher gesund, tüchtig und ener¬ 
gisch. Lues mit 21 Jahren (1915). Etwa 3 Jahre später leicht 
verstimmt, konnte aber arbeiten. Noch 1 Jahr später mußte er aber 
Aufnahme in einem Krankenhaus suchen, da er stumpf und interesse¬ 
los wurde. Außerdem wurde er von einem schweren Angstgefühl 
gedrückt. Dieser Schub dauerte etwa 6 Monate. Pat. war typisch 
gehemmt, Affektlage ununterbrochen schwer depressiv, angstvoll 
„die Gedanken laufen nicht“, „ich war früher immer so hoffnungs¬ 
voll“, „wie könnte ich froher werden?“ wiederholte er oft. Intelli¬ 
genz gut. Somatisch ist die r. Pupille > 1, reagieren beide träge. 
Wa. R. im Blut —, im Liq. ganz schwach pos. Ph. I. — 

Im Herbst 1919 Besserung nach Schmierkur. Im Februar 20 
wiederum im Krankenhaus. Typisch depressiv mit Hemmung und 
Selbstmordgedanken, da „aus ihm doch nichts werde“. 

Im Herbst 1920 und Frühjahr 21 bedeutende Besserung. Ende 21 
wieder schwere Depression. Pat. wird in ein Irrenhaus aufgenommen. 
Hier entwickelt sich allmählich ein Zustand, der klinisch als ein» 
Paralyse bezeichnet werden muß. Sämtliche Reaktionen äußerst 
stark pos. 

Der Fall ist außerordentlich interessant. Bei dem energischen, 
früher ganz gesunden jungen Manne bildete sich etwa 4 Jahre nach 
der luetischen Infektion ein typisches, reines depressives Zustands¬ 
bild heraus, dem sich im Laufe der zwei folgenden Jahre 2 völlig 
ähnliche Schübe anschlossen. Der letzte ging dann in einen Demenz¬ 
zustand über, der klinisch völlig einer Paralyse entspricht 

Beim ersten Schube lag wohl sicher keine Paralyse vor. Die 
Intelligenz war entschieden gut. Wa. R. im Blut —, im Liq. nur 
sehr schwach pos. Auf dem Boden der luetischen Prozesse bildet 
sich nun die Paralyse aus. Oder sollen wir sie als eine neue Krank¬ 
heit auffassen? Bemerkenswert ist auch der lange Verlauf, der 
jetzt 4y 2 Jahre gedauert und wahrscheinlich noch recht lange dauern 
wird, da Pat. körperlich rüstig und sogar arbeitsfähig ist. 

Die folgenden drei Fälle zeigen ein von dem obigen abweichen¬ 
des Verhalten insofern, als das Krankheitsbild stark katatone Züge 
aufweist. 

F a 11 21. P. H., 85 Jahre. Buchhalter. Aufgen. 7. 11. 21, entl. 23. 3. 22. 
Diagnose: Katatonie (Luespsychose). 

7. 11. 21. Am 1. Zeigefinger eine kleine frische Wunde. Auf Fragen ant- 



87 


wortet Pat. nicht. Wurde vom Arzt draußen eingewiesen, ging ohne Wider¬ 
streben mit Begleiter mit. — Plötzliche Bewegungen und Stellungsänderungen, 
steht stramm, sieht starr an die Decke. Gesichtsausdruck ratlos, erregt. 

Somatisch: Innere Organe o. B., r.-seitiger Leistenbruch. Riß am 
L Zeigefinger. Pup. oval-eckig. L. R. r. normal, 1. schwach. C. R. bds. 
normal. 

Augenbew. frei, kein Nystagmus. Fundus: z. Zt. nicht prüfbar. 

10. 11. 21. Auf vorderer Linsenkapsel ein kleines Pigmentfleckchen, bei 
weiter Pupille tauchen noch mehrere darunter auf. R.: normal. Die bds. Ent¬ 
rundung der Pup. ist nicht lokaler Natur (spezialärztl. Augenbefund). 

Fazialis wird vom Pat. nicht innerviert, in Ruhe o. B. Zunge: Wird 
nicht herausgestreckt. 

Reflexe an ob. und unt. Extr. normal. Tonus schlaff. Keine sicheren 
pathologischen Reflexe. Blut — Wa. pos., Liq. pos. Wa. Rea. Eiweiß Ver¬ 
mehrung, starke Lymphozytose. 

Psychisch: Setzt sich ruhig hin, spricht nicht, führt Aufforderungen zu¬ 
nächst nicht aus. Zieht sich dann aus. Zeigt auf seinen Leistenbruch, deutet 
an, daß etwas mit dem Auto vorgefallen sei, nicht herauszubekommen, was 
vorgefallen ist. — Reagiert wahllos auf einige Äußerungen, auf andere nicht, 
versteht alles, reagiert nicht. Auf Nadelstiche (ziemlich starke) keine Reak¬ 
tion, beim Versuch in die Augen zu stechen, geht er zurück. Gelegentlich 
einige Worte bei Schilderung des Autounfalls durch Gesten „So!“ (macht eine 
kräftige Bewegung). Sagt „kalt“, gibt zu verstehen, daß er sich ankleiden 
will. Zieht sich dann auf Aufforderung wieder aus. Verlangt dann seine 
eigenen Sachen, will sich nicht mehr untersuchen lassen, Arzt wollte ihn um¬ 
bringen. Drängt heraus. Zieht Hemd nicht an, geht nackt zu Bett, will er¬ 
brechen. Verweigert die Suppe. Auf schriftliche Aufforderung keine Reak¬ 
tion, ist selbst nicht zum Schreiben zu bewegen. 

8. 11. 21. Angaben des Stiefvaters: Nichte der Mutter des Pat. geistes¬ 
krank nach Gravidität, deswegen in Anstalt. 1 Neffe (Sohn einer anderen 
Schwester der Mutter) „Verfolgungswahn“. Pat. als Kind: Masern, Scharlach, 
Gelbsucht, Lungenentzündung. Keine Besonderheiten in der Kindheit. Ver¬ 
ließ die Schule kurz vor dem Einjährigen, 8—9 Jahre kaufmännisch tätig, 
dann beim Stiefvater im Geschäft. Bis 1915 sehr fleißig. Dann in Ruderklub 
eingetreten, vornehme Gesellschaft aufgesucht. Auto gekauft. 1915 einge¬ 
zogen. Kraftfahrer, Luftschiffer. Als Pat. 1918 auf Urlaub kam, fiel er 
durch vieles Sprechen auf, sprach auch unglaubwürdiges Zeug, rühmte seine 
Heldentaten. Nach Kriegsende — nach einer kleinen Ruhepause — wieder im 
Geschäft tätig. Wollte eigenes Geschäft kaufen, deswegen heftige Ausein¬ 
andersetzungen mit Ref. Wollte sich erschießen. Darauf Krampfanfall: fiel 
steif zu Boden, Bewußtsein scheinbar erhalten. Fuhr dann tägl. im Wagen 
spazieren, schrieb Briefe an den Kaiser, kaufte sich ein Eisernes Kreuz. 
Anstaltsaufenthalt bis August 19, ziemlich normal. Immer ängstlich, schweig¬ 
sam, menschenscheu, sprach zeitweise wieder sehr viel. Mai 20 Erregungs¬ 
zustand, suchte selbst Sanatorium auf, dort bis Juli 20. Dann wieder im Ge¬ 
schäft tätig. Erzählte gestern, Blut sei angesteckt. Sprach seit 14 Tagen 
wieder viel. Schlaf und Appetit gut, letzte Nacht schlecht geschlafen. Er¬ 
zählte etwas, fing plötzlich an zu weinen. Wollte zur Polizei gehen, alle 
guckten auf ihn wegen der Ruderklubangelegenheit (?). 



88 


9. 11. Spricht zusammenhanglos. „Ich bin ein Objekt der Medizin“ etc. 
Viele Gestikulationen. Hebt die Hand zum Schwur etc. Beim Essen beißt er 
schnell ein Stück ab, stützt den Kopf in die Hände. Setzt sich auf Aufforde¬ 
rung nicht hin, bleibt barfuß im Zimmer stehen. Ängstlich gehemmter 
Gesichtsausdruck, blickt auf den Fußboden, hält eine Hand vor das Auge, 
sieht die Tür aufmerksam an. Schüttelt verzweifelt den Kopf, bleibt in ge¬ 
hemmter Stellung stehen: „Es wird ein Höherer jetzt entscheiden, was von mir 
aus — Unrecht und Recht entscheidet.“ „Es liegt in meinem Glauben, daß 
links — rechts.“ Nimmt plötzlich stramme Haltung an, betrachtet aufmerksam 
einen im Zimmer hängenden Rock. Nickt. (Wo hier?) „Stehn in höherer 
Gewalt der Gerechtigkeit.“ „Ich bin das Experiment vom Ausland, weil hier 
auf dem, was bei mir liegt, sicher zu spät — oder.“ 

Spricht immer erst nach mehrfacher Aufmunterung, wenig spontan. 

10. 11. 21. Meist mutistisch. Spricht mitunter eine Zeitlang, hört abrup\ 
wieder auf. Über die Motive des Schweigens unsichere Angaben, „darf ich 
denn reden?“ „Reden ist Silber, Schweigen ist Gold.“ Spricht in zerfahrener 
Weise, mitunter zornmütig. Drängt hinaus. Manchen Äußerungen ist zu 
entnehmen, daß Pat. Krankheitsgefühl hat. 

Nahrungsverweigerung. Abweisend bei der körperlichen Untersuchung. 
Temperatur 38,2 (ohne erkennbare Ursache). Zerfahren, lief nackt umher, 
erregt Spricht von geschlechtlicher Infektion, die man an dön Augen erkenne. 
Keine Anzeichen für Halluzinationen. Äußerungen religiösen Inhalts. 

17. 11. Spricht unzusammenhängende Sätze. Weint. Vielleicht etwas 
unsicher in der Artikulation bei schweren Paradigmen. Merkfähigkeit stark 
herabgesetzt Spricht zusammenhanglos über Rudererlebnisse. 

18. 11. Das Essen von zu Hause sei vergiftet, hier nicht „Es liegt noch 
einer hier, der auch ich ist“ 

22. 11. Nahrungsaufnahme gut Immer derselbe Rededrang. Spricht 
von Reminiszenzen aus seinem Leben. 

26. 11. Ängstlich, fürchtet zu sterben, sei Versuchsobjekt 

3. 12. Meist mutistisch oder kurze Äußerungen: depressiven oder para¬ 
noischen Inhalts. Nahrungsverweigerung, sein Magen sei gefüllt, es gehe 
nichts mehr hinein“. 

24. 12. Meist mutazistisch: liegt ausgestreckt auf dem Rücken in ge¬ 
spannter Haltung mit gespanntem Gesicht. Meist abgehobener Kopf. 

12. 1. 22. Abduzensparese links. 

14. 1. Immer gleiches Verhalten. 

19. 1. Möchte aufstehen. Im Saal werde über ihn gesprochen, aus der 
Zeitung über ihn vorgelesen. 

Zuerst habe er Angst gehabt, geglaubt, daß er bestohlen worden sei. 
Eltern hätten ihn beruhigt. Ideenflüchtig, spricht halblaut, wenig Mimik. 

23. 2. Körperliches Wohlbefinden. Liest die Zeitung. Krankheitsein¬ 
sicht. Spricht geordnet über Bein Vorleben. Faßt manchmal Fragen schwer 
auf, wiederholt auffällig das Wort: „nicht wähl?“. Auf Fragen richtige 
Antworten, und zwar ausführlich. Kein Silbenstolpern. 

Pup. r. > 1., längs-oval verzogen, L. R. und C. R. normal. Augen¬ 
bewegungen: r. nach oben, unten und zur Mitte ausgiebig, nach außen wird 
der äußere Lidwinkel .nicht vollkommen erreicht. L. Auge steht fixiert im 
Augenwinkel, Bewegung nach oben und unten wenig eingeschränkt, nach 



89 


außen fast gleich 0, (nach außen wird die Mittellinie nicht ganz erreicht). 
Pat. Refl. r. > L +, sonstige Refl. +• Oppenheimer r. pos., 1. — Sensibili¬ 
tät o. B. Therapie: Schmierkur. Neo-Salvarsan. 

7. 3. 22. Klagt Uber Druck im Kopf, wie Fett, führt es auf die Schmier 
kur zurück. Will nicht im Bett bleiben, sich nicht schmieren lassen. 

20. 8. Auffällig dio schnelle, in der Betonung einförmige Redeweise. 

22. 3. Geordnet. Keine Klagen. 

23. 3. Entlassen. 

Pat. in Dalldorf 2. 5. 19 bis 9. 7. 19. Diagnose: progr. Paralyse, und vom 
20 5. 22 bis 11. 6. 23 (W. R. im Blut —(- + +' im Liq. sämtliche Reak¬ 
tionen + r 4- -f-, Paralyse. Goldsool +. 

Zusammenfassung. 

Fall 21. Diagnose: Katatonie (Luespsychose). 

35jähr. Buchhalter. Eine Nichte der Mutter geisteskrank, in 
einer Anstalt, ein Neffe „Verfolgungswahn“. Pat. gesund, immer 
scheu, schweigsam, Lues nicht bekannt. 1915 (Pat. war 29 Jahre) 
fiel auf, daß Pat. vornehme Gesellschaft aufsuchte, kaufte Auto. 
Dann 3 Jahre im Kriege als Luftschiffer. Ende 1918: Sprach viel 
Unglaubwürdiges, wollte eigenes Geschäft kaufen, rühmte seine 
Heldentaten, kaufte Eisernes Kreuz, schrieb Briefe an den Kaiser. 
Einmal Krampfanfall, Bewußtsein schien erhalten. Anstaltsaufent¬ 
halt Dalldorf 2. 5. bis 9. 7. 19 nötig. Mai/Juli 20 wieder in Anstalt 
wegen Erregungszustandes. Dann im Geschäft tätig bis Ende Okt. 
21. Sprach wieder viel, sonderbares Benehmen, weinte plötzlich, 
wollte zur Polizei, alle guckten auf ihn. 

7. 11. 21 bis 23. 3. 22 in der CharitA Spricht zusammenhanglos, 
zerfahren, absonderliche Bewegungen, hebt die Hand zum Schwur, 
beißt beim Essen schnell ein Stück ab, stützt den Kopf in die 
Hände. Plötzliche Bewegungs- und Stellungsveränderungen. Ge¬ 
sichtsausdruck ratlos, erregt, ängstlich. Deutliche Ambivalens- 
erscheinungen: „es wird ein Höherer jetzt entscheiden, was von mir 
aus — Unrecht und Recht — entscheidet“. „Es liegt in meinem 
Glauben, daß links — rechts“. Später mutatistisch, Nahrungsver¬ 
weigerung. Keine Halluzinationen. Merkfähigkeit stark herabgesetzt. 
Spricht zusammenhanglos. 

Somatisch: Pup. oval-eckig. L. R. r. normal, 1. schwach, sonst 
o. B. Wa. R. in Bl. und Liq. pos. Eiweißvermehrung, starke Lympho¬ 
zytose. — Später Abducensparese links. Juni 23. Laut Mitteilung 
aus Dalldorf war Pat. aufgenommen in der Anstalt vom 2. 5. 19 bis 
9. 7. 19. Diagnose: progr. Paralyse. Wiederaufgenommen: 2. 5. bis 
11. 6. 23. W. R. im Blut stark pos., im Liq. sämtliche Reaktionen 
stark pos. Goldsoolreaktion paralytisch. Diagnose: prog. Paralyse. 



90 


Der Verlauf zeigt uns also mehrere Schübe. Bereits 1915 war 
Pat. vielleicht leicht manisch, Ende 1918 deutlich manisch erregt, 
1919 wurde in einer Anstalt die Diagnose Paralyse gestellt. Remis¬ 
sion. 1920 wieder Erregungszustand. Dann ljähr. Remission, tätig 
im Geschäft. 1921 bis 22 ausgesprochen katatones Zustandsbild. 
1923 deutliche Paralyse. 

Im ganzen also eine Krankheitsdauer von wenigstens 5 Jahren 
— wenn wir nicht die ersten unsicheren Erscheinungen im Jahre 1915 
mitzählen. Pat. lebt noch, entlassen aus dem Krankenhause. 

Wie sollen wir nun die verschiedenen Schübe auf fassen? Am 
einfachsten als Manifestationen einer Paralyse, wie man es bereits 
1919 in Dalldorf tat. Dann kommt aber der eigenartige katatone 
Schub! 

F a 11 22. W. H., 37 Jahre, Arbeiter. Aufgen. 15. 2. 19, entl. 10. 6. 19. 
Luespsychose. 

Bei der Aufnahme beim Anskleiden Abwehrbewegungen, man solle nicht 
so dicht herankommen, es stecke an. Ängstlich, antwortet unverständlich, 
weil er den Mund voll Speichel hat. Könne den Speichel nicht herunter¬ 
schlucken, wolle ausspucken. Mutter sei früh gestorben, Vater aufgeregt, 
jähzornig, früher viel getrunken. Als Junge wie andere. In der Schule 
schlecht gelernt, habe auch keine Zeit zum Arbeiten gehabt. Nach der 
Schulzeit auf dem Lande gewesen, dann Soldat, gern getanzt, lebhaft. Später 
Geschäft des Vaters mit Bruder zusammen übernommen, sich mit diesem nicht 
vertragen, da Bruder leichtsinnig war. Dann Molkerei gekauft. 1914 einge¬ 
zogen. 1915 Infektion. Gleich Spritzkur. Quecksilber sei nicht richtig 
gespritzt worden, sei stecken geblieben, „war ganz verhärtet“. Wieder in9 
Feld Mai 17. Mai 18 Bluterguß (Fußverstauchung). Blut sei neg. gewesen, 
Okt. 18 pos. In Breslau Spritzkur gemacht. Seit 16 verheiratet, keine Kinder, 
keine Fehlgeburten. Seit Dez. niedergeschlagen, weil er keine Arbeit hatte. 
Pat. meint, er sei schwer krank, werde nie wieder gesund. Könne Wasser 
nicht lassen, Urin rieche so stark, das ganze Haus rieche so, könne keinen 
Menschen mehr herein lassen, wolle kein Brot essen, dann könne er nicht 
austreten und die anderen könnten das nicht riechen. Könne gar nicht mehr 
denken. Habe schon manchmal Gas brennen lassen, Gaßhahn offen gelassen, 
Laufe an der Straße vorbei, in die er gehen wolle. Seit einiger Zeit starke 
Kopfschmerzen. Zeitung könne er nicht mehr lesen, vergesse doch alles 
gleich wieder. Beziehungsideen; könne sich nicht mehr unter solchen Men¬ 
schen sehen lassen, man wisse in der Gegend, wo er wohne, daß er krank 
sei. Auch Frau werde sich von ihm scheiden lassen. Die Leute ständen 
immer an den Fenstern, sähen ihm nach, hörten, wenn er in der Stube auf- 
und abginge, auch die Polizei werde sich nach ihm erkundigen. Kleinheits- 
Vorstellungen: passe nicht in die Gesellschaft, in die er hinein geheiratet habe, 
das seien bessere Leute, Briefträger usw. Fürchte, alle Leute anzustecken, 
wenn er einmal wohin gespuckt habe, habe Wasser darauf gegossen, sieb 
dauernd die Hände gewaschen. Schlafen könne er auch nicht mehr, wache 
immer auf, sehe nach der Uhr. Anscheinend keine Suizidgedanken. Spricht 



91 


leise, langsam, in allen Reaktionen deutlich gehemmt, Gedanken stark ein 
geengt auf seine Krankheit, von seinem krankhaften Komplex kaum abzu¬ 
bringen, gibt wenig Auskunft über andere Dinge. 

Von seiten des Nervensystems und der inneren Organe kein patholo¬ 
gischer Befund erhebbar. 

17. 2. Wa. im Blut pos. 

Angaben der Ehefrau: Am 20. 12. IS aus Heeresdienst entlassen. Im 
Urlaub niemals eine Veränderung an dem Pat. bemerkt. Seit Rückkehr aus 
dem Felde still, teilnahmslos, blieb ohne Beschäftigung zu Haus, war sehr 
deprimiert darüber, daß er Geschäft und Geld verloren habe (Geschäft 1915 
verkauft), machte wenig Anstrengung, eine neue Beschäftigung zu bekommen. 
Die Erscheinungen nahmen in den letzten Wochen zu. Wahnvorstellungen 
schildert Frau ebenso wie Pat. es tut. Kein Potus, von Infektion ist der 
Frau nichts bekannt. Fehlgeburt, Frühjahr 18, im 3. Monat. Keine Kinder. 
Jetzige Gravidität im 4. Monat In den letzten 9 Jahren keinerlei Verstim¬ 
mung bei Pat. aufgefallen. 

18. 2. Sitzt teilnahmslos mit gedrücktem Gesichtsausdruck da, gibt sehr 
langsam Auskunft. Krankhafte Eigenbeziehung. 

19. 2. Objektive Anamnese (Schwester). Keine Nerven- oder Geistes¬ 
krankheiten in der Familie. In der Kindheit nichts Auffälliges. Freundlicher, 
lebhafter, sparsamer Mensch, nie betrunken. Regte sich wohl über geschäft¬ 
liche Angelegenheiten auf, jedoch keine längeren Verstimmungen. 

19. 2. Lumbalpunktion: Liq. klar, mikroskopisch mäßige Lympho¬ 
zytose. Wa. pos. 

20. 2. Außer Erschwerung der psychomotorischen Funktion ein ausge¬ 
sprochener Negativismus. Preßt Arme fest an den Leib, läßt sie nicht weg¬ 
nehmen. Weder auf Fragen, noch spontan Äußerungen. Deutlich: Sinnes¬ 
täuschungen, Beziehungsideen (hört Schimpfereien von Pat.). Nahrungsauf¬ 
nahme erschwert. 

21. 2. Liegt in unbequemer Lage auf dem r. Bettrand, hält den Kopf 
oft minutenlang erhoben, der passiv hochgehobene Arm wird in der einge¬ 
nommenen Haltung fest gehalten. Habe nicht schlafen können, weil das Klosett 
verstopft sei, heute solle er degradiert werden. Genauere Auskunft darüber 
gibt er nicht. — Solle heute noch ins Zuchthaus, „ich soll falsche Angaben 
gemacht haben“. Wüßte selbst von nichts. Zeigt jedoch weder Angst noch 
Erregung deswegen. Auf Fragen meist zerfahrene, sinnlose Antworten. (Wie 
geschlafen?) „Ich glaube, die Frau hat nicht mehr genug zu arbeiten, ich 
muß wohl mal nach Hause gehen.“ Dann: er habe nicht schlafen können, 
weil die Hähne gekräht hätten, und Frl. immer geklopft hätte (Nachtwache), 
ßie habe Zeichen gemacht mit jemand, der im Untersuchungszimmer war. Ist 
nicht imstande, anzugeben, inwiefern die Klosett Verstopfung mit seiner Schlaf¬ 
losigkeit in Zusammenhang stehe. Lehnt Sinnestäuschungen strikt ab, erzählt 
dann, er habe seinen gefallenen Bruder auf seinem Bett sitzen sehen, als er 
noch in Breslau beim Militär war. — Lächelt manchmal geheimnisvoll, scheint 
Neigung zum Dissimulieren zu haben. Auf Befragen nach Beziehungsideen 
verhält sich Pat. zurückhaltend, die anderen Mitpatienten schimpften nicht auf 
ihn, wenn sie auch über ihn sprächen, die meinten wohl, er könne sie an¬ 
stecken. Manchmal sei er so gedankenlos, könne dann nicht richtig sprechen. 
Wenn er viel gesprochen habe, werde das Denken schwach. Die Stimmung 



92 


sei nicht schlecht, nur etwas niedergedrückt, weil er im Kolleg vorgestellt 
worden sei. Spricht langsam, stockend, widerstrebend. Zeigt ängstliches 
Wesen, irrt mit den Augen im Zimmer umher, fährt herum, sobald jemand das 
Zimmer betritt. Bestreitet jedoch, Angst zu haben. 

22. 2. Liegt in steifer Haltung im Bett, den Kopf vom Kissen abge¬ 
hoben. Neigt zu kataleptischen Haltungen. Gesichtsausdruck völlig affekt- 
los. Nahrungsaufnahme nicht spontan, läßt sich mit dem Löffel füttern. 

23. 2. Beginn der Schmierkur. 

27. 2. Liegt meist in starrer Haltung mit starrem Gesichtsausdruck im 
Bett, er solle degradiert werden, habe gesehen, wie jemand mit seinem Hantel 
durchs Zimmer ging. Schon 5 Tage Arrest bekommen, weil er nicht nach 
Afrika gehen wollte. Berichtet von Erlebnissen während und nach der 
Militärzeit in monotoner Weise, fast ohne abzusetzen. Negiert das Hören von 
Stimmen. Wolle nicht Herr angeredet werden. 

Die Kleinheits- und Angstvorstellungen werden nicht spontan geäußert, 
durch Fragen ergibt sich, daß sie zwar noch bestehen, jedoch wird Pat nicht 
mehr — wie anfangs — von ihnen beherrscht. Allgemeine Affektlosigkeit 
Seine Frau sei noch hier (vom gestrigen Besuche), habe sie sprechen hören. 

4. 3. Hört die Stimme seiner Frau im Nebenzimmer, sage immer „mein 
Mann, mein Mann“. Habe Frau beschimpft. 

(Wie ist es mit den Gedanken?) „Verstehe alles, aber ich kann nicht 
gleich antworten.“ „Wenn ich mich aufrichte, stirbt mein Genick ab.“ — 
Kann die Geburtstage seiner Verwandten nicht angeben. (Fühlen Sie sich 
krank?) „Ich kaufe mir immer Weißbrot, und nun hat der Bäcker, wo ich 
es sonst hole, nichts mehr.“ 

Gesichtsausdruck starr, affektlos. 

6. 3. Neo-Salvarsaninj. 0,3 intravenös. 

11. 3. örtlich nicht genau orientiert, zeitlich ebenfalls, über politische 
Ereignisse ausreichend. 

Erklären von Bildern: Es wird oft gar kein Zusammenhang angegeben, 
beginnt oft mit Nebensächlichkeiten. Einzelnes wird verkannt 

Bei der Intelligenzprüfung seinem Bildungsgrade nach genügende Ant¬ 
worten, ab und zu Fehlantworten. Merkfähigkeit gut, nach 3 Min., nach 
5 Min. vergessen. Keine artikulatorische Sprachstörung beim Nachsprechen. 

14. 3. 0,45 Neo-Salvarsan intravenös. 

17. 3. Lebhaft, folgt mit den Augen den Vorgängen der Umgebung, sagt 
spontan „Guten Morgen“. Gibt auf Befragen nach den zu Anfang geäußerten 
Wahnideen an, daß der Urin noch immer etwas rieche, auch der Kot rieche 
stark, dies erklärt er damit, daß er obstipiert sei. Ob die anderen Pat sich 
vor dem Geruch des Urins ekelten, wisse er nicht, eine Reihe von Kranken 
ließen den Urin ins Bett, das könnten sie aber auch vorher schop getan 
haben. — Degradiert worden sei er, weil er unrechtmäßig befördert worden sei; 
ganz unverständliche Angaben darüber, sagt schließlich, er wisse es 
nicht genau. 

22. 8. Drängt heraus, ist freier. Zeigt am Besuch der Frau Interesse, 
möchte arbeiten, macht sich Sorge um die Zukunft, besonders da Frau gravide 
ist Keine Wahnideen gegenüber der Frau. 

8. 4. (Weshalb hier?) „Kopfschmerzen, war nervös. Ich war kurz 
von Gedanken.“ Fühle sich seit 14 Tagen gesund. Hat volle Erinnerung für 



früher geäußerte Beziehungsideen, Halluzinationen, volle Krankheitseinsicht 
dafür. Das seien Einbildungen gewesen, alles dummes Zeug. Bei der In¬ 
telligenzprüfung werden die meisten Fragen richtig beantwortet, bei nega¬ 
tiven Resultaten entschuldigt er sich damit, daß er nur zur Dorfschule ge¬ 
gangen sei, oft wegen der.Arbeit gar nicht in die Schule gekommen sei. Noch 
etwas gedrücktes Wesen. Sprache leise, halb flüsternd. Gesichtsausdruck der 
Affektlage entsprechend, nicht sehr lebhaft. 

16. 4. Lumbalpunktion: Liq. klar, Nonne Ph. I. leichte Trübung, starke 
Lymphozytose (50—80 Lymphozyten Ges. Feld D.-Linse). Wa. stark pos. 

24. 4. Schmierkur begonnen. 5. 5. bis 31. 5. Neo-Salvarsan intravenös, 
zuerst 0,3 (lmal), dann 0,45 (5mal). 

8. 6. Frühere Wahnvorstellungen seien Einbildungen gewesen. KOnne 
sich an den Beginn der Krankheit nicht genau erinnern, er habe damals alles 
leicht vergessen. Weshalb er damals nicht essen wollte, wisse er heute nicht 
mehr, es sei vielleicht auch Einbildung gewesen, daß die Pat. über ihn ge¬ 
sprochen hätten. Könne sich jetzt nicht erklären, wie er auf die Degradation 
gekommen sei, habe geglaubt, ins Zuchthaus zu müssen. Habe sich in den 
ersten Tagen hier nicht zurechtgefunden. Die Krankheitseinsicht sei allmäh¬ 
lich etwa im Verlauf von 14 Tagen gekommen, es sei ihm klar geworden, daß 
es sich um krankhafte Ideen gehandelt habe. Jetzt sei alles wieder wie früher. 
(Früher auch so leise und heiser gesprochen?). Das mache der Aufenthalt 
hier im Zimmer. 

Affektlage indifferent, adäquat. GesichtBausdrnck gleichmütig, nicht leb 
haft. Sprache monoton. Stimme leise, belegt. 

10. 6. Entlassen. 

9. 4. 20. Bis Anfang März gut gegangen, bis dahin beim Magistrat be¬ 
schäftigt. Redete durcheinander, war erregt Anstaltsbehandlung (Bericht 
der Frau). 


Zusammenfassung. 

Fall 22. Luespsychose. 

37jähr. Arbeiter. Freundlicher, lebhafter, sparsamer Mensch. 
Kein Potus. Lues mit 34 Jahren. 

Seit Rückkehr aus dem Felde teilnahmslos, ängstlich, nieder¬ 
gedrückt. Sonderbares Benehmen, antwortet unverständlich, weil er 
den Mund voll Speichel hat. Depressive Wahnideen, der Urin riecht 
stark, könne Wasser nicht halten, wolle kein Brot essen. Auch Be¬ 
ziehungsideen. Die Leute sähen ihm nach, auch die Polizei erkun¬ 
digt sich nach ihm. Stark gehemmt. 

In der Charitö 15. 2. 19 bis 10. 6. 19. 

Ausgesprochen negativistisch und katatonisch. Preßt Arme 
fest an den Leib, liegt in unbequemer Lage auf dem Bettrand mit 
erhobenem Kopf. Beziehungs- und Wahnideen. Gehörstäuschungen, 
lächelt geheimnisvoll. Gesichtsausdruck sonst völlig affektlos. 
Nahrungsaufnahme nicht spontan. Liegt meist in starrer Haltung 
mit starrem Gesichtsausdruck im Bett. Intelligenz. Merkfähigkeit gut. 



94 


Somatisch: N. S. o. B. Wa. R. in BL und Liq. stark pos. Ver¬ 
mehrung des Eiweißes und der Lymphozyten. 

9. 4. 20: Teilt die Frau mit, daß es bis Miirz 20 gut gegangen 
sei, Mann war beim Magistrat beschäftigt. Dann wieder Erregungs¬ 
zustand und Anstaltsbehandlung. 

Also bei stark positiven Blut- und Liquorreaktionen ein ausge¬ 
sprochenes katatones Bild bei einem 37jährigen, vor ca. 3 Jahren 
luetisch infizierten Manne. Sodann teilt die Frau mit, daß er nach 
einer etwa Smonatigen Arbeitsfähigkeit wieder anstaltsbedürftig ist. 

Was liegt nun wieder hier vor? Ein katatones Zustandsbild 
einer Luespsychose? Oder ein durch Gehirnlues (keine neurologi¬ 
schen Symptome, außer Wa. R. Ph. pos. und Pleozytose) ausgelöste 
Katatonie? Oder nur ein zufälliges Zusammentreffen der beiden 
Erkrankungen? 

Wir werden durch ein Herumdiskutieren nicht klüger. Es ist 
nur zu bedauern, daß wir keine weiteren Nachrichten erhalten konn¬ 
ten. Verdächtig ist jedenfalls der neue Schub. 

Fall 23. L. K., 40 Jahre alt, Aufsehersfrau. Aufgen. 14. 5„ entl. 8. 7. 20. 
Diagnose: Katatonie (Luespsychose). Progr. Paralyse. . 

14. 5. Bei der Aufnahme völlig bewegungslos, kataleptisch, keine Spon¬ 
tanäußerungen, reagiert auf Fragen nicht, ißt allein, beschmutzt das Bett 
Ist auffallend schmutzig, hat Kopfläuse. 13. 5. Stuporöser Zustand hält an. 
Vollkommen mütazistisch, antwortet nicht auf Fragen, liegt teilnahmslos und 
regungslos im Bett, verfolgt aber die Vorübergehenden mit den Augen. Leerer 
affektarmer Gesichtsausdruck. Keine Mimik. Mäßige Flexibilitas cerea. 
Kein Negativismus. Befolgt Aufforderungen. Mäßt sich ohne Widerstreben 
zum Arzt führen, bleibt in unschlüssiger Haltung stehen. Setzt sich erst nach 
mehrfachen Aufforderungen zögernd und steif auf den Stuhl. Sieht teilnahms¬ 
los geradeaus. Immer noch mutazistisch, versucht zu sprechen, bekommt 
nichts heraus. Versucht sich durch Gesten zu verständigen, hierbei deut¬ 
liche Hemmung. 

Somatisch: Übermittelgroße, sehr kräftig gebaute Frau, guter Er¬ 
nährungszustand. Innere Organe o. B. Kopf klein, gering entwickeltes Hin¬ 
terhaupt Pupillen rund, Li. Rea. normal, C. Reak. nicht prüfbar (Pat 
konvergiert nicht), Augenbewegungen auch nicht prüfbar. Armreflexe nor¬ 
mal. Pat., Ach. Refl. ebenfalls. Keine Pyramidenreflexe. 

Angaben des Ehemanns: Seit 8 Wochen im Wesen verändert, Interesse 
an der Wirtschaft ließ nach, in den letzten 3 Wochen nichts mehr gearbeitet 
Wurde interesseloser, Behr schweigsam, antwortete nur „Ja“ und „Nein“, 
spontan nicht Vorher nichts Auffallendes. Guter Schlaf. In den letzten 
Tagen Fieber (38,6), vielleicht wegen verdorbenen Magens. Nahrungsaufnahme 
gut bis auf die letzten Tage. Nie körperliche Klagen. War mit Aufnahme 
hier einverstanden. Über Familienanamnese nichts bekannt Eltern tot 
Kenne die Pat. seit 1917. Gut gelernt, bis zur 1. Schulklasse gekommen, 
spreche auch Französisch. Mit 18 Jahren ein uneheliches Kind von Dragoner- 



95 


Offizier. Infektion mit Lues. — Habe keine Erscheinungen gehabt, keine Kur 
gemacht. Das Kind erkrankte im 11. Jahre an Anfällen, mit 14 Jahren geistig 
auffällig, widerstrebendes Verhalten. 1917 hier mit Salvarsan behandelt, 
dann nach Herzberge (Irrenanstalt). Die Pat. war 1916 in Herzberge: Krank¬ 
heitsbild dem jetzigen entgegengesetzt: war erregt, sprach und erzählte fort¬ 
dauernd inhaltlich vernünftig und zusammenhängend. Arbeitete bis zur 
Anstaltsaufnahme. Jähzornig. 3 Monate in Anstalt: schimpfte viel, war leb¬ 
haft. Keine Wahnideen, keine Sinnestäuschungen, keine Anfälle. — Seit 
Gebuit des ülegit. Kindes Gebärmutterknickung. Keine Nahrungssorgen. 
Eigen und sauber in der Wirtschaft. Verträglich. 

21. 5. Stuporöser Zustand unverändert. Keine sprachlichen Reaktionen, 
setzt mit Sprechen an, bringt nichts heraus. 

29. 5. Weiter stuporös, ißt bisweilen schon allein (vorher nicht). Hat 
öfters ins Bett genäßt. Tägl. Blutungen. Wegen suspekter Portio Probe¬ 
abrasio für notwendig erachtet. 

4. 6. Muß katheterisiert werden. Psychisch: keine wesentliche Änderung. 
Flüstert manchmal „ja“ oder „nein“, sonst nichts. Gesichtsausdruck leer, 
affektlos. Ißt spontan und ausreichend. 

19. 6. Muß noch zeitweilig katheterisiert werden, gelegentlich spontaner 
Urinabgang. Leichter Dekubitis. Psychisch: unverändert. Stuporöses Ver¬ 
halten. Muß zum Essen und Stuhlentleeren angehalten werden. Keine Kata¬ 
lepsie, keine Flexibilitas, kein Negativismus. — Heute einige sprachlich# 
Reaktionen, doch erst auf wiederholte Fragen und dann nach langer Pause: 
es gehe ihr gut, möchte heraus, habe keine Beschwerden. Wisse nicht, wo si# 
•ei. Gibt Geburtsort an. Die meisten Antworten mit indifferentem Gesichts- 
ausdruck, nur gelegentlich flüchtiges Lächeln. Zuerst gut zu fixieren, läßt 
jedoch bald nach. 

Somatisch: Urinsediment: vermehrte Leukozyten, einzelne Erythro 
syten und Epithelien, Zylindroide. 

Wassermann: stark pos. (Bl. und Liq.). Liq. Ph. I. starke Trübung, 
starke Lymphozytose. 

19. 6. Stuporös, starrer Gesichtsausdruck, bleierne Haltung. Mutazistisch. 
Oft schlaflos, liegt aber ruhig. Beschmutzt sich mit Kot. 

30. 6. Seit 1 Woche freier. Beginnt zuerst vereinzelt, dann häufiger mit 
Nachbarpat. zu sprechen, zuerst mit Flüsterstimme, wenig spontan. Äußert 
jetzt mit lauter Stimme spontan Wünsche. Bleibt dabei unbeweglich liegen, 
im Gesichtsausdruck adäquate Reaktion, freundliches oder verlegenes Lächeln. 
Sprechweise noch monoton und schleppend, auch sonst mehr Initiative. Unter¬ 
hält sich gern, geht in den Garten. Gang schwerfällig, langsam, etwas steif. 
Interesse für die Umgebung. Kann nichts Rechtes über ihre Krankheit be¬ 
richten, weiß, daß sie nicht gesprochen hat, aber nicht warum. Keine Angabe# 
über Stimmen. 

7. 7. Besserung hält an. Spricht über alles. Erinnert sich an ihren krank¬ 
haften Zustand genau, hat keine Erklärung dafür. Ist völlig orientiert. Im 
allen Bewegungen und Äußerungen noch etwas langsam. Gesichtsausdruck 
freundlich lächelnd. Entlassen. 

7. 7. 21. Zweite Aufnahme. 

Inzwischen nicht auffällig, hat die Wirtschaft gut versorgt, wolle nur 
keine Bekannten in der Wohnung, kann Grund dafür nicht angeben, auf der 



96 


Straße unterhalte sie sich. Stimmung immer gut, man dürfe aber nicht 
zanken, sonst sei sie krank und lege sich zu Bett Schlaf und Appetit gut, 
Stuhl immer etwas träge. — Seit 3 Wochen Veränderung, ganz plötzlich: 
Leute im Hause sprächen über sie, daß sie Salvarsankuren mache. Das Mäd¬ 
chen, welches die Milch besorge, sei im Walde überfallen worden. Wirtschaft 
gut weitergeftihrt. Das Nähen sei ihr schwer gefallen. Habe geweint, weil 
sie sich krank vorkam. Heute ängstliche Äußerung: der Strolch habe vor 
der Tür gestanden, der das Mädchen überfallen habe. — Keine besondere Ver¬ 
geßlichkeit, habe gelegentlich mal etwas verlegt Keine Mehrausgaben beim 
Einkauf. — In letzter Zeit antiluetisch behandelt Keine körperlichen Be¬ 
schwerden, keine Blasonstörungen. Sprache nicht verändert 

Pat. will wieder aufgenommen werden, um Ruhe zu haben, erzählt von 
ihren Kuren. Schildert das Aussehen des angebl. Strolches, örtlich und 
zeitlich völlig orientiert 

Somatisch: Reichliches Fettpolster. Herz: über der Spitze und Pulmo- 
nalis lautes systol. Geräusch, über Aorta leiser. 2. Töne akzentuiert Sonst 
innere Organe o. B. 

Pup. bds. nicht völlig rund, Lichtreakt. vorhanden, links vielleicht etwas 
weniger als rechts. Konv. Reakt normal. Fibrilläre Zuckungen in den 
Mundwinkeln. Zunge o. B. Sprache langsam, kein Stolpern, beim Nach- 
sprechen von schweren Worten Auslassungen, Wiederholungen, aber kein aus¬ 
gesprochenes Stolpern. Gang langsam, nicht auffällig, Schmerzempfindung 
nirgends gestört. — Reflexe überall normal auslösbar. 

8. 7. Angaben der Pat.: Habe sich nach der Entlassung zuerst schwach 
gefühlt, dann sei es besser geworden. Seit 4 Wochen habe sie wieder liegen 
müssen. Eine Hausbewohnerin, der sie sich anvertraut hatte, habe über sie 
geklatscht, darüber habe sie sich sehr aufgeregt Die Frau gehe in der Stadt 
umher und mache die Leute schlecht, „die Frau weiß alles“. Habe erzählt, 
daß Pat. syphilitisch krank sei, Ärzte und Pflegerinnen hätten es auch »o 
erfahren. Berichtet bezüglich des Überfalls auf das Mädchen: es sei ein 
Künstler mit langen Haaren, der wolle in ihre Wohnung eindringen. Der 
Mann habe sie deswegen in die Charite geschickt, damit sie sich* beruhigen solle. 

9. 7. Lumbalpunktion: 8 ccm klarer Liquor, kein erhöhter Druck. Wa. im 
Liq. pos., im Blut neg., Sachs-Georgi pos. 

11. 7. Läppisch-heiter. Man spreche im Saal über sie, auch oben höre 
sie die Frauen über sich sprechen. Sie wolle dem Arzt berichten, aber allein. 
— Berichtet über Beschimpfungen durch ein „Rotes Mädel“. Sogar die Zei¬ 
tungsfrau habe sie beschimpft (Stimmen hören?) „Ich höre alles“, sehe die 
Stimmen auch vor sich, „fahre auch manchmal, wenn ich aufgeregt bin nnd 
sehe immer dasselbe bei. Sehe Figuren und Geister. (Paradigmata!) Ich 
kann es nicht sagen, vielleicht morgen, morgen bin ich nicht so aufgeregt 
habe so Hitze im Kopf“. Zeitlich nicht ganz genau orientiert 

17. 7. Läppisch-heiter. Anschließend an den Besuch der Tochter einer 
Mitpat. Erzählungen über deren Mann (sexuelle Verfehlungen), den sie 
kenne. — Singt, lacht, dann wieder Tränen, auf Ansprache lacht sie jedoch 
gleich wieder. Erklärt unter Lachen, es gehe ihr nicht gut Bezüglich der 
Erkrankung euphorisch. Weitschweifig in ihren Reden. 

25. 7. Läuft in den Räumen hin und her, frisiert sich langwierig unff 
umständlich zu allen Tageszeiten, dabei umständliche Bewegungen, singt laut 



97 


schimpft, weint, wenn man sie an ihrem Vorhaben hindert, freundlich- 
läppisches Benehmen. Orientierung: ziemlich ungenau orientiert. Sprache 
langsam, schwer, kein ausgesprochenes Silbenstolpern. 

18. 8. Außer Bett, läuft umher ohne Hemd, packt ihre Bettstücke in die 
Ecke, schlägt Pat., wirft sie aus den Betten. Euphorie, in ihren Reden läp¬ 
pisch-heiter. Sprache etwas verwaschen, schwerfällig. 

7. 9. Wesen unverändert. Verblödung schreitet fort, spricht teilweise 
unverständlich, ist erregt, kaum im Bett zu halten. Schmiert mit Kot. Am 
1. Ellenbogen und 1. Fuß Zellgewebsentzündungen, die abgeheilt sind. 

22. 9. Status idem. Nach Irrenanstalt, überführt. April 22 in Herz- 
lierge. Diagnose: progr. Paralyse. 

Zusammenfassung. 

Fall 28. Diagnose: Luespsyehose. Prog. Paralyse. 

40jährige Aufsehersfrau, keine Heredität. Gut gelernt. Lues 
mit 18 Jahren'). 

Vor 4 Jahren (1916) war Pat. in Herzberge und bot da — wie 
ich durch persönliche Nachforschungen erfuhr — ein ausgeprägt? 
manisches Zustandsbild dar, das jedoch nicht als paralytisch auf¬ 
gefaßt wurde. Vielmehr neigte man zu der Annahme einer Lues¬ 
psychose. 

Pat. war dann 4 Jahre zu Hause und arbeitete wie gewöhnlich 
bis März/April 20. Von da ab im Wesen verändert. Wurde interesse¬ 
los, schweigsam, antwortete nur ..ja“ und ..nein“ und konnte nicht 
weiter arbeiten. 

14. 5. 20 bis 8. 7. 20 in der Charite. 

Hier bot sie ein ausgesprochen katatones. stuporöses Bild dar. 
Völlig bewegungslos, kataleptisch, keine Spoptanäußerungen. Kein 
Negativismus. Leerer Gesichtsausdruck, ißt selbst. Nicht orientiert. 
Gelegentlich flüchtiges Lächeln. Muß katheterisiert werden. Nach 
zwei Monaten deutliche Besserung. Orientiert. Erinnert sich genau 
an ihren krankhaften Zustand. Wa. Best. in Bl. und Liq. stark pos. 
— Entlassen. 

7. 7. 21 bis 22. 9. 21 wieder aufgenommen. Hat die Wirtschaft 

') Uneheliches Kind, das eine interessante Krankengeschichte aufweist. 
Es erkrankte im Alter von 10—11 Jahren an Anfällen und Krämpfen, die, wie 
ich durch persönliche Nachfrage in Herzberge erfahren habe, teils als epilep¬ 
tisch, teils choreatisch angesehen wurden. Auch psychogene Zutaten waren 
vorhanden. Mit 14 Jahren war der Knabe in einer Anstalt, und wurde als 
Paralytiker aufgefaßt. Danach aber besser und war sogar als Musiker im 
Kriege mit. 1917 wurde er mit Salvarsan in der Charite behandelt und ist 
jetzt (Juli 23) seit einigen Jahren als Paralytiker in der Charite. Also ein 
langgezogenes eigenartiges Bild, in dem höchstwahrscheinlich cerebral-luetische 
und paralytische Züge aufeinander folgen. 

Fabrltiua, Zar KUnik der nichtpanüyUaehen Luea-Psychoaen. (AbhandJ. H. m) 7 



98 


gut versorgt. Nicht auffällig gewesen. Seit 8 Wochen verändert, 
ängstlich deprimiert. Die Leute klatschten über sie. Hört die 
Leute oben sprechen, halluziniert deutlich. Vergeßlich geworden, 
örtlich und zeitlich orientiert. Läppisch-heiter. Stimmung sehr wech¬ 
selnd, ab und zu weinerlich, tanzt dann wieder, singt und läuft 
umher. Weitschweifig. Verblödung schreitet fort. 

Somatisch: Pup. nicht völlig rund. Fibrilläre Zuckungen in den 
Mundwinkeln. Kein Silbenstolpern. Blut — Wa. neg.. Licj. 
stark pos. 

April 22 geht Pat. an einer Paralyse zugrunde. 

Wir haben also mit einem 6jährigen Krankheitsverlauf zu tun. 
in dem wir zuerst eine typisch manische Phase finden (die auch als 
Manie diagnostiziert wurde), sodann nach 4 Jahren eine ausge¬ 
sprochen kataton-stuporöse Phase und schließlich nach einem Jahre 
eine depressive Phase mit Halluzinationen, die in eine paralytische 
Demenz übergeht. 

Der Fall reiht sich also gut an den letzten an. Wir werden sie 
jetzt alle zusammenstellen. Zuvor aber ein kurzer Überblick über 
die 3 Fälle 13 bis 15. 

Fall 13 gibt uns das Beispiel eines typisch-manischen Zustands¬ 
bildes bei sicher vorhandener Lues, also ein Fall, der eine fast all¬ 
tägliche Erscheinung in einer größeren psychiatrischen Klinik bildet. 
Ich habe ihn jedoch mitgenommen, teils weil man noch nicht wagte, 
eine Paralyse zu diagnostizieren, teils weil er die übrigen Fälle ver¬ 
vollständigt. 

Der Fall 14 gehört wiederum zum depressiven Typus mit de¬ 
pressiven Wahnideen und weist noch gar keine paralytischen Züge 
auf, liefert uns also ein Beispiel jener Psychosen, bei denen wir bei 
der Diagnose einer luetischen Depression bleiben müssen. 

Im Fall 15 schließlich liegt auch ein depressives Bild vor. 
gleichzeitig ist aber die Pat. auffallend apathisch und gleichgültig, 
so daß der Verdacht auf eine Paralyse näherliegt. 

Zusammen zeigen uns also die Fälle, daß die Luespsychosen in 
Gestalt von typischen manischen oder depressiven Bildern auf- 
treten können. 

In den folgenden Fällen 16 bis 23 wiederum treffen wir außer 
diesen Zustandsbildern auch typisch-katatone Bilder. Die Fälle 
sind aber noch in der Hinsicht interessant, daß diese Bilder als 
Phasen eines längeren Krankheitsverlaufes miteinander verbunden 
sind. Die meisten von diesen Fällen lassen schließlich noch ihren 



99 


Verlauf überblicken und geben uns vielleicht deshalb gewisse Auf¬ 
klärungen bezgl. ihrer klinischen Bedeutung. 

Ich werde einige Hauptzüge der Fälle zusammenstellen. 

Fall 16. 38jähr. Mann, Lues vor etwa 15—16 Jahren.' Dauer 
4 Jahre. Schlaffes depressives Bild. Exitus. 

Fall 17. 29jähr. Mann. Zeit der Infektion unbekannt. Dauer 
6y a Jahre. Folgende Phasen: depressiv-manisch — Anfall mit nach¬ 
folgender Paraphasie — Remission — linksseitige Lähmung — 
ängstlich — deprimiert — Siechtum — Tod. 

Fall 18. 53jähr. Mann. Zeit der Infektion etwas vor 25 bis 
30 Jahren. 3 recht typische melancholische Schübe, der letzte durch 
einen deliranten Verwirrtheitszustand kompliziert. Dauer 3%, Jahre. 
Ausgang unbekannt. 

Fall 19. 30jähr. Arbeiter. Lues vor 10 Jahren. Erregte mani¬ 
sche Phase — gehemmte Phase gemischt mit katatonen Zügen — 
erregte Phase. Dauer 3%—4 Jahre. Ausgang noch unbekannt, 
aber aller Wahrscheinlichkeit nach Demenz und Tod. 

Fall 20. 25jähr. Mann. Lues vor 4 Jahren. 3 sehr typische 
gehemmte, echt depressive Phasen, von denen die dritte in ein deut¬ 
lich paralyseähnliches Siechtum überging. Dauer 4V2 Jahre. Pat. 
vorläufig körperlich noch rüstig. 

Fall 21. 35jähr. Mann. Zeit der Infektion unbekannt. Fol¬ 
gende Phasen: manisch — erregt — Remission — Erregungszustand 

— Remission, ausgesprochen katatones Bild — deutliche Paralyse. 
Dauer 5 Jahre. Pat. lebt noch. 

Fall 22. 37jähr. Mann. Lues vor 3 Jahren. Ausgesprochen 
katatones Bild — Remission — wieder anstaltsbedürftig. Weitere 
Nachrichten konnten nicht herbeigeschafft werden. 

Fall 23. 40jähr. Frau. Lues vor 22 Jahren. Manische Phase 

— 4jährige Remission — kataton — stuporöse Phase — depressive 
Phase — Demenz. Tod. Dauer 6 Jahre. 

Der Ausgang der Krankheit ist in 3 Fällen Siechtum und Tod. 
in weiteren drei Fällen hat sich nach 3%- bis Sjährigem Verlauf eine 
Demenz, die klinisch wie eine Paralyse aussieht, entwickelt, und in 
zwei Fällen ist der Ausgang vorläufig unbekannt. 

Die Dauer der Erkrankung ist sodann höchst auffallend. Sie 
beläuft sich nämlich mindestens auf 3V2 Jahre (nur in einem Falle 
fehlen nähere Angaben) und schwankt in den tödlich verlaufenden 
Fällen zwischen 4 und 6V 2 Jahren. 

Mit diesen Notizen vor den Augen wird man zwar einwenden 
können, daß der Dauer der Krankheit keine allzu große Rolle bei- 

7* 



100 


zumessen ist. Und man wird vielleicht weiter sagen, daß die Fälle 
eigentlich nichts anderes lehren, als daß man in einigen Kliniken 
mit der Diagnose der progressiven Paralyse etwas zurückhaltend ist. 

Dieser Schluß wäre doch m. E. unberechtigt. Erstens wissen 
wir ja nicht ganz sicher, daß in den 6 zum Schwachsinn führenden 
Fällen eine tatsächliche Paralyse vorlag. da keine mikroskopische 
Untersuchung gemacht worden ist. 

Zweitens liegen in den meisten der Fälle vor allem zur Zeit des 
ersten oder der ersten Schübe so wenige paralytisch-demente Züge 
vor, daß die Diagnose einer Paralyse noch nicht berechtigt wäre. 

Drittens kann es ja doch kaum nur ein zufälliges Zusammen¬ 
treffen sein, daß alle diese Fälle einerseits in ihrem klinischen Aus¬ 
sehen so abweichend vom Gewöhnlichen waren, daß man bei der 
Diagnose einer Luespsychose — nicht bei einer Paralyse — blieb, 
und daß sie andererseits einen so auffälligen, periodischen und ver¬ 
hältnismäßig langen Verlauf zeigten. • 

Im Gegenteil glaube ich, daß wir aus ihnen etwas anderes 
lesen können. 

Sie scheinen mir dafür zu sprechen, daß, wenn eine luetisch be¬ 
dingte Psychose die Form eines manischen, depressiven oder kata- 
tonen Zustandsbildes nimmt, so haben wir mit einer langdauernden, 
meistens unter Schüben verlaufenden Krankheit zu tun, die zu geisti¬ 
gem Siechtum führt. Dieses Schlußstadium hat klinisch wenigstens 
den Charakter einer Paralyse. 

Ob wir aber alles, vor allem die eisten Schübe, als Paralyse auf¬ 
fassen sollen, muß vorläufig noch unentschieden bleiben. In einigen 
Fällen, z. B. in dem von mir beobachteten Fall 20, lag z. Zt. des 
ersten Schubes — 4 Jahre nach der Infektion — wohl kaum eine 
Paralyse vor. Klinisch konnte gar keine Demenz festgestellt werden, 
sondern ein reines Bild einer schwer gehemmten Melancholie. 
Wassermann war außerdem im Blut neg., im Liq. äußerst schwach 
pos. („suspect“). Jetzt nach fast 5jährigem Verlauf liegt aller 
Wahrscheinlichkeit nach eine Paralyse vor. 

Vielleicht müssen wir uns den Vorgang in der Weise vorstellen. 
daß zuerst auf der Basis einer Lues cerebri eine Psychose entsteht. 
Die hierbei entstandenen Veränderungen im Gehirn liefern sodann 
den Boden für weitere bzw. paralytische Vorgänge im Gehirn. — - 
Alles dieses muß ja doch erst durch pathologisch-anatomische Unter¬ 
suchungen näher festgestellt werden. 



101 


Zusammenfassung. 

Ich hab© oben 23 Fälle von Psychosen mitgeteilt und analysiert, 
die aller Wahrscheinlichkeit nach als luetisch bedingte angesehen 
werden müssen. Das Resultat meiner Analyse, sowie meine Studien 
in der Literatur scheinen mir zu folgenden Schlüssen zu berechtigen. 

Wenn die Lues eine Psychose hervorruft, die nicht als eine 
Paralyse aufgefaßt werden kann, so begegnen uns folgende Formen: 

I. Exogene Reaktionstypen. 

Zu diesen möchte ich Verwirrtheitszustände, Amentiabilder, 
dämmerzustandsartige Psychosen und die Korsakoffsehen Sympto- 
menkomplexe führen. Der Verlauf kann sehr akut sein, in anderen 
Fällen aber ein verschleppter, weniger stürmischer. Der Ausgang 
ist entweder Tod, Siechtum oder — in keineswegs seltenen Fällen 
— völlige Genesung. 

II. Ha 11 uzinose- bzvv. ha 11 uz in a tor i sc h -para - 

n o i d e Typen. 

Obwohl diese Formen — wie Bonhoeffer es tut — mit den 
exogenen Reaktionstypen zusammengeführt werden müßten, da sie 
wahrscheinlich pathogenetisch mit ihnen wesensverwandt sind, stellen 
sie doch klinisch eine recht scharf begrenzte Gruppe dar, Zu ihnen 
gehören sowohl akute wie chronische Verlaufsformen. Der Ausgang 
kann günstig, aber auch Siechtum und Tod sein. 

III. Chronische Defektzustände. 

Diese Fälle, die zu den längst bekannten und anerkannten 
Luespsychosen gehören, können in zwei Untergruppen geteilt 
werden: 

a) Syphilitische Pseudoparalyse. 

b) sog. postsyphilitische Demenz. 

IV. Manische, depressive und katatone Form e n . 
sowie V e r b i n d u ngen derselbe n. 

Wenn eine auf der Basis der Lues entstandene Psychose die 
Gestalt eines manischen, depressiven oder katatonen Zustandsbildes 
annimmt, so scheinen meine Fälle zu dem Schluß zu berechtigen, 
daß wir in dem Falle mit keiner selbständigen Psychose zu tun 
haben, sondern nur mit Phasen oder Schüben eines chronischen 
Leidens, das zum geistigen Siechtum führt. Die verschiedenen 
Phasen können dabei einander ähnlich sein, oder wir sehen ein 
Wechseln von manischen und depressiven, depressiven und kata¬ 
tonen usw. Schüben. 



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S. 140. 1922. — 35. Sioli: Histologische Befunde bei Tabespsychoscn. 

Zentralbl. f. d. ges. Neur. und Psych. 1910. Bd. 3. S. 330. — 36. Specht: 
Die klinische Kardinalfrage der Paranoia. Zentralbl. f. Nervenheilk. und 
Psych. 1910/11. Nr. 8—9. — 37. Schroeder, P.: Lues cerebrospinalis, so¬ 
wie ihre Beziehungen zur progr. Paralyse und Tabes. Zeitschr. f. Nervenheilk. 
Bd. L. N. 1916. S. 830. — 38. S c h u p p i n s: Einiges über den Eifersuchts¬ 
wahn. Zeitschr. f. d. ges. Neur. und Psych. Bd. XVII. S. 253. — 39. U r e - 
chia? Enctüphalc. 17. Nr. 5. S. 289—*93. 1922. — 40. Urechia et 
Rusdea: Encephale 1916. S. 587—595. 1921. — 41. Walther: Hirn- 
syphilis und Psychose. Zeitschr. f. d. ges. Neur. und Psych. 26. 251. 1914. — 
42. Wimmer: Nichtsyphilitische Geisteskrankheiten bei Syphilitikern. 
Zeitschr. f. d. ges. Neur. und Psych. 42. S. 290. 1918. 






ABHANDLUNGEN AUS DER NEUROLOGIE, 
PSYCHIATRIE, PSYCHOLOGIE UND IHREN 
GRENZGEBIETEN 

BEIHEFTE ZUR MONATSSCHRIFT FÜR PSYCHIATRIE UND NEUROLOGIE 


HERAUSGEGEBEN VON K. BON H OEF FER~ 


HEFT 25 


\ 

Aus der Klinik für psychische und nervöse Krankheiten zu Giefjcn 
(Direktor: Geheimröt Prof Dr. R. Sommer) und aus der psy¬ 
chiatrischen und Nervenklinik der Universität Frankfurt a. M. 
(Direktor: Professor Dr. K. Kleist). 


Herzkrankheiten und Psychosen 


Eine klinische Studie 


E. Leyser 



BERLIN 1924 

VERLAG VON S. KARGER 

KARLSTRASSE 15. 







Medizinischer Verlag von S. Karger in Berlin NW. 6. 

In den 

Abhandlungen aus der Neurologie, Psychiatrie, 
Psychologie und ihren Grenzgebieten 

Beihefte z. Monatsschrift für Psychiatrie u. Neurologie, sind bisher erschienen: 
Heft 1: Typhus und Nervensystem. Von Prof. Dr. Georg Stertz in 
Breslau. (Vergriffen.) 

Heft 2: Heber die Bedeutung von Erblichkeit und Vorgeschichte für das 
klinische Bild der progressiven Paralyse. Von Dr. J. Per net in 
Zürich. (Vergriffen.) 

Heft 3: Kindersprache und Aphasie. Gedanken zur Aphasielehre auf 
Grund von Beobachtungen der kindlichen Sprachentwickelung und 
ihrer Anomalie. Von Priv.-Doz. Dr. Emil Fröscheis in Wien. Mk.5.50 
Heft 4: Epilepsie und Dementia praecox. Von Prof. Dr. W. Vorkastner 
in Greifswald. Mk. 5.— 

Heft 5: Forensisch-psychiatrische Erfahrungen im Kriege* Von Priv.-Doz. 

Dr. W. Schmidt in Heidelberg. Mk. 8.— 

Heft 6: Verbindung endogener und exogener Faktoren in dem Symptomen- 
bilde und der Pathogenese von Psychosen. Von Priv.-Doz. Dr. Hans 
Seeiert in Berlin. Mk 4.— 

Heft 7: Zur Klinik und Anatomie der reinen Worttaubheit, der Hcilungs- 
aphasle und der Tontaubheit. Von Priv.-Doz. Dr. Otto Pötzi in 
Wien. Mit zwei Tafeln. Mk. 6.— 

Heft 8: Die Spielbreite der Symptome beim manisch-depressiven Irresein. 

Von Prof. Dr. P. Schröder in Greifswald. Mk. 3.— 

Heft 9: Die symptomatischen Psychosen und ihre Differentialdiagnose. 

Von Priv.-Doz. Dr. Hans Krisch in Greifswald. Mk. 2.25 

Heft 10: Die Abderüaldensche Reaktion mit bes. Berücksichtigung ihrer Er- 
. gebnissei.d. Psychiatrie. Von Priv.-Doz. Dr.G.E wald in Erlangen. Mk.9.— 

Heft 11: Der extrapyramidale Symptomenkomplex (das dystonisehe Syn¬ 
drom) und seine Bedeutung iu der Neurologie« Von Prof. Dr.' G. 
Stertz in München. (Vergriffen.) 

Heft 12: Der auethische Symptomenkomplex. Eine Studie zur Psychopatho¬ 
logie d. Handlung. Von Priv.-Doz. l>r. O. Albrecht in Wien. Mk.4.— 
Heft 13: Die neurologische Forschungsrichtung in der Psychopathologie 
nnd andere Aufsätze. Von Prof. Dr. A. Pick in Prag. Mk. 8.— 
Heft 14: lieber die Eutstchung der Negrischeu Körperchen. Von Prof. Dr. 

L. Benedek u. Dr. F.O. Porsche in Kolozsvar. MitlOTafeln. Mk. 15.— 
Heft 15: Ueber die Bedeutung und Entstehung der Stereotypien. Von Priv.- 
Doz. Dr. Jakob Kläsi in Zürich. Mk. 3.— 

Heft 16: Ueber Psychoanalyse. Von Dozent Dr. R A Ilers in Wien. Mk. 3.60 
Heft 17: Die Zergliederung des psychischen Krankheitsbildes bei Artcrio- 
sklerosis-ccrebri. Von Nervenarzt Dr. S. J. R. de Monchy in 
Rotterdam. Mk. 3.— 

Heft 18: Epilepsie u. manisch-depressives Irresein. Von Dr. Hans Krisch 
in Greifswald. Mk. 3.— 

Heft 19: Ueber die paranoiden Reaktionen in der Haft. Von Dr. W. För- 
sterling in Landsberg a. d. W. Mk. 3.60 

Heft 20: Dementia praecox, intermediäre psychische Schicht und Kleiuhirn- 
Basalganglien-Stirnhirusysteme. Von Priv.-Doz. Dr. Max Loewy 
in Prag-Marienbad. Mk. 4 20 

Heft 21: Metaphysik und Schizophrenie. Eine vergleichende psychologische 
Studie. Von Dr. G. Bychowski in Warschau. Mk. o.— 

Heft 22: Der Selbstmord. Von Priv.-Doz. Dr. R. Weichbrodt in Frank¬ 
furt a. M. Mk. 1.50 

Heft 23: Ueber die Stellung der Psychologie im Stammbaum der Wissen¬ 
schaften und die Dimension ihrer Grundbegriffe. Von Dr. Heinz 
Ahlenstiel inBerlin. Mk. 1.80 

Heft 24: Zur Kliuik der nichtparalytischen Lues-Psychosen. Von Dozent 
Dr. H. Fabritius in Helsingfors. Mk. 4.— 

Heft 25: Herzkrankheiten und Psychosen. Eine klinische Studie. Von 
Dr. E. Leyser in Giessen. Mk. 4.— 

Die Abonnenten der „Monatsschrift für Psychiatrie und Neurologie“ 
_erhalten diese Abhandlungen zu einem ermäßigten Preise. 

Obige Preise sind Goldpreise, eine Goldmark gleich 10 /42 Dollar. 










ABHANDLUNGEN AUS DER NEUROLOGIE, 
PSYCHIATRIE, PSYCHOLOGIE UND IHREN 
GRENZGEBIETEN 

BEIHEFTE ZUR MONATSSCHRIFT FÜR PSYCHIATRIE UND NEUROLOGIE 
HERAUSGEGEBEN VON K. BONHOEFFER 


HEFT 25 


Aus der Klinik Für psychische und nervöse Krankheiten zu Giefeen 
(Direktor: Geheimrat Prof. Dr. R. Sommer) und aus der psy¬ 
chiatrischen und Nervenklinik der Universität Frankfurt a. M. 
(Direktor: Professor Dr. K Kleist) 


Herzkrankheiten und Psychosen 


Eine klinische Studie 

von 

E. Leyser 



BERLIN 1924 

VERLAG VON S. KARGER 

KARLSTRASSE 15. 





Alle Rechte Vorbehalten 


Druck von Ernst Klöppel, Quedlinburg. 






Dem Andenken meines Vaters! 



Inhaltsverzeichnis 

Seit« 

Einleitung. 7 

Die rein kardiogenen psychischen Störungen.15 

% Die kardiogenen Psychosen bei Arteriosklerose.33 

Die kardiogenen psychischen Störungen bei weiteren Komplikationen . 49 

Der Verlauf und die Gestaltung der Psychosen beim Auftreten von Herz¬ 
störungen .57 

Ergebnis und Ausblick.74 

Literatur.84 









Die Art des Gegenstandes ließ im Beginn der Arbeit die Besorgnis 
aufkommen, ob wohl genug Material zur Verfügung stehen würde. 
Die verständnisvolle Teilnahme meines Chefs, Herrn Geheimrats 
Sommer, machte auch alte Jahrgänge zugänglich, und die liebens¬ 
würdige Bereitwilligkeit meines früheren Chefs, Herrn. Prof. Kleist, 
überließ auch Frankfurter FäUe zur Bearbeitung. Ihnen beiden, mei¬ 
nen hochverehrten Lehrern, bin ich dafür, wie für so vieles andere, 
zu tiefem Dank verpflichtet. Es besteht die Hoffnung, daß dadurch 
die Darstellung an Abgerundetheit und Vollständigkeit einiges ge¬ 
wonnen hat, wenn auch so manche Lücke noch schmerzlich empfun¬ 
den wird. 

Gießen, im März 1924. 


E. LEYSER. 




Einleitung, 


Die Lehre vpn den symptomatischen Psychosen ist von Bon- 
höffer in seinen bekannten umfassenden Darstellungen soweit ge¬ 
fördert worden, daß es einer gewissen Rechtfertigung bedarf, wenn 
im folgenden ein Sonderabschnitt aus diesem Gebiet monographisch 
bearbeitet werden soll. Das Hauptergebnis der Arbeiten Bonhöf¬ 
fers war der Satz, daß der Mannigfaltigkeit der Grunderkrankungen 
eine große Gleichförmigkeit der psychischen Bilder gegenüber steht, 
so daß man berechtigt ist, von exogenen psychischen Reaktionstypen 
zu sprechen. Als solche sind zu betrachten Delirien, epileptiforme 
Erregungen, Dämmerzustände, Halluzinosen, Amentiabilder, bald mehr 
halluzinatorischen, bald katatonischen, bald inkohärenten Charakters. 
Daneben erwähnt Bonhöffer noch manische Symptomenbilder. 
Daraus entwickeln sich, wenn die Störungen nicht restlos abheilen, 
emotionell-hyperästhetische Schwächezustände, amnestische Phasen 
von Korsakowschein Typus, Steigerungen zum Delirium acutum 
und zum Meningismus. Die Erklärung dafür, daß die psychischen 
Reaktionsformen trotz der Verschiedenartigkeit der Noxen einheitlich 
sind, erblickt Bonhöffer darin, daß ätiologische Zwischenglieder 
die Wirkung im Organismus vermitteln. 

Wenn nun auch dieser Standpunkt im großen Ganzen von den 
meisten Psychiatern geteilt wird, so darf hier doch daran erinnert 
werden, daß von anderer Seite auch Einwürfe gegen diese Schilde¬ 
rung geltend gemacht worden sind. G. S p e c h t hat darauf hingewie¬ 
sen, daß auch depressiv gefärbte Zustandsbilder im Gefolge einer 
exogenen Schädlichkeit auf treten können; er ging dabei von einer 
Selbstbeobachtung bei Leuchtgasvergiftung aus. Es war auch nicht 
recht einzusehen, warum nur manische Reaktionstypen sollten auf- 
treten können. Nun hat freilich Bonhöffer bereits den Einwand 
erhoben, daß man bei den manischen Erregungen nicht entscheiden 
könne, ob hier nicht eine endogen begründete und nur exogen aus¬ 
gelöste Störung vorliege. Besonders nachdrücklich hat sich Ewald 
in dem Sinne ausgesprochen, daß sowohl manische als auch depressive 
Schwankungen immer endogen veranlaßt seien. Wir kommen auf 
seine Darlegungen noch später zurück. 



8 


Des weiteren hat Kleist in zwei Monographien diese Frage an¬ 
geschnitten. Er stellt heteronome Zustandsbilder, die dem normalen 
Seelenleben fremd sind, den homonomen Symptomenkomplexen der 
Manie, der Melancholie, der Paranoia und der reizbaren Verstimmung 
gegenüber. Bei den postoperativen Psychosen fanden sich nur hetero¬ 
nome Zustandsbilder; dagegen zeigte sich bei den Influenzapsychosen, 
daß die heteronomen Bilder zwar überwogen, aber doch homonome 
Bilder stärker hervortraten (14:5). Dabei wurden gerade die von 
Bonhöffer vermissten depressiven Krankheitsbilder häufiger be¬ 
obachtet. Im allgemeinen wurde so Bon höffers Lehre von den 
Prädilektionstypen der symptomatischen Hirnschädigung bestätigt. 
Als neuen Gesichtspunkt Kleists muß man neben der stärkeren 
Beobachtung homonomer Zustandsbilder vor allem seine Hervor¬ 
kehrung der spezifischen Veranlagung für symptomatische Psychosen 
betrachten, auf Grund deren er zur Aufstellung der symptomatischen 
Labilität des Gehirns kommt. 

Der weitere Weg der Forschung führt nun dazu, zuerst in analy¬ 
tischer Kleinarbeit zu untersuchen, unter welchen Umständen bei 
exogenen Schädlichkeiten die gewöhnlichen heteronomen Zustands¬ 
bilder auftreten, die Prädilektionstypen Bonhöffers, und wann 
dagegen die selteneren homonomen. Da hier die Fragestellung die 
ist, ob nicht eine autochthone Labilität im Sinne Kleists als endo¬ 
gen auslösender Faktor in Betracht kommt, so wird stets die möglichst 
sorgfältige und eingehende Untersuchung des Einzelfalles entscheiden. 
Ferner wird auch nur auf diese Weise das Problem der symptoma¬ 
tisch-labilen Konstitution geklärt werden können. Aber darüber 
hinaus gibt Bonhöffers Hypothese von den ätiologischen Zwi¬ 
schengliedern insofern neue Fragen auf, als es das Wesen dieser Zwi¬ 
schenglieder zu erforschen gilt. 

II. Fischer hat kürzlich in diesem Bestien die vereinheit¬ 
lichende Wirkung der, wie er sie bezeichnet, pathogenetischen Zwi¬ 
schenglieder mit der Wirkungsweise der endokrinen Apparate ver¬ 
glichen, die man wohl auch als die Träger der Konstitution des 
Gesamtorganismus anzuschen pflegt. Er weist aber zugleich darauf 
hin, wie schwierig es ist, innersekretorische Ausfallserkrankungen für 
die Erforschung des Mechanismus der exogenen Reaktionstypen zu 
verwenden. Hier handelt es sich um ein sehr verwickeltes und noch 
wenig erforschtes Gebiet, und der Ruf nach „reinen Fällen“ scheint 
gerade hier sehr berechtigt. 

Trotz dieser Schwierigkeiten wird man H. Fischer recht geben 
müssen, wenn er darauf hinweist, daß die Zwischenglieder, deren 



9 


vereinheitlichende Wirkung im Sinne der Prädilektionstypen f-est- 
steht, im Körper selbst und zwar in bestimmten Einrichtungen des¬ 
selben zu suchen sind. Dieser Gedanke führt immer wieder von 
neuem dazu, gerade den Psychosen im Gefolge von Erkrankungen 
innerer Organe besondere Aufmerksamkeit zu widmen, sei es, daß wir 
auf diesem Wege wirklich dem Wesen der ätiologischen resp. 
pathogenetischen Zwischenglieder näher zu kommen hoffen, sei es, 
daß es uns durch sorgfältige Untersuchung und Auswertung der 
Symptomatik gelingt, bestimmte Einzelzüge mit der Affek¬ 
tion gewisser innerer Organe in Beziehung zu setzen. 

In letzterer Hinsicht haben seit jeher als besonders bezeichnend 
gegolten die Erkrankungen des Herzens. Man geht wohl nicht fehl, 
wenn man diese Ansicht vor allem auf die Gleichstellung zurück¬ 
führt, die der Sprachgebrauch zwischen Herz und Gemüt herstellt. 
Aber nicht nur solche allgemeine, sozusagen populäre Beweggründe 
liegen vor, sondern auch spezielle medizinische Erfahrungen; wir 
finden z. B. bei den sthenokardischen Anfällen der Coronarsklerose 
häufig die sogenannte Präkordialangst. Wir weisen auch darauf hin, 
daß de Monchy in 53,3 Proz. seiner Fälle von Arteriosclerosis 
cerebri mit Angst Herzabweichungen vorfand, was nach ihm auf 
einen Zusammenhang beider Erscheinungen hinweist. 

Nun sind ja diese Erwägungen keineswegs neu; besonders hat 
Stransky diese Zusammenhänge besprochen. Er hat angenom¬ 
men, daß bei manchen Herzkranken mit paroxysmalen Angstanfällen 
ein abnormer Reizzustand der sensiblen Herznerven sich entwickele, 
der bei dem Vorhandensein eines disponierten Gehirns zur illusionä¬ 
ren Verarbeitung dieser Sensationen und damit zur Entwicklung einer 
Angstpsychose führen könne. Wir werden weiter unten des näheren 
auf diese Ansicht eingehen. Vorläufig genügt es, durch die ange¬ 
führten Gesichtspunkte und Fragestellungen die Besonderheit ange¬ 
deutet zu haben, die dem Problem der Psychosen bei Herzkrank¬ 
heiten im Rahmen der übrigen exogenen Psychosen zukommt. 

Wir geben vielmehr zunächst einen Überblick über die Ergebnisse, die bis 
jetzt auf diesem Gebiet vorliegen. Wir gehen dabei, um die ältere Literatur 
zu überschlagen, von der Arbeit J. Fischers aus 1 ). Dieser findet einen 
direkten Zusammenhang in den Fällen, bei denen infolge gestörter Zirkulation 
die Funktion des Gehirns beeinträchtigt ist, während er dort nur einen indirek- 

') Anmerkung: Kurz sei, um von der Betrachtungsweise der älteren Auto¬ 
ren ein Bild zu geben, auf die Darstellung Witkowskys hingewiesen, der 
das Wesentliche und Gemeinsame in den Psychosen bei Herzerkrankungen in 
einer motorischen Unruhe mit triebartigen, zuweilen gewalttätigen Äußerun¬ 
gen erblickt. 



10 


ten Zusammenhang anerkennt, wo Organgefühle den Anstoß zur Entwicklung 
einer Psychose geben. Er selbst schildert 3 Fälle von halluzinatorischer Ver¬ 
wirrtheit“ infolge Dekompensation eines Herzfehlers, auf die wir weiter unten 
noch genauer zu sprechen kommen. Eichhorst fand bei der Resorption 
von Ödemen Herzkranker häufig psychische Störungen, aber ohne besondere 
ängstliche Färbung. Zuerst zeigten sich die Kranken apathisch, dann warfen 
sie sich umher, neigten zu Zerstörung, spuckten, schlugen um sich und waren 
traumhaft verwirrt. Nach einer Woche etwa war alles vorüber. L. W. W e b e r 
führt die psychischen Störungen bei Herzkrankheiten auf Abweichungen in 
der Blutversorgung des Gehirns zurück. Als derartige Störungen werden be¬ 
zeichnet Depression bis zum Bild hochgradiger Angst mit und ohne Sinnes¬ 
täuschungen, maniakalische Erregungen und halluzinatorische Verwirrtheits¬ 
zustände. Er berichtet von den mit leichter Arteriosklerose und Unregelmäßig¬ 
keit der Herztätigkeit beginnenden Melancholien, die sich mit Regelung der 
Herztätigkeit bessern. Saathoff hat geglaubt, die Frage, warum nur in 
seltenen Fällen Kompensationsstörungen des Herzens zu psychotischen Folge¬ 
erscheinungen führen, dahin beantworten zu können, daß bei luetischer Schädi¬ 
gung des Gehirns eine Psychose von einem bestimmten Typ auftritt, zusammen¬ 
gesetzt aus angstvoller Verwirrtheit, Halluzinationen und großer motorischer 
Erregung B o n h ö f f e r (1. c.) äußert sich in seinem Buch dahin, daß es sich 
bei den sich an die gestörte Kompensation der Herzerkrankungen anschließen¬ 
den psychischen Störungen hauptsächlich um Delirien, epileptiforme Erregun¬ 
gen und Amentiabilder handele. Er widerspricht dabei vor allem Jacob, der 
den Versuch der Abtrennung besonderer Kreislaufpsychosen gemacht hat. 
Dieser glaubte in ausführlichen Untersuchungen ein fest umrissenes psychi¬ 
sches Krankheitsbild zeichnen zu können. Auf seine beobachtungs- und ge¬ 
dankenreiche Arbeit kommen wir noch zurück. Später hat Bonhöffer auf 
Grund einer Statistik die Vermutung ausgesprochen, daß die ängstliche Fär¬ 
bung der psychotischen Zustandsbilder und Verlaufsformen vielleicht bei Herz¬ 
dekompensationen besonders häufig sei, wenn man auch anerkennen müsse, daß 
man dieselben Bilder bei anderer exogener Ätiologie antreffe. Er fand nämlich 
unter 12 Fällen 5 Delirien mit ängstlicher Färbung, 4 Angstzustände mit Des¬ 
orientierung, 1 Halluzinose und 2 Stuporzustände. 

Der Gesamteindruck, den man aus dem Studium der Literatur 
gewinnt, läßt sich dahin zusammenfassen, daß es noch ungewiß ist, 
ob den infolge Störung der Herzfunktion sich entwickelnden psychi¬ 
schen Störungen besondere Merkmale eigen sind. Die Begründung 
dieses Umstandes ist u. E. darin zu suchen, daß die Wirkungsart und 
-richtung der Herzstörung je nach der Lage des Falles verschieden 
ist. Es erscheint darum notwendig, um diese Frage zu entscheiden, 
das ganze Problem auf eine breitere Basis zu stellen. Hierfür bietet 
sich in der von K. Birnbaum kürzlich systematisch behandelten 
Lehre der psychiatrischen Strukturanalyse eine geeignete Grundlage. 
Besonders kommen in Betracht diejenigen Gedankengänge, die 
Birnbaum bezüglich der symptomatischen Psychosen entwickelt 
hat, für die, wie er sie bezeichnet, exogenen Störungen mit vor- 



11 


wiegend restitutiver Tendenz. Als spezifische pathogenetische Deter¬ 
minante betrachtet er die physisch-somatogene Noxe, sei sie auto¬ 
toxisch, dysadenoid oder andersartig. Im klinischen Bild sind die 
Hauptbestimmungsstücke die pathogenetischen Gegebenheiten; diese 
stellen sich dem allgemeinen Charakter nach dar als Hirnschädigungs¬ 
erscheinungen unter Ergriffensein auch der primitiven psychischen 
Elementarfunktionen, Phänomene, die im wesentlichen psychotisch 
neu gebildet, „organisch“, „normfremd“, daher innerpsychologisch 
nicht erfaßbar sind. Unter den generellen psychischen Manifestatio¬ 
nen der Hirnschädigungsattacke begreift B. der speziellen klinischen 
Erscheinungsform nach Reiz-, Lähmungs- (bezw. Erschwerungs-) 
und Perturbationserscheinungen auf den verschiedensten psychischen 
Systemgebieten (halluzinatorische, Exzitations-, Dissoziations-, reiz¬ 
bare Schwächezustände usw.), dagegen gibt es auch gewisse psychi¬ 
sche Sondermanifestationen von Himdauerschädigungen, teils demen- 
tiv-reversible Zustände wie das Korsakow - Syndrom, teils 
dementiv-irreparable. Nebenbestimmungsstücke des klinischen Bil¬ 
des sind die pathoplastischen Gegebenheiten, die die Prädilektions- 
gestaltungsformen hervorrufen, sie sind vorzugsweise konstitutiv, 
daneben auch konstellativ bedingt, so daß sich „funktionelle“, vor¬ 
gebildete, pathologische Syndrome erkennen lassen, z. B. depressive, 
hypochondrische, paranoische, „hysterische“ und daraus im Gesamt¬ 
bild Mischungen von exogenen (bezw. organischen) und endogenen 
funktionellen Einheiten hervorgehen. Dabei ist das Gesamtbild noch 
im wesentlichen von den Grundformen beherrscht, wenn auch die 
Pathoplastik im Gegensatz zu ihrem Verhalten bei organischen De¬ 
menzpsychosen stärker hervortritt. Die Spielarten der exogenen 
Psychosen sind teilweise pathogenetisch festgelegt durch Intensitäts¬ 
oder sonstige Varianten der Noxe in Form von halluzinatorischen, 
amentiven, emotionell-hyperästhetischen usw. syndromalen Spiel¬ 
arten und in akut-perniziösen (Delirium acutum), restituierenden und 
chronisch-irreparablen Verläufen. Pathoplastische Festlegungen er¬ 
fahren sie durch bestimmte konstitutive oder konstellative Momente. 

Wir werden im folgenden versuchen, in diesem Sinne die Wir¬ 
kungsweise der Herzstörung in jedem einzelnen Fall zu analysieren; 
dabei werden die sich ergebenden Schwierigkeiten praktischer und 
theoretischer Art nicht verkannt. Der Weg zu ihrer Überwindung 
resp. Klarlegung kann nur durch kasuistische exakte Einzelarbeit ge¬ 
funden werden. Es kann dabei der programmatische Entwurf Birn¬ 
baums auch nur als allgemeine Richtlinie genommen werden; die 
Gruppierung der einzelnen Bausteine für die im folgenden beschrie- 



12 


benen klinischen Bilder muß vorurteilslos nach den sich aus der Er¬ 
fahrung ergebenden Schlußfolgerungen getroffen werden. 

Dabei zeigt sich schon bei der Erforschung des pathogenetischen 
Momentes die Fülle der Kompliziertheit unseres Problems. Ob be¬ 
reits bei disponierten Individuen eine geringfügige Herzstörung eine 
psychische Veränderung setzen kann, ist die erste Frage. Hier be¬ 
gegnen wir von vornherein der Verquickung konditioneller und kon¬ 
stitutioneller Faktoren, die die ätiologische Erfassung aufs äußerste 
erschwert. Die Abänderung der Intensität der pathogenen Noxe ist 
ja, wie wir wissen, durchaus nicht identisch mit der krankheitsaus- 
lösenden Wirkungskraft, sondern hängt aufs engste mit den uns vor¬ 
läufig noch recht mangelhaft bekannten Fragen der Disposition zu 
psychisch-nervösen Störungen zusammen. Hierbei soll zugleich die 
Häufigkeit solcher Fälle herangezogen werden. Auch der Zeitpunkt, 
in dem die Schädlichkeit der Herzstörung sich wirksam zeigt, wird zu 
untersuchen sein, und es müssen daraus Rückschlüsse auf die Natur 
der Noxe gemacht werden. Des weiteren sind die klinischen Zu¬ 
standsbilder und Verlaufsformen zu studieren zuerst von möglichst 
reinen Fällen, d. h. von solchen, bei denen eine Herzstörung allein 
ohne anderweitige Komplikationen von seiten des übrigen Organis¬ 
mus zu psychisch-nervösen Abweichungen führt. Diese Fragen sollen 
im folgenden Kapitel zusammenhängend behandelt werden. 

