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Full text of "Abhandlungen aus dem Gebiete der Naturwissenschaften 10, Teil 1"

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Abhandlungen aus dem Gebiete der Naturwissenschaften, 
herausgegeben vom Naturwissenschaftlichen Verein in Hamburg. 


X. Band. Mit 13 Tafeln. 


Festschrift 


Feier des fünizigjährigen Bestehens 


des 


Naturwissenschaftlichen Vereins in Hamburg. 


18. November 1887. 


II. 


MI. 
IV. 


VII. 
IX. 
. Prof. Dr. Æ. Möbius, Berlin. Das Flaschentierchen (Folliculina ampulla). r Tf. 


XIII. 


Inhalts-Verzeichnis. 


. Dir. Dr. Zeinrich Bolau. 1837-1887. Zur Geschichte des Naturwissenschaftlichen Vereins in Hamburg. 





Dr. Æmil Wohlzwill. Joachim Jungius und die Erneuerung atomistischer Lehren im 17. Jahr- 


hundert. 


Prof. J. Kiessling. Beiträge zu einer Chronik ungewöhnlicher Sonnen- und Himmelsfärbungen. 
Prof. Dr. G. Neumayer. Die Thätigkeit der Deutschen Seewarte während der ersten 12 Jahre 


ihres Bestehens. 


. Dr. Hugo Krüss. Die Farben-Korrektion der Fernrohr-Öbjektive von Gauss und von Fraunhofer. 
VI. 
VII. 


Dir. Dr. A. Voller. Über die Messung hoher Potentiale mit dem Quadrant-Elcktroneter. ı Tf. 
Dir. Dr. F. Wiöel. 1. Die Schwankungen im Chlorgehalt und Härtegrade des Elbwassers bei Ham- 
burg. — I. Chemisch-antiquarische Mitteilungen. ı. Thonerdehydrophosphat 
(? Coeruleolactin) in pseudomorpher Nachbildung eines Gewebes oder Geflechts. 
2. Raseneisenerz, Eisenschlacke oder oxydiertes Eisen. 3. Analyse einer altmexi- 


kanischen Bronzeaxt von Atotonilco. 


Dr. C. Gottsche. Die Mollusken-Fauna des Holsteiner Gesteins. 


Prof. Dr. Æ. Kraepelin. Die Deutschen Süfswasser-Bryozoen. 7 'Tfln. 


. Dr. Georg Pfefer. Beiträge zur Morphologie der Dekapoden und Isopoden. 
XII. 


Dr. F. Stuhlmann. Zur Kenntnis des Ovariums der Aalmutter (Zoarces viviparus Cuv.). 4 Tfr. 


Jahresbericht für 1887. 


—— AANI Aa Sa 


415388 


1837-1887 


NT 


Zur Geschichte 


Naturwissenschaftlichen Vereins 


in Hamburg. 


Von 


Dr. Heinrieh Bolau. 


me TE ECM III 








1837—1887. 


Zur Geschichte des Naturwissenschaftlichen Vereins 
in Hamburg. 
Yon 


Dr. Heinrich Bolau. 


Anm 18. November 1837, abends 7 Uhr, versammelten sich im Gasthof »Zur 
alten Stadt London« am Jungfernstieg, damals dem vornehmsten Gasthause der Stadt, 
32 den verschiedensten Berufsständen angehörende Männer, um den Verein zu gründen, 
der heute auf 50 Jahre einer erfolgreichen Thätigkceit zurückblickt. 


Pastor H. J. Müller, Diakonus zu St. Catharınen und 
Dr. med. K. G. Zimmermann 
hatten zu der Versammlung eingeladen, in der die folgenden Herren anwesend waren: 

Dr. med. D. A. Assing, praktischer Arzt, 

Friedr. Bachmann, Conchylienhändler, 

F. P. L. Bartels, Kaufmann, Mineraliensamniler, 

Dr. med. W. Birkenstock, praktischer Arzt, 

F. G. böhlke, Apotheker, 

George Booth, 

F. G. Booth, Besitzer einer Samenhandlung und Gärtnerei, 

John Booth, | 

Dr. med. Æ. W. Duck, Physikus, praktischer Arzt, 

IE. Ph. Calmberg, Professor an der Gelehrtenschule des Johanneuns, 
C. F. H. de Dobbeler, Assekuranz-Bevollmächtigter, 

C. F. Ecklon, 

Dr. med. Gg. Limöbke, praktischer Arzt, 

Dr. med. C. N. Fallati, praktischer Arzt, 


4 Dr. HEINRICH BOT.AU, Geschichte des Naturwissenschaftlichen Vereins. 


Dr. med. D. Gacdechens, praktischer Arzt, 

Dr. med. G. //. Gerson, praktischer Arzt, 

Dr. med. Matn, praktischer Arzt, 

Dr. med. M. S. Heilbut, praktischer Arzt, 

Dr. med. F. //. Jonas, praktischer Arzt, 

A. BD. Meyer, Schlachter, Conchyliensamniler, 

Pastor //. F. Müller, Diakonus an St. Catharinen, Mineraliensamniler, 
P. O. H. Pepper, Hauptlehrer an der Nicola-Kirchenschulc, 

Ad. Repsold, Mechaniker, 

P. F. Röding. Oberalter, Besitzer von dem bekannten »Rödings-Museume, 
Dr. med. F. Z. Szemers, praktischer Arzt, 

Dr. med. F. Streets, praktischer Arzt, 

Dr. med. F. W. Stintzing, praktischer Arzt, Altona, 

lleinrih von Struve, Staatsrat und Minister, Exc., 

Gr. Thorey, Apotheker, Käfersamniler, 

II. von Winthem, Kaufmann, Schmetterlingssammler, 

Heinr. Zeise, Apotheker, Altona, 

Dr. A. G. Zimmermann, praktischer Arzt. 