Die so gewonnenen Ergebnisse sollen nun aber eine Prüfung 
erfahren an weiterem Material, das pathogenetisch nicht so einfach 
gelagert ist. Fußend auf den oben entwickelten struktur-analytischen 
Anschauungen wird systematisch eine Reihe von Fällen untersucht, 
die außer den Störungen der Herztätigkeit noch andere psychiatrisch 
bedeutsame Normwidrigkeiten bieten. Da sind zuerst die zahlreichen 
Fälle von Arteriosklerose, bei denen eine Herzerkrankung zur Aus¬ 
lösung einer Psychose führt. Gerade im Hinblick auf die Unter¬ 
suchungen de Monchys (1. c.) hat dieses Kapitel besonderes 
Interesse, da ja durch ihn bereits die Zergliederung des psychischen 
Krankheitsbildes bei Arteriosclerosis cerebri durchgeführt worden ist. 
Weiterhin werden wir zur Analyse von Fällen schreiten, die noch 
durch andere Erkrankungen kompliziert sind. Die Erweiterung in 
dieser Richtung dient dazu, die wirklichen Grundformen der kardio¬ 
genen Psychose aus allen zufälligen Akzidentien schärfer heraus¬ 
zuschälen. Ferner hoffen wir auch, bestimmte Gesichtspunkte über 
die Art der Verbindung mehrerer psychischer Störungen an dieser 
Stelle einfügen zu können. 



13 


Schließlich werden wir noch dnsere Aufmerksamkeit richten auf 
den Verlauf anderer Psychosen beim Bestehen von Herzfehlern, ins¬ 
besondere wenn dieselben zur Dekompensation führen. Hierbei soll 
besonders die Bedeutung einer pathoplastischen Wirksamkeit unter¬ 
sucht werden; wiewohl dieser Gesichtspunkt natürlich auch in den 
vorhergehenden Kapiteln nicht unberücksichtigt bleiben darf. Des 
weiteren wird hier Gelegenheit sein, den Einfluß bestimmter Konsti¬ 
tutionsanomalien auf die pathogenetisohe Wirksamkeit kardiogener 
Noxen sozusagen im Experiment zu studieren. Auch gewisse all¬ 
gemeinere, theoretisch wichtige Schlußfolgerungen hoffen wir aus 
diesen Beobachtungen ableiten zu dürfen. 

So der Plan unserer Arbeit. Dadurch wird es deutlich werden, 
wo wesentlich das kardiale Moment entscheidend wirkt, sei es patho¬ 
genetisch im Sinne einer besonders gearteten Noxe, sei es patho- 
plastisch im Sinne der Beeinflussung und Färbung der anderweit 
verursachten pathopsychischen Situation. Andererseits ergeben sich 
Gesichtspunkte für das Konstitutionsproblem. Wir erinnern hier 
nochmals an Kleists Aufstellung der symptomatisch-labilen Kon¬ 
stitution. Ferner sind zu beachten die dahin gehenden Forschungen 
der biologischen Richtung, wie sie H. Fischer vertritt, der die 
innersekretorischen Korrelationsanomalien in ihrer Bedeutung für die 
körperlichen Grundlagen des Seelenlebens untersucht hat. Schlie߬ 
lich sind die Vorstellungen heranzuziehen, die E. Kretschmer in 
seinem bekannten Buch über Körperbau und Charakter entwickelt 
hat. Vom klinisch-analytischen Standpunkt aus liegen weiterhin 
bereits wichtige Arbeiten auf diesem Gebiet vor. Sowohl de Mon- 
c h y s oben erwähnte Monographie über die Arteriosklerose des Ge¬ 
hirns als auch Seelerts Arbeit über die Verbindung endogener 
und exogener Faktoren im Symptomenbild und in der Pathogenese 
von Psychosen und J.Pernets Untersuchungen über die Bedeutung 
der Vorgeschichte für die Gestaltung der progressiven Paralyse haben 
wertvolles Material in dieser Richtung beigebracht, das freilich noch 
einer Messung und Sichtung harrt an den Ergebnissen der Konstitu¬ 
tionsforschung, die auf anderen Wegen gewonnen worden sind. 

Diese Umschreibung unseres Arbeitsplanes und unserer Ziele 
diene als Rechtfertigung, daß einem so kleinen Abschnitt, wie ihn 
die Psychosen bei Herzkrankheit darstellen, eine so relativ umfäng¬ 
liche Studie gewidmet wird, nachdem bereits so vielfache und wert¬ 
volle Arbeiten darüber vorliegen. Je weiter der Wissenskreis wird, 
um so vielfältiger werden die Beziehungen eines ihm entstammenden 
Sonderproblems. Um diese in ihrer Gesamtheit darzustellen, muß die 



14 


Knappheit des früheren Rahmens überschritten werden. Sie würde 
heute Magerkeit bedeuten. Die Vereinfachung der Betrachtungs¬ 
weise muß dort aufgegeben werden, wo die Erfahrung'uns verwickel- 
tere Verhältnisse in der Wirklichkeit kennen lehrt. Wir wollen nicht 
künstlich scheinen, wo die Natur einfach zu uns spricht. Aber es 
liegt im Wesen jeder biologischen Forschung, daß ihre Gegenstände 
nicht so einfach sind, wie man wohl manchmal wünschen möchte, und 
die Psychiatrie ist und bleibt nun einmal ein Teilgebiet biologisch- 
naturwissenschaftlicher Forschung, so wenig die Vertiefung seelen- 
kundlicher Beobachtung in ihrem Wert verkannt werden soll. So 
muß man sich also entschließen, den Tatsachen und der Erfahrung 
folgend, auch dort, wo es notwendig ist, Verwickeltheit statt Einfach¬ 
heit darzustellen, und den Versuch wagen, Verkettungen und Ver¬ 
zahnungen durchsichtig zu machen, Wechselwirkungen und Bezie¬ 
hungen klar zu legen und mit Offenheit die Punkte aufzuzeigen, an 
denen wir nicht weiter kommen. 



Die rein kardiogenen psychischen Störungen. 

Die Herzkranken zeigen angeblich schon charakterologisch ge¬ 
wisse besondere Merkmale. Man schildert sie als launenhaft, reizbar 
und unzufrieden (d’Astros, Kirchhoff). Ferner findet man 
unter ihnen mürrische und grämliche Menschen, daneben aber auch, 
wie jeder Gang durch die Abteilungen einer medizinischen Klinik 
zeigt, ruhige und frohe, unbekümmerte und zufriedene Herzkranke. 
Ist es nun gestattet, die Änderung der Persönlichkeit im Sinne der 
Herabgestimmtheit und des Mangels an Disziplin ursächlich mit der 
Herzkrankheit in Beziehung zu setzen? Erstens sind dabei die 
immerhin zahlreichen Ausnahmen zu bedenken, zweitens der Umstand 
zu beachten, daß chronische Krankheit, die vom Lebensgenuß in 
mannigfaltiger Form iabschneidet, wohl überhaupt leicht zur Herab¬ 
setzung der Stimmung, zu Reizbarkeit, zu Äußerungsabneigung, zu 
Mangel an Disziplin und an Zielbewußtsein führen muß. Nun sind 
uns freilich andere chronische Erkrankungen bekannt, wir erinnern 
z. B. an die Tuberkulose, wo eine solche Wandlung nicht statthat, 
wenn wir auch gerade hier geneigt sind, eine besondere Wirkung der 
Tuberkulotoxine anzunehmen. Es muß einer besonderen Untersuchung 
an geeignetem Material Vorbehalten bleiben, in dieser Frage Klarheit 
zu schaffen. Vorläufig sind ja auch die Grundlagen der wissenschaft¬ 
lichen Charakterologie trotz der tiefschürfenden Arbeiten L. K1 a g e s ’ 
noch zu schwankend, um hier zu weiteren Ergebnissen zu gelangen. 
Auch scheint es mir im Rahmen dieser Arbeit zu weit zu führen, 
ad hoc eine besondere Diskussion anzuschneiden oder gar eine eigene 
Theorie zu entwickeln, wie es seinerzeit E. Kretschmer in seiner 
glänzenden Darstellung des sensitiven Beziehungswahns getan hat. Es 
besteht die Absicht, diesen ganzen Fragenkomplex entsprechend seiner 
Wichtigkeit und seinem Umfang später einmal zusammenhängend zu 
bearbeiten. Hier sei nur die allgemeine Bemerkung hervorgehoben, daß 
die Abweichungen, die sich bei Herzkranken finden, weder die Materie 
noch die Qualität des Charakters zu betreffen scheinen, sondern 
ausschließlich seine Struktur, daß also weder die Vorstellungskapazi¬ 
täten und die Auffassungsdispositionen, noch die Art der Triebfedern 
eine Abänderung erfahren, sondern nur die Elemente, die der Stim¬ 
mung, dem Ausdruckswillen und der Affizierbarkeit entsprechen. 



16 


Diese grundsätzliche Stellungnahme wird einer späteren Wiederauf¬ 
nahme des Problems dienlich sein. 

Dabei muß aber ferner noch auf die geringe Rolle hingewiesen 
werden, welche Herzsensationen bei schwer organisch Herzkranken 
spielen. Man ist fast versucht, den Satz aufzustellen, daß die Schwere 
der Herzkrankheit im umgekehrten Verhältnis steht zu der Aufdring¬ 
lichkeit der Klagen und der Deutlichkeit von kardialen Mißempfin¬ 
dungen. Gerade die eigentlichen Herzneurotiker mit ihrem Heer von 
Herzbeschwerden bieten fast nie einen organischen Befund. Diese 
Beobachtung mahnt zur Vorsicht bei der Deutung der pathoplasti- 
schen Wirksamkeit der Herzerkrankungen, vor allem aber, soweit 
eine psychisch durch diese Empfindungen vermittelte Genese in Frage 
kommt. Im Gegensatz hierzu stehen allerdings die Beobachtungen 
bei der Coronarsklerose; die sthenokardischen Anfälle gehen großen¬ 
teils mit schwerer Herzbeklemmung und Angstempfindung einher. 
Wir werden später an der Hand eines Falles näher darauf eingehen. 

Was nun die psychotischen Störungen bei reiner Herzkrankheit 
anlangt, so wären etwa die Erscheinungen bei akuter Endokarditis 
zu trennen von jenen bei den Reslzuständen derselben, den Herz¬ 
fehlern. Über die Endokarditis stehen uns keine eigenen Fälle zur 
Verfügung. Aber auch bei eingehender Prüfung der Literatur fanden 
sich keine Fälle, in denen bei reiner unkomplizierter Endokarditis psy¬ 
chische Störungen geschildert werden. Dabei ist abzusehen von 
jenen Fällen von Endokarditis, in denen außerdem noch Gelenk¬ 
rheumatismus oder Chorea bestanden. Diese sind an anderer Stelle 
zu betrachten. Es ist gewiß auffällig, hier vor einem völlig negativen 
Ergebnis zu stehen. Trotzdem gebietet die Vorsicht, hieraus vor¬ 
läufig keine weittragenden Schlüsse zu ziehen, denn leicht können 
Zufälligkeiten der Berichterstattung über einen solchen Punkt Un¬ 
klarheit schaffen. Deswegen sei hier ausdrücklich die Frage aus¬ 
gesprochen, ob es Psychosen bei reinen Fällen von Endokarditis gibt; 
von der Erfahrung langer Beobachtungszeit hängt ihre Beantwortung 
ab, und damit auch jede theoretische Schlußfolgerung. Allerdings 
ist wohl mit einer großen Seltenheit solcher Störungen zu rechnen. 

Häufiger sind psychische Störungen infolge Herzfehler ohne 
anderweitige Komplikation. Einer statistischen Erfassung der 
Häufigkeit ihres Auftretens stehen allerdings recht beträchtliche 
Schwierigkeiten entgegen. Vom Standpunkt des Psychiaters aus ist 
es besonders unliebsam, daß ihm leichte Störungen nicht zu Gesicht 
kommen. Herzspezialisten urteilen verschieden darüber, man möchte 
glauben, je nach ihrer Einstellung. Schwerere Störungen, die An- 



17 


staltsbehandlung erfordern, sind sicher selten. Für die Gießener 
und Frankfurter Klinik kommen nicht nur die Herzkranken der Stadt 
und der inneren Klinik in Betracht, sondern auch die sehr große Zahl 
derer, die im nahen Bad Nauheim Heilung suchen. Dieser sicherlich 
nach Zehntausenden zählenden Menge gegenüber ist die Anzahl der 
psychotisch Erkrankten verschwindend gering. Selbst wenn man an¬ 
nimmt, daß nur ein kleiner Bruchteil der Erkrankenden gerade diese 
Kliniken aufsucht, bleibt die außerordentliche Kleinheit dieser Zahl 
bestehen. Es fragt sich freilich überhaupt, in welcher Häufigkeit 
symptomatische Psychosen bei inneren Erkrankungen auftreten. Dar¬ 
über bestehen vorläufig keinerlei Unterlagen; sie müßten in einer 
medizinalstatistischen Arbeit erst geschaffen werden. Von diesen 
ausgehend wird man erst weiter gelangen als zu allgemeinen Ein¬ 
drücken und Ansichten. K1 e i s t (1. c.) hat in dieser Richtung wich¬ 
tige Beiträge auf dem Gebiet der Infektionspsychosen geliefert, indem 
er betonte, daß z. B. bei der Influenzaepidemie 1918/19 trotz ihrer 
großen Ausbreitung nur etwa 100 Psychosen bekannt geworden sind, 
während bei der Chorea von 154 Kranken 133 (d. h. 86,4 Proz.) ner¬ 
vöse bezw. psychische Störungen boten und die Zahl der nervösen 
Störungen beim Typhus von Bergmann mit 38 Proz. angegeben 
wird. Man wird sich der Auffassung nicht verschließen können, daß 
eine letzteren Krankheiten ähnliche Häufigkeit von psychisch-nervö¬ 
sen Störungen bei Vitium cordis nicht annähernd erreicht wird, daß 
aber auch ein Vergleich mit der Influenza nur unter Vorbehalt zu 
ziehen ist. Es müssen eben, wie schon betont, erst zahlenmäßige 
Untersuchungen angestellt werden über das Auftreten psychisch- 
nervöser Störungen im Gefolge der Erkrankung anderer innerer 
Organe, um Vergleichspunkte zu gewinnen. Im allgemeinen haben 
die Autoren stets nur über 2—4 eigene Fälle zu berichten gewußt. 
Jacob hat allerdings 9 Fälle vereinigt; aber diese sind verschieden 
zu bewerten, wie sich zeigen wird. Ferner hat Bonhöffer in 
seiner letzten Veröffentlichung (1. c.) 12 Fälle aufgeführt; leider ist 
aus der summarischen Übersicht nicht zu entnehmen, ob diese Fälle 
sämtlich rein und unkompliziert gelagert waren. Sonst sind jeden¬ 
falls die Fälle von psychischer Störung bei Herzerkrankung so selten, 
daß der einzelne Beobachter auch bei äußerlich günstigen Verhält¬ 
nissen immer nur sehr wenig zu sehen bekommt. 

Unsere nächste Aufgabe besteht darin, die Zustandsbilder der 
psychischen Störungen, die sich allein infolge eines Herzfehlers ent¬ 
wickeln, näher zu zeichnen. Wir gehen darum zunächst zur Schilde¬ 
rung folgenden Falles über. 

L « y i e r, Herzkrankheiten und Psychosen. (Abhandl. H. 250 


2 



18 


1. F a 11. 0 b w a 1 d A., 48 J. alt, Gastwirt, stammt aus gesunder Familie, 
ist in der Welt herumgekommen, ruhiger, bestimmter, ehrgeiziger Mensch von 
gemessenen Formen, hat vor 4 Jahren geheiratet, Frau gesund, ebenso drei¬ 
jähriges Kind. 

Pat. ist seit Jahren herzkrank, sucht regelmäßig Bad Nauheim auf, war 
auch dieses Jahr dort in Behandlung wegen hochgradiger Ödeme. Unter Digi¬ 
talisbehandlung schwanden diese; währenddessen wurde Pat unruhig, schrieb 
viel, schlief schlecht, glaubte sich nachts verfolgt und wurde deshalb am 
29. 5. 28 in die Gießener Klinik aufgenommen. 

Er ist bei der Aufnahme etwas aufgeregt, redet sehr viel, drängt sich an 
den schreibenden Arzt und sucht mitzulesen, tut häufig geheimnisvoll, fordert 
den Arzt auf, ihn offen anzusehen. Verlangt auf der Abteilung allerhand Klei¬ 
nigkeiten, will Blumen im Zimmer haben, will mehrere Kannen voll Milch, 
bittet um Wasser. Verlangt nach einem Klystier, da er einen Bolzen habe. 
Nach Einlauf erfolgt reichlich Stuhlgang. Gegen abend ist Pat. sehr vergnügt, 
hat allerhand Wünsche, fügt sich aber den Anordnungen. 

Am 30. 5. steht Pat. sehr früh auf, zieht sich an und bleibt nicht im 
Zimmer, sondern geht umher, sieht dabei mürrisch vor sich hin, gibt kaum Ant¬ 
wort. Bei der Visite spricht er undeutlich vor sich hin, geht auf Fragen nicht 
ein. Halluziniert anscheinend. Auf Aufforderung geht er in sein Zimmer. 
Plötzlich sieht Pat nach rechts oben, sagt abwehrend: „Nee, nee!“, winkt mit 
den Händen ab, fällt dann zurück, zuckt links zusammen, liegt einige Sekun¬ 
den steif; dann stellen sich Zuckungen im rechten Facialis, im rechten Arm 
und im rechten Bein ein. Dabei besteht Deviation conjug^e der Augen nach 
rechts. Hochgradige Zyanose. Haut der Brust wachsbleich und mit kaltem 
Schweiß bedeckt, Puls klein, unregelmäßig, kaum zu fühlen. Linke Pupille 
enorm erweitert. Dauer des Anfalls etwa 1 Minute. 

Nach kurzer Zeit kommt Pat. wieder zu sich. Keine Lähmung, keine 
Parese. Pat. spricht verwirrt vor sich hin, glaubt Ref. zu kennen, geht auf 
Fragen nur selten ein. örtlich orientiert, blickt sich um, will die Mitkranken 
kennen lernen. Geburts- und Hochzeitsdatum richtig angegeben. Wiederholt 
immer wieder, was vor 48 Jahren war, brauche er nicht zu wissen. 

Körperlich: Ziemlich großer, abgemagerter Mann. Hautfarbe etwas zya¬ 
notisch. Keine Ödeme. Enorme Erweiterung der Herzgrenzen nach rechts. 
Schwirrender, bebender Spitzenstoß in 6. I.-C.-Raum, außerhalb der Brust¬ 
warzenlinie. Herztöne sämtlich unrein; lautes sausendes systolisches Geräusch 
an der Herzspitze. Puls unregelmäßig, ziemlich klein. Urin frei von Eiweiß 
und Zucker. Starke Schweißsekretion. Linke Pupille weiter als rechte. Licht¬ 
reaktion prompt. Konvergenzreaktion nicht zu prüfen. Bauchdeckenreflexe 
links schwach, rechts nicht auslösbar. Kremasterreflex links schwächer als 
rechts. Patellarsehnenreflex wegen aktiver Spannung der Muskeln nicht zu 
prüfen. Keine spastischen Reflexe. Keine Kloni. Sensibilität nicht zu prü¬ 
fen. Liquor fließt unter etwas erhöhtem Druck klar ab, Pandy schwach +, 
Nonne-Apelt Phase I negativ, Zellzahl 8/8 Fuchs-Rosenthal. Wassermannsche 
Reaktion im Blut und Liquor negativ. 

Nachmittags liegt Pat. steif und regungslos da, antwortet nicht, reagiert 
auf keinerlei Reize. 

Am 81. 5. den ganzen Tag über negativistisch, spannt jeden Muskel, so¬ 
bald man ihn anfaßt, gibt keine Antwort, nimmt kein Essen, läßt Urin unter 



19 


sich. Abends ausgesprochenes Beschäftigungsdelir. Pat. läuft umher, trifft 
allerlei Anordnungen, glaubt in seinem Hause zu sein. 

1. 6. Heute etwas freier, gibt Auskunft. Ist örtlich und zeitlich desorien¬ 
tiert. Fühlt sich krank, will zur Kur, will den Fahrplan haben. Beim Besuch 
der Frau, die er sofort erkennt, starke ängstliche Erregung. Glaubt, die Fran¬ 
zosen kämen, um ihn zu erschießen. Jammert stereotyp, rauft sich das Haar, 
drängt aus dem Bett. 

3. 6. Im allgemeinen besteht die ängstliche Verwirrtheit fort; tagsüber 
ist Pat. ruhiger, abends erregter. Geht fortwährend aus dem Bett, starrt öfter 
nach einer Richtung. Spricht unverständliche Worte vor sich hin. 

5. 6. Bewußtsein klar, zeitlich und örtlich orientiert. Unterhält sich 
ruhig mit seiner zu Besuch weilenden Frau. Schläft gut, wünscht in ein 
Einzelzimmer verlegt zu werden. Puls noch unregelmäßig, Herzdämpfung hat 
sich bedeutend verkleinert, Spitzenstoß weniger hebend im 6. J.-C.-R. Urin¬ 
menge vermehrt. Noch zyanotisches Aussehen. Linke Pupille weiter als 
rechte. Lichtreaktion +. Konvergenzreaktion beiderseits vorhanden, etwas 
träge. Patellarsehnenreflexe nicht auszulösen, ebenso Achillessehnenreflexe 
und Bauchdeckenreflexe. 

8. 6. Pat. ist meist besonnen. Stimmung mürrisch, unzufrieden, Pat. 
nörgelt viel. Hat allerhand Wünsche, gibt an, weder Stimmen noch Gestalten 
wahrzunehmen. Dann wieder spricht er mit angstvoller Miene und in abgeris¬ 
senen Sätzen von den Franzosen, die unter seinem Bett steckten und ihn 
erschießen wollten. 

10. 6. Pat. ist zuweilen noch ängstlich: die Franzosen verfolgen ihn, die 
Kugeln sausen um seinen Kopf. Bisweilen recht ruhig und besonnen, unter¬ 
hält sich frei und ungezwungen, will bald wieder zur Kur nach Bad Nau¬ 
heim gehen. 

13. 6. Pat. verhält sich meist ruhig. Die Helle des Bewußtseins schwankt 
wiederholt im Laufe weniger Stunden. Im allgemeinen ist die Stimmung ab¬ 
lehnend, mürrisch und gereizt. Auf seine Verfolgungsideen geht Pat. nicht 
mehr ein, davon wisse er nichts mehr. Pat. wird von seiner Frau abgeholt. 

24. 7. Pat. wird in Bad Nauheim allein umherspazierend angetroffen, 
grüßt höflich, teilt mit, daß er einen Rückfall „mit dem Wasser“ gehabt habe. 
Im Wesen sehr zurückhaltend. 

Die Abhängigkeit der geschilderten Psychose von der Herz¬ 
erkrankung steht fest; sie setzt ein nach oder bei der Resorption der 
Ödeme, jedenfalls in einem Zeitpunkt, in dem diese schon äußerlich 
geschwunden sind. Eichhorsts Beobachtung des Einsetzens 
psychischer Störungen gerade bei der Resorption von Ödemen unter 
Digitaliswirkung wurde bereits oben erwähnt (S. 10). Fügt sich nun 
unser Fall symptomatologisch in das Bild, das Eichhorst entwirft, 
erst Apathie, dann Hyperkinese und traumhafte Verwirrtheit? Diese 
Frage ist zu verneinen. Im Beginn steht vielmehr eine deutliche 
manische Verstimmung des Pat.; dahin weisen seine Vielschreiberei, 
seine Redelust, seine Ungeniertheit, die vielen Wünsche, die zeit¬ 
weise gehobene und vergnügte Stimmung. Freilich finden sich be¬ 
reits eine gewisse mißtrauische Gereiztheit und bisweilen auftretende 

2 * 



20 


Verfolgungsideen. Aber rasch ändert sich das Bild. Mürrisch-gereizt 
geht der Pat. umher und halluziniert anscheinend. Nach einer Em¬ 
bolie gerät Pat. bald in einen tiefen Stupor mit Nahrungs- und Ant¬ 
wortverweigerung, mit negativistischen Muskelspannungen und mit 
Unreinheit. Aber auch dieser Zustand hat keinen Bestand; es folgt 
ein delirantes Stadium mit Verkennung der Umgebung, Beschäfti¬ 
gungsdrang und Sinnestäuschungen. Dieses schlägt in eine schwere 
ängstliche Erregung um. Von da geht es unter Schwankungen zur 
Genesung. Stundenweise, namentlich morgens, ist der Pat. freier, 
ruhiger und besonnener; gegen Abend wird er verwirrt, ängstlich, 
erregt. In diesem Zustand wurde er entlassen. Einen Monat später 
finden wir ihn genesen, höflich und etwas zugeknöpft. 

Die Gesamtdauer der Erkrankung beträgt etwa 3 Wochen. Sie 
unter einen einheitlichen Symptomenkomplex zu subsumieren, ge¬ 
lingt nicht; die einzelnen sich aneinanderreihenden Zustandsbilder 
sind in K1 e i s t schem Sinne teils heteronom, teils homonom, gehören 
aber alle zu den exogenen Reaktionstypen Bonhöffers. Der Pat. 
bot keinerlei manisch-depressive Antezedentien, er zeigte sicherlich 
keinen pyknischen Körperbau, war groß, hager, schlank, hatte ein 
schmales eiförmiges Gesicht, war von Charakter ruhig, gemessen, 
ehrgeizig. Trotzdem fand sich ein deutliches manisches Vorstadium. 

Die weitere Auswertung dieser Beobachtung kann natürlich nur 
im Zusammenhang mit der Vergleichung an anderem Material er¬ 
folgen. Aber grundsatzgemäß kommen nur Fälle in Betracht, bei 
denen außer der Herzerkrankung keine weitere Komplikation vor¬ 
liegt. Eigene Beobachtungen müssen darum an dieser Stelle vor¬ 
läufig zurückgestellt werden. In der Literatur dagegen stehen ver¬ 
schiedene Fälle zur Verfügung, bei denen die Psychosen nach der 
Resorption die Ödeme einsetzen. So beschreibt Krisch eine 44jähr. 
Kranke, die zwar stets erregbar, aber immer gesund war und nun mit 
Dekompensationserscheinungen infolge Herzmuskelerkrankung Auf¬ 
nahme in die medizinische Klinik fand. In wenigen Tagen schwanden 
die Ödeme. Etwa eine Woche später plötzlich erregt, beklagt sie sich 
über Verspottung durch die Umgebung; tags darauf läuft sie umher, 
singt, schreit, spuckt, schleudert alles umher, macht Verbeugungen, 
bekreuzigt sich, klatscht in die Hände, schimpft, hat ein vages Krank¬ 
heitsgefühl. Nach zwei Tagen ist sie ruhiger, etwas desorientiert, 
verkennt Personen. Nach weiteren zwei Tagen ist sie völlig geord¬ 
net, kann sich an die Psychose nicht erinnern. Auch hier traten also 
die psychotischen Erscheinungen erst auf, nachdem die Ödeme ge¬ 
schwunden waren. Die ganze, viel kürzer dauernde Erkrankung verlief 



21 


unter dem Bild einer hyperkinetischen Erregung mit Ratlosigkeit, 
Gereiztheit und einer gewissen Krankheitseinsicht, daran schloß sich 
ein Dämmerzustand mit Desorientiertheit und Personenverkennun¬ 
gen; es blieb eine retrograde Amnesie zurück. 

Aber nicht immer beginnen die psychischen Störungen erst beim . 
Schwinden der Ödeme; das beweisen die Beobachtungen J. Fischers, 
besonders der dritte Fall, den er anführt. Ein 62jähriger Amtsdiener 
mit Mitralinsuffizienz, die zu hochgradigen Ödemen und Ascites ge¬ 
führt hatte, erkrankt mit Unruhe, Desorientiertheit, Halluzinationen 
und Verkennung der Umgebung. Nach dreitägiger Diurese fallen die 
Ödeme, das Bewußtsein klärt sich, die Halluzinationen schwinden. 
Der Patient kann sich nur dunkel des Zustandes entsinnen und bleibt 
von da an klar und geordnet. Es handelt sich also hier um ein kurz 
dauerndes Delir, das mit den Ödemen verschwand. Ähnlich begann 
die Erkrankung eines 52jährigen Asthmatikers, der an Herzklappen¬ 
fehler und Ödemen litt, mit einem Delir, das sich aus Desorientiert¬ 
heit, Herabsetzung der Merkfähigkeit und Halluzinationen zusam¬ 
mensetzte, nur gestaltete sich der Verlauf anders, indem sich 
ein apathisch-stuporöser Zustand entwickelte, der fünf Monate 
bis zum Tode anhielt. Das Delir war dadurch ausgezeichnet, daß es 
stundenweisen Schwankungen unterworfen war, ähnlich wie es oben 
beim Falle Oswald A. beschrieben ist; tagsüber war der Kranke leid¬ 
lich klar, nachts nahmen die Verwirrtheit und die „Hlusionen“ zu. 
Ein solches Verhalten, auf das auch Jacob hinweist, fand sich auch 
bei dem dritten Kranken J. Fischers, einem 48jährigen Herz¬ 
leidenden mit Herzklopfen, Atemnot und Ödemen. Dieser sang und 
lärmte nachts in schwerer Erregung, tagsüber war er klar und konnte 
sich’an die Vorkommnisse der Nacht nicht erinnern. Nach Kompen¬ 
sation des Herzfehlers trat Besserung ein; als sich aber nach vier 
Wochen wieder eine Kompensation einstellte, entwickelte sich von 
neuem eine Geistesstörung, zwar etwas anderer Symptomatik, aber 
von demselben Rhythmus betreffs ihrer Intensität. Tagsüber war das 
Bewußtsein klar, die Stimmung war gedrückt und mißmutig; gegen 
Abend steigerte sich die Dyspnoe, der Kranke halluzinierte, ver¬ 
kannte die Personen, sprang auf, lief verwirrt im Zimmer umher, bat 
um sein Leben. Nach einigen Tagen wurde er sehr ruhig, sprach 
wenig, war sehr verstimmt und sentimental, doch blieb sein Bewußt¬ 
sein klar bis zwei Tage vor seinem Tode. Bezeichnend sind an diesem 
Fall das Schwanken der psychischen Störung mit der Tageszeit, ihr 
Einsetzen bei Dekompensationserscheinungen und ihr depressives 
Nachstadium, während das psychotische Zustandsbild daB erste Mal 



22 


wohl eher einer psychomotorischen Erregung und das zweite Mal 
einem Delir entsprach. 

Der folgende Fall eigener Beobachtung hat den Nachteil, daß 
er sehr rasch letal endete. Trotzdem findet sich ein kennzeichnendes 
Symptomenbild mit den der Tageszeit synchromen Schwankungen; 
freilich beginnt die Erkrankung nicht auf der Höhe der Ödeme, son¬ 
dern vermutlich im Beginn ihres Rückganges. 

2. F a 11. L i n a 54 J. alt, in Behandlung der Frankfurter Klinik vom 
1. 2. bis 7. 2. 1922. 

Kommt aus dem Marienkrankenhause, weil sie dort erregt war, liegt 
ruhig da, Puls klein, gespannt, unregelmäßig. Herz vergrößert. Starke Ödeme 
und Aszites. Stauungsbronchitis. Antwortet mit lauter Stimme, ist nicht 
orientiert, weiß ihr Alter nicht. 

Anamnese: Seit 16 Jahren allmählich zunehmende Herzbeschwerden. 
Bei körperlicher Anstrengung Atemnot und Beklemmung. In den letzten 
Wochen Verstärkung der Dyspnoe, Verminderung der Urinsekretion und Be¬ 
einträchtigung des Schlafes. Bei der Aufnahme in das Krankenhaus war das 
Nervensystem und der Augenhintergrund ohne krankhaften Befund. Über der 
Lunge vereinzeltes Knisterrasseln. Die Herzdämpfung war etwas verbreitert, 
der Spitzenstoß hebend. Der 1. Ton über der Mitralis unrein. Über der Pul- 
monalis leises systolisches Geräusch. Puls inäqual, arythmisch. Leber¬ 
gegend durckschmerzhaft, Leber vergrößert. Im Urin 2°/oo Eiweiß; im Sedi¬ 
ment einzelne hyaline Zylinder. Auf Digitalis und Diuretin bessert sich die 
Diurese, ebenso die Atemnot. Bald treten nächtliche Erregungen auf mit ver¬ 
worrenen Reden, wofür am Tage Amnesie bestand. Die letzten Tage tagsüber 
ruhig, abends allmählich zunehmende Erregungszustände, wird aggressiv gegen 
die anderen Kranken, dabei war die Temperatur etwas erhöht. 

Am 1. 2. sprach Pat. tagsüber vernünftig, nachts stöhnte und jammerte 
sie viel, verlangte öfters nach dem Arzt. 

Am 2. 2. liegt Pat. kurzatmig im Bett, richtet sich röchelnd auf, spricht 
klagend und leise in einförmigem Tonfall. Hält die anderen Pat. für Kranke, 
die während des Krieges heruntergekommen seien. Der Krieg habe 1914 
angefangen und sei 1918 oder 20 geendet. Halluzinationen gibt sie zahlreich 
an. Es habe nach Tapeten gerochen, verschiedene Sachen seien um das Bett 
gestanden, Kinder, Kleider, Schuhe, Leute, eine ganze Ausstattung, atemlose 
Menschen, die werden eingenäht, doch dürfen sie nichts darüber sagen, sie 
sollen doch nicht so laut sein, eine Gestalt wie ein Licht stehe dort, die 
Tapeten rutschen. 

Man müsse Geduld mit ihr haben, sie sei so krank. Viele Angstzustände, 
habe sich immer nach dem letzten Augenblick gesehnt, in der Angst habe sie 
um Hilfe geschrieen. 

Leichte Rechenaufgaben löst sie richtig, kann sie aber nach geringer 
Störung nicht mehr wiederholen. 6— 7 Ziffern spricht sie nach. Schwerere 
Rechenaufgaben wie 17X5 oder 12X4 gelingen nicht. Sprichwörter erklärt sie 
meist richtig, manchmal verworren, z. B. „Wenn man etwas haben will, so muß 
man eben keine Rosen ohne Dornen“. Unterschiedsfragen beantwortet sie 
richtig. Beim Erklären von Bildern haftet sie an Einzelheiten, erkennt den 
Zusammenhang nicht. 



23 


Am 3. 2. Abends euphorisch, benommen, reichliche Verkennungen. 

Körperlicher Befund: Atmet schwer, 32 Atemzüge in der Minute, 
über den hinteren Partien der Lunge feuchte Rasselgeräusche. Herzgrenzen 
beiderseits erweitert. Töne leise, über der Spitze, der Aorta und der Basis 
lautes diastolisches Geräusch, Puls 120, klein, unregelmäßig, starke Ödeme im 
Rücken und an beiden Beinen, Pupillen eng, Li.-Re. +. Bauchd. u. Pat.-S.-R. 
nicht auszulösen, Ach.-S.-R. +. Sensibilität für spitz intakt. Urin fließt spon¬ 
tan ab, „weil sie nicht so rasch aufkönne“. 

4. 2. In der Atmung freier, Puls noch unregelmäßig. An den Beinen 
Erosionen mit entzündlich geröteter Umgebung. 

5. 2. Sensorium frei, erinnert sich ihrer Halluzinationen, ist munter, jetzt 
sehe sie nichts mehr. Gegen abend Temperaturanstieg, wird erregt, spricht 
verworren vor sich hin. 

6. 2. Liegt tief benommen im Bett, Atmung beschleunigt, Puls klein, 
kaum zu fühlen. 

7. 2. Exitus. 

In diesem Falle entwickelt sich anschließend an nächtliche Er¬ 
regungszustände mit Herzangst und Beklemmungsgefühl eine Hallu- 
zinose, aber ohne ängstliche Färbung und mit relativer Besonnenheit. 
Die Halluzinationen treten bald zurück; die Erinnerung bleibt er¬ 
halten, es besteht ein euphorischer leichter Benommenheitszustand, 
der rasch verworren wird und in den agonalen Sopor übergeht. Auch 
hier handelt es sich um heteronome Zustandsbilder. Die Psychose 
tritt erst nach recht langem Bestand der Ödeme auf. 

Daß aber auch homonome Zustandsbilder bei diesen die Ödeme 
begleitenden Psychosen Vorkommen, bezeugt folgende Beobachtung 
Bonhöffers. Ein 37jähriger Herzkranker mit Ödemen und Kopf¬ 
schmerzen wird allmählich reizbar und hört Stimmen befehlenden 
und beschimpfenden Inhalts; unter Steigerung der Stauungserschei¬ 
nungen gestaltet sich die Stimmung gehoben, es besteht Rede- und 
Schreibdrang, Ideenflucht, Ablenkbarkeit, Gereiztheit und Rücksichts¬ 
losigkeit. Nur gegen Abend treten zuweilen bei Verstärkung der 
Kopfschmerzen und bei auftretendem Erbrechen Gehörhalluzinatio¬ 
nen hervor. Das Bewußtsein bleibt immer klar. Dieser Zustand 
bleibt unverändert gleich bis zum drei Monate später erfolgenden 
Tode. Das der Tageszeit synchrone Schwanken findet sich hier nur 
im abendlichen Auftreten der Halluzinationen angedeutet. Die Eigen¬ 
art und Stabilität des Zustandsbildes lassen Bonhöffer an eine 
durch die Herzerkrankung nur ausgelöste manische Attacke aus dem 
Gebiet des manisch-depressiven Irreseins denken. Späterhin soll dar¬ 
auf näher eingegangen werden. 

Weiterhin kommen, wie Bonhöffer, Rosenfeld und 
Jacob betonen, auch schon vor dem Auftreten von Stauungserschei- 



24 


nungen in Form von Ödemen psychische Störungen zustande. Diese 
Tatsache erfordert sorgfältige Beachtung gegenüber der naheliegen¬ 
den Anschauung von der Entstehung autotoxischer Vorgänge beim 
Auftreten oder bei der Resorption von Ödemen als Ursache der psy¬ 
chischen Alteration. 

Vielmehr scheint die Zirkulationsstörung schon als solche ge¬ 
nügend zu sein, um Psychosen hervorzurufen, eine Tatsache, die 
Jacob veranlaßt hat, die Bezeichnung „Kreislaufpsychose“ zu prä¬ 
gen. Seine theoretischen Anschauungen werden später im Zusam¬ 
menhang mit dem aus dem Gesamtmaterial sich ergebenden Schlu߬ 
folgerungen erörtert werden. An dieser Stelle wird zunächst ein Bei¬ 
spiel gebracht für das Auftreten einer kardialen Psychose vor der 
Bildung von Ödemen« 

8. Fall. Betty K., 64 Jahre alt, in der Frankfurter Klinik vom 
25. 7. bis 2. 8. 1922 in Behandlung. 

Wird aus der Wohnung gebracht, liegt ruhig da, gibt keine Antwort. 
Puls sehr frequent, Pupillen eng. 

Vorgeschichte: Die Pat. war früher außer einem Herzfehler stets 
gesund, hat .4 gesunde Kinder. Wegen Atem- und Herzbeschwerden in der 
letzten Zeit nicht mehr recht arbeitsfähig, klagte öfters über Kopfschmerzen. 
Gedächnis bis vor kurzer Zeit gut. Vorgestern sprach sie verwirrt, verkannte 
die Umgebung, lachte auffallend viel und beziehungslos, richtet sich im Bett 
auf, lacht und läßt sich wieder zurückfallen, drängt aus dem Bett, behält die 
Decke nicht im Bett, sieht die Stube brennen, fährt bei Geräuschen erschreckt 
zusammen. Äußert nichts über Stimmen. Gibt seit heute verkehrte Antworten 
und nimmt keine Nahrung zu sich. 

Körperlicher Befund: Ältere, mittelgroße, mäßig genährte Frau. Ge¬ 
sicht zyanotisch. Pupillen eng. Lichtreaktion träge, rechts links Konver¬ 
genzreaktion +. 

Lungengrenzen tiefstehend, rechts hinten unten handbreite Dämpfung. 
Atemgeräusche vesikulär, im Bereich der Dämpfung abgeschwächt. Atmung 
oberflächlich, 24 L d. Min. 

Herz: nach links verbreitert, Spitzenstoß in der Axillarlinie fühlbar. Über 
allen Ostien lautes blasendes systolisches Geräusch, leises diastolisches Ge¬ 
räusch besonders über der Aorta. Puls klein, schnellend, unregelmäßig, etwa 
68 i. d. Min. Kapillarpuls. 

Leber vergrößert. Urin reichlich Eiweiß. Im Sediment Plattenepithelien 
und Leukozyten. Keine Ödeme. 

Armreflexe vorhanden. Pat.-S.-R. nicht auslösbar. Ach.-S.-R. +, Sensi¬ 
bilität nicht zu prüfen. 

Psychisch: Liegt ruhig im Bett, hält die Augen geschlossen. Auf Anruf 
öffnet Pat. langsam die Augen, sieht erstaunt fragend um sich, gibt Namen 
und Alter richtig an. Ist zeitlich und örtlich völlig desorientiert, hält den Arzt 
für einen evangelischen Pfarrer. Auf die Frage, wo sie sei, antwortet sie 
mehrere Male hintereinander: „Konservatorium“. (Was ißt das für ein Haus?) 
„Künzerode, Künzerode“. Ratlose Handbewegungen, greift in die Luft, als 
wenn sie etwas suche. 



25 


(Haben Sie Kinder?) „Nein, ich will doch, nein, Sie wollen, was wollen 
Sie, wüßte nicht, wer’s war. Die Nachbarschaft (plötzlich erregt) he, wer ist 
denn da? Da wollen wir mal so sprechen, das hat doch keinen Zweck. Das 
dreht sich ja heute, bleib’ drüben, drüben mehr. Wer, weiß ich nicht. Laßt 
mir meine Ruh’“. 

(Welches Jahr?) „Wer kann das wissen, das ist doch ganz egal.“ 
Nestelt an den Hemdenknöpfen, dreht sich im Bett. 

(Haben Sie Schmerzen?) Sieht ratlos um sich: „Ja, ja, ja.“ 

(Wo haben Sie Schmerzen?) „Ja, ja, das ist doch alles egal.“ (Freund¬ 
lich lächelnd): „Alles egal, ich will schlafen.“ 

Pat. ist nicht zu fixieren, faßt die Fragen anscheinend nicht auf, greift 
nach den glänzenden Knöpfen an den Mänteln der Ärzte. Vorgehaltene Gegen¬ 
stände erkennt sie nicht. Uhr: „Das ist Ihre Mutter.“ Notizbuch: „Ja, ja, 
das ist sie, die Mutter.“ Worte nachsprechen: Heute +. Haus +. Haus¬ 
tür +. Garten +. Selterswasserflasche — „Seltersflasche“. Dampfschiff¬ 
fahrtsgesellschaft — „Dampfschiffahrt“. Artilleriebrigade — „Allerie“. 

26. 7. Pat. war die ganze Nacht schlaflos, saß meist aufrecht, sprach un¬ 
zusammenhängend vor sich hin. Wa.-Re. im Blut und im Liquor negativ. 
Zellzahl im Liquor 13/3. Keine Eiweißvermehrung. 

27. 7. Zeitlich und örtlich desorientiert. Spricht dauernd zusammen¬ 
hanglos vor sich hin, macht Handbewegungen in der Luft, bezeichnet heute 
vorgehaltene Gegenstände meist richtig. 

Während der nächsten beiden Tage blieb der Zustand unverändert, schläft 
wenig, spricht inkohärent vor sich hin. 

30. 7. Heute vollkommen klar, zeitlich und örtlich genau orientiert. 
Erzählt dem Arzte lächelnd, daß sie ihn für einen evangelischen Pfarrer gehal¬ 
ten habe. „Ich war ja ganz verwirrt, wußte gar nicht mehr, wo ich war. 
Das kommt alles von dem kranken Herzen.“ Puls jetzt regelmäßig, kräftig. 
Herzbefund unverändert. Pupillen reagieren prompt auf Li. und Co. Nah¬ 
rungsaufnahme gut. Schläft die ganze Nacht ruhig. 

2. 8. Nett, freundlich, ruhig, wird nach Hause entlassen. 

Es handelt sich hier um ein akut einsetzendes Bild von Verwirrt¬ 
heit, indem zuerst der halluzinatorische, später der inkohärente Cha¬ 
rakter überwog, auftretend bei einer seit langer Zeit an einem schwe¬ 
ren Herzfehler Leidenden, ohne dafi Ödeme bestanden. Der Zustand 
dauerte in fast unveränderter Ausprägung 7 Tage lang und schlug 
näch Besserung der Herztätigkeit plötzlich in Beruhigung mit Krank¬ 
heitseinsicht und relativ guter Erinnerung um. Eine ängstliche Fär¬ 
bung trat nicht besonders hervor. 

Anders verhielt es sich damit in einem Falle Bonhöffers, bei 
dem sich die psychotischen Erscheinungen gleichfalls vor der Bildung 
von Ödemen entwickelten. Eine 35jährige Herzleidende suchte wegen 
zunehmender Herzbeschwerden und Angst das Krankenhaus auf. Als 
körperlicher Befund ließen sich eine schwere Vitium cordis, unregel¬ 
mäßige Herztätigkeit und Zyanose erheben, dagegen bestanden keine 
Ödeme. Die Kranke war ängstlich und hatte Gehörshalluzinationen. 



Bald trat eine manische Phase hervor mit Euphorie, Rededrang, 
Ideenflucht, Grobheit und lautem Lachen, während die Orieritiertheit 
erhalten blieb. Am folgenden Tage nach schlechtem Schlaf unzu¬ 
gänglich und grob, wurde sie gegen Abend delirant, war desorientiert, 
hatte optische und olfaktorische Halluzinationen; die Stimmung blieb 
manisch, es bestand Rededrang, Vorlautheit und Neigung zu Tätlich¬ 
keiten. Allmählich ging die Erregung zurück, die Kranke mißdeutete 
aber die Umgebung und wehrte ängstlich-ärgerlich die Untersuchung 
ab. Nach 6 Tagen zeigte sich die Kranke bei völliger Beruhigung 
und großem Schlafbedürfnis unter Besserung der Herztätigkeit wie¬ 
der freundlich und bescheiden. Auch Bonhöffer vermag hier 
keine manisch-depressive Belastung oder Vorgeschichte festzustellen. 
Der Verlauf entspricht etwa dem unseres Falles Oswald A., nur in 
viel rascherer Zeitfolge und unter Auslassung des Stupors. 

Eine besondere Stellung nehmen diejenigen Fälle ein, bei denen 
es erst kurz vor dem Tod zu psychischen Veränderungen kommt. Der 
Todeskampf ist an sich oft mit einer Bewußtseinstrübung verbunden, 
am häufigsten sind diese agonalen Störungen vom Typus des Komas 
oder Sopors. Ferner sind von Jacob „subfinale Delirien“, heftige 
Erregungszustände mit Desorientiertheit, kurz vor dem Tode be¬ 
schrieben worden. Das Verhältnis dieser Delirien in ihrer Häufigkeit 
zu den komatösen Agonien ist unbekannt. Ihre Symptomatologie ist 
aus leicht verständlichen Gründen viel einfacher als die der übrigen 
psychischen Störungen bei Herzfehlern. Jacob hat ihnen eine üble 
prognostische Bedeutung zusprechen wollen. Es ist nicht recht er¬ 
kennbar, inwiefern die psychopathologische Eigenart des einsetzen¬ 
den Delirs unterschieden werden soll von anderen Delirien, wenn 
nicht andere allgemeine Gesichtspunkte, wie die Beurteilung der 
Prostration, der Herzkraft u. a., herangezogen werden sollen. Anders 
steht es mit einer Schlußfolgerung, die sich aus dem Umstande ergibt, 
daß kurz vor dem Tode auch bei solchen Individuen psychische Stö¬ 
rungen auftreten, bei denen die vorangehende Krankheit nicht dazu 
ausgereicht hat. Es wirkt die allgemeine Herabsetzung des Kräfte¬ 
zustandes ceteris paribus im Sinne der Erleichterung und Auslösung 
in dieser Richtung. Hiermit ist freilich nur die Bestätigung einer 
Binsenwahrheit gewonnen. 

Wir fassen zusammen: Den Psychosen bei reinen Herzfehlern 
ist also anscheinend eine relative Seltenheit eigen. Sie beginnen teil¬ 
weise mit oder nach der Resorption von Ödemen, teilweise mit deren 
Auftreten, teilweise aber auch, bevor es zur Ausbildung derselben 
kommt. Sie zeigen eine sehr wechselnde Dauer von wenigen Tagen 



27 


bis zu mehreren Monaten. Die bei ihnen auftretenden Zustandsbilder 
sind teils heteronom, teils homonom; unter erstere sind zu zählen 
Halluzinose, Stupor, Verwirrtheit, Delir, Dämmerzustand, hyperkine¬ 
tische Erregung, unter letzteren die manischen und die depressiv 
gefärbten Stadien. Dazu ist zu bemerken, daß meistens, namentlich 
bei längerer Krankheitsdauer, die Einzelerkrankung aus mehreren 
aufeinander folgenden Zustandsbildern zusammengesetzt ist, so z.B. 
im Fall Oswald A. aus manischer Verstimmung, Stupor und Delir. 
Die Besserung des psychischen Zustandes erfolgt meist gleichzeitig 
mit Behebung der Herzstörung, ja mitunter führt ein Rückfall in die¬ 
ser Richtung auch zu einer erneuten Störung in jener. Dabei werden 
die Dekompensationserscheinungen selbst bei demselben Individuum 
nicht immer mit demselben psychischen Zustandsbild beantwortet, 
wie der eine der Fischer sehen Fälle zeigt. Dagegen scheint eine 
Besonderheit, die in fast allen Fällen wiedergefunden wird, das mit 
der Tageszeit synchrone Schwanken der Schwere der psychischen Er¬ 
krankung zu sein. Ein Überwiegen ängstlich gefärbter Zustands¬ 
bilder tritt im Gesamtverlauf kaum hervor, wenn auch fast nie ein 
solches Stadium, wenigstens zeitweise, vermißt wird. Der Ausgang 
der psychischen Störungen ist überwiegend günstig, wenn der Tod 
nicht vorzeitig dem Verlauf ein Ende macht, doch entwickelt sich 
einmal ein apathisch-stuporöser Zustand, ein anderes Mal eine depres¬ 
sive Phase als Restzustand von der Dauer einiger Monate. Es bleibt 
bei der kurzen Schilderung Fischers fraglich, ob es sich hier um 
ähnliche Zustände gehandelt hat, wie sie Bonhöffer als emotio¬ 
nell-hyperästhetische Schwächezustände schildert. Die Entstehung 
eines Korsakowsehen amnestischen Zustandsbildes wurde nicht 
beobachtet. 

Dieses Ergebnis erlaubt nur sehr vorsichtige Schlußfolgerungen 
über die Natur der wirksamen Noxe; ihr Auftreten hängt wohl mit 
einer, sei es qualitativen, sei es quantitativen Veränderung in der 
Blutversorgung des Gehirns zusammen, worauf uns auch das rhyth¬ 
mische Schwanken der Intensität der psychotischen Erscheinungen 
hinzuweisen scheint. Die Wichtigkeit der Anlage tritt besonders her¬ 
vor, wenn man sich die Seltenheit dieser Störungen vor Augen hält. 
Eine genauere Erörterung dieses wichtigen Punktes wird erst im 
Schlußkapitel erfolgen, nachdem die weiteren Erfahrungen an ver- 
wickelteren Fällen vorgetragen und analysiert sind. Besondere Auf¬ 
merksamkeit verdient der Umstand, daß die psychischen Störungen 
gewöhnlich aus mehreren aufeinanderfolgenden und ineinanderüber- 
gehenden Zustandsbildem bestanden. Dabei ist die Reihenfolge die- 



28 


8er Bilder in keiner Weise festgelegt, wenn auch die homonomen 
Bilder häufiger im Anfang oder am Ende des Gesamtverlaufs stehen. 
Daraus den Schluß zu ziehen, es träten zu Anfang und zu Beginn die 
Anlagetypen stärker hervor, wäre wohl zu voreilig, denn gerade 
dafür bedarf es noch der soeben angekündigten Beschäftigung mit 
der Anlage, um die Voraussetzung zu klären, ob und inwiefern homo- 
nome Symptomenkomplexe auf eine entsprechende Prädisposition 
schließen lassen. Weiter scheint die Frage der Prüfung wert, ob 
sämtliche exogenen Reaktionstypen im gleichen Rang als Hirnschä¬ 
digungssyndrome zu betrachten sind, oder ob sie Ausdruck verschie¬ 
dener Grade an Intensität darstellen. Auch dieses allgemeine Pro¬ 
blem soll erst später eingehend behandelt werden. Diese Verknüpft- 
heit darf aber den Blick nicht ablenken vom Hauptthema der Unter¬ 
suchung der psychischen Störungen bei Herzkrankheiten. 

Außer den mehr oder minder akut entstehenden Psychosen bei 
Dekompensation der Herzfehler ist der ursächliche Zusammenhang 
chronischer Psychosen mit Herzstörungen zu untersuchen. Als Leit¬ 
linie auf diesem schwierigen Boden dienen die folgenden Überlegun¬ 
gen, wie sie bereits von Stransky u. a. angestellt worden sind. 
Herzerkrankungen erzeugen einerseits zuweilen besondere Sensatio¬ 
nen, die in der Klinik der inneren Krankheiten als Herzangst bekannt 
sind. Andererseits kann es auf der Grundlage abnormer Körper¬ 
gefühle zu einer krankhaften Verarbeitung im psychischen Leben 
kommen, wie z. B. beim Beeinträchtigungswahn Schwerhöriger. Auch 
die Herzangst erfährt zuweilen eine weitere Verarbeitung; dafür lie¬ 
fert der folgende Fall den Beweis, bei dem diese Entwicklung klar zu 
beobachten ist, wenn auch das hohe Alter des Betroffenen Bedenken 
hinsichtlich der Reinheit des Falles zu erwecken geeignet ist. 

4. F a 11. G e o r g B., 79 Jahre alt, aufgenommen in die Gießener Klinik 
am 27. 11. 1922. War früher immer gesund, passionierter Jäger und Tourist» 
Seit längerer Zeit Atemnot und Herzbeklemmungen. Seit 4 Wochen schlechter 
Schlaf, gerät bei sthenokardischen Anfällen in ängstliche Erregung, kann nicht 
allein bleiben, bittet den Arzt um Gift, den Sohn um Waffen, damit er erlöst 
werde, bekommt Todesgedanken. Schläft seit 5 Tagen nur noch nach Mor- 
phiuminjfcktion und auch dann nur kurze Zeit. 

Bei der Aufnahme weigert sich Pat., auf eine geschlossene Abteilung zu 
gehen, weist Bad und Abendessen zurück, wird dabei sehr erregt, glaubt sich 
gewaltsam zurückgehalten, läßt sich nur schwer beruhigen. Starke Dyspnoe. 
Puls langsam und unregelmäßig; schläft auf 0,01 Morph, nur sehr wenig. 

In der Nacht dämmert er meist mit geöffneten Augen und heftig nach 
Atem ringend vor sich hin, scheint laut dabei zu träumen, ruft laut den Namen 
seiner Bedienerin, auf Anruf sofort orientiert, äußert Todesgedanken, läßt sich 
umbetten und versucht wieder zu schlafen. 



29 


28. 11. Am Tag über alles orientiert, er habe schlecht geschlafen und 
geträumt. Was, weiß er nicht genau. Fühlt sich trotz der Atemnot 
relativ wohl. 

Schläft die Nacht über auf Schlafmittel gut. 

29. 11. Körperlich: stark abgemagerter, großer, hagerer Mann. Herz: 
Spitzenstoß außerhalb der Mammillarlinie im 5. S.-C.-R.; Herzgrenzen nach 
links erweitert. Töne rein. Zeitweise typische Extrasystolen. Thorax starr. 
Altersemphysem der Lungen. Leberrand derb, palpabel, beginnende Stauungs¬ 
leber. Keine Ödeme. Sämtliche Reflexe nur sehr schwach auslösbar. Keine 
pathologischen Reflexe. 

Wird mit Digipurat und Papaverin hydrochlor. behandelt. 

Pat. ist tagsüber klar, leidet sehr an Lufthunger. Gegen Abend stheno- 
kardischer Anfall, gerät in einen förmlichen Angstparoxysmus, glaubt, sofort 
sterben zu müssen, in den nächsten Stunden trete der Tod ein, seine Kinder 
kämen nicht zu ihm, bestreitet, diese heute gesehen zu haben, obwohl sie* ihn 
am Vormittag besucht haben, bittet um Erlösung, will Gift, ruft laut um Hilfe, 
spricht den Pfleger mit falschem Namen an, korrigiert sich aber sofort, als der 
Anfall unter Papaverin vorübergeht. 

Nachts schläft Pat. auf Schlafmittel gut. 

I. 12. Verschlechterung im körperlichen Befinden. Häufige Extrasysto¬ 
len. Große Atemnot, Pat. läßt Urin unter sich gehen, ist aber vollkommen 
klar, erkennt die Umgebung, ist zeitlich und örtlich orientiert. Sehr schlechte 
Nachtruhe, liegt meist wach, ringt nach Luft. Zuweilen dabei ängstlich erregt, 
ruft nach seinen Kindern und Hausgenossen. 

8. 12. Weitere Verschlechterung auf körperlichem Gebiet, schlechte 
Herztätigkeit, schwacher, kaum fühlbarer, unregelmäßiger Puls. Pat. ist sehr 
matt, kann kaum sprechen und auswerfen, läßt Urin unter sich, ist aber 
besonnen und klar. Nachts schläft Pat. auf Schlafmittel gut. 

4. 12. Pat. fühlt sich kräftiger. Puls bessert sich, Völlig orientiert; 
schläft nachts gut. 

5. 12. Pat. ißt mit gutem Appetit, unterhält sich, fühlt sich besser. In 
der Nacht im Anschluß an sthenokardische Anfälle ängstlich erregt, schläft 
gegen Morgen ein. 

8. 12. Pat. macht weitere Fortschritte. Appetit und Schlaf gut. Herz¬ 
tätigkeit regelmäßiger. Steht einige Stunden am Tage auf. 

II. 12. Gutes Allgemeinbefinden. Wesentliche Besserung des Pulses. 
Kaum noch Extrasystolen. Dyspnoe fast geschwunden. Immer wohl orien¬ 
tiert. Keine Herabsetzung der Merkfähigkeit. Liest und unterhält sich mit 
frischem Interesse. Ist zuversichtlicher und guter Stimmung. 

12. 12. Weiter Wohlbefinden. Schläft ohne Schlafmittel gut. Psychisch 
völlig frei. Wird nach Hause entlassen. 

In diesem Falle sehen wir direkt aus der die sthenokardischen 
Anfälle begleitenden Herzangst und aus den dem Lufthunger ent¬ 
stammenden Gefühlen der Beklemmung Erregungszustände heraus¬ 
wachsen, in denen Todesahnungen, Erinnerungstäuschungen, leichte 
Bewußtseinstrübung und starke Selbstmordneigung auftreten. Die 
Abhängigkeit dieser Erregungen von den genannten Sensationen 
wird besonders dadurch klar, daß es bei der Verschlechterung des 



30 


Allgemeinbefindens trotz hochgradiger Hinfälligkeit und Schwäche 
wegen des Fehlens sthenokardischer Anfälle nicht nur zu keiner Ver¬ 
stärkung des psychotischen Bildes kommt, sondern im Gegenteil der 
Pat. klar, besonnen und ruhig ist. Es wäre darum falsch, hier Zirku¬ 
lationsstörungen anzuschuldigen als Ursache der Erregungszustände. 
Vielmehr wird die Entstehung dieser Zustände aus den die körper¬ 
liche Erkrankung begleitenden Sensationen psychisch vermittelt. 
Das Primäre stellt hier die Angstempfindung dar, das atembeklem¬ 
mende Gefühl der Bedrohung. Aus ihr entwickelt sich dann die 
ängstliche Gemütsbewegung, der Angstaffekt, der seinerseits die 
Todesgedanken und die Selbstmordneigung hervorruft 1 ). Ferner ver¬ 
ursacht er auf seiner Höhe wie jede andere starke Affekt leichte Be¬ 
wußtseinstrübung und Erinnerungstäuschung. Mit dem Zurücktreten 
des Affektes flaut auch die Erregung ab. Der Typus psychopatholo- 
gischen Geschehens, der hier vorliegt, ist allerdings ein grundsätzlich 
anderer als der bei der Kompensationsstörung vorwaltende. Die 
pathogenetische Noxe stellt die abnorme Empfindungsqualität dar, die 
direkt psychisch einwirkt. 

Es erhebt sich die Frage, ob dieser pathogenetische Modus auch 
zu länger dauernden psychischen Anomalien als zu den beschriebe¬ 
nen kurzen Erregungszuständen führen kann. Vorstellbar wäre eine 
Fixierung des Angstaffektes über längere Zeiträume unter der Ein¬ 
wirkung häufiger Wiederholung der bei Störung und Beeinträchti¬ 
gung der Herzfunktion entstehenden Angstgefühle. Eigene Erfahrun¬ 
gen in dieser Richtung stehen nicht zur Verfügung. Dagegen sind 
Weiterbildungen solcher aus Einwirkungen von Angstgefühlen ent¬ 
stehenden Störungen, die über diese kurzdauernden Erregungen hin¬ 
ausgehen, von anderen Autoren beschrieben worden. Wernicke 
erwähnt, daß die Angstpsychose besonders bei gestörter Kompen¬ 
sation der Herzfunktion nicht selten vorkommt. Ziehen vertritt 
gleichfalls die Anschauung, daß die abnormen Organgefühle bei 
Herzkrankheiten für die Entstehung von Angstpsychosen einen ge¬ 
eigneten Boden abgeben. Stransky berichtet die beiden folgenden 
einschlägigen Fälle. Ein 33jähriger Mann mit einem Vitium cordis, 
seit Jahren an paroxystischen kardialen Anfällen mit Herzangst lei¬ 
dend, gerät in eine dauernd ängstliche Stimmungslage mit Selbst¬ 
vorwürfen, pessimistischen Befürchtungen und Beziehungsideen; die¬ 
ser Zustand steigert sich allmählich in 2 Jahren bis zu Selbstmord- 


l ) In der Literatur ist mehrfach die starke Selbstmordneigung psychoti¬ 
scher Herzkranker erwähnt, wie Jacob betont. 



81 


versuchen und tritt dann in etwa einem halben Jahr langsam zurück. 
Eine 44jährige Frau, seit drei Jahren herzleidend, erkrankt mit 
schmerzhaften Sensationen in der Herzgegend und zunehmender de¬ 
pressiver Verstimmung, mit Selbstanklagen und Versündigungsideen, 
fühlt die Angst vom Herzen aufsteigen, schreit im Angstparoxysmus 
durchdringend auf. Nach % Jahr tritt völlige Beruhigung ein. Als 
das Hervorstechendste an diesen beiden Fällen bezeichnet Stransky 
den fließenden Übergang von der mit den vorausgegangenen kardia¬ 
len Störungen verbundenen organischen Angst in die Angst der 
Psychose. Doch hat sich Stransky vorsichtig dahin ausgespro¬ 
chen, daß die durch die Herzaffektion bedingte erhöhte Erregbarkeit 
der sensiblen Herznerven nicht die alleinige Ursache seiner „Angst- 
halluzinose“ ist, sondern daß auch noch ein disponiertes Gehirn dazu 
gehört. In der modernen Formulierung K. Birnbaums bedeutet 
dies, daß die kardialen Angstempfindungen wohl eine pathoplastische 
Komponente im Sinne psychischer Determinierung darstellen. 

Heute wird man wohl kaum geneigt sein, die Angstpsychose als 
nosologische Einheit anzuerkennen, man wird vielmehr die soeben 
kurz referierten Fälle eher als endogene Depressionen auffassen, 
deren ängstliche Färbung im Zusammenhang steht mit der patho- 
plastischen Wirksamkeit der Präkordialangst. Vorläufig besteht noch 
der ernsteste Zweifel, ob chronische Psychosen pathogenetisch durch 
Herzerkrankungen hervorgerufen werden. 

In der neueren Literatur findet sich eine solche Auffassung zu¬ 
meist nicht mehr; Bonhöffer ist ihr gleichfalls entgegengetreten. 
So sind wohl auch schwere Bedenken gerechtfertigt gegen die Dar¬ 
stellung Brauns, der paranoide Zustände mit Verfolgungs-, Beein- 
trächtigungs- und Kleinheitsideen nach mehrfach wiederholten An¬ 
fällen von Angina pectoris beschrieb. Verfolgungsideen mit Selbst¬ 
vorwürfen, hypochondrische Wahnideen traten dann im weiteren 
Verlauf in den Vordergrund. Schließlich pflegt ein depressiver, wei¬ 
nerlich-verängstigter psychischer Schwächezustand Zurückbleiben. 
Hört man dann weiter, daß Braun .periodisch auf tretende Verstim¬ 
mungszustände mit gleichzeitig auftretender anfallsweiser Tachy¬ 
kardie, gefolgt von einer kurzdauernden manischen Nachschwankung 
als „Herzpsychose“ deutet, so muß man doch fragen, wie Braun 
diese „Herzpsychose“ vom manisch-depressiven Irresein zu unter¬ 
scheiden gedenkt. Bei der Neigung des Autors, die ätiologische Be¬ 
deutung des Herzens für das Seelenleben so weit auszudehnen, wird 
man auch skeptisch gegenüber seiner Schilderung paranoider Zu¬ 
stände hinsichtlich ihres Zusammenhangs mit der Angina pectoris. 



32 


Man wird jedenfalls gut tun, eine Bestätigung ähnlicher Beobachtun¬ 
gen von anderer Seite abzuwarten, bevor Brauns „Status angino- 
sus“ zum sicheren Wissensbestand gerechnet wird. 

Aus eigener Anschauung bestätigt sich aber das Vorkommen 
kurzdauernder ängstlicher Erregungszustände, entstanden aus der 
Herzangst und dem Beklemmungsgefühl bei sthenokardischen Anfäl¬ 
len und zwar, wie der Fall Georg B. lehrt, ohne daß die betroffene 
Persönlichkeit von Haus aus furchtsam und ängstlich zu sein braucht. 

Was schließlich das Alter der an psychischen Störungen infolge 
von Herzkrankheit Erkrankenden anlangt, so fällt auf, daß jugend¬ 
liche Fälle unter 30 Jahren nicht zur Beobachtung kamen. Vielleicht 
ist mit dieser Tatsache auch das Fehlen von psychischen Erkrankun¬ 
gen bei Endokarditis zu erklären. Daß das Gehirn im jugendlichen 
Alter seine besonderen Reaktionsformen besitzt, hat ja besonders auch 
die Erfahrung am Material der Encephalitis epidemica gezeigt. Ob 
es sich aber bei unserem Gegenstand nicht um Gehirne handelt, bei 
denen gewisse regressive Prozesse im Sinne des Alterns bereits wenig¬ 
stens eingeleitet sind, bedarf noch weiterer Prüfung. 

In diesem Zusammenhang verdienen diejenigen Fälle erhöhtes 
Interesse, bei denen Gehimveränderungen durch eine gleichzeitig be¬ 
stehende Arteriosklerose gesetzt sind. Diese werden im folgenden 
Abschnitt behandelt. 


9 



Die kardiogenen Psychosen bei Arteriosklerose. 


Die Arteriosklerose erzeugt zuweilen geistige Störungen, aber sie 
erzeugt sie nicht immer. Die Schwere der arteriosklerotischen Ver¬ 
änderungen im Gehirn, solange nicht grobe Zerstörungen gesetzt sind, 
entscheidet nicht über die Intensität der geistigen Verödung. Die 
Hilfsursachen für die Entstehung des arteriosklerotischen Irreseins 
sind unbekannt; wir wissen nichts über ihre Natur, vor allem nicht 
Über einen möglicherweise bestehenden Zusammenhang mit der An¬ 
lage der Erkrankten. Untersuchungen hierüber gehören zu den wich¬ 
tigsten Aufgaben einer wahrhaft biologischen Konstitutionsforschung, 
deren Ergebnisse mehr sein sollen als blasse konstruierte Schemen ab¬ 
strakter Begrifflichkeit. Trotz mannigfacher Versuche sind nur wenige 
lebensfrische, fest umschriebene Typen bis jetzt herausgeschält wor¬ 
den. Auch diese sind aber in ihrem Zusammenhang mit dem arterio¬ 
sklerotischen Irresein nicht untersucht. Andererseits ist auch nichts 
Uber die auslösenden Ursachen dieser Krankheitsform bekannt. In 
diesem Zusammenhang verdienen besondere Aufmerksamkeit diejeni¬ 
gen psychischen Störungen, die bei Dekompensation der Herztätig¬ 
keit der Arteriosklerotiker entstehen, ein Thema, das seinerseits eng 
zusammengehört mit dem Gegenstand des vorigen Kapitels. Zu 
entscheiden ist, ob diese Störungen etwa genau den oben beschriebe¬ 
nen Fällen ohne Komplikation mit Arteriosklerose entsprechen, inwie¬ 
fern sich die Arteriosklerose als abändernde Kraft erweist in bezug 
auf Häufigkeit, Beginn, Verlauf und Ausgang. Schließlich muß die 
Frage erörtert werden, ob in gewissen Fällen eine Kompensations¬ 
störung des Herzens ein echt arteriosklerotisches Irresein auslöst, wo¬ 
bei noch die Möglichkeit vorliegt, daß sie diesem eine bestimmte Fär¬ 
bung erteilt. 

Rasch vorübergehende Attacken psychotischer Art bei Arterio- 
sklerotikem, bedingt durch Dekompensation des Herzens, lassen von 
vornherein einen recht engen Zusammenhang mit der Herzerkrankung 
vermuten, ohne daß das Moment der arteriosklerotischen Komplika¬ 
tion stärker zur Geltung kommt. Diese Mutmaßung wird durch fol¬ 
genden Fall einer Probe unterworfen. 

Leyier, Henkrankhelten und P.ycho.cn, (AbhandL H. J5). 


3 



34 


5. Fall. Konrad H., 62 Jahre alt, in Behandlung der Frankfurter 
Klinik vom 13. 5. bis 81. 5. 1922. 

Wird aus dem Siechenhaus eingeliefert, weil er nachts im Garten umher- 
geirrt ist; atmet beschleunigt und mühsam. Er sei oft zu aufgeregt, das komme 
aus dem Magen, der verdaue nicht. Er habe saures Aufstoßen, er leide an 
Asthma, auch die Blase sei nicht in der Reihe, er müsse alle Viertelstunden 
pissen. Am Tage sei es nicht so schlimm. Es sei alles kaputt. 

Zur Vorgeschichte gibt er an: Sein Vater sei mit 40 Jahren an unbekann¬ 
ter Ursache gestorben, Mutter mit 38 Jahren an Schlaganfall gest., eine Schwe¬ 
ster früh gest. Pat. selbst normale Entwicklung, mit 14 Jahren Ruhr, war 
Bierbrauer. Aktiv gedient, einmal Tripper, keine Lues. Hat dann über 
20 Jahre in Hamburg am Hafen gearbeitet. Ließ sich öfter wegen Bronchial¬ 
katarrh behandeln. Nicht viel getrunken, kein Schnaps. Viel geraucht, immer 
vergnügt gewesen. Sein Leiden habe 1916 mit Herzbeschwerden und Auf¬ 
geregtheit begonnen, später hätten sich Kurzatmigkeit und Blasenbeschwerden 
eingestellt. Nie Rheumatismus. Seit 2 Jahren auch Magenbeschwerden, an 
Stärke allmählich zunehmend. Dumpfes Gefühl in der Magengegend, saures 
Aufstoßen, zuweilen Erbrechen. Nachts Heißhunger. Deswegen voriges Jahr 
in Krankenhausbehandlung. Rasche Besserung, doch jetzt wieder wie vorher. 

Hat sich nach Aufzehrung seiner Ersparnisse vom Bettel ernährt. Vor 
3 Wochen wegen Kurzatmigkeit in das Siechenhaus gekommen. Habe letzte 
Nacht nicht schlafen können, habe sich leise angezogen und sei im Garten 
spazieren gegangen. Das wisse er ganz genau. Deswegen sei er dann hierher 
gebracht worden. 

Körperlich: Großer Mann in mittlerem Ernährungszustand; eingefallene 
Wangen. Sitzt keuchend im Bett, kann sich nicht richtig hinlegen. Neuro¬ 
logisch o. B. Faßförmiger Thorax. Emphysem der Lungen. Atemgeräusch 
hinten unter den Schulterblättern, bronchial mit lautem Expirium. Schleimig- 
eitriger Auswurf. Herz nach links verbreitert. 1. Spitzenton paukend. 
2. Aortenton verstärkt. Blutdruck 145 mm Hg. Leib weich, schlaff. Leber 
vergrößert, druckschmerzhaft, ferner Druckempfindlichkeit unter dem Schwert¬ 
fortsatz. Kein Tumor. Keine Anzeichen von Magengeschwür. Urin o. B. 
Keine Ödeme. 

Psychisch: örtlich und zeitlich wohl orientiert. Leichte Herabsetzung 
der Merkfähigkeit. Keine Störung beim Bildererklären und Sprichwörter- 
deuten. Keine Halluzinationen, keine Wahnideen. Ist im Wesen sehr erreg- 
lich, grob und unverträglich, hat allerhand W T ünsche, will sofort wieder ent¬ 
lassen werden, der Kopf sei Gott sei Dank klar; erzählt trotz der Dyspnoe 
frisch und lebhaft. Klagt über Angstgefühle am Herzen, das würge ihm seinen 
Hals zu. 

Der Patient erholte sich rasch, war immer sehr gesprächig, erzählte von 
allem möglichen, was er noch vorhabe, will da- und dorthin reisen. 

In diesem Falle ist eine Einwirkung der Arteriosklerose auf die 
Gestaltung des psychischen Bildes nicht zu erkennen. An eine trieb¬ 
artige Erregung, die in einer Nacht abklingt, schließt sich ein Zu¬ 
stand gereizter Stimmung mit leicht manischer Färbung, mit Rede¬ 
drang, gehobenem Selbstbewußtsein und gesteigerten Ansprüchen an. 



35 


Die psychische Alteration setzt ein vor der Bildung von Ödemen 
bei leichter Stauung der inneren Organe und bei starker Atemnot mit 
Herzangst. Sie restituiert sich wieder zu einem Habitualzust^nd, der 
auch nicht als arteriosklerotische Demenz bezeichnet werden kann. 

Auch in anderen Fällen ist die Beeinflussung des psychischen 
Zustandes durch die Arteriosklerose fraglich. Wo der Ausgang zu 
einer völligen Wiederherstellung führt, darf man unbedenklich die 
überwiegende Bedeutung des pathogenetischen Moments der Dekom¬ 
pensation annehmen. Anders verhält es sich bei jenen Fällen, in 
denen der Ausgang durch einen Schwächezustand gebildet wird. 
Hier wird schwieriger die Beantwortung der Frage, wie groß der 
Anteil der Kompensationsstörung und der der Arteriosklerose an der 
Gestaltung des Krankheitsbildes ist. Ein besonders bemerkenswertes 
Beispiel dieser Art bildet der folgende Fall. 

6. F a 11. A n n a J., 56 Jahre alt, vom 21. 5. bis 12. 7. 1923 in Behand¬ 
lung der Frankfurter Klinik. 

Kommt aus dem Krankenhaus, weil sie sich nicht mehr im Bett halten 
ließ, schrie und herumtobte. 

Anamnese: Seit 32 Jahren verheiratet. 2 gesunde Kinder. Keine Mi߬ 
fälle. Mutter an Hirnschlag, Vater früh gestorben. Pat. war immer aufgeregt 
und reizbar, hatte während des Krieges sehr viel zu tun. Seit 1 Jahr herz¬ 
krank, war 4 Wochen in Nauheim, stetige Verschlimmerung, bekommt nachts 
keine Luft. Seit 4 Wochen geistig verändert, redete irr, Hammeldiebe hätten 
das ganze Land gestohlen, sie sei sehr reich geworden; sah Gestalten an der 
Decke, verkannte die Umgebung, wollte verreisen. 8 Tage lang soll sie nichts 
gesehen haben. 

22. 5. Sehr adipöse Frau mit schlaffer Muskulatur. Starke Zyanose der 
Lippen und der Akra. Hirnnerven frei. Pup.: Licht-Reaktion träge und wenig 
ausgiebig. Nystagmus beim Seitwärtsblicken in den Endstellungen. Visus 
nicht herabgesetzt Fundus normal. Rechts beginnender Katarakt. 

Herz: Grenzen nach links verbreitert. 2. Aortenton akzentuiert. Aryth- 
mia perpetuna. 

Leib: Starker Meteorismus. 

Starke Ödeme beider Beine. Knochenhautsehnenreflexe nicht auszulösen. 
Im Urin Eiweiß und hyaline Zylinder. 

Diagnose: Myodegeneratio cordis mit Dekompensation. 

Psychisch: Sie sei hier auf dein Hauptbahnhof oder auf dem Güterbahn¬ 
hof in Frankfurt; Ref. sei hier der Vorsteher, der das eingeleitet habe. Sie 
sei hier vernommen worden. Sie solle doch zum Postdienst genommen werden. 

Zeitlich völlig desorientiert, weiß den Tag nicht, behauptet, es sei jetzt 
1867, der Monat Mittwoch oder Donnerstag. Sagt statt der Monate die 
Wochentage auf, dann nach Einhelfen richtig. Name und Wohnung werden 
richtig angegeben, das Geburtsdatum mit 1821. (Alter?) ,,19. 9. 20, 21...“ 
(Verheiratet?) „Ja“. (Wie lange?) „Seit 20/21“. (Kinder?) „Ein Bub und ein 
Mädchen“. (Wie alt?) „21 und 22“. (Selbst erst 21?) „23“. Sieht den Wider¬ 
spruch nicht ein. Warum solle man nicht mit einem Jahr ein Kind bekommen. 

3 * 



36 


(Seit wann krank?) „Im Sommer krank geworden“. (Waß?) „Etwas am 
Magen, das muß geschnitten werden; der Pfarrer, der hat uns die Augen ver¬ 
dorben — die Frau dahinten muß den Kindern etwas eingestreut haben in die 
Pupillen.“ 

(7x9?) „49“. Spricht 6 Zahlen nach, weiß danach die Aufgabe nicht 
mehr, gibt selbst an, das Gedächtnis habe sehr nachgelassen. 

Erklärt Sprichwörter ganz gut, Unterschiedsfragen leidlich. (Wann war 
der Krieg?) „1900 — nein 19..., da war ich ja selber drin, da hab’ icn ja 
mitgeholfen“. (Mit wem?) „Mit wem denn jetzt?“ (Führer?) „Nun etwa 
Hindenburg, und wie heißen sie doch alle“. (Krieg zu Ende?) „Ja, schon im 
September, jetzt im September“. Alle Bewegungen, wie Kußhand, wischen, 
klopfen, nähen, drohen, Kaffeemühle usw., werden richtig ausgeführt. 

Sehr euphorisch, fühlt sich nicht krank. Konfabuliert viel, z. B. gestern 
habe sie ihre Schwester besucht usw. 

Abends wird Pat. unruhig, ruft dauernd, unterhält sich mit ihren Kin¬ 
dern, die sie anscheinend hört. 

In den nächsten Tagen unter Digitalisbehandlung wenig verändert, tags¬ 
über ruhig, nachts laut und erregt. 

29. 5. Herzschwäche, sehr starke Ödeme, vollkommene Areflexie. Keine 
Druckempfindlichkeit der Nervenstämme. 

Stimmung ganz heiter, Pat. ist völlig desorientiert, verkennt die Um¬ 
gebung, glaubt Bekannte vor sich zu haben, konfabuliert sehr viel von Besuch, 
Tätigkeit, verflossenen Ereignissen usw. Dabei sind auch Anzeichen von 
Wortfindungsstörung und Perseveration zu bemerken. 

Nachts .stöhnt und jammert Pat. laut. 

30. 5. Trotz Digitalis und Coffein noch keine Steigerung der Diurese. 
Psychisch unverändert. 

1. 6. Glaubt in Rostock zu sein, weiß aber, daß sie in einer Klinik ist, 
erkennt den Arzt. Perseveriert sehr stark bei Fragen nach Zeitangaben. 
Namen gibt sie richtig an, Alter mit 50 Jahren. Dann entspinnt sich folgende 
Unterhaltung: (Geboren?) „23... na, wie denn: August 52“. (Falsch.) (Wie 
alt?) „52 Jahre“. (Wohnung?) „Ich hab 1 gewohnt... bis jetzt in Frank¬ 
furt a. M., ich will in Schwerin wohnen mit meiner Familie“. (Wie lange 
hier?) „Vielleicht 3 Jahre... doch“. (Krank?) „Ich bin verrückt gewesen 
hier“. (Körperlich?) „Ganz gesund, nur mit dem Herzen ist da was. Das 
hat mein Onkel verschuldet, der hat erst das größte Herz genommen, dann das 
schlechte Herz. Der hat 8 Herzen gehabt, 2 oder 8. Die hat er nach Marien¬ 
burg gebracht. Mir zugunsten hat er das beste genommen. Da hat er mir 
das Herz gegeben für mein Herz. Das war ein Doppelherz“. (Vorhalt*) „Er 
hat es aber doch gehabt“. — Verworrene Wahnbildung. 

Merkfähigkeit herabgesetzt. 

Erzählt, heute nacht sei jemand dagewesen, so Menschenfresser oder so 
was. Das war wie ein Hexensabbath die Nacht. Mindestens 5—6 Personen 
seien in ihrem Einzelzimmer gewesen, 2 oder 3 kleine Hunde hätten sie gehabt. 
Einen furchtbaren Krach hätten die gemacht. 

Schreit plötzlich jammernd auf, ruft nach ihren Kindern: „Wo seid ihr 
denn? Kommt doch rein!“ 

Puls etwas regelmäßiger, 4x17 i. d. Min., klein, weich. Leberschwellung 
und Aszites haben zugenommen. 



37 


2. 6. Urinausscheidung geht rascher vor sich. Pat. sieht schlecht« Be¬ 
nennt viele Bilder richtig; wenn sie sie nicht erkennt, perseveriert sie die 
vorherige Benennung. Gebrauchsgegenstände werden richtig erkannt. 

4. 6. Hatte laut Wachbericht einen Anfall von kurzer Dauer. Zuckte 
mit dem Körper, ließ die Arme schlaff hängen, hatte Schaum vor dem Mund. 

9. 6. Psychisch unverändert. Diurese besser. 

12. 6. Zustand immer der gleiche. Aszites und Ödeme nehmen zu. 

15. 6. Auf Strophantin und Navasurol gute Diurese. 

19. 6. Psychisch unverändert, erschwerte Wortfindung tritt mehr hervor. 

23. 6. Ist sichtlich freier, jammert nicht mehr so viel. Amnestischer 
Symptomenkomplex besteht fort. 

28. 6. Im ganzen besser, Ödeme gehen zurttck. örtlich orientiert, viele 
Erinnerungsfälschungen. 

12. 7. Noch bestehen die Ödeme an den Beinen und in leichterem Grad 
an den Armen. Kein Aszites. Leber etwas vergrößert, örtlich dürftig, 
zeitlich nicht orientiert. Merkfähigkeit herabgesetzt. Erschwerte Wortfin¬ 
dung. Keine deliranten und halluzinatorischen Erscheinungen mehr, schläft 
nachts ruhig. Wird nach Hause entlassen. 

Der Überblick über diesen Fall läßt folgenden Verlauf erkennen: 
Infolge Arteriosklerose entwickelt sich bei einer 55jährigen Frau 
eine Myodegeneratio cordis, die nach etwa einem Jahr zur Kompen¬ 
sationsstörung führt. Nun treten psychische Störungen auf, zuerst 
nächtliche Erregung mit vorworrener Wahnbildung und Halluzinatio¬ 
nen, sich steigernd zu einem nächtlichen „Tobsuchtsanfall“. Tags¬ 
über besteht hierauf ein amnestischer Symptomenkomplex mit Des¬ 
orientiertheit und Konfabulationen, nachts Verwirrtheitszustände, 
teils halluzinatorischen, teils inkohärenten Charakters. Die Stimmung 
bleibt vorwiegend heiter. Eine ängstliche Färbung tritt nicht beson¬ 
ders hervor. In den freieren Zeiten sind Perseveration, Merkfähig¬ 
keitsherabsetzung und Wortfindungsstörung erkennbar. Einmal wird 
ein epileptiformer Anfall verzeichnet. Als nach mehrwöchigem Be¬ 
stand die Amentiazustände schwinden, bleibt der amnestische Sympto¬ 
menkomplex zurück, zugleich aber auch Merkfähigkeits- und Wort¬ 
findungsstörung. 

Es findet sich hier eine innige Verflechtung zweier Symptom¬ 
reihen, beide exogen verursacht, die eine im Zusammenhang stehend 
mit der Kompensationsstörung des Herzens, die andere mit der 
Arteriosklerose des Gehirns. Fraglos sind kardial bedingt die nächt¬ 
lichen Erregungszustände vom Amentiatypus, die einmal hyperkine¬ 
tisch, öfters halluzinatorisch oder mit Wahnbildung verworren inko¬ 
härent gefärbt erscheinen. Es zeigt sich das typische Schwanken mit 
den Tageszeiten. Andererseits sind die Merkfähigkeitsherabsetzung, 
die Wortfindungsstörung und der epileptiforme Anfall, wohl auch die 



38 


Perseverationsneigung auf Rechnung der destruktiven Wirkung der 
Arteriosklerose des Gehirns zu setzen. 

Einer besonderen Besprechung bedarf der Umstand, daß sich 
hier ein Korsakowscher Symptomenkomplex vorfand. Im vorigen 
Kapitel wurde gesagt, daß ein solcher bisher als Folge einer unkom¬ 
plizierten Herzschädigung nicht beschrieben worden ist. Hier ist der 
Vorbehalt gerechtfertigt, daß auch bei künftig speziell auf diesen 
Punkt gerichteter Aufmerksamkeit kein solcher Fall zur Beobachtung 
kommt. Vorläufig aber kann auf Grund der bisherigen Erfahrungen 
vermutungsweise der Satz ausgesprochen werden, daß erst bei der 
Komplikation mit Arteriosklerose die Noxe der Herzdekompensation 
einen chronischen reversiblen Schwächezustand wie den amnestischen 
Symptomenkomplex hervorzurufen in der Lage ist. Freilich ist auch 
eine andere Möglichkeit ins Auge zu fassen. Dieser Symptomen¬ 
komplex zeigt sich häufig, wie bekannt, als Folge chronischen Alko¬ 
holmißbrauchs und bei Presbyophrenen, dagegen seltener bei Arterio¬ 
sklerose; am ehesten trifft man ihn hier nach Apoplexie, wie Schrö¬ 
der hervorhebt. Die Apoplexie könnte gewissermaßen in einer 
Linie stehen mit der Himschädigung, wie sie in unserm Fall durch 
den langen Bestand der Herzdekompensation und der damit in Zu¬ 
sammenhang stehenden Ernährungsstörung des Gehirns verursacht 
ist. Dann wäre es also richtig, auch den amnestischen Symptomen¬ 
komplex als arteriosklerotisch bedingt aufzufassen. Wie dem nun 
auch sei, die Betrachtung dieser Erscheinungsform zeigt, daß sich 
über die Verflechtung der einzelnen exogenen Faktoren im Sympto- 
menbild hinaus auch eine enge Verkettung der somatischen Grund¬ 
lage in der Pathogenese vorfindet. 

Es soll an dieser Stelle nicht übergangen werden, daß wir in den 
beiden Gliedern der Herzdekompensation und der zerebralen Arterio¬ 
sklerose bei weitem noch nicht etwa die sämtlichen Hilfsmomente in 
der Hand haben, die notwendig zu der Herbeiführung eines amnesti¬ 
schen Symptomenkomplexes sind. Dessen sind Zeugen die übrigen 
in diesem Kapitel beschriebenen Fälle. Das Problem der Pathogenese 
eines solchen Zustandes liegt viel verwickelter und tiefer; hier ist nur 
eine an der Oberfläche liegende Seite derselben gestreift worden. 

Erleichtert bei den am Leben bleibenden Fällen der Ausgang der 
psychischen Störung die Analyse, so gestaltet ein tödlicher Verlauf 
die Beurteilung des Krankheitsbildes um so schwieriger, inwieweit 
vorwiegend die Herzstörung resp. die Arteriosklerose als ursächlicher 
Faktor im Symptomenbild und in der Pathogenese zu betrachten ist. 
Das Verhältnis kann, wie oben bereits an Beispielen klargelegt wor- 



89 


den ist, ein wechselndes sein. Trotz anatomisch nachweisbarer 
Arteriosklerose des Gehirns braucht die Symptomengestaltung nur 
wenige dafür charakteristische Züge aufzuweisen. Es kann vielmehr 
das Krankheitsbild so beschaffen sein, daß es sich von den im vori¬ 
gen Kapitel beschriebenen kardialen psychischen Störungen selbst bei 
längerer Dauer nur in geringfügiger Weise unterscheidet. Als Beleg 
für diesen Satz wird angeführt der folgende Fall Jacobs. Ein 
64jähriger Arteriosklerotiker mit Myodegeneratio cordis und De¬ 
kompensation erkrankt nach jahrelangem Bestand von Atembeschwer¬ 
den, Angst und Beklemmungsgefühlen und schlechtem Schlaf und 
plötzlichen Erregungszuständen bei allgemeiner Vergeßlichkeit und 
gesteigerter Ermüdbarkeit. Nachts äußerte er öfter paranoide Ideen 
und hatte Halluzinationen, tagsüber bestand Schwerbesinnlichkeit. 
Unter Zunahme der Ödeme liegt er tags gleichgültig und regungslos 
da, zeigt Perseveration und Echolalie, nachts hat er heftige Er¬ 
regungszustände mit völliger Desorientierung, Verkennung der Um¬ 
gebung und Halluzinationen. Nach 7 Wochen unter Zurücktreten der 
Ödeme regsamer, freier, äußert aber spärliche Verarmungsideen und 
Beeinträchtigungsideen, ist desorientiert, konfabuliert auch zuweilen. 
Es folgt ein kurzer Rückfall im körperlichen Befinden mit Desorien¬ 
tierung, Halluzinationen, Größen-, Verfolgungs- und Beeinträchti¬ 
gungsideen, motorischer Erregung, allmählich immer stärker werden¬ 
dem inkohärenten Rededrang. Es stellt sich Erbrechen und Cheyne- 
Stokessches Atmen ein. Doch erholt sich Pat. wieder mit Besserung 
der Herzkraft, zeigt noch eine Herabsetzung der Merkfähigkeit und 
vereinzelte Sinnestäuschungen, ist aber sonst völlig normal. Doch 
hält die Herzkraft nicht stand, nach einem delirösen Stadium verfällt 
Pat. in Benommenheit mit Cheyne-Stokesschen Atmen und stirbt nach 
wiederholtem Wechsel deliröser Zustände mit freien Intervallen. 

Die nächtlichen Erregungszustände bald mehr halluzinose- und 
amentiaartigen, bald mehr deliranten Gepräges, wechselnd mit rela¬ 
tiver Besonnenheit am Tage und das Schwanken dieser Erscheinun¬ 
gen entsprechend der Intensität der Herzstörung sind kennzeichnend 
für den ursächlichen Zusammenhang mit der Dekompensation des 
Herzens, wie ein Vergleich mit den im vorigen Kapitel geschilderten 
Fällen lehrt. Die tagsüber auftretenden Zustände wie Schwerbesinn¬ 
lichkeit und Apathie mit Perseveration und Echolalie können eben¬ 
falls mit der Herzkrankheit erklärt werden, dagegen verrät der rasch 
vorübergehende an einen amnestischen Symptomenkomplex erinnernde 
Zustand gemäß unsern obigen Darlegungen bereits den Einfluß der 
Arteriosklerose, ebenso wie die Herabsetzung der Merkfähigkeit in 



40 


den freien Intervallen und das Cheyne-Stokessche Atmen wahrschein¬ 
lich von arteriosklerotischen Hirnschädigungen abhängen. Der 
Hauptsache nach handelt es sich also doch um ein kardiogenes Irre¬ 
sein; hiermit finden wir uns in Übereinstimmung mit Jacob. Frei¬ 
lich vermag der von ihm mitgeteilte Obduktionsbefund nicht völlig zu 
überzeugen. Es bestand außer der schwieligen Myokarditis und den 
Stauungserscheinungen eine Atheromatose auch der basalen Gehim- 
artcrien, an der Großhirnrinde fanden sich Randgliose, Degeneration 
von Ganglienzellen bis zur Schattenbildung und Trabantzellenvermeh- 
rung. Hiermit ist wohl eine eigentliche arteriosklerotische Rin¬ 
denerkrankung nicht wahrscheinlich; aber ohne Untersuchung des 
Markes und der subkortikalen Ganglien kann man nicht viel Ent¬ 
scheidendes sagen. Jedenfalls scheinen die angestellten klinischen 
Erwägungen dafür zu sprechen, daß ein gewisser Grad von Arterio¬ 
sklerose auch das Himgewebe beeinträchtigt hat. 

Aus den vorstehenden Beobachtungen geht das eine klar hervor, 
daß bei dem Eintreten kardiogener Störungen bei Arteriosklerose das 
Mischungsverhältnis der Symptome ein wechselndes sein kann. Es 
gelingt auf dem Wege klinischer Analyse bis zu einem gewissen 
Grad die einzelnen Züge des Krankheitsbildes je der einen oder 
anderen der beiden Grundstörungen zuzuordnen. Dabei überwiegen 
entweder die Zeichen kardiogener Störung völlig, so daß aus dem 
Krankheitsbild garnicht die zugleich bestehende Arteriosklerose er¬ 
kannt werden kann, oder der Restzustand, der nach Abklingen der 
akuten Phase zurückbleibt, läßt den Einfluß der Arteriosklerose deut¬ 
lich werden. Wenn durch das Studium dieser Art Fälle der Blick 
geschärft ist, so kann auch die Durchforschung letal endender Fälle 
in ihrer Symptomatik Hinweise auf die Natur der jeweils ausschlag¬ 
gebenden Störung ergeben. Man wird die schwereren enzephalopathi- 
schen Störungen mit Herdsymptomen zuordnen der tieferen Zerstö¬ 
rung des Hirngewebes durch die Arteriosklerose, während diejenigen 
Züge, die der im vorigen Kapitel geschilderten Dekompensations¬ 
psychose entsprechen, auch hier mit der Herzstörung in einen patno- 
genetischen Zusammenhang gebracht werden. Hierbei handelt es 
sich zumeist um psychopathologische Phänomene mit ausgesproche¬ 
ner restituierender Tendenz, mit flüchtigem Charakter, wie sie auch 
bei den sogenannten funktionellen Psychosen gefunden werden. 

Des weiteren ergibt sich, daß eine bestimmte Verlaufsform dieser 
Störungen durch das Zusammenvorkommen von Herzstörung und 
Arteriosklerose bedingt erscheint, nämlich das Auftreten eines am¬ 
nestischen Symptomenkomplexes. Mindestens ist vorläufig ein sol- 



41 


eher bei rein kardiogenem Irresein noch nicht beobachtet worden. 
Bei dieser Sachlage ist zu erwägen, ob nicht die kardiogene Noxe bei 
Arteriosklerose in ähnlichem Sinne wirkt, wie das Vorkommnis eines 
apoplektischen Insultes. Auch nach diesem sehen wir gelegentlich 
bei der Arteriosklerose das Zustandekommen eines Korsakow. An¬ 
dererseits besteht die Möglichkeit, daß das durch die Arteriosklerose 
geschädigte Hirn die kardiogene Noxe nicht vollständig überwinden 
kann, so daß es infolgedessen zur Herausbildung eines Korsakow- 
schen Symptomenkomplexes kommt. 

Mit diesen Erörterungen ist bereits der Boden, lediglich sympto¬ 
matischer Betrachtung verlassen und derjenige pathogenetischer Un¬ 
tersuchung betreten. Die erste hierbei auftretende Frage ist freilich 
zur Zeit nicht mit Sicherheit zu beantworten; die beiden obigen Er¬ 
klärungsmöglichkeiten bieten den gleichen Grad von Wahrscheinlich¬ 
keit und gestatten keine Entscheidung. Bei der eingehenderen Be¬ 
schäftigung mit den pathogenetischen Grundlagen sind ferner fol¬ 
gende Gesichtspunkte zu beachten. Die Häufigkeit kardiogener Stö¬ 
rungen scheint durch eine zugleich bestehende Arteriosklerose nicht 
vermehrt; sonst müßte wohl die Durchsicht der Literatur und auch 
die eigene Beoachtung zahlreichere Fälle zutage gefördert haben, 
zumal Herzerkrankungen bei Arteriosklerose ja durchaus nicht zu 
den Seltenheiten gehören. Ferner ist hier wohl auch kein Unterschied 
zu bemerken in der Richtung, als die Störungen im Zusammenhang 
stehen vorzugsweise mit dem Auftreten oder der Resorption von 
Ödemen. Eine besondere konstante Färbung der Zustandsbilder im 
Sinne der Angst zeigt, sich nicht. Die Zustandsbilder selbst sind 
meist heteronom, also exogene Reaktionstypen. 

Eine Abänderung der kardiogenen Noxe in pathogenetischer 
Hinsicht findet also durch die Arteriosklerose zunächst nicht statt, 
nur erscheint der Verlauf beeinflußt, wie das Auftreten des amnesti¬ 
schen Symptomenkomplexes lehrt. Auf die symptomatologische 
Mischung im Krankheitsbild ist bereits oben hingewiesen worden. 

Im scheinbaren Gegensatz zu den hier vorgetragenen Anschau¬ 
ungen steht die bereits in der Einleitung erwähnte Feststellung 
de Monchys, daß bei herzkranken Arteriosklerotikem eine ängst¬ 
liche Färbung des Zustandsbildes besonders häufig sei. Bei der Un¬ 
tersuchung dieses Umstandes ist hervorzuheben, daß de Monchy 
dieses Ergebnis gewonnen hat aus der Prüfung des psychischen Zu¬ 
standsbildes bei der Arteriosclerosis cerebri überhaupt. Diese Frage¬ 
stellung der Beeinflussung eines Zustandsbildes einer psychischen Er¬ 
krankung durch eine zugleich bestehende Herzkrankheit greift über 



42 


den Rahmen des vorliegenden Problems ja eigentlich hinaus; ein¬ 
gehender werden wir uns damit erst im 5. Abschnitt beschäftigen. 

Allerdings gibt hier diese Beobachtung Veranlassung zu der 
Frage, wie sich der andere Typ kardiogener psychischer Störung, wie 
wie wir ihn im Fall Georg B. beschrieben haben, beim gleichzeitigen 
Bestehen einer Arteriosklerose verhält. Die Erwägung des Um¬ 
standes, daß in diesem Fall die paroxysmalen Angstanfälle das Kenn¬ 
zeichnende bilden, bietet von vornherein die Aussicht, zugleich einen 
weiteren Einblick in den Mechanismus des psychopathologischen Ge¬ 
schehens im arteriosklerotischen Seelenleben gewinnen. Es wird da¬ 
bei ausgegangen von dem folgenden Fall, der leider den Nachteil hat, 
daß er sehr rasch tödlich endete. 

7. Fall. HenriquedeM.,56 Jahre alt, in Behandlung der Gießener 
Klinik vom 15. 7. bis 21. 7. 1899. 

Anamnese: Früher nie krank, von Jugend auf sehr intelligent, war bei 
verschiedenen Regierungen als Gesandter tätig, erkrankte vor einem halben 
Jahr mit Atemnot; es zeigten sich eine hochgradige Arteriosklerose, eine Myo- 
degeneratio cordis mit Hypertrophie des linken Ventrikels und eine Stauungs¬ 
nephritis. Hatte in der letzten Zeit die schwersten Atembeschwerden, konnte 
nur mit Morphin schlafen und war sehr niedergeschlagen, hatte Heimweh, 
glaubte sterben zu müssen, war sehr schwach und hinfällig. 

Am Montag, den 10. 7. 99, abends, klagte Pat. über Schwäche im linken 
Arm, ohne daß mit Sicherheit eine Parese gefunden werden konnte. Am 
Dienstag früh war nach seinen Angaben das Sehvermögen vermindert; er 
erblickte Feuerräder vor den Augen. Rechts fand sich eine blasse Papille mit 
Excavation. Dabei bestand Ungleichheit der Pupillen. Finger wurden durch 
die ganze Stube gezählt, kleiner Druck gelesen. Pilokarpineinträufelungen. 
Zum ersten Male die Behauptung, daß die Schwester ihn vergiften wolle; daher 
Wechsel mit derselben. 

Am 12. 7. waren die vorher etwas geröteten Augen blaß, die Pupillen 
gleichweit, aber der linke Arm paretisch. 

Am 13. 7. war auch der linke Fuß etwas schwächer, aber die Erscheinun¬ 
gen des Glaukoms auf dem linken Auge schwanden. Dagegen mehrte sich die 
Angst vor Vergiftung durch die Umgebung, rief nach der Polizei. 

Am 14. 7. steigerte sich die Angst. Pat. verweigerte die Nahrung, wollte 
mehr Arzte sehen; kam einer, so meinte er sofort, es wäre ein Feind usw.; 
Einspritzungen lehnte er ab, durch diese würde er getötet. Dabei schrie und 
lärmte er, schlug auf die Umgebung los, versuchte unbekleidet aus dem Zim¬ 
mer zu laufen. Nachts blieb er nicht im Bett, blieb schlaflos. Trank nur 
Milch, wenn die Schwester mittrank. Man habe ihm Gift in die Speisen getan. 
Dehnt sein Mißtrauen von dem behandelnden Arzt auf alle Deutschen aus. 
Beschwert sich über unwürdige Behandlung. Wenn seine Regierung das er¬ 
fahre, würde es Krieg geben. Hält sich für blind, schreibt undeutlich, gewöhn¬ 
lich nur den ersten Buchstaben richtig, dann unklare Schriftzeichen. Die 
Merkfähigkeit ist schlecht, vergißt sofort den Namen des Untersuchenden. 
Sprache langsam, Gang flott. 



43 


Am 15. 7. früh um 10 Uhr schwerer Angstzustand. Pat. lief auf den Hof 
und rief um Hilfe, beruhigte sich auf Zureden; wurde darauf in die Klinik 
gebracht. 

Macht einen sehr schwachen Eindruck, muß sich tragen lassen. Schwitzt 
stark an Stirn und Wangen. Als er vom behandelnden Arzt in französischer 
Sprache angesprochen wird, beruhigt er sich und berichtet, was er für eine 
Angst in Nauheim ausgestanden habe, da er von deutschen Mördern und Ver¬ 
brechern umgeben gewesen sei. Kommt immer wieder darauf zurück, daß ihn 
die Deutschen vergiften wollten. Fragt, wo er hier sei. Meint, in Gießen sei 
seine Mutter früher in Behandlung gewesen und gestorben. 

Körperlich: Halsvenen verbreitert. Lungen o. B. Herz in normalen 
Grenzen. Töne rein, 4umpf. Puls klein, hart, beschleunigt. Leber ver¬ 
größert. Kein Aszites, ödem der Beine. 

Läßt sich ruhig untersuchen, fragt nur ab und zu den Arzt, ob er ein 
Deutscher sei. 

16. 7. In der vergangenen Nacht schlaflos, wirft sich herum, schwitzt 
stark, stöhnt und jammert, hat öfters Anfälle von Dyspnoe, hält die Augen 
geschlossen, spricht leise und unverständlich vor sich hin. 

Temp. 36,5. Puls regelmäßig, 110—120 i. d. Min. Bisweilen rasch vor¬ 
übergehende Verziehungen des rechten Mundwinkels und vereinzelte Sto߬ 
bewegungen des rechten Armes; linke Pupille weiter als die rechte. Der Urin 
enthält 3 °/®o Eiweiß, keinen Zucker. 

Verlangt ein Notizbuch, um chronologische Aufzeichnungen über seine 
Person zu machen, ist öfters noch sehr ängstlich, klammert sich an den einen 
Arzt, den er als Freund bezeichnet. Meint gelegentlich, es sei nicht alles ernst 
zu nehmen, was er in Nauheim gesagt habe, will Aufzeichnungen hierüber 
machen. Klagt über Sehschwäche, versucht seinen Namen zu schreiben, was 
ihm trotz der Gläser nicht gelingt. Bittet, man möge ihm Tropfen ins Auge 
tun. Hat beständig Durst. Nimmt außer Zitronenlimonade keine Nahrung. 

Nachmittags 4 Uhr: Stöhnt und jammert fortwährend, schwitzt stark: 
„Bitte, bitte, es ist so warm; ich muß sterben!“, fleht den Arzt an, um Gottes 
willen ihm die Hitze zu nehmen, seinem Leben ein Ende zu machen. Klagt 
über Schwäche, vermag sich nicht von selbst aufzurichten. Versichert wieder¬ 
holt, daß er Gesandter sei, daß es eine Schande sei, daß man ihn in Deutsch¬ 
land sterben lasse, beschwört, daß die Deutachen die Absicht haben, ihn zu 
töten. Fleht den Arzt an: „Retten Sie mich, retten Sie mich, retten Sie einen 
Mann, ich liege hier wie ein Hund und bin Gesandter eines großen Staates. — 
25 Jahre, 25 Jahre...“ Spricht ziemlich laut und pathetisch. Glaubt, man 
hätte ihn mit der Morphiuminjektion töten wollen. Erzählt in großen Zügen 
seine Lebensgeschichte; betont stets von neuem, daß er ein angesehener Mann 
und Gesandter sei. Verspricht dem Arzt reiche Belohnung, wenn er ihn zu 
retten vermöchte. Besinnt sich auffällig schwer auf die einzelnen Namen, muß 
fortwährend im Lauf des Gespräches an Bad Nauheim und den dortigen Arzt 
erinnert werden. Hat sich auch hier trotz wiederholten Nennens keinen 
Namen gemerkt. Hält an der Idee fest, daß Dr. M. und namentlich dessen 
Frau gegen ihn intrigiert hätten und ihm feindlich gesinnt seien. Seine Er¬ 
blindung und seine Lähmung sieht er als das Werk seiner Feinde an. Diktiert 
dem Arzt mehrere gleichlautende Telegramme: Gouvernement B., R. de J. Pa¬ 
ralyse, aveugie ici par le docteur M. de Nauheim, je suis par des circonstances 



44 


que j’expliquerai apr£s; je demands protection gouvernement b. et aüemand. 
de M.“ Bietet als Entgelt dafür seine Uhr an. Läßt den Arzt fünfmal hinter¬ 
einander rufen, will stets von neuem das Telegramm vorgelesen haben. 

Gibt an, doppelter Dr. zu sein, schreibt seinen Namen und den des Dr. M. 
ohne Brille, schreibt einzelne Buchstaben doppelt. 

Gegen abend ganz unvermittelt einsetzende starke Erregung von kurzer 
Dauer. Springt plötzlich aus dem Bett, läuft durch den Saal auf den 
Korridor, sucht ein Fenster einzuschlagen, schimpft und schreit, stößt den 
nacheilenden Pfleger zur Seite, stampft mit den Füßen auf, sagt, man 
hintergehe ihn, weil er auf die von ihm abgesandten Depeschen noch 

keine Antwort habe. Meint, sein Zutrauen zu den Gießener Ärzten sei 

nun auch untergraben. Auch hier sei er von Mördern umgeben, droht 

dem Arzt, daß seine Regierung sich eine solche Behandlung ihres Ge¬ 

sandten nie gefallen ließe, schwört in pathetischer Weise, daß der Arzt, seine 
Familie, das ganze Deutsche Reich dem Untergang geweiht seien. Läßt sich 
durch Zureden relativ rasch beruhigen. 

Verlangt ein Beefsteak, Kakao und heiße Milch, ißt das Fleisch zur Hälfte, 
läßt sich den Kakao und die Milch vom Pfleger vortrinken. Erhält Digitalis 
und Diuretin. 

Gegen 10 Uhr abends heftige Erregungsszene gelegentlich einer Morphin¬ 
injektion. Sehr rasche Beruhigung; günstige Wirkung. 

17. 7. Nachts nur wenige Stunden Schlaf. Gegen 4 Uhr morgens Kollaps. 
Starker Schweißausbruch. Puls flatternd, kaum zu fühlen. Temperatur 
39° C. Auf Fragen gibt Pat. leidlich korrekte Antworten. 

Erkundigt sich morgens, ob er schon gestorben sei. Als ihm wider¬ 
sprochen wird: „Das glaube ich doch nicht, ich bin schon gestorben. 44 Be¬ 
hauptet stets von neuem, er sei von Mördern umgeben, man wolle ihn töten. 
Geht zuweilen aus dem Bett und ans Fenster, um auf der Straße die Polizei 
zu rufen. 

Temperatur schwankt zwischen 37,9 0 und 39 0 C. 

Der Harn enthält hyaline und granulierte Zylinder, viel rote Blutkörper¬ 
chen und Epithelzellen. Die Ausscheidung ist gering. 

18. 7. Schlief nachts sehr wenig, stöhnte fortwährend. Puls 130 bis 140 
i. d. Min., zuweilen dikrot. Cheyne-Stokesscher Atemtypus, heftige Schwei߬ 
ausbrüche. Kurzdauernde Kollapszustände, in denen Kampher verabreicht 
wird. Temperatur zwischen 37,7° und 38,7° C. Urinmenge in 24 Stunden 
300 ccm. 

Meint, die Luft wäre voll Gift, bittet, man möge sein Trinkglas bedecken. 
Klagt, er sehe so schlecht, es fliege ihm fortwährend etwas vor den Augen, wie 
eine flimmernde Bewegung. Verlangt, daß man die Speisen vorkoste. 

19. 7. Nachts Behr mangelhafter Schlaf, heftige Schweißausbrüche. Un- 
gemein beschleunigter Puls, 140—160 i. d. Min. Zustand von Somnolenz. 
Deutlicher Verfall der Kräfte. Klagt selbst über Schwäche, verlangt starken 
Wein und kräftige Bouillon. Nimmt sehr wenig Nahrung. Temp. zwischen 
36,8° und 37,5° C. Fürchtet sich vor jedem Unbekannten, öfters treten 
Zuckungen in den unteren und oberen Extremitäten auf. 

20. 7. Urin wenig getrübt, enthält 1 Eiweiß. Temp. 36,3° C. Pro¬ 
fuser Schweißausbruch. Große Schwäche und Prostration. Beständiges Stöh¬ 
nen. Flatternder Puls, 



45 


21. 7. Zunehmender Verfall der Kräfte. Gegen 8 Uhr abends Kollaps 
mit Cheyne-Stokesschem Atmen und kleinen, dikroten, zuweilen aussetzendem 
Puls. Nach Kochsalzinfusion leichte Besserung. Sehnenreflexe erloschen. 
9 Uhr abends Exitus letalis. 

Zusammenfassend läßt sich über diesen Fall folgendes sagen: 
Ein hochintelligenter Diplomat, der seit einem halben Jahr an einer 
arteriosklerotisch bedingten Herzaffektion leidet, wird zuerst nieder¬ 
geschlagen und hat Todesahnungen, dann erkrankt er, während sich 
ein Glaukom und eine leichte linksseitige Parese entwickeln, an einer 
reizbar mißtrauischen Verstimmung, glaubt sich Nachstellungen und 
Vergiftungen ausgesetzt. Dabei treten paroxysmale Angstanfälle auf, 
in denen Pat. um Hilfe schreit und sich mit dem Ausdruck schwerster 
Angst an einzelnen Personen festklammert. Der Schlaf ist sehr un¬ 
ruhig. Halluzinationen und Desorientiertheit sind nicht nachweis¬ 
bar. In den Anfällen von Dyspnoe äußert er Todesahnungen, bittet 
um Erlösung; in den Zwischenzeiten sucht er durch Versprechungen 
und Drohungen seine Rettung vor der vermeintlichen Vergiftungs¬ 
gefahr zu bewirken, zeigt sich dabei etwas schwer besinnlich. Dann 
setzt ganz unvermittelt eine starke zornige Erregung ein, weil er sich 
hintergangen glaubt, stößt allerlei Drohungen aus. Ferner wehrt er 
sich mißtrauisch gegen eine Injektion. Nach Schlaf und nach einem 
Kollaps wird er schwächer, glaubt, er sei schon gestorben, versucht 
noch zuweilen die Polizei zu rufen. Auch am folgenden Tage ent¬ 
wickelt er Vergiftungsideen; die Schwäche nimmt zu. Unter den 
Zeichen der Herzschwäche stirbt Pat. in wenigen Tagen, nachdem 
noch Zuckungen in der rechten Körperseite aufgetreten sind. 

Die symptomatologische Betrachtung enthüllt auch hier wieder 
ein Mischbild. Durch die Arteriosklerose erscheinen die Herd¬ 
symptome von seiten des Gehirns bedingt, die wechselnden Paresen, 
die Klonismen, das Cheyne-Stokessche Atmen. Dagegen sind die 
paroxysmalen Steigerungen der Angst abhängig von den durch die 
Herzerkrankung hervorgerufenen Anfällen von Dyspnoe. Dabei fin¬ 
den sich auch die charakteristischen Todesahnungen, die Erstickungs¬ 
furcht und die suizidalen Neigungen, um erlöst zu werden, Erschei¬ 
nungen, wie sie ganz ähnlich auch im Fall Georg B. beobachtet 
wurden. 

Entsprechend dieser symptomatologischen Mischung deckte der 
Obduktionsbefund neben einer Myokarditis mit Erweiterung des rech¬ 
ten Ventrikels eine Atheromatose an den basalen Arterien und eine 
frische Blutung im linken Hinterhauptlappen auf. Außerdem be¬ 
stand noch eine interstitielle Nephritis. Auf diese Komplikation 
wird später an der Hand eines anderen Falles eingegangen werden. 



46 


Der Vergleich des vorliegenden Falles mit dem Fall Georg B. 
lehrt nun weiterhin, daß noch ein drittes Element in dem klinischen 
Bild enthalten ist außer den paroxysmalen Angstanfällen und den 
sicher arteriosklerotisch verursachten grob organischen Störungen, 
und zwar bezieht sich dies auf die reizbar paranoische Verstimmung. 
Hier findet sich die Auslösung eines im Kleistschen Sinne homo- 
nomen Symptomenkomplexes; es erscheint nur ungewiß, ob die Ar¬ 
teriosklerose oder die Herzstörung das provozierende Agens bilden. 
Eine Entscheidung in dieser Frage muß ins Belieben des Lesers ge¬ 
stellt werden. Bemerkenswert ist aber, wie diese paranoische Stim¬ 
mungslage, ohne zu gröberen Verkennungen oder Sinnestäuschungen 
zu führen, die durch die Dyspnoe veranlaßte affektive Steigerung 
von der ursprünglichen Angtsentladung in eine zornig-gereizte Er¬ 
regung umwandelt, bei der sich das Selbstgefühl des Kranken in wil¬ 
den Drohungen kundtut. Dabei soll noch besonders das Fehlen auch 
optischer Halluzinationen betont werden, obgleich das beginnende 
Glaukom erleichternd auf ihr Zustandekommen einwirken sollte. 

Im allgemeinen Zusammenhang scheint dieser Fall deswegen 
interessant, weil hier die Wirkung der von dem kranken Herzen 
stammenden Mißempfindungen im Sinne der Angst auf die Gestaltung 
des psychischen Krankheitsbildes studiert werden kann. Die mi߬ 
trauisch-gereizte Stimmungslage läßt aus den Angstgefühlen ver¬ 
meintliche Bedrohungen entstehen. Die Vergiftungsideen sind inhalt¬ 
lich bestimmt durch die Stimmungslage und als Objektivierung durch 
Organgefühle bedingter Wahrnehmungen, ebenso wie ein Erklärungs¬ 
wahn psychisch determiniert ist. Dieser Umstand der inhaltlichen 
Beeinflussung des Seelenlebens durch Organgefühle ist in diesem Fall 
mit seinen paroxysmalen Angstanfällen zwar besonders deutlich, aber 
sein Vorhandensein ist auch dort nicht zu bestreiten, wo der Zu¬ 
sammenhang nicht so durchsichtig ist. Es ist sonach anzunehmen, 
daß die ängstliche Färbung des psychischen Krankheitsbildes bei 
herzkranken Arteriosklerotikern inhaltlich bestimmt ist durch ab¬ 
norme Organempfindungen im Sinne der Beklemmung, auch wenn 
eine klar bewußte Verarbeitung nicht erfolgt. Allerdings scheint ein 
gewisser Grad von Besonnenheit erforderlich zu sein, damit eine Ver¬ 
knüpfung der Angstempfindung mit andern psychischen Elementen 
stattfinden kann, sei es im Hinblick auf die Umwandlung einer de¬ 
pressiven Stimmungslage in eine ängstliche, sei es inbezug auf die 
Weiterbildung von Wahnideen zu solchen der Beeinträchtigung und 
Bedrohung. 



47 


Hieraus geht hervor, daß die beiden Typen kardialer Einflu߬ 
nahme auf die Psyche in ganz verschiedenen Ebenen der Persön¬ 
lichkeit liegen; der eine Typus, das eigentliche kardiogene Irresein, 
wirkt durch eine noch unbekannte Noxe vor allem auf den formalen 
Ablauf des Seelenlebens, erzeugt zumeist exogene Reaktionstypen im 
Sinne Bonhöffers, der andere Typus beeinflußt das Seelenleben 
inhaltlich nach der Richtung der Angst, sie stellt eine psychische De¬ 
terminante im pathogenetischen Geschehen dar. Dieser zweite Typus 
der von einer Herzerkrankung ausgehenden psychischen Störungs¬ 
form tritt bei der Arteriosclerosis cerebri klarer hervor, als bei un¬ 
komplizierten Fällen; das liegt daran, daß erst bei einer anderweiti¬ 
gen Störung des Seelenlebens die pathologische Wirkungsmöglichkeit 
eines auch im Normalen vorhandenen psychischen Elements sichtbar 
wird. Birnbaum würde hier von Pathoplastik sprechen, aber u. E. 
wird durch eine solche Schematisierung die lebensvolle Klarheit des 
wirklichen Vorganges eher verdunkelt als beleuchtet; denn patho- 
plastisch wirken ja auch viele andere Faktoren, die Lebenserfahrung, 
das Wissen, die Anschauungen des Kranken, die man kaum geneigt 
sein wird, in eine Reihe mit Empfindungen zu setzen, die durch patho¬ 
logische Veränderung eines Organs erzeugt werden. Die patholo¬ 
gische Angst des herzkranken Arteriosklerotikers entsteht dadurch, 
daß die normale Angstempfindung des Herzleidenden auf einen patho¬ 
logisch veränderten Grundzustand der Seele stößt; die pathologische 
Angst in der Psychose, wie sie sich sonst häufig findet, kann direkt 
aus der pathologischen Veränderung der Psyche erwachsen, sei es, 
daß diese Wahnvorstellungen, sei es, daß sie Sinnestäuschungen her¬ 
vorbringt. 

Die schärfere Formulierung der beiden kardiogenen Erkran¬ 
kungsformen ergibt sich aus den Beobachtungen an Arterioskleroti- 
kern mit genügender Klarheit. Das Verhältnis dieser beiden zuein¬ 
ander bedarf aber noch einiger erläuternder Worte. Daß ein kardio¬ 
genes Irresein ausgeht in eine durch kardiale Mißempftndungen ängst¬ 
lich gefärbte arteriosklerotische Demenz, dafür stehen uns weder 
fremde noch eigene Erfahrungen zur Verfügung. Dagegen ist uns 
ein Beispiel bekannt, das zur Entscheidung der Frage geeignet ist, wie 
sich durch Herzerkrankung ängstlich gefärbtes Zustandsbild beim 
Auftreten einer Herzdekompensation verhält. Da diese Fragestel¬ 
lung zu dem Thema des Verlaufs von Psychosen bei Herzstörungen 
im engeren Sinne als hierher gehört, soll dieser Fall im Eingang des 
fünften Kapitels seine Darstellung erfahren. Hier wird nur kurz be¬ 
merkt, daß ein Übergang des einen Krankheitstypus in den andern 



48 


wegen der Verschiedenheit in ihrer Struktur nicht wahrscheinlich ist, 
ja selbst bei seinem Vorkommen als mehr oder minder zufällig impo¬ 
nieren würde. 

Zum Schluß sei noch die Frage kurz gestreift, ob Herzerkran¬ 
kung bezw. -dekompensation als auslösend für das arteriosklerotische 
Irresein anzusehen ist. Die Erfahrung der Klinik läßt uns dies ver¬ 
neinen, besonders entschieden aber muß in Abrede gestellt werden, 
daß die Herzstörungen in dieser Beziehung bei der Arteriosklerose 
eine irgend erhebliche Bedeutung besitzen. In dieser Hinsicht führen 
unsere Beobachtungen zu einem negativen Ergebnis, wenn auch zu¬ 
gegeben werden mag, daß ab und zu das erste Auftreten von Ödemen 
oder anderen Insuffizienzerscheinungen in den Beginn eines arterio¬ 
sklerotischen Demenzprozesses fallen mag. Der einzige Fall, der so 
gelagert schien, ist doch noch etwas verwickelter, so daß wir auf 
ihn erst im Laufe des 5. Abschnitts zu sprechen kommen werden. 



Die kardiogenen psychischen Störungen 
bei weiteren Komplikationen. 

Die Untersuchung des Einflusses kardialer Störungen bei gleich¬ 
zeitig bestehender Arteriosklerose stellt einen Ausschnitt aus dem 
umfassenden Thema der Wirkung solcher Störungen bei organischen 
Veränderungen des Gehirns, ja bei andersartigen organischen Ver¬ 
änderungen des Körpers überhaupt dar. Dieses Thema bildet den 
Gegenstand des vorliegenden Abschnitts; es kann seiner Reichhaltig¬ 
keit und seinem Umfang entsprechend nur kursorisch behandelt werden, 
indem an Hand einschlägiger Fälle die betreffenden Fragen kurz ge¬ 
streift werden. Der einzuschlagende Weg wird wohl etwas willkür¬ 
lich und verschlungen erscheinen; aber eine systematische Darstel¬ 
lung würde den Rahmen dieser Arbeit bei weitem übersteigen und 
außerdem wohl auch die Kraft und die Erfahrungen des Einzelnen. 
Schon bei der hier vorgesehenen Behandlung muß Verwertung des in 
der Literatur niedergelegten Materials vielfach den Mangel eigener 
Beobachtung ersetzen. 

So ergeht es gleich im Beginn bei der Frage nach dem Einfluß 
des Herzens im Krankheitsbild der progressiven Paralyse. Im all¬ 
gemeinen ist es ja bemerkenswert, wie wenig die so häufige Aorten¬ 
lues bei der Paralyse und Tabes klinisch in die Erscheinung tritt. 
Um so begrüßenswerter ist folgende Mitteilung Ewalds, die auf 
einer Beobachtung Kleists in der Erlanger Klinik beruht. 

Ein 65jähriger Tabiker, der schon seit 8 Jahren arbeitsunfähig 
ist, allmählich reizbar, später teilnahmslos wurde, bekam Ödeme und 
wurde nachts unruhig und furchtsam, glaubte sich von Einbrechern 
bedroht; erlitt einige Anfälle, war sehr mißtrauisch und feindselig 
gegen die Angehörigen. In der medizinischen Klinik zeigten sich 
enorme Ödeme, erhöhter Blutdruck, geringe Albuminurie, schwacher 
Puls, deutliche Zeichen einer Aorteninsuffizienz bei Lichtstarre der 
Pupillen, fehlenden Sehnenreflexen und beginnender artikulatorischer 
Sprachstörung. Nachts wird er unruhig, schimpft und lärmt, ver¬ 
läßt dauernd das Bett. Tagsüber zeigt er sich desorientiert und ideen¬ 
flüchtig, verkennt die Umgebung. Die Merkfähigkeit ist herabgesetzt, 
die Stimmung ist meist heiter, zuweilen zornig oder ängstlich. Auch 

Leyeer, Herzkrankheiten und Psychosen. (Abhandl. H. 25 .) 4 



50 


in der psychiatrischen Klinik euphorisch, redet viel, verkennt Um¬ 
gebung und Gegenstände; besonders nachts ist er sehr unruhig, 
schreit und schimpft. Stirbt nach kurzer Zeit plötzlich. Wassermann- 
sche Reaktion im Blute negativ, im Liquor positiv. In diesem 
Eiweiß- und Zellvermehrung. 

Da sich in diesem Fall histopathologisch die Anzeichen einer 
wenn auch geringfügigen progressiven Paralyse fanden, ist gewiß 
Vorsicht in der Beurteilung vonnöten. Aber in Übereinstimmung mit 
Kleist und Ewald muß es für wahrscheinlich erachtet werden, 
daß das Zusammentreffen der schweren Herzdekompensation mit dem 
deliranten Zustand nicht zufällig, sondern ursächlich verknüpft ist. 
Dafür spricht auch die Symptomatologie der Störung mit ihren 
nächtlichen Exazerbationen, während die euphorische Grundstim¬ 
mung sehr wohl mit der paralytischen Veränderung des Gehirns Zu¬ 
sammenhängen kann. Es findet sich hier die Überlagerung zweier 
exogener Schädlichkeiten, wie wir ein solches Verhalten auch im 
vorigen Kapitel wiederholt getroffen haben. Ob dabei freilich die 
Paralyse auslösend auf das Auftreten der kardiogenen Psychose ge¬ 
wirkt hat, muß sehr in Zweifel gezogen werden; denn solche Vor¬ 
kommnisse sind viel seltener, als es bei dem Auftreten der beiden 
Grundstörungen möglich wäre. Hier sei zugleich erwähnt, daß der 
obige Fall außerdem noch durch eine Arteriosklerose kompliziert war. 

Des Weiteren ist zu bemerken, daß die Dekompensationsstörung 
des Herzens nicht auslösend wirkt auf den Ausbruch der progressiven 
Paralyse. Dagegen läßt sich noch wenig sagen über die Beeinflussung 
der Stimmungslage und die weitere Gestaltung der Paralyse durch das 
Bestehen stärkerer kardialer Beschwerden. Zuvorderst könnte man 
hier einwenden, ob nicht die Stumpfheit und Unempfindlichkeit des 
Paralytikers die Wahrnehmung und die Verarbeitung dieser Be¬ 
schwerden aufheben. Aber entscheiden kann in dieser Frage nur eine 
statistische Bearbeitung in ähnlicher Weise, wie sie von de Monchy 
für die Arteriosklerose inanguriert worden ist. Es muß untersucht 
werden, ob die ängstliche Färbung der Paralyse der Stärke der Herz¬ 
erkrankung parallel geht oder wenigstens mit ihr häufiger wird. Vom 
Ergebnis dieser Untersuchung muß die Beantwortung der Frage nach 
dem Einfluß kardialer Mißempfindungen auf die Gestaltung des Krank¬ 
heitsbildes bei progressiver Paralyse abhängig gemacht werden. 

Häufiger als bei der Paralyse finden sich psychische Störungen 
infolge von Herzleiden bei der Lues überhaupt. Hier stehen uns 
vielfache Erfahrungen aus der Literatur zu Gebote. Saathoff hat 
diesen Störungen, wie bereits in der Einleitung vermerkt, eine be- 



51 


sondere Rolle hinsichtlich der Pathogenese und der Symptomatologie 
zusprechen wollen. Darum muß an dieser Stelle auf diese Frage mit 
kurzen Worten eingegangen werden, und zwar geschieht dies am 
besten an der Hand eines Falles, den Jacob berichtet. Ein (^jäh¬ 
riger Luetiker, der seit Jahren an Aorteninsuffizienz mit Atemnot 
leidet, bekommt Ödeme und schläft sehr schlecht. Tagsüber ist er 
ruhig, gut orientiert, gibt richtig Bescheid und verhält sich natür¬ 
lich. Nachts treten Erregungszustände auf, in denen er aus dem 
Bett springt, halluziniert, ängstlich um Hilfe ruft, die Umgebung ver¬ 
kennt. Dieses stets wechselnde Bild hält bis zu dem nach 7 Tagen 
erfolgenden Tode an. Der Blutdruck betrug 165 mm Hg, die Wa.-Re. 
war positiv. Hier liegt ein Typ der Erkrankung vor, wie er gewisser¬ 
maßen klassisch ist für Dekompensationspsychosen, kurzdauernde, 
nächtliche, halluzinatoseartige Erregungszustände mit freien Inter¬ 
vallen am Tage. Vergleicht man dies Bild mit dem, das Saathoff 
entwirft, angstvolle Verwirrtheit, Halluzinationen mit großer motori¬ 
scher Erregung, so ergibt sich eine gute Übereinstimmung. Dagegen 
kann nicht behauptet werden, daß ein grundlegender Unterschied 
besteht zu den psychischen Störungen bei Herzleiden ohne Lues. Die 
genauere Beachtung des fraglichen Gebietes wird ohne Zweifel noch 
andere psychische Reaktionstypen zu Tage fördern, wie sie bei den 
sonstigen Herzpsychosen Vorkommen. Besonders aber muß die An¬ 
sicht Saathoffs bezweifelt werden, daß die anatomische Schädi¬ 
gung des Gehirns durch die Lues dasjenige Bindeglied sei, durch das 
das Auftreten der Psychosen in solchen Fällen bedingt wird. Da¬ 
gegen spricht schon die Seltenheit solcher Psychosen im Gegensatz 
zu der großen Verbreitung der Lues mit Herzkomplikation, sowie ihr 
Auftreten auch ohne syphilitische Hirnveränderungen. Mindestens 
ist bei derlei Schlüssen noch größte Vorsicht vonnöten. 

Eine Besprechung von psychisch-nervösen Folgezuständen der 
Herzerkrankungen bei weiteren Gehirnschädigungen, wie Tumoren, 
multiple Sklerose u. ä., erübrigt sich deswegen, weil einschlägige Fälle 
noch nicht berichtet worden sind. Das läßt immerhin darauf schlie¬ 
ßen, daß das Auftreten von kardiogenen Psychosen durch Schädigung 
des Gehirns nicht begünstigt wird. Dies steht in befriedigendem Ein¬ 
klang mit den Ergebnissen aus unseren Erfahrungen hinsichtlich der 
Arteriosklerose, der Paralyse und der Lues. Unter den Faktoren, 
die die Entstehung kardiogener Psychosen erleichtern, spielen jeden¬ 
falls die organischen Zerstörungsprozesse des Gehirns keine Rolle, 
wie umgekehrt auch Herzleiden nicht auslösend oder beschleunigend 
auf den Ausbruch der psychotischen Symptome dieser Himerkran- 

4* 



52 


kungen wirken. Das Nebeneinandervorkommen beider Störungen in 
einzelnen Fällen deckt immer wieder auf eine Überkreuzung, eine 
Summierung und Modifizierung der Symptome, also eine Mischung 
im Grunde von einander unabhängiger Störungen, wobei allerdings 
mitunter eigenartige Verlaufsformen, wie z. B. der Korsakowsche 
Symptomenkomplex, hervorgerufen werden. 

Damit ist die erste Gruppe der Komplikationen der kardiogenen 
Psychosen abgehandelt; nun sind zu betrachten die Verwicklungen 
der kardiogenen Störungen durch gleichzeitige Erkrankung anderer 
innerer Organe. Schon verschiedentlich wurde bei den Fällen von 
Arteriosklerose die Albuminurie erwähnt, also eine Beeinträchtigung 
der Nierenfunktion; doch war nirgends Veranlassung, deswegen an 
eine ursächliche Beeinflussung des Krankheitsbildes zu denken. Daß 
auch eine solche möglich ist, steht außer Zweifel. Leider ist kein 
dementsprechender Fall zu berichten; im folgenden Kapitel soll auf 
die hier angeschnittene Frage noch einmal Bezug genommen wer¬ 
den. Vorläufig muß die Behandlung der Nierenkomplikation zurück- 
gestellt werden, bis die Gunst des Zufalls den erwünschten Fall zu 
Gesicht bringt. 

Dagegen findet sich eine Psychose infolge Herzdekompensation, 
die durch eine Leberstörung kompliziert ist. Auf die wichtige und 
problematische Rolle der Leber bei Geistes- und Nervenkrankheiten 
bin ich andernorts ausführlicher eingegangen. Die dabei entwickel¬ 
ten Gesichtspunkte sollen bei der Analyse unseres Falles herangezo¬ 
gen werden. 

8. Fall. Johannes M., 53 Jahre alt, in Behandlung der Frankfurter 
Klinik vom 26. 12 1922 bis 3. 2. 1923. 

Seit 24. 7. 1922 wegen Leberzirrhose in klinischer Behandlung. Wieder¬ 
holte Punktionen des Aszites. In den letzten Tagen Nachlässen der Herzkraft 
und akute Psychose mit Halluzinationen. 

Pat. stammt aus gesunder Familie, hat sich normal entwickelt, war 
4 Jahre im Feld, dort sehr gealtert. Trank wenig, war sparsam. 11 gesunde 
Kinder. Seit dem Tode eines Sohnes im Felde wehmütig. Glaubte im Spital, 
er müsse sterben, weil er in ein Zimmer für sich gelegt wurde. 

Bei der Aufnahme schwerfällig, geht am Stock. Leib geschwollen. Gibt 
Personalien richtig an, ermüdet anscheinend rasch, gibt schließlich keine Ant¬ 
wort mehr, er sei schon zu lange krank. 

25. 12. Körperlicher Befund: Hochgradige Zyanose des Gesichts und 
der Akra. Schwacher, kleiner, unregelmäßiger Puls. Über dem Herzen zu¬ 
weilen weiches systolisches Geräusch an der Spitze. Lungen o. B. Enormer 
Aszites. Leber in Kantenstellung, nicht palpabel. Geringe Ödeme der Füße. 

Psychisch schwerbesinnlich, apathisch, macht erschöpften Eindruck, däm¬ 
mert vor sich hin. 

Nachts war er laut und ängstlich erregt, verkannte die Umgebung. 



53 


27. 12. Etwas ratlos, fühlt, daß sein Geist benebelt sei, weiß sich das 
dicht zu erklären. Name und Alter gibt Pat. richtig an. (Welches Jahr?) 
„Wie man hört und sieht, 1922, wenn das stimmt; heute stimmt ja die ganze 
Welt nicht.“ (Monat?) „Weihnachten, wenn das stimmt; ja, ich habe neulich 
gesehen, di waren Kinder da. Den Tag vor der Benebelung, wie ich da unten 
war. Wie ich die Feiertage fort bin mit meinem Freund, da waren Weih¬ 
nachtskinder da: die haben mir eine kleine Dose gebracht. — Wo ich hier 
gegenwärtig bin, das weiß ich nicht, sonst wüßte ich ja alles. Ehe ich hierher 
kam, war ich im Spital — im Heiligegeistspital in der Langestraße. Ich bin 
nicht richtig klar, ich gebe keine richtige Aufklärung, was ich mache. Ich 
weiß nicht, durch den Krieg habe ich meine ganze Kraft verloren. Jetzt sitze 
ich hier, es schmeckt mir nichts; ich simuliere wo ich bin. Ich weiß nicht, 
nachts ist einer zu mir gekommen, — ich hatte ja keine Ahnung, der hat mir 
eine Spritze gegeben. Da sagte ich, was das ist Da sagte er, ich wäre den 
ganzen Samstag durcheinander gewesen. Die Schwester hatte sich beschwert. 
Ich sagte, ich wüßte in Wirklichkeit von nichts. Meine Frau ist da, meine 
Kinder. Dann ist alles nichts, ich habe nichts.“ (Beruf?) „Ja, ich war bei 
der Eisenbahn als Güterbodenarbeiter und war zuhause bis im Mai.“ (Beginn 
der Krankheit?) „Rheumatismus im Winter, wie ich in Rußland war, sonst 
möchte ich wirklich nicht klagen. — Ja, wie ich hierher gekommen bin... 
Früher war ich nicht krank.“ (Getrunken?) „Ich trinke nichts, das stimmt 
alles nicht. Ich tue nur die Decke betrachten und das Rohr, und da meine 
ich, es wäre Fußboden und ein Wasserrohr.“ 

Bilder, selbst seltene, benennt Pat. richtig, nur bezeichnet er eine Koralle 
als roten Ast und meint beim Salamander, das sei kein Salamander. 

Nachts ist er stets laut, verwirrt und trägt das Bettzeug umher. 

30. 12. Nachts ruhig) klagt zuweilen über Atemnot und Durchfälle* 

13. 1. örtlich und zeitlich orientiert. Psychisch bis auf eine gewisse 
Ängstlichkeit unauffällig. 

24. 1. Das Allgemeinbefinden hat sich etwas gehoben, die Atmung ist 
freier geworden, die Zyanose des Gesichts ist zurückgegangen. Puls mittel¬ 
kräftig, regelmäßig. Gibt an, nicht mehr so ängstlich zu sein und wesentlich 
besser zu schlafen. Die nächtliche Unruhe ist ganz geschwunden. 

3. 2. 23. Nach dem Heiligegeistspital zurückverlegt. 

Hier entwickelt sich im Laufe einer Leberzirrhose eine Herz¬ 
schwäche und damit zugleich eine akute Psychose von delirantem 
Charakter, die nach kurzem Bestand übergeht in einen Zustand von 
Schwerbesinnlichkeit, Ratlosigkeit und Ungewißheit, während nachts 
noch delirante Phasen auftreten. Auch diese schwinden, und es 
bleibt nur noch eine allgemeine ängstliche Stimmungsfärbung zurück. 
Nach 4 Wochen ist Pat. wieder psychisch frei. Dieser Verlauf ent¬ 
spricht in seinem akuten deliranten Beginn, mit seinen nächtlichen 
Exazerbationen und der langsamen Rückbildung dem Bild einer De¬ 
kompensationspsychose, wie wir es auch sonst zu sehen gewöhnt 
sind. Die Einwirkung der Leberkrankheit ist nicht zu erkennen. Nun 
sind, wie ich schon 1. c. betonte, überhaupt psychische Störungen bei 
Leberzirrhose selten, vermutlich wegen des chronischen Verlaufs die- 



54 


ses Leidens. Allerdings soll die Leberzirrhose nach B o s t r ö m zum 
Delirium tremens disponieren. Es kann aber hier in dem Auftreten 
eines deliranten Zustandes keine Bestätigung dieser Ansicht erblickt 
werden; denn ein solcher ist auch ohne Leberstörung sehr häufig. 
Weiter sind die nervösen Folgeerscheinungen nach Leberschädigung 
recht verschiedenartig, beim Ikterus morose Stimmung oder katalep- 
tische Symptome, beim Zerfall des Lebergewebes toxische Delirien. 
Eine in bestimmter Richtung abgeänderte psychische Reaktionsweise 
findet sich zumal bei der Leberzirrhose nicht, und so kann es nicht 
wundernehmen, daß auch im obigen Fall ein Einfluß derselben nicht 
bemerkbar wird. 

Was die Bedeutung anderer Erkrankungen innerer Organe für 
die Gestaltung des kardiogenen Irreseins anlangt, so kann mit kur¬ 
zen Worten darauf hingewiesen werden, daß weder Lungen- noch 
Darm- noch Stoffwechselleiden irgendwie erheblich sind in dieser Hin¬ 
sicht. Die kardiogenen Psychosen laufen ebenso ab wie ohne diese 
Verwicklungen, genau wie sich dies auch bei Nieren- und Leber¬ 
erkrankungen zeigte. Die große Seltenheit solcher Vorkommnisse 
beweist auch, daß durch ein solches Zusammentreffen die Entstehung 
kardiogener Psychosen nicht erleichtert wird. Ebensowenig findet 
sich bei den Erkrankungen innersekretorischer Drüsen ein häufiges 
Auftreten kardiogener Psychosen. Was dieses negative Ergebnis für 
die Bonhöffersehe Therorie von den ätiologischen Zwischenglie¬ 
dern bedeutet, soll im Schlußabschnitt des näheren erörtert werden. 

Als dritte Art von Komplikation von kardiogenen psychischen 
Störungen ist das gleichzeitige Auftreten von Infektionskrankheiten 
zu betrachten. Auch hier ist das Material, das vir unsern Anführun¬ 
gen zu Grunde legen können, recht spärlich, und nur der Wunsch 
nach systematischer Vollständigkeit ist die Veranlassung, auf diese 
noch so wenig beachtete und geklärte Frage einzugehen. Weder hat 
Bonhöffer diese Frage in seiner Darstellung der Infektionspsycho¬ 
sen erörtert, noch finden sich, wo man noch am ehesten dergleichen 
vermuten könnte, darauf bezügliche Beobachtungen in der Arbeit 
Kleists über die Choreapsychosen und in den Untersuchungen 
Knauers über die Rheumatismuspsychosen. Der einzige hierher 
gehörige Fall entstammt einer älteren Arbeit L. W. Webers über 
die Beziehungen zwischen körperlicher Erkrankung und Geistes¬ 
störung. Es handelt sich um ein Kind eines Trinkers, das mit 10 Jah¬ 
ren an Rheumatismus und Endokarditis erkrankt, seitdem an Zuckun¬ 
gen im Gesicht, in den Armen und Beinen leidet und in seiner geisti¬ 
gen Entwicklung zurückgeblieben ist. Seit dem 17. Lebensjahr treten 



55 


häufig Angstzustände mit Weglaufen auf. Im 20. Lebensjahr erneute 
Gelenkschmerzen, verbunden mit lebhafter Angst und starken Zuckun¬ 
gen in den Beinen und choreatischen Bewegungen in den Fingern, zu¬ 
gleich mit Verstärkung des Herzgeräusches, Verbreiterung der Herz¬ 
dämpfung und Zyanose. Krampfanfälle wurden nie beobachtet, da¬ 
gegen wiederholte sich das obige Syndrom mehrere Male. Ein Jahr 
später starb der Pat. an einem Rezidiv der Endokarditis, die mit 
hochgradigen Angstattacken einherging. Es zeigt sich hier jener 
Typus kardial bedingter Störungen, den wir in den Fällen Georg B. 
und Henrique de M. auf die Verarbeitung kardialer Mißempfindungen 
zurückgeführt haben. Bemerkenswert ist besonders das jugendliche 
Alter des Pat., eine Beobachtung, die im Gegensatz zu unseren bis¬ 
herigen Ergebnissen steht. Es liegt nahe, in diesem Falle die gleich¬ 
zeitig bestehende Chorea als Erklärung für diese Abweichung von der 
Regel heranzuziehen, ohne daß wir mit dieser Feststellung eine wei¬ 
tere Einsicht in den Sachverhalt gewinnen können. 

Des weiteren verdient in diesem Zusammenhang vielleicht noch 
folgende Beobachtung Stertz’ Interesse, die freilich die Rekon- 
valenszenz von einer Infektionskrankheit betrifft. Ein 20jähriger 
Soldat, von einer nervösen Mutter stammend, der an einem kompen¬ 
sierten Herzfehler leidet, bekommt anschließend einen Typhus, Herz¬ 
beschwerden und Angstgefühl, schläft schlecht ein und hat unruhige 
Träume, klagt über Druckgefühl im Kopf und Genick. 5 Monate 
später zeigt er verstimmtes Wesen ohne Hemmung, Tremor der 
Hände und lebhafte Reflexe. Er klagt über die Mißstimmung und 
die vielen Sorgen, die er sich macht, fühlt sich arbeitsunlustig, trägt 
sich mit Selbstmordgedanken. Er gibt an, die Verstimmung habe 
sich erst in der Rekonvaleszenz entwickelt, früher habe er einen ähn¬ 
lichen Zustand nicht gehabt. Stertz denkt hier an die Möglichkeit, 
daß es sich um den ersten Anfall eines manisch depressiven Irreseins 
handelt, der durch den Typhus ausgelöst wurde. Da Stertz zu¬ 
gleich zwei ähnliche Fälle ohne Herzkomplikation anführt, ist die 
Bedeutung des zugleich bestehenden Herzfehlers für die Gestaltung 
des Krankheitsbildes nicht im Sinne eines ursächlichen Faktors zu 
betrachten. Wenn auch späterhin kardiale Mißempfindungen und 
davon ausgehende Angstgefühle nicht im Vordergrund stehen, muß 
vielleicht doch das Vitium cordis als pathoplastisches Moment be¬ 
rücksichtigt werden, insofern sein Bestehen die Auslösung der depres¬ 
siven Verstimmung erleichterte. Jedenfalls kann, das geht mit aller 
Deutlichkeit hervor, der Herzfehler hier nur die Rolle eines sehr 
nebensächlichen Faktors beanspruchen, etwa in derselben Bedeutung, 



56 


die ihm für die Beeinflussung des Verlaufes von anderweitig beding¬ 
ten Psychosen zukommt, ein Gegenstand, dessen Besprechung das 
folgende Kapitel gewidmet werden soll. An dieser Stelle reiht sich 
der Fall mit allem Vorbehalt deshalb ein, weil es sich um das Zu¬ 
sammentreffen eines Herzleidens mit einer durch eine Infektions¬ 
krankheit bedingten Psychose handelt. Dies ist die andere Art der 
Verbindung zwischen Infektionskrankheit, Herzfehler und Psychose, 
während der Fall Webers die Beeinflussung resp. Auslösung einer 
kardial bedingten psychischen Störung durch die Rezidive einer In¬ 
fektionskrankheit vor Augen führt, die jeweilen zu einer Exazerbation 
der psychopathologischen Erscheinungen Veranlassung geben. Nur 
diese Form der Verbindung steht aber hier eigentlich zur Diskussion. 

Im großen und ganzen läßt sich sagen, daß auch das Auftreten 
von Infektionskrankheiten, insonderheit von Rheumatismus und Cho¬ 
rea, die Entstehungen kardiogener Störungen nicht begünstigt. In 
einem Falle konnte aber nachgewiesen werden, daß wenigstens jener 
Typus kardiogener Störung, die inhaltlich bestimmt im Sinne der 
Angst ist, hier auch in einem so jugendlichen Alter auftreten kann, 
wie sie sonst nicht gefunden wird. Gerade aber die psychische De- 
terminierung im Sinne der Angst ist, das beweisen auch die Beobach¬ 
tungen des folgenden Kapitels, nicht so eng begrenzt hinsichtlich 
des Lebensalters, wie das eigentlich kardiogene Irresein, das vor dem 
30. Lebensjahre nicht auftritt. Ebenso zeigt sich diese mehr patho- 
plastische Wirkung des Herzleidens bei einer durch eine Infektions¬ 
krankheit bedingten Psychose. 

Mit dieser letzten Beobachtung wird bereits das nächste Pro¬ 
blem angeschnitten, das im folgenden Abschnitt behandelt wird, der 
Einfluß von Herzleiden auf den Verlauf und die Gestaltung von 
Psychosen. 



Der Verlauf und die Gestaltung der Psychosen 
beim Auftreten von Herzstörungen. 

An verschiedenen Stellen unserer Arbeit begegnete uns bereits 
die Frage, welchen Einfluß die Störung der Funktion des Herzens hat 
auf den Ausbruch, die Gestaltung, den Verlauf und den Ausgang einer 
durch anderweitige Ursachen erzeugten Psychose, wie aus verschie¬ 
denen Hinweisen hervorgeht; hier soll sie im Zusammenhang behan¬ 
delt werden. Die Bedeutung der Herzkomplikation« muß dabei nach 
verschiedenen Richtungen geprüft werden, wie hinsichtlich der Aus¬ 
lösung, der Präformierung, der Färbung, der Inhaltsgebung usw. 
Dabei bildet den Eingang die Erörterung der durch organische Hirn- 
Prozesse hervorgerufenen Geistesstörungen in ihrem Zusammentreffen 
mit Herzleiden. Schon im 3. Kapitel ist ein Ausgangspunkte hierfür 
geschaffen worden in der Analyse der kardialen Störungen bei Ar¬ 
teriosklerose; umgekehrt handelt es sich hier um die Beeinflussung 
des arteriosklerotischen Irreseins durch ein Herzleiden, ob es nun zu 
Dekompensationserscheinungen führe oder nicht. Nach den Unter¬ 
suchungen de Monchys soll diese Verwicklung häufig zu einer 
ängstlichen Färbung des psychischen Krankheitsbildes bei Gehim- 
arteriosklerose beitragen. Schon oben ist die Vermutung ausgespro¬ 
chen worden, daß es sich hierbei um einen entsprechenden Vorgang 
handelt wie bei jenen Fällen, in denen kardiale Mißempfindungen un¬ 
mittelbar zur Auslösung von Angstanfällen führen, und daß ferner 
ein gewisser Grad von Besonnenheit zu einem solchen Wirkungs¬ 
modus erforderlich ist. Ist diese Annahme richtig, so wird sich an¬ 
dererseits die ängstliche Färbung eines arteriosklerotischen Irreseins 
nicht steigern, entsprechend der Schwere der Störung der Herzfunk¬ 
tion, namentlich wenn es infolge Dekompensationserscheinungen zu 
Trübungen des Bewußtseins kommt. Der Nachweis hierfür ist schwie¬ 
rig zu liefern; vielleicht kann der folgende Fall in dieser Richtung 
einiges beitragen. 

9. Fall. Friedrich St., 57 Jahre alt, in Behandlung der Gießener 
Klinik vom 24. 5. 1922 bis 4. 11. 1923. 

Uneheliches Kind, Mutter soll in den letzten Jahren kindisch gewesen 
sein. Pat. selbst normal entwickelt, heiratete mit 25 Jahren, infizierte sich bei 
seiner Frau mit Tripper, ließ sich nach einem Jahr scheiden. Mit 36 Jahren 



58 


2. Ehe, blieb kinderlos. P. war sehr gesellig, sang viel in Vereinen, war dabei 
von jeher sehr hypochondrisch, glaubte lungenkrank zu sein. Hatte Ende der 
vierziger Jahre eine mehrjährige Enochenhautentzündung. Mit 51 Jahren 
erster Schlaganfall, die rechte Körperseite betreffend, der sich noch zweimal 
wiederholte, zuletzt 1921. Seit der letzten Apoplexie bildet er sich alle mög¬ 
lichen Krankheiten ein, ißt wenig und schläft sehr schlecht. Wurde vom 
Febr. 1922 an in einer Nervenheilanstalt behandelt, klagte über Erschwerung 
der Sprache, Atembeschwerden beim Treppensteigen und Schlaffheit, hegte 
allerhand hypochondrische Befürchtungen über seine Körperfunktionen, ent¬ 
wickelte zuweilen Vergiftungsideen, war zeitweise verwirrt und halluzinierte. 
Am 22. 4. 1922 brachte er sich mit dem Rasiermesser mehrere Schnitte am 
Hals und an der Schläfe bei, war unruhig und ängstlich, führte Selbstgespräche, 
hatte Sinnestäuschungen und .Versündigungsideen. In diesem Zustande wurde 
er in die Klinik eingeliefert. 

Körperlicher Befund. Großer, schwerer Mann mit ergrautem 
Haar und mit trockener schlaffer Haut. 

Herz: Dämpfung etwas von der Lunge überlagert, nicht verbreitert, 
Spitzenstoß innerhalb der Mammillarlinie. An der Spitze leises systolisches 
Geräusch, das auch an der Basis hörbar ist. Tätigkeit regelmäßig, nicht be¬ 
schleunigt Puls 60 i. d. Min., Blutdruck 195/160 mm Hg. 

Lunge: etwas emphysematos, sonst o. B., Leber o. B. Urin: kein Alb., 
kein Sachar. Keine Spasmen, keine Paresen. Gang unsicher und schwan¬ 
kend. Romberg +. Sprache etwas verlangsamt, aber deutlich artikuliert 

Pupillen gleichweit, reagieren auf Lichteinfall und Blick in die Nähe. 
Haut- und Knochenhautsehnenreflexe regelrecht. Keine Kloni. Keine patho¬ 
logischen Reflexe. 

Psychisch: örtlich orientiert, zeitlich nicht. Weiß nichts von den früheren 
Schlaganfällen. Hochgradig schwer besinnlich. Glaubt, daß alles Essen im 
Körper bleibt. Äußert Versündigungsideen, namentlich auf sexuellem Gebiet. 

In den nächsten Monaten ist Pat ruhig; er klagt viel über schlechten 
^ Stuhlgang. Sinnestäuschungen bestehen nicht Die Stimmung ist gedrückt 
Äußert, er sei unheilbar krank und verarmt. Allmählich treten die paranoiden 
Ideen zurück. Im Winter wird Pat etwas frischer, geht mit steifen Schritten 
im Zimmer spazieren, sitzt meist untätig vor seinem Bett und brütet stumpf 
vor sich hin. Jedem Vorschlag einer Veränderung gegenüber verhält er sich 
ablehnend. 

Im Februar 1923 treten zuerst Ödeme an den Beinen auf, die auf Bettruhe 
schwinden. Eine Änderung des psychischen Zustandes ist nicht zu bemerken, 
nur erscheint die Stimmung mehr gedrückt. 

Im April treten die Ödeme wieder auf, schwinden aber nach Digalen- 
behandlung und Bettruhe. Von Mai bis September ist Pat. lebhafter, geht im 
Garten spazieren, unterhält sich mit anderen Kranken, kennt alle bei Namen. 
Nachts schläft er wenig. 

23. 9. 1923. Pat. ist heute verschiedene Male hingesttirzt. Bewegungen 
im ganzen zittrig und unsicher, keine deutliche Parese. Sprache etwas 
stockend. Keine Wortfindungsschwierigkeiten. Außerordentlich starke Atem¬ 
not. Pulsarythmie. Bekommt Digalen. 

24. 9. Pat. liegt schweratmend im Bett. Leichte Ödeme der Beine. 
Starke Arythmie des Pulses. Digitalis-Coffeinpulver. 



59 


28. 9. Pak hat sich im ganzen etwas erholt. Der Puls ist etwas voller 
geworden, aber noch sehr unregelmäßig. Die Atemnot ifet zurück gegangen. 
Gegen Abend deliranter Zustand, glaubt sich zuhause, unterhält sich mit Be¬ 
kannten, tastet suchend umher. Eine besondere ängstliche Färbung tritt 
nicht hervor. 

30. 9. Delirante Unruhe geringer. Herzdämpfung nach rechts verbrei¬ 
tert. Puls qualitativ unregelmäßig. Leber vergrößert Geringe Ödeme an 
den Beinen. Etwas Stauungsbronchitis. Im Urin Spur von Alb. Erhält 
weiter Digitalis. 

5. 10. Herzbefund unverändert. Pat. liegt meist teilnahmslos da, hält 
sich sauber, nimmt sein Essen. 

12. 10. Wesentliche Besserung. Die Dyspnoe ist sehr zurttckgegangen. 
Pul8 noch inäqual. Psychisch ist Pat. regsamer, nimmt an seiner Umgebung 
Anteil, beklagt sich über einen anderen Pak, der viel hustet. Keinerlei ängst¬ 
liche Verstimmung. 

25. 10. Pak ist seit gestern sehr kurzatmig. Puls klein, unregelmäßig 
aussetzend. Pak liegt stöhnend in den Kissen, schluckt kaum. Urinausschei¬ 
dung sehr gering. 

26. 10. In der Nacht sehr unruhig, spricht verwirrt. Läßt Kot und Urin 
unter sich. Keine Reflexdifferenzen. Pat. stöhnt den ganzen Tag, atmet 
mühsam. 

27. 10. Auf Novasurol Urinausscbeidung gesteigert. Allgemeinbefinden 
nicht verändert, hochgradige Prostration. 

29. 10. War nachts sehr unruhig und störend, hört Stimmen, verkennt 
die Umgebung, will aufstehen. 

3. 11. In den letzten Tagen psychisch etwas freier. In der Nacht wird 
Pat. sehr unruhig, völlig desorientiert, deliriert, läßt Kot und Urin unter sich. 

4. 11. Am Vormittag Exitus letalis. 

Bei diesem 56jährigen Arteriosklerotiker bestand seit Jahren 
eine hochgradige Myokarditis, die auch schließlich das Ende herbei¬ 
führte. Der Verlauf des psychopathologischen Erlebens ist dabei 
sehr bemerkenswert. Nach wiederholten Schlaganfällen entsteht eine 
hypochondrisch und ängstlich gefärbte Depression, die sich bis zu 
einem ernsten Selbstmordversuch steigert. Nach einer kurzen deli- 
ranten Phase wird die Depression immer stumpfer und farbloser und 
macht schließlich einer leicht euphorischen Demenz Platz, die auch 
durch das Auftreten von Stauungserscheinungen nicht sehr beein¬ 
flußt wird. Erst nach einem erneuten (apoplektischen?) Insult stei¬ 
gert sich die Herzstörung zur Dekompensation mit Pulsarythmie und 
Dyspnoe. Es entwickeln sich kurzdauernde nächtliche Delirien und 
Benommenheitszustände ohne ausgesprochene ängstliche Färbung, 
dabei schieben sich öfters freiere Intervalle dazwischen, bis der Herz¬ 
tod eintritt. Aus diesem Verlauf läßt sich etwa folgendes entnehmen. 
Auslösend wirkte auf das ängstlich hypochondrische Zustandsbild der 
Depression der voraufgegangene Schlaganfall, Dabei müssen die 



60 


depressiven Komponente und”die hypochondrische Einstellung als 
konstitutionell bedingt angesehen werden, während die ängstliche 
Färbung vielleicht mit den von dem kranken Herzen ausgehenden 
Sensationen im Zusammenhang steht. Schließlich entladet sich die 
ängstliche Spannung in einem Selbstmordversuch, von da an tritt 
mehr der dementive Verlauf in den Vordergrund. Dabei schwindet 
nun auch infolge der allgemeinen Stumpfheit die Verarbeitung der 
Herzsensationen, die ängstliche Färbung tritt zurück. Bei den nun¬ 
mehr sich geltend machenden Dekompensationserscheinungen des 
Herzens kommt es zu kurzdauernden nächtlichen Delirien ohne Angst. 
Somit bestätigt dieser Fall in gewisser Beziehung, daß eine ängst¬ 
liche Färbung des Zustandsbildes durch die Sensationen von seiten 
des Herzleidens nur stattfindet, wenn diese durch Besonnenheit und 
relative Intaktheit der übrigen Himfunktionen innerpsychologisch 
weiter verarbeitet werden. Fernerhin zeigt sich, daß die ängstliche 
Spannung sich nicht mit der Schwere der Herzerkrankung zu steigern 
braucht, wobei hier das Weiterschreiten des arteriosklerotischen Pro¬ 
zesses der intrapsychischen Verwertung von kardialen Mißempfindun¬ 
gen den Boden entzieht. Es kann nun dieses Verhalten als typisch 
für die Demenzpsychosen in ihrer Wechselbeziehung zu Herzleiden 
betrachtet werden. Im Beginn der organischen Psychosen wie Arterio¬ 
sklerose, Paralyse, senile Demenz, wenn noch ein ausreichender Grad 
von Besonnenheit erhalten ist und wenn die Gesamtfunktion des 
Gehirns noch nicht zu weit im Sinne der Abstumpfung herabgesetzt 
ist, führen die durch das Herzleiden bedingten Mißempfindungen zu 
einer ängstlichen Färbung des Gesamtbildes. Tritt eine schwere 
Dekompensationsstörung des Herzens schon in so frühem Stadium 
auf, so folgt eine eventuell auftretende psychische Störung dem 
Typus, der auch beim kardiogenen Irresein gefunden wird. Tritt 
diese Störung der Herzfunktion aber erst gegen Ende des Leidens 
resp. in einem fortgeschritteneren Stadium auf, so ist die ängstliche 
Phase durch ein stumpf-ruhiges dementes Intervall von den agonalen 
Delirien getrennt. Mit andern Worten, je weiter der Zerfall im Ver¬ 
lauf einer Demenzpsychose fortschreitet, desto mehr verliert eine 
Herzkomplikation an Wert hinsichtlich der Determinierung der psy¬ 
chischen Inhalte, desto ausschließlicher kommt sie nur in Betracht 
als Quelle einer zusätzlichen Noxe pathogenetischer Wirksamkeit. 

Des weiteren ist anzunehmen, daß die ängstliche Färbung des 
Zustandsbildes ceteris paribus das Zustandekommen einer depressi¬ 
ven Stimmungsanomalie mehr erleichtert als das Gegenteil. Die Herz¬ 
störung würde also über diesen Mechanismus präformierend auf de- 



pressive Zustandsbilder bei Demenzpsychosen wirken. Einen Beweis 
hierfür zu erbringen, ist zur Zeit unmöglich. Auch hierüber können 
erst statistische Untersuchungen Klarheit bringen, deren ausgiebige 
Anwendung auf psychiatrischem Gebiet überhaupt viel Nutzen ver¬ 
spricht. Freilich ist in der Frage besonders noch der Umstand zu 
berücksichtigen, daß ein depressives Zustandsbild bei einer organi¬ 
schen Psychose auch das Zeichen einer manisch-depressiven Ver¬ 
anlagung sein kann. 

Im folgenden wird über einen Fall berichtet, bei dem der melan¬ 
cholische Gesamtzustand von konstitutionellen Momenten abhängig 
war, wie das Auftreten eines Suizids seines Sohnes wahrscheinlich 
macht, bei dem die Beeinträchtigung der Herzfunktion aber sichtlich 
eine andere Rolle, die des auslösenden Agens, übernahm. 

10. Fall. Carl F., 56 Jahre alt, in Beobachtung der Gießener Klinik 
seit 21. 1. 1924. 

Ein Sohn hat sich vor 2 Jahren erschossen, er war vorher „nervös“. Sonst 
in der Familie nichts Besonderes. 

Pat. selbst normal entwickelt, von Kind an Sprache etwas stammelnd 
und leichtes Schielen. Mit 14 Jahren Knochenhautentzündung am rechten 
Bein. Seitdem nicht mehr krank gewesen. iBt seit 33 Jahren verheiratet und 
hat 2 gesunde Kinder. 

Im Herbst vorigen Jahres zugleich mit Anschwellung des rechten Fußes 
traurige Verstimmung mit ängstlichem Gefühl auf der Brust, mit Todesahnun¬ 
gen und Lebensüberdruß. Dabei war er zuerst leicht erregbar und jähzornig. 
Der Arzt habe damals von Herzerweiterung gesprochen. Das Gedächtnis ließ 
nach. Allmählich wurde er ruhiger, blieb sehr ängstlich und niedergedrückt, 
hatte an nichts mehr Freude, öfters litt er an 1—2 Minuten dauerndem Er- 
stickungs- und Beklemmungsgefühl. Fühlte sich der Arbeit nicht mehr ge¬ 
wachsen, hat aber noch bis zum Tag vor der Aufnahme geschafft. 

Körperlicher Status: Kleiner, untersetzter Mann mit rundem Gesicht und 
großer Glatze in mäßigem Ernährungszustand. Zahlreiche Operationsnarben 
am rechten Bein. 

Herz: Grenzen nach rechts und links oben erweitert. Lautes systolisches 
Geräusch über dem ganzen Herzen, besonders laut über der Basis. Puls mäßig 
gefüllt, regelmäßig, 80 i. d. Min. Blutdruck 150/110 mm Hg. nach Riva-Rocci. 

Im Urin 1 '/•• Eiweiß, kein Zucker; im Sediment hyaline Zylinder, weiße 
und rote Blutkörperchen. 

Die übrigen inneren Organe o. B. 

Leichtes ödem deB rechtes Fußes. 

Strabismus divergens des linken Auges mit konsekutiver Hemiamblyopie. 
Pupillen mittelweit, rund, meist gleich, zuweüen anisokor, Lichtreaktion +. 
Konvergenzreaktion nicht zu prüfen. Übrige Reflexe mit Ausnahme einer 
leichten Abschwächung des rechten Kniephänomens regelrecht. 

Psychischer Status: Zeitlich und örtlich gut orientiert. Lebhaftes Krank¬ 
heitsgefühl. Beginnt sofort zu weinen. Muß sich öfter lange besinnen, gibt 
aber ganz gute Auskunft. Klagt über Beklemmungsgefühle, allgemeine 



G2 


Schlaffheit und Unlust. Wird erregt, als er auf den Tod des Sohnes zu spre¬ 
chen kommt, schluchzt. Bewegt sich sehr wenig, sieht meist still vor sich hin. 
Die Merkfähigkeit war, namentlich für das Wiederholen von 6 Ziffern, 
herabgesetzt. 

30. 1. Nach einigen Tagen Bettruhe ist das ödem des rechten Fußes 
geschwunden. Die Stimmung ist entschieden besser; Pat. fühlt sich zuversicht¬ 
licher, ist nicht mehr so weinerlich. Klagt noch zuweilen über Beklemmungs- 
gefühl. 

7. 2. Pak ist ruhig und gleichmütig, spricht auch, ohne ins Weinen zu 
geraten, von dem Selbstmord seines Sohnes, ist sehr zurückhaltend, wenn er 
nach den Gründen gefragt wird. Keine Herzbeschwerden mehr. Der Eiwei߬ 
gehalt des Urins ist trotz der Diät gestiegen (2%■'/••). 

Hier wird bei allgemeiner Arteriosklerose die konstitutionell prä- 
formierte Depression durch die Störung der Herzfunktion ausgelöst 
und tritt auch mit Besserung der Herztätigkeit wieder zurück. Die 
Rolle der Nephritis ist sicher nicht ausschlaggebend; denn trotz Stei¬ 
gerung der Eiweißausscheidung im Harn hält die Besserung an. 
Schwer ist es vorläufig, die Bedeutung der Arteriosklerose abzu¬ 
schätzen, aber manche Züge, wie die Affektlabilität, die leichte Merk¬ 
schwäche, die Schwerbesinnlichkeit, scheinen darauf hinzuweisen, daß 
ein Abbau von Hirngewebe durch arteriosklerotische Veränderung 
eingeleitet ist. Die allgemeine Ängstlichkeit und die Beklemmungs¬ 
gefühle stehen deutlich in Abhängigkeit von der Herzerkrankung. 
Vielleicht kann man hier von einer Auslösung des arteriosklerotischen 
Symptomenkomplexes durch die Herzstörung sprechen; aber dies 
bleibt ungewiß, so daß die auf Seite 48 dargelegte Auffassung be¬ 
stehen bleibt. 

Nachdem zuerst der allgemeine Typus der Verlaufsform der De¬ 
menzpsychose bei einer Komplikation mit Herzkrankheit an Hand 
des Falles Friedrich St. dargestellt wurde, ergaben sich bestimmte 
Regeln in der Verknüpfung und Aufeinanderfolge der psychopatho- 
logischen Symptome. Aus dem zuletzt geschilderten Fall ist weiter 
zu schließen, daß das Herzleiden auch als auslösender Faktor in die¬ 
ser Richtung wirken kann. Bezüglich der präformierenden Wirkung 
der vom Herzen ausgehenden Angstempfindung, auf eine Herabstim¬ 
mung der Affektlage zur depressiven konnte kein endgültiges Urteil 
gefällt werden. 

Die normalpsychologische Rolle der Angst im Stimmungsleben 
ist bei weitem noch nicht geklärt. Die Angst bedeutet ja im Grunde 
eine Gesamteinstellung der Psyche, die über den Charakter einer 
einfachen Stimmungslage weit hinausgeht, wie der Vergleich mit 
einer gewöhnlichen traurigen Verstimmung lehrt. Die Angst ist un- 



63 


trennbar verbunden mit dem Vorstellungsinhalt drohender Gefahr, 
mit der Haltung der Fluchtbereitschaft, des Ausweichenwollens, mit 
dem Gefühl der Gedrücktheit bei eigener Wehrlosigkeit und Minder¬ 
wertigkeit. Nur dieses letztere Gefühl kann als ein Stimmungselement 
im eigentlichen Sinne betrachtet werden. Aus dieser analytischen 
Auffassung des komplexen Phänomens der Angst geht die teilweise 
innerpsychologische Verwandtschaft mit der Depression hervor. Die 
Depression selbst betrifft nur die Herabgestimmtheit des psychischen 
Lebens, empfängt freilich Farbe und Fülle durch ihre Verbindung mit 
den verschiedenen Graden der Reagibilität, des Äußerungswillens usf. 
Die Übereinstimmung mit der Angst beruht auf dem Gefühl der Ge¬ 
drücktheit und der Minderwertigkeit. Es zeigen diese Überlegungen, 
daß die Beziehungen von Angstzuständen infolge kardialer Mi߬ 
empfindungen zu depressiven Phasen in gewissem Sinne engere sind, 
als zu sonstigen psychopathologischen Abweichungen. Deswegen ist 
es bedauerlich, daß der Mangel an statistischen Unterlagen kein Ur¬ 
teil über den Zusammenhang von ängstlichen Organgefühlen und de¬ 
pressiven Zustandsbildem bei den organischen Demenzpsychosen mit 
Herzkomplikation erlaubt. Um so wichtiger sind Beobachtungen über 
den Einfluß von Herzleiden a,uf das manisch-depressive Irresein. 

Zuerst sei folgender Fall Jacobs herangezogen, in dessen Deu¬ 
tung wir freilich von diesem Autor abweichen. Eine 31jährige Pat. 
ohne hereditäre Belastung, von Jugend auf mit einem von einem Ge¬ 
lenkrheumatismus herrührenden Herzfehler behaftet, erkrankt vor län¬ 
gerer Zeit an einer Depression mit Schlaflosigkeit. Sie ist vollkommen 
orientiert, hat keinerlei Wahnideen, ist aber stark verstimmt und 
weinerlich. Plötzlich setzen wiederholt ängstliche Erregungszustände 
ein mit motorischer Unruhe und starker Suizidneigung. In der Ruhe 
bedauert sie ihre Selbstmordversuche. Schließlich gelingt ihr ein sol¬ 
cher in einem erneuten Anfall von ängstlicher Erregung. Hier ver¬ 
bindet sich mit der endogenen Depression das kardial vermittelte 
anfallweise Auftreten von ängstlichen Erregungen mit suizidaler 
Tendenz, es setzt sich die eine Störung auf die andere auf. Dabei 
ist zu beachten, daß die suizidalen Triebe eher impulsiven Handlun¬ 
gen ähnlich sehen, als daß sie direkt der Grundstimmung entwachsen. 
Ferner findet kein Übergreifen von diesen ängstlichen Erregungs¬ 
phasen auf die Gesamtgestaltung der allgemeinen depressiven Stim¬ 
mungslage statt. Die Komplikation der endogenen Depression mit 
einem Herzleiden schafft keine neue Einheit, keine ängstliche De¬ 
pression, sondern ohne Übergang pfropfen sich die Angstanfälle auf 
das zugrunde liegende Bild der Melancholie auf. 



64 


Ohne aus dieser Beobachtung allzu weittragende Schlüsse zu 
ziehen, muß man in ihr doch eine Warnung erblicken, aus theoreti¬ 
schen Gründen die biologische Verwandtschaft und klinische Gemein¬ 
schaftlichkeit von Verstimmung und Angst nicht zu überschätzen. 
Des weiteren ergibt sich hieraus, daß auch da, wo Herzleiden zu aus¬ 
gesprochenen Angstanfällen führen, deren Verbindung zu einer trau¬ 
rigen Verstimmung nur eine rein akzidentelle bleiben kann, eine 
innere Verschmelzung also nicht eintritt. Daß es solche Verschmel¬ 
zungen aber doch gibt, beweisen wohl die Fälle Stranskys, auf 
die oben (Seite 30) schon eingegangen wurde. Bei ihnen findet sich 
ein fließender Übergang von abgesetzten, mit Herzangst einhergehen¬ 
den Anfällen in eine angstvolle Depression. Vielleicht ist eine Vor¬ 
aussetzung für diesen Vorgang, daß die kardialen Mißempfindungen 
schon längere Zeit vor dem Ausbruch der Depression bestanden und 
wiederholt zu Angstanfällen führten. 

Auf andere‘Arten der Beeinflussung des manisch-depressiven 
Irreseins durch eine Herzerkrankung weist die folgende Beobachtung 
Bonhöffers hin. Eine manisch-depressive Herzkranke, die frü¬ 
her öfters rein manische Attacken hatte, erkrankt beim Eintritt 
schwerer Stauungserscheinungen neben den nur noch andeutungs¬ 
weise vorhandenen Symptomen der Ideenflucht, der Ablenkbarkeit, 
des gesteigerten Interesses und der gehobenen Stimmung mit leichter 
Benommenheit und zahlreichen Akoasmen, so daß ein Bild entstand, 
das etwa zwischen Amentia und Halluzinose einzureihen war. Hier 
zeigt sich erstens ein heteronomes Zustandsbild, ein exogener Re¬ 
aktionstyp im Gefolge der Dekompensationserscheinungen von seiten 
des Herzens, zweitens aber auch, obgleich nur angedeutet und teil¬ 
weise verdeckt, eine zugrundeliegende manische Phase, die ihrerseits 
wohl eben von dieser Kompensationsstörung ausgelöst worden ist. 
Auf eine eigenartige Weise sind hier die weiteren beiden Möglich¬ 
keiten verknüpft, die für die Einwirkung von Störungen der HeTZ- 
funktion auf das manisch-depressive Irresein vorhanden sind. Es 
können nämlich erneute akute Phasen dieser Erkrankung durch eine 
solche Störung ausgelöst werden. Dabei ist es von Interesse, daß 
in dem soeben erwähnten Falle eine manische Attacke auftritt; diese 
Tatsache ist zugleich geeignet, ein Streiflicht fallen zu lassen auf 
die Frage der Krankheitseinheit des manisch-depressiven Irreseins. 
Bekanntlich hat Kleist dasselbe in der Gruppe der autochthonen 
Degenerationspsychosen aufgehen lassen, von dem Grundgedanken 
ausgehend, daß hier verschiedene Krankheiten von ähnlicher Ver¬ 
laufsart vorliegen. Man muß gestehen, daß das Auftreten einer mani- 



65 


sehen Phase bei Herzdekompensation recht geeignet ist, Zweifel 
daran zu erwecken, daß hier eine nosologische Einheit mit einer voll¬ 
kommen gleichartigen Konstitutionsanomalie vorliegt, bei der auch 
die Auslösung einer Melancholie möglich wäre. Vielmehr scheint 
dies, in Übereinstimmung mit Kleist, dafür zu sprechen, daß es 
ebensowohl rein manische als rein depressive oder rein paranoi¬ 
sche Konstitutionen gibt. Kehren wir von dieser Abschweifung zu 
unserem Thema zurück, so ist hier eine Auslösung einer manischen 
Attacke durch eine Herzerkrankung zu erblicken, ähnlich wie bei dem 
weiter oben geschilderten Fall Carl F. die Auslösung einer depres¬ 
siven Phase bei entsprechender konstitutioneller Grundlage. 

Fernerhin vermögen Störungen der Herzfunktion bei Manisch- 
Depressiven alle jenen Symptomenkomplexe hervorzurufen, die wir 
von dem gewöhnlichen kardiogenen Irresein kennen, also exogene 
Reaktionstypen im Sinne Bonhöffers, die dann in gewöhnlicher 
Weise ablaufen, sei es, daß sie in eine mehr oder minder akute, viel¬ 
leicht sogar zugleich ausgelöste psychotische Periode oder in ein 
freies Intervall fallen. Bei dieser Sachlage verdient folgende Er¬ 
wägung einige Beachtung. Wenn tatsächlich, wie manche meinen, 
bei exogener Schädigung des Gehirns zuerst die Anlagetypen und 
erst später die spezifischen exogenen Reaktionsformen auftreten wür¬ 
den, so müßte es möglich sein, wo notorisch Manisch-Depressive an 
doch einer sicherlich allmählich anwachsenden und wirksam werden¬ 
den Dekompensation einer Herzerkrankung leiden, zwei aufeinander¬ 
folgende Phasen zu beobachten, zuerst ein homonomes, später ein 
heteronoraes Syndrom im Sinne Kleists. Der obige Fall Bon¬ 
höffers beweist aber, daß dem nicht so ist; auch sonstige dahin¬ 
gehende Berichte liegen darüber nicht vor. Die vermeintliche Regel 
muß also wohl viele Ausnahmen gestatten. Aber auch die Frage der 
sog. symptomatisch-labilen Konstitution Kleists bedarf an diesem 
Material einer erneuten Prüfung. Die vorgelegten Fälle beweisen 
doch, daß sich bei manchen Individuen neben dieser noch eine 
autochthon-labile Konstitution findet, so daß also eine Mischung bei¬ 
der Konstitutionsformen anzunehmen wäre. Es will mir scheinen, 
als sei die symptomatisch-labile Konstitution nichts so Einheitliches; 
es macht einen Unterschied aus, ob eine individuelle Disposition ein 
wiederholtes Ausbrechen symptomatischer Psychosen bei verschiede¬ 
nen Gelegenheiten in Erscheinung treten läßt, ob gar eine solche Dis¬ 
position sich familiär bei mehreren Geschwistern vorfindet, oder ob 
lediglich auf einen bestimmten toxischen oder sonstigen Anlaß das 
Gehirn mit einer symptomatischen Psychose reagiert. Nur die beiden 

L e y ■ e r, Henkrankbeiten und Ptychoaen. (AbhancU. H. * 5 .) 5 



G6 


ersten Formen müssen als eine besonders konstitutionelle Abart be¬ 
trachtet werden; der letztere Fall, der gewöhnliche, ist wohl kaum 
ebenso zu bewerten. Darum muß u. E. das Auftreten einer sympto¬ 
matischen Geistesstörung infolge Herzerkrankung bei einer autoch- 
thon-labilen Persönlichkeit noch nicht bedeuten die Mischung zweier 
Konstitutionen. 

Der autöchthon-labilen Konstitution stellt Kleist die Anlage 
zu reaktiven (psychogenen bezw. hysterischen) Psychosen gegen¬ 
über. Es ist von großem Interesse, nun weiter den Einfluß von Herz¬ 
erkrankungen auch bei Störungen aus diesem Konstitutionskreis zu 
erforschen. Von vornherein sollte man vermuten, daß bei diesen 
reaktiv-labilen Individuen die Empfindungen infolge eines Herzleidens 
einen besonders fruchtbaren Boden abgeben zu seelischer Weiter¬ 
verarbeitung; man sollte annehmen, daß sich bei dieser Konstitutions¬ 
anomalie jedesmal oder wenigstens sehr häufig eine Herzneurose ent¬ 
wickelte. Dem ist nicht so. Wir hatten bereits im 2. Abschnitt (S. 16) 
hervorgehoben, daß Herzneurotiker selten eine organische Herzerkran¬ 
kung aufweisen. Aber auch Hysteriker, selbst wenn sie herzkrank 
sind, werden deswegen noch keine Herzneurotiker. Hier entscheiden 
vor allem die negativen Fälle. Ein solcher sei hier kurz berichtet. 

11. Fall. Heinrich R., 25 Jahre alt, in Beobachtung der Gießener 
Klinik vom 28. 11. bis 1. 12. 1923. 

Kommt mit einem Einweisungsschein des Wohlfahrtsamtes, räsonniert so¬ 
fort vom „Dank des Vaterlandes 41 , er sei Ruhrflüchtling und beziehe 100 
Proz. Rente. 

Die Vorgeschichte ist von ihm selbst gegeben, widerspricht in verschie¬ 
denen Punkten späteren Erhebungen. Gesunde Familie; ein Bruder hat infolge 
Kopfschußverletzung Tobsuchtsanfälle. Normale Entwicklung, war etwa 
4 Wochen im Felde (spricht selbst von einem Jahr), wurde verschüttet. Über 
die Folgezeit keine genauen Angaben, will lange in nervenärztlicher Behand¬ 
lung gewesen sein und Morphiumspritzen (!) bekommen haben. Wegen Meu¬ 
terei und tätlichem Angriff zu 6% Jahren Festung verurteilt, später auf Grund 
des § 51 freigesprochen. Leidet seit 1919 an Anfällen mit Bewußtlosigkeit, 
Krämpfen und Einnässen, dagegen ohne Zungenbiß. War 3 Jahre in einer 
Anstalt, wurde dann von den Eltern herausgenommen. Litt öfters an Schwin¬ 
del und Kopfschmerzen. Wurde wiederholt wegen Tätlichkeiten in seiner 
Rentenangelegenheit interniert, zeigte sich dann zwar mitunter aufsässig und 
frech, arbeitete aber und hatte keine Anfälle, entwich mehrmals. Berichtet 
von einer Schlägerei mit den Franzosen, die sich an seiner Schwester vergriffen 
hätten. Will nach Verurteilung durch ein französisches Kriegsgericht aus dem 
Gefängnis ausgebrochen sein. War den Sommer bei einem Bauern, geriet in 
Streitigkeiten. Seitdem in verschiedenen Krankenhäusern; zuletzt infolge Auf¬ 
regung wieder mehrere Anfälle. 



67 


Körperlich: Mitralinsuffizienz. Sonstige innere Organe o. B. Reflexe 
regelrecht. Beim Rombergschen Versuch deutlich gemachtes Taumeln nach 
hinten. Keine Ataxie. 

Psychisch: Gut orientiert, besonnen. Anspruchsvoll und anmaßend, 
droht, alles kurz und klein zu schlagen. Gekränkte Pose. Wird ausfallend, 
wenn man Zweifel an seinen renommistischen Erzählungen merken läßt. Keine 
Angst, keine Beklemmung, keine Mißempfindungen von Seiten des Herzens. 

Pat. wird nach kurzer Beobachtung, während deren sich nichts weiteres 
ereignete, entlassen. 

Es handelt sich hier um eine schwere Entartungshysterie mit An¬ 
fällen, mit Pseudologie und Erregungszuständen, bei der zugleich ein 
Herzfehler bestand. Ein Einfluß dieser organischen Erkr ankung auf 
das psychische Krankheitsbild ist nicht zu erkennen; von einer Herz¬ 
neurose kann keine Rede sein. Dieses Verhalten ist das gewöhnliche, 
auch wenn die Entstehung des Herzleidens zeitlich später liegt als 
die vollentwickelte neurotische Störung. So berichtet Friedmann 
von einem schweren Neurastheniker, der aus reaktivem Anlaß mehr¬ 
fach hypochondrische Attacken und Anfälle von Zwangsdenken hatte, 
daß er später einen schweren Herzfehler ruhig ertrug und sich bei 
immer stärker werdenden Beschwerden stoisch verhielt. Diese nega¬ 
tiven Fälle aus dem Kreis der reaktiv-labilen Konstitution beweisen, 
daß körperliche Sensationen gewöhnlich nicht die Grundlage für 
psychogene Weiterverarbeitung bilden. 

Im Gegensatz hierzu steht folgender Fall Jacobs. Eine 23jähr. 
Patientin, die seit 7 Jahren an einem Herzfehler mit zeitweise auf¬ 
tretendem Herzklopfen leidet, erkrankt im Anschluß an die Abtrei¬ 
bung einer unehelichen Frucht mit einer reaktiven Depression. Die 
Orientierung war gut, die Stimmung weinerlich, die Angaben ge¬ 
schahen sehr zurückhaltend; wiederholt wurden Selbstmordgedanken 
geäußert. In unregelmäßigen Zeitabständen zeigten sich Zustände 
plötzlicher ängstlicher Erregung mit motorischer Unruhe von einer 
Minute Dauer. Innerhalb der nächsten drei Wochen steigerte sich 
die Herzschwäche, es trat allmählich eine gewisse Apathie ein; dann 
erfolgte der Tod. Man wird nicht umhin können, anzuerkennen, daß 
sich auf die gewöhnliche reaktive Depression hier kurzdauernde ängst¬ 
liche Erregungszustände aufgepfropft haben. Das Bild, das entsteht, ist 
aber ein deutlich kombiniertes und weit entfernt von der Herzneurose. 
Doch zeigt diese Beobachtung, daß die reaktiv-labile Konstitutions¬ 
grundlage die intrapsychische Aufnahme und Verwertung paroxysti- 
scher Anfälle von Herzangst gestattet. Für die Beantwortung der 
weiteren Frage, ob eine solche Konstitution auch den Boden abgeben 
kann für ein echt kardiogenes Irresein, steht bedauerlicher Weise 

5 * 



68 


kein Material zur Verfügung. In Analogie mit der autochthon-labilen 
Konstitution soll diese Möglichkeit nicht bestritten werden. 

Als nächster Konstitutionskreis unter den Psychosen wäre heran¬ 
zuziehen das Verhalten der Epileptiker gegenüber Herzfehlern. Uns 
selbst ist in dieser Hinsicht nur ein negativer Fall bekannt, dessen 
Wiedergabe hier natürlich nicht annähernd von so großem Interesse 
ist als bei der reaktiv-labilen Konstitution. Deswegen sei-auch dar¬ 
auf verzichtet. Die Durchsicht der Literatur lehrt, daß über psychi¬ 
sche Störungen infolge Herzerkrankung bei Epileptikern nichts be¬ 
kannt ist. Es wäre auch begrüßenswert, wenn einmal einer der 
Ärzte, die an großen Epileptikeranstalten wirken, darüber berichten 
würde, ob ein Einfluß von Herzerkrankungen auf den Ausbruch, den 
Verlauf und den Ausgang der Epilepsie besteht. Vorläufig ist ein 
solcher noch nicht besonders bemerkt worden, ja es scheint, als ob 
dieser Konstitutionskreis überhaupt keine geeignete Grundlage ist 
für die Beeinflussung des seelischen Lebens durch Herzleiden. Doch 
ist diese Ansicht nur unter Vorbehalt aufzunehmen, bis eine speziell 
darauf gerichtete Untersuchung ihre Gültigkeit erweist. Nach den 
Forschungen H. Fischers steht der Eunuchoidismus der epilepti¬ 
schen Konstitutionsanomalie sehr nahe; deswegen sei hier anhangs¬ 
weise erwähnt, daß bei einem Eunuchoiden mit Herzfehler, der seit 
längerer Zeit in der Gießener Klinik in Behandlung steht, und über 
den H. Fischer und H. Hofmann in kurzer Zeit ausführlich be¬ 
richten werden, gleichfalls keine Beeinflussung des psychischen Ge¬ 
schehens durch diese Verwicklung nachzuweisen ist. 

Schließlich ist noch der Einfluß von Herzleiden auf die große 
Gruppe der Defektpsychosen, der Dementia praecox oder der Schizo¬ 
phrenie zu untersuchen. Hierbei ist zuerst an die Ausgestaltung kar¬ 
dialer Mißempfindungen zu denken. Namentlich in Zuständen schwe¬ 
rer affektiver Verblödung, vollständiger Verworrenheit, oder lang¬ 
dauernder Spannungszustände ist von vornherein die Aussicht hier¬ 
auf sehr gering. Es besteht dabei eine gewisse Analogie zu den orga¬ 
nischen Zerstörungsprozessen des Gehirns, wo gleichfalls in den fort¬ 
geschritteneren Stadien der Einfluß der von Herzleiden ausgehenden 
Sensationen erlischt. Freilich ist es auch im Beginn schizophrener 
Erkrankungen sehr schwer, wenn zugleich ein Herzfehler besteht, 
etwas über die dadurch begründete psychopathologische Variante aus¬ 
zusagen. Dafür wird als Beweis folgender Fall Jacobs angeführt. 
Eine 18jähr. Pat., die seit 10 Jahren an einem Herzfehler leidet, ver¬ 
ändert sich im Wesen, wird reizbar und ängstlich, spricht verwirrt 
und begeht unsinnige Handlungen. Es bestehen Zeichen einer Mitral- 



G9 


Stenose und einer Lungenstauung. Die Orientierung ist gut, die 
Stimmung im allgemeinen ablehnend und mißmutig. Die Pat. ist 
zuweilen psychomotorisch stark erregt und drängt nach Hause, hat 
dann anscheinend ängstliche Halluzinationen. Mitunter bringt sie 
einige erotische Beziehungsideen vor. Nach etwa 7 Wochen stirbt sie 
plötzlich in einem Anfall heftigster Atemnot. Auch Jacob hat in 
diesem Fall an die Möglichkeit einer Dementia praecox gedacht, glaubte 
aber, sie ablehnen zu müssen wegen des Fehlens von ethischen und 
intellektuellen Defekten und von Negativismus, Katalepsie oder Ste¬ 
reotypie. Auch ohne diese Kennzeichen wird man heute eine begin¬ 
nende Schizophrenie diagnostizieren. Es fragt sich nun, ob die anfalls¬ 
weise auftretenden ängstlichen Erregungszustände mit dem Herzfehler 
Zusammenhängen. Ohne Zweifel werden nicht selten auch bei intaktem 
Herzen derartige Phasen beobachtet, so daß die Beurteilung schwierig 
wird. Es ist aber doch anzunehmen, daß die periodisch infolge^ler 
Herzerkrankung sich steigernde Dyspnoe zum mindesten provozie¬ 
rend auf das Auftreten dieser Erregungszustände einwirkte. Über¬ 
haupt muß man wohl im Verlauf der Dementia praecox öfter an eine 
Provokation irgendwelcher akuter Erscheinungen denken, als daß 
man berechtigt wäre, eine intrapsychische Verarbeitung von Körper¬ 
sensationen zu vermuten. Die Eigentümlichkeit des schizophrenen 
Innenlebens nimmt alles Äußere nur zum Anlaß neuer Manifestationen 
seiner selbst; von außen Einwirkendes kann nicht seiner gewöhn¬ 
lichen • assoziativen Verknüpftheit gemäß das psychische Leben in 
bestimmter Richtung umgestalten. Ebenso verhält es sich mit dem 
Herzleiden und den ihm entspringenden Mißempfindungen. Es braucht 
sich beim Schizophrenen durchaus nicht an die ängstliche Empfin¬ 
dungsqualität der Beklemmung und der Atemnot die Idee der 
Bedrohung anzuschließen, sondern die intrapsychische Ataxie 
(Stransky) erlaubt Verbindungen, die uns normalpsychologisch 
nicht verständlich sind. Aus diesem Grunde ist es u. E. richtiger, von 
einer Provokation neuer schizophrener psychischer Inhalte zu spre¬ 
chen als von deren Verursachung oder gar Determinierung. Des wei¬ 
teren geht hieraus hervor, wie verkehrt es wäre, zu glauben, das 
jahrelange Bestehen von Herzbeschwerden könne eine Prädisposition 
für die Dementia praecox schaffen. Abgesehen von diesem dedukti¬ 
ven Verfahren läßt sich dieser Satz auch induktiv bestätigen; denn 
unter der großen Zahl der Defektpsychosen sieht man nur höchst 
selten Herzerkrankungen. Die Bedeutung der Herzleiden, soweit es 
sich gründet auf die dabei entstehenden Sensationen, ist also für die 
Dementia praecox eine sehr geringe, eine noch weniger als bei den 
organischen Demenzpsychosen in Betracht zu ziehende. 



70 


Andererseits ist bei der Dementia praecox noch jene Form der 
Einwirkung auf das psychische Leben vom Herzen aus zu beleuchten, 
die bei dessen Funktionsstörung als kardiogenes Irresein in Form 
exogener Reaktionstypen auftritt. Es entspräche diese dann der 
Kombination des Grundleidens mit dem darüber liegenden Bild der 
von der Herzstörung abzuleitenden Störung, ähnlich wie dies bei der 
Arteriosclerosis cerebri usf. gefunden wird. In Wirklichkeit scheinen 
diese Vorkommnisse extrem selten zu sein. 

In der. Literatur sind keine sicheren Beobachtungen niedergelegt, 
die eine Überlagerung einer Dementia praecox z. B. durch ein kardio¬ 
genes Delir zeigen. Es ist darum hier ein Fall heranzuziehen, der in 
der Gießener Klinik, freilich vor langer Zeit und von anderer Seite, 
aber recht eingehend und so plastisch aufgezeichnet worden ist, daß 
man sich wohl heute noch ein Bild von dem psychopathologischen 
Geschehen machen kann. 

F a 11 12. M a r i e F., 20 J. alt, in Behandlung vom 24. 2. bis 4. 3. 1898. 

Anamnese: Keine hereditäre Belastung. Normale Jugendentwicklung. In 
der Kindheit Masern, Röteln und zweimal Lungenentzündung, erholte sich 
stets rasch. In der Schule mäßig gelernt. Mit 15 Jahren Menarche. Stets 
munter, tätig und gesund. Herbst 1897 starke Erkältung. Menopause von 
6 Wochen. War gleichmäßig heiter und unauffällig. Seit Anfang Februar 
1898 ruhiger, arbeitete langsamer und mit Widerwillen, klagte über Müdigkeit, 
saß oft untätig herum und aß schlecht. Nach einiger Zeit traten Beziehungs¬ 
ideen auf. Man rede über sie, sie wäre närrisch, man lausche ihre Gpdanken 
ab, man wolle sie holen. Dabei beständig große Furcht, öfters auch nachts 
ängstliche Erregungszustände. Seit drei Tagen weinerlich, glaubt, man rede 
schlecht über sie, starrt manchmal in eine Ecke des Zimmers, springt zur Mut¬ 
ter und schreit vbr Angst: „Sie holen mich, sie holen mich!“ In der folgenden 
Nacht schläft sie vor Angst nicht. Am nächsten Morgen geht sie ruhelos 
durchs Haus, macht eigentümliche Handbewegungen, Verbeugungen mit dem 
Kopfe. Die ängstliche Stimmung nimmt rasch zu. Die Pat. ißt und trinkt 
nichts mehr, äußert Vergiftungsideen, betet viel, gibt Antwort, anscheinend auf 
Stimmen. Schließlich beginnt sie sich auch vor den Angehörigen zu fürchten, 
sieht Gestalten vor den Fenstern, die sie holen wollen, kennt sich aber in 
ihrer Umgebung aus. 

24. 2. Die Pat. kramt ruhelos, weinerlich vor sich hinstöhnend, in ihrem 
Bett, rutscht hin und her, faltet und ringt die Hände, gibt keine Antwort auf 
Fragen, sondern wehrt angstvoll ab. Nach einer Weile läuft sie unschlüssig 
im Krankensaal hin und her, umarmt schließlich eine andere Patientin, blickt 
sie starr an und klagt: „Mein Heinrich, mein Heinrich!“ Sie läßt sich ohne 
Widerstreben in ihr Bett zurückbringen, steht aber bald wieder auf, geht ans 
Fenster und klagt: „Ich muß sterben, ach, mein Heinrich, armer Konrad, warum 
kommst du nicht? Ach, Anna, wo ist mein Engelchen? Ich bin nicht wert, 
daß mich die Sonne bescheint.“ Ergeht sich in klagendem Murmeln, anschei¬ 
nend betenden Inhalts. 



71 


Es besteht leichte Pupillendifferenz, rechts weiter als links, ferner ein 
Herpes an Mund, Nase und Wangen. 

In der Nacht schlaflos, wimmert leise vor sich hin, nimmt keine Nahrung. 

25. 2. Den ganzen Tag über ängstlich erregt, wühlt und kramt umher, 
bleibt nicht einen Augenblick ruhig liegen. Dabei große Ratlosigkeit und Un¬ 
schlüssigkeit Redeprobe: Ach, ach, meinen Mann und meine Kinder sehe ich 
nicht mehr! Gott behüte mich! Ich verzage. Ach, Heinrich! Heute Morgen 
war er hier. Soll ich weinen, soll ich lachen oder soll ich zum Fenster 
hinausschauen? Ach Gott, ach Gott, schieß mich nicht tot!“ Sie ist dabei 
nicht zu fixieren, klagt immer in eintöniger Weise fort, scheint aber die Situa¬ 
tion zu erkennen, da sie den Arzt als Doktor anspricht. Zuweilen eigentüm¬ 
liche Redewendungen: „Meine Zunge sieht mich nicht, die Krone liegt nicht 
mehr auf ihr, soll ich sinken, soll ich lahmen?“ 

Pat. nimmt auch heute keine Nahrung zu sich. Läßt sich körperlich nicht 
untersuchen. Nachts wird sie etwas ruhiger, starrt zuweilen regungslos vor 
sich hin, schläft gegen 3 Uhr ein. 

26. 2. Beständig in Bewegung, zögernd und unschlüssig, greift nach 
allem, tastet umher, knüpft Betteile zusammen. Das Ganze geschieht unter 
monotonem ängstlichem Wimmern und Stöhnen ohne Motiv und Zweck. Son- 
denftitterung. In der Nacht schläft sie. 

27. 2. Dieselbe ratlose triebhafte Unruhe wie an den Vortagen. Gibt 
keine Auskunft, schaut halb weinend, halb lachend ihr Gegenüber an, sucht 
sich oft festzuklammern, widerstrebt jedem Versuch der körperlichen Unter¬ 
suchung. Temperatur nie über 37° C. In der Nacht sehr unruhig, zerstört 
Matratzenteile, zieht die Leibwäsche aus, steht dann unschlüssig nackt in¬ 
mitten eines Haufens von Wäsche und Bettstücken. 

28. 2. Bewegungsunruhe unverändert. Versuch der Sondenftitterung muß 
wegen heftigsten Widerstrebens und lauten ängstlichen Schreiens abgebrochen 
werden. Pat. wird immer unruhiger, zerstört das Bettzeug. 

Am Spätnachmittag komatöser Zustand. Pat. liegt regungslos und blaß 
mit kleinem aussetzendem Puls da, atmet oberflächlich, reagiert auf nichts. Auf 
Kampfer Besserung. Von 2 Uhr nachts an wieder unruhig in gewöhnlicher 
Weise. 

1. 3. Pat. wühlt sinnlos in den Betten, starrt bald lachend, bald ängstlich 
vor sich hin, zerreißt, trinkt etwas Wasser, ißt aber nichts, spricht nichts mehr, 
schläft gegen Mitternacht ein. 

2. 3. Nunmehr besteht ein ausgesprochener Mutismus neben einer mäßigen 
Hyperkinese. Dabei immer noch ratlos und unschlüssig, befolgt keine Auf¬ 
forderungen, läßt 8ich aber untersuchen. 

Blasses Mädchen in herabgesetztem Ernährungszustand. Atmung ruhig. 
Temperatur 37,1 0 C. Puls sehr schwach, 98 i. d. Min. Am Nervensystem 
nichts Besonderes nachzuweisen. 

Nach der Untersuchung wieder in spielender Unruhe, schiebt die Gegen¬ 
stände hin und her, dreht am Lichtschalter herum, betastet die Reagenzgläser 
und läuft ratlos umher. 

3. 3. Hyperkinese unverändert. Jammert manchmal laut vor Angst: 
„Ach Gott, ach Gott, die schießen mich! Vater! Mutter! gebt mir ein Messer! 
Laßt mir das Wasser!“ Dann lächelt sie die Frager wieder eigentümlich an 
und flüstert unverständlich. Körperlich sehr mitgenommen. Puls sehr schwach. 
In der Nacht Cheyne-Stokessches Atmen. Temperatur subnormal. 



72 


4. 3. Völlige Prostration. Zuweilen leichter Strabismus. Beide Patellar- 
reflexe sehr schwach. Pupillen r = l, Lichtreaktion i-{-. Die Pat. liegt völlig 
teilnahmslos im Bett, wird nachmittags in die medizinische Klinik verlegt, wo 
sie am 5. 3. nachmittags verstirbt. 

Nach dem Obduktionsprotokoll fand sich ein broncho-pneunomischer Herd 
im Unterlappen der rechten Lunge. Die Dura war prall gespannt, die Gehirn¬ 
furchen klafften stark, es fand sich reichlich Flüssigkeit in den weichen 
Häuten. Die Gehirnsubstanz bot normalen Befund. Am Schließungsrand der 
Klappen des linken Herzens flache, sulzige, gelblich-rote, endokarditische 
Wucherungen, die Klappen selbst geschwollen und ihre Gefäße stark gefüllt. 
Im übrigen fand sich nichts Besonderes. 

Es handelt sich also hier um eine bei einer frischen Endokarditis 
sich entwickelnde Psychose, die zuerst mit ihren Beziehungsideen, 
ihren Halluzinationen und ihren Pseudospontanbewegungen den Ein¬ 
druck einer beginnenden Dementia praecox hervorruft. Im weiteren 
Verlauf zeigt sich unter Zunahme der ängstlichen Erregung eine 
schwere Amentia mit Bewegungsunruhe, mit Konzentrationsunfähigkeit 
und mit Ratlosigkeit. Dabei bestehen negativistische Nahrungs¬ 
verweigerung und später auch Mutismus. Den tödlichen Ausgang 
leiten komatöse Zustände mit Cheyne-Stokesschem Atmen und ver¬ 
waschene neurologische Symptome ein. Das Zusammentreffen der 
Endokarditis mit dem Beginn des schizophrenen Schubes legt den 
Gedanken nahe, daß es sich um eine Provokationswirkung handele. 
Gegen Ende des Verlaufes bewirkt aber die körperliche Erkrankung 
den Übergang in ein schweres Amentiabild von exogenem Charakter, 
so daß wir hier das Beispiel einer Summationswirkung der kardioge¬ 
nen Noxe vor uns haben, indem diese zuerst provozierend auf den bereit¬ 
liegenden Mechanismus des schizophrenen Prozesses und dann patho¬ 
genetisch auslösend auf den exogenen Reaktionstyp der Amentia wirkt. 

Freilich bleibt es ungewiß, ob diese Deutung zwingend ist. Aber 
selbst dieses eine Beispiel würde doch nur wieder beweisen, daß Herz¬ 
störungen für die Dementia praecox nur eine sehr geringfügige Be¬ 
deutung besitzen und zwar sowohl in Bezug auf die intrapsychische 
Verwertung hieraus entspringender Sensationen als auch auf die 
direkte Einwirkung der hierbei entstehenden Noxe auf das Gehirn. 
Zum mindesten ist festzustellen, daß die Ansprechbarkeit des Gehirns 
auf diese Noxe durch das gleichzeitige Bestehen einer Dementia 
praecox eher herabgesetzt als erhöht scheint. 

Anhangsweise soll hier ein Fall Jacobs Erwähnung finden, 
dessen Einordnung unsicher ist. Eine 38jähr. Pat., seit Kindesbeinen 
herzleidend, die bereits vor 20 Jahren eine Geisteskrankheit mit 
„Gedrücktheit und Starre“ durchgemacht hat und seitdem erreglich, 
eigensinnig und absonderlich blieb, erkrankt unter Zeichen der De- 



73 


kompensation des Herzens mit starker Erregung, Desorientiertheit, 
Halluzinationen und Illusionen. Dabei wechseln plötzlich einsetzende 
ängstliche Erregungszustände mit freien Intervallen, in denen die 
Pat. zugänglich ist. Interkurrent erkrankt die Pat. an kruppöser 
Pneumonie; dabei ist sie sehr abgespannt und weniger erregt. Dann 
treten wieder Angstzustände auf, zuweilen auch impulsive Hand¬ 
lungen. Die Orientierung bleibt schlecht, die Sprechweise ist ver¬ 
schroben und klebend, zuweilen stereotyper Rededrang. Massen¬ 
haft Halluzinationen. Nach 4 Wochen ist die Pat. etwas freier, 
spricht aber noch geziert. Dann zeigen sich flüchtige Paresen. In 
den nächsten Wochen ist die Pat. noch desorientiert, spricht gewählt 
und absonderlich, zuweilen verworren und beziehungslos, hat viele 
Halluzinationen. Nachdem sich unter Digitalis dann die Herzkraft 
bessert, hebt sich das Befinden; die Pat. ist klar und besonnen, ohne 
Halluzinationen mit Krankheitseinsicht und Erinnerung, dabei leicht 
euphorische Stimmung. Doch nach weiteren 4 Wochen wird die Herz¬ 
kraft geringer; es treten wieder Halluzinationen und Erregungsphasen 
auf, die schließlich in eine deliröse Verwirrtheit übergehen. Nach im 
ganzen 5 Monaten stirbt die Patientin. An diesem gewiß interessan¬ 
ten Fall spricht manches für das Bestehen einer alten Dementia prae¬ 
cox, auf die zuerst ein Amentiabild, später ein deliranter Zustand in¬ 
folge des Versagens der Herzfunktion auf lagern. Freilich ist dies 
nur eine Wahrscheinlichkeitsannahme, die noch dazu im Gegensatz 
steht zu dem Beobachter selbst, der eine Dementia praecox ablehnte. 
Die Entscheidung muß dem Leser überlassen bleiben. 



Ergebnis und Ausblick. 

Wenn man die Einordnung des in vorstehenden Blättern Nieder¬ 
gelegten in allgemeinere Zusammenhänge vollziehen will, so bedarf 
es zuerst einer rückblickenden Zusammenfassung der Erfahrungen, 
die sich ergeben haben aus der Beobachtung der Wechselwirkung 
zwischen Herzkrankheit und Psychosen. Hierbei leistet allerdings 
nicht eine kurze Rekapitulation allein Genüge; die Tatsachen, die 
als erwiesen gelten können oder wahrscheinlich gemacht worden 
sind, sind unter andern Gesichtspunkten neu zu gruppieren, als es 
die induktive Methode der vorausgegangenen Untersuchungen erfor¬ 
derte. Es wird sich dann um so leichter der Anschluß vollziehen 
lassen an die allgemeineren Probleme, die wir bereits in der Ein¬ 
leitung angedeutet haben. Schließlich verdient ja die Beschäftigung 
mit einem so kleinen und so eng umschriebenen Forschungsgebiet, 
wie es unser Thema umgreift, nur dann die Beachtung eines größeren 
Kreises von Fachgenossen, wenn es gelingt, das Einzelne ins Typische 
zu verallgemeinern und die großen Probleme der Psychiatrie in ihrer 
Wechselbeziehung zu dem schmalen Ausschnitt, der hier möglichst 
wirklichkeitsgetreu geschildert werden sollte, zu untersuchen, zu 
messen und zu prüfen. 

Zweierlei Art ist die Wirkungsweise auf das Seelenleben, die 
ausgeht von der Störung der Funktion des Herzens. Die eine besteht 
darin, daß sich im Verlauf der Herzkrankheit eine unbekannte Noxe 
bildet, die ihrerseits verschiedene psychopathologische Syndrome 
hervorruft. Als solche wurden festgestellt manische und depressive 
Verstimmung, Stupor, Delirium, Hyperkinese, Dämmerzustand, Hallu- 
zinose und Verwirrtheit, also überwiegend heteronome Symptomen- 
komplexe, sämtlich exogene Reaktionstypen im Sinne Bonhöffers 
bis auf die fraglichen depressiven Phasen. Die Dauer der Psychosen 
war sehr wechselnd, ihre Tendenz deutlich restitutiv. Häufig fanden 
sich die Einzelerkrankungen aus mehreren Zustandsbildern zusam¬ 
mengesetzt. Steigerungen bis zum Delirium acutum oder zum Menin¬ 
gismus kamen nicht zur Beobachtung. Ob hyperästhetisch-emotio¬ 
nelle Schwächezustände bei der Rückbildung Vorkommen, ist nicht 
sichergestellt. Ein Korsakowscher amnestischer Symptomen- 



75 


komplex ergab sich nur bei dem gleichzeitigen Bestehen einer Gehim- 
arteriosklerose, ein Umstand, dessen Würdigung bereits angebahnt 
wurde. Prüft man die Reihe der Zustandsbilder, so zeigt sich, daß, 
wenn homonome und heteronome Syndrome zusammen Vorkommen, 
die homonomen zumeist die Einleitung oder den Ausgang der Psy¬ 
chose in ihrem Gesamtverlauf bilden, während die heteronomen die 
dazwischenliegende Zeit ausfüllen. Es liegt nahe, die einleitenden 
homonomen psychotischen Zustandsbilder auf ein Hervortreten vor¬ 
gebildeter Konstitutionstypen zurückzuführen, die Berechtigung dazu 
erscheint aber noch zweifelhaft. Specht hat ähnliche Gedanken¬ 
gänge formuliert und darauf hingewiesen, daß die heteronomen Bilder 
Steigerungen des Krankheitsvorganges, Zerebrationsstufen im Sinne 
Schüles, sein könnten. Hiergegen hat Bonhöffer Bedenken 
geäußert, denen wir uns anschließen möchten, und zwar ausgehend 
von der Tatsache, daß es im Verlauf des manisch-depressiven Irre¬ 
seins nie zur Ausbildung echter heteronomer Zustandsbilder komme. 
Des weiteren wird, wie wir bereits erwähnten, das kardiogene Irre¬ 
sein nur in der Minderzahl der Fälle durch homonome Bilder einge¬ 
leitet, zuweilen ist es sogar umgekehrt; verwiesen sei hier auf den 
Fall Bonhöffers (S. 25), bei dem eine Halluzinose der manischen 
Phase voraufging. 

Weiter bedarf der näheren Untersuchung das Schwanken des 
Bewußtseins in den verschiedenen Zustandsbildern und im Gesamt¬ 
verlauf. An und für sich unterscheiden sich ja Delirium und Dämmer¬ 
zustand einerseits, Halluzinose und Amentia andererseits schon durch 
den Grad der Bewußtseinshelle. Über die Bewußtseinslage des Stu¬ 
pors und der hyperkinetischen Erregung ist nur weniges bekannt. 
In den von uns geschilderten Fällen ergibt sich vor allem auch ein 
Schwanken des Bewußtseins mit der Tageszeit. Im Hinblick auf den 
physiologischen Wechsel von Wachen und Schlaf liegt es nahe, an 
Einflüsse des Regulationszentrums dieser Funktionen auf das abartige 
Seelenleben der kardiogen Psychotischen zu denken» An anderer 
Stelle bin ich auf diesen Mechanismus vom himphysiologischen 
Standpunkt aus näher eingegangen; es lassen sich spezielle Apparate 
im Gehirn für den Schlaf wahrscheinlich machen, die ihrerseits in 
engen Beziehungen zur Spontaneität und zum Sensorium commune 
stehen. Vermutlich handelt es sich beim normalen Schlaf um Schal¬ 
tungsvorgänge im Gehirn, so daß sie ohne weiteres ausgleichbar sind. 
Eben diese Schaltungsvorgänge wirken sich auch im psychopatholo- 
gischen Geschehen aus, nur daß die Wirkung der Umschaltung der 
in krankhafter Erregung oder Lähmung oder Dissoziation befindlichen 



76 


Himapparate eine gänzlich andere wird. Der tagsüber besonnene 
Kranke gerät in eine hyperkinetische Erregung, oder der amnestische 
Symptomenkomplex ergänzt sich durch Auftreten von Bewußtseins¬ 
trübung und Sinnestäuschungen zum regelrechten Delir. 

Durch diese Überlegungen zeigt sich zugleich, daß es fehlerhaft 
wäre, ohne weiteres anzunehmen, daß die Trübung des Bewußtseins 
eine Steigerung des Krankheitsvorganges bedeutete; vielmehr ist dar¬ 
aus nur auf eine Umschaltung oder Umgruppierung seelischer Appa¬ 
rate zu schließen, die begreiflicherweise auch ihrerseits krankhaft be¬ 
dingt sein kann. Im ganzen läßt sich aber sagen, daß vermutlich die 
Ausbreitung des pathologischen Prozesses im Gehirn maßgebend sein 
muß für das Auftreten von Bewußtseinstrübungen und nicht etwa eine 
Anlageanomalie. Die Differenz der einzelnen heteronomen Zustands¬ 
bilder, die ja auch insofern einer Erklärung bedarf, als sie sich nicht 
auf die Verschiedenheit der Bewußtseinslage bezieht, scheint eher mit 
dem Betrolfensein bestimmter Himgebiete zusammenzuhängen, als 
mit einer konstitutionellen Eigenart des Individuums. Dafür spricht 
erstens der Umstand, daß verschiedene Zustandsbilder im Rahmen 
einer Erkrankung auftreten, zweitens ist nur so erklärbar die Tat¬ 
sache, daß ein und derselbe Organismus auf dieselbe Schädlichkeit 
wie das Erlahmen der Herzkraft mit zwei verschiedenen Zustands¬ 
bildern reagieren kann, wie oben nachgewiesen wurde. Weitere 
Hypothesen aufzustellen über die Gründe, weswegen die Ausbreitung 
des krankhaften Vorgangs im Gehirn im Einzelfall verschieden ist 
und sich während des Krankheitsverlaufs ändert, würde zu weit 
führen und ohne Nutzen sein. 

Über die Natur der pathogenetisch wirksam werdenden Noxen 
bei den soeben geschilderten Formen kardiogenen Irreseins läßt sich 
zur Zeit nur weniges aussagen. Jacob hat sie erblicken wollen in 
den chemischen Wirkungen der Beeinträchtigung des Stoffwechsels 
im Nervengewebe als Folge des schlechten Ernährungszustandes der 
Großhirnrinde, der sich durch mangelnde arterielle Zufuhr und durch 
venöse Hyperämie ausbildet. Ohne Zweifel leidet diese These trotz 
ihrer Richtigkeit an ihrer allzugroßen Allgemeinheit. Beeinträchti¬ 
gungen im Stoffwechsel der Nervenzellen kommen sicherlich unter 
den allerverschiedensten Umständen zustande. Auf Grund unserer 
Beobachtungen ist vor allem die Unabhängigkeit der fraglichen Noxe 
von der Ausbildung oder vom Rückgang irgendwelcher Ödeme im 
Bereich des übrigen Körpers festzustellen. Des weiteren gehört sie 
hinsichtlich ihrer psychopathologischen Folgen in eine Klasse mit 
den Stoffen, die auch bei Infektionskrankheiten und bei Erkrankung 



77 


anderer innerer Organe gebildet werden. Es ist anzunehmen, daß 
diese Noxe in einer Veränderung der Blutbeschaffenheit besteht, frei¬ 
lich nicht der gleichen Art, wie bei den obengenannten Erkrankun¬ 
gen, aber doch einer ähnlichen. Dabei ist zu bemerken, daß diese 
Noxe vermutlich viel häufiger vorhanden ist, als sie psychopatho- 
logisch wirksam wird. Sie braucht zur Entfaltung ihrer pathogene¬ 
tischen Kraft eine geeignete Grundlage. Auch Jacob hebt die auf¬ 
fallende Tatsache hervor, daß nur in relativ wenigen Fällen die 
schlechte Blutversorgung zu psychischen Alterationen führt. Als Er¬ 
klärung nimmt er an, daß das Gehirn in diesen Fällen eben in seiner 
Funktionstüchtigkeit geschwächt sei entweder durch hereditäre Ein¬ 
flüsse oder durch andere schädigende Momente. Gerade an diesem 
Punkte mußte die weitere Forschung einsetzen und sich richten auf 
die Aufdeckung oder wenigstens genauere Festlegung der Grundlage, 
auf der die Wirkungsmöglichkeit der kardiogenen Noxe erwächst. 

Um diesem vagen Begriff der Grundlage näher zu kommen, wurde 
zuerst der Einfluß anderer Erkrankungen auf das Zustandekommen 
kardiogener Psychosen untersucht. So stellt sich heraus, daß die 
Arteriosklerose des Gehirns nicht erleichternd und begünstigend auf 
das Eintreten des kardiogenen Irreseins wirkt, ja daß überhaupt De¬ 
struktionsprozesse des Gehirns in dieser Richtung nicht von Belang 
sind. Dabei ist das konstitutionelle Moment vorläufig in den Hinter¬ 
grund gestellt; es werden zuerst nur ganz allgemein die Neben¬ 
bedingungen und Komplikationen in ihrer Bedeutung geprüft, ohne 
zwischen konstitutionell oder akzidentell bedingten Leiden zu schei¬ 
den. Auch von Erkrankungen der inneren Organe und Infektions¬ 
krankheiten ist das Auftreten des kardiogenen Irreseins nicht ab¬ 
hängig. Des weiteren zeigt sich auch kein Zusammenhang mit Intoxi¬ 
kationen. Diese Fragestellung wurde im 4. Kapitel aus Mangel an 
Material übergangen. An dieser Stelle ist aber dieses negative Er¬ 
gebnis ausdrücklich hervorzuheben. Es erweist sich also, daß die 
Grundlage, deren die bei Herzleidenden sich bildende Noxe benötigt, 
um psychische Folgeerscheinungen hervorzurufen, jedenfalls nicht 
bestehen kann in Veränderungen, die bei Erkrankungen des Gehirns 
und innerer Organe, bei Infektionen und Intoxikationen entstehen. 
Setzt man die Untersuchung dieser fraglichen Grundlage fort, so 
führt-dies zu den Problemen der Konstitutionsforschung. 

Dabei geht man am besten zunächst von einigen hierhin deuten¬ 
den Gesichtspunkten aus, die freilich in recht spärlicher Zahl bei der 
Durchmusterung unseres Materials zur Verfügung stehen. Eine be¬ 
sondere Bevorzugung eines Geschlechts findet sich nicht; die Alters- 



78 


stufen sind sehr ungleichmäßig vertreten, im besonderen fehlen die¬ 
selben bis zum 30. Lebensjahr, weiter sind sehr wichtig die Beobach¬ 
tungen über die Beziehungen des kardiogenen Irreseins zu ganz be¬ 
stimmten Konstitutionskreisen, z. B. zu der autochthon-labilen und 
zu der reaktiv-labilen Konstitution. Es zeigt sich, daß durch eine 
Herzstörung einerseits eine akute Phase einer autochthonen Degene¬ 
rationspsychose ausgelöst werden kann, andererseits die gewöhn¬ 
lichen Bilder des kardiogenen Irreseins erzeugt werden können. 
Fernerhin ergeben die Beobachtungen an Fällen mit reaktiv-labiler 
Konstitution, daß hierbei keine Störungen entsprechender Art durch 
Herzanomalie zustande kommen. Unbekannt ist weiter bisher das 
Auftreten von kardiogenen Psychosen bei Epileptikern. Bei den 
Defektpsychosen, denen nach verbreiteter Anschauung ja au«h eine 
einheitliche Anlage, die sogenannte schizoide Konstitution, zugrunde 
liegt, zeigte sicli das Verhalten gegenüber den Störungen der Herz¬ 
funktion ähnlich wie bei organischen Demenzprozessen. Dieser 
Punkt' muß später noch näher erläutert werden. Vorläufig läßt sich 
sagen, daß eine bestimmte Konstitutionsform, die autöchthon-labile, 
nicht selten psychotisch auf Herzerkrankungen reagiert sowohl im 
Sinne einer Auslösung akuter Attacken als auch im Hervortreten 
eigentlich kardiogenen Irreseins. Eine nähere Beziehung ähnlicher 
Art von seiten der reaktiv-labilen und epileptischen Konstitution 
wurde nicht festgestellt. 

Wir brechen hier ab und gehen über zu der zweiten Art der Ein¬ 
wirkung der Herzkrankheit auf das Seelenleben. Die Erkrankung 
des Herzens kann zu Empfindungen von Beklemmung und Lufthunger 
führen, die sich ihrerseits anfallsartig steigern können. In diesen 
Anfällen entsteht das eigenartige Gefühl der sog. Herzangst. Diese 
setzt sich wieder um in einen Angstzustand der gesamten betroffenen 
Persönlichkeit. Dabei kommt es unter Umständen zu wilden Jakta¬ 
tionen, zu rasender Erregung, zu Todesahnungen, zu Verkennung der 
Umgebung und zu leichter Trübung des Bewußtseins, so daß plötz¬ 
liche impulsive Handlungen vorgenommen werden, entweder um sich 
zu retten, oder aber, wenn die Unerträglichkeit der Situation zu groß 
wird und den Wunsch nach Erlösung durch den Tod hervorbringt, 
um diesen zu verwirklichen. In verschiedenen Fällen konnte dieser 
dramatische Typus festgestellt werden; er ist einerseits somatogen, da 
er von der Empfindung eines organischen Leidens herrührt, anderer¬ 
seits zugleich aber auch „psychogen“, indem er den psychischen In¬ 
halt determiniert. Diese Psychogenität ist freilich eine ganz andere als 
die der Sprachgewohnheit gemäße bei hysterischen Reaktionen. Im 



79 


Interesse der Ausschaltung dieser Doppelsinnigkeit ist es vielleicht 
richtiger, den Ausdruck „t h y m o g e n“ anzuwenden; denn der Angst¬ 
zustand erfaßt zuerst die Thymopsyche und wirkt sich erst von hier 
aus weiter in der Gesamtpersönlichkeit aus. Die pathogenetischen 
Kräfte, die diese Form der Beeinflussung des Seelenlebens durch das 
Herzleiden erwirken, sind weder rein innersomatische Faktoren wie 
z. B. endokrine Störungen, noch rein psychologische Momente, wie 
z. B. Erlebnisse; sie liegen vielmehr auf einem Mittelgebiet, durch 
einen somatischen Vorgang, das Herzleiden, werden psychologische 
Tatbestände, Organgefühle, hervorgebracht, die sich fortentwickelnd 
und steigernd, das seelische Gefühlsleben erfüllen, die Thymopsyche 
ergreifen und von ihr aus eine allgemeine Störung erzeugen. Die 
psychische Störung in Form anfallsartig sich steigernder Angst ist 
also somatogen-thymogener Natur und steht damit im Gegensatz zu 
der erst beschriebenen Form des kardiogenen Irreseins als rein soma- 
togener Störung. 

Es gibt aber auch eine gewissermaßen abgeschwächte Form der 
Angstanfälle, die nur bemerkbar wird bei dem Bestehen schon ander¬ 
weitiger Störungen, nämlich eine dauernde Einstellung auf Ängst¬ 
lichkeit mit seltenen oder ganz fehlenden paroxysmalen Steigerungen. 
Diese Dauereinstellung verleiht den zugleich vorhandenen Psychosen, 
etwa der Gehirnarteriosklerose, eine ängstliche Färbung; sie wirkt 
somatogen- thymoplastisch, da sie im wesentlichen die Angst¬ 
gestaltung des Krankheitsbildes betrifft. Diese Komponente schiebt 
sich auch ein in einzelne Phasen des Beginns andersartiger Störungen 
auf kardialer Grundlage, so wird zuweilen vor der Entwicklung einer 
Psychose von exogenem Reaktionstypus eine kurze ängstliche Ver¬ 
stimmung mit anfallsartigen Paroxysmen bemerkt. Hier ist weiter 
hervorzuheben, daß zu den Voraussetzungen somatogen-thymogener 
resp. thymoplastischer Einwirkung eine gewisse Besonnenheit und 
ein relatives Erhaltensein des Gesamtzusammenhangs der Persönlich¬ 
keit gehören. Infolgedessen ergibt sich der durch die Erfahrung be¬ 
stätigte Satz, daß bei den organischen Demenzprozessen, die zum 
Verlust der Besonnenheit und zum völligen Zerfall der Persönlichkeit 
führen, der somatogen-thymogene resp. thymoplastische Einfluß der 
Herzkrankheit nur im Anfang der Psychose wirksam werden kann, 
und es läßt sich beobachten, daß sich zwischen diese Phase und eine 
ja auch im späteren Stadium mögliche Erkrankung am rein exogenen 
Typus kardiogenen Irreseins dann eine längere oder kürzere Periode 
unbeeinflußten, stumpf-dementiven Verlaufs einschiebt. Zu diesem 
Verhalten zeigen eine interessante Parallele die Defektpsychosen, die 



80 


schizophrenen Erkrankungen, wenigstens insofern, als bei stärkerem 
Zerfall die thymoplastische Kraft der kardialen Mißempfindungen 
verloren geht, während die Möglichkeit rein somatogener Einwirkung 
infolge einer zusätzlichen, durch die Herzstörung entstehenden Noxe 
bestehen bleibt. Freilich ist die intrapsychische Verwertung und 
Verarbeitung von Empfindungen bei schizophrenen Prozessen ver¬ 
möge der Dissoziation ihres Innenlebens von vornherein beeinträch¬ 
tigt. Diese Empfindungen wirken zumeist nur provozierend auf die 
Äußerungen des zugrunde liegenden Prozesses überhaupt. 

Des weiteren ist nachgewiesen, daß bei der reaktiv-labilen Kon¬ 
stitution dieser somatogen-thymogene Modus kardialer Einflußnahme 
verhältnismäßig selten vorkommt und dabei außerdem nicht zur 
Verschmelzung in das eigentliche Bild der reaktiven Erkrankungs¬ 
form gelangt, womit sich wieder die vorwiegend ideelle Natur der für 
diese wirksamen Anlässe bestätigt. Die Psychogenie der reaktiv¬ 
labilen Konstitution ist eine Ideogenie, wobei gewiß die tiefe affektive 
Beladenheit der krankheitserzeugenden Vorstellungen nicht verkannt 
werden soll. Das Erlebnis muß, um für diese Individuen pathogen 
zu sein, in das Vorstellungsleben eingegangen und verschmolzen, muß 
gedanklich verarbeitet sein; besteht es aus rein empfindungsartigen 
Elementen, wie in unserem Falle aus Organgefühlen, so hat es keine 
Bedeutung für die Schaffung einer Neurose. Diese Feststellung ist 
wichtig durch ihre Beziehung zur Lehre A. Adlers von der Bedeu¬ 
tung der Organminderwertigkeit für die Entstehung des nervösen 
Charakters. Ohne auf dieses Autors geistreiche und psychologisch 
interessante Ausführungen über das System der Sicherungen gegen¬ 
über solcher Minderwertigkeit als Grundlage der neuropathischen 
Entwicklung näher einzugehen, kann nach unserm Ergebnis die obige 
Prämisse nicht als erwiesen betrachtet werden, ja, sie muß sogar in 
Frage gestellt werden. 

Bei der autochthon-labilen Konstitution kommt es gleichfalls in 
manchen Fällen nicht zu einer Verschmelzung der kardiogen-thymo- 
genen Angstanfälle mit einer zugleich bestehenden Melancholie. Bei 
andern Fällen wieder wandeln sich die Angstanfälle allmählich in 
eine zusammenhängende ängstliche Depression, eine „Angstpsychose“, 
um. Wann das eine oder das andere eintritt, ist vorläufig nicht zu 
sagen. Oben wurde die Vermutung ausgesprochen, daß vielleicht das 
mehr oder minder lange Bestehen kardialer Mißempfindungen und 
davon abhängiger Angstparoxysmen das entscheidende Moment hier¬ 
bei sei. Wie dem auch sei, die Möglichkeit dieser Einwirkungen 
zeigt jedenfalls, daß thymogene Komponenten bei der autochthon- 



81 


labilen Konstitution eine ganz andere Rolle spielen als bei der reak¬ 
tiv-labilen Konstitution. Damit wird zugleich auf den zentralen An¬ 
teil der Thymopsyche in den autochthonen Degenerationspsychosen 
hingewiesen; es sind „Thymopsychosen“, im Gegensatz zu den ideo- 
genen Neurosen und Psychosen der Reaktiven. 

Kehren wir nunmehr zu dem Konstitutionsproblem zurück, so 
muß bekannt werden, daß es nicht gelungen ist, eine spezifische Kon¬ 
stitution festzustellen als Grundlage für die Tatsache, daß die einen 
Individuen an den Folgen eines Herzleidens psychisch erkranken und 
die andern nicht. Dabei bestätigte sich in ihrem Verhalten gegenüber 
diesem Zusammenhang die Einheitlichkeit gewisser Konstitutions¬ 
kreise. Sowohl bei der autochthon-labilen als auch bei der reaktiv¬ 
labilen Konstitution fand sich jeweils eine typische Reaktionsart, ja 
auch beim epileptischen Konstitutionskreis darf das negative Ergeb¬ 
nis ebenso gewertet werden. Andererseits zeigte sich eine teilweise 
Übereinstimmung bei den organischen Demenzpsychosen und den 
schizophrenen Prozessen. Sollte es wohl gestattet sein, hieraus auf 
den organischen Charakter der Defektpsychosen Rückschlüsse zu 
machen? Diese wichtige Frage auf Grund dieser Analogie zu beant¬ 
worten, wäre zu gewagt. Es gibt freilich noch genug andere Gründe, 
die für die Richtigkeit dieser Schlußfolgerung sprechen, ohne daß 
hier darauf eingegangen werden könnte'). Wie dabei allerdings die 
Annahme einer einheitlichen Grundlage der schizoiden Konstitution 
wegkommt, bleibt fraglich. Ewald hat sich kürzlich recht skep¬ 
tisch hierüber ausgesprochen. 

Des weiteren steht hier nochmals Kleists symptomatisch-labile 
Konstitution zur Diskussion. Schon oben hatten wir die Fälle ab¬ 
getrennt, die mehrmals auf verschiedene äußere Anlässe psychotisch 
erkranken resp. bei denen diese Eigentümlichkeit familiär ist. Für 
diese Individuen hatten wir das Vorhandensein einer besonderen ein¬ 
heitlichen und eigenartigen Konstitutionsanomalie anerkannt. Wie 
steht es aber mit dem übrigen, mit dem überwiegenden Teil der an 
symptomatischen Psychosen Erkrankenden? Aus der Betrachtung 
unserer Erfahrungen an Herzkranken geht sichtlich hervor, daß An¬ 
gehörige recht verschiedener Konstitutionskreise symptomatisch¬ 
psychotisch werden können. Das würde also bedeuten, daß ein 
Überschneiden der symptomatisch-labilen Konstitution mit fast allen 
andern, bis jetzt fester umschriebenen Konstitutionstypen stattfindet. 


’) Verwiesen sei an dieser Stelle auf die zusammenfasscnde Darstellung 
B u m k e s. 

Leyier, Herzkrankheiten und Psychosen. (Abh&ndL H. 25.) 6 



82 


Es ist zuzugestehen, daß dieser Umstand einigen Zweifel erweckt, ob 
mit der Annahme einer einheitlichen symptomatisch-labilen Konsti¬ 
tution für alle Fälle von exogenen Psychosen nicht nur eine Schein¬ 
lösung gegeben sei. Auch deshalb fällt es schwer, für diese Erklä¬ 
rung einzutreten, weil der Labilitätsgrad außerdem noch abhängig 
ist von der Art der Schädigung, und für die Chorea und den Typhus 
oft eine symptomatisch-labile Konstitution schon da angenommen 
werden müßte, wo bei Herzleiden z. B. davon noch keine Rede sein 
könnte. Nur für die Fälle, die auf verschiedenartige Schädlichkeiten 
wiederholt mit symptomatischen Psychosen reagieren, oder wo diese 
Eigentümlichkeit familiär ist, darf u. E. ein gesonderter Konstitu¬ 
tionstypus im Sinne Kleists angenommen werden. 

Unsere Untersuchungen, soviel interessante und bemerkenswerte 
Einzelbeobachtungen sie auch gebracht haben, konnten doch nicht zu 
der Beantwortung der beiden Grundfragen führen, welches die psy- 
chopathologische bedeutsame Noxe ist, die sich bei Herzleiden bildet, 
und unter welchen Umständen sie wirksam wird. Weder das Stu¬ 
dium der anderweitigen Verwicklungen noch das der konstitutionel¬ 
len Grundlage ergab für die Beantwortung der letzteren Frage geeig¬ 
nete Gesichtspunkte. Vielleicht ist die Erforschung dieser Probleme 
auf klinischem Wege überhaupt nicht möglich, und es bedarf dazu 
chemischer, serologischer oder noch gänzlich unbekannter Methoden. 
Tiefer sind wir eingedrungen in den Mechanismus der mit den kardia¬ 
len Mißempfindungen zusammenhängenden Störungen. Ihre über die 
Thymopsyche verlaufende Einwirkung erweist sich als abhängig von 
einer gewissen Aufnahmefähigkeit des Innenlebens, die durch De¬ 
komposition infolge schizophrener Zerfahrenheit oder organischer 
Demenz aufgehoben wird. 

Zum Schluß ist es angemessen, die Beziehungen und Hinweise 
zu erörtern, die sich aus der Beobachtung der Psychosen bei Herz¬ 
krankheiten ergeben zu jener in der Einleitung erwähnten Hypothese 
Bonhöffers von den ätiologischen Zwischengliedern bei der 
Pathogenese exogener Reaktionstypen. Bilden etwa das Herz und 
seine Funktionsstörung ein solches Zwischenglied? Man kann u. E. 
nur von der ängstlichen Färbung einzelner Zustandsbilder als ein¬ 
ziger Folgeerscheinung vereinheitlichender Wirkung der Erkrankung 
dieses Organes sprechen, und gerade dieser Wirkungsmechanismus 
ist nachgewiesenermaßen kein rein somatogener, sondern ein soma- 
togen-thymogener. Man muß deshalb die obige Frage verneinen; das 
Herz bedeutet keinen Mittler der Umwandlung differenter Noxen in 
einheitlich wirkende Faktoren auf psychopathologischem Gebiet. 



83 


Unsere Beobachtungen können sonach nicht zur Klärung.dieses Pro¬ 
blems beitragen; sie können nur per exclusionem den künftigen For¬ 
schungskreis verengern, der sich mit der Frage nach dem Wesen der 
Faktoren, die die vereinheitlichende Wirkung im Organismus ver¬ 
mitteln, zu beschäftigen hat. Es kann hier freilich die Vermutung 
nicht ganz unterdrückt werden, ob diese Faktoren gar etwa in den 
physiologischen Einrichtungen des Gehirns selbst zu suchen sind. 
Die Begründung und der Beweis der Richtigkeit dieser Anschauung 
stehen allerdings noch aus. 


6 * 



Literatur, 


A. Adler, Über den nervösen Charakter. Wiesbaden 1912. — D e r s., 
Ztschr. f. d. ges. Neurol. u. Psych. Orig.-Bd. 18, 1912. — K. Birnbaum, 
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— P. Schröder, Intoxikationspsychosen, Aschaffenburgs Handbuch, Leip¬ 
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S t e r t z , Typhus und Nervensystem, Berlin 1917. — Stransky, Monatsschr. 
f. Psych. u. Neurol., Bd. 14, 1903. — Ders., Wiener med. Wochenschr., 1905. 

— L. W. Weber, Die Beziehungen zwischen körperlichen Erkrankungen und 
Geistesstörungen, Halle 1902. — Wernicke, Grundriß der Psychiatrie, Leip¬ 
zig 1906. — Witkowsky, Allg. Zeitschr. f. Psych., Bd. 32. 1875. — Zie¬ 
hen, Psychiatrie, Leipzig 1902. 



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ABHANDLUNGEN AUS DER NEUROLOGIE, 
PSYCHIATRIE, PSYCHOLOGIE UND IHREN 
GRENZGEBIETEN 

BEIHEFTE ZUR MONATSSCHRIFT FÜR PSYCHIATRIE UND NEUROLOGIE 
HERAUSGEGEBEN VON K. BONHOEFFER 

HEFT 26 


Die Kreuzung der Nervenbahnen 
und die bilaterale Symmetrie des 
tierischen Körpers 


Von 


Prof. Dr. L. Jacobsohn-Lask 

in Berlin 


Mit 45 Abbildungen 





BERLIN 1924 

VERLAG VON S. KARGER 


KARI.STKASSE 15 


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für Abonnenten der „Monatsschrift für Psychiatrie und Neurologie“ Mk. 4.60 




Medizinischer Verlag von S. Karger in Berlin NW. 6. 


In den 

Abhandlungen aus der Neurologie, Psychiatrie, 
Psychologie und ihren Grenzgebieten 

Beihefte z. Monatsschrift für Psychiatrie u. Neurologie, sind bisher erschienen: 

Heft 1: Typhus and Nervensystem. Von Prof. Dr. Georg Stertz in 
Marburg. (Vergri ffen.) 

Heft 2: lieber die Bedentang toh Erblichkeit und Vorgeschichte für das 
klinische Bild der progressiven Paralyse. Von Dr. J. Pernet in 

Zürich. (Vergriffen.) 

Heft 3 : Kindersprache und Aphasie. Gedanken zur Aphasieiehre auf 
Grund von Beobachtungen der kindlichen Sprachentwickelung und 
ihrer Anomalie. Von Priv.-Doz. Dr. Emil Frösch eis in Wien. Mk. 5.50 
Heft 4: Epilepsie und Dementia praecox. Von Prof. Dr. W. Vorkastner 
in Greifswald. 4 Mk. 5.— 

Heft 5: Forensisch-psychiatrischc Erfahrungen im Kriege. Von Priv.-Doz. 

Dr. W. Schmidt in Heidelberg. Mk. 8.— 

Heft 6: Verbindung endogener und exogener Faktoren in dem Symptomen- 
bilde und der^Pathogenese von Psychosen. Von Priv.-Doz. Dr. Hans 
Seelert in Berlin. Mk. 4.— 

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aphasie und der Tontaubheit. Von Prof. Dr. Otto Pötzl in Prag. 
Mit zwei Tafeln. Mk. 6.— 

Heft 8: Die Spielbreite der Symptome beim manisch-depressiven Irresein. 

Von Prof. Dr. P. Schröder in Greifswald. Mk. 3.— 

Heft 9: Die symptomatischen Psychosen und ihre Differentialdiagnose. 

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Heft 10: Die Abderhaldensehe Reaktion mit bes. Berücksichtigung ihrer Er¬ 
gebnisse i.d. Psychiatrie. Von Priv.-Doz. Dr. G.E wa 1 d in Erlangen. Mk.9.— 
Heft 11: Der extrapyramidale Sympto menkomplex (das dystonische Syn¬ 
drom) and seine Bedeutung in der Neurologie. Von Prof. Dr.*G. 
Stertz in Marburg. (Vergriffen.) 

left 12: Der anethisehe Symptomenkomplex. Eine Studie zur Psychopatho¬ 
logie d. Handlung. Von Priv.-Doz. Dr. O. Al brecht in Wien. Mk. 4.- - 
Heft 13: Die neurologische Forschungsrlchtnng in der Psychopathologie 
und andere Aufsütze. Von Prof. Dr. A. Pick in Prag. ' Mk. 8.— 
Heft 14: Ucber die Entstehung der Negrischeu Körperchen. Von Prof. Dr. 

L. Benedek u. Dr. F.O. Porsche in Debreczen. Mit lOTafeln. Mk. 15.— 
Heft 15: Ueber die Bedeutung und Entstehung der Stereotypien. Von Priv.- 
Doz. Dr. Jakob Kläsi in Basel. Mk. 3.— 

Heft 16: Ueber Psychoanalyse. Von Dozent Dr. R. Alle rs in Wien. Mk. 3.60 
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sklerosis-cerebrl. Von Nervenarzt Dr. S. J. R. de Monchy in 
Rotterdam. Mk. 3.— 

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in Greifswald. Mk. 3.— 

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stern ng in Landsberg a. d. W. Mk. 3.60 

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tierischen Körpers. Von Prof. Dr. L. Jacobsohn-Lask in Berlin. 

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PSYCHIATRIE, PSYCHOLOGIE UND IHREN 
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BEIHEFTE ZUR MONATSSCHRIFT FÜR PSYCHIATRIE UND NEUROLOGIE 
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HEFT 26 

Die Kreuzung der Nervenbahnen 
und die bilaterale Symmetrie des 
tierischen Körpers 

Von 

Prof. Dr. L. Jacobsohn-Lask 

in Berlin 


Mit 45 Abbildungen 



BERLIN 1924 

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Alle Rechte Vorbehalten. 


Gedruckt bei Ernst Klöppel in Quedlinburg. 






Seinem lieben Freunde und Kollegen 

Herrn Prof. L. Minor-Moskau 

zur Feier seines 

40 jährigen Dozenten jubiläums 
in herzlicher Zuneigung gewidmet 



\ 


# 



Jedem, der sieh mit dem feineren Bau des Zentralnervensystems 
der Tiere und des Menschen beschäftigt, fällt sehr schnell die Er¬ 
scheinung auf, daß die Leitungsbahnen im Zentralnervensystem sich 
zum überwiegenden Teil kreuzen. Dabei beobachtet er, daß es 
teils geschlossene Systeme sind, die in kompakter Masse an einer eng 
begrenzten Stelle des Zentralorgans kreuzen, daß andrerseits die 
Kreuzung in lockerer Form stattfindet. Und solcher lockeren 
Kreuzungen von kleineren Bündeln und selbst einzelner Fasern be¬ 
gegnet man auf Schritt und Tritt im ganzen Verlaufe der Hirn- 
Rückenmarksachse. Bei näherem Zusehen gewahrt man, daß die 
Fasern, welche zu einem gesamten motorischen oder sensiblen 
Systeme gehören, mit wenigen Ausnahmen nur teilweise kreuzen, 
aber doch so, daß der Hauptteil der Fasern in die Kreuzung eingeht, 
während der kleinere Teil ungekreuzt verläuft. Mit dieser Erschei¬ 
nung muß der Arzt vollkommen vertraut sein, da er ohne diese 
Kenntnis zu ganz falschen Lokalisationen der Krankheitsprozesse 
kommen würde. Dem Anfänger bereitet das zunächst einige 
Schwierigkeiten, da er so ziemlich das meiste, was er an Krankheits¬ 
erscheinungen auf der rechten Körperhälfte beobachtet, auf die linke 
Hälfte des Zentralnervensystems als dem Sitze des Krankheits¬ 
prozesses projizieren muß und ebenso das. was er an der linken 
Körperhälfte beobachtet, auf die rechte Hälfte des Gehirns und 
Rückenmarks. 

Es ist klar, daß jeder sich einer Erscheinung gegen übersieht, die 
ihm höchst merkwürdig vorkommt, und daß er nach einer Erklärung* 
sucht, die ihm dies merkwürdige Verhalten deutet. Die einfachste 
und natürlichste Erklärung, die er sich gibt, ist wohl die, daß der 
Körper und seine Hauptabschnitte funktionell etwas Einheitliches 
sind, daß, so sehr auch die einzelnen Teile getrennt für sich funk¬ 
tionieren können, diese Sonderfunktionen doch zu einem Ganzen 
zusammengefaßt werden müssen, und daß für diese Gesamtfunktionen 
von der obersten bzw. von weiter darunter gelegenen Zentrainerven¬ 
stationen eine doppelte Leitung nach der rechten und linken Körper¬ 
hälfte bestehen müsse. Diese Anschauung ist natürlich sehr ein¬ 
leuchtend, aber sie ist. kausal wenig befriedigend, da sie eine rein 
teleologische ist. Da der tierische Körper nach der allgemeinen 

Jacobftoh n-La sk, Di« Kreuzung der Nervenbahnen usw. (Abhdl. H. 20 ) 1 



Vorstellung ein bilateraler Organismus ist. so könnte dieses Be¬ 
herrscht werden und Zusammenfunktionieren der beiden Körper¬ 
hälften doch auch dadurch bewirkt werden, daß alle Zentren des 
Zentralorganes nur durch Kommissuren verbunden sind. In der 
Tat bildet man im Zentralnervensystem außer den kreuzenden 
Bahnen noch die Kommissuren als Verbindungsbahnen der beiden 
Seiten. Indessen hat. die bessere Kenntnis vom Faserverlauf im 
Nervensystem gelehrt, daß man mit der Bezeichnung Kommissur 
recht vorsichtig sein muß. insofern viele, besonders kompakte 
Systeme, die makroskopisch als Kommissuren imponieren und von 
den älteren Autoren mit entsprechenden Namen belegt und als solche 
auch aufgefaßt wurden, in Wirklichkeit nicht Kommissuren, sondern 
Kreuzungen von Fasern darstellen. Aber auch heutzutage, obwohl 
man über viel bessere und feinere Untersuchungsmethoden verfügt 
als ehemals, ist es doch nicht so einfach, überall, wo man Verbin¬ 
dungsfasern der beiden Hälften des Zentralnervensystems begegnet, 
zu unterscheiden, ob man es mit einer Kreuzung oder mit einer 
Kommissur zu tun hat. Als erstere gilt diejenige Faser, welche eine 
mehr hirnwärts gelegene Station der einen Hälfte mit einer mehr 
kauilalwärts gelegenen der anderen Hälfte verbindet, und als letztere 
diejenige Faser, welche zwei im gleichen Niveau gelegene homologe 
.Stationen in Verbindung setzt. Würden unsere Kenntnisse von den 
Beziehungen der einzelnen Stationen zueinander ausreichend sein, so 
wäre die Feststellung von dem, was als kreuzende und dem. was 
als Kommissurenfaser zu gelten hat, sehr einfach und leicht. Leider 
sind aber unsere Kenntnisse in dieser Hinsicht noch sehr lückenhaft. 
Immerhin hat derjenige, der den Bau des Nervensystems eingehend 
studiert, doch wohl die Empfindung, daß, wenn man von dem mäch¬ 
tigen Kommissurensystem des Vorderhirns, dem Balken, absieht, die 
Anzahl der kreuzenden Fasern diejenige der Kommissuren und auch 
diejenige der homolateral verlaufenden bei weitem überwiegt. 

Aus dem Gesagten geht hervor, daß der Bauplan des Nerven¬ 
systems sich so ausgestaltet hat, daß die beiden Hälften des Zentral¬ 
organs sowohl durch kreuzende als auch durch Kommissurenfasem 
in Verbindung gesetzt worden sind, und es erhebt sich nun wiederuni 
die Frage, warum die Verbindung in so reichem Maße durch 
kreuzende Bahnen zustande gekommen ist. Der vorhin erwähnte 
Nützlichkeitszweck reicht zur Erklärung nicht aus, denn in dieser 
Weise könnte man jede andere Organisation, wenn sie den gleichen 
Effekt, erzielte, auch erklären. Diese teleologische Erklärung befrie¬ 
digt den wissenschaftlichen Forscher nicht und es muß demgemäß 



3 


A’ersucht werden, die Ursache dieser merkwürdigen Erscheinung 
zu finden. 

So sehr nun wohl auch eine große Reihe von Forschem über 
dieses interessante Problem nachgedacht hat, so findet man in der 
zugänglichen Literatur doch nur wenige diesbezügliche Arbeiten. In 
den gangbaren Lehrbüchern über die Anatomie des Nervensystems 
von Schwalbe, Edinger, Obersteiner, Koelliker, 
van Gehuchten, Dejerine, Bechterew’, Barke v 
und ebenso in den Lehrbüchern über die vergleichende Ana¬ 
tomie von G eg e n b a u r, Ariens Kappers etc., findet sich 
nichts darüber gesagt. Obersteiner z. B. verbreitet sich 
in der letzten Auflage seines Lehrbuches (p. 281) des län¬ 
geren über das Vorhandensein der kreuzenden Fasern im 
Zentralnervensystem, er sagt aber selbst nichts darüber aus. 
wie dieses Phänomen zu deuten sei, noch führt er andere 
Autoren an, die darüber Erklärungen abgegeben resp. Hypothesen 
aufgestellt haben. Das ist in der Tat sehr merkwürdig, obwohl ein 
Schüler von ihm, A. Spitzer, eine sehr bedeutsame Arbeit zwei 
Jahre vor Erscheinen der letzten Auflage des genannten Lehrbuches 
veröffentlicht hat. Dies merkwürdige Verhalten ist wohl nur dadurch 
zu erklären, daß Obersteiner die bisher gegebenen Deutungen über 
das Kreuzungsproblem noch für so zweifelhaft und ungenügend hielt, 
daß auf diesen Gegenstand näher einzugehen, ihm verfrüht erschien. 
Vielleicht haben sich die anderen Verfasser von Lehrbüchern das 
Gleiche eingestanden und deshalb von der Aufwerfung der Frage 
und eigener Meinungsäußerung Abstand genommen. 

Diejenigen Autoren, welche die Tatsache der kreuzenden Nerven¬ 
bahnen zu erklären versucht haben, sind mit Ausnahme von Radi 
in der erwähnten Arbeit von Spitzer aufgezählt. Spitzer referiert 
recht eingehend die einzelnen Auffassungen, beleuchtet sie in sehr 
kritischer Weise, lehnt die gegebenen Deutungen als unzureichend ab 
und versucht dann selbst eine Lösung des Problems zu geben. Wir 
werden uns weiter unten mit dem Spitzer sehen Lösungsversuch 
eingehend zu beschäftigen haben. Andere Arbeiten über diesen Gegen¬ 
stand als die von Spitzer angeführten und die R ädl sehe sind auch 
mir nicht begegnet. Jedenfalls scheinen keine ausführlichen Ab¬ 
handlungen noch nach dem Jahre 1912, in welchem die Rädlsche 
Arbeit erschien, publiziert worden zu sein. Es ist natürlich nicht 
ausgeschlossen, daß noch einzelne Autoren sich gelegentlich über 
dieses Problem an irgendeiner Stelle geäußert haben, aber jeder 
wird zugeben, daß man nur zufällig einer solchen Stelle begegnen 

1 * 



4 


kann, und solche kurzen Erklärungen können auch unmöglich der 
Bedeutung dieser Erscheinung gerecht werden. 

Der Wundtsche (erste) Lösungsversuch. 

Der erste, welcher sich mit dem Problem der Faserkreuzung be¬ 
schäftigt hat. ist wohl Wundt gewesen. Die Erklärung, welche 
Wundt in den ersten Auflagen seines Lehrbuches über physiologische 
Psychologie gibt, ist eine andere als in den letzten Auflagen, nach¬ 
dem die C a j a 1 sehe Hypothese auf ihn eingewirkt hat. Der Autor 
sprach sich zuerst dahin aus, daß die Säugetiere in ihrem Lebens¬ 
kämpfe instinktmäßig die rechte Körperhälfte in stärkerem Maße 
benutzt und dadurch kräftiger ausgebildet hätten als die linke. Sie 
hätten dies getan, um das links gelagerte Herz zu schützen. Durch 
die Linkslagerung des Herzens sei der Blutstrom direkter zur linken 
Hirnhälfte geflossen, diese sei damit besser mit Blut versorgt 
worden und hätte sich demzufolge stärker ausgebildet als die rechte 
Himhälfte. Wäre nun die besser ausgebildete linke Himhälfte mit 
der schwächeren linken Körperhälfte und umgekehrt die schwächere 
rechte Hirnhälfte mit der stärkeren rechten Körperhälfte in Verbin¬ 
dung geblieben, so wäre ein großes Mißverhältnis eingetreten. Um 
dem zu begegnen, hätte der Organismus in der Weise einen Ausgleich 
zu schaffen versucht, daß er allmählich die stärkere Himhälfte mit 
der stärkeren Körperhälfte und umgekehrt verbunden hätte. Aus 
der anfänglich totalen Kreuzung der Bahnen sei dann später in An¬ 
passung an assoziative Verknüpfung sensorischer und motorischer 
Gebietsteile die partielle Kreuzung hervorgegangen. 

Daß dieser Erklärungsversuch von Wundt ein nicht befriedigen¬ 
der ist, liegt auf der Hand. Spitzer führt mit Recht an, daß nur der 
Mensch im Kampfe die rechte Körperhälfte nach vorne wendet und 
stärker betätigt, bei den Säugetieren*) und den anderen Vertebraten 
sei eine solche Ungleichheit nicht zu beobachten. Die Kreuzung 
der zentralen Nervenbahnen komme aber allen Vertebraten zu. Auch 
die linksseitige Lagerung des Herzens bewirke wohl kaum eine 
bessere Ernährung der gleichseitigen Himhälfte; das Blutgefä߬ 
system des Gehirns sei durch Anastomosen so reichlich versehen, daß 
zu jeder Himhälfte gleiche Blutmengen strömen können. Es sei 
auch nicht beobachtet, daß bei den Vertebraten die eine Himhälfte 
stärker entwickelt sei als die andere. Es sei schwer vorstellbar, 
daß die Bahnen, die vorher homolateral verlaufen seien, sich nun so 

*) < >1) bei den Anthropoiden sieh schon Anfänge von Rechtshändigkeit 
finden, ist unsicher. 



5 


umlagerten, daß sie ihre frühere Verbindung lösten, um mit Zentren 
der anderen Hälfte in Verbindung zu treten, bloß weil die betreffende 
Körperhälfte sich stärker (bzw. schwächer) entwickelt hätte. 

Man kann hinzufügen, daß die Natur bei ursprünglich nicht be¬ 
stehender Kreuzung der Faserbahnen sich der von Wundt ange¬ 
nommenen Veränderung des Funktionszustandes beider Körper¬ 
hälften in der Art angepaßt hätte, daß sie die Hirnzentren der 
rechten Himhälfte und die Bahnen, welche diese Hälfte mit der 
rechten Körperseite verknüpften, stärker ausgebildet haben würde, 
während linksseitig es zu einer gewissen Abschwächung gekommen 
wäre. Eine derartige natürliche Anpassung würde einen Kreuzungs¬ 
vorgang vollkommen unnötig machen. 

In den späteren Auflagen seines Lehrbuches benutzt Wundt die 
eben erläuterte Theorie weniger dazu, um die Kreuzungen der 
Nervenbahnen zu erklären, als um das funktionelle Überwiegen der 
rechten Körperhälfte und die einseitige stärkere Ausbildung der 
linken Großhirnhemisphäre, speziell der in dieser Hemisphäre be¬ 
findlichen Zentren, wie Sprachzentrum, abzuleiten. Wie er sich zur 
Cajal sehen Deutung der Kreuzungen stellt, ist weiter unten aus¬ 
führlich angegeben. 

Der Flechsigsche Lösungsversuch. 

Der zweite Autor, welcher das Problem anzupacken versuchte, 
war P. F1 e c li s i g. Er ist sich von vornherein des hypothetischen 
Charakters seiner Darstellung bewußt. Er nimmt an. daß die 
Pyramidenbahnen von oben nach abwärts sicti bilden, und führt dann 
S. 202 folgendes aus: 

„Hiermit ist aber offenbar das Zustandekommen der 
Pyramidenkreuzung überhaupt nicht, ihre Variabilität nur 
zum Teil erklärt. Auch für erstere gewinnen wir eine befriedigende 
ätiologische Deutung. Sobald die Pyramiden an der gewöhnlichen 
Kreuzungsstelle angekommen, für ihr weiteres Vordringen in der 
alten Richtung keine besonderen Widerstände finden, ist es am 
natürlichsten, daß eine jede Pyramide in ihrer Richtung fortwächst. 
— Anders, wenn, wie dies wohl als Regel zu betrachten, die nach 
unten wachsenden Pyramiden an der gewöhnlichen Kreuzungsstelle 
Widerstände vorfinden, welche ein Weiterziehen ohne Richtungs¬ 
änderung nicht gestatten. Solcher Widerstände lassen sich nun ge¬ 
rade an dieser Stelle mehrere naehweisen. Es verengt sich gerade 
hier einerseits der vordere Längsspalt des Medullarrohrs plötzlich 
und vertieft sich dabei, andrerseits aber zeigt das Medullär- 



r o h r liier eine stumpfwinkelige Knickung, so dali in der 
Mitte der vorderen Fläche eine nach oben offene, nach unten mehr 
geschlossene Bucht entsteht. Erwägt man, daß sich in der ganzen 
Länge der oblongata und des Rückenmarks außer an der ange¬ 
gebenen Stelle einer an der Vorderfläche des Medullarrohrs von 
oben nach unten wachsenden Fasermasse nirgends ähnliche 
Widerstände entgegenstellen, so erscheint es wohl gerechtfertigt, den 
Umstand, daß die Pyramidenbündel gerade hier Richtung und 
Lage zu ändern pflegen — mit diesen lokalen Verhältnissen in Be¬ 
ziehung zu bringen.“ 

„Sofern man nur die Möglichkeit geringer Differenzen in der 
Gestaltung der Bucht einerseits, der von oben herabkommenden 
Bündel andrerseits zugibt, w'ird man sehr leicht den verschiedenen 
Anteil der sich kreuzenden und ungekreuzt bleibenden Bündel in 
verschiedenen Fällen begreifen, ja es muß bei diesem. Sachverhalt 
geradezu als ein Zufall betrachtet werden, wenn bei verschiedenen 
Individuen die Verteilungsweise völlig übereinstimmt, die Varia¬ 
bilität muß als das N aturgemäße erscheinen.“ — „Es mün¬ 
den ferner gerade in der Gegend der mehrerwähnten Bucht die 
bereits lange vor den „Pyramiden“ vorhandenen Bündel der „oberen 
Pyramidenkreuzung“ an der Vorderfläche aus. Die Pyramiden legen 
sich, falls sie sich kreuzen, jenen dicht an; es dient vielleicht die 
obere Pyramidenkreuzung der unteren geradezu als Leitband.“ 

„Die Richtigkeit der soeben angestellten Erörterungen voraus¬ 
gesetzt. würde sich uns eine einfache Erklärung des Zustande- 
ko mm ens und der Bedeutung der Kreuzungen im zen• 
tralen Nervensystem überhaupt ergeben. Man hat bisher bei ihrer 
Deutung auf die Entwicklungsgeschichte noch so gut wie gar nicht 
Rücksicht genommen. Wir halten indes diesen Weg für denjenigen, 
welcher am ehesten zum Ziele führen kann und der jedenfalls 
weniger Gefahren bietet, als der jüngst von Wundt eingeschlagene 
(siehe dessen Ausführungen Physiol. Psychol. S. 171). Sofern die 
Entstehung der Nervenfasern als Ausläufer einzelner Zellen sich 
sichern ließe, würde die Auffassung der Kreuzungen als Resultierende 
aus den mechanischen Entwicklungsbedingungen als die natur- 
gemüßeste erscheinen. Ja, man kann wohl sagen, daß alle die 
scheinbar so barocken Verschlingungen der zentralen Fasersysteme 
durch die konsequente Durchführung jener Theorie eine befriedi-* 
gende Erklärung linden würden.“ 

Zu dieser F 1 e c h s i g scheu Hypothese nimmt Spitzer folgen¬ 
dermaßen Stellung. Es wäre durch Klechsigs Erklärung wohl die 



7 


Lokalisation und Variabilität der aus anderen Gründen notwendigen 
Kreuzung begreiflich, nicht aber die Kreuzung selbst. Gerade die 
Konstanz der Kreuzung setze einen invariablen Faktor, eine ein¬ 
sinnig wirksame Ursache voraus. Die Pyramidenkreuzung sei nur 
ein Beispiel der allgemeinen Kreuzung der zentralen Nervenbahnen, 
diese könne also nur von einer allgemeinen Ursache abgeleitet wer¬ 
den, welche im ganzen Nervensystem wirksam ist. Bei diesen Loka¬ 
lisationen könne es sich auch nicht um ablenkende Widerstände 
gegen die Wachstumsrichtung des sich vorschiebenden Faserendes 
handeln, sondern nur um Hindernisse, welchen die bereits fertige 
Kreuzung bei ihren phylogenetischen Verschiebungen in der Längs¬ 
richtung des Nervenrohres an bestimmter Stelle begegnet, wo infolge¬ 
dessen eine Art Stauung der Kreuzungsfasern stattfindet. Die 
Fasern würden so zunächst passiv an das Hindernis gewissermaßen 
wie an einem Stauwerk angeschwemmt. Sobald aber die Ansamm¬ 
lung zur Bildung von Bündeln geführt hat, wirken diese ihrerseits 
als Kondensationsachsen, um welche sich immer neue Fasern herum¬ 
lagern. Die Flechsig sehe Deutung sei deshalb ganz unzu¬ 
reichend, denn eine Arteigenschaft müsse in einer artgeschichtUchen, 
allen Individuen gemeinsamen Grundursache ihre Quelle haben. Die 
Kreuzung der zentralen Nervenbahnen sei aber nicht bloß eine Art¬ 
eigenschaft, sondern eine Eigenschaft des ganzen Wirbeltier¬ 
stammes. 

Diese Kritik von Spitzer ist voll berechtigt. Auch ich meine, 
daß Flechsig einen Nebenumstand, der erst nachträglich viel¬ 
leicht für die Lagerung und Verteilung der Kreuzungen eine gewisse 
Bedeutung haben kann, irrtümlich als die Ursache der Kreuzungen 
selbst ansieht. Die Wirkung dieses Faktors ist überhaupt reche 
schwer einzuschätzen. Was z. B. die Pyramidenbalm anbetrifft, so 
begegnet sie in ihrem Verlaufe nach abwärts verschiedenen ähnlichem 
Hindernissen, so am Übergang zwischen Pons und Medulla oblon- 
gata, wo sie dem Foramen coecum posterius ausweiehen muß. Sie 
tut es hier, ohne irgendwie in ihrem geraden Laufe abzuweichen, und 
es wäre auch viel einfacher und natürlicher, wenn die Pyramiden¬ 
balm, ebenso wie sie es hier oben tut. weiter unten am Übergang ins 
Rückenmark ein wenig nach lateral dem vermeintlichen Hindernis 
ausweiehen würde, anstatt gleichsam in das Hindernis hineinzu¬ 
rennen. Man sieht also, wie mißlich es ist. etwas unebene Stellen, 
die man als Hindernisse“ deutet, als Ursachen für das Zustande¬ 
kommen von Kreuzungen anzunehmen. 



8 


Der Cajalsche Lösungsversuch. 

Der Dritte, welcher dem Problem «1er Faserkreuzung eine sehr 
eingehende .Studie gewidmet hat. war S. Ramoi) v Cajal. Er 
sagt darüber folgemies: 

]*. 4. „Häutige Betrachtungen, welche wir über die Ursache der 
Kreuzungen der Nervenbahnen angestellt haben, führten uns schlie߬ 
lich zu der Ansicht, d a U a 11 e o d e r f a s t alle totalen oder 
v o t w i e g <> n <1 e n D ekussati o n e n n u r Anpass u n ge n a n 
j e ne u r s p r ii n g 1 i c he, i n W a h r h e i t funda m e n t a 1 e 
K r e u z ti n g r e p r ii s e n t i e r e n , welche die Ne r v i optici 
<1 e r niederen Wirbeltiere biete n.“ 

Es folgt nun in der Ca j a 1 sehen Abhandlung eine Darstellung 
des Faserverlaufes im Chiasma opticum bei den Wirbeltieren bis 
zum Menschen herauf. Die Untersuchung ergibt, daß sieh bei den 
Fischen, Batrachiern, Reptilien und Vögeln eine totale Kreuzung 
findet, und daß bei den Säugetieren eine partielle Kreuzung vorhan¬ 
den ist, wobei die Zahl der nicht gekreuzten Fasern von den 
niederen Klassen der Säugetiere zu den höheren an Zahl ständig zu¬ 
nimmt, bis das Verhältnis schließlich beim Menschen so ist. «laß die 
ungekreuzten etwa V.i der gekreuzten betragen. 

p. 18. „Ein vergleichendes Studium der Nervenzentren der 
Wirbeltiere zeigt, daß in den zentralen Bahnen die totale Kreuzung 
eine «•ntwickltingsgeschichtliche Phase darstellt, die der partiellen 
vorausgegangen ist, welche letztere nur bei den relativ höher ent¬ 
wickelten Tieren auftritt, und daß ferner die totale Kreuzung gleich¬ 
zeitig mit der Bildung «*iiu‘s Enzephalons, daher mit der Zcntralisa- 
tion der sensorischen Eindrücke und der motorischen Impulse sich 
geltend macht. 

In <l«*r Tat. beim Amphioxus. bei den Würmern, bei denjenigen 
Heren, bei welchen keine genügende sensorische Zentralisation 
existiert und die Medtilla oder die sie vertretende Ganglienkette 
fast ausschließlich «l«*r Aufnahme der zentripetalen Impulse dient, 
gibt es keim* zentral«“!« Bahnen im eigentlichen Sinne des Wortes, 
sondern nur intraganglionäre Weg«“, din'kte und gekreuzte Reflexe, 
und zwar vorwiegend «lirekte, wegen des bei weitem häufigeren Vor- 
kommens der homolatf'ralen motorischen Reaktionen.“ 

]». lt>. Es handelt sich hier nicht darum, die wirkende Ursache, 
die geh«“im«“n Ressorts physikalisch-chemischer Kräfte zu erforschen, 
welche diese Anlag«“ geschallen haben, sondern nur den Nutzen be¬ 
greifen zu lernen, den si<“ dem Organismus bringt, das Motiv, nach 
welchem die natürliche Auswahl oder andere noch unbestimmte 



9 


Bedingungen die gekreuzten Nervenbahnen eingerichtet, befestigt und 
progressiv vermehrt haben.“ 

..Inmitten dieser Zweifel scheint uns eins der Diskussion nicht 
weiter zu bedürfen, nämlich daß die Dekussation zuerst in 
den sensorischen Bahnen geschaffen worden ist 
(optische, sensible etc., sämtlich bei den niederen Wirbeltieren); 
mit notwendiger Konset|uenz ergab sich daraus die Kreuzung im 
entgegengesetzten Sinne bei den motorischen Bahnen.“ 


Das Sehbild, welches die niederen Wirbeltiere haben, nennt 
O a j a 1 ein panoramisches. Diese Tiere sehen ohne Relief, 
sie setzen nur gleichsam die Bilder beider Seiten wie zwei Photo¬ 
graphien zusammen. 

p. 23. Fig. 1 (Fig. 7 bei Cajal) ..zeigt Gestalt und Richtung 
des geistigen optischen Bildes unter der Voraussetzung, daß es keine 



Fig. 1. Schema zur Darstellung der Projek¬ 
tion des Objektbildes auf Retina und Lohus 
opticus bei homolaterralem Verlaufe der Op¬ 
ticusfasern. 

Nach S. Ramiin y (J aj a 1. 


Kreuzung der Sehnerven gäbe. 
Die Inkongruenz beider Bil¬ 
der tritt deutlich zutage — 
es wäre unmöglich, daß das 
Tier beide Bilder zu einer zu¬ 
sammenhängenden Vorstellung 
vereinigen könnte“. Fig. 2*) 
„zeigt mit größter Beweiskraft, 
daß, dank der Kreuzung beide 
Bilder, das rechte und das 
linke, miteinander korrespon¬ 
dieren und ein zusammenhän¬ 
gendes Ganzes bilden“. 

p. 24. „1. Bei den niede¬ 
ren Wirbeltieren übermittelt 
jedes Auge, und wir könnten 
sogar sagen, jeder Raumsinn, 
dem Gehirn die auf dieser 
Seite gesammelten Eindrücke 
der Objekte, und vermöge der 
Kreuzungen besteht die senso¬ 
rische Hirnrinde aus zwei 


Flächen, einer rechten, welche dem linken Raum, und einer linken. 


*) Fig. 2 ist nicht der Arbeit, Ca j als. sondern der Darstellung 
Wundts aus der sechsten Aullage seines Lehrbuches entnommen. Sie 
entspricht aber der von Ca jal gegebenen Figur, was Sehfaserkreuzung und 
die dadurch angeblich bewirkte Bildeinstellung betrifft. 






10 


welche dem rechten entspricht. 2. Das geistige Bild ist immer ein 
einheitliches und entsteht aus der kontinuierlichen Nebeneinander¬ 
stellung der beiden Sinnesprojektionen, so daß das Gehirn eine 
Art zentraler Retina wird, die Summe der beiden peripheren Netz¬ 
häute. jedoch verteilt auf zwei symmetrische und einseitige Flächen, 
tf. Die Kreuzung der Sehnerven ist begründet durch die Notwendig¬ 
keit. die seitliche Inversion der beiden Bilder, welche durch die 
Wirkung der Linsen veranlaßt ist. zu rektifizieren. 4. Es existiert 
im Gehirn keine funktionelle Duplizität oder, mit anderen Worten, 
die symmetrischen Punkte jedes Lobulus opticus oder jeder He¬ 
misphäre. auch wenn sie dieselbe Sinneswahrnehmung empfangen, 
haben nicht die gleiche Bedeutung.“ 

„Die vorstehenden Erwägungen lassen sich vielleicht auch auf 
die Funktion des zerebroiden Ganglions der wirbellosen Tiere an¬ 
wenden, besonders der Insekten. Spinnen und Mollusken, Tieren, 
die mit wohlentwickelten Augen ausgestattet sind; leider sind die 
positiven Beobachtungen, welche wir über den Verlauf der Opticus¬ 
fasern besitzen, zu dürftig, um darauf bestimmte physiologische 
Schlüsse aufzubauen. — Weshalb es nicht möglich, zu erfahren, ob 
bei ihnen eine totale Kreuzung besteht, wie bei den niederen Wirbel¬ 
tieren. — Zieht man indes die Art des Sehens bei den wirbellosen 
Tieren und die Grundsätze, welche wir formuliert haben, in Be¬ 
tracht. so ergibt sich mit Wahrscheinlichkeit, daß bei den mit Linsen¬ 
augen ausgestatteten Tieren, d. h. solchen, welchen die Gegenstände 
auf der Netzhaut umgekehrt erscheinen (Mollusken, gewissen Arach- 
niden) der Sehnen’ total gekreuzt ist, und daß es bei Tieren mit 
Mosaiksehen, wie den Insekten und Cmstaceen. keine Dekussatie- 
nen gibt.“ 

p. 2<>. ..Das gemeinsame Sehfeld, welches durch den Parallelis¬ 
mus der Augenachsen entsteht, ist das Charakteristische des Seh¬ 
vorgangs bei den höheren Säugetieren (Mensch, Affe, Hund etc.). 
Dieser Parallelismus erzeugte als begleitendes anatomisches Phä¬ 
nomen das direkte Bündel. — Es ist sehr wahrscheinlich, daß zwi¬ 
schen dem Sehen mit gemeinsamen Sehfeld beim' Menschen und 
dem panoramisehen Sehen beim Kaninchen Übergänge existieren." 

p. 27. „In der Tat funktionieren mittelst des Parallelismus der 
Augenachsen die beiden Augen wie ein einziges, vorausgesetzt, daß 
sie gleichzeitig dasselbe Objekt kopieren: jedoch wurde diese Reduk¬ 
tion des Sehfeldes von einem neuen Objekt- begleitet, von der Per¬ 
zeption der Tiefe oder der dritten Dimension, eine Wahrnehmung, 
welche bei den unteren (Miedern der Tierwelt und selbst bei der 



11 


Mehrzahl der Säugetiere noch unbekannt ist. Außerdem wächst zum 
Ersatz für diesen Verlust die Beweglichkeit der Augen, des Kopfes 
und Rumpfes ganz beträchtlich.“ 

In einer weiteren Skizze stellt C a j a 1 die Form der optischen 
Projektion im Gehirn bei der Semidekussation dar. Das Bild ist in 
Beziehung auf das Objekt seitlich invertiert, jedoch bildet jede Hälfte 
desselben, auf eine Hemisphäre projiziert, ein kontinuierliches 
Ganzes, wie es auch bei den niederen Wirbeltieren bei der totalen 
Kreuzung war. Cajal sagt dann weiter auf: 

p. 30. .,Der größeren Klarheit wegen zeigt das Schema das 
Bild geradlinig, und wie wenn es von oben betrachtet würde. Es 
versteht sich von selbst, daß, da die Rinde gefaltet und außerdem 
die Sehregion durch den Hemisphärenspalt geteilt ist, die wirkliche 
Projektion des geistigen Bildes viel komplizierter sein und ebenso 
viel Krümmungen haben muß, wie die Windungen der entsprechen¬ 
den Hemisphäre. Für den Effekt des deutlichen Sehens und einer 
naturgetreuen Projektion machen diese Unregelmäßigkeiten und 
Fehler der Kontinuität wenig aus, da das, was dieser Projektion oder 
der Verlegung des optischen Eindrucks nach außen Form gibt, nicht 
die Gestalt des zerebralen Feldes ist, sondern die der Zapfen- und 
Stabschicht der Retina. Wir glauben indes, daß sich im geistigen 
Bilde alle Punkte des Objekts in derselben Reihenfolge dargestellt 
finden, in welcher sie auf die Retina projiziert sind: die zerebrale 
Retina läßt sich in dieser Beziehung mit einer wohlgelungenen Pho¬ 
tographie vergleichen, deren Papier oder Überzug gerunzelt ist.“ 

„Die Duplizität der Empfindung, welche a priori bei dem Vor¬ 
handensein eines gemeinsamen Sehfeldes unvermeidlich scheint, ist 
in sinnreicher Weise umgangen worden, dadurch, daß die homolate¬ 
ralen und von entgegengesetzter Seite kommenden optischen Fasern, 
welche gemeinsamen Punkten der Retina entsprechen und deshalb 
Träger desselben Stückes des Bildes sind, in derselben (truppe von 
Pyramidenzellen zusammenlaufen.“ 

p. 31. „Deshalb setzt das Auftreten des direkten Bündels 
keinen Verzicht auf die Vorteile der Kreuzung voraus. Diese be¬ 
stehen fort, weil nach Kreuzung der Hauptbahn des Sehnerven immer 
das in das rechte Gehirn projizierte Bild sich in das linke gezeich¬ 
nete fortsetzt.“ 

p. 33. „Aus allem diesem geht hervor, daß die Natur bei der 
Anlage der optischen Projektion vor allem zwei Dinge vorweg 
genommen hat: 1. Dem Prinzip der k o n z e n t r i s e h e n S y m m e - 



12 


t r i e treu zu Weilten, welche <lie Lage und Verbindung - aller Xerven- 
zentren beherrscht. So entspricht in dem Rückenmark jede vertikale 
Hälfte einer vertikalen Hälfte auch der sensiblen <überdachen, was 
uns nicht befremdet, wenn wir uns erinnern, daß phylogenetisch und 
ontogenetisch betrachtet, die Zerebrospinalachse nichts weiter ist als 
eine fortgewanderte und in einem engen Futteral konzentrierte 
Hautfläche. In diesem Futteral, das von einer ektodermatischen 
Einstülpung gebildet wird, entsteht die rechte Wand aus dem 
rechten Ektoderm, die linke aus dem linken. 2. Das zweite Prinzip, 
welchem die Natur huldigt, ist die Einheit der Empfindung: um 
diese zu erzielen, hat sie das direkte Bündel geschaffen und hat sie 
außerdem einen großen Teil des (Jehirns in eine riesige Retina ver ; 
wandelt, die in zwei auf je eine Hemisphäre lokalisierte Hälften 
geteilt, ist. deren eine die zu unserer Rechten gesehenen Objekte, die 
andere die zur linken repräsentiert.“ 

p. 4.‘k „Da nämlich die fundamentale Kreuzung der Sehnerven 
und das Vorwiegen der der Seite der Erregung entsprechenden 
Muskelreflexe eine gegebene Tatsache ist. so war zu erwarten, daß 
die optische Reflexbahn der entgegengesetzten Seite die homolaterale 
an Bedeutung übertreffen würde, und eben dies ist wirklich der Fall. 
Die Theorie verlangt auch, daß bei den Vertebraten mit panorami- 
schen Sehen, bei welchen jedes Auge unabhängig funktioniert 
fmonolaterale Pupillenreaktion, Mangel an Konvergenz etc.) die 
gleichseitigen optischen Reflexfasern sehr spärlich seien und diese 
aus der Theorie gewonnene Deduktion stimmt vollkommen mit den 
Tatsachen überein. Denn Edinger, der diesen Punkt bei den 
Fischen, Reptilien und Batrachiern sehr genau studiert hat, beschreibt 
und zeichnet als gekreuzt die große Mehrzahl der absteigenden im 
Lobulus opticus entspringenden Bündel (Traetus teeto-spinales und 
tecto-bulbares) nicht zu gedenken der dorsalen Kreuzung des Tec- 
tums, welche vielleicht den absteigenden in der ventralen Region 
dieses Organs nicht gekreuzten Fasern entsprechen könnte. Wir 
glauben trotzdem nicht, daß selbst bei den niederen Wirbeltieren 
die homolateralen Fasern ganz fehlen, da das Zusammenwirken ge¬ 
wisser Augenhowegungon — die bilaterale Kontraktion einiger 
Augenmuskel erfordern.“ 

Beim Oehör. Oeschmack und Geruch ist zwar nach Ca jal eine 
doppelte Leitung vorhanden, aber in die eine Hemisphäre gelangen 
nur die Eindrücke hoher Töne und entsprechender Geruchs- und 
Geschmacksempfindung, in die andere tieferer Töne etc., wodurch 
jede Hemisphäre eine einheitliche Empfindung hat und durch Ver- 



13 


bindung beider Hemisphären die Einheitlichkeit der Gesamtempfin¬ 
dung gewahrt wird. 


Der Wundtsche (zweite) Lösungsversuch. 

Spitzer und W u n d t erheben gegen die C a j a 1 sehe Hypo¬ 
these gewichtige Einwendungen. Während aber Spitzer nur eine 
sehr scharfe Kritik übt, um dann seine eigene ganz andersartige 
Hypothese zu entwickeln (s. darüber weiter unten), sucht W u n d t 
aus der C a j a 1 sehen Hypothese einen gewissen Kern als brauch¬ 
bar herauszuschälen und diesen Kern in einer Weise umzugestalten, 
daß wenigstens die totale und partielle Sehnervenkreuzung funk¬ 
tionell erklärt werden kann. Er sagt darüber in der sechsten Auf¬ 
lage seines Lehrbuches folgendes: 

,,— diese sinnreiche Hypothese läßt sich doch, so wahrschein¬ 
lich es ist, daß zwischen Sehnervenkreuzung und binokularer Syner¬ 
gie ein Zusammenhang besteht, in dieser Form unmöglich durch¬ 
führen, weil sie schon anatomisch auf Schwierigkeiten stößt, außer¬ 
dem aber auf Voraussetzungen über die Natur des Sehaktes beruht, 
die mit unserer sonstigen Kenntnis desselben, und die im Grunde 
auch mit allem dem. was wir über die Beschaffenheit und den 
Verlauf der Leitungsbahnen und ihre Endigungen in der Hirnrinde 
wissen, in Widerspruch stehen.“ 

Der C a j a 1 sehen Hypothese liegt nach W u n d t und Spitzer 
die Vorstellung zugrunde, daß das Bewußtsein selbst in der Hirn¬ 
rinde residiere und dort gleichsam ein genaues photographisches 
Abbild der Wirklichkeit wahmchme. das eben durch die Einrichtung 
der totalen resp. partiellen Kreuzung dort projiziert werde. Diese 
Anschauung wird von W u n d t und besonders Von Spitzer als 
ganz unhaltbar zurückgewiesen. Man müßte dann, meint W u n d t, 
sich mit der Annahme helfen, daß in jedem individuellen Gehirn die 
durch die Rindenfaltungen entstehenden Desorientierungen der 
Bilder durch eine merkwürdig genaue Adaption der Verteilung der 
Kreuzungsfasem wieder ausgeglichen würden. Dazu komme noch 
der Umstand, daß beim Linsenauge das Bild des Objekts nicht nur 
horizontal, sondern auch vertikal invertiert werde. Es müßten also, 
wenn die Kreuzung nach C a j a 1 dazu da sei, um die horizontale 
Invertierung zu beseitigen, die Seilfasern auch in vertikaler Rich¬ 
tung kreuzen. Eine solche Kreuzung bestehe aber nicht. Es gäbe 
für die Auffassung der Gegenstände in aufrechter Lage trotz der 
optischen Umkehrung ihrer Bilder eine sehr viel einfachere und 



14 


plausiblere Erklärung, Überall, wo das Sehorgan zu einem mit Bild¬ 
umdrehung verbundenen dioptrisehen Apparat geworden ist, liegt 
aueh der Drehpunkt des Auges nicht mehr, wie bei den gestielten 
Augen der Wirbellosen, hinter dem Auge im Innern des Tierkörpers, 
sondern in einem Punkte im Auge selbst. Durch diese Verlegung 
des Drehpunktes in das Innere des Auges sei die Umkehrung des 
Bildes ohne weiteres kompensiert, „denn nach den vor dem Dreh¬ 
punkt gelegenen .Stellungen und Bewegungen der Fixierlinie fassen 
wir die Lageverhältnisse der Gegenstände auf, nicht nach den hinter 
ihm gelegenen oder nach dem Netzhautbilde, dessen Lage uns an 
und für sich ebenso unbekannt ist, wie das Lageverhältnis des hypo¬ 
thetischen Bildes im Sehzentrum, von dem wir nicht einmal wissen, 
ob es wirklich existiert. An sich ist es in der Tat viel wahrschein¬ 
licher, daß an Stelle desselben vielmehr ein System von Erregungen 
anzunehmen ist. das den verschiedenen gleichzeitig beim Sehen be¬ 
teiligten sensorischen, motorischen und assoziativen Funktionen 
entspricht.“ 4 

Ebenso wie durch den Bewegungsmechanismus des Auges beim 
monokularen Sehen das umgekehrte Bild kompensiert wird, so 
werden durch den gleichen Mechanismus nach Wundt beim bino¬ 
kularen Sehen das rechte und linke Netzhautbild zueinander orien¬ 
tiert. Die richtige Orientierung zweier Hälften eines panoramischen 
Bildes, wie sie Tiere mit seitlich gestellten Augen haben, beruhe 
darauf, daß ein kontinuierlich aus der einen in die andere Hälfte 
des Gesichtsfeldes übertretender Gegenstand in seiner Bewegung 
keine Diskontinuität erleidet. Diese Bedingung ist dann erfüllt, 
wenn gleich gelegene Augenmuskeln bei der Fortsetzung der 
Bewegung symmetrisch innerviert werden. „Ist das Objekt von 
der Blicklinie des rechten Auges in Fig. 2 (Fig. 97 von Wundt) 
von a bis b verfolgt worden, so muß sich — nun von b bis c die 
Innervation der Blicklinie des linken Auges kontinuierlich an¬ 
schließen, d. h. es muß der Innervation des rechten Rectus internus, 
dessen Zugrichtung durch die unterbrochene Linie U angedeutet ist, 
die des linken Rectus internus i 2 derart zugeordnet sein, daß sie 
unmittelbar dieselbe ablöst, um dann in die Innervation des linken 
Extemus c 2 überzugehen. Nun fehlt es zwar an jedem Anlaß, im 
Sehzentrum irgendwie eine Bildentwerfung, die der auf der Netz¬ 
haut auch nur entfernt ähnlich wäre, anzunehmen. Dagegen ist es 
nicht unwahrscheinlich, daß die Auslösungseinrichtungen für die 
Übertragungen sensorischer in motorische Impulse hier in einer ge¬ 
wissen Symmetrie angeordnet sind.“ Wundt setzt nun ausein- 



15 


ander, daß, wenn keine Sehfaserkreuzung existierte, die Innervation 
zuerst rechts von innen nach außen wandern würde, um dann, auf 
das linke Sehzentrum überspringend, plötzlich sich von außen nach 
innen, also im entgegengesetzten Sinne zu bewegen. Die Kreuzungs¬ 
erscheinung ist daher nach Wundt als eine von vornherein beide 
Gebiete (sensorisches sowohl wie motorisches) umfassende, ihr Zu¬ 
sammenwirken vermittelnde Einrichtung anzusehen. 



Fig. 2. Schema des binokularen Sebaktes bei einem Wirbel¬ 
tier mit seitlich gestellten Aagen und totaler Sehnerven- 
kreoznng. Nach W. Wandt. 


Wie bei diesem Mechanismus die totale Kreuzung der Seh¬ 
fasern für das panoramische Sehen notwendig sei, so sei die partielle 
Kreuzung für das stereoskopische erforderlich. Auch das wird von 
Wundt des näheren erläutert. Dann fährt er fort: ,,In keinem der 
zahlreichen anderen Fälle jener vom Rückenmark an fortwährend 
sich wiederholenden Kreuzungen von Leitungsbahnen sind die funk¬ 
tionellen Beziehungen dieser Erscheinung so augenfällig wie bei der 
Optikuskreuzung. Dennoch wird man daraus noch nicht schließen 


10 


dürfen, alle anderen seien erst Wirkungen der Optikuskreuzungeil. 
Vielmehr wird die gleiche »Synergie, die auch für die aridem übrigen 
Sinnes- und Bewegungsorgane und namentlich für die Beziehungen 
zwischen Sinneserregungen und motorischen Erregungen besteht, 
überall selbständig analoge Wirkungen herbeiführen können, die sich 
dann allerdings wieder wechselseitig unterstützen mögen.“ 

.Mit der Kreuzung der Bahnen scheint es Wundt auch im Zu¬ 
sammenhang zu stehen, daß bestimmte Zentren zwar in beiden Hirn- 
hälften angelegt sind, aber in der einen Hälfte vorwiegend zur Aus¬ 
bildung gekommen sind. Dies gälte speziell für das Sprach¬ 
zentrum in der linken Hemisphäre, in der auch wegen der kreuzen¬ 
den Bahnen das Zentrum für die motorischen Innervationen der 
rechten Körperseite ihren Sitz haben. 

Den Einwendungen von Wundt und Spitzer gegen die 
C a j a 1 sehe Theorie kann man wohl im ganzen zustimmen. Außer¬ 
dem läßt sich noch folgendes anführen: Nach Cajal soll die Augen¬ 
linse die Urheberin einer Umwälzung im Aufbau des zentralen 
Nervensystems sein, wie sie allgemeiner und durchgreifender in 
keiner anderen Art stattgefunden hat. Wäre die Linse am Auge 
nicht aufgetreten, so gäbe es wahrscheinlich auch keine kreuzenden 
Bahnen. Man muß sich dies vergegenwärtigen, daß eine kleine 
Bildung am Tierauge eine solche Umwälzung im Aufbau und in der 
Beherrschung der körperlichen Funktionen herbeigeführt haben soll, 
um die Kühnheit einer solchen Hypothese anzustaunen. Aber ich 
glaube, Cajal s Hypothese steht auf recht schwachen Füßen. Ob¬ 
wohl der Autor anführt, daß man über den Verlauf der Sehbahnen 
bei den Wirbellosen noch keine genauen Kenntnisse hat, so nimmt 
er an, daß bei denjenigen Wirbellosen, die Linsenaugen haben, eine 
totale Kreuzung der Sehfasem stattfindet. Das muß er notgedrun¬ 
gen tun, weil sonst seine Hypothese keine allgemeine Geltung hätte. 
Auf der anderen Seite aber betont er ausdrücklich, daß bei den 
Wirbellosen, also auch bei denjenigen mit Linsenaugen, diese Seh¬ 
faserkreuzung nicht eine Kreuzung der anderen Bahnen herbeigeführt 
hat: solche existieren nach ihm bei den Wirbellosen nicht, wie über¬ 
haupt bei ihnen keine zentralen Bahnen im eigentlichen Sinne des 
Wortes existieren. Hier stimmt also seine Theorie nicht, denn es ist 
gar nicht einzusehen, warum die Natur bei den Wirbellosen diejenige 
Folge, welche C a j a 1 als natürliche und konsequente annimmt, nicht 
hat eintreten lassen, während sie das bei den Wirbeltieren durch- 
gehends bewirkt hat. 0 a j a 1 s Hypothese scheitert vollständig, weil 
er das Nervensystem der Wirbellosen nicht berücksichtigt hat, weil 



I 


17 


er ohne genaue Kenntnisse der Verhältnisse der Nervenbahnen bei 
diesen Tieren von ganz irrigen Voraussetzungen ausging. Auch 
Rädl rügt diesen Fehler Cajals, indem er p. 62 ausführt: 
„R. y Ca jal geht in seiner Theorie der Nervenkreuzungen von dem 
Zusammenhang zwischen dem Bau und der Lage des Auges und dem 
Verlauf des zugehörigen Sehnerven aus; weil es nun unter den 
Wirbellosen mannigfache Formen der Sehorgane gibt (während die 
Augen der Wirbeltiere verhältnismäßig gleichförmig sind), so wäre 
es natürlich gewesen, wenn er seine Theorie vorwiegend auf die 
Analyse des Nervensystems der Wirbellosen gegründet hätte. C a j al 
hat aber kein Bedürfnis gefühlt, sich mit dem Nervensystem der 
Wirbellosen zu befassen.“ 

Ca jal nimmt ferner an, daß bei niederen Tieren die optischen 
Empfindungen alle übrigen Sinneseindrücke überwiegen und fast 
ganz das geistige Leben des Tieres beherrschen. Das ist wohl auch 
nicht richtig. Denn bei den niederen Tieren, sowohl bei den Wirbel¬ 
losen. wie bei den Wirbeltieren, treten die lokalisierte Sehempfindung 
und die Sehorgane mit ihren entsprechenden Zentren gegenüber den 
Tast- und Riechempfindungen und deren Organe weit zurück. Man 
nehme hier nur die Beobachtungen, die z. B. an den Bienen gemacht 
sind, oder diejenigen, die an niederen Wirbeltieren mit ihren gewal¬ 
tigen Riechorganen zur Erscheinung kommen. Die niederen Tiere 
sind wesentlich mit Sinnesorganen ausgestattet, welche für die un¬ 
mittelbare Nähe eingerichtet sind und darin eine sehr hohe Aus¬ 
bildung erlangen. Die Sehorgane sind wohl anfänglich auch nicht 
für Sinneseindrücke aus der Nähe eingerichtet und vervollkommnen 
sich erst im Laufe der Entwicklung für Sinneseindrücke aus der 
Ferne.*) Die Einrichtung der kreuzenden Bahnen ist aber phylo¬ 
genetisch eine viel frühere Errungenschaft, und daraus ist zu ent¬ 
nehmen, daß diese Einrichtung nicht vom Linsenauge geschallen 
sein kann. 

Gegen die Ca jal sehe Annahme, daß die Sehfunktion die pri¬ 
märste und bedeutendste im Hinblick auf die Ausgestaltung der 
tierischen Organisation und speziell des Faserverlaufes im Zentral¬ 
nervensystem gewesen ist, sprechen auch noch die Erfahrungen der 
Myelogenese. In einer erst kürzlich erschienenen Arbeit von T i 1 n e y 
und C a s a in a j o r über die Markentwicklung bei der Katze heißt es: 
„Anditory sense is the onlv special sense, which at birth is provided 
with a completely myelinized systern of fibrös. 1t is probable, that 

*) Von dieser speziellen Sollfälligkeit ist natürlich die allgemeine 
Empfindsamkeit des tierischen Körpers auf Lichteinwirkungen zu trennen. 

Jacobs ohn-Lask, Die Kreuzung der Nervenbahnen usw. (Ablull. H. 26 .) 2 



18 


tliis is the only one of the special senses whioh eontributes to the 
directive influcnce guiding the early movements of tiie animal. The 
must important source of tliis dircctive in'iuence however is the 
trigeminal innervation.“ -— ,,On the second day alter hirtli the optic 
nerve and tract are entirely devoid of myelin sheaths: the eyes are 
then closed. On the sixth day the optic tract is myelinized up to the 
superior colliculus, the pulvinar and the lateral geniculate bodv. 
(•n the seventh day the animal opens its eyes.“ 

Was die zweite W undt sehe Hypothese anbetrifft, so ist sie 
eine Modifikation der Cajalschen. Man sollte eigentlich an¬ 
nehmen, daß nach seiner Anschauung, wonach der Drehpunkt des 
Linsenauges innerhalb des Bulbus liege, die Kreuzung gar nicht 
nötig wäre. Trotzdem nimmt er an, daß die Zentren für sensorische 
und motorische Impulse in einer gewissen Symmetrie in der Rinde 
angeordnet sind, und daß die Sehkreuzung notwendig wäre, damit 
die symmetrische Innervation der Augenmuskeln in Aktion treten 
könne, um die Blicklinie kontinuierlich von einer Seite zur anderen 
zu verschieben. Das wäre indessen einleuchtender, wenn auch die 
motorischen Augenhahnen sich symmetrisch zu den sensorischen 
Sehnervenbahnen verhielten. Das ist aber nicht der Fall. Die 
(Grundlage also, auf der W u n d t seine Hypothese aufbaut, scheint 
mir etwas bedenklich zu sein. Indessen mag dem sein, wie ihm 
wolle, so bleibt die W undt sehe Hypothese eine rein funktionelle 
von ganz allgemeiner und unbestimmter Natur, von der man sagen 
kann, daß sie vielleicht zutreiTen mag, aber ebenso, daß die Funk¬ 
tion sich auch ganz anders abspielen kann. Daß die Funktion auf 
den Aufbau und die Ausgestaltung des tierischen Körpers einen 
bestimmenden Einfluß ausgeübt hat, ist selbstverständlich, aber man 
muß verlangen, um befriedigt zu sein, daß man diesen Zusammen¬ 
hang klarer durchschauen kann. Man wird der Lösung des Problems 
nur näher kommen, wenn man Aufbau und Funktion des Nerven¬ 
systems vom Beginn der tierischen Organisation verfolgt. 

Der Spitzersche Lösungsversuch. 

Auf diesem Wege finden wir schon Spitzer bei seinem 
Lösungsversuch. Leider macht er auf halbem Wege halt. Der Autor 
geht, um das Problem zu lösen, auf die Entwicklung des Verte¬ 
bratenkörpers aus dem der Avertebraten zurück. Nach seiner An¬ 
sicht. stammen Anneliden, Enteropneusten, Tunikaten und Verte¬ 
braten von einer gemeinsamen Ahnenform her. Bei der Ver¬ 
gleichung der phyletisehen Entwicklung dieser vier Gruppen aus 



19 


einer gemeinsamen Ahnenform gellt Spitzer von einem der 
Gastrula nahestehenden Stadium aus und führt diese Entwicklung 
in der Formgestaltung für alle vier Gruppen vergleichend durch, 
ln diesem Entwicklungsversuch interessiert für das vorliegende 
Problem diejenige Phase, wo es zur Bildung der Chorda kommt. 
Spitzer ist, wie andere Autoren auch (s. weiter unten), der An¬ 
sicht, daß ein Teil des ursprünglichen Darmkanals der Wirbellosen 
sich im Laufe der Phylogenese zum Zentralkanal umgewandelt hat, 
aber nicht der ursprünglich dorsal, sondern der ursprünglich ventral 
gelegene Teil. Letzterer sei durch eine Drehung des Körpers in der 
Längsachse um 180 Grad dorsal gelagert worden, während der 
ursprünglich dorsale Teil ventral gerückt sei. (Fig. 3 und 4.) Die 
Drehung hätte sich vollzogen, weil der dorsale Teil als der von 
Nahrungsmassen schwerer erfüllte der Schwere folgend nach und 
nach herabgesunken sei, und weil die Lage der Chorda dorsalis als 
Schwebeapparat dies begünstigt hätte. Da nun die Chorda sich mit 
ihrer vorderen Spitze nur bis zur Infundibulargegend erstreckte, so 
sei die Drehung an diesem Punkte erfolgt. Der vor ihr gelegene 
Körperabschnitt, sowohl der ventrale wie dorsale, hätte sich an der 
Drehung nicht beteiligt, sondern sei in der früheren Lage geblieben. 

Kiemenspalten Chorda Darm 



Fig. H —6. Vier Stadien ans der Phylogenese des Chordatenstammes 
schematisch dargestellt nach A. Spitzer. 

Fig. 3. Vor der Torsion; Nenrostoniallöffel nnd -rinne noch offen 
(im hinteren Abschnitt geschlossen). Die Chorda beginnt sich vom 
Darm abzuschnüren, reicht aber nur bis zum Beginn des Neurosto- 
mallöffels; Kiemendarm vorne blind geschlossen, nur mit seitlichen 

Kiemenspnlten. 

Der vordere ventrale Teil, der Mundtriehter (Stoniadciim) hat ur¬ 
sprünglich mit dem hinteren ventralen Darmabschnitt in breiter Kom¬ 
munikation gestanden. (Fig. 8.) Durch die Drehung des im Bereich der 
Chorda liegenden Abschnittes sei diese Kommunikation eingeschnürt 

worden und beide Abschnitte hätten sieh dann gelöst. Fs sei da- 

2 * 


20 


Neurale Hypophyse 



Neuralrohr biw. 
Deuteroneuraxon 

Chorda 


Darm 


Fig. 4. Nach der Torsion. Neoralrohr geschlossen, Nenrostomaltrichter 
gebildet; an der Grenze beider, d. h. an der Kreuzungsstelle von Neurosto- 
mal- und Darmkanal beide Rohre eingeschnürt. 


durch ferner ein dorsaler und ventraler Reeessus entstanden. Der 
dorsale sei am Vertebratengehim des Recessus infundibuli (resp. 
die neurale Hypophyse), der ventrale wäre die embryonal nach¬ 
weisbare Rathkesche Tasche (resp. die spätere orale Hypophyse). 


Proloneuraxon 


Recessus terminalis infundibuli 


Praeoraler 

Darm 

fobliteriert) 


Mundbucht 



Rathkesche primitive Sesselsche 
Tasche Rachenhaut Tasche 


Fig. 5. Nenrostomaltrichter in die Vorderwand des dorsalwärts aufgebogenen 
Darmes durchbrechend (primitive Rachenhaut). Die Verbindung zwischen 
Mundbucht und Neuralrohr aufgehoben. Beginnende Vorwölbung der 
Vorderwand des Deuteroneuraxonrobres, Loslösung der Protoneuraxonplatte 
von der Dorsalwand des ehemaligen Neurostonaltrichters, der praeinfundi- 
buläre Teil des praeoralen Darmes obliteriert. 


Fig. 5. Ebenso hätte aber ursprünglich auch der vordere dorsale 
Abschnitt mit dem hinteren dorsalen in breiter Verbindung gestanden. 
Fig. 3. Durcii die Drehung sei auch zwischen diesen Abschnitten 
eine Einschnürung entstanden, die sich allmählich ebenso gelöst 



21 


Protoneuraxon 



Neuralrohr bzw 
Deuteroneuraxon 


Chorda 


Darm 


Fig. 6. Die Protoneuraxonplatte hat sich kapuzenartig über die vordere 
Wölbung des Deuteroneuraxonrohres hinübergeschlagen; die Nasengrube ist 
in die dorsale Wand der Mundbucht einbezogen. 


hätte. Der vordere dorsale Abschnitt sei allmählich verkümmert (Fig. 5) 
und schließlich verschwunden; der hintere, welcher durch die 
Drehung nach ventral gerückt sei, bildete an der Abschnürungs¬ 
stelle auch einenRecessus, die sog. Sesselsche Tasche. Fig.O. Dieser 
hintere Teil übte in seinem vorderen Bezirk respiratorische Funktio¬ 
nen aus, und diese Funktion hätte er auch weiter beibehalten, auch 
als in notwendiger Folge, das ventrale Stomadeum Anschluß an ihn 
gesucht, sich zuerst an ihn angelegt und schließlich mit ihm durch 
Durchbruch der beiden gegenseitig aneinander liegenden Wände 
(Rachenwand) in Kommunikation gekommen wäre. Dadurch sei ein 
neuer Darmtraktus entstanden, der in seinem vorderen, hinter dem 
Stomadeum gelegenen Abschnitt Respirationsfunktionen ausübe 
(Kiemendarm), wie es auch noch gegenwärtig der Vertebratentypus 
zeige. Am Grunde des Stomadeum kreuzten sich also Respirations¬ 
und Digestionstraktus, und ersterer stände außer durch den Mund¬ 
trichter noch durch einen neu über dem Stomadeum entstandenen 
Kanal, dem Nasenrachengang, mit der Außenwelt in Verbindung. 
Auch die hinteren Abschnitte der beiden Teile des alten Digestions- 
traktus, die ursprünglich ein gemeinsames Rohr bildeten, trennten 
sich, indem der embryonal noch vorhandene Canalis neurentericus 
(Fig. 3) im Laufe der Ontogenese obliteriere und verschwinde. 

Die anchestrale Neuralplatte besteht nach Spitzer aus zwei 
Längsbändem oder Strängen, von denen jeder ursprünglich haupt¬ 
sächlich der homolateralen Seite angehört. Beide Stränge reichten 
vorne bis in den Hypophysentrichter hinein. Das Zentralnerven¬ 
system zerfiel gleich dem Körper in zwei Hauptabteilungen, in den 
im Protosoma (Kopfteil) gelegenen Protoneuraxon und in den 
dem Deuterosoma zugehörigen Deuteroneuraxon. (Fig. 4.) . Die 
Protoneuraxonhälften schwollen sogar am Trichter mächtig an. da die 



Trichter- und Kopfregion besonders reich an Sinnesorganen ausge¬ 
stattet war. Diese vorderen Ganglionmassen entwickelten sich des¬ 
halb schon früh zu höheren Zentralorganen gegenüber dem gesamten 
hinten nachfolgenden Markrohr. Bei der Torsion blieben die beiden 
Hälften des l'rotoneuraxons in ihrer früheren Lage, während die 
rechte und linke Hälfte des Deuteroneuraxons durch die Drehung des 
Deuterosoma um 180° ihre Lage vertauschten. Gleichzeitig ge¬ 
langten letztere auf die Dorsalseite des Deuterosoma, während das 
mächtige l’rotoneuraxon schon infolge der Umbildung des Neurosto- 
mallölTels zu einem Trichter eine dorsalere Lage erhielt. Vollendet 
wird die dorsale Lage des l’rotoneuraxons dadurch, daß der 
vegetative Teil des inneren Löffels- oder Trichterepithels sich 
wegen der später rein vegetativen Funktion des Trichters 
über dessen ganzer unterer Fläche ausbreitet und so das Zentral¬ 
nervensystem von dieser Seite ausschaltet. Später dringt dann 
Bindegewebe zwischen die nutritorische und neurale Platte und 
vervollständigt die Trennung. Die sich kreuzenden Verbindungs¬ 
stücke des Proto- und Deuteroneuraxons aber umgreifen als 
Folge der Torsion, das eine dorsal, das andere ventral, den engen 
Trichterhals, und erst, wenn dieser durchschnürt ist, wozu vielleicht 
auch die Strangulation der sich kreuzenden Nervenstränge beiträgt, 
gelangt auch der von unten umgreifende Nervenstrang mit dem 
dorsalen in eine Ebene. Der ganze Neuraxon bietet jetzt, von der 
Dorsalseite aus betrachtet und das Rohr geschlitzt gedacht, schema¬ 
tisch das Bild zweier median verklebter Bänder, die man dicht 
hinter einer vorderen Anschwellung übers Kreuz gelegt und ihrer 
ganzen übrigen Länge parallel nebeneinander gelagert hat. Das 
Nervenrohr kann natürlich nur bis zur primären Kreuzungsstelle, 
dem Infundibularfortsatz, reichen, und es muß sich, wie vorher aus¬ 
einandergesetzt wurde, beim weiteren Längenwachstum in einen dor¬ 
salen und vorne konvexen Bogen legen, der sich mit dem nach vorne 
gekehrten Teil seiner dorsalen Wand in die mehr kompakte Masse 
des Protoneuraxons hineingräbt. So lagert sich die Hauptmasse des 
Protoneuraxons (Großhirn, Teetum optieum) vorne und dorsal der 
dorsalen Wand des vorderen Hirnrohrstückes auf (Fig. 6), wenngleich 
einTeil auch seitwärts (Thalamus) und sogar ventral das Hirnrohrende 
umgreift. Der Protoneuraxon ist gewissermaßen handschuhförmig 
oder haubenförmig über das vordere Hirnrohrende gestülpt, dorsal 
aber viel weiter als ventral. So erklärt es sich, warum die mäch¬ 
tigsten Hirnteile, die vor der Kreuzung liegen (Großhirn, Teetum 
optieum) als dorsale Bildungen des Hirnrohres angelegt werden. Die 



23 


ventrikulären Höhlen dieser Teile gehören aber ganz zum Deutero- 
neuraxon, dessen Rohr mit sekundären Ausstülpungen sich in die 
Masse des Protoneuraxons hineingräbt. (Seitenventrikel.) Die 
Wandung der Holden und die daraus sich bildenden grauen Massen 
gehören also überall dem Deuteroneuraxon an. 

Vielleicht, sagt Spitzer, ist dieses Verhältnis des Proto¬ 
neuraxons zum Hirnrohr geeignet, auf einen merkwürdigen Gegensatz 
im Bau des Großhirns und des Rückenmarks einiges Licht zu werfen. 
Die graue Substanz des Medullarrohres entwickelt sich aus den den 
Zentralkanal begrenzenden Zellen, während die weiße Substanz an 
den nach außen gewendeten Fortsätzen der Ganglienzellen entsteht 
und zur Verbindung der mehr innen entstehenden Ganglienzellen 
mit äußeren Organen oder entfernten Hirnteilen dient. Daraus er¬ 
klärt es sich, daß die graue Substanz des Rückenmarks ihrer Matrix, 
der Innenfläche des Zentralkanals näher gelagert ist. als die weiße. 
Auf die offene Medullarplatte bezogen, liegt die graue Substanz 
oben« die weiße unten. Das vor der Kreuzungsstelle gelegene Stück 
des Zentralnervensystems hat aber eine umgekehrte Lage. Hier ist 
das Grau gegen die Höhle des Löffels also ventral, das Markweiß 
dorsal gerichtet, und so bleibt es auch nach der Ausschaltung der 
Nervenmasse von der inneren Bekleidung des Mundtrichters durch 
zwischengeschobene Schleimhaut und Bindesubstanz. Indem nun 
das sich vorwölbende Hirnrohr mit seiner dorsalen Wand über diesen 
Teil des Zentralnervensystems hinüberrollt, oder der Protoneuraxon 
nach oben und rückwärts wie ein Mantel über das Hirnrohr hinüber¬ 
geschlagen wird, der Protoneuraxon also mit seiner freien dorsalen 
Fläche sich an das Hirnrohr anlagert und eine zweite Außenhülle 
um die sekundären Ausbuchtungen des Rohres bildet, kommt die 
ursprünglich dorsale weiße Fläche dieses Mantels nach innen auf die 
Ventrikelwand, die graue aber nach außen zu liegen. So erklärt es 
sich, warum am Großhirn umgekehrt« wie am Rückenmark das. 
Rindengrau nach außen, das Markweiß nach innen dem Ventrikel 
zugewandt ist. Auch im Tectum opticum liegt der motorische 
Tractus tecto-bulbaris und -spinalis als tiefes Mark in unmittelbarer 
Nachbarschaft des deuteraxialen Zentralorgans also tiefer als das 
Ursprungsgrau dieser Bahnen. Und dasselbe zeigt sich beim dritten 
epenzephalen Gebilde, dem Kleinhirn. 

Eine Schwierigkeit findet der Autor allerdings l>cim Kleinhirn. 
Läßt er es als ein Bestandteil des Deuteraxons gelten, so sind zwar 
die Verbindungen mit dom Rückenmark homolateral und mit den 
zerebraleren Teilen gekreuzt (Bindearme), aber das Lageverhältnis 



24 


von Rindengrau uml Markweiß ist der sonstigen Lagerung dieser 
beiden Bestandteile entgegengesetzt. Diese Lagerung wird aber 
erklärlieh, wenn man das Kleinhirn als Protoneuraxonteil auffaßt. 
Tut man letzteres, so muß man nach Spitzer zur Erklärung seiner 
Verbindungen eine nachträgliche Vertauschung seiner beiden Seiten 
annehmen, und diese sei vielleicht erfolgt als eine Anpassung an die 
benachbarten Deuteroneuraxonteile, deren Einwirkung es als 
weitest vorgeschobener Protoneuraxonteil am meisten ausgesetzt 
war. Durch die Drehung des Kleinhirns um die Vertikalachse seien 
auch die Troehlcariswurzeln gekreuzt worden, die ursprünglich als 
dorsale motorische Wurzeln (wie die Faziales) am hinteren Rande 
des Cerebellum dorsal und seitlich ausgetreten wären. Die 
Selbständigkeit dieser aufgestülpten dorsalen Teile des Proto- 
neuraxons ist nach Spitzer auch ontogenetisch angedeutet. 
Sie sind pilzartig dem übrigen Rohre aufgesetzt und auch 
am entwickelten Gehirn läßt sich die Grenze . stellenweise 
ziemlich scharf bezeichnen. So grenzt sich am Mittel- 
him das zum Protoneuraxon gehörige Tectum opticum, das mit 
dem Großhirn direkte, mit den tieferen Zentralgebieten gekreuzte 
Verbindungen eingeht, ziemlich scharf ab vom Zentralgrau um den 
Aquaeductus, das bereits peripher von der Kreuzung der zentralen 
Bahnen gelagert ist, da aus ihm die peripheren Nerven (Oculomo- 
torius, Trochlearis, Quintus mesencephali) entspringen. Nicht über¬ 
all bleibt aber die genetische Abgrenzung so gut erhalten. Die 
Eingrabungen der deuteroaxialen Ventrikelhöhlen in die Proto- 
neuraxonmasse bzw. die Ausstülpungen der letzteren auf die erstere 
bringt die verschiedenen Teile beider Hauptabteilungen in nähere 
Beziehungen. 

Um die anderen nicht an der Torsionsstelle gelegenen Kreu¬ 
zungen und die in der Phylogenese sich überhaupt zeigenden weite¬ 
ren Ausgestaltungen der kreuzenden Systeme zu erklären, stellt 
Spitzer drei wichtige, den feineren Bau der Neuraxe beherr¬ 
schende Bauprinzipien auf: 

1. Das Prinzip der Kondensation des funktionell Zusammen¬ 
wirkenden. Es bewirkt, daß wie die funktionell gleich¬ 
artigen, so auch die zu einer höheren funktionellen Einheit 
zusammenwirkenden Elemente (graue wie weiße Substanz) 
sich im Laufe der Phylogenese zu einer anatomischen Einheit kon¬ 
densieren und sich von dem Fremdartigen immer mehr abgrenzen. 

2. Das Prinzip der Dissemination oder Dissoziation des Indif¬ 
ferenten und ungleich Differenzierten. Es drückt aus, daß das noch 



— 25 — 

Undifferenzierte, Indifferente zum Teil passiv über ein möglichst 
großes Gebiet zerstreut wird, um das Material für lokalisierte, durch 
örtliche Faktoren bewirkte Differenzierungen zu liefern, und daß 
sich auch das ungleichartig Differenzierte, dessen einzelne Produkte 
auseinander streben, anatomisch von der unifizierenden Wirksam¬ 
keit der elterlichen Funktion zu befreien trachtet. 

3. Das Prinzip der kleinsten Strecke. Es besagt, daß die 
Natur bei der Herstellung irgendeiner Verbindung oder beim Auf¬ 
bau eines Organs den möglichst kürzesten Weg zur Erreichung 
ihres Zieles einschlägt. 

Alle drei Prinzipien wirken in dem Sinne, daß sich Teile des 
Protoneuraxons wie des Deuteroneuraxons aneinander vorbei in das 
Gebiet der anderen Hauptabteilung vorschieben und so die Grenzen 
beider Gebiete verwischen. Sie wirken analog auch auf die Loka¬ 
lisation der Kreuzung. Ursprünglich liegt die Kreuzung am Vor¬ 
derende des Hirnrohres in der Nachbarschaft des Infundibulum. 
Ihre noch indifferenten oder funktionell auseinanderstrebenden 
Elemente werden aber bald nach dem Prinzip der Dissoziation 
über die ganze Hirnraphe zerstreut, um dann nach dem Prinzip 
der Kondensation an verschiedenen Punkten zu funktionell gleich¬ 
artigen oder gleichzieligen Gruppen vereinigt zu werden. An wel¬ 
chen Punkten sich die einzelnen Kreuzungen kondensieren, dafür 
können physiologische, systematisch-anatomische und auch mecha¬ 
nische Momente (Flechsig) in Betracht kommen. Für die Lage 
der Optikuskreuzung war die Lage der Augen wahrscheinlich an 
der Grenze von Proto- und Deuterosoma. für die Schleifenkreuzung 
vielleicht die Lage der Hinterstrangskerne maßgebend, für die 
Pyramidenbahn vielleicht die funktionelle Zusammengehörigkeit 
mit der Schleife. Die Kreuzung als ganzes Phänomen erfordert aber 
zu ihrem Zustandekommen eine universelle und einheitliche Ur¬ 
sache, während die spezielle Lokalisation der Einzelkreuzungen 
eine lokalisierte und fallweise verschiedene Teilursache voraussetzt. 

Ein weiterer Effekt der vorher erwähnten drei Prinzipien besteht 
darin, daß zwei sich kreuzende Stränge, die sowohl bei der Ur- 
kreuzung als auch bei den speziellen Kreuzungen anfangs einfach 
übereinander gelagert waren, im Laufe der Phylogenese in immer 
kleinere und zahlreichere Einzelbündel zerfallen, die sich verflech¬ 
ten, bis eine vollständige gegenseitige Durchdringung der Kreuzungs¬ 
bündel zustande kommt (z. B. die sich verändernde Optikuskreuzung, 
einmal aus zwei übereinander liegenden Bündeln bei niederen Wirbel¬ 
tieren und aus ihrer Verflechtung bei höheren). 



Auch Spitzer ist der Ansicht, daß sich die partielle Kreuzung 
erst aus der totalen herausgebildet hat. Dabei hätten funktionelle 
Faktoren eine große Holle gespielt, wobei der Hauptfaktor da* 
Prinzip der Kondensation des funktionell Zusammenwirkenden ge¬ 
wesen sei. Das Vertebratenauge stellt nach Ansicht des Autors viel¬ 
leicht das Kondensationsprodukt segmentaler, oder doch in mehr¬ 
facher Zahl auftretender Organe dar. Da der Protoneuraxon mit den 
deuterosomatischen Sinnesorganen in gekreuzter, mit den prosomati¬ 
schen jedoch in ungekreuzter Verbindung steht, so muß ein Organ, 
das aus der Konzentration von Elementen entstanden ist, die zwar 
alle derselben Seite, aber zum Teil dem Proto-, zum Teil dem Deutero¬ 
soma angehört halten, sowohl mit dem gleichseitigen als auch mit dem 
gekreuzten Protoneuraxon (Dachhirn) verbunden sein. Die weitere 
Zu- und Abnahme der ungekreuzten Fasern mag dann vom Gebrauch 
oder Nichtgebrauch abhüngeu. woraus sich die Übereinstimmung der 
anatomischen Ausbildung mit der funktionellen Verwertung der 
partiellen Kreuzung erklärt. 

Wahrscheinlich dünkt es dem Autor, daß die homolaterale Be¬ 
ziehung überhaupt erst sekundär entsteht. Auch hier spielt das 
Prinzip der Kondensation die Hauptrolle. Dabei können einzelne 
Sinnesorgane von Haus aus einheitlich sein, da sich die hier in 
Betracht kommende Kondensation hauptsächlich im Zentralnerven¬ 
system abspielen dürfte, indem die zentralen Bahnstücke derjenigen 
Fasern, die in enge funktionelle Beziehungen zu Faserenden der ande¬ 
ren Seite treten, zu diesen hinüberwandern. Dieses Hinüberwandcm 
geschieht aber nicht in der Weise, daß die Fasern ihre ursprüng¬ 
lichen Verbindungen aufgeben und neue in der homolateralen Hirn¬ 
hälfte anknüpfen, sondern das zentrale Faserstitck wandert samt 
seiner End- oder Ursprungszelle zu den Synergiden der anderen 
Seite, wobei eine Verbindung mit den Elementen der ehemals gleich¬ 
seitigen Hirnhälfte lang ausgezogen wird, um zu der nunmehr 
kontralateralen Hälfte hinüber zu ziehen. Das späte Auftreten des 
Balkens hängt vielleicht zum Teil hiermit zusammen. 

Indem so das Prinzip der Kondensation die totale Kreuzung in 
eine partielle umzugestalten sucht, wirkt es nach Spitzers An¬ 
sicht zum Teil auch der Symmetrietendenz des Körpers entgegen, 
da es bestehende Asymmetrien zu verstärken trachtet (z. B. Sprach¬ 
zentrum). Die asymmetrischen Bildungen im Zentralorgan wären 
dann Zeichen einer höheren Entwicklungsstufe. 

Ich habe die Arbeit Spitzers so ausführlich wie möglich 
referiert, viele Stellen sind sogar fast wörtlich zitiert; und zwar ge- 



27 


schall das, weil ich manches aus der Arbeit für recht wertvoll halte, 
wenn ich auch glaube, daß auch Spitzers Lösungsversuch ge¬ 
scheitert ist. 

Spitzers Arbeit zerfällt in drei Abschnitte. Es sind gleich 
sam drei Truppenabteilungen, die zu einem Ziele angesetzt werden. 
Einmal glaubt er auf Grund seiner Forschungen über die Phylo¬ 
genese des tierischen Körpers den Aufbau dieses Körpers so kon¬ 
struieren zu können, daß es zur Torsion des Neurostomairohres 
kommt. Die dadurch bedingten Überlagerungen der beiden Hälften 
der Neuralplatte vor der Spitze der Chorda dienen ihm dann als 
Hauptbasis zur Begründung seiner Hypothese über das Zustande¬ 
kommen der Kreuzungen im Zentralnervensystem, und drittens 
braucht er verschiedene Hilfstruppen in Gestalt seiner drei Bau¬ 
prinzipien, um die ganze Ausgestaltung der Faserkreuzungen erklären 
zu können. 

Ob sich der Vertebratenkörper aus seinem wirbellosen Verfahren 
so entwickelt hat, wie Spitzer es darlegt, ist nicht zu beweisen. 
Man muß anerkennen, daß der Autor sich große Mühe gegeben hat, 
für das schwer zu lösende Problem eine Lösung zu finden. Aber 
man darf nicht aus dem Auge verlieren, daß es eine künstliche 
Konstruktion ist. Andere Forscher, wie z. B. v. Kupffer, Gas- 
kell,Delsmanu. a. haben das Problem zu lösen versucht, ohne zu 
dem Mittel der Torsion zu greifen. v.K u p f f e r und G a s k e 11 haben 
besonders den Larvenzustand von Petroinyzon zur Grundlage ihres 
Studiums gemacht, weil dieses niedere Wirbeltier in seinem längere 



Fig. 7. Ammocoetes Planeri. 4 mm lang, Kopf median durchschnitten; die Durch¬ 
bohrung der Rachenhant leitet sich ein. Nach C. v. Kupffer. 




28 


Zeit sich erhaltenden Larvenzustande noch am ehesten anchestrale 
Bildungen erkennen läßt. Wie sich das Zentralnervensystem, speziell 
das Gehirn und die ganze Kopf- und vordere Intestinalregion all¬ 
mählich ausbilden, zeigen die von C. v. Kupffer gegebenen 
Figuren 7 und 8. Ich stelle diese Figuren hier zum Vergleich mit 
den Spitzer sehen hin und will nur erwähnen, daß hier von einer 
Torsion nichts angedeutet ist, und daß die letzte Ablösungsstelle des 
Neuralrohres von dem Ektoderm ganz vorne an der Riechplatte ist. 
v. Kupffer, der zunächst auch das Ende der Himachse in die 
Infundibularregion verlegt hatte, ist später davon zurückgekommen 
und sieht das Ende der Achse nunmehr am vorderen Neuroporus. 
Es ist ferner bemerkenswert, daß sich nach v. Kupffer das Neural¬ 
rohr im frühesten Bildungsstadium als ein durchgehends kompakter 
Strang erweist. 

Welche Bedeutung G a s k e 11 gerade dem Ammocoetes in der 
phylogenetischen Entwicklungsreihe zuweist, soll weiter unten aus¬ 
führlich erläutert werden. 

Es ist, soviel ich sehen kann, bei allen Forschern, die sich mit 
der Bildung des Wirbeltierkörpers aus dem der Wirbellosen beschäf¬ 
tigt haben, von einer Torsionserscheinung in der Weise, wie sie 
Spitzer darstellt, nichts zu finden. 


%i*chj>laitg 



Oesophagus 


Hypopk.Ardagt 

MuncL 



Fig. 8. Kombination zweier Medianschnitte durch Kopf und Hirn von 
Ammocoetes Planeri (6 mm bis 9 cm lang). Nach C. v. Kupffer. 



29 — 


Indessen nehmen wir nun einmal an, es hätte sich im Laufe der 
Entwicklung alles so abgespielt, wie Spitzer auf Grund seiner 
Erwägungen glaubt, daß es tatsächlich geschehen ist. Findet bei 
dieser Annahme und in diesem Vorgänge das Phänomen der Kreu¬ 
zung der zentralen Nervenbahnen seine Erklärung? Spitzer geht 
von der Neuralplatte aus, die nach ihm aus zwei Längsbändern oder 
Strängen besteht, von denen jeder ursprünglich hauptsächlich der 
homolateralen Seite angehört. Das kann doch nur so zu verstehen 
sein, daß die Nervenzellen und Nervenfasern, aus denen diese Bänder 
bestanden, ganz wesentlich Stationen und Leitungswege zur nervösen 
Versorgung der homolateralen Körperhälfte waren; möglicherweise 
sind auch ein paar kreuzende Fasern vorhanden gewesen, die gar 
keine Rolle spielten. Näheres sagt er darüber nicht, man muß es 
nur aus dem Worte „hauptsächlich“ schließen. Aber nehmen wir an, 
Spitzer hätte auch darin Recht (wir werden weiter unten darauf 
noch näher eingehen), daß die Fasern fast sämtlich der homolateralen 
Hälfte angehören. Nun erfolgt also die Torsion in der Infundibular- 
region, und dadurch legen sich die homolateralen Stränge über Kreuz. 
Die vor dem Drehungspunkt gelegenen beiderseitigen Anteile des 
Zentralnervensystems werden dabei in ihrer Lage nicht verändert, 
sie bleiben also, wie man natürlich annehmen muß, auch weiter 
homolateral orientiert. Bloß, meint der Autor, sind sie entsprechend 
der reichlichen Anlage von Sinnesorganen am vorderen Körperende 
weit voluminöser als die hinteren Abschnitte des Zentralnerven¬ 
systems und legen sich im Laufe der weiteren Entwicklung dem 
vorderen Teil des Deuteroneuraxon haubenartig auf. (Fig. (>.) Sieht 
man zunächst davon ab, daß durch die Drehung nicht nur der rechte 
Strang links und der linke rechts zu liegen kommt, sondern daß 
auch das, was dorsal war, nunmehr ventral gelagert wird, so kann 
man nur feststellen, daß der vor der Drehung bestehende Zustand 
durch die Torsion zwar an einer Stelle geändert ist. indem an der 
Einschnürungsstelle eine kompakte Kreuzung der diese Stelle pas¬ 
sierenden Nervenbahnen eingetreten ist, im übrigen aber der Zustand 
des Faserverlaufs der übrigen Bahnstrecken ganz unverändert bleibt, 
indem alle Fasern, die nicht die Torsionsstelle passieren, wie vorher 
homolateral verlaufen, nur daß die ehemals links gelegenen Zentral¬ 
stationen kaudal von der Kreuzungsstelle nun rechts liegen und um 
gekehrt. Da ja aber auch eine Drehung des ganzen entsprechenden 
Körperteiles stattgefunden hat, so versorgt jede Nervenstation doch 
wieder die gleiche homolaterale Körperregion und eine weitere 
Kreuzung findet durch den Vorgang doch unmittelbar nicht statt. 



30 


Ls sind bei den Wirbellosen. besondere lx?i der weiteren Ent¬ 
wicklung aus dem La ne nzu stände Verschiebungen und Umlagerun- 
gen von Organen mit ihren zugehörigen Nerven mehrfach beobachtet 
worden und unter dem Namen der h i a s t o neurie bekannt. In 
den Figg. 0 und 10 sind diese Vorgänge dargestellt. 


Linker 

Kieme 



Visceral 

schlinge 


Rechter 

Kieme 


Fig. 9 zeigt schematisch 
den Larvenzustand eines 
Gasteropoden. bei welchem 
jeder Viszeralstrang zu dem 
homolateral gelegenen Kie¬ 
men verläuft. Fig. 10 zeigt 
die eingetretene Verlage¬ 
rung und die dadurch ein¬ 
getretene Kreuzung der 
Viszeralschlingen. Niemals 
aber ist beobachtet worden, 
daß solche durch Organver¬ 
lagerungen eingetretene 
Nervenkreuzung weitere 
Nervenkreuzungen im Ge¬ 
folge gehabt hat. 


Fig. 9. Schema des homolateralen Verlaufes Konzediert man also 

der Visceralscblingen des Nervensysteme bei dem Autor auch den Tor- 

Gastropodenlarven (Schnecken) sionsvorgang in der Infun- 

Nach Claus-Orobben. . . . , , 

dibularregion, so wird da¬ 
durch nur eine kompakte lokale Kreuzung hervorgerufen, nicht aber 
ist dadurch die Allgcmeinerscheinung, daß sich im gesamten Zentral¬ 
nervensystem die Faserbahnen zum überwiegenden Teil kreuzen, 
erklärt. Das hat der Autor auch wohl herausgefühlt, und deshalb 
muß er nun zu Hilfsmitteln greifen, um das Entstehen der allge¬ 
meinen Kreuzung verständlich zu machen. Trotzdem darf man nicht 
verkennen, daß auch er die allgemeine Kreuzung von einer primären 
lokalen ableitet. Damit folgt er nun doch der gleichen Linie wie 
Flechsig und Hamon y C a j a 1. Obwohl er die Deutungsver¬ 
suche der genannten Autoren energisch ablehnt, da sie kein all¬ 
gemeines Prinzip kausal zu erklären versucht hätten, verfällt er dem¬ 
selben Fehler, ohne sich dessen recht bewußt zu sein. Wie gesagt. 
Spitzer tut auch nichts anderes, wie die genannten Autoren. Denn 
um nun von seiner durch die Torsion zustande gekommenen lokalen 
Kreuzung die allgemeine zu erklären, stellt er seine drei die Neuraxe 
beherrschenden Hauprinzipien der Kondensation, der Dissemination 



31 


und der kleinsten Strecke auf. Diese Faktoren spielen in der Ent¬ 
wicklung des Nervensystems zweifellos eine große Rolle, aber so 
allgemein verwendet sind sie ein bequemes und sehr gefährliches 
Mittel, mit dem man einen vermeintlichen Vorgang leicht beweisen 
kann; aber ebenso könnte ein anderer durch dieselben Hilfsmittel 
auch das Gegenteil beweisen. 


Die kompakte Kreuzung 
in der Infundibularregion wird 
nach Spitzer zunächst durch 
Dissemination zersplittert, sie 
löst sich in zahlreiche Bündel 
auf. Diese rücken nun kaudal- 
wärts und deren Fasern über¬ 
schreiten in der ganzen Aus¬ 
dehnung desDeuteroneuraxons 
die Mittellinie. Das ist natür¬ 
lich leicht möglich. Indessen, 
wenn es geschehen ist, so muß 
es in der Entwicklung etwas 
schnell vor sich gegangen 
sein, denn sonst müßte man 
doch bei den niedersten 
Vertebraten in der Infundibu- 



largegend die Hauptkreuzung 
und in den anderen Re¬ 
gionen gar keine oder nur 
ganz spärliche sehen. Das 


Fig. 10. Sebema der Kreuzung der Visceral¬ 
schlingen des Nervensystems (Chi&stoneurie) 
bei Oastropodenlarven. 

Nach Claus-Grobben. 


ist. aber absolut nicht der Fall. Man findet gleich bei den 


niederen Vertebraten überall ziemlich dieselben Verhältnisse, bald 


diffuse Kreuzungeu, wie gerade in der Infundibularregion. bald 
kompakte Kreuzungen, wie Optikus. Schleifenkreuzung etc. Diese 
Eigentümlichkeit läßt also doch wohl Zweifel aufkommen. ob die 
Entwicklung sich so zugetragen hat, wie Spitzer es annimmt. 


Aber sehen wir einmal davon ab, daß man die kompakte Kreu¬ 
zung in der Infundibulargegend selbst bei den niedersten Vertebraten 
nicht mehr findet. Nehmen wir an. daß die ursprünglich zusammen¬ 
liegenden kreuzenden Bündel sich zersplittert und auf die Neural¬ 
achse verteilt haben. Dann können es aber doch nur diejenigen 
gewesen sein, welche ursprünglich in dieser kompakten Kreuzung 
zusammengelegen haben, die also Zentren der beiden Protoneuraxon- 
hälften mit Zentren der Deuteroneuraxonhälften in Verbindung 




32 


setzten. Dewil# k<iijn<-ii dic-e Fahrbahnen im Laufe der Entwicklung“ 
zugenommen haben. aber doch immer nur soweit sie zu den Systemen 
gehören, die ursprünglich durch den Torsi«ui^vorgang in die Kreu¬ 
zung gekommen sind. Uder glaubt der Autor, daß sich nun auch 
alle anderen Systeme, sowohl <lie schon vorhandenen, als auch die in 
der weiteren phylogenetischen Entwicklung entstandenen sich dieser 
primären Kreuzung angeschlossen haben und ihrem Verlaufe gefolgt 
sind, wie eine Herde einfach seinem Führer folgt? Es ist das von 
S p i t z e r kaum zu glauben, da er >o energisch gegen diese Vor¬ 
stellung bei Kam on y Cajal protestiert hat. Im übrigen Bereich 
der Xeuralach>e brauchten also keine anderen Kreuzungen mehr 
stattzufinden, da sich ja bei der Torsion nicht nur die Xeuralachse. 
sondern mit Aufnahme der Chorda auch die Teile des Deuterosnina 
mitgedreht hatten. Ersteres wäre ja ohne das letztere auch gar 
nicht, möglich gewesen. Die kaudal von der Infundibularregion 
liegenden Zentren standen zwar nach der Torsion mit Zentren des 
Protoneiiraxon in gekreuzter Verbindung, unter sich aber und mit 
der ihnen zugehörigen, auch durch die Torsion nicht veränderten 
Körperhälfte in ungekreuzter. Warum sollte sich nun auch hei 
ihnen eine Kreuzung vollzogen haben? End doch bestehen natürlich 
Kreuzungen kaudal von der Infundibulargegend genug, die zu Zentren 
Beziehungen haben, welche weit ab von der Torsionsstelle liegen. 
»Spitzer kann also durch seine Torsionshypothese zwar die lokale 
Infundibularkreuzung und deren eventuelle Zersplitterungen und 
Lagerungen kaudalwärts erklären, nicht aber die zahlreichen anderen 
resp. die allgemeine Kreuzung der Nervenfasern, welche das ge¬ 
samte* Zentralnervensystem beherrscht. 

Pie* ganze* Sache wird abe*r ne>ch merkwürdiger, wenn wir «las 
prüfen, was Spitzer iibe*r das ITotemeiiraxon sagt. Dieses Proto- 
netiraxon ist also <li<> vor de*m Iiifundibiilum dorsal vom Mundtrichter 
gelegene* zentrale Xervenmasse, die infolge der in der Kopfregion ge¬ 
lagerten zahln*iche*n kondensierten Sinnesorgane eine besondere 
Mächtigke*it erlangt hat. Die*se* Xe*rve*nmasse, bilateral symmetrisch 
wie* elmjenige* ele*s De*ule*roneuraxons, soll sich allmählich über den 
veuitrikclartig aufge‘blä!ite*n ve>relcrst(*n Teil des dem Deuteroneu- 
raxon zugehörigen Neuralrohivs haubenartig hinübergelegt haben, 
so daß sie gleichsam die* Himlenschiclit des vorderen Abschnittes des 
Neuralrohrcs bildete. Diese Schicht reicht vom Infundibuluni nach 
vorn, aufwärts und dann nach hinten bis event. zum Kleinhirn. 

Xe*hme*n wir einmal wiede*r an. daß der Entwicklungsvorgang 
sich so abgespiedt hat, wie* Spitzer es angibt. Was ergibt sich 



33 


daraus für das Problem der Kreuzungen der Nervenbahnen? Aueli 
liier können keine anderen Kreuzungen bestehen als diejenigen, 
welche mit der Torsionskreuzung am Infundibulum in Verbindung 
sind, denn bezüglich der Lagerung der Protoneuraxonteile hat sieh 
mit Ausnahme, daß sie sich auf die vordere Wand der Neuralachse 
aufgestülpt haben, nichts verändert. Was vorher auf der rechten 
»Seite lag, liegt nachher ebenso rechts und umgekehrt mit links. 
.Jedenfalls ist nach der Spitzer sehen Hypothese die Sehnerven¬ 
kreuzung nicht zu erklären. Im Gegenteil bestände seine Annahme 
zu Recht, so müßten die Sehfasern eigentlich vollkommen ungekreuzt 
verlaufen. Denn die Sehfasern, welche Ganglienmassen mit den 
homolateral gelegenen seitlichen Augen verbinden, gehören doch dem 
Protoneuraxon an und liegen zunächst wenigstens, bevor das Proto- 
neuraxon sich über den vorderen Teil des Deuteroneuraxon über- 
stiilpte. weit vor der Infundibular-, also vor der Torsionsgegend. Sie 
haben also an der Drehung keinen direkten Anteil. Dadurch, daß 
nun diese Ganglienmasse, wie Spitzer annimmt, sich über das 
Dach des Neuralrohres schiebt, und sich im Laufe der Phylogenese 
zum Dach des Mittelhirns entwickelt, wird doch an dem homolate¬ 
ralen Verhältnis zwischen Ganglienmasse, Sehfasern und Auge nichts 
geändert.- Nun könnte man annehmen, daß die .Sehfasern indirekt 
bei dem Torsionsvorgang in der Infundibularregion mitbeteiligt wer¬ 
den und als Nachbarfaserung gleichfalls gekreuzt werden. Das 
könnte geschehen, wenn ihre Ganglienmassen gleichfalls verschoben 
würden, d. h. die links gelegene nach rechts und die rechts gelegene 
nach links gerückt würde. Man müßte also annehmen, daß die den 
< >ptici zugehörigen Ganglionmassen zur Zeit der Torsion unmittelbar 
in der Nachbarschaft der Torsionsstelle gelegen halten. Das ist aber 
nach dem Vorgang der überstiilpung. wie ihn Spitzer schildert, 
und auch sonst nicht sehr wahrscheinlich. Bei dem Versuch, die 
Chiasmakreuzung zu erklären, verwickelt sich der Autor noch 
weiter in unlösbare Widersprüche. Obwohl er der Ansicht ist. daß 
allgemein die partielle Kreuzung erst aus der totalen hervorgegangen 
ist, postuliert er doch für die Optikuskreuzung von vornherein eine 
partielle (vergl. S. 2<>). 

Schließlich, kann man sagen, artet die Arbeit Spitzers in 
vollkommene Willkür aus. In der Überstiilpung des vorderen Teiles 
des Neuralrohres mit den Ganglienmassen des Protoneuraxons glaubt 
Spitzer auch die Ursache gefunden zu haben, warum die weißen 
Fasennassen des Großhirns und der Vierhügel nach innen vom Grau 
gelagert sind, während beim Rückenmark das umgekehrte \ erhältuis 

Jacobsohn-Lusk, Die Kreuzung der Nervenbahnen usw. ( Abhdl. H. 8 



bestellt. Diese Schwierigkeit wäre gelöst, wenn das Verhältnis der 
grauen Masse zur Fasennasse beim Kleinhirn sich so verhielte wie 
beim Rückenmark. Leider verhält es sich nicht so. Was also tun? 
Spitzer ist nicht verlegen. Paßt die Sache zum Rückenmark nicht, 
dann nimmt man eben das Kleinhirn noch mit zum Protoneuraxon. 
Aber da begegnet er einer neuen Schwierigkeit, die er bei der 
Optikuskreuzung, wie vorher erläutert wurde, ganz übersehen hatte. 
Das Kleinhirn hat nämlich eine gekreuzte Verbindung durch die 
Bindearme, während es als Protoneuraxonteil eine ungekreuzte haben 
müßte. Wieder eine Verlegenheit! Was nun tun? Spitzer weiß 
sich schnell zu helfen. Das Kleinhirn hat im Laufe seiner Entwick¬ 
lung seine rechte Hälfte mit der linken und umgekehrt vertauscht, 
d. h. es hat sich nach Ansicht des Autors um seine vertikale Achse 
gedreht. Dadurch sind auch gleichzeitig die Troehleariswurzeln 
gekreuzt worden. Wie herrlich! Zwei Schwierigkeiten sind mit 
einem Male überwunden und damit ist die Hypothese auf der ganzen 
Linie zum Siege geführt. Indessen mit solcher Willkür kann man 
alles beweisen, nur daß von diesem Beweise vielleicht nur einer 
überzeugt ist. nämlich der Autor und dieser wahrscheinlich auch 
nicht ganz. 

Andere Autoren leiten die nervöse Substanz des Palliums aus 
der primitiven membranösen Wand der Gehirnanlage selbst ab. So 
sagt Johnston diesbezüglich: „Es erübrigt, noch die Spur zu 
erwähnen, die wir hinsichtlich des Schicksals des Palliums der 
Ganoiden und Teleostier haben. In dem Epitheldach des Vorderhirns 
von Acipenser finden sich weit weg von einer massiven nervösen 
Wandung einige Nervenzellen und -fasern, welche nach der Golgi - 
sehen Methode imprägniert worden sind. Die Fasein bilden ein 
kleines Bündel, welches über die zephalische Fläche des Palliums 
hinal)geht und ins Corpus Striatum eintritt. Hier ist der Beweis, 
daß das membranüse Pallium der Ganoiden nervöse Substanz enthält, 
welche die Anlage der dorsalen Rinde der höheren Formen bildet. 
< »bwohl eine größere laterale Rinde im oberflächlichen Teile des 
Corpus Striatum vorhanden war. müssen die obigen Resultate als 
Beweis gelten, daß wenigstens ein großer Teil der Rinde der höheren 
Wirbeltiere in situ von dem Material des membranösen Palliums des 
Fischvorderhirns sich entwickelt hat.“ 

Der Rädlsche Lösungsversuch. 

Indem ich nun noch zur Besprechung der Rä dl sehen Hypo- 
t lies e übergehe, erwähne ich zunächst, daß der Autor die Spitzer- 



35 


sehe Hypothese verwirft, indem er anführt, daß an dem Vorhanden¬ 
sein der gekreuzten Nervenbahnen bei den Arthropoden und Wür¬ 
mern die ganze von Spitzer gegebene Erklärung scheitert. 

Radi gibt eine außerordentlich genaue Beschreibung der histo¬ 
logischen Verhältnisse der optischen Ganglien bei den Wirbellosen. 
Die Nervenbahnen, welche diese optischen Ganglien einer Seite unter 
sich und mit dem Gehirn verbinden, sind bei vielen Vertretern ge¬ 
kreuzt, bei einzelnen ungekreuzt. Der Autor fand nun, daß die 
Stellung dieser einzelnen Ganglien, die in Schichten gelagert sind, 
bei denjenigen Wirbeltieren, bei denen sich die unilateralen Kreu¬ 
zungen finden, eine andere ist als bei denjenigen, bei denen keine. 
Kreuzungen bestehen. Während in dem einen Falle die Schichten 
gleichmäßig konzentrisch zueinander gelagert sind, sind sie im ande¬ 
ren Falle so gelagert, daß z. B. das folgende (proximale) wie um 
180° gedreht zu sein scheint, so daß es nun der distalen Schicht 
seine Kehrseite zuw'endet. Es kann aber auch der umgekehrte 
Zustand Vorkommen, d. h. bei Inversion eines Ganglion kann Nicht¬ 
kreuzung der Bahnen bestehen. Der Autor konstatiert nur diese Kor¬ 
relation zwischen der Lagerung der Schichten und der unilateralen 
Kreuzung resp.Nichtkreuzung,ohne behaupten zu wollen,daß wirklich 
eine Drehung um 180" stattgefunden hat. Um eine klare Vorstellung des 
Verhältnisses zu geben, braucht er folgendes anschauliche Bild: „Man 
stelle sich die Ganglien als eine Reihe von hintereinander stehenden 
Männern vor; alle Männer sehen nach vorne und jeder nachfolgende 
hält seine Arme auf den Schultern des vorausstehenden; einige halten 
ihre Arme parallel, andere gekreuzt. Die Männer stellen Ganglien, 
ihre Hände die Leitungsbahnen dar. Es kommen nun Abweichungen 
von dieser normalen Struktur vor. welche sich so veranschaulichen 
lassen, daß sich ein Mann in jener Reihe nach hinten dreht, ohne 
die Hände von den Schultern des Vordermannes wegzuziehen; hielt 
er ursprünglich seine Hände gekreuzt, so überführt er sie jetzt in 
die parallele Lage und umgekehrt.“ Daraus ergibt sich, daß bei 
einer solchen Inversionsstellung sowohl eine Kreuzung bestehen, als 
auch in anderen Fällen, verschwinden kann. Zum Unterschiede von 
diesen unilateralen Kreuzungen,“ so fährt Rädl fort, „stellt die 
Chiastoneurie eine bilaterale Nervenkreuzung dar und erlaubt uns 
unsere Deutung der Nervenkreuzungen auch aufFälle von bilateralem 
Chiasma zu erweitern.“ — „Wird ein Ganglion um eine im Ganglion 
selbst liegende Achse um 180° gedreht, so entsteht ein unilaterales 
Ghiasma (oder es wird dieses Chiasma. wenn früher vorhanden, auf¬ 
gelöst); werden dagegen zwei symmetrisch zur Mittellinie des Kör- 


3 * 



pers liegende. analoge Laiiglien um eine auf <ler Mittellinie senkrecht 
stehende Achse um 1 Hl” gedreht, so entsteht ein bilaterales (. hiasma." 
— ..Jedenfalls steht fest, «laß im organischen Reich Fälle Vorkom¬ 
men. wo die ursprünglich rechtsseitigen Organe nach der linken Seite 
und umgekehrt verschoben sind, und wo damit die Xervenkreiizung 
in Korrelation steht." 

R ä d 1 sagt weiter bezüglich der S e li n e r v e n k r e u z u n g: 
..1 de Sehnervenkreuzung: kommt hei allen Wirbeltieren vor. und nur 
in Ledanken können wir uns ein Wirbeltier konstruieren, welches 
ungekreuzte Sehnerven besitzen würde. Wir wissen bereits, daß mit 
der Auflösung- des (’hiasma in ungekreuzte Nervenstränge eine 
Drehung beider Netzhäute um ISO" in der Horizontalebene verbunden 
sein müßte: wie würden die Augen dieses hypothetischen Organismus 
beschaffen sein? Denken wir uns beide Netzhäute mit einer festen 
in ihrem Mittelpunkte drehbaren Achse verbunden und drehen wir 
dieselbe um ISO 0 ; die linke und die rechte Netzhaut winden ihre 
Lage am Kopfe miteinander wechseln und ihre Rückseite dem Licht 
zuwenden: die jetzt vom Licht abgewendeten Stäbchen würden dem 
Lichte zugokehrt sein und an den Liaskörper stoßen: der Seltner* 
würde nicht mehr die Netzhaut durchzubohren brauchen, denn er 
würde sich auf der Innenfläche der Netzhaut verbreiten: das Auge 
w ii r d e n o r in a 1 g e g e n d a s Li c h t orientiert sein: ein Wirbel¬ 
tier ohne Sehnervenkreuzung würde Sehorgane besitzen, welche den 
Kophalopoden- oder den Alciopeaugen ähnlich sehen würden. Es ist 
aber noch eine andere Eventualität denkbar; bei der Auflösung des 
Lhiasmas brauchten die invertierten Augen an der Bewegung nicht 
teilzunehmen, dagegen die optischen Zentren im Lehirn. in welchen 
der Sehnerv endigt, sich um ISO" drehen: das rechte Mittelhirndach 
würde dann auf der linken Lehirnseite. das linke auf der rechten 
liegen und beide würden invertiert sein. d. h. die aus denselben 
zentral wärt s führenden fort schreitenden Bahnen müßten aus der 
äußeren Oberllüche des Mittelhirndaches austreten und nicht aus der 
inneren, wie sic* es tatsächlich tun." 

..Fnsere Kegel von der Korrelation der Nervenkreuzungen mit 
der Inversion der Langlien führt uns zu dem Schlüsse, daß die Seh¬ 
nerven der Wirbeltiere sich deshalb untereinander kreuzen, weil die 
Netzhaut nach dem invertierten Typus gebaut ist." 

..Eine» analoge Betrachtung,“ sagt Rädl weiter, ,.läßt sich auch 
auf die übrigen bilateralen Nervenkreuzungen anwenden, auch diese 
könnte man durch Einkehr der Langlien, welchen die gekreuzten 
Nervenfasern entstammen, oder in welche sie führen, in parallel ver¬ 
laufende Nervenbündel überführen." 



Radi verwahrt sich immer dagegen, daß er eigentlich nicht 
drehen will. ..Unsere Theorie, sagt er, ist nicht so zu verstehen, daß 
das ursprünglich rechte Auge der Wirbeltiere auf der linken Kopf¬ 
seite zu suchen wäre, sie behauptet gar nichts über wirklich statt- 
iindende Verschiebungen und Drehungen, sie hat vielmehr nur die 
Pläne im Sinne, nach welchen die Augen gebaut sind.“ < »bwohl er 
dies sagt, dreht er in Gedanken doch fortdauernd, denn nur durch 
solche in Gedanken ausgeführte Drehungen kann er seine Hypothese 
erklären. Seine Worte: ..werden dagegen zwei symmetrisch zur 
Mittellinie des Körpers liegende analoge Ganglien um eine auf der 
Mittellinie senkrecht stehende Achse um 180" gedieht, so entsteht 
ein bilaterales Chiasma,“ oder: ..bei anderen Insektentypen (z. B. 
bei den Fliegen) spaltet sich ein Teil des dritten Ganglions ab und 
dreht sich in der Horizontalebene um 180“,“ oder „mit der Drehung 
des Ganglions muß eine Veränderung in der Verlaufsweise der Lei¬ 
tungsbahnen desselben verknüpft sein“ usw.. können gar nicht anders 
gedeutet werden. 

Will Radi das nicht, so stellt er nur eine Korrelation fest 
und weicht der Frage nach der Ursache der Kreuzungen aus. 

Olt die Inversionsverhältnisse an den Sehganglien der Wirbel¬ 
losen so beschaffen sind, wie R ;i d 1 sie darstellt, entzieht sich meiner 
Kontrolle. Seine Darlegungen bezüglich der Inversionsstellungen 
der Ganglien im Zentralnervensystem sind ganz schematisch und 
willkürlich. Aber auch seine Drehungsversuche ergeben absolut 
nicht das Resultat, das sie nach Ansicht des Autors halten sollen. 
Zum Belege wähle ich das von ihm selbst gewählte Beispiel von den 
Männern, die gleichgerichtet hintereinander stehen, wobei immer ein 
Hintermann seine Arme, sei es parallel, sei es gekreuzt, auf die 
Schultern seines Vordermannes gelegt hat. und nun der eine oder 
andere eine Drehung um 180" macht. Man braucht das Experiment 
nur nachzumachen, um zu erkennen, daß der von Rädl voraus¬ 
gesetzte Effekt nicht eintritt. Zwar in der Weise, wie Radi das 
Experiment auszuführen angibt, ist es aus physischen Gründen nicht 
ausführbar, aber man kann ja die Männer durch eine Anzahl gleich¬ 
gerichteter Stühle und die Arme durch Schnüre ersetzen, welche diese 
Stühle miteinander verbinden. Wird jetzt ein Stuhl um 180 0 horizon¬ 
tal gedreht, ohne daß eine Drehung in einer zweiten Ebene erfolgt, 
und war er durch parallel gerichtete Schnüre mit seinem Vorder¬ 
stuhl verbunden, so tritt gar keine Uberkreuzung ein. und umgekehrt 
erfolgt keine Entkreuzung. wenn ein Stuhl gedreht wird, der mit 
seinem Nachbar durch kreuzende Schnüre verbunden war. Solche 
Kreuzung bzw. Entkreuzung tritt aber ein. wenn in dem von Radi 



38 


gewählten Beispiel sieh ein Hintermann oder ein Vordermann so um 
180 0 dreht, daß er auf den Kopf zu stehen kommt. Dann erfolgt 
aber keine Inversion, denn was vorher nach vorne gerichtet war, das 
bleibt auch bei dieser Drehung so gerichtet. Wie hier bei unilate¬ 
raler Drehung eines Ganglions der Effekt nicht eiritritt, so ist es 
auch nicht der Fall, wenn man die bilaterale Drehung so gestaltet, 
wie Radi sie auszuführen angibt. Eine Überkreuzung resp. Ent- 
kreuzung in der Medianlinie tritt nur dann ein, wenn man den linken 
Bulbus über die Mittellinie nach rechts und umgekehrt den rechten 
nach links verlagert, oder wenn man mit den beiderseitigen zentralen 
optischen Ganglien eine ähnliche Verlagerung vornimmt. Bei diesen 
Verlagerungen braucht aber keine Spur von Inversion einzutreten. 

Ebenso anfechtbar ist Rädls Erklärung für die partielle 
Kreuzung der Sehfasem bei den Säugetieren. Er sagt: „entspricht 
das Pulvinar nicht einem um 180° gedrehten Teil des Mittelhirn¬ 
daches? — Mit der Drehung des Ganglions muß eine Veränderung 
in der Verlaufsweise der Leitungsbahnen verknüpft sein — nun ist 
es auffallend, daß Hand in Hand mit der Entwicklung des Pulvinars 
der Säugetiere die Entwicklung eines ungekreuzten Sehnerven- 
bündels geht. Ebenso w'ie wir uns die Entstehung der Sehnerven¬ 
kreuzung durch Drehung der beiden Netzhäute erklären konnten, 
könnten wir uns die partielle Aufhebung der Sehnervenkreuzung 
durch eine im entgegengesetzten Sinne statthabende Drehung der 
Mittelhimteile erklären.“ Dabei kommt Rädl aber doch auf eine 
Tatsache, die durch seinen Drehungsversuch nicht erklärbar ist. 
denn er fügt hinzu: „Dabei wäre anzunehmen, daß die ungekreuzten 
Nervenfasern im Pulvinar endigen, was wohl den bestehenden Lehren 
zu widersprechen scheint, denn nach diesen endigen gekreuzte wie 
ungekreuzte Sehnervenfasern in allen Teilen des dritten Ganglions. 
Diesen Widerspruch müssen wir unaufgelöst lassen.“ 

Rddls Versuch hat eine gewisse Ähnlichkeit mit dem 
Spitzer sehen. Beide greifen auf Verlagerungen zurück, die im 
Laufe der Entwicklung vielleicht stattgefunden haben. Da aber 
auf dieser Grundlage die Kreuzungen der Nervenbahnen sich nicht 
restlos erklären lassen, so machen sie künstliche Drehungsversuche, 
wobei sie natürlich ganz willkürlich bald so. bald anders drehen, 
damit, sie ihren Zweck erreichen. 

Überblicke ich noch einmal die bisher aufgestellten Theorien 
über die Ursachen der Faserkreuzungen im Zentralnervensystem, so 
gehen die meisten Autoren bei ihren Lösungsversuchen von einer 
lokalen, teils wirklich vorhandenen, teils willkürlich vorausgesetzten 



Faserkreuzungsstelle aus und sind der Ansicht, daß diese lokale 
zuerst aufgetretene Kreuzung die anderen veranlaßt hat, oder daß 
die Ursache, welche an dieser einen Stelle eingewirkt hat, um hier 
die Kreuzung hervorzurufen, auch in gleicher oder ähnlicher Weise 
auf andere Stellen gewirkt und den gleichen Effekt erzielt hat. 
Aber sind schon die Lösungsversuche für die Kreuzung an der pri¬ 
mären lokalen Stelle, von der die Autoren ausgehen, von sehr 
zweifelhaftem Wert, so lassen sich gegen die Verallgemeinerungs¬ 
versuche so viel stichhaltige Einwendungen erheben, daß man die 
bisherigen Lösungsversuche entweder als gänzlich gescheitert, oder 
wenigstens als wenig befriedigend bewerten muß. Wenn es nicht 
gelingt, eine allgemeine Grundlage für das Zustandekommen der 
Kreuzungen zu finden und auf diese die einzelnen lokalen zurückzu¬ 
führen, so besteht meiner Ansicht nach wenig Hoffnung, für das 
schwierige Problem eine befriedigende Lösung zu finden. Obwohl 
Rädl versucht hat, eine solche allgemeine Grundlage zu ermitteln, 
so ist auch sein Versuch, wie ich glaube, nicht geglückt. Auch er 
leitet einseitig von Verhältnissen, die er an den Augenzentren der 
Wirbellosen gefunden haben will, alles weitere ab. 

Eigene Untersuchungen. 

Wenn Spitzer das Problem auch nicht gelöst hat, da er ein 
zu künstliches Gebäude aufgerichtet hat, so muß man doch aner¬ 
kennen, daß er tiefer als seine Vorgänger einzudringen sich bemüht 
hat. Er hat sehr gründlich die phyletisehe Entwicklung der Verte¬ 
braten verfolgt, da er sich richtig gesagt hat, daß nur die schritt¬ 
weise Verfolgung dieses Entwicklungsvorganges das Rätsel viel¬ 
leicht lösen oder wenigstens mit hoher Wahrscheinlichkeit offenbaren 
könne, was man als Ursache des uns beschäftigenden Phänomens 
ansehen müsse. Leider hat er zu früh halt gemacht. Und das ist 
sehr merkwürdig. Er hat sich redliche Mühe gegeben, den Wirbel¬ 
tierkörper aus dem der Wirbellosen abzuleiten. Ob ihm das gelungen 
ist, wage ich nicht zu entscheiden. Es gehört wohl mehr als eine 
Lebensarbeit eingehendsten Studiums und Beobachten* der niederen 
Tierwelt und ihrer Entwicklung dazu« um den Versuch zu wagen, den 
mit so zahllosen Lücken versehenen Bau wieder so zu rekonstruieren, 
wie er sich vielleicht im Werdegang des tierischen Lebens ausgestaltet 
hat. Aber Spitzer, der diesen Aufbau nur als Mittel zum Zweck, d. h. 
zur Lösung des uns angehenden Problems benutzt, ist auf halbem 
Wege stellen geblieben, da er den feineren Bau des Zentralnerven¬ 
systems der Wirbellosen b<>i seinem Versuch zur Lösung des Problems 
gar nicht in Rücksicht gezogen hat. Er sowohl wie C a j a 1 haben 



40 


sich den Weg. der vielleicht zum Ziele führt, von vornherein ver¬ 
sperrt, indem sie in der allgemeinen Annahme, daß bei den Wirbel¬ 
losen kreuzende Fasern nicht Vorkommen, ihre Untersuchungen ganz 
wesentlich auf die Wirbeltiere konzentrierten. Radi berücksichtigt 
zwar die Wirbellosen in eingehender Weise, aber er packt die Sache 
an der kompliziertesten Stelle an und gerat dabei auf Abwege. 

Ich sagte mir folgendes: Wenn sich nachweiscn oder wenigstens 
wahrscheinlich machen läßt, daß das Zentralnervensystem der 
Wirbeltiere sich aus dem der Wirbellosen herausgebildet hat, oder 
daß es sich in ähnlicher Weise aus einfachsten Bildungen aufgebaut 
hat, wenu sich ferner nachweiscn läßt, daß die Leitungsbahnen im 
Zentralnervensystem auch schon bei den Wirbellosen sich in erheb¬ 
lichem Maße kreuzen, so muß der (»rund dieser Kreuzungen in der 
Organisation und Funktion des tierischen Körpers und des Nerven¬ 
systems. wie sie sich von Anfang an entfaltet halten, liegen. Und 
dieser Grund muß sich linden lassen, wenn man das Nervensystem 
ganz niederer Tiere bis zu demjenigen Stadium der phylogeneti¬ 
schen Entwicklung verfolgt, wo sich an höher organisierten Tieren 
die ersten Kreuzungserseheinungen aufzeigen, und von wo aus diese 
Kreuzungen bei immer vorwärts schreitender Organisation einen 
immer höheren Grad erreichen. Demnach war der Gang der Unter¬ 
suchungen gegeben. 


1. Hat sich das Zentralnervensystem 
der Wirbeltiere aus demjenigen der Wirbellosen 
herausgebildet ? 

Die einfachste Form des Nervensystems ist bisher bei den 
Zölenteraten, d. h. denjenigen Tieren, die auf dem Gastrulastadium 
verharren, beobachtet worden. Hier treten zuerst Sinneszellen und 
.Muskelgewebe in Erscheinung. Während aber bei den Spongien 
noch direkte Irritabilität und Kontraktilität der Zellen die Lebens¬ 
betätigungen bewirken, also kein Nervensystem die Übertragung 
übernimmt, finden sich Nervenzellen, Nervenfasern, Sinneszellen und 
Muskelfasern, als der zusammengehörige Komplex zuerst bei den 
K n i d a r i e r n (Nesseltieren) und Anthozoen (Aktinien und 
Korallentiere). Das Nervensystem findet sich hier wesentlich diffus 
im Körper zerstreut (Fig. 11). es zeigt allerdings auch schon leichte 
Konzentrationen, wie z. B. im Nervenring der Medusen. ..Die 
ganze Einrichtung steht, wie Oegenbaur richtig bemerkt, noch 
nicht auf der Stufe eines gesonderten Organs, sie stellt nur ein Ge¬ 
webe vor und zugleich eine Schicht der Körperwand.“ Die nähere 



— 41 — 

Beschreibung des feineren Baues erfolgt weiter unten bei Betrachtung 
der mikroskopischen Verhältnisse. 

Diese auf der niedersten Stufe des metazoischen Tierreiches an 
vereinzelter Stelle bemerkbare winzige Konzentration nimmt nun bei 
etwas höherer Organisation, d. h. bei den .untersten Vertretern der 



zeigt die Nervenschicht init den darunter liegenden Muskelfasern, zum Teil auch 
das Epithel (nur in seinen Konturen angedeutet) mit Sinneszellen von der Fläche. 

Osmiumpräparat nach M. Wolff. 

Cölomata (also bei denjenigen Wirbellosen, bei denen sich außer 
dem Ektoderm und Entoderm nun auch ein Mesoderm mit seinen 
Höhlen auszubilden beginnt) stärkere Formen an. Und zwar zeigt 
sich diese Konzentration in zweierlei Art, einmal in einer stärkeren 
Ansammlung von Nervenzellen und Nervenfasern an bestimmter 
Stelle und zweitens in einer Zusammenballung von Nervenfasern zu 
stärkeren Nervensträngen. Mitunter zeigt sich beides gemischt. 
Die?e Verhältnisse findet man z. B. bei den Scoliziden (den 
niederen Würmern). 


So beschreibt z. 1». H. Sabussow das Nervensystem der Tricla- 
d i n e :i . die zu den Turbellarien (Strudelwürmer j gehn reu. folgender¬ 
maßen: Das Nervensystem von allen untersuchten Formen besteht 1. aus einem 
Gehirn.*; 2. zwei ventralen Längsstämmen, die vom Gehirn zum Hinterende 
hinziehen und 3. einem Nervenplexus. welcher sich in innigem Zusammenhänge 
mit dem Hautniuskelschlaurh befindet und auf der Bauchseite besonders stark 
entwickelt ist. Die ventralen Längsstämme sind miteinander durch zahlreiche 
Kommissuren verbunden. Diese liegen unregelmäßig und sind mittels dünner 
Anastomosen vereinigt. Zu den Körperrändern gehen von den ventralen 
Längsstämmen Seitennerven ab. welche nicht immer den Kommissuren ent¬ 
sprechen: sie stellen mit dem Hautnervenplexus in einem innigen Zusammen¬ 
hang. ohne einen Randnerv zu bilden. Hinter den peripherischen Teilen des 
Gescldeclitsapparat.es im Gebiete der Enden der hinteren Darmäste gehen die 
Längsstämme ineinander über, indem sie einen breiten Bogen darstellen. 
<Cber den feineren Bau s. weiter unten.) 


Die Beschreibung, welche 
Mesostoma ehr e n b e r g i 
geben, ist folgende (Fig. 12): 


Breslau und von V o ß von 
(gleichfalls einem Strudelwurm) 

Das Nervensystem 
besteht aus einem 
meist in zwei Seiten¬ 
lappen geteilten Ze¬ 
rebralganglion. das in 
der Nähe des vorde¬ 
ren Körperendes ge- 
lagei t erscheint. Das 
selbe entsendet nach 
vorn zahlreiche Ner¬ 
ven. nach hinten sechs 
Längsnervenstämme, 
zwei stärkere ven¬ 
trale. ferner zwei 

schwächere dorsale 
und laterale. Zwi¬ 

schen den Nerven- 
stäinmen treten meist 
Querkommissuren auf, 
sowie auch ein 

reicher peripherer 
Nervenplexus zur Aus¬ 
bildung kommt. Ge¬ 
hirn, Längsstämnio 
und Nervenplexus ent¬ 
halten Nervenzellen. 


Kommissur „ 



Cerebral¬ 

ganglion 


Dorsaler 

Längsatrang 


Ventraler 

Längsatrang 


Fg. 12. Nervensystem von Mesostoma ehrenbergi (sche¬ 
matisch) Nach Breslau und v. Voss. 


*) Das vorderste Ganglion, welches gewöhnlich dorsal vom Ösophagus 
liegt, hat die Bezeichnungen: G e h i r n oder Z e r e b r a 1 g a n gl i o n oder 
S u p r a ö s o p h a g e a 1 g a n g 1 i o n. 




43 


Bei den Nematoden (Fadenwürmer), z. B. bei Ascaris 
megalocephala (Spulwurm), ist das Nervensystem nach Be¬ 
schreibungen von Daneika und Claus-G robben folgender¬ 
maßen gebaut (Fig. 13): 


Es besteht aus einem in der Um¬ 
gebung des Ösophagus liegenden 
Schlundring, der aus Nerven¬ 
zellen und Nervenfasern zusammen¬ 
gesetzt ist. Von diesem Schlund¬ 
ring erstrecken sich in der Richtung 
zum Schwanz einige Nervenstämme. 
von denen der dorsale und der ven¬ 
trale die konstantesten sind. In 
diesen Nervenstämmen sind auch 
Nervenzellen vorhanden. Der dorsale 
und der ventrale Stamm sind auf 
ihrem gesamten Verlaufe durch un* 
paare Verbindungen miteinander ver¬ 
einigt. Von dem Schlundring ziehen 
aimh in der Richtung nach oben zu 
den Lippen (Saugnäpfen) einige 
Nervenstämmchen, welche den vorde¬ 
ren Körperabschnitt und hauptsäch¬ 
lich die Lippen innervieren. Vor der 
Kloake liegt im Bauchnerv ein Anal 
ganglion. von welchem beim Männ¬ 
chen ein die Kloake umgebender 
Nervenring ausgeht. Alle Längs¬ 
nerven stehen am hinteren Ende mit 
einander in Verbindung. 

Vom Nervensystem der N e - 
mertini (Schnurwürmer) ist 
bei Claus-0 robben gesagt: 



Fig. 13. Schema des Nervensystems einer 
männlichen Ascaris megalocephala (nach 
Brandes) aus Claus-Grobben. 


Das Zerehralganglion erlangt eine bedeutende Entwicklung; seine beiden 
Hälften lassen eine dorsale und ventrale Ganglienmasse unterscheiden und sind 
durch eine Querkommissur über dem Schlunde, zu der noch eine dorsale, den 
Rüssel umgreifende Kommissur hinzukommt, verbunden. Die zwei ventralen 
Ganglien setzen sich in die seitlichen Nervenstämme fort, welche sich in der 
Nähe des Afters vereinigen. Seltener verlaufen die Sei teilst äimne an der 
Bauchseite einander genähert. Die Nervenstämme enthalten eine zentrale 
Fasersubstanz und einen Belag von Nervenzellen. Gehirn und Seitenstüinme 
liegen entweder außerhalb, oder inmitten oder innerhalb des Hautmuskel- 
sclüauches. Vom Gehirn entspringen die Nerven für die am vorderen Körper¬ 
ende gelegenen Sinnesorgane, sowie die Schlund- und Rüsselneiven, ferner eia 
unpaarer, durch den ganzen Rumpf sich erstreckender Rückennerv. Die 
Seitennerven, welche die Nerven des Rumpfes allgeben, stehen mit dem Rücken- 





44 


nerv und untereinander durch regelmäßig ungeordnete Kommissuren oder 
einen tiefen Xervenplexus in Verbindung. 

Wesentlich weiter als bisher schreitet die Konzentration des 
Nervensystems bei den Anneliden (Gliederwürmer) vorwärts. 
Es nimmt hier diejenige Form an, welche es nunmehr durch die 
ganze weitere Reihe diu* Wirbellosen innehält. Da die Anneliden 
aus einer Kette von meist liomonom metamerischen (Gliedern be- 
stehen, von denen jedes (Ried eine gewisse Selbständigkeit hat. so 
sammelt sich diese Selbständigkeit für jedes Glied in der Konzen¬ 
tration von bisher im Rauchstrang zerstreuten Ganglienzellen zu 
Ganglienknoten, von denen jedes Metamer ein Paar enthält. Das 
Zentralnervensystem besteht demnach aus der Zentralstation für 
den gesamten Körper, dem Zerebralganglion, und aus den Zentral¬ 
stationen für die einzelnen Metameren, der strickleiterartigen Gang¬ 
lienkette, die sic*h ventral vom Darmschlauch durch den ganzen 
Körper hinzieht. So ist es wenigstens zuerst bei den Archi- 
anneliden. welche den homonom-metamerischen Rau am reinsten 
zeigen. Diese Ganglienkette kommt auch schon frühzeitig als 
embryonale Anlage zur Erscheinung, zu einer Zeit, wo des Tier erst 
wesentlich den vorderen Körperteil ausgebildet hat. 

Indessen die Gkuehmäßigkeit der Ganglienknoten ist nur vor¬ 
handen, wo eine homonomo Metamerio besteht: verändert sich diese 
durch Konzentration mehrerer Glieder zu einem gemeinsamen Körper¬ 
abschnitt. so spiegeln die den Gliedern entsprechenden Ganglien- 
knoten das Bild wider, indem zwei oder mehrere zu einem ver¬ 
schmelzen (Fig. 14). Diesen Verschmelzungsvorgang beobachtet 
man zunächst am vordersten und hintersten Leibesabschnitt. 

Nach G r o b b e n bestellt das Nervensystem von 11 i r u d o (Blutegel* 
aus einem Zerebralganglion, sowie einer ventralen Ganglien kette, an welcher 
das vorderste und letzte große Ganglion aus der Verschmelzung mehrerer 
Ganglien hervorgegangen sind. Ein unpaarer mittlerer Längsstrang, welcher 
zwischen den beiden Hälften des Bauehstraiiges von Ganglion zu Ganglion 
zieht, entspricht höchstwahrscheinlich dem unpaaren. zwischen zwei Ganglien 
verlaufenden Nervenstumme. welchen Newport bei den Insekten entdeckte. 
Daneben kennt inan ein von Brandt entdecktes Eingeweidenervensystem, 
welches aus einem über und neben der Ganglienkette verlaufenden Magen¬ 
darmnerven besteht, der vom Gehirn entspringt und mit seinen Ästen die 
Bliudsäcke des Magendarms vorsorgt. (Näheres über dieses System findet 
man in der Arbeit von A s c o 1 i.) Drei Ganglienknötchen, welche bei dem 
gemeinen Blutegel vor dem Gehirn liegen und ihre Xervenplexus an Kiefer- 
muskeln und Schlund senden, werden von L e y d i g als Anschwellungen von 
Hirn nerven aufgefaßt und stehen vielleicht der Schlundbewegung vor. 

In der aufsteigenden Reihe der Wirbellosen, bei den Arthro- 
p o d e n (Gliederfüßer). E c h i n o d e r m e n (Stachelhäuter), Ente- 



Cerebralgangl. 


rop neusten (Sehlundatmer) und Chaetognathen (Borsten¬ 
kiefer) schreitet die Konzentration und Verschmelzung der Ganglien¬ 
massen weiter vorwärts. Aber die Art und der Grad der Konzen¬ 
tration ist bei den einzelnen Gattungen außerordentlich verschieden, 
so daß man den wechselvollsten Verhältnissen begegnet. Neben ein¬ 
fachen Formen, wie sie dem Annelidentypus, ja evtl, noch einem 
niedrigeren Typus entsprechen, trifft man Formen, bei welchen fast 
das ganze Zentralnervensystem eine einheitliche, kontinuierlich zu¬ 
sammenhängende Masse darstellt. Die nachfolgenden kurzen Be¬ 
schreibungen und Figuren illustrieren das besser als lange Einzel¬ 
beschreibungen. die man in speziellen Arbeiten findet. 

Vom Nervensystem der Arthropoden heißt es da im Lehr¬ 
buch von Claus-Grobben: 

Das Zentralnervensystem bestellt aus Gehirn, Schlundkommissur und 
Bauchmark, welches letztere meist in Form einer Ganglienkette unter dem 
Darme verläuft. Die Gliederung der Ganglienkette entspricht der hetero- 
nomen Segmentierung des Körpers, indem in den größeren, durch Ver¬ 
schmelzung von Segmenten entstandenen Abschnitten auch eine Annäherung 
oder Verschmelzung der entsprechenden Ganglien erfolgt. 

Ein anschauliches Bibi davon bietet z. B. das Zentralnervensystem von 
Astaeus f 1 u v i a t i 1 i s (Flußkrebs), wie es in vorzüglicher Weise von 
K ei m dargestellt ist (Fig. 14). 


Kopfmagen Darm 



Die Ci rri ped ien (Rankenfüßer) besitzen ein paariges Gehirnganglion 
und eine meist aus sechs Ganglienpaaren gebildete, zuweilen aber auch zu 
einer gemeinsamen Ganglienmasse verschmolzene Bauchganglienkette. 

Das Nervensystem der S c h a 1 e n k r e b s e zeichnet sich durch die 
Größe des weit nach vorne gerückten Gehirns aus. von welchem die Augen- 
und Antennennerven entspringen. Das durch sehr lange Kommissuren mit 
dem oberen Schlundganglion (Gehirn) verbundene Bauchmark zeigt eine sehr 



46 


verschiedene Konzentration, welche hei den kurz sch \vänzi gen Dekapoden 
ihre höchste Stufe erreicht, indem alle Ganglien zu einem großen Brustknoten 
verschmolzen sind. Khenso ist das System der Eingeweidenerven sehr hoch 
entwickelt. 

Am Nervensystem der G i g a n t o s t ra e a (Riesenkrebse) unterscheidet 
man einen breiten Schlund ring, dessen vordere Partie als Gehirn die Augen- 
nerven entsendet, während aus den seitlichen Teilen des ersteren die sechs 
Nerven paare der Cheliceren und Beine entspringen, ferner eine untere Schlund- 
ganglienmasse mit drei Querkommissuren und einem gangliösen Doppelstrang, 
welcher Äste an die Bauchfüßer ahgiht und mit einem Doppelganglion am 
Abdomen endet. 

Das Nervensystem der Skorpione (B. Haller) besteht aus einem 
zweilappigen Gehirn, einer großen ovalen Brustganglienmasse und sieben bis 
acht kleineren Ganglienanschwellungen des Abdomens, von welchen die vier 
letzten dem Postabdomen zugehören. 

Am Nervensystem der Spinnen unterscheidet man außer dein die 
Augennerven abgebenden Gehirn eine gemeinsame gewöhnlich sternförmige 
Bi ustganglienmasse (Fig. 18). Auch wurden Eingew r eidenerven am Nahnmgs- 
kanal nachgewiesen. 

Viel einfacher erscheint wiederum das Nervensystem dei wurinfenniiren 
Arthropoden, z. B. der Peripatiden. 8ie bilden eine die Anneliden und Arthro¬ 
poden verbindende Gruppe, daher ihr Nervensystem dem der Anneliden sehr 
nahekommt. Das Gehirnganglion entsendet zwei mit Ganglienzellen belegte 
Nervenstränge, welche bis zum Hinterleibsende weit voneinander getrennt ver¬ 
laufen. Ebenso zeigen die Chilopoden ein Nervensystem, welches aus 
dem Gehirn und einer dem Körperbau entsprechenden homonom gegliederten 
Bauchganglienkette besteht, die sich durch den ganzen Rumpf erstreckt. 

Das Nervensystem der Insekten zeigt im allgemeinen eine hohe Ent¬ 
wicklung (besonders des Gehirns), aber eine recht wechselvolle Gestaltung. 
Es finden sich alle Übergänge von einer langgestreckten, etwa zwölf Ganglien¬ 
paare enthaltenden Bauchkette bis zu einem einheitlichen Brustknoten. Das 
im Kopfe gelegene Gehirn (obere Schlundganglion > erlangt einen bedeutenden 
Umfang und bildet mehrere Gruppen von Anschwellungen, die sich vornehm¬ 
lich stark bei den psychisch am höchsten stehenden Hymenopteren ausprägen. 
Dasselbe entsendet die Sinnesnerven, wie es auch als Sitz des Willens und 
der psychischen Tätigkeiten erscheint. Das untere Schlundganglion versorgt 
die Mundteile mit Nerven und entspricht den verschmolzenen Ganglien der 
droi Kiefersegmente. Die Bauchkette Gewährt die ursprüngliche gleichmäßige 
Gliederung bei den meisten Larven und ist am wenigsten verändert- bei den 
Insekten mit freiem Prothorax und langgestrecktem Hinterleibe. Hier bleiben 
nicht nur die drei größeren Thorakalganglien, welche die Beine und Flügel 
mit Nerven versehen und oft noch durch die vorderen Abdominalganglien ver¬ 
stärkt. werdeji. sondern auch noch eine größere Zahl von Abdominalganglien 
gesondert. (Fig. lt>.) Von diesen Abdominalganglien zeichnet sich stets das 
letzte, welches aus der Verschmelzung mehrerer Ganglien entstanden ist und 
zahlreiche Nerven an den Ausführungsgang des Geschleehtsapparates und an 
den Mastdarm entsendet, durch eine bedeutende Größe aus. Die allmählich 
fortschreitende, auch während der Entwicklung der Larve und Puppe zu ver¬ 
folgende Konzentrierung der Bauchkette ergibt sich sowohl aus der Zu- 



Fuß Mund 


47 


sammenziehung der Abdominalganglien, als aus der Verschmelzung der Brust¬ 
ganglien, von denen zuerst die des Meso- und Metathorax zu einem hinteren 
größeren Brustknoten und dann auch mit dem Ganglion des Prothorax zu 
einer gemeinsamen Brustganglienmasse zusammentreten. Vereinigt sich end¬ 
lich mit dieser auch noch die verschmolzene Masse der Hinterleibsganglien, 
so ist die höchste Stufe der Konzentration, wie sie sich bei Dipteren und 
Hemipteren findet, erreicht. 

Das Nervensystem der Mollusken (Weichtiere) besteht aus einem 
dorsal vom Darm gelegenen Zerebralganglion (bzw. einem mit kontinuier¬ 
lichem Ganglienbelag versehenen Zerebralstrang) mit den Nerven für den Kopf 
und besonderen Ganglien (Buccalganglien) für den Vorderdarm. Mit dem¬ 
selben stehen im Zusammenhang zwei ventrale durch Querkommissuren ver¬ 
bundene Pedalstränge oder Pedalganglien mit den Nerven für den Fuß. 
Dazu kommen bei den Amphineuren zwei laterale Visceropallialstränge 
(Pleuralstränge), welche mit den Pedalsträngen durch Kommissuren verbunden 
sind und dorsal über den Enddarm miteinander Zusammenhängen. Sie liefern 
die Nerven für den Mantel und die meisten Eingeweide. (Fig. 15.) 


Cerebralganglion Magen Herz Visceral- After 

ganglion 



Pedalganglion Darm Kieme Mandelhöhle 

Fig. 15. Anatomie von Unio margaretifera (Flussperlmuschel) nach Leukart 
und N i 18 c h e aus Lang-Mollusca. 

«- t Ein- und Austritt des Atemwassers. 

Das Nervensystem der Conchif eren (Schnecken [Fig. 17]) besteht 
aus einem Paar von Zerebralganglien, Pleuralganglien, sowie Pedalganglien, 
welche durch Kommissuren miteinander verbunden sind. Statt der Pedal- 
ganglien treten bei den Aspidobranchien und einigen Ctenobranchien durch 
mehrfache Kommissuren untereinander verbundene Pedalstränge auf. Von 
den Pleuralganglien geht die Visceralschlinge ab, welche jederseits ein sog. 
Parietalganglion, sowie ein drittes hinteres Abdominal- oder Visceralganglion 
aufweist. Die Visceralschlinge ist bei zahlreichen Gastropoden infolge der 
Drehung des Pallialkomplexes achterförmig gedreht, indem der rechte Teil 
der Visceralschlinge mit dem rechten Parietalganglion (dann Supraintestinal¬ 
ganglion genannt) nach links dorsal über den Darm, der linke Teil mit stinem 
Parietalganglion (Subintestinalganglion) nach rechts unterhalb des Darmes 


48 


verzogen erscheint. Chiastoneurie (Fig. 10). Die Zerebralganglien 
versorgen den Kopf: mit denselben hängen auch durch eine besondere Kom¬ 
missur die Bucealganglien zusammen, deren Nerven zum Schlund und Darm 



Fig. 16. Ganglienkette von Dytiscus marginalis (Schwimmkäfer). 

Nach G. Holste. 



Fig. 17. C evebralganglion mit Optikus und Augen von Pterotrachea coronata 
(Gastropoden) von unten. Nach L. Brüel. 

treten. Die Pedalganglien innenieren den Fuß. die Pleuralnerven entsenden 
die Mantel nerven. Die Parietalganglien versorgen die Kieme, die Geruchs¬ 
organe, aber auch einen Teil des Mantels, während das Abdominalganglion 
die übrigen Kingeweidenerven entsendet. 

Das Nervensystem der C e p h a 1 o p o d e n (Kopffüßer) zeichnet 
sich durch große Konzentration aus. Es besteht mit Ausnahme von 


49 


Nautilus aus dicht uni den Schlund zusammengedrängten und 
in dem Kopfknorpel vollständig eingeschlossenen Zerebral-, Pedal- und 

Stirnaugen Darm 



Fig. 18. Zentralnervensystem einer Spinne. 

Nach 0. Steche. 


Visceralganglien. Mit dem Zerebralganglion hängt ein kleines vor demselben 
über dem Schlund gelegenes Ganglion zusammen, von welchem die Buccal- 
kommissur mit ihren Ganglien sowie eine Kommissur zum Braohialganglion 
ausgeht. Vom Pedalganglion entspringt das große Brachialganglion mit den 
Nerven für die Arme. Die äußerlich nicht abgesetzten Pleuralganglien 
(Pleuralzentren) entsenden die Mantelnerven, in deren Verlauf das Ganglion 
stellatum auftritt. sowie die Visceralnerven mit eingelagerten besonderen 
Kiemenganglien. 

Das Nervensystem der Bryozoen (Moostierchen) besteht nach Ger- 
werzhagen, welcher das Nervensystem von Crista teil a nt u c e d o 
O u v. untersucht hat. aus einem supraösophagealen Ganglion, den durch 
Ausstülpungen desselben entstandenen Ganglienhörnern. einer lteihe von 
Nervenstämmen und typischen Gangliennetzen (Fig. 19). Das supraösophageale 
Ganglion entsteht embryonal durch Invagmation und liegt heim erwachsenen 
Tier als querovale Blase dicht analwärts vom Ursprung des Epistoms der 
Dorsahvand des Ösophagus an. Der Hohlraum der Blase ist zum 'Feil reduziert 
infolge der mächtigen Entwicklung der dorsalen und basalen Wand, wo ein 
ringförmiger Willst, nach innen vorspringt. Der dem Ösophagus anliegende Teil 
der Ganglienwand ist sehr dünn. Auf der Analseite sitzen dem Ganglion 
apikalwärts zwei mächtige Arme auf, die Ganglienhörner. Sie entstehen 
embryonal als Auswüchse des Ganglions und lassen im Innern einen Kanal 
erkennen, der mit der Hirnhühle kommuniziert. Demnach sind sie morpholo¬ 
gisch zum Zentralnervensystem zu rechnen. Sie ziehen sich bis zum Ende 
des hufeisenförmigen Lophophors hin mul geben zahlreiche Aste zu den Ten¬ 
takeln ab. 

Das Zentralnervensystem der E c h i n o d e r m e n (Stachelhäuter) besteht 
aus einem den Mund oder Schlund umgebenden, aus Ganglienzellen und 
Nervenfasern bestehenden Nervenring und von diesem in die Radien ausstrah¬ 
lenden Hauptstämmen, welche bei den Crinoideen (Haarsternen) und Asteroiden 
(Seesternen) epithelial in der Ambulakralrinne verlaufen, bei den übrigen 
Echinodermen in die Cutis oder unter das Hautskelett gerückt sind und die 
Haut sowie ihre Anhänge innervieren. Dazu kommen tiefer liegende, an der 

Jacobsohn-Lask, Die Kreuzung der Nervenbahnen usw. (Abh. H 20.) 4 



50 


oralen Seite des Körpers verlaufende Nervenstamme. sowie ein besonders stark 
bei Orinoideen ausgebildetes apikales System von Nerven, das nur bei den 
Holothurien vermißt wird. 


EdisJo 


St nlahelhrone 


77V 



Fig. 19. Das Nervensystem von Cristatella mncedo Cuv. (Moostierchen). 

Nach ßerwerzhagen. 

Das Nervensystem der Chaetognathen (Borstenkiefer) besteht aus 
einem im Kopfe gelegenen Zerebralganglion, das durch eine Kommissur mit 
einem großen im Rumpfabsehnitt gelegenen Ventralganglion in Verbindung 
steht. Dazu kommen noch zwei nel en dem Munde gelegene Ganglien, welche 
durch eine Schlundkommissur untereinander und mit dem Kopfganglion ver¬ 
bunden sind. Während vom Zerebralganglion der Kopf innerviert wird, gehen 
vom Ventrulganglion die Nerven für Rumpf und Sch>vanz ab und enden in 
einem Nervenplexus. Fast alle Teile des Nervensystems liegen im Epithel 
der Haut. 

Das Zentralnervensystem der Tunikaten (Manteltiere [Fig. 20’) be¬ 
schränkt sich entweder auf ein einfaches dorsal vom Pharynx ge 
legenes Ganglion, welches bei den Salpen eine ansehnliche Größe 
erreicht, oder es besteht, wie bei den Appendieularien aus einem in 
Größe erreicht, (der es besteht, wie bei den Appendieularien aus einem in 
drei Partien eingeschnürten Gehirnganglion und verlängert sich in einen 









51 


ansehnlichen Nervenstrang, welcher in (len Schwanz eintritt. an der Basis des¬ 
selben in ein Ganglion anschwillt und im weiteren Verlaufe unter Abgabe von 
Seitennerven mehrere kleinere Ganglien bildet. In dem Rudersehwanze liegt 
ventral vom Nervenstrang die Chorda dorsalis. welche die ganze Länge des 
Schwanzes durchzieht, und der seitlich die Schwanzmuskulatur aniiegt. (Fig. 44.) 


Nervenrohr 

i 

I 


Chorda 

Schwanz 

Darm 

Fig. 20. Medianschnitt einer Ascidienlarve (Tunicafa) sehe- 
raatisch dargestellt. Nach R. H e r t w i g. 

Kim* ausführliche: Schilderung tles Nervensystems der Wirbellosen gibt 
(lege n bau r in seinem bekannten Lehrbuche der vergleichenden Ana¬ 
tomie der Wirbeltiere. I p. 705—722. 

überblickt man das Ganze, so bietet sich das Nervensystem der 
Wirbellosen in seiner einfachsten Form als ein diffuser suüepithelial, 
zwischen Epithel und Muskelschlauch gelegener Nervenfaser- und 
Nervenzellplexus dar. Dieser Plexus fängt an derjenigen Stelle, wo 
sich die Sinnesorgane anhäufen und Mundhilfsorgane sich ausbilden, 
an, sielt zu konzentrieren. Es bildet sich dort ein mit gedrängter 
liegenden Nervenzellen versehener Nervenring aus. Nervenzellen 
und Nervenfasern kondensieren sich am King zu Haufen und zu ring¬ 
förmig gelagerten Strängen, und letztere verbinden die konzentrier¬ 
ten Zellager mit dem peripherischen Nervenplexus. Indem nun die 
Zellhaufen am Schlundringe sich immer mehr vergrößern, nehmen sie 
entweder die ringförmigen Stränge in sich auf resp. umscheiden sic. 
d. h. es bilden sich zwei symmetrisch nahe beieinander liegende 
Ganglien oder es bleibt der Schlundring wie vorher bestehen. Die 
beiden zur Seite des Schlundes gelegenen Ganglien verschmelzen 
dann zu einem einheitlichen Organ, dem S u p r a ö s o p h a ge a 1- 
ganglion (bzw. Zerebralganglion resp. Gehirn). Die Entwicklung 
des Zentralnervensystems gestaltet sieh dann weiter in der Weise, 
daß die Verbindungsbahnen zwischen dieser ersten Zentralstelle 
und dem Nervenplexus sich auch zu Strängen kondensieren. Bald 
erreichen diese Stränge eine solche Ausdehnung, daß sie den ganzen 
Körper axial durchziehen. Die Zahl dieser Stränge und ihre Lage- 

4* 




rung ist verschieden; am stärksten sind gewöhnlich die Ventral¬ 
stränge, während die Lateral- und Dorsalstränge viel dünner sind. 
Diese Stränge enthalten in ihrem Verlaufe außer Nervenfasern auch 
mehr oder weniger zahlreiche Nervenzellen; sie sind durch Kom¬ 
missuren miteinander verbunden und gehen am Körperende häufig 
schlingenförmig ineinander über. (Fig. 13.) 

Mit der Ausbildung der Körpermetamerie, der homonomen wie 
heteronomen, sammeln sich die bisher in den Strängen zerstreut 
liegenden Nervenzellen zu einzelnen isoliert lagernden Haufen an 
und bilden im Verlaufe der Stränge getrennt voneinander liegende 
paarige oder unpaare Ganglien, welche an Zahl zumeist der Zahl 
der Metameren entsprechen. Während die vorderste Zentralstation, 
das Gehirn, dorsal vom Schlunde gelegen ist, liegen die anderen 
ventral vom Darm und bilden mit ihren sie verbindenden Strängen 
den sog. Bauchstrang. (Fig. 14 und 16.) Vom Gehirn gehen 
Nervenbahnen zu den im Kopf liegenden Sinnesorganen und zu den 
am Munde gelegenen Anhängen aus, von den übrigen Ganglien 
Nervenbahnen, die das Zentralnervensystem mit dem peripher ge¬ 
legenen Nervenplexus verbinden. 

Je nach der Organisation des tierischen Körpers, besonders je 
nach der Verschmelzung der einzelnen Metameren zu größeren ge¬ 
meinsamen Körperabschnitten, je nach der Ausbildung von Bewe¬ 
gungsanhängeapparaten bald mehr im vordersten oder mittleren 
oder hinteren Körperabschnitt, je nach der Entwicklung von be¬ 
sonders kondensierten Sinnesapparaten, je nach der Langgestreckt- 
heit oder Gedrungenheit des ganzen Körpers etc. variiert die 
spezielle Ausbildung und Konzentration des Zentralnervensystems. 
Dies zeigt sich darin, daß einzelne oder viele Bauchganglien mit¬ 
einander zu wenigen verschmelzen (Fig. 16), ferner darin, daß sich 
im Kopfbezirk eine größere Anzahl von Ganglien ausbildet., die ent¬ 
weder getrennt, nur durch Kommissuren miteinander verbunden, 
liegen (Fig. 17) oder sich zu einer einzigen großen kompakten Gang¬ 
lienmasse vereinigen (Fig. 18), welche bei den Hymenopteren ihren 
höchsten Grad erreicht. Die Zentralisation kann schließlich so weit 
gehen, daß sämtliche Ganglien, sowohl Zerebral- wie Ventralganglien, 
zu einer einheitlichen Masse verschmolzen sind. Zu erwähnen ist 
schließlich noch, daß das Zentralnervensystem bei den Chordaten 
(also Tunikaten unter den Wirbellosen) sich wenigstens im Schwanz¬ 
teil dorsal vom Dann und von der Chorda gelagert hat (Fig. 20) 
und daß es bei den Bryozoen einen Holdraum aufw'eist, der sich 
durch seine ganze Länge hinzieht. (Fig. 19.) 



53 


Einen ähnlichen Aufbau des Nervensystems schildert kurz 
Rädl p. 222: 

„Auf niedrigeren Organisationsstufen bleiben die universalen 
Ganglien ziemlich selbständig und treten als untereinander gleich¬ 
wertige Einheiten zum Aufbau des Zentralnervensystems zusammen; 
wo aber die Organisation mehr vorgeschritten ist, dort tritt eine 
Zentralisation des Nervensystems ein, indem sich mehrere 
Ganglien zu höheren Einheiten verbinden. Dieser Fortschritt im 
Aufbau des Nervensystems läßt sich besonders an der Bauch¬ 
ganglienkette der Arthropoden Schritt für Schritt verfolgen. Bei 
den Tausendfüßern liegt in jedem Körpersegment ein Ganglion; bei 
den Insekten und Krustazeen fließen aber die Bauch- und Thorakal¬ 
ganglien mehr oder weniger enge zusammen, bis bei einigen, wie 
z. B. bei der Fleischfliege (Sarcophaga) oder bei der gemeinen Krabbe 
(Carcinus) alle Ganglien des Bauchstranges zu einem Zentrum zu¬ 
sammentreten, wobei allerdings die Grenzen der einzelnen Ganglien 
mehr oder weniger sichtbar erhalten bleiben.“ 

Nach diesen tatsächlichen Verhältnissen, wie sie sich in den 
einzelnen Abteilungen der Wirbellosen zeigen, ist nun die Frage zu 
beantworten, ob das Zentralnervensystem der Wirbeltiere aus dem¬ 
jenigen der Wirbellosen abgeleitet werden kann. Die Mehrzahl der 
Forscher dürfte die Frage wohl bejahen, nur über das Wie des Ent¬ 
wicklungsvorganges sind die Ansichten sehr geteilt. Wenn man das 
Zentralnervensystem der Wirbellosen neben dasjenige der Wirbeltiere 
stellt, so fällt der Unterschied zwischen beiden sofort ins Auge. 
Gegenüber der Mannigfaltigkeit der Gestaltung bei den Wirbellosen 
steht die Gleichartigkeit des Grundbaues bei den Wirbeltieren. Ähn¬ 
lichkeiten zwischen beiden zeigen sich genügende. So geht, wie ge¬ 
schildert wurde, die Konzentration der Nervensubstanz bei einzelnen 
Wirbellosen so weit, daß sich eine kontinuierliche einheitliche Masse 
bildet, so ist das Zentralnervensystem bei anderen Wirbellosen auch 
dorsal vom Intestinalkanal und von der Chorda gelagert, so enthält 
es bei einzelnen schließlich auch einen durch die ganze Länge der 
zentralen Masse durchgehenden kanalartigen Ilohlraum. Aber bei 
keiner der Gruppen summieren sich die Ähnlichkeiten so zusammen, 
daß dadurch ein unmittelbarer Übergang von der einen Art zur 
anderen hergestellt werden kann. Gegenüber mancher Ähnlichkeit 
sind bei jeder Gruppe der Wirbellosen die Unterschiede im Bau des 
Zentralnervensystems im Vergleich zu dem der Wirbeltiere so große, 
daß sich eine lückenlose Kontinuität nicht erkennen läßt. Aus 
diesem Grunde kamen die Forscher, wie schon hei Besprechung der 



54 


»S p i t ze r sehen Arbeit erwähnt wurde, zu der Überzeugung. daß sieh 
der Vertebratentypus aus keinem der zur Zeit Itbenden Typen der 
Wirbellosen gebildet hat. sondern daß sieh die verschiedenen Klassen 
der Wirbellosen und die Vertebratenklasse. jede für sieh, aus einem 
allen gemeinsamen Vorfahren abgezweigt haben. Hierbei hätte nun 
jede Klasse sieh nach besonderen, von den Lebensverhältnissen ab¬ 
hängigen Einflüssen eigens differenziert, so daß jede mit der anderen, 
weil aus dem gleichen Vorfahren stammend, gewisse Ähnlichkeit 
aufweist, alter sonst doch wesentlich verschieden ausgestaltet wäre. 

( her die Art nun, wie sich der Vertebratentypus aus diesem 
gemeinsamen Vorfahren entwickelt hat. gehen die Ansichten sehr 
auseinander. Es würde zu weit führen, alles, was darüber erforscht 
ist, und wie das Erforschte gedeutet worden ist. hier anzuführen. 
Ich will nur neben der schon gegoltenen Auffassung von Spitzer 
die kurze Darstellung, die H. E. Ziegler zusammenfassend in 
seinem Lehrbuch der Entwicklungsgeschichte der niederen Wirbel¬ 
tiere gibt, anführen, ferner eine Hypothese von Gaskeil ausführ¬ 
licher erläutern, und schließlich noch eine von Delsman aufge¬ 
stellte Hypothese erwähnen. 

Ziegler sagt darüber folgendes: „Zur Zeit, als der Blasto- 
porus (Drmund des Gastrulastadiums) Mund war, stellte die Medullar- 
platte eine Flimmerrinne dar. welche zu dem Munde führte,ähnliehdem 
Flimmerstreifen, welcher an der Ventralseite der Troehophora (Lar¬ 
venzustand) von Anneliden und Mollusken verläuft. Die Ernährung 
fand also in der Weise statt, daß feine Nahrungsteilchen durch die 
Flimmerung der Medullarplatte in den Blastoporus geführt wurden. 
Als dann die Medullarplatte rinnenförmig wurde und an ihrem Teile 
vom Ektoderm überdeckt war.ging der Wasserstrom durch den vorde¬ 
ren Neuroporus ein und gelangte durch den Canalis neurentericus in 
den eigentlichen Darmkanal. Aus diesem mußte das Wasser durch 
periodische Umkehrung der Strömungsbewegung wieder ausgeleert 
werden oder durch die Körperwandung hindurch diffundieren. Das 
eine wie das andere war ein unvorteilhafter Umstand, welcher be¬ 
hoben wurde, indem an dem eigentlichen Darm andere Öffnungen 
entstunden, der After, die Kiemenspalten und der Mund. Vielleicht 
ist der After die älteste dieser Öffnungen und hatte ursprünglich nur 
die Funktion, das durch den Neuralkanal einströmende Wasser 
periodisch aus dem Darmkanal abzulassen. Als dann der Mund und 
die Kiemenspalten entstanden, war die Nahrungszufuhr durch den 
Neuralkanal nicht mehr nötig und folgte die Olditeration des Canalis 
neurentericus. Nachdem der Neuralkanal seine Verbindung mit deut 



oo 


Darm verloren hatte, hatte vielleicht das Epithel des Zentralkanales 
noch lange Zeit die Funktion eines Sinnesepithels, bis im weiteren 
Gange der Stammesentwicklung auch der Verschluß des vorderen 
Neuroporus erfolgte.“ 

G a s k e 11 ist der Ansicht, daß das Zentralnervensystem der 
Wirbeltiere sich aus demjenigen der wirbellosen Appendikulaten, 
speziell der Limulusart (Molukkenkrebs) entwickelt hat. Ein Hinder¬ 
nis bildete bisher der Gegensatz, daß das Nervensystem der Wirbel¬ 
losen segmentiert ist, während das der Wirbeltiere einen durch¬ 
laufenden unsegmentierten Zentralkanal besitzt. Wenn nun, wie aus 
den Untersuchungen von G a s k e 11 hervorgehen soll, der Zentral¬ 
kanal der Wirbeltiere nichts anderes ist, als der epitheliale Digestions¬ 
kanal der Wirbellosen, so war diese Schwierigkeit gehoben und die 
Ableitung des einen Zentralnervensystems aus dem anderen möglich. 
Dazu war dann noch der weitere Nachweis zu erbringen, daß sich 
bei den Vertebraten ein neuer Digestionskanal gebildet hat, der nun 
ventral vom Zentralnervensystem lag, während der primäre der 
Invertebraten bis auf das supraösophagcale Ganglion dorsal von 
ihm lag. 

Es ergab sich G a s ke 11 bei diesem Vergleich, daß die Gehim- 
hemisphären mit den Seh- und Riechnerven genau mit den supra- 
ösophagealen Ganglien korrespondieren, daß die Crura cerebri mit 
dem zwischen ihnen gelegenen epithelialen Infundibularkanal, mit 
welchem sie die ventrale Oberfläche des Gehirns erreichen, genau 
den ösophagealen Kommissuren entsprechen, und daß sich die Pineal¬ 
augen harmonisch einfügten als Überreste der Medianaugen von den 
wirbellosen Vorfahren. Der letztere Umstand läßt den Autor an¬ 
nehmen, daß der wirbellose Vorfahre eher den Arthropoden, speziell 
dem Limulustypus (Molukkenkrebs), angehören müsse, als den 
Anneliden. 

Die Hypothese von G a s k e 11 begreift es in sich, daß das 
Vertebratengehirn durch Konzentration und ständige Vergrößerung 
der Supra- und Infraösophagealganglien. und zwar zusammen mit den 
sie verbindenden Ösophaguskommissuren, bis zu solchem (trade ge¬ 
wachsen ist, daß der Ösophagus immer weiter eingeschnürt und 
schließlich funktionslos wurde, und die Wände des Kopfmagens zum 
Teil das auskleidende Epithel der Ventrikelhöhlen, zum Teil das 
membranöse Dach oder der Plexus chorioideus wurden. In den niede¬ 
ren Gruppen der Arthropoden findet man daher den Anfang dieser 
Konzentration, welche bei höheren Arten weiter fortschritt und zur 
Zusammenballung solcher llirnmasse führt«*, die dann vergleichbar 



56 


ist mit dem Gehirn niederer Vertebraten, wie es Ammocoetes 
darstellt. 

Das Nervensystem der Arthropoden kann man nach G a s k e 11 
in einen preoralen und in einen infraoralen Abschnitt teilen. Letzteren 
kann man wieder teilen in einen prosomatischen, mesosomatischen 
und metasomatischen. Das infraösophageale Ganglion kann bei den 
meisten Arthropoden als eine Ganglienmasse betrachtet werden, 
welche durch Verschmelzung der prosomatischen oder Mundganglien 
entstanden ist, während die mesosomatischen und metasomatischen 
noch einzeln und getrennt bleiben. Die Zahl der Ganglien, welche 
verschmolzen sind, erkennt man am Embryo, an welchem man 
Markierungen der einzelnen Ganglien oder der Neuromeren noch 
sieht, während diese am erwachsenen Tier nicht mehr sichtbar zu 
sein brauchen. So kann man nachweisen, daß das infraösophageale 
Ganglion des Craifisches aus sechs prosomatischen Ganglien zu¬ 
sammengesetzt ist. Die von G a s k e 11 gegebenen Figuren 21, 22, 23 

veranschaulichen die auf¬ 
steigende Konzentration 
und Verschmelzung der 
Ganglien und dieHomologie 
mit Ammocoetes. 

Zuerst sind die vor¬ 
dersten Ganglien zu einer 
Masse, dem supraösopha- 
gealen Ganglion verschmol¬ 
zen. In ihm liegen die 
Zentren für Optikus, 01- 
factorius und I. Antenne. 
Dann verschmelzen die pro¬ 
somatischen Ganglien zum 
Unterschlundganglion. In 
ihm liegen die Zentren für 
die Nerven der Mundteile 
und der II. Antenne und zu¬ 
letzt verschmelzen nach 
und nach die mesosomati¬ 
schen Ganglien, welche die 
Zentren für die respira¬ 
torischen Apparate enthalten. Gleichzeitig verschmelzen Ober¬ 
schlund — Unterschlund — und die weiteren Ganglien zu einer 



tische Darstellung 

des vorderen Ab- Fig. 22. Schematische 
Schnittes desZentral- Darstellung des vorderen 
nervensystems von Abschnittes des Zentral- 
Astacns (Flusskrebs). nervensystems von 
NachW. H. Gaskeil. Scorpio. 

Nach W. H. Gaskell. 



57 


zusammenhängenden Zentralnervenmasse, 
während die metasomatischen Ganglien in 
der Kaudalregion sich vereinigen. Mit der 
Verschmelzung der mesosomatischen 
Ganglienmasse mit der prosomatischen 
geht einher, daß die Lokomotionsfunktion 
der bisherigen mesosomatischen Apparate 
verloren geht und diese Zentren ganz in 
den Dienst der Respiration treten. 

Ein so verschmolzenes Gehirn, wie es 
Thelvphonus (Fadenskorpion) zeigt, ist 
nach G a s k e 11 vollständig homolog dem 
Vertebratengehirn, welches auch aus drei 
Teilen aufgebaut ist, nämlich 1. dem 
prächordalen Gehirn oder den Gehirn- 
hemisphären im Verein mit den basalen 
und optischen Ganglien. Es korrespon¬ 
diert mit dem supraösophagealen Gang¬ 
lion mit seinem olfaktorischen und 
optischen Teilen, die vor dem Infundibu- 
larkanal oder dem alten Ösophagus liegen, 
2. dem epichordalen Gehirn, welches wie¬ 
derum teilbar ist in eine trigeminale und 
eine Vagusabteilung. Von diesen Abtei¬ 
lungen entspricht die trigeminale genau 
der verschmolzenen prosomatischen Gang¬ 
liengruppe und die Vagusgruppe der ver¬ 
schmolzenen mesosomatischen. 


r 



Fig. 23. Schematische Dar¬ 
stellung des vorderen Abschnit¬ 
tes des Zentralnervensystems 
von Ammocoetes. 

Nach W. H. G a s k e 11. 
I Olfactorius. 


II Optikus. 


II’ Nerv des Medianauges. 

A Nerven aus dem Unter- 


Mit der Massenzunahme und Ver¬ 
schmelzung der Ganglien besonders zu¬ 
nächst der beiden vordersten, des Supra- 
und Infraösophagealen, wurde, wie schon 


schlundganglion. 

B Nerven aus den Thorakal¬ 
ganglien. 

(Vgl. hierzu die Fig. 21 u. 22. 


erwähnt, der Ösophagus immer stärker komprimiert, bis es schließlich 


zu einer Obliteration desselben an der Grenze zwischen den beiden 


Ganglien kam, wobei ein blindsackartiger Fortsatz, das Infundibulum, 
bestehen blieb, der für das Zentralnervensystem der Vertebraten als 
typischer Rest des ehemaligen vorderen Teils des Digestionskanals 
bestehen blieb. Durch diese Abtrennung des ehemaligen Digestions¬ 
kanales und Einbeziehung in das Zentralnervensystem als zentrale 
Röhre war dem Wachstum des Nervensystems freie Bahn geschaffen, 
indem es nicht, mehr in Kollision mit dem Digestionskanal kam, weil 



58 


letzterer nun einen neuen Weg sich gebahnt hatte, der unabhängig 
und nun ventral vom Zentralkanal (dem ehemaligen Digestions- 
traktus) seinen Verlauf nahm. (Fig. 7 und 8.) 

Vergleicht man nun den Bau des Gehirns von Ammocoetes 
zunächst mit dem von Petromyzon, so wird die ganze Decke 
des Gehirns von Ammocoetes in der epichordalen Region von 
einer aus vielen Falten bestehenden epithelialen Membran gebildet, 
die nur an einer Stelle von dem Verlauf des 4. Hirnnerven einge- 
schnürt und unterbrochen wird, wo auch die ersten Anfänge des 
Cerebellum sich zeigen. (Fig. 8.) Bei Petromyzon ist nervöses 
Material von ventral nach dorsal aufgestiegen und hat noch zur Bil¬ 
dung der Corpora quadrigemina post, geführt. Hierdurch ist dann 
der Aquaeductus Sylvii entstanden. Bei den Amphibien wird dieser 
dorsale Kleinhirnstreifen schon etwas größer, vermehrt sich bei den 
Fischen noch mehr und es kommt zur Bildung der Kleinhirn¬ 
hemisphären, deren Ausbildung bei den Mammaliern immer weiter 
fortschreitet. 

Ebenso, meint G a s k e 11, könne man verfolgen, daß die vorde¬ 
ren Gehirnhemisphären des Menschen sich aus den Hirnlappen von 
Ammocoetes durch Wachstum der Nervenmasse über dem ur¬ 
sprünglich membranösen Mantel gebildet haben, und daß bei allen 
\ r ertebraten die übrigen Dachpartien bestehen bleiben als einfache 
epitheliale Bildungen, die Plexus chorioidei, das Dach des 4. Ventri¬ 
kels und die Lamina terminalis. (Nach Johnston zeigen die Ver¬ 
hältnisse bei Petromyzon, daß das primitive Vertebratenhirn ein in 
seiner ganzen Länge chorioidales Dach besitzt, welches nur durch 
Kommissuren Verdickungen hat.) 

In der ganzen Gruppe der Arachniden und bei Limulus, bei den 
alten ausgestorbenen Seeskorpionen Eurypteros. Ptervgotus etc. 
existierten zwei oder mehrere Medianaugen, welche von gut abge¬ 
grenzten Optikusganglien innerviert werden. Bei Limulus haben diese 
Augen angefangen, ihre Funktion zu verlieren (Lancester). In 
gleicher Lage findet man bei Ammocoetes ein Paar Medianaugen, 
von welchen eins deutlich und wohl ausgebildet ist. Es besitzt einen 
Sehnerv, der aus einem gut abgegrenzten Hirnteil, dem Ganglion 
habenulae, entspringt. Dieses Auge besitzt Arthropodentypus und 
hat wahrscheinlich dieselbe Funktion wie bei Limulus. In der 
weiteren Vertebratenentwicklung verliert das Pinealauge an Deut¬ 
lichkeit des Ursprungs. Seine optischen Ganglien (Ganglia habenulae) 
geraten mehr und mehr in den Hintergrund, bis das Ganglion habe¬ 
nulae nur noch als ein kümmerlicher Rest übrig bleibt mit wenigen 



59 


Zellen, die im Thalamus opticus liegen. Aus dem Medianauge ent¬ 
steht die Glandula pinealis mit ihrem Pigment und Gehimsand als 
ein Teil des ursprünglichen Ösophagus. Nach Gaskell ist das 
Pinealauge von allen Merkmalen das deutlichste, welches die Natur 
stehen gelassen hat, um den Entwicklungspfad aufzuweisen. (Auch 
nach Johnston funktioniert der Pinealapparat bei Petromyzon 
als ein lichtperzipierendes Organ und steht in Beziehung zum Gang¬ 
lion habenulae.) 

Nach Gaskell sind nicht Amphioxus und die larvalen Tuni- 
katen zum Ausgangspunkt für die Entwicklung des Vertebraten- 
gehims zu nehmen, weil Amphioxus und die Tunikaten degenerierte 
Formen eines Ammocoetes ähnlichen Wirbeltieres sind.*) Ammo- 
coetes zeigt aber diese Degeneration nicht. Er ist auch kein Parasit 
und deshalb degeneriert, sondern er ist freilebend; er saugt sich mit 
seinem Munde nur an Steinen an, um sich gegen die Strömung zu 
sichern, nicht aber an Fischen, um von deren Nahrung zu leben (wie 
Dohrn meint). Er ist kein Abkömmling der gnathostomen Fische 
und keine Rückbildung von diesen. Die Tunikaten dagegen seien 
degenerierte Vertebraten, weil sie nur im larvalen Zustande Verte¬ 
bratencharaktere zeigen, während diese Charaktere in der erwachse¬ 
nen Form schwinden und das Tier aus höherer Organisationsform in 
eine niedere sinkt. Beim Ammocoetes aber ist es umgekehrt. Der 
Larvenzustand (Ammocoetes) zeigt niedere Formung und das er¬ 
wachsene Tier (Petromyzon) stellt den höheren Vertebratentypus dar. 
Das zeige sich an der Ausbildung des Kopfschädels, des Zentral¬ 
nervensystems, des neuen Digestionsapparates und an der Ab¬ 
streifung von Organen, welche in Struktur und Funktion dem Arthro- 
podentypus angehören. Petromyzon ist also der elementare Verte- 
brate, von dem einerseits höhere Vertebraten aufsteigen, andererseits 
Amphioxus und die Tunikaten absteigen. 

Die Einwürfe der Embryologen, daß das Nervensystem vom 
Ektoderm, der Digestionskanal vom Entoderm gebildet wird, läßt 
Gaskell nicht gelten. Sie münden beide ineinander, und was an 
der Einmündungsstelle aus dem einen oder anderen Keimblatt sich 
ausbildet, läßt sich schwer feststellen. Seine Hypothese von der 
Bildung des Zentralnervensystems erklärt die Bildung besser als die 

*) In der neuesten Arbeit, über den Amphioxus von Victor Franz 
kommt der Autor zu dem Ergebnis, daß der Lanzettfisch in keinem Punkte 
rückgebildet ist. sondern daß er bis zu bestimmtem Grade in eigener Art Uber 
die Ausgangsform der Kranioten hinaus entwickelt ist. Andere Autoren, 
wie z. B. Arie n s K a p p e r s, scheinen doch mehr der Ansicht Gas¬ 
kell» zu sein. 



60 


dogmatische Keimblätterlehre, die von verschiedenen Seiten schon 
starke Anfechtungen erfahren hat. 

Diese letztere Ansicht von G a s k e 11 scheint mir eine gewisse 
Berechtigung zu haben. Ich habe auch den Eindruck, daß die An¬ 
sicht, das Zentralnervensystem entstehe ausschließlich aus dem 
äußeren Keimblatt, eine zu starr dogmatische ist. Man braucht sich 
nur Querschnitte von Hühnerembryonen aus den ersten Tagen anzu¬ 
sehen, um in bezug auf diese Lehre zu Zweifeln zu kommen. Man 
beobachtet in diesen ersten Entwicklungsphasen, daß in der dorsalen 
Medianlinie die drei Keimblätter noch nicht getrennt sind, daß viel¬ 
mehr die massenhaften gleichartigen Keimzellen hier einen großen 
aneinander geballten Haufen bilden, der sich kontinuierlich ohne jede 
Unterbrechung und ohne jede mögliche Unterscheidung einzelner 
Elemente von anderen von der nach außen gerichteten Peripherie 
bis zu der nach innen gerichteten des Embryo hinzieht. Dieser Zu¬ 
sammenhang aller gleichartig aussehenden Keimzellen besteht auch 
in Gegenden, wo sich die Medullarrinne schon in beträchtlicher Tiefe 

gebildet hat. (Fig. 23a.) 
Erst in den oraleren 
Gegenden des ca. 3 Tage 
alten Embryos, wo die 
Medullarrinne schon nahe 
der Schließung zum Rohr 
ist. haben sich auch in 
der dorsalen Medianlinie die Keimblätter so isoliert, daß sie als 
solche klar voneinander zu scheiden sind. In der intermediären Zeit 
zwischen dem Ursprungs- und diesem letzterwähnten Stadium, sind 
sie aber in der dorsalen Mittellinie so miteinander verschmolzen, daß 
es unmöglich ist, zu sagen, welche von all diesen Keimzellen dem 
äußeren, dem mittleren und dem inneren Keimblatte angehören. 
Höchstens von den ganz an der äußeren oder inneren Peripherie 
gelegenen Zellen läßt sich dies mit Wahrscheinlichkeit bestimmen. 
Es gehen aber aus dem gemeinsamen Zellhaufen der drei Keimblätter 
viel mehr Keimzellen in die Medullarrinne über als gerade an der 
äußeren Peripherie gelegen sind. Nach diesen Verhältnissen, wie sic 
sich dem Beschauer darbieten, komme auch ich zu der Ansicht, daß zur 
Bildung des Medullarrohrs nicht nur Elemente des Ektoderms, son¬ 
dern zu mindestens auch des Mesoderms, vielleicht auch des Ento- 
derms beitragen. 

Gaskeil bemüht, sich seldießlUh gegenüber Einwürfen von 
Fürbringe r zu erweisen, daß die Kranialregion älter wäre als 



Fig. 23a. 




01 


die spinale, daß ferner der nahe Vorfahre der Vertebraten segmentiert 
gewesen ist. und daß in der Entwicklung der Tiere das Zentral¬ 
nervensystem ein ungleich bedeutsamerer Faktor gewesen ist als der 
Ernährungskanal. Der dominierende Faktor des Entwicklungs¬ 
prozesses, w T obei höhere Formen aus niederen entstehen, sei die 
ständige Zunahme von Hirnkraft, unmaßgeblich von dem Umstande, 
ob sich der Ernährungskanal dabei mit verändert. Die Geschichte 
der Entwicklung zeige deutlich, daß das Ego des Individuums im 
Gehirn liegt und nicht im Ernährungskanal. Welche Veränderungen 
auch immer in anderen Organen vor sich gehen, die Frage, ob eine 
höhere oder niedere Tierform entsteht, sei abhängig von der Um¬ 
bildung des Gehirns. Es sei daher klar, daß der wirbellose Vorfahre 
der Wirbeltiere ein etwas winzigeres Gehirn gehabt haben muß, als 
das niederste Wirbeltier, während das für den Digestionskanal nicht 
zu sein braucht. 

Auch in funktioneller Hinsicht bewiesen die experimentellen 
Beobachtungen von W a r d und M a x w e 11 am Erdwurm, Flu߬ 
krebs und an Nereis, ferner von B e t h e am Flußkrebs und anderen 
Arthropoden und von Celesia an Astacus, daß 

1. die supraösophagealen oder preoralen Ganglien der höheren 
Arthropoden genau vergleichbar mit der prechoi'dalen oder 
Vorderhirnregion der Vertebraten seien nicht nur wegen ihrer 
Verbindung mit dem speziellen Olfaktorius- und Optikusorgan, 
sondern auch in ihrer führenden Rolle und in ihrem hemmen¬ 
den Einflüsse auf tiefer gelegene Ganglienzentren; 

2. die verschmolzenen prosomatischen oder Mundganglien, welche 
mit den supraösophagealen durch die Schlundkommissuren 
verbunden sind, genau vergleichbar mit dem trigeminalen oder 
präotitischen Teil der epichordalen Himregion der Vertebraten 
wären. Die Ähnlichkeit bestände nicht nur darin, daß dieser 
Hirnteil mit den Nerven der prosomatischen Gliedmaßen und 
Segmenten Verbindungen hat. sondern auch darin, daß dieser 
Himabschnitt als großes koordinatorisches und Gleichgewichts- 
zentrum funktioniert, ein Zentrum, welches, obgleich subordi¬ 
niert dem Supraösophagealganglion. es dem Tiere doch er¬ 
möglicht. koordinierte Gehbewegungen auszuführen und sein 
Gleichgewicht, wenn es gestört ist. zu erlangen, wenn dieses 
supraösophageale Ganglion entfernt worden ist. ln der kor¬ 
respondierenden Hirnregion der Vertebraten lande man auch 
bei Ammocoetes. daß die Trigeminusgruppe nicht nur die 
Reste der prosomatisohen Anhänge versorgt, sondern daß von 



62 


dieser Gegend aus sieh auch das Kleinhirn und die hinteren 
Vierhügel entwickeln. Man könne also einen deutlichen koor- 
dinatorischen und equilibrierenden Mechanismus verfolgen von 
der beginnenden Konzentration der prosomatischen oder Mund- 
ganglien bei den Würmern bis herauf zu der mächtigen Klein- 
hirnmasse und den Corpora quadrigemina beim Menschen. 

Die mesosomatischen oder thorazischen Ganglien, welche ur¬ 
sprünglich getrennt waren, versorgen bei einer großen Anzahl von 
Arthropoden Organe, welche zum Gehen und Schwimmen dienen. 
In vielen Fällen tragen diese Organe den respiratorischen Branchial- 
apparat. So sind bei Limulus die mesosomatischen Anhänge in 
weitem Umfange branchial, wenn sie auch noch Schwimmfunktion 
beibehalten. Beim Skorpion dagegen sind alle Andeutungen zur Be¬ 
wegungsfunktion geschwunden und nur die respiratorische Funktion 
ist geblieben. 

Die Beobachtungen von II y d e (Journ. of Morphol. 1894) hätten 
gezeigt, daß jedes Paar der mesosomatischen Ganglien bei Limulus 
als ein unabhängiges respiratorisches Zentrum für ihren eigenen 
Branehialapparat funktionieren kann, und daß die mesosomatischen 
Ganglien zusammen als ein automatisches Respirationszentrum, unab¬ 
hängig von den prosomatischen wie supraösophagealen Ganglien 
funktionsfähig sind. Da sich durch Konzentration von immer mehr 
dieser Ganglien und durch Verschmelzung mit den prosomatischen 
bei Thelyphonus die Medulla oblongata bildet, so könne man nun 
verstehen, daß ein automatisches respiratorisches Zentrum in dieser 
Oblongata liege, welches unabhängig sowohl von den prosomatischen 
wie supraösophagealen Ganglien funktionieren kann. In völliger 
Übereinstimmung damit besitze auch bei Ammocoetes und bei 
allen Vertebraten die Medulla oblongata das automatische Respira¬ 
tionszentrum. 

Auch bei den Wirbellosen übten allgemein die oraler gelegenen 
Ganglien einen inhibitorisehen Einfluß auf die kandaleren aus. in¬ 
dem nach Abtrennung der oraleren die Reflexerregbarkeit der kanda¬ 
leren erhöht sei. Das stimme ganz mit dem Verhalten der Verte¬ 
braten überein. 

Vergleicht man diese recht bestechend wirkende G a s k e 11 sehe 
Anschauung von der Entwicklung des Zentralnervensystems der 
Vertebraten mit den Anschauungen, welche Ziegler, Spitzer 
u. a. vertreten, so ist zunächst festzustellen, daß alle Autoren von 
einem phvletischen Zusammenhang überzeugt sind. Nur über den 
Weg. den die Phylogenese eingeschlagen hat. sind sieh die Autoren 



63 


uneinig. Auch darin stimmen sie noch überein, daß ein Teil des 
ursprünglichen Digestionstraktus der Wirbellosen in den Bau des 
Zentralnervensystems der Wirbeltiere mit einbezogen worden ist. 
Bei den einen, welche den ektodermalen Teil, die Neurostomalrinne 
oder Wimperrinne, als den in das Nervensystem ein bezogenen Teil 
betrachten, bleibt die Schwierigkeit noch ungelöst, daß bei dieser 
Entwicklungsart das Zentralnervensystem ebenso ventral vom 
Digestionskanal gelagert bleibt, wie es bei den Wirbellosen gewesen, 
während in Wirklichkeit bei den Vertebraten das Zentralnerven¬ 
system dorsal vom Digestionstraktus liegt. Bei den anderen, wie 
z. B. Gas keil, welche den entodermalen Teil des Digestions¬ 
traktus zum Zentralkanal der Wirbeltiere werden lassen, erhebt sich 
die Schwierigkeit, daß in der Ontogenese die Neuralrinne der Verte¬ 
braten doch zum wesentlichsten Teil wenigstens aus dem Ektoderm 
entsteht. Spitzer glaubte nun beide Schwierigkeiten durch die An¬ 
nahme einer Torsion der im Bereich der Chorda gelegenen Abschnitte 
des Digestionskanales zu überwinden; — ein immerhin glücklicher 
Gedanke. Denn hätte sich die Entwicklung so abgespielt, dann wäre 
die Neurostomalrinne, also der ektodermale Abschnitt, der Vorläufer 
des Zentralkanales (der Vorgang wäre also embryologisch einwand¬ 
frei), und ferner würde diese ektodermale Ursprungsstätte des Nerven¬ 
systems durch die Drehung auf die dorsale Seite kommen, und damit 
auch die morphologische Lagerung der Teile einwandfrei sein. Das 
wäre gewiß sehr schön, wenn sich die Torsion nur wirklich voll¬ 
zogen hätte, was eben nicht nachweisbar ist. 

Glücklicher als der Spitzer sehe Versuch scheint mir der¬ 
jenige von Del sman zu sein, der durch eine kühne Hypothese das 
Dilemma zu überwinden sucht. Dieser Autor nimmt an, daß die 
Vertebraten von den Protostomiern, speziell von den Anne¬ 
liden abstammen, indem der Ösophagus dieser Vorfahren sich zum 
Medullarohr der Vertebraten umgewandelt und der übrige Darm- 
traktus, ebenso wie er eine Öffnung nach hinten (Anus) gefunden, so 
auch eine neue Mundöffnung nach vorne sich gebahnt hätte, so daß 
es nach Del sman eigentlich richtig wäre, die Vertebraten als 
Tritostomier zu kennzeichnen. Die Homologie beider Bildun¬ 
gen, des alten Ösophagus und des Mcdullarrohres, springe in die 
Augen. Beide stellen ein langes, englumeniges, kleinzelliges, e k t o - 
dermales Rohr dar, welches an dem einen Ende (Mundöffnung— 
Neuroporus) mit der Außenwelt, am anderen Ende (Blastoporus— 
Canalis ncurentericus) mit dem Darmtraktus in Verbindung stellt. 
Beide Bildungen sind mit Wimpern bekleidet, die auch bei Amphioxus 



G4 


und auch bei den höheren Chordaten in gleicher Richtung funktio¬ 
nieren wie bei den I'rotostoniiern. Der Schlund war zu der Meta¬ 
morphose besonders geeignet, weil er als ektodermales Gebilde von 
anfang an ein Sinnesorgan gewesen ist und als solches zunächst zur 
Perzeption des entströmenden Wassers und der in letzterem enthal¬ 
tenen Nahrungsitestandteile diente und noch heute bei den Wirbel¬ 
losen diese Funktion erfüllt. Del s man nimmt ferner an, daß die 
Gehimplatte der Vertebraten der Scheitelplatte der Troehophora 
(Larvenzustand der Anneliden) homolog ist. und daß der zum Nerven¬ 
rohr gewordene Ösophagus sich noch eine Strecke weit nach vorne 
verlängert und die Scheitelplatte gleichsam annektiert hat. so daß 
diese, sich einkrümmend, zum vorderen Abschnitt des Hirnbläschens 
wurde. Der hintere Abschnitt des Gehirns, das Deuterencephalon. 
stellt nach Delsman den vorderen Abschnitt des ehemaligen 
Ösophagus dar, die Hirnenge entspricht dem ursprünglichen Munde 
und das Arehenecphalon ist die als Fortsetzung des Ösophagus ein¬ 
gerollte Scheitelplatte. Bei dieser Annahme läßt sich nach Ansicht des 
Autors eine vollständige Homologie in dem Entstehen und der Lokali¬ 
sation aller Sinnesapparate (Auge,Ohrbläschen,Geruchsorgan. Seiten¬ 
linienorgane) bei Evertebraten und Vertebraten erweisen. Der alte 
Ösophagus kommt bei der Metamorphose in ganzer Länge gegen die 
Bauchganglienkette zu liegen, ja er wird so dicht gegen letztere 
gedrängt, daß er das rechte und linke Ganglion jedes Paares vonein¬ 
ander trennt. Dadurch können die Kommissuren zwischen den beider¬ 
seitigen Ganglien nicht mehr gebildet werden, und infolgedessen 
wachsen die Nervenfasern in den Ösophagus, der in das Nerven¬ 
system als Medullarrohr aufgenommen wird, während die Bauch¬ 
ganglien der Würmer zu Spinalganglien der Vertebraten werden. 
Wie ehemals bei niederen Evertebraten die Nervenzellen sich wahr¬ 
scheinlich aus Sinneszellen des Ektoderms gebildet haben, so bilden 
sich die Nervenzellen des Zentralorganes der niedersten Vertebraten 
aus den Sinneszellen des zum Zentralkanal umgewandelten 
Ösophagus. Dies ist ungefähr in Kürze der Inhalt der Delsman sehen 
Hypothese. Danach kann man die erste Frage etwa folgendermaßen 
beantworten: 

So schwer es auch immer bleiben wird, einen ganz lückenlosen 
Zusammenhang resp. Cbergang des Zentralnervensystems von den 
Wirbellosen zu den Wirbeltieren festzustellen, so sind doch die Annä¬ 
herungen zwischen den Nervensystemen der Avertebraten und denjeni¬ 
gen der Vertebraten so starke, wie aus den Darlegungen Gaskeils 
und Del sm ans unzweifelhaft hervorgeht, daß zumindest ein hoher 



65 


Grad vonWahrscheinlichkeit besteht.daß beide aus einer gemeinsamen 
Stammform herrühren, aus der sich die Formen der Wirbellosen in 
mannigfaltigster Art mit der Tendenz zu steigender Konzentration, 
die Vertebratenform nach Erlangring einer einheitlichen kontinuier¬ 
lichen Basis zu immer reicherer Entfaltung besonders des kranialen 
Abschnittes entwickelten. 

Auf alle Fälle beweist die Embryologie, daß auch der Wirbeltier- 
körper sich in einer unendlich langen Entwicklungsreihe aus jenen 
einfachen Stadien allmählich aufgebaut haben muß, wie es die 
Wirbellosen zeigen. Denn in seiner ontologischen Entwicklung 
passiert er in schneller Reihenfolge diese Stadien von seiner ersten 
Anlage bis zu seiner vollen Entwicklung. Und was für den ge¬ 
samten Tierkörper gilt, das zeigt sich ebenso in der Entwicklung des 
Nervensystems. 

2. Kreuzen sich die Bahnen im Zentralnervensystem 
auch schon bei den Wirbellosen in erheblichem Maße? 

Viele Forscher sind der Ansicht, daß sich die Bahnen im Zentral¬ 
nervensystem der Wirbellosen nicht kreuzen, oder daß die kreuzenden 
Fasern an Zahl so gering sind, daß sie ganz unberücksichtigt bleiben 
können. So sagt Wundt sogar p. 175: ..Nach dem Eintritt in das 
Leitungssystem der Großhirnrinde sind die bei den niederen Wirbel¬ 
tieren fast ganz fehlenden, bei den höheren immer voll¬ 
ständiger werdenden Kreuzungen der Leitungsbahnen vollendet.“ 
Ferner p. 281: „Wie nun bei den Wirbellosen überhaupt die meisten 
Nervenbahnen auf der gleichen Körperseite bleiben.“ — Ca j a l sagt 
in seiner Abhandlung p. 18: „In der Tat, beim Amphioxus, bei den 
Würmern, bei denjenigen Tieren, bei welchen keine genügende senso¬ 
rische Zentralisation existiert und die Medulla oder die sie ver¬ 
tretende Ganglienkctte fast ausschließlich der Aufnahme der zentri¬ 
petalen Impulse dient, gibt es keine zentralen Bahnen im eigentlichen 
Sinne des Wortes, sondern nur intraganglionäre Wege, direkte und 
gekreuzte Reflexe, und zwar vorwiegend direkte wegen 
des bei weitem häufigeren Vorkorn m e n s der h o m o - 
lateralen motorischen Reaktionen.“*) Auch Spitzer 
spricht sich in ähnlichem Sinne aus. indem er sagt: ..Die Neuralplatte 
besteht aus zwei Längsbändern oder Strängen, von denen jeder ur¬ 
sprünglich h a u p t s ä c h 1 i c h d e r li o m o lateralen Seite 
a n g e h ö r t.“ **) Das ist wohl nicht anders zu deuten, als daß die 

*) Bei Cajal nicht gesperrt- gedruckt. 

**) (deichialls von mir durch Sperrdruck hervorgehoben. 



G6 


in die-en Neuralphitten gelegenen Nervenzellen ihre Leitungsbahnen 
hauptsächlich nach der homolateralen .Seite aussenden und ebenso 
von ihr empfangen. 

Wenn diese Ansicht zu Hecht bestände, so wäre allerdings das 
Auftreten von kreuzenden Bahnen eine Erscheinung, die erst bei den 
Wirbeltieren bemerklieh wird und es erübrigte sich, zur Erklärung 
dieser Erscheinung auch die Wirbellosen mit heranzuziehen. Es 
dürfte aber wohl angebracht sein, die Verhältnisse einmal eingehend 
nachzuprüfen, um über diesen Punkt größere Sicherheit zu erlangen. 
Ich glaube, daß man wohl gegenwärtig auf Grund zahlreicher exakter 
Einzeluntersuchungen über den feineren Bau des Nervensystems der 
Wirbellosen, die mit den besten Methoden von vertrauenswürdigen 
Forschern angestellt wurden, ein unzweideutiges Urteil ab¬ 
geben kann.*) 

Im folgenden will ich daher eine Anzahl solcher Forschungs¬ 
ergebnisse anführen, aus welchen man eine Darstellung dieses Baues 
erhält, soweit er bisher aufgeklärt werden konnte. Dabei dürfte 
es für den Zweck, den wir verfolgen, am besten sein, wenn wir von 
den einfachen Gestaltungen allmählich zu höheren und komplizier¬ 
teren aufsteigen. 


Während bei den Protozoen und bei den niederen Metazoen, den 
Spongien, eine Differenzierung von Nervengewebe noch nicht einge¬ 
treten ist, vielmehr jede einzelne Zelle reizleitend und kontraktil ist. 
ist ein differenziertes Nervengewebe zuerst bei den Kuidfrien (Nessel¬ 
tieren) beobachtet und von den verschiedensten Autoren (Haeckel, 
K o o 11 i k e r . G e b r. H e r t w i g, S c h n e i d e r, W o 1 f f u. a.) 
beschrieben worden. Klei neu borg konnte zwar bei Hydra 

keine Ganglienzellen und Nerven¬ 
fasern nachweisen, aber er ist der 
Entdecker der sog. Epithelmus¬ 
kel z e 11 e n resp. der Neuroinus- 
k e 1 z e 11 e n (Fig. 24), jener merkwür¬ 
digen Sinneszellen des Ektoderms, 
welche kontraktile Fortsätze besitzen. 
Er betrachtete diese Bildungen ..als 
den niedrigsten Entwicklungszustand 



Fig. 24. Epithelmnskelzclle einer 
Aktinie. Nach Hertwig. 


des Norvenmuskelsvstoms, in welchem eine anatomische Sonderung 


*1 l>ic Untersuchungen von K ä ü 1 beleuchten zwar diese Verhältnisse 
bei den Wirbellosen schon rocht stark, aber der Autor berücksichtigt eingehend 
nur die Verhältnisse am Auge, und zwar hier auch nur vorwiegend die uni¬ 
lateralen K reuzungen. 



67 


der beiden Systeme in der Weise, wie sie bei allen höheren Tieren 
verkommt, noch nicht stattgefunden hat, sondern jede einzelne Zelle 
die Trägerin jener doppelten Funktion ist, indem die Teile derselben, 
die als lange Fortsätze in der Mitte der Körperwandung verlaufen, 
kontraktil sind und als Muskel funktionieren, während der Zell¬ 
körper, von welchem sie ausgehen, der in unmittelbarer Berührung 
mit dem umgebenden Medium steht, Reize leitet und durch Über¬ 
tragung derselben auf die Fortsätze die Kontraktion dieser auslöst“. 
Ob es Tierformen gegeben hat, die allein auf diesen primitiven intra¬ 
zellulären (M. Wolff) Reilexbogen beschränkt blieben, läßt sich 
nicht feststellen.*) Das von Kleinenberg nicht gesehene Nerven¬ 
gewebe ist dann von den Gebr. Hertwig bei verschiedenen 
Ak ti nie na r t en gesehen und beschrieben worden. Ich folge bei 
der Beschreibung den neuesten Untersuchungen von Max Wo 1 f f: 

Das Ektoderm der Mtmdscheibe und der Tentakel zeigt schon auf ein¬ 
fachen dünnen Querschnitten sehr deutlich einen dreischichtigen Bau. Nach 
außen liegt die Epithelschicht, nach innen die Muskelfasei schiebt, zwischen 
beiden, und ihre Elemente als ein dichtes Netz durchflechtend, eine verschieden 
stark ausgebildete Nervenfaserschicht (Fig. 1J u. 25). W o 1 f f konnte diese Ner- 
venfaserschicht nun am ganzen Körper der untersuchten Tiere feststellen, d. h. 
am Mauerblatt, Entoderm etc. Er bestätigt die Angaben der Gebr. Hertwig, 



• SlxilzzeU.cn. 
••■SinnesieUen 
-Nervenplexas 


StütLlamtlle 


Fig. 25. Längsschnitt durch den Ringnerven einer Szyphome- 
duse (Charybden). Nach C 1 a u s. 

welche die Nervenfaserschicht besonders reichlich an der Mundscheibe aus- 
gebildet fanden und er stimmt II a e c k e 1 darin bei, daß hier schon damit 
eine ringförmige Zentralisation angebahnt ist, die dem an gleicher 
Stelle hei höheren Tierformen sich hier findenden Nervenringe analog ist. 
Dieses Verhalten, sagt er. findet auch seinen Ausdruck in der Giöße der 
Nervenzellen, welche mit ihren Verästelungen die Nervenfaserschicht bilden. 
Die Mundscheibe enthält nicht nur die größten, sondern aucli die zahlreichsten 
Nervenzellen. Es gelang Wolff auch der Nachweis besonderer motorischer 
Nervenfasern; sie treten in die Tiefe zwischen die Muskelfasern, auf denen 


*) Nach experimentellen Untersuchungen an den Schwämmen kam 
G. H. Parker zu der Ansicht, daß diese niederen Tiere eine Muskulatur, 
aber keine Nerven besitzen, (eit. bei R ä d 1 p. 124 .) 

Jucobsohn-La.sk, Die Kreuzung der Nervenbahnen usw. (Abhdl. H. 26.) 5 








«ie ii.it relativ I1r;i«*hr]i< h*-r Ausbreitung ihr*-- X»>ur"pla-ii:a> er*«iigen. Fig. 11. 
Mir der U--* •leb-nm Anhäufung von Nervenzellen un«! Nervenfasern an d»*r 
Mund-«h»dbe. die \V o 1 f f direkt al- X e r v e n r i n g l^z-iehnet. da- 

ektoderrn.de X» r\‘ii->'t»in der Tentakel. < 1 * - ekt**dermale Nerven-vstem de- 
Mauerblarte-. da> ektodennale Nerven>\>teru de> >« hluiihr«»hre> und des 
1 >r>i'»*ii>tr*if»!i- der >1 -«*rit**ria 1 ri I ;* iipmiT^. sowie da- ent.-dermale Nerven- 
.-y-tom in Verbindung. Jedes Tentakelba-i-zentrum i-t mit ^amtlichen Ten¬ 
takeln dunh Bahnen verbunden. Die Keiz-«hwelle «lie-^r Hahnen ist für jede 
Region in be-timmter \Vei>e abge-tuft. wodureh i-«*lierte H^aktionen zustande 
kommen könnten. Da- ektodennale Xerven>\>tem der Tentakel wird von 
einem Plexu- mit >pärlieh«*n einge-treut**n Nervenzellen gebildet. Ähnlich 

verhält >i«üi da> ektodennale Mauerblatt-vstem in seinen ad*»ralen Partien, 
während e- in den ahoralen Teilen, mit Aufnahme der rei< blich innervierten 
FuU-«heibe. fa>t ausschließlich von den langen Xervenf« ?T>ätzen der in den 
Zentren «Telegenen Zellen gebildet wird. Vom Sohlenrande verlaufen hier 
vielfach Hahnen zu den adoralen Teilen des Mauc-iblattes und zum ’ientakel- 
kranze. Da- N«*rven>y.-tem des Schhii'drohrektodeims ist sehr arm an 
Nervenzellen, aber >ehr reich an Nervenfasern. Die-e sind Fortsätze von 
Nervenzellen, die im Nervenringe lieir**n und ziehen in dichten Bündeln unter 
den I>ni>enstreifen der Me-enterialtilamente der vollständigen Septen zum 
entoderinalen Xervenplexus der Septen. der wieder in den fiitodermalen 
Nerven pie\u> des Mauerl »lat tes sich fort setzt. Mit dem entoderinalen Septen- 
nerven System steht das Nervensystem der Akontien (mit Xesselkapsoln dicht 
besetzte Fäden, in Verbindung. Die entoderinalen Xervensy>teme der Ten¬ 
takel stehen entweder isoliert da oder sind durch «las entodmmale Nerven¬ 
system des Mauerb]atO*s mit dem übrigen Nervensystem veibumlen. Siunes- 
zellen finden sieh besonders reichlich auf den Tniversalsinnesorg^nen der 
Aktinien. auf «len Tentakeln. Sie kommen aber au«*h auf der Mumlscheibe. 
auf den Septen- uml «len Akontien vor. Die motorischen Nervenfasern emli- 
gen an «len kontraktilen Fortsätzen der Xcuromuskrlzellen mit einer moto¬ 
rischen Kmlplatte. Die sekretorischen Nervenfasern endigen an «len Drüsen- 
lind Nes>el kapselzellen mit perizellulären Geflechten. l>er primitiv** Zustaml 
des Nervensystems, wie er sich hier z«*igt. hat sich nach W o 1 f f am 
Nervensystem d«^r höheren Tiere noch erhalten im A u erba c h sehen und 
M e i ß n e r sehen Plexus der Dnrm<ubmueosa und im L e o n t o w i s c h sehen 
Plexus des Kpidermis. 

Über <len Bau des Nervensystmns der T u r b e 11 a r i e n 
(Strudelwürmer; berichtet H. S a b u s s o w außerdem, was schon 
S. 42 erwähnt wurde, noch folgendes (vergl. dazu Fig. 26): 

Auf Querschnitten zeigt der ventrale Längsstamm einen spongiösen, 
netzartigen o«l«*r maschigen Hau. Bas Netz besteht aus Fasern von un¬ 
gleicher Dicke. welche sich gegenseitig durchflechten und verschieden weite 
Maschen bihlcn. Je«le der größeren Maschen ist meist von einer Menge feiner 
(jiicrgcschnittener Fasern erfüllt. Nur diese Fasern sind von nervöser Natur, 
imlem die erwälmt«*n n«*tzartigen Bildungen ein gliöses Gerüst (mit Gliazellen) 
«les Stammes darstellen. Zwischen den feinen Nervenfasern der Längs 
stämme liegen Nervenzellen. Die meisten Nervenzellen sind bipolar und ihre 
Fortsätze zi«*l:«*n parallel der Achse des Stammes. Die multipolaren Zellen 



— 69 — 

sind weniger zahlreich und liefen vorzugsweise an den Stellen, wo die Seiten- 
nerven oder die Kommissuren abgehen. 

Den einfachsten Bau hat das Gehirn bei P1 a n a r i,a angarensis. 
Auf Frontalschnitten erscheinen von unten zuerst zwei gesonderte Ganglien, 
welche nach den Seiten des Kopfendes ziemlich zahlreiche Nerven absenden. 
Wie die Ganglien selbst, so sind auch die Nerven an. der Oberfläche von 
zahlreichen Nervenzellen bedeckt Die Zellen sind bipolar oder multipolar. 
Auf folgenden Schnitten erscheinen zahlreiche, dünne, die Ganglien verbin¬ 
dende Kommissuren. Die Ganglien wachsen in die Breite, gehen weiter 
nach hinten und setzen sich in die ventralen Längsstämme fort. Weiter nach 
oben nähern sich die Kommissuren einander und bilden eine einzige bogen¬ 
förmige Kommissur. Dem Abnehinen der Gehirnkommissur nach oben ent¬ 
sprechend werden dort auch die Gehirnganglien kleiner. Im Gehirn von 
Planaria besteht kein scharfer Unterschied zwischen den motorischen und 
sensorischen Ganglien. 



Fig. 26. Feinerer Bau des Nervenrings und der Längsstränge der niederen Würmer. 
Schematische Skizze nach Beschreibungen von Sabussow und Goldschmidt 

entworfen. 

5 * 



70 


Bei den Gattungen JSorocelis und Rimacephalus ist daä 
(Jeliirn aus zwei Ganglien paaren zusammengesetzt. Das unteie Ganglienpaar 
kann als ein motorisches bezeichnet werden. Diese Ganglien sind durch 
eine sehr starke oder mehrere dünne Kommissuren verbunden. Die senso¬ 
rische Kommissur befindet sich über und vor der motorischen. Von den 
oberen sensorischen Ganglien gehen zahlreiche Sinnesnerven, darunter die 
optischen, aus, während der motorische Gehirnteil die beiden ventralen 
Längsstämme nach hinten entsendet. Das gliöse Gerüst im Gehirn ist von 
feinen Fasern und Gliazcllen gebildet. Die Nervenelemente befinden sich 
in den Hohlräumen des Gerüstes und an der Oberfläche des Gehirns. Auf 
der Oberfläche des Gehirns liegen die Zellen vorzugsweise in den sensori¬ 
schen Teilen. 

Der Nervenplexus gelangt meist zu keiner besonders starken Ausbildung 
mit Ausnahme von Sorocelis tigrina, wo er eine ziemlich mächtige Entfaltung 
erreicht. Bei Sorocelis nigra fasciata besteht der Nervenplexus aus einem 
Geflecht von dünnen, zwischen den Ring- und Längsfasern des Hautmuskel¬ 
schlauches hinziehenden Nerven. Diese Nerven gehen entweder direkt von 
den ventralen Längsstämmen oder von den Kommissuren und den Seiten¬ 
nerven aus. Als histologische Elemente des Nervenplexus erscheinen 
bipolare oder seltener multipolare Zellen, die von letzteren abgehenden 
Fasern und ein giiöses Stützgewebe. 

Bei den nicht segmentie r t e n W ü r in ern, sagt R ä d 1 . er¬ 
scheint zum ersten Male in der Tierreihe der Gegensatz zwischen zentialem 
und peripherem Nervensystem, obwohl nur in grober Ausführung: das ersten* 
tritt als ein Gehirnganglion auf. d. h. als eine Anhäufung von Ganglienzellen 
und von Nervennetz, die letzteren als Nervenstränge, welche vom Gehirn zu 
verschiedenen Organen führen: doch stellen diese Stränge noch keine eigent¬ 
lichen „Nerven“, wie wir sie von den W irbeltieren kennen, dar. keine parallel 
verlaufenden Faserbündel, sondern sie sind mehr einem in die Länge ge¬ 
zogenen Gehirnganglion vergleichbar: sie enthalten nämlich dieselben Be¬ 
standteile wie dieses, Ganglienzellen und ein feines Nervenreiz. 

Eine recht eingehende Schilderung vom Nerven rin g hei 
Ascaris m e g a 1 o c e p h a 1 a gibt R. G o 1 d s e h m i d t: 

Der Nervenring ist ausgefüllt von einer großen Zahl von Fasern ver¬ 

schiedenster Größe, Form und Struktur. Zwischen den Fasern findet sich 
keinerlei Bindegewebe außer einer sehr dünnen Gliascheide. Im allgemeinen 
lassen sich enger zusammengehörige Fasergruppen von ähnlicher Struktur 
unterscheiden. Was die Lage der Nervenfasern innerhalb des Ringes an- 

betrifTt, so ist sie oft auf große Strecken hin festgelegt. So findet sich z. B. 

in der ventralen Region eine Gruppe kleinerer Fasern, die von der rechten 
Suite nach der linken imverästelt. durchlaufen und dabei stets dicht zusammen¬ 
gedrängt den vordersten Rand des Ringes einnehmen. 

Bekanntlich nimmt auch der Nervenring bei den Nematoden an der 
Muskelinnervierung Anteil, indem die ihm zunächst liegenden Muskelzellen 
ihre Innervierungsfortsätze zum Ring schicken und sich ihm in Gruppen 
zwischen den Abgangsstellen des Nerven anlegen. Bei den Nematoden, 
meint G o 1 d s c h m i d t, k o m m t d e r Muskel z u m Nerv und nicht 
umgekehrt. Dieser Ansicht huldigen andere Autoren auch is. die Arbeit von 



71 


M. W o 1 f f). An diesen Stellen treten dann einzelne Fasern des Ringes zu 
seinem Hinterrand, und indem dort die den Ring umhüllende Scheide unter¬ 
brochen ist, kann die Vereinigung mit den Muskel fortsätzen stattfinden. 

Charakteristisch für die Fasern des Ringes ist, daß sie durch feine 
Seitenäste miteinander verbunden sind. Es sind unter den verfolgbaren 
Fasern kaum solche zu treffen, die auf größere Strecke glatt verlaufen, ohne 
irgendwelche Brücken zu zeigen. Diese Querverbindungen sind nicht regel¬ 
mäßig über den Ring verteilt, sondern sie treten stets stellenweise dicht 
gedrängt in großer Zahl auf. Eine zweite Art von Verbindungen zwischen 
den Komponenten des Nervenringes stellen die feinen Verästelungen dar, dib 
der Punktsubstanz entsprechen. Teils spalten sich die Fasern 
dichotomisch, teils vereinigen sie sich zu einer dicken 
Masse, die nach allen Seiten Fasern und Verbindungen 
entsendet, um sich dann wieder in verschiedene Fasern 
aufzusplittern. Es handelt sich hier nicht um eingeschaltete Zellen, 
sondern ausschließlich um eine stark verdichtete Kommunikationsstelle vieler 
Fasern, um eine Art Umschaltungsstation. Der Nervenring hat demnach 
den Charakter eines Plexus, insofern das Wesen eines 
Netzes, das alles in letzter Linie mit allem zusammen¬ 
hängt, gegeben ist. Der Plexus ist aber weder regellos noch diffus, 
sondern es treten ganz bestimmte nach Länge, Volumen, Herkunft und Loka¬ 
lisation festgelegte Bestandteile miteinander in bestimmte Verbindungen, aus 
denen sich an bestimmten Stellen bestimmte Einzelfasern zum Austritt ab- 
lösen oder von außen eintreten. 

Die Sinneszellen (resp. Sinnesganglienzellen), also alle sensiblen Ele¬ 
mente senden ihren zentralen Fortsatz direkt oder auf Umwegen in den 
Nervenring. Die Assoziationselemente sind der Maßstab für die Höhe eines 
Nervensystems, dessen reichere Reflexmöglichkeiten hauptsächlich auf ihrer 
Anwesenheit beruhen. Ein Blick auf den Bauplan des Ascaris-Nervensystems 
und der Muskulatur zeigt, daß hier nur so wenige Koordinationen in Betracht 
kommen, daß ihnen auch keine komplizierte morphologische Grundlage not¬ 
tut. Sechs motorische Längsnerven des Hautmuskelsehlauches müssen Zu¬ 
sammenarbeiten und maximal mit 19 Paar symmetrischer »Sinneszellen in 
Reflexverbindung stehen. Dazu kommt noch die Verbindung mit dem durch 
eigene Gangliensysteme relativ selbständigen Hintertier, vermittelt durch im 
ganzen zehn Fasern. Wenn man dazu noch die charakteristische Eigenschaft 
der Nematoden, kleine Zahl bei bedeutender Größe der Zellen, nimmt, so wird 
man nicht weiter erstaunt sein, nur wenige Elemente zu finden, die mit 
Sicherheit als Assoziationszellen angesprochen werden können. 

Die Assoziationsbedürfnisse sind nach Ansicht des Autors folgende: 
1. Die sensiblen Zentren des Hinterendes, die im wesentlichen im Dienste des 
Begattungsaktes (beim ) stehen, bedürfen einer Verbindung mit den Zentral¬ 
organen des Kopfes. 2. Auch die motorischen Zentren des Hintorendes be¬ 
dürfen einer derartigen Möglichkeit der Koordination mit den Kopfganglien. 
3. Die sechs motorischen Hauptlängsnerven, deren Tätigkeit die Längs- 
muskulatur zu Kontraktionen veranlaßt, die die typischen Wurmbew r egungcn 
bewirken, benötigen eine die Koordination ihrer Tätigkeit gewährleistende 
Einrichtung. Sie muß aber eine mehrfache sein, nämlich Koordination des 
ganzen Innervierungsgehietes (Schlängeln), Koordination bestimmter Ab- 



72 


schnitt«* i lYn<l«'lb«*wegung«*n «*ines K<>rp«*rahs«hnitt«*s>. Koonlinaiion eines <>d«*r 
mrlin'm* Querschnitte (Bohrbewegung). 

lan»' bestimmte A^soziationszel!«*. <l<*r«*n zentrale Faseln von einer Seit* 
in «len Hin*: tritt, ii 1» e r schreitet «l i e M i t t e 1 1 i n i e n n <1 1> e g i n n t 
erst «lau n e i n i «r e Seit e n ii s t e a I» z u «re I» e n. Diese Assoziations¬ 
zelle >t«11t also «lie Y«*rbin«lung zwischen «len sensihlen Z«*ntren «les llinter- 
en«h s «les Tieres nii«i «hm «lorsah*n Teilen «les Zent rahn‘raues «1er ge- 
kreuzten Seite «lar. Di«* wichtigsten Assoziationszellen liefen innerhalb 
<h*s X«*rvenring« , s und r«*präs«*ntieren die Elemente für die zweite um] den 
Hauptteil der «Iritten Funktion, soweit sie vom Zentralorgan geleitet wer«len. 
Sie g«*hor«*n tunktiomdl paarweise zusammen, indem die beiden lateralen ihr 
Y«*rzw<*igungsg«*biet vollständig auf das Innere «l«*s Nervenringes beschränken, 
während die «lorsale wie die ventrale je eine kräftige Nervenfaser in «hui 
Kiick»*n- bzw. Hauchnerv nach hinten schicken. G o 1 d s c h m i «1 t glaubt, 
daß «li«s«» Fasern «lie Yerbindung zu den wichtigen motorischen Zentren des 
Hint«*rti«*res hersteilen. Die dorsale und ventrale vermitteln nur relativ 
wenige Yerbindungen, während die lateralen ein »ranz außerordentliches Maß 
vim Ycrästelunir «*rreich«*n und allein die Yerbindung zwischen so vi<d«*n 
Eh*in«*nten herstell«*n. daß man ann«*hm«*n «larf. daß sie schließlich «*ine 
rnischaltestation darstellen, durch deren Yerinittlung je«lcr Punkt «les ge- 
samten Netzes von jedem amleren angesprochen wenien kann. Hei der Art 
<h*r Inn«*rvi«*rung der Ascaris-Muskulatur, indem die einzelnen «len Lüngs- 
nerv zusammensetzeinlen Fasern in verschiedenen Querschnittsebenen ihre 
lnnervierungspunkte haben, läßt es sich sehr wohl vorstellen. daß die Koor¬ 
dination l)«‘stimmter Abschnitte für «lie Pendelbewegungen. eb«*nso wie die 
innerhalb eines Querschnittes für die Bohrbewegung. allein «luich die Yer¬ 
bindungen «l«*s zentral«*!! Assoziationssystems erreicht wird. Es scheint aber, 
«laß Mir «li«*se Funktion«*n noch lx*son«l«*re Assoziationsel«*mente vorhanden 
sin« 1. Als solches faßt der Autor «liejeni<r<*n auf. welche dem Hauchnerv in 
s«*in«T »ranzen Länge eingelagert sind. 

Im Nervenring herrscht zwischen sämtlichen Elementen auch ohne Ver¬ 
mittlung des Neuropils direkt oder imlirekt vollständige (plasmatische) Kon¬ 
tinuität. Im Zentraln«*rvensyst«*m von Ascaris sind genau H>2 Ganglienzellen 
vorhan«l«*n. Ascaris ist «*in Tier, das si«*h dadurch auszeichnet. daß sein 
Wachstum im wesentlichen nicht durch Zell Vermehrung, sondern Zellwachs¬ 
tum «»rfolgt. so daß das ausgewachsen«* Ti«*r in seinen meisten Geweben genau 
eb«»nsoviel Z«*llen besitzt wie <l«*r reif«* Embryo. 

Während die Arbeit von Goldschmidt einen gewissen Ein¬ 
blick in den Bau des Nervenringes gewährt, ermöglicht eine Arbeit 
von Deineka einen solchen in die Verbindungen der sensiblen 
und motorischen Nerven bei Ascaris (s. Fig. 27): 

An sämtlich« 1 Sinn«*spapill«*n d*‘s g«*samt«*n Körpers von Ascaris treten 
zw«*i verschi«*d(*ne N«‘rvenfas«*rn, von zwei v«*rschiedenen Nervenzellen ub- 
stainnmnd, heran. Daneika unterseh«*id(*t sie als solche erster und zweiter 
Art. Die Nervenzellen erster Art stellen bi- oder multipolare Nervenzellen 
mit zw«»i langen Nervenfortsätzen. einem peripherischen und einem zentralen, 
«lar. Der p«*riph«*riseln' Fortsatz verläuft zu ein«*m der sensiblen Endapparat«* 
«hi Haut «Papille), in w«*lchem «*r sich in «*in Netz feinster Nervenfasern 



73 


verzweigt, und mit seinem Endabschnitt in Gemeinschaft mit der Faser zweiter 
Art in den Bestand eines feinen Stiftes, in dem jede Papille endigt, eingeht. 
Auf seinem Gesamtverlauf weist der peripherische Fortsatz verzweigte und 
unverzweigte, verhältnismäßig kurze Seitenverästelungen auf, welche in 
kleinen Nervenplättchen teilweise zwischen den Muskelzellen, teilweise auf 
letzteren an der Berührungsstelle derselben mit der Subcuticula, teilweise in 
letzterer endigen. Der zentrale Fortsatz ist etwas länger und dicker als der 
peripherische: derselbe verläuft entweder zum Schlundring oder zum Bauch¬ 
nervenstrang oder zum Analganglion, je nach der Lagerung der sensiblen 
Nervenzellen erster Art, im Körper des Tieres. In allen drei Fällen 
vereinigen sich die zentralen Fortsätze vieler Nerven¬ 



zellen erster Art miteinander und bilden ein dichtes 
n e t z f ö r m i g e s G e f 1 e c h t, ein K o p f g e f 1 e c h t im Gebiete 
des Schl und ring es, ein Bauchgeflecht im Gebiete des 
Bauchstranges und ein Analgeflecht im Analganglion. 
Die feinsten Ästchen dieser Geflechte anastomosieren miteinander. Häufig 
anastomosieren die zentralen Fortsätze verschiedener sensibler Zellen erster 
Art miteinander noch vor deren Eintritt in das netzförmige Geflecht. Auf 



74 


<W*m Gesamtverlauf, hauptsächlich jedoch näher zur Nervenzelle, gibt der 
zentrale Fortsatz kurze verzweigte und unverzweigte Seitenäste ab, welche 
in kleinen Plättchen auf den Muskeln und zwischen den Muskelzellen endigen. 
Von dein zentralen Fortsatz gellt häufig ein langer Seitenast ab, welcher zu 
einer Papille verläuft und dort sich wie ein peripherischer Fortsatz verhält, 
d. h. ein Netz bildet, in den Bestand des Stiftes eingeht usw. Der zentrale 
Fortsatz entspringt bald von der Zelle selbst^ bald von dem peripherischen 
Fortsatz in beträchtlicher Entfernung von der Zelle, bald von einem kurzen 
Fortsatz der Zelle. Außer einem peripherischen und einem zentralen Fortsatz 
hat die sensible Zelle erster Art häutig noch viele andere Fortsätze, welche 
jedoch stets kurz sind, sieli selten verzweigen und in unmittelbarer Nähe der 
Zelle in recht, großen keulenförmigen Verbreiterungen, bald in der Sub¬ 
cuticula-, bald in den Muskeln endigen. Einige sensible Zellen erster Art 
anastomosieren häutig vermittels eines der kurzen Fortsätze. Längs dieser 
Anastomosen verlaufen die Neurofibrillen einer Zelle in eine andere. In allen 
Fortsätzen der sensiblen Zellen erster Art treten sehr deutlich die Neuro¬ 
fibrillen hervor, welche in Gestalt eines Bündels feiner wellenförmiger, durch 
eine dünne Schicht perifibrillärer Substanz voneinander getrennter Fäden 
verlaufen. In der Zelle verzweigen sich die Neurofibrillen und bilden ein 
dichtes in allen Teilen der Zelle gleichmäßiges Netz, in dessen Mitte der 
Kern liegt. 

Die sensiblen Zellen zweiter Art weisen gewöhnlich einen langen Nerven¬ 
fortsatz und eine große Zahl kurzer, in nächster Nähe der Zelle stark ver¬ 
ästelter Dendriten auf. Der Nervenfortsatz verläuft zu einem sensiblen 
Kndnpparat der Haut (Papille) und stellt somit den peripherischen Fortsatz 
der Zelle dar. An der Basis der Papille gibt er keulenförmige Sprossen ab 
und bildet in der Papille selbst ein mächtiges Netz feinster Nervenästchen, 
welche die Hauptmasse der Papille bildet. Der Endabschnitt des Fortsatzes 
beteiligt sich zusammen mit der Faser erster Art an der Bildung des feinen 
Stiltes. Die Dendriten entspringen entweder unmittelbar aus der Zelle oder 
beginnen in einem gemeinsamen Stamm, welcher sich alsbald in eine große 
Zahl von Ästchen verzweigt, von denen jedes in einer kleinen Anschwellung 
entweder auf den Muskeln oder in der Subcuticula endigt. Die Mehrzahl der 
sensiblen Zellen zweiter Art ist durch ihre Dendriten miteinander verbunden, 
welche sich hierbei mit ihren feinsten Verzweigungen untereinander verflech¬ 
ten. Sowohl in dem Nervenfortsatz als auch in den Dendriten verlaufen 

bündelartig Neurofibrillen. In der Zelle selbst bilden sie ein intrazelluläres 
Netz, ein anderer Teil der Fibrillen zieht durch die Zelle hindurch. 

Die motorischen Zellen von Ascaris sind nur mit den zentralen Fort¬ 

sätzen der sensiblen Zellen erster Art verbunden. Der zentrale Fortsatz einer 
jeden sensiblen Zelle erster Art verschmilzt zunächst mit seinen Endver¬ 

zweigungen mit ebensolchen Verzweigungen der zentralen Fortsätze anderer 
sensibler Zellen erster Art. Das Produkt, dieser Vereinigung tritt nun in 
Verbindung mit verschiedenen Teilern der motorischen Zellen, und zwar nicht 
einer, sondern mehrerer. Das Produkt der Verschmelzung der Endabschnitte 
der zentralen Fortsätze der sensiblen Zellen erster Art stellt sieh, wie /be¬ 
schrieben wurde, als ein dichtes netzförmiges Nervengeflecht dar (Kopf-, 
Bauch- und Analgellecht). Diese Geflechte stellen iie V er- 
b i n d 11 n g i w i s c h c n d en vers c h i e d e n e n Gruppe n d e r 



75 


sensiblen und motorischen Zellen dar. Andrerseits ist auch 
jede motorische Zelle nicht mit einer, sondern gewöhnlich mit mehreren 
Muskelzellen verbunden, welchen sie die reichlichen in Endapparaten endigen¬ 
den Verzweigungen ihrer Fortsätze zusendet. Die Kette des Nerven-Muskel- 
apparates von Ascaris schließt somit ganze Abschnitte des Nervensystems 
in sich ein. Ihrer Größe nach verdienen. die motorischen Zellen von Ascaris 
vollkommen die Bezeichnung ..Riesenzelle n“, da sie nicht nur um das 
Mehrfache die sensiblen Zellen beider Art an Größe tibertreffen, sondern 
überhaupt den größten Nervenzellen der Wirbellosen zugerechnet werden 
müssen. Ungemein dick sind auch die motorischen Nervenendigungen. Die 
Dendritenverzweigungen endigen bald in keulenförmigen Anschwellungen, 
welche von den Ästchen der sensiblen Geflechte umsponnen werden, bald in 
feinsten Verzweigungen, welche sich sowohl untereinander als auch mit den 
sensiblen Geflechten verflechten. Auch in den motoiischen Zellen ist ein 
rechtes dichtes Fibrillennetz vorhanden. D a n e i k a unterscheidet vier 
Typen von motorischen Zellen je nach der Zahl und dem Charakter der 
Fortsätze. Sie sind im Analganglion, im Schlundringe, im Bauch-, Rücken- 
und in den Seitensträngen gelegen. 

Aus den zahlreichen Untersuchungen über den Bau des Zentral¬ 
nervensystems der Anneliden wähle ich diejenige von Kra- 
w a n y heraus, weil es sich um eine neuere sehr eingehende exakte 
Studie handelt. Er beschreibt das Zentralnervensystem des Regen- 
w u r m s folgendermaßen: 

In jedem Ganglion des Bauchmarks sind zwei mächtige seitliche Faser¬ 
säulen und eine schwache mittlere zu unterscheiden. Eistcre werden lateral, 
ventral und medial von Ganglienzellen umgehen, welche hi- oder multipolar 
sind. Die seitlichen Fasersäulen, in welchen sowohl die stark verästelten 
Dendriten der Ganglienzellen als auch deren Axone mit den zahlreichen 
Kollateralen und schließlich die sensiblen Fasern verlaufen, sind daher inner¬ 
halb eines Ganglions als die Region des Neuropils aufzufassen. Die Ganglien¬ 
zellen der beiden Seiten verhalten sich in bezug auf ihre Lage und den 
Verlauf ihrer Fortsätze streng symmetrisch. Es kommen sowohl motorische 
als auch Schaltzellen vor. Von den motorischen fand Krawany nur 
solche, deren Axon durch einen Nerven desselben Ganglion austritt. Unter 
beiden Zellarten gibt es solche, welche mit ihrem Axon auf derselben Seite 
des Ganglions bleiben, und solche, welche mit den Axonen tiberkreuzen 
und dadurch die beiden Hälften zueinander in Beziehung bringen (Fig. 28). 
Der mittlere Faserstrang enthält Axone lateraler {'vielleicht auch medialer) 
Zellen und ist dadurch mit der übrigen Fasermasse verbunden. Die Kolossal¬ 
fasern, über welche nur spärliche Beobachtungen zu machen waren, bilden in 
jedem Ganglion Anastomosen und geben Äste ab. Die sensiblen Fasern resp. 
deren zwei Äste geben in der Hegel wiederholt Äste ab. Unter der Hülle 
des Bauehmarkes befindet, sich ein dichter Plexus von feinen Fasern, welche 
sich oft untereinander verbinden, zu Zellen resp. deren Fortsätze und zu 
sensiblen Fasern in Beziehung stehen und teilweise drrrch Nerven austreten. 

Ein Vergleich mit den Verhältnissen bei Polycbäten. Hivndiiieen und 
Krustazeen. wie sie von R e t z i u s , R o h d e . A p athy. Bet he fest- 
gestellt. wurden, läßt nach Ansicht des Autors eine r.hereinstiinmung in den 



76 


Hauptpunkten erkennen. Um eine Fasermasse liegen die Ganglienzellen, deren 
Fortsätze zum Teil im Bauchmark verbleiben (SchaJtzellen), zum Teil aus 
demselben austreten (motorische Zellen). Unter beiden gibt es solche, welche 
überkreuzen. Die Ganglien sind überall symmetrisch gebaut. Von 
der Peripherie treten sensible Fasern ein, welche sich Y-förmig aufteilen und 
deren Äste sich mehr oder minder stark verästeln. Die Verschiedenheiten 


Fig. 28. Symmetrische Lagerung der Binnenzellen und Verlauf 
ihrer FortsM» in einem Ganglion des Regenwurmes. 

Nach J. K r a w a n y. 

beziehen sich auf die Anordnung der Ganglien, Zahl und Verteilung der ab- 
gehenden Nerven und der damit zusammenhängenden speziellen Gruppierung 
der Ganglienzellen, ferner auf Durchschnittsgröße und Form der Zellen. 

Es gelang dem Autor, eine große Zahl derjenigen Elemente, welche in 
den Bauchmarkganglien gefunden, im Unterschlundganglion in einer Anord¬ 
nung nachzuweisen, so daß man mit Sicherheit die Verschmelzung des 
Subösophagealganglions aus zwei Bauchganglien annehmen kann. Es gehen 
vom Unterschlundganglion sechs Nervenpaare ab, von welchen das 2. und 3. 
und das 5. und 6. einander sehr genähert sind und daher dem Doppelnerven 
entsprechen, während das 1. und 4. Paar dem einfachen Nerven gleichzustellen 



77 


ist. Demgemäß ist auch die Ganglienmasse in einen voi deren und einen 
hinteren Teil gegliedert. Beide Teile entsprechen je einem Ganglion. Be¬ 
sonders das hintere Teilganglion zeigt den typischen Bau, während in der 
vordersten Region des ersten Teilganglions Elemente hinzutreten, welche 
Krawany für Eigentümlichkeiten des Unterschlundganglions hält. Darunter 
sind Elemente, welche die Verbindung zwischen Bauchmark und Gehirn her- 
steilen. Ganz vorn im Unterschlundganglion erhielt Krawany von der 
großen Masse der daselbst ventral gelegenen Zellen in der Mitte 4 gefärbt, 
deren Axone aufsteigen und überkreuzen, jedoch nicht weiter zu ver¬ 
folgen waren. Da der Autor an anderen Präparaten zahlreiche Fasern aus 
der Schlundkommissur eintreten und in dieser Region überkreuzen sah. 
vermutet er, daß die vorliegenden Fortsätze einen ähnlichen Verlauf 
haben. Die motorischen Fasern des vom Gejiirn an die Körperspitze abgehen¬ 
den Doppelnerven ziehen, ohne mit dem Zerebralganglion in Beziehung zu 
treten, in die Schlundkommissur gegen das Unterschlundganglion. Dieses 
erweist sich also als das motorische Zentrum der vordersten Segmente. 

Durch die Gehirnnerven treten zahllose sensible Fasern, durch die 
Schlundkommissur Axone von »SchaltzeUeu des Bauchmarks in das Gehirn ein. 
Dieselben lösen sich entweder auf der Eintrittsseite oder nach Gabelung der 
eintretenden Fasern in 2 Äste auf beiden Seiten in Endverästelungen 
auf. Die kleinen Zerebralzellen, deren Axone alle in der hintere n 
Q u e r k o m in i s s u r überkreuzen, um dann in das Neuropil einzu¬ 
treten, stellen wahrscheinlich den eigentlichen Zentralapparat dar. Von den 
großen Zellen verbinden die Binnenzöllen im engeren Sinne bestimmte Be¬ 
zirke des Gehirns miteinander. Andere senden ihre Fortsätze durch den 
Schlundring in das Unterschlundganglion und verbinden so im Vereine mit 
den Schaltzellen des Bauchmarkes dieses mit dem Gehirne. Motorische Zellen 
hat Krawany im Gehirn nicht gefunden. 

Indem der Autor die moiphologisehen Verhältnisse mit Rücksicht auf 
die wahrscheinliche physiologische Leistung zusammenfaßt. kommt er zu 
folgendem Ergebnis: Das Bauchmark einer Seite entsendet sowohl nach 
rechts wie nach links effektorische Axone. Die sensiblen, zentri¬ 
petalen Nervenfasern scheinen auf derselben Seite zu verbleiben m l t Aus¬ 
nahme jener des oberflächlich e n P 1 e x u s. Die Schaltzellen 
setzen die aufeinander folgenden Segment" des Bauchmarks miteinander in 
Beziehung, und zwar sowohl die Elemente der gleichen durch nicht über¬ 
kreuzende, als auch die der G e g e n s e i t e durch ü be rk re u z e n d e 
Axone. Im sehr dichten Neuropil des t »berschlundgauglions endigen Längs¬ 
bahnen, welche vom Bauchmarke kommen und wahrscheinlich von Axonen 
von Schaltzellen und vielleicht auch aus solchen von sensiblen Zellen, be¬ 
stehen. die auf zentripetalem Woge das Gehirn erreicht haben. ln diesem 
Neuropil endigen auch jene sensiblen lasein. welche direkt von der 
Peripherie in das Gehirn eintreten. Dieses Neuropil steht ferner noch in 
Verbindung mit dem zentralen Ganglienapparat des Gehirns, der vor allein 
aus der sehr großen Zahl der kleinen Rindenzellen besteht, deren I aseru 
merkwürdigerweise d u r e li w e g s ii 1> e r k r e u z e n (I ig. -b>. bevor sie in 
das Neuropil eintreten. Eine sekundäre Rolle scheinen die großen Be¬ 
ziehungszellen des Gehirnes zu spielen. 



78 



i 

Vordere Querkommisaur. 

Fig. 29. Durchschnitt durch das Zerebralganglion des Regenwurms. Lagerung 
der Binnenzellen und Verlauf ihrer Fortsätze. Nach J. Krawany. 

Zur Illustration der kreuzenden Fasern in den Ganglien der 
Anneliden gebe ich noch Abbildungen von v. Lenhossek (Fig. 30) 
und von Boule (Fig. 31) aus den Bauchganglien vom Regen- 
w u rm. 

R e t z i u 8 fand bei Lumbricinen, daß die Fortsätze der moto 
rischen Zellen entweder in dem nämlichen Ganglion, in welchem die Zelle 
liegt, und zw f ar entweder auf derselben wie die Zelle oder auf der ande¬ 
ren, oder aber erst im nächstfolgenden Ganglion durch einen Nerven aus¬ 
treten. Ferner fand er, daß sich die sensiblen Fasern oft dichotomisch ver¬ 
zweigen und daß die Verzweigungen die Mittellinie überschreiten. 



Fig. 30. Unipolare Zelle aus einem Ganglion von Lumbricus. 

Nach v. Lenhossek. 


79 


Mauthnersche Kolossalfaser 


/ 

/ 



Fig. 31. Querschnitt aus dem Hauchstrang von Lumbricus. Nach Boule. 

Über den Faserverlauf im Zentralnervensystem der Arthro¬ 
poden besitzen wir Arbeiten von Ketzins, B e t h e , Kenyon, 
H aller,Bretsc h neider u. a. Ich führe hier nur die Ergebnisse 
von Haller und Bretsc h neider an. Letzterer Autor fußt 
stark auf den Untersuchungsresultaten der bedeutsamen Arbeit von 
Kenyon. 

B. Haller, der das Zentralnervensystem des Skorpions und der 
Spinnen beschrieben hat, äußert sich darüber folgendei maßen: Der Bau 
des Bauchmarks der Spinne, sowie auch des Skorpions entspricht im wesent¬ 
lichen dem Verhalten am Bauchmark des Käfers und auch des Regenwurms, 
d. h. ventralwärts liegt eine hohe Ganglienzeilage, dorsal liegen aber nur 
spärliche Ganglienzellen. In der Ganglienzellage des Bauchmarks befinden 
sich kleine bis sehr große Nervenzellen. Die großen Zellen fallen auch durch 
ihre blasse Färbung auf. Die größten Zellen liegen in jedem Ganglion in 
einer medianen und lateralen Gruppe und dienen peripheren Fasern zum 
Ursprung. Aus der lateralen Gruppe treten Fasern direkt in die Nerven¬ 
wurzel. es sind also ungekreuzte. Doch kann diese Zellgruppe auch ge¬ 
kreuzte Fasern für die andere Körperhälfte abgeben. Die innere Gruppe 
der großen Ganglienzellen gibt nur gekreuzte Fasern ab, gleichgültig, 
ob diese zuvor zu Längsfasern werden oder nicht. Im dorsalen Teil des 
Ganglions lösen sich die Fasern der Nervenwurzeln auf, weshalb diese Teile 
als sensorische betrachtet werden können. Diese Auflösung geschieht sowohl 
auf derselben, wie nach Passieren der dorsalen Kommissur 
auf dergekre uzten Seite. Haller fand Längsfasern aus dem (vorde¬ 
ren) Ganglion der Clielizercn entspringend, welche das genannte Bauchmark 
durchsetzen und in jedes Ganglion einen Nervenfortsatz abgeben. Hier 
handelt es sich um lange Bahnen, die alle Ganglien mit dem ersten in Zu¬ 
sammenhang setzen. Solche Verbindungen können aus allen Ganglien ab¬ 
gehen. 

Die Spinne besitzt wie die anderen Arthropoden in jeder Zerebral 
ganglionhälfte je zwei Globuli, einen vorderen und einen hinteren (Fig. 32). 
Infolge ihrer viel mächtigeren Entfaltung als bei dem Skorpion nehmen diese 
Intelligenzsphären mehr Platz ein als dort und sind in die vordere bzw. hintere 





80 



Fig. 32. Querschnitt durch Ober- und Unterschlundganglion von Epeira 
diadema (Kreuzspinne). Nach B. Haller. 

Ecke des Ganglions verschoben. Alles dies sind die Folgen höherer Ent¬ 
faltung als bei dem Skorpion. Denn erreichen die Globuli der Spinne auch 
lange nicht jenen hohen Grad als bei den Hvmenopteren, geschweige denn 
bei Limulus, so stehen sie doch etwa auf jener Stufe der Orthopteren und 
haben sich somit von der niederen Stufe der Entfaltung der Mvriapoden und - 
Skorpione entfernt. 

Aus dem Stiel, d. h. der Fasermasse des Globulus treten Fasern in das 
Schlundkommissurbündel, die entweder auf derselben Seitenhälfte im Bauch¬ 
mark oder durch die Bauchkommissur hindurchziehend 
an gleicher Stelle der anderen Seite enden. Andrerseits 
kommen kollaterale Äste sensibler peripherer Nervenfasern bis in den gleich¬ 
seitigen Stiel und geraten mit diesem entweder in den gleichseitigen Globulus 
oder treten durch eine dorsalwärtige sehr geringe Kommissur unter der 
(ranglienzellschicht der dorsalen Zerebralganglienseite hinüber in den 
andersseitigen Globulus. Durch diese Kommissur treten aber 
auch Fasern aus dem andersseitigen Globulus in den betreffenden Globulus. 

Die pilzförmigen Körper (Globuli) im Gehirn der Insekten entwickeln 
sich nach Haller und Bretschneider aus kleinen Anfängen zu großer 
Entfaltung. Sie können sogar, wie aus Untersuchungen von Jonescu 
hervorgeht, bei einer und derselben Spezies verschieden sein (Arbeitsbiene, 





81 


Drohne, Königin). Sie werden als der wichtigste Teil des Gehirns angesehen. 
Schon Dujardin, der Entdecker dieser Körper, sprach sie als „Organe 
der Intelligenz“ an, weil er ihren gewundenen Bau mit den Windungen des 
Großhirns der Wirbeltiere verglich. Ihre genauere Untersuchung durch zahl¬ 
reiche Forscher, besonders durch Haller, hat diese Ansicht gefestigt. In 
den Zentralkörpern des Gehirns sammeln sich eine große Masse von Fasern. 
F. Bretschneider hält den Zentralkörper für ein primäres Reflexzentruin 
oder ein Assoziationszentrum erster Stufe. Diesem stehen die pilzförmigen 
Körper als Assoziationszentrum zweiter Stufe gegenüber. Sie sind der Sitz 
der komplizierten und der geistigen Fähigkeiten, vor allem des Gedächtnisses. 

Eine allgemeine Eigenschaft der Verbindungsfasern im Gehirn der In¬ 
sekten ist nach Untersuchungen von Bretschn eider, daß sie sich 
mit Vorliebe kreuzen, und daß meistens der Neurit von einer 
Hemisphäre in die andere übergeht. 

Das sind in kurzen Auszügen die Verhältnisse des Faserver¬ 
laufes bei den Wirbellosen, soweit sie bisher festgestellt werden 
konnten. Zum Vergleich füge ich noch einiges über die Faserverhält¬ 
nisse bei den niedersten Wirbeltieren hinzu, denn nur diese können 
als Übergangsbeispiele von der einen zur anderen Klasse herange¬ 
zogen werden. Ergibt sich ein solcher natürlicher Übergang, dann 
bietet die Weiterentwicklung keine so großen Schwierigkeiten mehr. 

Vom feineren Bau des Amphioxusrückenmarks besitzen wir 
einzelne Arbeiten von Heyman und van der Stricht, Ketzins, 
Rhode, M. W o l f f, v. F r a n z*) u. a. 

Eine zusammenfassende Darstellung der Zell- und Faserverhältnisse im 
Amphioxusrückenmark findet sich in den großen Lehrbüchern von Gegen- 
b a u r und AriensKappers. 

Das Rückenmark des Amphioxus besteht nach der Darstellung Ge gen - 
baurs aus einem Faserstrang, welcher eine dünne Lage zentrale Apparate 
vorstellende Zellgebilde umschließt, und diese Schicht ist eine Obertlächen- 
bildung, einem einschichtigen Epithel vergleichbar. Außer der Reihe der den 
Zentralkanal begrenzenden Nervenzellen finden sich bedeutend umfänglichere, 
welche wohl durch die Erlangung eines außerordentlichen Umfanges in den 
Zentralkanal selbst gerückt sind und denselben durchsetzen. Diese kolossalen 
oder Riesenzellen sind multipolar, ihr Nervenfortsatz geht in eine Riesenfaser 
über. Die Riesenfasern kreuzen sich auf ihrem Wege, wobei sie je in eine 
seitliche Hälfte des Rückenmarks gelangen. 

Ariens Kappers erwähnt, daß es neben diesen gekreuzten 
Reflexbahnen bipolare Zellen gibt, welche nach vorn und hinten einen Aus¬ 
läufer aussenden, und als kurze homolaterale Sehaltneuronen (Strang¬ 
zellen) zu deuten sind. 

Nach Heyman und van der Stricht ist die Zellenanlage der 
dorsalen Würzelchen beim Amphioxus nicht ganglionür und es läßt sich keine 
Spur von Dorsalganglien an den Hirn- oder Spinalnerven finden. Die Homo- 
loga der Ganglienzellen erscheinen an Embryonen von 5 mm Länge im dor¬ 
salen Teile des Rückenmarks. Dieses Verhältnis erhält sich zeitlebens. 

*) Es war mir leider nicht möglich, vor Abschluß vorliegender Arbeit die 
OriginaJarbeit von Franz zu erlangen. 



82 


Auf der anderen Seite hat Retzius spinalganglienähnliche Bildungen 
bei Daphniden beschrieben, die mehr peripherwärts gelagert sind. 

M. W o 1 f f fand im Rückenmark von Amphioxus einmal Anastomosen 
zwischen Ganglienzellen, die dicht am Zentralkanal gelegen, ihre Anasto- 
mosenbrücken sogar durch den Kanal von einer Hälfte zur anderen hinüber¬ 
schicken und er fand außerdem kreuzende Verbindungen zwischen 
den eintretenden Hinterwurzelfasern einer Seite und den vorderen Wurzel¬ 
fasern der anderen Seite. 

über das Rückenmark von Ammocoetes haben wir eine ausführ¬ 
liche Mitteilung von Kolm er. Er schildert die Verhältnisse folgender¬ 
maßen (s. Fig. 33): „Man findet auf der Ventralseite eine große Anzahl 
V-förmiger Faserteilungen in allen möglichen Dickendimensionen, darunter 



Fig. 33 ä Schema der Lagerangs- und Formverhaltnisse der Nerven¬ 
zellen und ihrer Fortsätze im Rückenmarke von Ammocoetes. Kom¬ 
bination aus verschiedenen Präparaten. Nach W. Kolmer. 



83 


nach einzelne sehr dicke. Die ungeteilte Faser verläuft transversal ziemlich 
oberflächlich und folgt auf ihrem Wege der ventralen schwachen Obertlächen- 
krüminung des Hückenmarks. Sie verjüngt sich eineiseits gegen den Rand 
zu einem feinen, kaum mehr unterscheidbaren Faden, den ich einige Male 
in den Fortsatz einer Randzelle verfolgen konnte; auf der anderen Seite 
geht sie — nachdem sie die Mittellinie überschritten hat — in 
die V förmige Teilung über“ — — „Da sich häutig viele Fasern dieses Typus 
zugleich färben und daher ihre Bogen sich gegenseitig über kreuzen, 
entsteht eine recht charakteristische Figur.“ 

An der Peripherie des Rückenmarks liegt ein Netzwerk, in welchem 
sich anscheinend Fortsätze der verschiedensten Zellen und Endigungen von 
Fasern vereinigen. Ein ähnliches Netzwerk ist möglicherweise auch im 
Innern des Markes vorhanden. Das oberflächliche Netzwerk würde vielleicht 
einem Teil jener grauen Substanz entsprechen (Punktsubstanz oder Neuropil). 
welche man bei den Avertebraten findet. 

Aus der Darstellung, die A r i e n s Kappers vom feineren Bau des 
Zvklostomenrückenmarks gibt, erwähne ich Folgendes: In dem peripheren 
(sog. marginalen) Geflechte des Rückenmarks findet also ein Übergang der 
sensiblen Reize auf die Dendriten der Schaltzellen und der motorischen Zellen 
statt. Der direkte Übergang von sensiblen Reizen auf den motorischen Zell¬ 
körper ist eine Ausnahme. Außerdem liegen auch hier meistens gekreuzt 
und ungekreuzt verlaufende sog. endogene Neurone zwischen den ein¬ 
tretenden und austretenden Reizen. Von diesen endogenen Fasern ist an 
erster Stelle eine Bahn zu erwähnen, welche wir bereits bei Amphioxus vor¬ 
fanden, und welche wir hier und bei höheren Wirbeltieren als einen der 
erstentstehenden Bestandteile des Rückenmarks wiederfinden 
werden: das System der ventralen Bogenfasern, deren Ursprungs¬ 
zellen wir als Homologon der Kolossalzellen von Amphioxus betrachten 
müssen. Die Neuriten dieser Zellen kreuzen die ventrale Raphe und 
bilden dann T-förmige frontale und kaudale Teilungen. Diese Teilungen ver¬ 
laufen in den Vorderseitenstrang und enden nach kürzerem oder längerem 
Verlaufe mit Kollateralen in dem peripheren Dendritennetz, teilweise um 
motorische oder Schaltzellen in den seitlichen Abschnitten der grauen Sub¬ 
stanz. Eine Anzahl dieser Zellen dehnt aber ihr Dendritennetz noch hinter 
dem Zentralkanal entlang in die andere Hälfte des Markes aus, (■ o m in i s - 
Mira protoplasmat-ica posterior, und kann auch kontralaterale. 
Reize aufnehmen. Wie weit die Fasern dieser gekreuzten sekundär sensiblen 
Bahn sich frontalwärts ausdehnen können, ist unbekannt. Größtenteils lösen 
sie sich wahrscheinlich im Rückenmark selber auf. Es ist aber nicht ausge¬ 
schlossen, daß neben diesen auch schon solche auftreten, welche sich bis in 
die Oblongata ausdehnen und sensible Reflexe auf die retikulären Zentren 
derselben übertragen. Wir finden in diesem Bogenfasersystem die primi¬ 
tivste s e k u n dar s e n s i b 1 e L e i t u n g des Rückenmarks, welche die 
ersten s o g. vitale n G e f ü h 1 s e i n d r ii e k e der freien Haut Verästelung, 
die grobe Berührung, den Schmerz, starke Temperaturempfindimgen find den 
chemischen Sinn leitet. Außer diesen gekreuzten Fasern kommen in dem 
Rückenmark von Petromyzon u n g e k r e u z t e S t r a n g f a s e r n vor. 
welche sich vermutlich mehr in die dorsalen und dorsolateralon Stränge be¬ 
geben und als intersegmentale Solialtneurone zu betrachten sind. 

Ja cobsohn-Lask, Die Kreuzung der Nervenbahnen. (Abhdl. H. 21».) ft 



84 


In einer ausgezeichneten Arbeit van Gebuchtens über das Rücken- 
mark der Batrachierlarven (Salamandra Maculosa) sagt er von den 
cellules heteromeres: „Oes cellules en voient leurs axones ä travers la com- 
missure anterieure jusque dans le cordon anterolateral du c ö t 6 oppose. 
Elles occupent toutes les regions de la substance grise et principalement la 
corne posterieure ou dorsale. Leurs axones traversent d’arrtere en avant la 
zone marginale avant de s'incliner vers la commissure anterieure. En 



Fig. 34. Querschnitt aus dem Rückenmark von Salamandra 
Maculosa (Golgi-Präparat) nach van Gebuchten; aus 
mehreren Abbildungen zusammengestellt. 


longeant la base interne du cordon lateral de la moiti6 correspondante de la 
inoelle, l'axone de ces cellules presente frequemment une bifurcation et 
donne ainsi naissance a deux cylindres-axes dont Tun penetie dans le cordon 
lateral tandisque l’autre seul traverse 1 a commissure. La 
cellule des cordons heteromeres devient ainsi a la fois une celiule pluri- 
cordonale de Cajal“ — (Fig. 34). 

Im Batrachierrückenmark existiert nach van Gehuchtens Beob¬ 
achtungen ein perimedullärer Nervenplexus, in den eine große Anzahl von 
Dendriten eingeht. 

Auch in allen Abschnitten des Gehirns niederer Vertebraten findet man 
neben zahlreichen kreuzenden Fasern auch eine nicht unerhebliche Zahl von 
nicht kreuzenden. 

Was die Ableitung der grauen Substanz anbetrifft so ist die Anschauung 
von .J ohnst-o n beachtenswert, daß alle sensiblen Zentren (Haut Zentren' 
bei Petromyzon sich aus einer gemeinsamen Anlage entwickelt haben. Dazu 
gehören auch das Akustikum und das Kleinhirn. Das Gehirn von Petromyzon 
zeige deutlich primitiven Charakter in manchen Zentren und besonders in 
der Morphologie und Verteilung der Zellelemente: es besitze keine Rinde. 

Radi faßt als Ganglion jedes nervöse Zentrum auf. Es besitzt einen 
Nervenfilz und Ganglienzellen. Nachdem Rädl die optischen Ganglien eines 
Schmetterlings (Sphinx pinastri) beschrieben hat, kommt er auf die Be- 



85 


deutung des Faserfilzes gegenüber den Ganglienzellen zu sprechen. Er ist 
der Ansicht, daß die Struktur dieser Ganglien durch ihren Nervenfilz und nur 
durch diesen bestimmt wird. Der Nervenfilz und nicht die Ganglienzellen sei 
das Wesentliche eines Ganglions. Er vergleicht dann ein solches Ganglion 
der Wirbellosen mit einem Ganglion aus dem Sehzentrum der Fische (Lota 
vulgaris) und sagt von diesem: „Wieder umgeben die meisten Ganglienzellen 
den Nervenfilz, in welchem nur sporadisch Zellen Vorkommen; an der An¬ 
ordnung der Ganglienzellen ist nichts Auffallendes zu finden; der Nerven tik 
al>er hat scharfe Grenzen, eine bestimmte innere Struktur, in ihn münden die 
Nervenfasern ein. Auch hier ist es der Nervenfilz, der das Ganglion aufbaut, 
während den Ganglienzellen nur eine sekundäre Rolle zukommt.“ Weiter 
führt Radi aus: „In fast allen Ganglien der Wirbellosen liegen die Nerven¬ 
zellen entweder zerstreut oder traubenförmig gruppiert außerhalb des Nerven- 
tilzes; jede Zelle sendet einen sich in zwei Äste spaltenden Ausläufer aus, 
meistens in der Weise wie die Spinalganglienzellen des Menschen: neben diesen 
„unipolaren“ kommen auch „bipolare“ und „multipolare“ Zellen vor. — Es 
gibt Ganglien bei den Wirbellosen, welche ebenfalls Ganglienzellen ein¬ 
schließen, so z. B. das erste optische Ganglion bei manchen Insekten (bei den 
Libellen, einigen Insekten und Krustazeen); in den tieferen Schichten des 
sog. Lobus opticus der Cophalopodcn (des Tintenfisches) liegen zahlreiche 
Ganglienzellennester und hier und da findet man auch sonst in dem Faserfilz 
eingesprengte Zellen. Nichtsdestoweniger liegen die Ganglienzellen in den 
meisten Fällen bei den Wirbellosen außerhalb des Nervenfilzes. Sehr oft, viel 
öfter als man sich dessen bewußt ist, nehmen aber die Ganglienzellen dieselbe 
Lage auch bei den Wirbeltieren ein und nur eine unrichtige Deutung der 
Ganglien verführte die Forscher zu der Annahme, daß die graue Substanz der 
Wirbeltiere immer Ganglienzellen einschließen muß.“ 

„Der schichtenartige Aufbau des Nervenfilzes. sagt er weiter, ist weit 
verbreitet: er kommt in den optischen Zentren aller Tieitypen von den 
Würmern bis zu den Wirbeltieren hinauf vor: auch der „Zentralkörper“ des 
Insektengehirns, die Kleinliirnrinde und die Großhirnrinde der Wirbeltiere 
sind nach diesem Typus gebaut. Die Schichtung scheint nur die Eigentüm¬ 
lichkeit der höchsten Zentren zu bilden, sie fehlt vollständig im Rückenmark 
und in der Bauchganglienkette.“ 

Packender kann wohl die große Ähnlichkeit im Verhallen der 
grauen Substanz und seiner Zelleleinente sowie des allgemeinen Faser¬ 
verlaufes im Zentralnervensystem der Wirbellosen und Wirbeltiere 
nicht geschildert und demonstriert, werden, als es von den Forschern 
auf Grund ihrer Studien in ziemlicher Einheitlichkeit geschieht. Der 
Übergang von der einen Klasse zur anderen erscheint hier viel kon¬ 
tinuierlicher. als er sieh an den gröberen äußeren Formverhältnissen 
aufzeigen läßt. Auch darin findet Übereinstimmung statt, daß die 
Nervenfasern der niedersten Wirbeltiere zum großen Teil mark¬ 
los sind. 

D a n a c h k a n n d i e zweite a u f g e w orfene F r a g e 

d a h i n b e a n t w o r t e t w e r d e n . d a ß sich d i e B a h n e n i in 

Z e n t r a 1 n e r v e n s y s t e m a u c h s c h o n b e i d e n W i r b e 1 * 

losen in g a n z e r h e b lieh e m M a ß e k r e u z e n. 

G* 



3. Über die bilaterale Symmetrie des tierischen Körpers. 

Die Ursache dieser Kreuzungen kann, wenn man das Gesamte, was 
auf den vorangehenden Seiten dargelegt wurde, überschaut, nicht in' 
einer lokalen Veränderung liegen, die der Körper oder das Nerven¬ 
system in irgendeiner Entwicklungsepoche erlitten hat; es kann auch, 
nicht so sein, daß eine Leitungsbahn aus irgendwelchen Gründen zu¬ 
nächst allein in die Kreuzung eingetreten ist, und daß durch sie beein¬ 
flußt alle anderen Bahnen ihr dann gefolgt sind. Sondern die Allgemein¬ 
erscheinung der kreuzenden Bahnen im gesamten Zentralnervensystem, 
die sich von der niedersten Entwicklungsstufe des Tierreiches bis zur 
höchsten in immer ausgeprägtererForm zeigt, muß auch seinen Grund 
in der allgemeinen Beschaffenheit,d.h. Formgestalt des tierischen Kör¬ 
pers und in seinen Grundfunktionen haben. Von derGestalt des tieri¬ 
schen Körpers, wie sie auf niederster Stufe anhebt und sich in den 
höheren Stufen immer weiter ausbaut, können wir uns ein genügend 
klares Bild verschaffen, von den Funktionen des tierischen Körpers 
aber können wir nur gröbere Vorstellungen gewinnen. Das Meiste in 
dieser Hinsicht unterliegt unserer Deutung, und hier können die An¬ 
sichten über den gleichen Vorgang, über die vielen Faktoren, die 
dalwü eine Holle spielen, die ineinander greifen, und wie sie inein¬ 
ander greifen, sehr verschieden sein. Aus diesem Grunde kann man 
wohl eine Ursache für die Kreuzungen finden, die in der Gestalt des 
tierischen Körpers begründet sein muß. nicht aber mit gleicher 
Sicherheit eine solche, die aus den Funktionen zu erschließen ist. denn 
letztere, wie gesagt, sind uns nur zum Teil bekannt und sind uns in 
ihren feineren Schwingungen noch ziemlich verschlossen. 

Sehen wir uns die Gestalt des tierischen Körpers an und stellen 
zu dieser Gestalt den Bau des Nervensystems in Parallele. Denn daß 
hier (‘ine Parallele in bezug auf gegenseitige Ausgestaltung besteht, 
wird ja wohl von niemanden bezweifelt werden. Hä dl schießt über 
das Ziel hinaus, wenn er behauptet, daß sich das Nervensystem den 
Bau des tierischen Körpers geschaffen hat. Da< ist schon deshalb 
unmöglich, weil auf den niedersten Stufen tierischer Organisation ein 
Nervensystem gar nicht vorhanden ist. Man darf nun hei dieser 
Parallelstellung natürlich auch wieder nicht vom Wirbelti'okörper 
ausgehen, sondern muß von dem der Wirbellosen beginnen und hier¬ 
bei ist auf eine Ausgestaltung näher einzugehen, die mir für unser 
Problem von Bedeutung zu sein scheint. 

Es ist nämlich den Forschern eine ausgemachte Sache, daß der 
Tierkürper ein bilateral symmetrisch gebauter ist. Wenn ich das 
Verhältnis der symmetrischen Bilatcralität im folgenden auf das 



87 


richtige Maß zuriickzuftihren versuche, so meine ich nicht etwa die 
zahllosen Asymmetrien, die am tierischen Körper Vorkommen und 
die vielleicht beim Menschen ihren höchsten Ausdruck in der Rechts¬ 
händigkeit und in der Prävalenz der linken Großhirnhemisphäre 
finden. Das ist ja allgemein bekannt, und daß solche Asymmetrien 
sich ausbilden müssen, dürfte nicht verwunderlich sein, denn der 
tierische Körper ist keine starre symmetrisch angelegte und symme¬ 
trisch siel) betätigende Maschine, sondern die im Tiere wirksamen 
Lebenskräfte formen sich das schon genetisch bestimmt gerichtete 
plastische Material ständig nach inneren Bedürfnissen in Anpassung 
an die wechselnde Umgebung weiter, bald symmetrisch, bald aber 
auch unsymmetrisch. 


Was hier noch besprochen werden soll, ist das Verhältnis der 
grob sichtbaren bilateral symmetrischen Organe zum Gesamtkörper. 
Um darüber Klarheit zu gewinnen, ist es wiederum nötig, daß man 
die Gestalt des tierischen Körpers von seinen einfachen Anfängen 
bis zu seiner höchsten Ausgestaltung verfolgt. Das soll nunmehr in 
einem kurzen Überblick geschehen. 

Der Körper der Prot o z o e n ist von 
rundlicher oder ovaler oder von fadenförmiger 
oder trichterförmiger Gestalt und trägt an 
seiner Oberfläche ziemlich regellos eine Anzahl 
von Wimpern oder Geißeln (Pig. 35). 

Der Körper der niederen Metazoen 
wird von zwei ineinander gefalteten Säcken 
gebildet, dem Ektoderm und dem Entoderm. 

Diese haben bei einfachen Formen nur eine 
Öffnung, den Urmund (Blastoporus) an der 
Stelle, wo der nutritive Teil der Blastula sich 



Fig. 35. Balantidium 
coli (Protozoon.) 

Nach Stein. 


in den animalen Teil eingefaltet hat. Bei 
anderen Formen bilden sich später entweder 
noch eine Ausgangsöffnung am apikalen Pole, 

der After, oder an den Seitenwandungen des Sackes in Gestalt von 
mehr oder minder zahlreichen Poren. Der Urmund und der After 
brauchen nicht gerade direkt am oralen und apikalen Pole zu liegen, 
sondern sie können durch Krümmungen des Körpers oder andere 
Umstände veranlaßt, sich auch an die Seitenwandungen verschieben. 
Sie können entweder an der gleichen Seite nahe beieinander oder 
entfernter voneinander zu liegen kommen oder die eine Öffnung 
kann an der einen, die andere an der anderen Seite des 
Körpers ausmünden. Auch kann sich der äußere Sack durch 


88 


chitinige Hinge segmentartig gestalten 
(Fig. 36) oder der innere Sack kann 
sich radienartig aussacken etc. Mag 
dieses sich nun so mannigfach wie 
immer gestalten, an der Form des Kör¬ 
pers als Ganzes wird dadurch nichts 
Wesentliches geändert; siebleibt immer 
eine solche, daß sie einen ineinander 
gefalteten Sack darstellt. 

Eine gewisse Veränderung tritt 
erst durch zwei Umstände ein, die die 
Form einerseits nach außen, anderer¬ 
seits nach innen verändern. Dies be¬ 
ginnt bei den Anneliden und setzt 
sich von hier in immer stärkerem 
Maße bei den höheren Formen fort. 
Der eine äußere Umstand besteht 
darin, daß vom Körper die mannigfach¬ 
sten Auswüchse entstehen. Dies be¬ 
gann schon auf einer niederen Stufe, 
gestaltet sich nun aber immer weiter 
aus, nachdem der Körper sich metamer 
gegliedert hat. Auf diesen Umstand 
will ich weiter unten noch zu sprechen kommen. 

Der andere Umstand, der den Körper nach innen verändert, ist 
durch das Auftreten des dritten Keimblattes, des Mesoderms, bedingt. 
Dieses Mesoderm entsteht durch eine nochmalige Einfaltung des 
Entoderms, aber zum Unterschiede gegenüber der ersten Einfaltung, 
welche den Sack als Ganzes einstülpte, geschieht die Einstülpung des 
Mesoderms doppelseitig auf jeder Hälfte des Entodermschlauches, 
so daß zwei symmetrische Mesodermsäcke, ein linker und ein rech¬ 
ter, entstehen. Diese beiden Einfaltungen, die man plastisch am 
besten als zwei Taschen begreift, schieben sich zwischen den Ekto¬ 
derm- und Entodermsack, umfassen den letzteren und bilden die 
Leibeshöhle (Coelom) oder -höhlen, in welchen der Entodermsack 
und vieles, was aus letzterem entsteht, liegt (Fig. 39). Der tierische 
Körper besteht also jetzt aus vier Säcken, die ineinander ge¬ 
schachtelt sind, einem Ektoderm-, einem Entoderm- und einem rech¬ 
ten und einem linken Mesodermsack. Diese Doppelseitigkeit des 
Mesodermsackes und alles, was aus ihm entsteht, bedingt die innere 
bilaterale Symmetrie des tierischen Körpers. Aus ihm entsteht nach 
innen der doppelseitige Urogenitalapparat und nach außen vor allem 




89 


Urmund 


Coelomsäcke ... 


Entoderm 


Mesenchym 


die Doppelseitigkeit der Muskulatur nebst dem harten Skelett, an 
welches sich die Mus¬ 
kulatur ansetzt. Diese 
innere Doppelseitigkeit 
ist aber nicht gleich am 
ganzen Tierleibe ausge¬ 
prägt, sondern beginnt 
bei den Anneliden erst 
an ganz beschränkter 
Stelle, insofern sie bei 
diesen nur winzige Teile, 
gewöhnlich die Genital- 
orgaue allein umfaßt 



Ektoderm 


Fig. 37. Schematisches Darchschnittsbild eines 
platyhelminthen Scoliciden. Nach Grobben. 
(Fig. 37). Allmählich breitet sie sich weiter auf die Leibeshöhle aus und 


kann dann entweder je zwei 
durch den ganzen Leib 
genoude, einheitliche Halb¬ 
säcke, oder segmentartig, der 
Quergliederung des Leibes ent¬ 
sprechend, zahlreiche segmen¬ 
tierte bilden (Fig. 38). Die 
anderen beiden Säcke aber, 
der Ektoderm- und Entoderm- 
sack, bleiben auch weiter ein¬ 
heitliche Säcke, ebenso bleiben 
einheitlich alle Drüsenorgane, 
die aus dem Entoderm ent¬ 
stehen, wie Leber, Milz, Pan¬ 
kreas etc. Einzelne aus dem 
Entoderm entstehende Organe, 
welche bei ihrer Entstehung 
zunächst auch eine einheitliche 
Ausstülpung des Entoderms 
sind, passen sich bei ihrer 
weiteren Ausbildung der bila¬ 
teralen Symmetrie des Meso¬ 
derms an, wie z. B. die Lun¬ 
gen, welche aus der Trachea¬ 
röhre sich dichotomisch teilen 
und nun in ihrem Ausbau in 
die beiden Pleurahöhlen sich 
einsenken. Ebenso ist das 


Definitiver Mund 


After 

(Urmund) 


Fig. 38. 



Darm 


Mittlerer 
der drei 
Coelomsäcke 


Schema von Sagitta (Pfeilwurm). 

Nach Grobben. 




90 


<b-fäß>\>teni zunächst ein iin>ymmctri>«*hes Röhren>\>tem mit einer 
an einer Stelle betindlh-hen ampullären Erweiterung, «lern Herzen. 
I)ie> Verhältnis zeigt sieh auch hei allen höheren Formen bis zun: 
Mensehen herauf. Auch seihst bei diesem ist das Gefäßsystem in 
seiner Anlage zunächst ein einfacher in sich geschlossener Schlauch 
mit einer in der Kopfgegend gelegenen Erweiterung, dem Herzen, 
und erst später geschieht die weitere Ausbildung in der Wei>e. daß 
es sich nicht ganz und gleichmäßig bilateral teilt, sondern daß es 
>ich nur der inneren bilateralen Symmetrie annähert. Aus dein Er¬ 
läuterten geht hervor, daß der tierische Körper auch in seiner weite¬ 
ren phylogenetischen Entfaltung doch die alte Grundform der ^ack- 
resp. schlauchförmigen Gestalt beihehält. und daß sich in die>e 
Grundform etwas Bilateral-Symmetrisches einbaut, welches dann 
allerdings auch auf die Grundform richtunggebenden Einfluß gewinnt. 

Der andere Entstand, welcher die ursprüngliche Körnerform 
umgestaltet. bet rillt die Veränderungen, welche in der Entwicklung 
am Ektoderm vor sich gehen. Sie sind der der Außenwelt direkt 
zugekehrten < iberfläche des Ektoderms entsprechend naturgemäß 
nach außen gerichtet. Sie betreffen die Bildung von Sinneswerk¬ 
zeugen. die sich vom Körper in die Außenwelt vorstrecken, um mit 
ihnen ans mehr oder entfernter liegenden Quellen das aufzunehmen, 
was dem Körper nützlich, und das abzuwehren, was ihm schädlich 
ist. Diese Werkzeuge bilden sich als Aussackungen oder Einstülpun¬ 
gen des Ektoderms in ähnlicher Weise wie die Ein- und Aussackungen 
am Entoderm entstehen. Bei den niederen Tierformen beteiligt siel: 
auch noch «las Entoderm daran, indem z. B. die Aussackungen des 
Digestionstraktus vielfach in diese Auswüchse hineingehen. Bei den 
höheren Formen tritt das Entoderm mehr zurück, dafür treten aber 
mehr Bildungen, die vom Mesoderm herrühren, in sie hinein, wie 
Muskeln und Knochen. Diese Auswüchse mul Einstülpungen sind 
bei niederen Formen ganz unregelmäßig und ganz asymmetrisch, 
und erst allmählich gewinnt auch die innere bilaterale Symmetrie 
auf sie Einfluß. Aber der äußere Sack bleibt als solcher bestellen, 
ganz gleich wieviel Aus- und Einstülpungen an ihm entstehen. Gleich 
wie ein Topf, dem man zwei Henkel ansetzt, nicht deshalb bilateral 
symmetrisch wird — denn die llenkcl sind es zwar, nicht aber der 
Topf —, so wird auch der Ektodermsack des Tierkörpers nicht da¬ 
durch bilateral symmetrisch, daß er auf beiden Seiten die gleiche 
Anzahl von Auswüchsen erhält. 

Zur Vollständigkeit und zur genaueren Erkenntnis der tieri¬ 
schen Körpergestalt ist es nötig, sich die inneren und äußeren 



91 


sekundären Bildungen, welche die bilaterale Symmetrie bedingen, 
noch einmal genauer anzusehen und einzuschätzen. 

Von den inneren Bildungen kommen, wie erwähnt, wesentlich 
das Muskel- und Knorpel-Knochengewebe des Rumpfes in Betracht, 
denn die Epithelhäute des Mesoderms wirken zwar richtunggebend 
auf die entstehende bilaterale Symmetrie, sie sind aber dauernd nur 
zarte Häute und können als solche selbst das Nervensystem wenig 
beeinflussen. Das Knochengerüst dagegen wächst zu einer starken 
Masse aus und noch mehr das Muskelgewebe. 

Das Knochengewebe wächst zunächst als indifferente Zellmasse 
wesentlich aus dem Mesoderm (vielleicht auch noch etwas aus dem Ek¬ 
toderm) bezw. aus dem Mesenchym und bildet zwei Hohlräume, einen 
engen, langen, aber ringsum geschlossenen, als feste Umhüllung des 
Zentralnervensystems—dies gilt allerdings nur für die Wirbeltiere —, 
und einen breiteren und kürzeren, vorne und hinten offenen als Stütze 
und Umhüllung derRumpforgane. Beide, besonders die Wirbel, sind die 
bleibenden Reste der Mentamerie des Wirbeltierkörpers. Die Wirbel 
sind geschlossene, aneinander passende Ringe; sie zeigen in ihrer 
ersten Entstehung nichts von bilateraler Symmetrie, sondern ring¬ 
förmige Zellhaufen, aus denen sich später das Knorpelgewebe ent¬ 
wickelt, legen sich um das Medullarrohr herum und umfassen es als 
ein durch den Rumpf von oben bis unten durchgehender weicher 
Schlauch. Erst später nach Konsolidierungder Masse kommt durch seit¬ 
liche Auswüchse,die wohl derZugwirkung der Muskeln ihre Entstehung 
verdanken, die bilaterale Symmetrie zustande. Der breitere Hohl¬ 
raum, welcher durch die Viszeral bögen und Rippen und den Becken¬ 
gürtel gebildet wird, ist sowohl vorne als auch hinten gespalten und 
hat vorne eine klaffende Öffnung. Außerdem sind seine festen metame- 
ren Abschnitte durch breite Zwischenräume getrennt, so daß er mehr 
einen aus reifenförmigen und getrennt voneinander liegenden Spangen 
gebildeten Hohlraum repräsentiert. Aber einen solchen, wenn auch 
unvollständig umschlossenen Hohlraum stellt er als Ganzes betrachtet 
dar. Bei den Wirbellosen kommen dafür chitinartige Panzergebilde 
in Betracht, die sich aus dem Ektoderm bilden, die auch in einzelnen 
Platten und Ringen den Körper umgeben und als Ganzes gleichfalls 
eine feste, sackförmige Schicht darstellen. 

Auch das Muskelgewebe, aus Ring-. Schräg- und Längsmuskeln 
bestellend, bildet sich zum größten Teil aus dem Mesoderm, zum 
geringeren aus dem Ektoderm. Letzteres entspricht dem Epithel¬ 
muskelgewebe und behält mit dem Ektoderm als Ganzes die Sack¬ 
gestalt bei. Die große Masse der Rumpfmuskulatur bei den Wirbel- 



92 


deren bildet sich zunächst in metameren Schichten (Myotonien) und 
bilateral symmetrisch. Als solche bilaterale Schicht ohne besondere 
Differenzierung bleibt sie bei den niederen Wirbeltieren bestehen. 
(Fig. 39.) Bei den höheren Wirbeltieren tritt zwar eine mannigfache 



Fig. 39. Schematischer Querschnitt durch die Kiemenregion 
von Branchiostoma (Amphioxus). 

Nach Korschelt und Heider. 

Differenzierung ein. aber als Ganzes umschließt, sie das reifenförmige 
Knochengerüst resp. füllt die Lücken zwischen den Reifen aus. 
Sie bildet auf jeder Hälfte quer oder schräg verlaufende kontraktile 
Halbringe, die beiderseits als Ganzes vereint wieder einen vollkomme¬ 
nen Muskelsack darstellen. 

Und nun schließlich die aus dem Ektoderm ausgewachsenen 
Anhänge! Sie entstehen zuerst, wenn man von den Geißeln und 
Wimpern der Protozoen absieht, bei den Coelenteraten im Umkreise 
der Mundöffnung und bilden hier einen Kranz von verschieden lan¬ 
gen und breiten Fühlern. Dasselbe Verhältnis zeigt sich auch bei den 
niederen Würmern. (Fig. 30.) Sie sind hier schon etwas mehr differen¬ 
ziert, verschieden lang, dick und breit. Sie bilden hier einen Teil des 
Mundtrichters, gleichsam als ob letzterer in seinem vorderen Ab¬ 
schnitt der Längsrichtung nach sich in zahlreiche verschieden lange 



93 


Zipfel gespalten hätte. Würden die Lücken zwischen ihnen angefüllt 
sein, so hätte man einen ganzen, sich vors t reckenden Schlauch. Die 
Cephalopoden zeigen dies Ver¬ 
hältnis besonders anschaulich. 

(Fig. 40.) Bei den Anneliden 
sind diese Fühler ebenfalls vor¬ 
handen; außerdem treten jetzt 
bei einzelnen Vertretern auch 
noch an den seitlichen Körper¬ 
teilen Auswüchse auf, welche 
paarig und an beiden Seiten 
gleich an Zahl den Metameren 
entsprechen. Bei den Arthro¬ 
poden ist dies Verhältnis das¬ 
selbe, nur sind die Anhänge 
an Zahl sehr wechselnd, kön¬ 
nen in gleichmäßigen Ab¬ 
ständen stehen oder auch 
nicht. Häufig verschmelzen 
sie zu umfangreichen Ge¬ 
bilden und sind stark ge¬ 
gliedert. Bei den höheren 
Formen der Wirbellosen, mit 
Ausnahme der sternförmig ge¬ 
bauten, wechselt das Verhält¬ 
nis an Zahl und Umfang dieser 
Auswüchse. Wo sie aber vor¬ 
handen sind, zeigen sie mit 
Ausnahme des Medianauges 
stets die bilaterale Symmetrie. 

(Fig. 41.) Bei den Vertebra¬ 
ten schrumpfen die vorderen 
an der Mundöffnung befind¬ 
lichen Anhänge zusammen; 



Fig. 40. 


Abraliopsis morisi (Kopffüsser). 

Nach Chun. 


es finden sich dort nur noch Reste, während die seitlichen Anhänge, 
Extremitäten, wenigstens bei den höheren Formen, sich auf vier 
beschränken, ein vorderes und ein hinteres Paar. (Fig. 42 und 43.) 


Aber ebenso wie die Auswüchse, welche an der Mundscheibe 
der niederen und höheren Würmer entstanden sind, als Ganzes nur 
gleichsam einen gespaltenen Schlauch darstellen, so stellen auch die 
seitlichen Auswüchse, ganz gleich, ob sie ungegliedert oder ge- 



94 


gliedert, sind, bewegliche Halbringe dar. die. wenn sie geschlossen 
werden, Voll ringe bilden, sobald man den Körper selbst als hinten 
sie verbindendes Mittelstück dazu nimmt. Ebenso wie die Hippen 
innen vom Ektoderm solche eingeschlossenen festen Hinge bilden, 
so sind die Anhänge äußere lose bewegliche Reifen, die die Tonnen¬ 
form des Körpers umgreifen und sich ihr anlegen können. Um Mi߬ 
verständnissen vorzubeugen, sei gesagt, daß zu diesen Auswüchsen 
nicht Haare, oder Borsten, Stacheln und dergleichen zu rechnen 
sind, welche ja nur aus dem Ektoderm abstammen, während die 
Anhänge sich aus Gebilden zusammensetzen, die aus Ektoderm. 
Mesoderm und zum Teil wohl auch aus dem Entoderm entstehen. 

Wenn man nun die Stellung und Bewegung dieser Anhänge 
genau betrachtet, so erkennt man, daß sie alle eine nach dem 
Körper zu gerichtete Konkavität zeigen, so daß, wenn sie sich an 
ihn anlegen, sie diesen reifenförmig umfassen. Sowohl als Ganzes 
zeigen sie eine nach einwärts gerichtete Biegung, als auch sind ihre 
einzelnen Glieder so zueinander gestellt, daß sie sich wesentlich 

nach innen biegen 
und die Gradstel¬ 
lung der einzelnen 
Glieder resp. die 
Auswärtsbewegung 
der ganzen Extre¬ 
mität nur bis zu 
Fig. 41. Myssistadiurn des Hammers. einer gewissen Ex- 

Nach G. 0. Sars. tension möglich ist. 

Die Einwärtsbewegung zum Körper hin ist die Hauptaktion, während 
die Abduktion resp. Extension nur auxiliärer Natur ist. Das Be¬ 
wegungsbild erinnert vollkommen an dasjenige einer Zange, deren 




Fig. 4?. Sphenodon punctatum. 

(Nach Gadow) aus Claus-Grobben. 


vordere kürzere Hebel auch nach einwärts ge¬ 
bogen sind, so daß, wenn die Zange geschlossen 
ist, ihre Spitzen aneinanderstoßen. Auch hier 
ist die Hauptbewegung, um den Zweck des 
Werkzeuges zu erfüllen, um einen Gegenstand 
zwischen die Zinken zu fassen, die Adduktion, 
und die Abduktion ist eine zwar notwendige, 
aber auxiliäre, um die Hauptaktion zu ermög¬ 
lichen. Alle beweglichen Anhänge des tieri¬ 
schen Körpers mitsamt den sie tragenden 
Sinneswerkzeugen sind in ihrer bilateralen An¬ 
ordnung solche zangenartigen Werkzeuge, 
welche den Zweck haben, das, was aus der 
Außenwelt für den Organismus nötig ist, zu 
umklammern, festzuhalten und dem Körper zu¬ 
zuführen. Diese Hilfseinrichtung hat sich der Gesamtkonfiguration 
lies Körpers sinngemäß angefügt und hat auf den Aufbau des Ner¬ 
vensystems gleichfalls seinen entsprechenden Einfluß ausgeübt. 

Der tierische Körper bewahrt also trotz seines Ein- und Aus¬ 
baues an bilateralen Gebilden im ganzen seine sackförmige Ur- 
gestalt und funktioniert als ein einheitlicher Organismus. 

Auch das Nervensystem, speziell das Zentralnervensystem, zeigt 
keineswegs in seinem Bau eine absolute bilaterale Symmetrie, wie 
es auf den ersten Blick erscheinen mag. Dies würde vielleicht deut¬ 
licher zum Ausdruck kommen, wenn der Tierkörper statt der seitlich 
verschmälerten langgestreckten Form eine Kugelgestalt angenommen 
hätte. Aber er hat sich langgestreckt, weil der ständig nach vor¬ 
wärts strebende, nach Nahrung suchende vordere Pol ihn allmäh¬ 
lich in die Streckung und Längsausdehnung gebracht hat. Dadurch 
wurden die Außen- und Innenhüllen mehr und mehr zu sack- oder 
röhrenförmigen Gebilden und dadurch wurde auch der gleichmäßige 
sphärische Nervenplexus längsgestreckt. Bei der Verdichtung und 
Konzentration des Plexus bildeten sich entsprechend nervöse Längs¬ 
bänder, die am vorderen und hinteren Pol konvergierten und sich 
vereinigten. Es entstand durch solche Längsstreckung eine Bilatera- 
lität, die zunächst eine scheinbare ist, indem sie nur durch die Längs¬ 
streckung vorgetäuscht, in Wirklichkeit eine langausgezogene ge¬ 
schlossene Kette darstellt. Diese langgezogene ringförmige Bildung 
gewinnt dann mehr den Ausdruck der bilateralen Symmetrie, durch 
Spaltung des Körpers in metamere Abschnitte und entsprechende 
Bildung von metameren isolierten nervösen Ganglien in den Längs- 



Fig. 43. 

Menschlicher Fötus. 



96 


strängen. Aber die Kette bleibt trotz der beiderseitigen lokalen 
Einbauten von Ganglienzellmassen immer eine geschlossene. Dieser 
Zustand bleibt auch der gleiche, ja er wird nach beiden Richtungen 
noch sinnfälliger nach Einbau des Zentralkanals in die Nervenmasse 
bei den Wirbeltieren. Wenn man die Entwicklung des Nerven¬ 
systems bei den Wirbeltieren verfolgt, so sieht man, daß es zunächst 
ein einfaches gleichmäßiges Xervenrohr bildet, welches sich nur am 
vorderen Abschnitt bläschenförmig erweitert. Von einer bilateralen 
Symmetrie ist nichts zu erkennen. Die Wand des Rohres ist überall, 
soweit sich das mit den gegebenen Untersuchungsmitteln fcststellen 
läßt, vollkommen gleichmäßig gebaut. Die ganze Matrix, aus der 
alles weitere sich bildet, ist ein geschlossener schmaler langgestreck¬ 
ter Ring, und ein solcher bleibt er auch als Ganzes in seiner weiteren 
Ausbildung bis zum endgültigen fertigen Bau von den niedersten 
Vertebraten bis zum Menschen. Die bilateralen zentralen Bildungen, 
die man bei Verfolgung der Entwicklung des Zentralnervensystems 
immer mehr auftauchen sieht, sind späterer Erwerb und entsprechen 
vollkommen dem bilateralen Ein- resp. Ausbau am Körper. Sic sind 
daher auch je nach der tierischen Organisation variabel, während 
der Grundstock überall gleich bleibt. Während die Matrix die alte 
gleiche Form des geschlossenen Ringes beibehält, nur daß sie durch 
Abgabe von Xeuroblasten an die Außenzonen des Nervenrohres sich 
verschmälert, entwickeln sich in der von TI i s sog. Mantelschicht die 
einzelnen nervösen Zentren in ähnlicher Weise, wie sich bei den 
Wirbellosen in den zunächst gleichmäßigen nervösen Längssträngen 
die Ganglienknoten als lokale Zentren für die einzelnen Metamercn 
ausbildeten. Aus beiden gehen dann auch auf beiden Seiten die 
Xervonfasersysteme. sowohl peripherische wie zentrale, hervor. Im 
fertigen Zentralnervensystem der Wirbeltiere ist die sog. graue 
Bodenmasse die zentrale gleichmäßig das ganze Nervenrohr durch¬ 
ziehende Schicht, die rein als solche, d. h. abgesehen von Nerven- 
kemen. welche sich in sie einlagern, den ursprünglichen, gleich¬ 
mäßigen Ring repräsentiert, aus dem das Nervensystem in seiner 
einfachem Gestaltung bestand, und welches die asymmetrische Ge¬ 
schlossenheit des Ganzen am sinnfälligsten zur Anschauung bringt. 
Aber auch die eingelagerten Schichten des Zentralnervensystems, 
wenn sie auch entsprechend der sich am Körper einbauenden bilate¬ 
ralen Gebilde, bilateral gelagerte nervöse Zentren erhalten, formen 
und runden sich zu geschlossenen einheitlichen Ringen ab, indem sie 
in ihrem langgestreckten Verlaufe durch Kommissuren oder durch 
die .Mittellinie überschreitende kreuzende Bahnen sich vereinigen. 



97 


Neben den einzelnen Zentren, die sich in die graue Grundsubstanz 
einlagern und von denen isolierende Bahnen ausgehen bzw. in sie 
einströmen, enthält diese Substanz noch den feinen Nervenlilz (bei 
den Wirbellosen die sog. Punktsubstanz), der sieh diffus durch ihre 
ganze Länge hinzieht. Diese graue Grundsubstanz mit ihrem Nerven¬ 
lilz repräsentiert wohl die Zentralisation der Einheitlichkeit des 
Körpers. Die einzelnen Zentren mit ihren Bahnen dienen, wie ich 
glaube, ausschließlich isolierenden Betätigungen, während in der 
grauen Grundsubstanz jener leise flutende Lebensstrom dahinfließt, 
wie er vielleicht bei einem ruhig schlafenden Menschen auf- und ab¬ 
wallend den Funktionszusammenhalt des Ganzen, d. h. aller zellu¬ 
lären Elemente, bewirkt. 

4. Wie sind die Kreuzungen der Nervenbahnen 

entstanden. 

Diesen Verhältnissen ist bei der Parallele, die nun zwischen der 
Ausgestaltung des Nervensystems und des Körpers gezogen werden 
soll, vollauf Rechnung zu tragen. Freilich rein ohne die entsprechen¬ 
den Funktionsleistungen mit zu berücksichtigen, läßt sich die Pa¬ 
rallele schwer durchführen, weil Gestalt und Funktion so mitein¬ 
ander verkettet sind, daß eine Scheidung schwer möglich ist. Doch 
bezieht sich das Funktionelle nur auf allgemeine und einfach ver¬ 
ständliche Reaktionen. 

Die einfachste Form des tierischen Körpers, in welchem sich 
zuerst ein Nervensystem gebildet hat, ist ein einfacher ineinander 
gestülpter Sack, und das Nervensystem ist ein in den beiden Lagen 
des Sackes liegendes und in seinem ganzen Umfange gleichmäßig 
sich ausbreitendes Netz von interzellulär verbundenen Nervenzellen. 
Dieses Netz von Nervenzellen und Nervenfasern entspricht nicht nur 
der einfachen sackförmigen Körperform, sondern auch den gleich¬ 
mäßig verteilten Sinneszellen, welche die Reize von der Außenwelt 
aufnehmen, sowie dem gleichmäßigen Muskelschlauche, welcher die 
einfachen Bewegungen des Gesamtkörpers bewirkt. Denn die ge¬ 
ringen Bewegungen, die diese niederen Tiere ausführen, sind wohl 
im wesentlichen solche, welche leicht wellenartig den gesamten Kör¬ 
per durchfluten und ein leichtes Vorstrecken und Zurückziehen des 
Körpers bei in Stöcken festsitzenden Tieren oder ein Auspressen und 
Wiedcraufnehmen von Wassermengen z. B. aus dem Glockeninhalt 
von Medusen bewirken, wodurch eine langsame Ortsbewegung erfolgt. 

Dieses Nervennetz bildet den Grundstock der Nervenanlage des 
gesamten Tierreiches, soweit es überhaupt Nerven besitzt, und von 



98 


diesem Netze aus muß alle weitere Ausbildung des Nervensystems 
abgeleitet werden. Wenn man sieh ein solches Netz plastisch vor 
Augen hält, so ist es ein .System von kontinuierlich verbundenen und 
sich ii be r k r e u z e n d e n Bahnen, und bei den nun in höheren 
Entwicklungsformen sich einstellenden Konzentrationen und Iso¬ 
lierungen mußte daraus ein System von teils ungekreuzten, teils ge¬ 
kreuzt verlaufenden Bahnen entstehen. 

Die erste Zentralisation und zugleich auch die erste Isolierung 
bildet sich um die MundöiTmtng des Tieres, und hier hat diese Kon¬ 
zentration und Zentralisation sich dauernd gehalten und hat allmäh¬ 
lich in der weiteren Entwicklung immer höhere Grade erreicht. Hier 
setzte sich (sit venia verbo) die Seele fest. Durch die vordere Ein¬ 
gangspforte muß dasjenige hindurchgehen, was das Tier am Leben 
erhält, und mit dieser Eingangspforte muß es nach dem streben, was 
es zur Lebenserhaltung lrenötigt. Der Lebensdurst konzentriert sich 
hier und muß hier notgedrungen immer mehr an Schöpferkraft zu¬ 
nehmen. 

Der primitive Mund, die einfache Mundscheibe, reicht bald 
nicht mehr aus, um das Bedürfnis zu befriedigen. Das Werkzeug 
muß sich vergrößern und vervollkommnen, es muß weiter in die 
Außenwelt ausgreifen können. Es bilden sich demzufolge um die 
MundölTnung herum zahlreiche Fühler und Fangarme, welche die 
Nahrung aufspüren und in die Mundöffnung einstrudeln. Die Fühler 
tasten einzeln das umgebende Medium nach allen Seiten, besonders 
im horizontalen Umkreis, ab, sie bewegen sich dann gemeinsam nach 
innen, nach der MundölTnung zu. sie kreisen das an Nahrung Not¬ 
wendige zwischen sich ein und schieben es der MundölTnung zu. 

Hier gestaltet sich sowohl etwas Isolierendes, indem der ein¬ 
zelne Fühler aufspürt, als auch etwas allgemein Sammelndes, indem 
mehrere oder alle Fangarme sich zu einer gemeinsamen Aktion zu¬ 
sammentun: denn diese am Munde befindlichen Fangarme kann man. 
wie schon erwähnt, als eine gespaltene rüsselartige Vorstülpung 
des Mundtrichters betrachten, welche in ihrer Konfiguration zum Teil 
isoliert, im wesentlichen aber wie der Mundtrichter selbst als gemein¬ 
sames tömzes sich betätigen können. Dieser Isolations- und Sammel- 
apparat hängt nun als Auswuchsapparat mit dem übrigen sack¬ 
förmigen Körper zusammen. Letzterer wird von einem Nerven¬ 
apparat geleitet, der aus einem netzförmigen Plexus besteht. Dieser 
netzförmige Apparat geht, wie die Untersuchungen ergeben, auch 
in den Auswuchsapparat über. Beide, der Nervenplexus des eigent¬ 
lichen Körpers und derjenige dos Auswuchsapparates, müssen mit- 



99 


einander in Beziehung treten, der eine muß in seiner Betätigung und 
Struktur sich dem anderen anpassen, es muß ein nervöser Wechsel¬ 
strom hin- und herfluten. Das geschieht durch eine ringförmige 
Kondensation der nervösen Elemente an der Grenze zwischen beiden, 
in der Vermehrung von Nervenzellen und in der Ausprägung 
isolierender Bahnstrecken. Da die Grundform des Baues des Nerven¬ 
systems des Tierkörpers der Nervenplexus ist, und aus diesem sich 
die Weiterentwicklung vollzieht, so können sich die für die Fühler 
und Fangarme nötigen Nervenbahnen aus diesem in dem ring¬ 
förmigen Netze sich überkreuzenden Bahnen doch 
nur so isolieren, daß sie ihrem bisherigen Verlaufe 
entsprechend sich nach vorhergehender Über¬ 
kreuzung in die einzelnen Abteilungen begeben. 
Diese Überkreuzung braucht naturgemäß keine vollständige zu sein, 
und es wird von besonderen Umständen, die sich im einzelnen 
schwer enthüllen lassen, abhängen, ob bald mehr überkreuzende, 
bald nicht kreuzende Bahnen sich in die einzelnen Anhänge ergießen. 

Die Isolierung greift nun mit der weiteren Entwicklung des 
Tierkörpers weiter um sich, und zwar in doppelter Weise, einmal 
indem der bisher ganz kontinuierliche und einheitliche Körper sich 
gliedert, und zweitens indem jedes Metamer nun auch seine beson¬ 
deren Anhänge erhält, die es in besonderen isolierten Kontakt mit 
der Außenwelt setzt. Angebahnt wird diese ‘Isolierung durch die 
Bildung der Längsstränge mit ihren Kommissuren und ihren ab¬ 
gebenden Seitenästen. Die Längsstränge sind der Längest reck ung 
des Körpers folgende linienartige Kondensationen des Nervenplexus 
und die Kommissuren und Seitenäste sind quere linienartige Konden¬ 
sationen als erste Spuren, die sich eingraben, um die weitere Meta- 
inerie auszugestalten. Wie der Körper zunächst seine erste scharf 
abgegrenzte Konzentrierung in Form eines Nerventinges oder 
Ganglions an der Grenze zwischen Ösophagus und Mundanhängen 
erhielt, so erhält jetzt jedes Körperglied seine eigene Nervenkonzen- 
trierung in gleicher Weise, d. h. es sammeln sich in ihm Nervenzellen 
lokalisiert an und ebenso verdichtet sich in ihm der Nervenplexus. 
Beide vereint ballen sich zu einem Ganglion zusammen, und so zieht 
durch den ganzen Körper eine Kette von Ganglien hin. deren Zahl 
der Anzahl der Metameren entspricht. Verschmelzen mehrere honto- 
nome Glieder zu einem größeren einheitlichen Gliedabschnitt, so ver¬ 
schmelzen auch mehrere kleine Ganglien zu größeren, und diese Ver¬ 
schmelzung schreitet allmählich so weit fort, bis bei den Vertebraten 
alle zu einer einheitlichen Masse verschmolzen sind. 

J acobsohn-Lask, Die Kreuzung der Nervenbahnen. ( AbhdJ. H. 20) 


7 



— 100 


Neben der Konzentrierung' und Verschmelzung geht aber immer 
die Isolierung von Nervenbahnen einher, weil der Körper wesentlich 
durch Isolierungen zur Vervollkommnung gelangen kann. Zunächst 
sind zwar die Metameren noch ziemlich gleichartig organisiert, aber 
sie reihen sich als selbständige Teile doch hintereinander an. Der 
Körper agiert nicht wie früher in seiner Gesamtmasse, sondern mehr 
in der Aufeinanderfolge dieser einzelnen Glieder; jedes hat sein 
Aktionszentrum, das in Beziehung zu anderen steht. Ein Reiz, der 
das eine trifft-, pflanzt sich bei genügender Stärke auf das andere 
fort. Hierbei hat das vorderste Zentrum am Schlunde die Führung, 
d. h. alles flutet zu ihm hin und flutet wieder auf alle zurück, denn 
von ihm gehen die Hauptregungen, anregende und hemmende, aus. 
So müssen sich also isolierte Bahnstrecken bilden, welche die einzel¬ 
nen Ganglien miteinander in Verbindung setzen. Diese Bahnen sind 
teils alter Besitz, d. h. sie haben sieh schon früher aus der ersten 
Konzentration am Schlunde und aus dem allgemeinen Nervenplexus 
gebildet (Ventral-Dorsal-Lateralstränge mit ihren Kommissuren), teils 
bilden sie sich bei jedem Ganglion neu, indem neue Nervenzellen ent¬ 
stehen und sich lokal anhäufen und diese Nervenzellen Anschluß 
nach zentral und nach der Peripherie erstreben. Da jedes Ganglion 
aus Nervenzellen und einem Nervennetz besteht, so mußte sich bei 
der Isolierung der Bahnen aus dem Netz auch hier wie bei dem 
oralsten Ganglion ergeben, daß sich diese Bahnen teils über- 
kreuz e n , teils ungekreuzt verlaufen. 

Es konnte sich nach Bildung der Ganglien die Überkreuzung der 
sich isolierenden Bahnen in der Medianlinie naturgemäß nur inner¬ 
halb der (Janglien vollziehen, wie es vorher die Kommissuren gewesen 
sind, an denen der Übergang der Fasern von einer Seite auf die 
andere sich vollzogen hatte. Die Kommissuren waren zunächst die 
sinnfällige Ausprägung der Kreuzungen und später die Ganglien, die 
an ihre Stelle traten. Die Kommissuren resp. Ganglien sind also die 
Vorläufer der eigentlichen Kreuzungen, welche alle ihre eigenste 
Wurzel im primitiven Nervenplexus haben, der ringförmig die 
Körpersehlüuehe umfaßt. 

Auf die Konzentrierung und Isolierung haben dann in zweiter 
Reihe auch die äußeren Anhänge, d. h. die Sinnes- und Bewegungs¬ 
apparate eingewirkt, welche die Körperabschnitte in der weiteren 
Entwicklung erhielten. Diese Anhänge bildeten sich, wie vorher 
geschildert wurde, als reifen- bzw. zangenförmig gestaltete und funk¬ 
tionierende Werkzeuge aus. Diese Form und Funktion mußte auf 
den Verlauf der sich aus dem Netze isolierenden Bahnen gleichfalls 



101 


einen grüßen Einfluß ausüben. Hierbei ist natürlich schwer zu sagen, 
ob der Einfluß des sich ausbauenden Nervensystems mehr auf die 
Gestaltung der Anhänge oder umgekehrt die durch die Funktion be¬ 
dingte Ausgestaltung der Anhänge auf die Ausgestaltung des Nerven¬ 
systems eingewirkt hat. Es greifen hier die Faktoren so ineinander, 
daß das Primäre vom Sekundären schwer zu trennen ist. Die Reize, 
welche in diese halbringförmigen Anhänge eindrangen, konnten nur 
in ringförmigem Laufe in das Innere des Körpers und in das Zentral¬ 
nervensystem hineingelangen, und denselben Weg mußten auch die 
Impulse nehmen, die, im Zentralnervensystem geweckt, auf die 
Muskulatur der Anhänge ausstrahlten, um jene Grundaktion der 
Anhänge, nämlich ihren Zusammenschluß, sei es zum Fassen der 
Nahrung, zum Festhalten des Körpers auf einer Unterlage, sei es 
zum Umklammern beim Geschlechtsakt, zu bewirken. Der Weg an 
der ganzen Körperperipherie, der zum Zentralorgan hin und von ihm 
zur Peripherie führt, sei es am geschlossenen Körper, sei es an den 
losen Anhängen, ist ein ringförmiger. Diese Wege führen nun in 
eine Nervenmasse, die ringförmig um einen Schlauch liegt, oder die, 
wie bei den Wirbeltieren, den Schlauch, d. h. den Zentralkanal, in 
sich hat. So ist es begreiflich, daß die peripheren Nervenbahnen, 
wenn sie von links und rechts in diese schlauchförmige zentrale 
Nervenmasse eintraten, bzw. aus ihr auszutreten im Begriffe waren, 
wie zwei sich entgegenkommende Ströme sich zum erheblichen Teile 
überqueren mußten. 

Der weitere Fortschritt vollzog sich nun ständig in der gleichen 
Linie. Den zunehmenden Isolierungserscheinungen am Körper mußte 
sich ständig das Nervensystem unpassen. Es sammelten sich immer 
mehr Nervenzellen im Zentralnervensystem an und lokalisierten sich 
zu kleinen oder größeren Zentralstationen und aus dem diffusen, 
zentralen Nervennetz isolierten sich dementsprechend immer mehr 
einzelne Bahnen, welche diese Zentren miteinander und mit der 
Peripherie verbanden. 

Trotzdem sich der tierische Körper immer mehr in einzelne 
strukturelle und funktionelle .Sonderabteilungen isoliert hatte, so 
konnte er doch andererseits seine Einheitlichkeit dadurch bewahren, 
daß sich die Sonderabteilungen den einheitlichen Grundmauern des 
Körpers einfügten. Das fand auch seinen entsprechenden Ausdruck 
im Bau des Zentralnervensystems, indem sich einerseits für einheit¬ 
liche Sonderfunktionen zusammenfassende Zentralstationen ausbil 
deten, von denen aus diese Funktionen geleitet wurden, und indem 
andererseits die einheitliche nervöse Grundsubstanz in Form des 
feinen durch das ganze Zentralnervensystem hindurchziehenden 



— 102 


Nerven nutzes resp. Nervenfilzes zum großen Teil erhalten blieb, durch 
welche die Nervenenergie in gleichmäßigem Strome durchfließend die 
funktionelle Tätigkeit und den Zusammenhang aller zellulären Ele¬ 
mente des Körpers erhielt. 

Überblickt man das Gesagte, so ergibt sich, daß die allgemeine 
Erscheinung der gekreuzten und ungekreuzten Nervenbahnen aus 
dem Gefüge des primitiv gebauten Nervensystems mit seinen späte¬ 
ren Konzentrationen und Isolierungen sowohl strukturell wie funk¬ 
tionell seine volle Erklärung findet. 

Die Kreuzung der Nervenbahnen an sich hat also seine Ursache: 

1. In der Grundgestalt des primitiven Nerven 
Systems, dem Nerve n plexu s. 

2. In der Grundgestalt des tierischen Körpers, 
der schlauchförmig a n g e 1 e g t ist. und der 
diese G rund g o s t a 11 a u e h ständig weiter 
b e h ä 11. 

fl. I n der funk t i o n e 11 e n u n d strukturelle n A n - 
passung des Nervensystems an diese tierische 
G r u n d g e s t a 11 und an alle die bilateralen E i n - 
un d Ausb auton. w eiche der tierische lv ö r p er 
in seiner weiteren E ti t w i e k 1 u n g erb ä 1t. 

Die Tatsache, daß im Zentralnervensystem vielleicht schon der 
Wirbellosen, sicher alter der Wirbeltiere, die Zahl der kreuzenden 
Fasern diejenige der nichtkreuzenden überwiegt, findet wohl auch 
schon aus der Gestalt des primitiven Nervengewebes seine Erklä¬ 
rung. Mag das Nervennetz nun ein anastomosierendes sein, wie die 
einen Forscher es deuten, mag es eine Durchflechtung von Fasern 
sein, wie die anderen es annehmen, das ist für unser Problem ganz 
gleichgültig. In beiden Fällen überkreuzen sich die Fasern entweder 
locker oder netzförmig. Es ist wohl ganz natürlich, wenn man an- 
nimntt, daß die aus diesem Netze sich erst isolierenden und sich dann 
zu kleinen Bahnstrecken zusammenballenden, oder die im Geflechte 
schon isolierten und also sich gleich zu kleinen Einheiten zusammen¬ 
ballenden Fasern der vorliegenden und ererbten Richtungstendenz 
ihres Verlaufes der Mehrzahl nach weiter folgen, d. h. daß sie sich 
in ihrem isolierten Verlaufe zum großen Teil weiterkreuzen. Bei 
dieser Isolierung werden sich Nervcnfibrillen zu stärkeren Fasern 
zusammensehweißen. Die stärkeren können sich wieder Y-artig 
teilen, wobei der eine Ast homolateral, der andere heterolateral 
weiterzieht und so Kreuzungen überall zustande kommen. 

Alter außerdem war zur Erzeugung der vielen Kreuzungen noch 
der Umstand so wichtig, daß das Zentralnervensystem einen röhren- 



103 


förmigen Kanal (den alten Digestiemstraktus) umlagert und sieh 
mit ihm konsolidiert hatte. Wie in den ersten Anfängen der Zentra¬ 
lisation bei den niederen Würmern die Nervenbahnen einen Ring um 
den oralen Ausgangsteil des Digestionstraktus bilden und aus diesem 
Ring naturgemäß auch immer viele von der Regenseile kommende 
Fasern in die Mundanhänge gehen, so müssen später, wo das ganze 
Zentralnervensystem das zentrale Rohr ringförmig umgibt, die 
isolierenden Nervenbahnen konzentrisch ringförmig um diesen Kanal 
laufen und müssen, wenn sie sich von beiden Seiten begegnen, an 
der Begegnungsstelle überkreuzen. Solche bogenförmig verlaufenden 
Fasern sieht man dementsprechend in ganz charakteristischer Weise, 
wenn sie aus einer Station herausgekommen sind, in verschieden 
weiten Abständen um den Kanal herumlaubm und zumeist im ven¬ 
tralen Teil der Nervenmasse sich in der Mittellinie überqueren. Von 
solcher Cberkreuzungsstelle gehen die Bahnen dann entweder im 
gleichen Niveau zur Peripherie oder sie laufen eine kürzere oder 
längere Strecke 4 — und zwar eine um so längen», je weiter sich das 
Zentralnervensystem entfaltet hat — in der Achse entlang zu ihnen 
sich anreihende und funktionell zugehörige Stationen. Daß dio 
Bahnen sich mehr in der ventralen Region üherkreuzen, liegt daran, 
daß diese Region die Hauptmasse 4 der nervösen Substanz enthält, 
während die dorsale Region dünn, stellenweise epithelartig bleibt. 

Der Übergang der Bahnen über die Mittellinie in verschieden 
schräger Richtung ist. wie man sieht, erst möglich geworden, als die 
einzelnen isolierten Ranglien zu einer einheitlichen (Gesamtmasse sich 
verschmolzen hatteil. Der Fnterschied zwischen Kommissur und 
Kreuzung ist demnach kein prinzipieller, sondern nur ein distan- 
zieller. Beide haben das (Gemeinsame, daß es Fasern sind, die von 
einer Seite über die Mittellinie 4 zur anderen Seite 4 hiniil>erg<diem. wobei 
die Kommissuremfasern den kürzesten Weg einschlagem. um die kon- 
tralaterale* Seite 4 zu erreichen! und eiort unmittelbarem Anschluß zu 
gewinnen. Es ist nur in wemigem Fällen auf histologischem We i ge 
möglich, die sog. Kommissuremfasern von dem Dekussationsfasern zu 
trenmm und man kann da sehr willkürlich verfahren. Ma i stützt 
sich bei eleu* rnten'scheddung der bohlen Fasewarten auf ein funktio¬ 
nelles Momemt. Diejenigen Faseun. wedeln 4 zwei bilatewale homologe 
Zentren mite 4 inaneh 4 r ve 4 rbindem. ne 4 nnt man Kommissuremtase tu. und 
diejenigen, wededie* zwe 4 i lmtewologe ve 4 rednigen. nennt man Kreuzun¬ 
gen. Dabei entstedit aber die Schwierigk( 4 it. was als einheitliches 
homologes Zentrum zu gedtem hat. de kleinen* elie‘se 4 s Zemtrum g<»- 
nommem wird. <1. h. je medir größere 4 Zemtralgebiete in kle 4 ine 4 re 4 zer- 



104 


spalten werden, um so geringer wird die Zahl der Kommissuren — 
und um so größer die Zahl der Dekussationsfasern werden und um¬ 
gekehrt, und im Extrem kann das dazu führen, daß man entweder 
nur Kommissuren- oder nur Dekussationsfasern gehen läßt. Das 
beste Beispiel dafür ist das Balkensystem. Nimmt man jede 
Hemisphäre als ein abgeschlossenes einheitliches Ganzes, so sind 
natürlich die beide Hemisphären miteinander verbindenden Fasern 
Kommissurenfasern. Nimmt man aber in jeder Hemisphäre getrennt 
gelagerte einzelne Zentren an, die selbstverständlich zu einer größe¬ 
ren Einheit zusammengefaßt sind, und berücksichtigt man, daß die 
von einer Hemisphäre zur anderen hinübergehenden Balkenfasern 
nicht nur die genau sich entsprechenden einzelnen Zentren der beiden 
Hemisphären miteinander verbinden, sondern daß durch diese Fasern 
ein einzelnes Zentrum der einen Hemisphäre mit verschiedenen, weit 
voneinander entfernt liegenden Einzelzentren der anderen Hemi¬ 
sphäre verbunden ist (Cajalj, so kann man das Balkensystem als 
ein gemischtes System von Kommissuren- und Kreuzungsfasern auf¬ 
fassen, wobei naturgemäß wieder die kreuzenden die kommissuralen 
an Zahl ganz bedeutend überwiegen. Denke ich mir nun die ganze 
übrige Hirnachse gewissermaßen anatomisch und funktionell als ein 
Gegenstück zu den Hemisphären, so habe ich dasselbe Verhältnis, 
d. h. auch zwei im Gegensatz zu den Hemisphären zu einer, sagen 
wir. niederen Einheit zusammengefaßten zentralen Nervenmasse mit 
wer weiß wie vielen Einzelzentren. Diese sind jederseits in der 
ganzen Medianlinie zwar nicht durch eine so kompakte Lage von 
querlaufenden Fasern, wie es der Balken ist. sondern durch ver¬ 
schieden zersplitterte und einzeln lagernde kommissurale und kreu¬ 
zende Faserbündel verbunden. Vergleicht man die Verhältnisse so. 
dann ist der Enterschied zwischen Kommissurenfasern und kreuzen¬ 
den Fasern ein rein äußerlicher. Daß beide Faserarten von der einen 
auf die andere Seite übergehen, entspringt aus der gleichen Ursache. 
Beide nehmen ihren Ursprung aus der netz- resp. getleehtartigen Ver¬ 
bindung der Nervemdemente bei den niederen Formen der Wirbel¬ 
losem. 

Es ist zuletzt noch die Frage zu beantworten, welches die 
Ursache ist. daß im Zentralnervensystem neben unvollständig kreu¬ 
zenden Bahnen auch vollkommen kreuzende existieren. 

Man muß sieh freilich darüber klar sein, daß die Zahl der total 
kreuzenden Bahnen im Zentralnervensystem, wenigstens soweit sie 
ein einheitliches funktionelles System darstellen, bei den höheren 
Tieren und heim Menschen eint* recht beschränkte ist. Wie das 



— 10Ö — 


Verhältnis bei den niederen Wirbeltieren ist. darüber herrschen recht 
verschiedene Ansichten. Aber ebenso wie es unrichtig ist, daß die 
Leitungsfasern bei den Wirbellosen fast ausschließlich homolateral 
verlaufen, so ist es auch nicht richtig, daß die Bahnen bei den 
niederen Wirbeltieren ausschließlich heterolatcral, also gekreuzt, 
verlaufen, daß. wie (’ajal anführt, die totale Kreuzung das Pri¬ 
märe und die teilweise Kreuzung erst sekundär aus der totalen ent¬ 
standen ist. C a j a 1 ist zu dieser falschen Einstellung gekommen, 
weil er die Sehnervenkreuzung zum Ausgangspunkt seines Lösungs¬ 
versuches des Problems gemacht hat, und weil er der Ansicht ist, 
daß diese Kreuzung auch alle anderen verursacht hat. Daß diese 
Annahme ganz unhaltbar ist, glaube ich durch die voranstehenden 
Darlegungen erwiesen zu haben. Wo totale Kreuzungen vorhanden 
sind, da sind sie entweder aus partiellen hervorgegangen oder es 
liegen wahrscheinlich vereinzelte besondere Bildungen vor. deren 
Zustandekommen noch umstritten ist. Cajal beruft sich für seine 
Annahme auch auf Untersuchungen von Edinger an niederen 
Wirbeltieren. Indessen, wenn sich Edinger im C a j a 1 sehen Sinne 
geäußert haben sollte, so ist er wohl auch einem Irrtum unterlegen. 
Ich habe schon vorher (S. 82) die Verhältnisse dargestellt, wie sie 
am Rückenmark vom Ammocoetes von Kolm er und Arie ns 
Kappers und an der Froschlarve von v a n 0 e h u c h t e n geschil¬ 
dert wurden, und ich möchte zum weiteren Gegenbeweis hier nur 
noch einiges aus der zusammenfassenden Schilderung anführen, die 
.lohnst o n über das Gehirn der A n a m n i e r gibt. Aus dieser 
Zusammenstellung greife ich nur das heraus, was der Autor über 
den Faserverlauf im Zwischen- und Mittelhirn anführt, wobei die 
Ausdrücke ..gekreuzt“ und ..nichtgekreuzt“ und sinnentsprechende 
Angaben durch Sperrdruck von mir hervorgehoben sind: 

1. M i 11 e 1 h i r n. ..Die Wuizelfasern von III k r e u z c n wahrscheinlich 
immer teilweise. Diese Kreuzung ist gröber bei Petiomvzon als bei 
höheren Formen. Die IV Nerven verlaufen immer dorsal durch die Seifen¬ 
wände des Mittelhirns und kreuzen bei ihrem Austritt an der Dorsal- 
tläelie zwischen dem Tectum und (’erebellum. Der grüble Teil der Hus.nl- 
region besteht ans kreuzenden Länusfaserbahnen. welche denen in der 
Hasis der Medulla oblongata entsprechen. — Die aufsteigenden Trakte zum 
Tectum sind aus inneren Hogenfasern von den somatisch-sensorischen Zentren 
der Medulla und des Kückemnarks zusammengesetzt, welche entweder un¬ 
mittelbar nach dem Austritt aus ihren Kernen kreuzen, oder nachdem sie 
nach vorn zur Basis des Mittelhirns gelangt sind. Fasern vom Vorderende 
des Acusticums oder Cerehellmns kreuzen direkt in der Basis des Mittel¬ 
hirns. Die alisteigenden Trakte sind für die motorischen Kerne der Medulla 
und des Rückenmarks bestimmt. Die kreuzenden Bahnen bilden in der Basis 
des Mittelhirns eine besondere Schwellung der ventralen Kommissur des 



— km; 


Markts und der Medulla, die unter dem Namen der Oommissura ansulata 
bekannt ist. 

Das sekundäre somatisch-sensible Zentrum bildet den größten Teil des 
Teetums. Es besteht aus großen Zellen von sehr verschiedener Form. Die 
Fasern, welche von diesen Zellen ausgehen, bilden den Traetus teeto-lobaris. 
den Traetus teeto bulbaris und den Traetus teeto-cerebellaris. Diese Rahnen 
entspringen alle von der tiefen und der oberflächlichen Fasersehieht. Der 
Traetus teeto-lobaris entsteht teilweise oder ganz in der Form von Kollateral- 
ästen von den Fasern des Traetus tecto-bulbaris. Er geht zu den Wänden 
der Lobi inferiores. wobei ein g r o ß e r Teil d e s s e 1 b e n in der post- 
optischen Kreuzung und in der Kornmissura ansulata auf die gegen- 
ii b erlieg e n d e S eite ii b e r t r i 11. Der Traetus tecto-bulbaris geld 
nach der latero-ventralen Seite der Medulla und entsendet Kollateralen und 
End Verzweigungen zu den motorischen Zentren der Medulla und des Rücken¬ 
marks. E r kreuz t t e i 1 \v e i s e in der Kornmissura ansulata. Der Traetus 
teeto-eerebellaris geht z u alle n T e 1 1 e n des Cerebellums. Außer den er¬ 
wähnten Faserbahnen muß die große dorsale Kreuzung genannt 
werden, welche die beiden Hälften des Teetums auf seiner ganzen Länge ver¬ 
bindet. Diese Kreuzung enthält wahrscheinlich echte Konmiissuralfaseru 
zwischen den beiden Seiten des Teetums. aber es ist nicht bestimmt bekannt, 
ob die Fasern alle von dieser Art sind, oder ob sie teilweise kreuzende Fasern 
sind, bestimmt für andere Teile des Gehirns.“ 

2. Z w i s e h e n h i r n. ..Die Xticlei hahenulae empfangen den Traetus 
olfaeto-hahenularis von den olfaktorischen Kernen des Vorderhirns, dessen 
Fasern m e h r o d e r w e n i g e r voll« t ä n d i g in der oberen Kommissur 
k r e u z e n. Allein Anschein nach k r e u z t ein 1) e t r ä e h t 1 i c h e r 
T eil des r e c h t e n I» ii n d e 1 s nicht, s o n d e r n endet a u f d e r - 
seihen Seite, und so erklärt sich die größere Ausdehnung des rechten 
Kernes. Der Hypothalamus empfängt Fasern von den olfaktorischen Kernen 
des Vorderhirns, den Traetus olfaeto-loharis, welche in jeder Weise denen des 
Traetus olfaeto-hahenularis ähnlich sind. Sie verteilen sieh zu allen 
Teil e n des Hypothalamus. Der Hypothalamus besteht aus zwei Kernen, den 
Lohi inferiores und dem Korpus mammillare. — Die Neunten der Zellen der 
unteren Lappen verlaufen zum Teile nach vorne und aufwärts und kreuzen 
hinter dem Khiasma. zum Teil aufwärts und rückwärts ohne Kreuzung. 
Die direkt e n und ge k re u zt e n Bahnen verlaufen durch das Mittelhirn 
nah» 1 beieinander und enden im (Vrebellum und der Medulla oblongata. 
Traetus lohc-bulharis et cerebellaris. Die Neuriten vom Korpus mammillare 
gehen teilweise zur Medulla: Traetus mammillo-hulbaris. teilweise zum Epi- 
striatmn: Traetus lobo-epistriatieus. E i n T eil dieser Bahne n k l* e u z t 
in der vorderen Kommissur, außer hei Petminyzon. wo die Kreuzung hinter 
dem ('hinsinn. stattflndet. Ä h ii 1 i e h e K r e ti z u n g e n eines Teiles 
il c s basalen Bündels hinter dein Khiasma sind in anderen Formen 
beschrieben worden. — Die Lobi inferiores empfangen auch groß* 1 Bahnen 
vom 'rectum *1 i r e k t e ii n d ge k r e u z t e. — Die optischen Trakte treten 
in die Baris *les Zwisehenhirns ein. erleiden eine v o 1 1 s t ä n d i g e K r e u 
z u ii g uml emlen in versehieilenen Kernen »ler gegenüberliegenden Seite.“ 

Diese phylogenetisch alten Rahnen zeigen also teils Kreuzung, 
teils liomolateralen Verlauf. Diesen doppelseitigen Verlauf zeigen 



107 


diese phylogenetisch alten Bahnen nicht nur bei den niederen Wirbel* 
tieren, sondern auch bei den höheren wohl bis herauf zum Menschen. 
Dafür spricht der Gegensatz des mehr doppeUeitigen Symptomen- 
bildes bei Betroffensein der zum extrapyramidalen System gehörigen 
Faseranteile gegenüber dem mehr einseitigen bei BetroiTensein des 
pyramidalen Systems. Dafür sprechen die experimentellen Unter¬ 
suchungsergebnisse von G r a h a m B r o w n und K i n n i e r Wil¬ 
son, über welche letzterer Autor in einer erst ganz kürzlich er¬ 
schienenen ausgezeichneten Arbeit folgendermaßen berichtet: ..In 
respeet to the meseneephalon. note worthy motor reactions arc 
obtainable in the decerebrate animal. VVe owe largely to the work 
of Graham Brown nur knowledge of this part of 11so subjeet. Uni¬ 
polar Stimulation of the cross section of the midbrain obtained by 
decerebration at the level of the anterior colliculi (anterior corpora 
quadrigemina), at a point entirely dorsal to the corticospinal tract in 
the crus. constantly produces a definite, specific postural motor 
reaction on the part of the animal experimented on. Thc area from 
which this result is invariably obtained is dorsal in the tegmentum 
and includes the region of the red nuclous. the part. of the superior 
cerebellar peduucle running to it (tractus cerebellotegmentalisj and 
the posterior longitudinal fasciculus. The attitude is as follows: the 
head is tilted back and also twisted so that the face looks to the 
side stimulated; the homolateral arm is tlexed and the opposite one 
extended: the leg of the same side, on the v'ontrary. is extended and 
the opposite one tlexed (as a rule): tht» tail eiccts and is beut to 
the stimulated side. r Ulic back is usnally sliglitly convex to the 
opposite side. When Stimulation has ceased. the posture may con- 
tinue unchanged for many seeonds. even minutes. From the appro- 
priate area on the opposite side the postnre is obtained reversedA 

Alle diese Ergebnisse sind nur zu erklären durch den doppel¬ 
seitigen Faserverlauf, wobei die kreuzenden Fasern überwiegen. 

Die meisten Leituiigsbahnen sind also nicht einheitlich. d. h. 
entweder gekreuzt oder nicht gekreuzt, sondern sie sind gemischter 
Natur. Zu diesen gemischten Systemen gehören sowohl phylogene¬ 
tisch alte wie auch junge Bahnen, z. B. das Hintere Lüngs- 
b ü n d e 1 einerseits und die S c h 1 ei f e n - V y r a m i d e n b a h n 
andererseits. 

Das Hintere Längsbündel ist wohl das älteste Faser¬ 
system im Zentralnervensystem der Wirbeltiere. Ed in gor sagt 
von ihm (7. Aufl. des Lehrb. p. 24S): ..Es muß ein sehr wichtiges 
Bündel sein, zum Grundapparate des ganzen Mechanismus gehören. 



108 


denn es ist von den Neunaugen an Ins hinauf zum Menschen immer 
an gleicher Stelle vorhanden. Daß es ein uraltes System ist. geht 
auch daraus hervor, daß es in der Fötalperiode zuerst markreif 
wird (Hösel. Monatssehr. f. I'sych. und Neurol., Bd. VII, 1890).“ 

Die Vermutung drängt sieh auf, daß es aus den Längssträngen, 
resp. aus den Faserbündeln, welche die einzelnen Ganglien hei den 
Wirbellosen zu einer gemeinsamen Kette verbinden, entstanden ist. 
Auch bei den Wirbeltieren ist es eine gemeinsame Wegstraße, welche 
in der ganzen Hirn-Rückenmarksachsc dicht ventral von der grauen 
Bodenmasse entlang zieht. Auf dieser Strecke verlaufen in seinem 
Bereich verschiedene Faserzüge eine kürzere oder längere Strecke 
teils auf-, teils abwärts, welche die einfachen niederen Lebenszentren 
miteinander in Verbindung setzen. Der Verlauf dieser Fasern ist ein 
teils gekreuzter, teils ungekreuzter. Dieser Verlauf ergibt sich aus 
der Ilerleitung des Systems von den Wirbellosen ganz von selbst. 

Die Pyramidenbahn und die S c h 1 e i f e n b a h n (Rin¬ 
de n s e h 1 c i f e) sind wohl die jüngsten unter den Projektions¬ 
systemen. Ebenso wie sie in der Hemisphäre ein gemeinsames senso- 
motorisehes Zentrum besitzen, so bilden sie gemeinsam mit ihren 
subkortikalen Kernen ein funktionell zusammengehöriges Faser¬ 
system. und man geht wohl nicht fehl, wenn man annimmt, daß sie 
sich gemeinsam aus dem mehr allgemeinen sensibel-motorischen 
Systeme herausgebildet haben. Die Isolierung ist bei beiden Syste¬ 
men. vielleicht selbst beim Menschen, noch keine absolut vollstän¬ 
dige geworden, weshalb auch noch keine vollständige, aber eine sehr 
hochgradige Kreuzung besteht. Die beiden Bahnen haben sich mit 
den wachsenden Hemisphären nach und nach vergrößert, und ihre 
Wegstrecke hat sich allmählich verlängert. Bei Vergleich der niede¬ 
ren Säugetiere mit den höheren und dem Menschen kann man die 
Zunahme ihrer Faserareale und das Hinabsteigen der Pyramidenbahn 
in das Rückenmark gut verfolgen. Beim Igel und bei der Fledermaus 
z. B. existieren nur ganz winzige Ilinterstrangskerne, und es ist dem¬ 
gemäß bei diesen Tieren nur eine ganz mäßige Schleifenkieuzung 
vorhanden. Die Ilinterstrangskerne entstanden an der unteren 
Grenze der Medulla oblongata wahrscheinlich wegen der Beziehun¬ 
gen. die sie auch zum Kleinhirn haben, und blieben hier ständig 
liegen. Von diesen Kernen gingen wie überall Bogenfasem um den 
Kanal, um sich ventral im gleichen Niveau zu kreuzen. Eine Pyra- 
niidenkreuzung ist aber bei diesen Tieren kaum zu beobachten. Das 
erkennt man schon ziemlich deutlich an normalen Weigert- 
P a 1 - Präparaten. Es ist aber das Fehlen der Pyramidenkreuzung 



beim Igel uml bei der Fledermaus auch noch experimentell von 
meinem Schüler van d e r V 1 o e t festgestellt worden, indem dieser 
Autor nach Exstirpation einer Hemisphäre die Pyramidenbahn mit¬ 
telst der Marc hi sehen Methode nur bis zum unteren Ende der 
Medulla oblongata verfolgen konnte. Für die mehr differenzierten 
Gesichts- und Zungenbewegungen hat sich bei den genannten Tieren 
schon das Schleifen-Pyrainidensystem aus dem allgemeinen sensibel- 
motorischen System heraus isoliert, für die Rumpf- und Extremitäten¬ 
region aber noch nicht. Irn Laufe der Phylogenese entwickelte sich 
nun auch dies besondere System für die Extremitäten in dem Maße, 
als sie feinere Tastempfindungen und feinere intendierte Bewegungs¬ 
aktionen erwarben. Die Hinterstrangsfasern vermehrten sich nach 
und nach, und die Pyramidenfasern, bisher bis an die untere Grenze 
des verlängerten Marks angekommen, stiegen in letzteres herunter. 
Da sich an dieser Grenze die Schleifenkreuzung schon angelegt hatte, 
so paßte sieh das entsprechende motorische System dieser Kreuzung 
an (s. Flechsig S. G), d. h. seine Fasern gingen hier gleichfalls 
eine kompakte Kreuzung ein. wobei sie nun gleichfalls bogenförmig 
um den Zentralkanal laufen. Mit der wachsenden Zahl der Fasern 
aus beiden Systemen nahmen diese Kreuzungen immer mehr an Masse 
zu. Die absteigenden Pyramidenfasern waren mit den sensiblen zu¬ 
nächst so eng verbunden, daß sie zuerst auch in die Hinterstränge 
hinabstiegen. Man kann ihre Lagerung in der Kuppe der Hinter¬ 
stränge noch bei verschiedenen niederen Säugetieren (z. B. bei der 
Ratte) beobachten. Mit der Vermehrung der Hinterstrangsfasen* 
nahmen diese den Raum der Hinterst rängt* immer mehr ein und 
drängten naturgemäß die sieh gleichfalls vermehrenden Pyramiden¬ 
fasern in die Nachbarschaft, also in den angrenzenden Teil der 
Seitenstränge hinein. 

Betrachtet man dieses zerebrale sensibel-motorische System 
noch etwas näher, so läßt sich vielleicht feststellen, warum 
die Kreuzung der Pyramidenfasern eine so wechselnde ist. indem sie 
einmal in kompakter Masse, an einer lokalen Stellt*, das andere Mal 
in kleinen Bündeln in der ganzen Ausdehnung des Hirnstammes und 
Rückenmarks kreuzen. Das wird nur verständlich, wenn man sie 
gleichsam als Zwillingsbruder der Rindenschleife betrachtet. Beide 
Systeme laufen von der Hirnrinde immer dicht beieinander. Das tritt 
bei niederen Säugetieren noch deutlicher in Erscheinung als bei höhe¬ 
ren und beim Menschen. Unterhalb des Hirnschenkelfußes ist die Ver¬ 
gesellschaftung ihrer zum Kopfe gehörigen Anteile so stark, daß der 
motorische Teil vom sensiblen sich schwer abgrenzen läßt, und im 



110 — 


Rückenmark liegen bei niederen Säugetieren die Pyramidenfasern im 
Hinterstrang in dichter Nachbarschaft mit den sensiblen Bahnen. 
.Man kann die Pyramidenbaiin somit in drei Abschnitte teilen: a) der 
zu den motorischen Ilirnnervenkernen gehörige Abschnitt, b) der zur 
Oblongataschleife gehörige Teil, c) der auf die feineren sensiblen 
Erregungen speziell der Hand reagierende Abschnitt. 

a) Der zur Muskulatur des Kopfes gehörige Pyramidenteil kreuzt 
sich in einzelnen Bündeln, weil es sein zugehöriger sensibler Bruder 
auch tut. Der sensible Kern desTtigeminusdehnt sich als schmale graue 
Säule durch die ganze Medulla oblongata und die kaudale Ponshälfte 
aus, und von dieser langen Säule entspringen außer Redoxfasern xere- 
bralwärts strebende sensible Fasern einzeln resp. in kleinen Bündeln 
und kreuzen die Mittellinie. Diesen einzeln kreuzenden Thalamus- 
schleifenfasern haben sich die entsprechenden Pyramidenbahnen voll¬ 
kommen in ihrem Verlaufe angepaßt.*) Am Kopf sind aber noch die 
speziellen zentralen sensorischen Bahnen zu berücksichtigen (Optikus- 
Akustikusleitungen etc.), mit denen wiederum speziell zentrale moto¬ 
rische Bahnen vergesellschaftet sind (Augenmuskelbahnen, zentrale 
Bahnen für Ohrbewegungen etc.). Auch diese Brüderpaare sind wahr¬ 
scheinlich in ihrem Verlaufe und in ihren Kreuzungen gleichartig auf¬ 
einander eingestellt. So entspringt wahrscheinlich vom Okzipital¬ 
lappen eine motorische Bahn, welche eine Strecke lang mit der 
Seilbahn verläuft, um sieh dann von ihr zu trennen und zu den Augen¬ 
muskelkernen zu laufen. Das geht wohl unzweifelhaft daraus her¬ 
vor, daß sich bei Reizungen des vorderen Abschnittes des Okzipital¬ 
lappens (Hund. Alle) Seit wärtsbewegungen der Augen nach der ge¬ 
kreuztem Seite erzielen lassen, l ud ähnlich wird es mit der moto¬ 
rischen Bahn senil, die speziell anspringt, wenn Reizungen am Tem¬ 
pora Happen ausgeführt werden. 

b) Der zur Oblongataschleife gehörige Pyramidenteil hat sich 
der kompakten Kreuzung der Schleife an der unteren Orenze der 
Medulla oblongata angepaßt und kreuzt dicht kaudal von ihr. Die 
Kreuzung der Schleife an dieser Stelle ist wiederum bedingt durch 
die lokale Lagerung der Hinterstrangskerne an der genannten Stelle. 
Pud die Hinterst rangskerne haben sich wahrscheinlich an dieser Stelle 
aimgehihlet. weil sie auch Beziehungen zum Kleinhirn und event. zu 
anderen Oblongatakernen haben. Zwischen beiden unter b) zusam¬ 
mengefaßten Faserarealen besteht wahrscheinlich eine enge funktio- 

*) Ich halte die Ansicht A r i e n s K a p p e r s , daß nur die vom Haupt- 
kern des V. raun Thalamus ziehenden Fasern die Leiter der höheren Sensi¬ 
bilität aus der Knpfreginn sind, für nic ht genügend gestützt. 



111 


nelle Korrelation, die sie in ihrer Lagerung und in ihrem Verlaufe 
so nahe zusammengcbraeht hat. Beide Systeme gehen bei der Kreu¬ 
zung immer bogenförmig um den Hohlraum der Hirnachse herum. 

e) Der auf die feineren sensiblen Erregungen speziell der Hand 
reagierende Abschnitt der Pyramidenbahn ist wahrscheinlich im 
Vorderstranganteil vertreten. Diese Vermutung drängt sich unwill¬ 
kürlich auf durch die Tatsache, daß man diesen Anteil nur bei 
den Affen und beim Menschen findet, und zwar so, daß er beim Men¬ 
schen ungleich stärker ist und auch tiefer ins Rückenmark hinab¬ 
steigt als bei den Alfen. Die Fasern dieses Abschnittes kreuzen wie¬ 
derum in einzelnen kleinen Bündeln, indem sie durch die sog. vordere 
Kommissur bogenförmig ins Vorderhorn der anderen Seite ziehen. 
Warum tun sie «las in dieser Weise? Nun wahrscheinlich deshalb, 
weil sie Beziehungen zu sensiblen Fasern haben, die nicht mit den 
Hinterstrangskernen, sondern mit der sich lang hinziehenden grauen 
Substanz der dorsalen Rückenmarkssäule in Verbindung stehen. 
Beachtenswert ist noch die Tatsache, daß der Pyramidenvorderstrang 
beim Menschen sowohl in seiner Stärke wie in seiner Lagerung (bald 
mehr rechts, bald mehr links) Schwankungen unterliegt. Es wäre 
vielleicht lohnenswert, zu untersuchen, ob sich in der verschieden 
starken Ausprägung dieses Pyramidenanteils nicht nähere Beziehun¬ 
gen zur Rechts- resp. Linkshändigkeit aufiinden ließen. 

Bei der soeben vorgenommenen Analyse der verschiedenen 
Kreuzungsarten der einzelnen Pyramidenanteile wird deren Verlauf 
ohne weiteres verständlich. Die speziellen Verhältnisse passen sich 
dem Vorgänge und dem Werden der allgemeinen Kreuzungen im 
Zentralnervensystem vollkommen an. 

Daß die Pyramidenbahn noch kein vollständig kreuzendes Faser¬ 
system ist. beweisen die klinischen und pathologir-eh-anatomischen 
Erfahrungen. Man findet bei einseitiger Apoplexie auch immer eine, 
wenn auch nur geringe. Mitbeteiligung der homolateralen Körper¬ 
hälfte. 

So konnte ich erst kürzlich folgenden Fall beobachten: Bei 
einem ca. 02 .Iahte alten Manne, der vorher vollkommen gesund war. 
und der keine Lues gehabt hatte, ent wickelte sich langsam bei vollem 
Bewußtsein im Verlaufe von 2—d Wochen eine immer stärker wer¬ 
dende Hemiplegie der linken Körperhälfte, (ielähmt waren linke 
untere Gesichtshälfte, linke Zungenhälfte. linker Arm und linkes 
Bein. Links fehlten die Bauchretlexe. während die Sehnenrellexe an 
der linken Körperhälfte noch keine nennenswerten Veränderungen 
zeigten. Am rechten Bein war der Patellar- und Fußsohlenreflex nicht 



— 112 


auslü>bar. Dioes Bild zeigte sich also in einem ganz fri>chen Falle. 
Aber auch in älteren Fällen findet man gewöhnlich leichte homo- 
laterale Veränderungen. >o eine erhebliche Steigerung der Sehnen- 
rellexe am hninolateralen Dein. 

Auch bei einseitiger Degeneration der Pyramidenbaiin findet man 
gewöhnlich eine leichte Aufhellung, d. h. einen geringen Verlöst von 
mark halt igen Fasern, im gleichseitigen Pyramiden seit eilst rang als 
Beweis dafür, daß ein kleiner Teil der Pyramidenfasern homolateral 
verläuft. 

leinen experimentellen Beitrag für das Bestehen ge kreuzter und 
ungekreuzter Pyramidenfasern erbrachte erst kürzlich wieder Min 
gazzini. imlein er bei Affen die Nervi hypoglossi und die 
glossoinotoriscluMi Kindenzen treu exstirpierte. Nach seinen Unter¬ 
suchungen enden sowohl gekreuzte wie ungekreuzte P\ ramidenfasern 
im lIypoglos>uskern. die ungekreuzten an der dorsalen Zellgruppe 
des mittleren Drittels des Kerns, die gekreuzten an der lateralen 
Zellgruppe des mittleren Drittels, an der ventralen Gruppe des 
distalen und an der medialen Gruppe des proximalen Drittels. 

Zu den noch nicht total kreuzenden Systemen gehört wohl auch 
die Faserung der Bindearme, deren Hauptmasse sich im Mesen- 
zephalon kreuzt. Dieses gewaltige System hat sich, auch erst mit 
der Zunahme d**s Kleinhirns und dem Auftreten des nueleus ruber 
kondensiert und isoliert. Das Kleinhirn der Teleostier muß nach 
S c h a p e r als eine bilateral symmetrische Anlage betrachtet werden, 
die vom Boden und den Seitenwänden des vierten Ventrikels entsteht 
und sekundär das Dach einschließt und so den falschen Eindruck 
eines medianen Ursprungs des Organs gehen kann. Nach J o h n ston 
besteht das primitive Akustikum aus großen Zellen, aus denen sich 
wohl später die Purkinjesrhen Zellen entwickeln, ferner aus 
Körnern und aus kleineren Zellen. Vor dem chorioidalen Dach des 
IV. Ventrikels bildete sich eine starke Kommissur, welche die 
Akustika der beiden Seiten miteinander verband. Diese dorsale 
Kommissur bildete die erste Anlage des Zerebollum. Indem einige 
Zellen aus dem Akustikum zur Kommissur hinwanderten. entstand 
das Zerobellum von der Art. wie man es bei Protopterus (Lurchfisch) 
und den Urodelen findet. Auch das Kleinhirn von Petromyzon be¬ 
steht aus einer kleinen dorsalen lauste, welche die Akustika der 
beiden Seiten verbindet, und sein Bau ist dem des Akustikums 
wesentlich ähnlich. Es nimmt die Wurzelfasern der somatisch-sen¬ 
siblen Nerven wie bei Acipenser auf und nur ein anderes kleines 
Bündel (von den Lobi inferiores) tritt ein. Die Neuriten lassen sich 



— 1Ü5 


deutlich latero-ventralwärts durch das Akustikuin oder weiter vor¬ 
wärts zusammen mit den Neuriten von Zellen des Akustikums ver¬ 
folgen. Man nimmt an, daß die Neuriten der Purkinje- Zellen 
ebenso wie die des Akustikums als innere Bogenfasern zum Tectum 
optieum gehen. 

Aus der grauen Masse, aus welcher Dorsalhorn und die akusti¬ 
sche Region sich bildete, entwickelt sich also auch zunächst das 
winzige Kleinhirn, das Beziehungen zu den sensiblen und sensori¬ 
schen Sphären gewinnt, und das um so größer wird, je größer diese 
sensiblen Gebiete allmählich werden. Die Verbindungsfasern mit 
diesen Gebieten kreisen zunächst um den Hohlraum, hier also um 
den IV. Ventrikel bogenförmig herum, kreuzen sich dabei, um sich 
dann in die Längsrichtung zu begeben und Anschluß an verschiedene 
graue Massen zu gewinnen. Durch Größerwerdeu dieser grauen 
Massen, durch Auftreten neuer kondensieren sich Fasern zu Bündeln, 
und es tritt naturgemäß auch eine Verschiebung der ursprünglich 
mehr im Niveau des primitiven Kleinhirns gelegenen Kreuzungen 
der Bogenfasem nach vorwärts oder rückwärts, nach dorsal oder 
ventral ein. Da das Kleinhirn eine allgemeine Funktionsbedeutung 
erlangt, so gewinnt es außerordentlich vielseitige Verbindungen mit 
der ganzen Hirnachse, über diese zahlreichen Verbindungen bei 
niederen Vertebraten werden wir z. B. durch bedeutsame Arbeiten 
von E d i n g e r unterrichtet. Unter allen älteren Verbindungen kon¬ 
solidiert sich in der aufsteigenden Tierreihe am mächtigsten die¬ 
jenige der Bindearme, und ihre Kreuzung ist in die Nähe desjenigen 
Kerns gerückt, in den sich die Hauptmasse ihrer Fasern ergießt. 

Wenn nun die Pyramidenbahn und der vordere Kleinhirn- 
Schenkel auch noch nicht zu den total kreuzenden Bahnen gehören, 
so gibt es im Zentralnervensystem doch sicher solche total kreu¬ 
zenden Fasersysteme. Wie ist deren Verlauf zustande gekommen? 
Eine Andeutung findet sich schon in dem, was soeben über die 
Schleifen-Pyramidenbahn gesagt worden ist. Bei einzelnen dieser 
Bahnen haben Isolierungsvorgänge stattgefunden, die mit einer all¬ 
mählich sich verändernden und verfeinernden Funktion verbunden 
waren, genau so wie umgekehrt durch Funktionsänderungen eine 
total kreuzende Bahn sich in eine partiell kreuzende verwandeln 
kann (Optikuskreuzung). Man darf wohl annehmen, daß bei den 
niederen Tieren sowohl die Sinneseindrücke von mehr allgemeiner, 
verschwommener Natur sind, die von einem locker zusammenhän¬ 
genden Gesamtsystem von Nervenfasern zum Zenfralorgan hingeleitet 
werden, und daß auch die Muskelbewegungen mehr znsammenfassen- 



114 


der allgemeiner Natur .sind, die ebenso von mehr lockeren Faser- 
massen aus dem Zentralorgan heraus angeregt werden. Diese Ge¬ 
samtsysteme kreuzten sich nun zum Teil, zum anderen Teil blieben 
sie ungekreuzt. Die kreuzenden Fasern waren wohl von an fang an 
aus Gründen, die vorher auseinandergesetzt sind, in der Mehrzahl 
und wurden es im Laufe der Phylogenese noch immer mehr. Sobald 
nun die allgemeine Funktion eines solchen Fasersystems auf der 
niederen noch undifferenzierten Stufe blieb, änderte sich an der 
Konfiguration der Fasersysteme nur das, daß sie vielleicht ent¬ 
sprechend einem sich vergrößernden Körperumfange an Masse Zu¬ 
nahmen. Sobald aber die allgemeine Funktion sich höher und schär¬ 
fer entwickelte und sich dabei in bestimmte Abarten differenzierte, 
bildeten sich speziellere Zentren und spalteten sich besonders von den 
viel zahlreicheren kreuzenden Fasern Ibindel in Sonderzügen ab. die 
nun ganz auf der gekreuzten Seite verliefen, während die anderen 
Fasern des Gesamtsystems die Semidekussation leibehielten. Belege 
hierfür bieten ja die sensiblen Systeme zahlreich genug. Solche Ab¬ 
spaltungen können sieh nun ganz verschiedenartig vollziehen, teils 
in einzelnen zerstreutem Fasern, teils in stärkeren Bündeln. Letztere 
können sich, wenn die spezielle Funktion sich vergrößert, zu einem 
starken System herausbilden. Bei diesen langsamen Umwandlungen 
werden wahrscheinlich alle die Faktoren, die von Flechsig, 
Cajal. W u n d t und von Spitzer angeführt sind, eine gewisse 
Rolle spielen, die man nur vermuten, aber nicht restlos in ihrer 
Wirkung einschätzen kann. Sie sind aber zweifellos sekundärer 
Natur, indem ne nur allmählich modifizierend gewirkt haben und 
noch immer weiter wirken, nachdem die allgemeine Ursache für die 
Kreuzung der Nervenfasern schon das ganze Gefüge nach dem be¬ 
stimmten Flaue eingerichtet hatte. 

Unsere Kenntnisse darüber, ob ein Fasersystem wirklich total 
oder nur teilweise gekreuzt ist. sind bei der Mehrzahl der uns als 
total gekreuzt erseheinenden Systeme noch unsicher. Bei einer 
kleinen Anzahl von Fasersystemen können wir indes die totale 
Kreuzung wohl mit Bestimmtheit aiinehmen. Zu diesen gehört die 
0 p t i k u s k r e u z u n g bei vielen niederen Wirbeltieren und die 
T r o c h 1 e a r i s k r e u z u n g. 1 >as Zustandekommen der Kreu¬ 
zungen dieser beiden Fasersysteme soll im folgenden noch be¬ 
sprochen werden. 

Das Auge hat sich im Laufe der Phylogenese, wie auch die an¬ 
deren komplexen Sinnesorgane vermutlich durch Umwandlungen 
und Verschmelzungen von Sinneszellen ganz allgemeiner Art ge- 



115 


bildet. Wie die Gesamtentwicklung des tierischen Körpers von den 
niederen zu den höheren Stufen nicht in gleichmäßiger gerader Linie 
erfolgt ist, sondern wie sich von gewissen Stammformen verschie¬ 
dene Seitenlinien abzweigten, die sich verschiedenartig “weiter fort¬ 
bildeten, so geschah es auch mit den einzelnen Sinnesorganen. Das 
Auge zeigt daher in der Phylogenese auch nicht eine gleichmäßige, 
in seinem Aufbau fortschreitende Entwicklung, sondern mannigfache 
Variationen. Unter den vielen Typen lassen sich nun zwei allge¬ 
meinere herausheben, die man als F a z e 11 e n t y p u s und Linsen- 
t y p u s unterscheiden kann. 

Das Fazettenauge stellt ein Konglomerat von zahllosen fest an¬ 
einander liegenden Einzelaugen dar, deren Einzelglieder miteinander 
verschmolzen, aber doch wieder durch eine das Licht gar nicht oder 
wenig durchlassende Schicht, Pigmentschicht, getrennt sind. Dib 
einzelnen Fazetten lassen, jede für sich, kleine Ausschnitte der 
Außenwelt eindringen, und durch solche zahlreichen Ausschnitte, 
die bis über 100Ü an Zahl sein können, kommt dann ein ganzes, 
vielleicht mosaikartig zusammengesetztes Bild zur Perzeption. Da 
die Strahlen beim Fazettenauge nur gesammelt, nicht aber abgelenkt 
werden, so fallen auf die einzelnen Retinulae die Bildabschnitte wohl 
so, wie sie auch in der Außenwelt gestellt sind. 

Bei dem Linsenauge, das sich wohl aus dem eiufaohen Napfauge 
gebildet hat, wird das Licht durch die Linse nicht nur gesammelt, 
sondern auch al)gelenkt, so daß ein umgekehrtes Bild entsteht. 

Bei den wirbellosen Tieren linden sich nun alle möglichen Augen¬ 
arten vertreten, das Fazettenauge z. B. bei den Insekten, das Napf- 
äuge bei den Arachniden, das Blasenauge bei den in der Meerestiefe 
lebenden Alciopiden u. a., und das Linsenauge bei den Cephalopoden. 
(Fig. 40.) 

Was nun den Verlauf der intrazerebralen Sehfasern bei den 
Wirbellosen anbetrifft, so sind die Verhältnisse darüber noch nicht 
so genügend geklärt, daß man ein sicheres Urteil gewinnen kann! 
Die aus dem Fazettenauge kommenden Sehfasem machen zwar nach 
Eintritt in ihren Lohns opticus auf jeder Seite drei Stationen und 
drei unilaterale Überkreuzungen durch., aber ob Kreuzungen in der 
Medianlinie des Gehirns zwischen den beiderseitigen aus den Lobi 
optici herauskommenden und im Gehirn weiterziehenden Fasern statt¬ 
finden, darüber ist nichts Sicheres bekannt. Gewöhnlich heißt es in 
den einzelnen Untersuchungen, daß beide Lobi optici durch Kom¬ 
missuren miteinander verbunden sind. Anders scheint es sich bei 
den median gelegenen Augen zu verhalten, deren Sehfasern im Ge¬ 
hirn vielleicht eine Kreuzung erleiden. 

• Jacobßohn-Lask, Di© Kreuzung der Nervenbahnen usw. (Abhdl. H. *J6) 8 



110 


Während nun bei den Wirbellosen der Sehnen* ein peripherer, 
gewöhnlich aus vielen kleinen separaten Bündeln bestehender Nerv 
ist, vergleichbar mit den Olfaktoriusbündein der Wirbeltiere, ist der 
Optikus bei den letzteren ein intrazerebraler Faserzug. Bei den 
Wirbeltieren bestellt genetisch zunächst eine vollständige Trennung 
des lichtaufnehinenden uud lichtbrechenden Augenapparates. Ersterer 
ist ganz im Beginn der Entwicklung mit der vorderen Gehirnblase 
zu einer Einheit verschmolzen und aus dieser Einheit wächst dann 
der untere seitliche Teil blasenartig heraus und vereinigt sich peri¬ 
pherisch mit letzterem. 

Das Wirbeltierauge hat sich wahrscheinlich aus einfachem Sch¬ 
und Pigment zellen allmählich aufgebaut. Jedenfalls müssen die 
Ketinazellen im Laufe der Phylogenese zunächst von der Peripherie 
zentralwärts gewandert und mit dem Zentralorgan verschmolzen sein, 
genau so. wie die allgemein sensiblen Zellen, die zunächst peripher 
lagen, immer mehr zentralwärts gewandert und schließlich ein Be¬ 
standteil des Zentralnervensystems geworden sind, aus dem dann 
wieder ein Teil ausgewandert und zum Spinalgangdion geworden ist. 
Damit traten die Retinazellen in den Verband des Zentralorgans 
selbst und damit in den Verband des hier liegenden Nervengeflechtes. 

Zur Aufhellung der Verhältnisse wäre es natürlich sehr er¬ 
wünscht, wenn wir über den intrazerebralen Verlauf der Sehfasern 
bei den Wirbellosen genauere Kenntnisse hätten. Leider ist das 
nicht der Fall. Ergäbe sich z. B.. daß die intrazerebralen Optikus¬ 
fasern bei den Wirbellosen einen teils gekreuzten, teils ungekreuzten 
Verlauf haben und daß auch bei den niedersten Wirbeltieren nur 
eine partielle Kreuzung besteht*), dann wäre eine Brücke zu dem 
Verhalten der Optikuskreuzung bei den anderen Wirbeltieren ge¬ 
schlagen. Denn dann wäre aus der ursprünglich partiellen Kreuzung 
nach dem Gesetze der Isolierung zuerst die totale Kreuzung der Seh¬ 
fasen» entstanden und aus dieser würde sich bei höheren Wirbel¬ 
tieren die immer weiter sich ausdehnende partielle Kreuzung den ver¬ 
änderten Funktionsverhältnissen nach herausgebildet haben. 

Es muß aber auch die Möglichkeit in Betracht gezogen werden, 
daß bei der Verschmelzung der zunächst peripher gelegenen Retinae 
mit dem Zentralnervensystem, wie sie vorher angedeutet wurde, 
vielleicht Verlagerungen stattgefunden haben, wodurch dann auch 

*1 K ä (1 1 bemerkt in seinem buche ]>. 447: „Es ist nickt festgestellt, (laß 
sich die Sehnerven bei allen einfacheren Wirbeltieren total kreuzen: gerate 
für einige einfach organisierte Wirbeltiere (für die Cyclostomen. Bipnoer. 
S-larhieri fehlt noch der einschlägige Beweis. 



117 


Überlagerungen der beiden Optici stattgefunden haben können. Dafür 
spricht der Umstand, daß die Optici bei niederen Tieren, z. B. bei 
den Fischen, einfach als ganze einheitliche Nervenstränge kreuzweise 
übereinander liegen, und daß sich erst nach und nach eine Durch¬ 
mischung der Fasern herausgebildet hat. Das deutet mehr auf eine 
mechanische Ursache, die hier eingewirkt haben kann. 

Einige Forscher, die sich eingehend mit der Entwicklung des 
Wirbeltierauges beschäftigt haben (s. darüber die Monographie von 
A. Froriep), nehmen an, daß das Wirbeltierauge als ganz primi¬ 
tives Sehorgan an der Körperperipherie gelegen und dort der direk¬ 
ten Einwirkung des Lichtes ausgesetzt war. Dieses primitive Organ 
sei dann bei der Einfaltung der Medullarplatte an der vordersten 
Stelle der Neuralplatte, an deren Seite es lag, mit in die sich zu¬ 
nächst. bildende Rinne einbezogen worden und bildete dort eine 
Grube. Diese Augengrube ist. wie Froriep es veranschaulicht, an 
ganz jungen Embryonen, bei denen die Medullarrinne am vorderen 
Pol noch nicht geschlossen ist, in der seitlichen Wand sichtbar. Eine 
solche Wanderung der Sehschicht in die Medullarrinne würde es auch 
verständlich machen, warum die Stäbchen- und Zapfenschicht, die 
bei einzelnen Vertretern der Wirbellosen dem Lichte direkt zugekehrt 
liegt, im Auge der Wirbeltiere ihm abgewendet gelagert ist (siehe 
R ä d 1 p. 30). Die Rinne hat sich dann geschlossen, und so wurde 
die Augengrube ein Bestandteil des vordersten Gehirnbläschens. Ein 
ähnliches Verhalten zeigt 
das Gehirn der Ascidien- 
larve, die in ihrem Hirn¬ 
ventrikel. der sog. Sinnes¬ 
blase. das Sehorgan enthält 
(Fig. 44). Die Sehgrube 
wölbt sich dann, wie be¬ 
kannt, als Augenblase 
jederseits seitlich aus der 
Gehirnblase heraus und 
sucht Anschluß an das 
Ektoderm. Sie nimmt bei 
dieser Wanderung nach der 
Peripherie retortenartige 
Gestalt an, d. h. sie besteht 
aus einem peripheren ballon¬ 
artigen Teil, der durch 
einen schmalen. röhren- 


Mund 


Sinnesblnse 


Auge * 


Anlage des - 
Nervenrohres 



* Chorda 


Fig. 44. Entwicklung von Phalliißiopsis mam- 
millata (Tunicata). Nach A. Kowalevski. 


8' 


118 


förmigen Abschnitt, dem Augenstiel; mit dem Zentralorgan verbun¬ 
den ist. (Fig. 45.) Es geschieht nun. wie weiter bekannt ist, eine In- 
vagination am basalen Teil dieses ganzen Gebildes, so daß eine 
Kapuzenform entsteht, wobei Kopf- und Halsteil dieser Kapuze aus 
je zwei Blättern bestehen, die sich aneinander legen. Das einge¬ 
stülpte Blatt des Kopfteiles wird zur Retina und der Halsteil dient 
den aus den Retinazellen kommenden Sehfasern als Leitbahn, auf 
welcher diese dem Gehirn zustreben. Indem dann der Kopfteil der 
Kapuzenform sich, um bei dem Bilde zu bleiben, auch unter dem 
Kinn zusammenschließt und der Halsteil ebenso an der Vorderseite 
des Halses, ist die Gestalt des hinteren Bulbusteiles fertig und es 
wird begreiflich, warum die Sehfasern die innerste Schicht der 
Netzhaut bilden müssen, warum sie die Netzhaut durchbohren und 
dann gemeinsam im Stiel des Optikus verlaufen. Da die rinnen¬ 
artigen Optikusstiele aus dem Vorderhirn seitlich ausgewachsen sind, 



Fig. 45. Querschnitt durch Auge, Augenstiel und Angenblasenrest eines 
ca. 6 Wochen alten menschlichen Embryos. 


so stoßen sie von beiden Seiten fast in querer Richtung aufeinander, 
und da sie als Leitwege den nach dem Gehirn strebenden Optikus¬ 
fasern dienen, so begegnen sich die beiderseitigen Optici gleichfalls in 
fast querem Verlaufe. (Fig. 45.) So erscheint es wohl ganz natürlich, 
daß ihre Fasern sich an dieser Begegnungsstelle überqueren. Verfolgt 



110 


inan die Fasern bis zum Tectum opticum, so kreisen auch sie um den 
Hohlraum des Mittelhims herum. Diese Froriepsche Erklärung 
paßt in meine Deutung des Zustandekommens der Faserkreuzungen 
vollkommen hinein. Ob auch schon bei den niedersten Wirbeltieren 
eine totale Kreuzung der Optikusfasern besteht, ist noch nicht sicher 
entschieden. Daß sich aus einer totalen Kreuzung im Laufe der 
Phylogenese aus mechanischen und funktionellen Gründen eine 
Semidekussation allmählich herausbilden kann, ist ebenso begreiflich, 
wie auch das Umgekehrte, daß aus einem partiell gekreuzten Faser¬ 
system ein Teil der gekreuzten Fasern sich von der Gesamtfaserung 
so isolieren kann, daß es dann als ein total gekreuztes Bündel oder 
System verläuft. 

Ebenso wie die totale Optikuskreuzung ist auch die vollständige 
Trochleariskreuzung eine Besonderheit. Auch über sie und 
überhaupt über den dorsalen Ursprung dieser Wurzel herrschen ver¬ 
schiedene Meinungen. 

Uber die Ursache des abweichenden dorsalen Verlaufes der 
Trochleariswurzeln, der sich durch die ganze Wirbeltierreihe verfolgen 
läßt, sind die verschiedensten Ansichten geäußert worden. Über diese 
Ansichten erhält man Aufschluß aus Arbeiten von Fürbringer 
und Dohm, F r o r i e p , Hof fmann. van W i j h e u. a. 

Fürbringer sagt in seiner Arbeit p. 081 folgendes: 

,,Ganz abweichend nicht allein von den anderen ventralen, son¬ 
dern überhaupt von allen Nerven des Körpers verhält sich der 
Trochlearis, der unter kompleter Kreuzung mit seinem antimeren 
Partner in ultra-dorsalem Verlaufe auf die andere Seite Übertritt und 
erst dort zu seinem Muskel (Oblk|uus superior) geht. Von den — Er¬ 
klärungsversuchen für diesen abweichenden Verlauf — halte ich — 
den eine sukzessive Umbildung aus einem sensiblen in einen moto¬ 
rischen Nerven postulierenden, weder für die Erklärung ausreichend, 
noch überhaupt annehmbar. — Ich bin geneigt, den M. obliquus 
superior von einem alten dorsalen Muskel abzuleiten, der ursprüng¬ 
lich mit dem ihm benachbarten Muskel der Gegenseite für die Be¬ 
wegung des Parietalauges bestimmt war und mit der sekundären 
Rückbildung desselben und der höheren Ausbildung der paarigen 
Augen neue aberrative Muskelelemente (bei gleichzeitigem sukzessi¬ 
ven Schwund der alten, dem parietalen Auge zugehörigen) hervor¬ 
gehen ließ, welche unter Kreuzung und dorsaler antimerer Über¬ 
wanderung sich ganz in den Dienst der bleibenden Augen der Gegen¬ 
seite stellten, somit eine Muskelwanderung zu statuieren, welche 
noch jetzt aus der als peripher zu beurteilenden Kreuzung der beiden 



Nn. trochleares abgelesen werden kann. — Selbstverständlich will 
dieser Versuch der Erklärung nur eine Idee, ein Programm für 
künftige Fntersuchungen sein." 

Nach Dohm kann von Fürbringers Doktrin des „Fher- 
wandenis aus einem Antimer in das andere und von der peripheri¬ 
schen" Kreuzung des Trochlearis keine Hede sein. Er meint, daß 
Fürbringers Versuch, hier einen ebenso unmöglichen wie völlig 
überflüssigen ..cünogenetischen Vorgang" zu konstruieren, gänzlich 
verunglückt ist. Dehrn Inhalt sich eine eingehende Darlegung der 
über den Trochlearis neu gewonnenen Resultate vor. Er fährt dann 
fort: „Hier sei nur so viel angegeUm. daß ich im wesentlichen 
Frorieps Angaben über das Hervorgehen des Trochlearis aus iso¬ 
lierten Elementen der Hanglienleiste durchaus bestätigen kann: er 
wächst von der Peripherie her dorsal in das Medullarrohr in horizon¬ 
taler Richtung hinein und greift dabei in die Zellen des anderen 
Antimers hinüber, wodurch eben — eine zentrale Kreuzung seiner 
Fasern entsteht.* 1 Nach dieser Darstellung würde also die Trochlearis- 
kreuzung in gleicher Weise zustande kommen, wie sie von F roriep 
für die Optikuskreuzung angenommen wird. Während aber das 
Ilineinwachsen sensibler Fasern aus ihren ausgesprengten Zellen in 
das Zentralorgan eine erklärliche und allgemein zu beobachtende Er¬ 
scheinung ist, wäre die gleiche Erscheinung bei motorischen Fasern 
etwas ganz Fngewühnliches und widerspräche vollkommen der An¬ 
nahme von H is. daß der Achsenzylinderfortsatz aus der ihm zuge¬ 
hörigen Zelle auswächst. 

Zunächst läßt sich sagen, daß Oeuloinotorius, Trochlearis und 
Abduzens einen funktionell zusammengehörigen Innervatioiw- 
komplex bilden. Von ihren motorischen Zentren bilden wenig¬ 
stens bei den höheren Wirbeltieren Oculomotorius und Trochlea¬ 
ris eine einheitliche zusammenhängende Zellmasse, deren hinterer 
kleinerer Teil das Zentrum für den Trochlearis ist, während das 
Zentrum für den Abduzens etwas mehr kaudal liegt. Die zu diesen 
drei Zentren gehörigen Wurzelfasern zeigen etwas verschiedene Ver¬ 
hältnisse. Viele aus dem < h-ulomotoriuskern austretende Fasern 
kreuzen sich in der Medianlinie unmittelbar nach Austritt aus dem 
Kern mit denjenigen der Hegenseite. und zwar entsenden diejenigen 
Kernabschnitte die gekreuzten Fasern, welche unmittelbar vor dem 
Trochleariskern liegen. Die Wurzelfasern des Troehleariskerns haben 
als wahrscheinlich viscero-motorische Fasern (denn Muskel und Nerv 
sollen trigeminaler Herkunft sein) in ähnlicher Weise, wie es die 
spinalen viseoro-motori sehen Wurzeln bei niederen Vertebraten 



121 


zeigen, einen dorsalen Verlauf genommen resp. sie sind von dorsal 
eingedrungen und haben sich mit dem Oculomotoriusgebiet vereinigt. 
Sie kreuzen sich nicht wie die Oculomotoriuswnrzeln direkt am Kern, 
sondern in einiger Entfernung von ihm im Velum medulläre anterius. 

Sie nehmen, ohne sensible Fasern zu sein, aber vielleicht, weil sie 
ehedem mit viscero-sensiblen Fasern reichlich vermischt waren, einen 
gleichen bogenförmigen Verlauf um den Ausgang des Aquaeductus, 
wie es sonst nur zentrale sensible Bahnen tun, treffen sich dabei in 
der Medianlinie, und zwar ihrem zentrifugalen Verlaufe entsprechend, 
am Velum und kreuzen sich. Man muß aber mit Gegenbaur be¬ 
kennen, daß das Dunkel doch nicht ganz erhellt ist, welches die 
Eigentümlichkeit des Austrittes der Trochleariswurzeln umgibt. 

An diesen beiden Beispielen, der Optikus- und Trochleariskreu- 
zung, sieht man, wie ungeheuer schwierig es ist, für ein einzelnes 
Fasersystem zu bestimmen, warum es sich z. B. total kreuzt und 
warum es an der bestimmten Stelle in die Kreuzung eintritt. Unsere 
Kenntnisse von der Entstehung der einzelnen Faserzüge, ihrer gegen¬ 
seitigen Verknüpfung und Funktion müßten weit vollkommener sein, 
als es zur Zeit ist, um eine befriedigende Aufklärung für diese Be¬ 
sonderheiten zu gewinnen. Man muß sich darüber klar sein, daß hier 
neben ganz allgemeinen Bildungsfaktoren noch spezielle für jedes 
System in Betracht kommen. Zu letzteren gehören speziell mecha¬ 
nische und funktionelle, auch solche, wie sie z. B. A r i e n s Kap¬ 
pers in seiner Neurohiotaxislehre zusammengefaßt hat, und wahr¬ 
scheinlich noch viele andere uns unbekannte. Diese vielen Faktoren 
so zu enthüllen, daß der Verlauf einer bestimmten Bahn gleichsam als 
Resultante hervorgeht, ist zur Zeit einfach unmöglich, und ob das 
überhaupt jemals möglich sein wird, läßt sich bezweifeln. 

Es läßt sich daher nur für die allgemeine Erscheinung der Kreu¬ 
zungen der Nervenbahnen eine Ursache ausfindig machen. Diese Ur¬ 
sache resp. Anlage scheint mir in dem Heftige des primitiven Nerven¬ 
systems zu liegen, aus dem sich die späteren höheren Stadien ent¬ 
wickelt haben, und naturgemäß in Korrelation zur Gestalt des tie¬ 
rischen Körpers und seinen Funktionen so entwickeln mußten, wie sie 
es taten. Der von mir gegebene Lösungsversuch ist kein gekünstelter, 
kein willkürlicher, sondern ein einfacher und natürlicher, er ergibt 
sieh nach den Grundlagen eigentlich ganz von selbst. 

Wenn ich nun auch meine, daß mit der Herleitung eines recht 
komplizierten Gefüges aus einem verhältnismäßig einfachen ein ur¬ 
sächliches Moment für die Entstehung dieses komplizierten Gefüges, 
speziell der kreuzenden Bahnen, gefunden ist. so bin ich mir natiir- 



122 


lieh klar bewußt, daß die letzte Ursache für das Zustandekommen 
der Kreuzungen auch bei diesem Versuche uns verschlossen bleibt, 
t'ajal hat wohl auch dasselbe im Sinne gehabt, als er sagte: ,.Es 
handelt sich hier nicht darum, die wirkende Ursache, die geheimen 
Ressorts physikalisch-chemischer Kräfte zu erforschen, welche diese 
Anlage geschaffen haben.“ In der Tat wird jedermann einsehen, daß 
es unmöglich ist, die feinen biologischen Faktoren aufzudecken, 
welche hierbei wirksam gewiesen sind. Man müßte zunächst zu er¬ 
forschen suchen, warum die erste Bildung des Nervensystems in 
jener netzförmigen Form geschehen ist. Man kann da nur Ver¬ 
mutungen hegen. Man kann annehmen, daß die Natur bestrebt w r ar, 
bei größter Sparsamkeit des Raumes den höchstmöglichen Zweck der 
allgemeinen Innervation des einfachen tierischen Körpers zu erreichen, 
in ähnlicher Weise, wie sie das netzförmige Knochengebälk schuf, und 
so bei größter Leichtigkeit des Knochens die höchste Festigkeit er¬ 
reicht hat. Da die erste Netzbildung des Nervensystems in Korrela¬ 
tion zu dem einfachen Bau des tierischen Körpers steht, so müßte 
man auch sagen können, warum sich dieser einfache Körper zu¬ 
nächst so als Doppelschlauch gestaltet hat und sich bei allen Tier¬ 
formen immer wieder auf dieser Grundlage aufbaut. Dies aber ur¬ 
sächlich festzustellen, ist unmöglich. Das Tor zur letzten Erkenntnis 
bleibt uns verschlossen. Auf diesem Tore steht die Dante sehe 
Inschrift: „Lasciate ogni speranza.“ Aber das ist uns kein Tor zur 
Hölle, vor dem wir zurückschrecken. Mutig und unentwegt schlagen 
wir auch an dieses Tor, olnvohl wir genau wissen, daß, selbst w r enn 
es uns gelänge, dieses Tor zu öffnen, gleich hinter ihm ein neues 
verschlossenes sich befinden würde. Die mächtige Seelenkraft in 
dem groß ausgebauten nervösen Zentralisationsapparat des Menschen 
strebt unermüdlich vorwärts, wie es schon die kleine Seeienkraft in 
dem winzigen Zentralisationsapparat des niederen wirbellosen Tieres 
getan hat. Und in diesem Streben wird Nervensystem und Körper¬ 
form sich weiter ausgestalten. Aber alles Streben und alle weitere 
Ausgestaltung wird die letzten Rätsel nicht enthüllen. Und es ist 
gut so, denn das andere wäre der geistige Tod des Menschen. 



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Was die Zeichnungen anbetrifft, die in der vorliegenden Ab¬ 
handlung gegeben sind, so habe ich sie mit einigen Ausnahmen aus den 
einzelnen Schriften oder aus Lehrbüchern entnommen und so gut, wie ich 
es vermochte, wiederzugeben versucht. Dabei habe ich bei einzelnen Skizzen 
mitunter manches weggelassen, was für die Darstellung von keiner Bedeutung 
war, Auf der anderen Seite habe ich mitunter einzelne Faserzüge, die in den 
Abbildungen schwach ausgeprägt waren, etwas stärker hervorgehoben, damit 
sie deutlich zum Ausdruck kommen. Zuweilen habe ich auch mehrere Skizzen 
in eine einzige zusammengezogen, weil die Zahl der Zeichnungen aus äußeren 
Gründen auf das möglichste beschränkt werden mußte.