Pastor Mäer begrüfste die Versammlung, wie es in dem von Dr. Zimmermann 
geführten Protokoll der ersten Sitzung heifst, »durch eine passende Anrede, worin er sich 
über die Beweggründe und den Zweck der Vereinigung aussprach: lamburg sei nicht 
arm an Freunden der Naturgeschichte und er sche hier zu einem gemeinsamen Wirken 
Männer vor sich, die teils sich wissenschaftlich mit der Naturkunde im allgemeinen, teils 
mit besondern Zweigen derselben eifrig und thätig beschäftigten; andere, welche warme 
Liebe für die Natur an den Tag legten und von Wifsbegierde für die Schöpfungen der- 
selben beseelt wären, noch andere, welche nicht unbeträchtliche Sammlungen besässen, 
und deren Streben es sei, die Gegenstände der Naturkunde durch den Augenschein 
kennen zu lernen. Alle wünschten, sich also zu belehren. Gegenseitige Unterstützung 
sei aber dazu erforderlich, und alle müfsten von andern lernen. Deshalb sei es erfreulich, 
dafs sich eine so zahlreiche Gesellschaft zu diesem Zweck vereinigt habe. Aber auch 
ein freundschaftliches Verhältnis unter den Mitgliedern zu begründen, sei Zweck der 
Vereinigung. « 

In § 3 der darauf beratenen und angenommenen Statuten wird als Zweck des 
Vereins bezeichnet: 

1) »sich mit Naturkunde und Naturgeschichte, sowie mit den damit verwandten 
Wissenschaften zu beschäftigen, indem die Mitglieder sich gegenseitig ihre Ansichten, 
Erfahrungen und Entdeckungen mitteilen, durch wissenschaftliche oder gemeinnützige 
Vorträge belehren, neue und besonders interessante Naturgegenstände, Bücher, Kupfer- 
werke und dergleichen mehr vorzeigen, - physikalische oder chemische Experimente ver- 
anlassen und sich solchergestalt teils wissenschaftlich, teils durch Konversation cinige 
Stunden unterhalten; 


Dr. HEINRICH BOLAU, Geschichte des Naturwissenschaftlichen Vereins. 5 


2) ein näheres Anschliefsen und Bekanntwerden der Mitglieder und ein freund- 
schaftliches Verhältnis unter denselben durch ein gemeinschaftliches einfaches Abendessen 
zu veranlassen, zu dessen Teilnahme indes niemand verpflichtet ist.« 

Die Versammlungen sollten alle vier Wochen Sonnabends, abends 7 Uhr, in der 
»Alten Stadt London« stattfinden, das gemeinsame Abendessen spätestens halb zehn 
Uhr seinen Anfang nehmen. | 

Bei denı durchaus freundschaftlichen Charakter, den die Zusammenkünfte hatten, 
wundert es uns nicht, dafs die Frage, ob während derselben geraucht werden dürfe, 
überhaupt gestellt wurde. Man verneinte sie. Aus Abrechnungen jener Zeit ersehen 
wir auch, dafs in ganz familiärer Weise Thee gereicht wurde und wir nehmen wohl nicht 
mit Unrecht an, dafs das während der eigentlichen Sitzung geschah. 

Für die vier Wintermonate November und Dezember 1837 und Januar und Februar 
1838 wurden von jedem Mitgliede ein Beitrag von 4 § — £ Cour. (= 4 M. 80 4) und ein 
»Einschuls« von gleicher Höhe zur Entschädigung des Wirtes, bei dem man sich ver- 
sammelte, bezahlt. 

Wer vor 9!/s Uhr wegging oder ganz wegblieb, verlor jedesmal ı fi von diesem 
Einschufs; wer aber zum Abendessen blieb, das zu ı 8 £ Cour. (= ı A. 80 4) 
ohne Wein angesetzt war, dem wurde sein Einschufs bei der Bezahlung angerechnet. 
» Alle übrigen Strafen«, heifst es dann eigentümlicher Weise weiter, »fallen vorläufig weg.« 
Dieses regelmäfsige Abendessen nach der allmonatlich stattfindenden Hauptversammlung 
fand von April 1839 ab, als die Versammlungen in von Struves Wohnung verlegt wurden, 
nicht mehr statt. — Das vulgäre Bier hatte seinen Triumphzug durch die Länder der Erde 
vor 50 Jahren noch nicht gemacht, kaum angctreten, man würde sich sonst gewifs schon 
damals, wie wir heute, in der »Nachsitzung:« beim gemütlichen Schoppen zum anregenden, 
bald ernsten, bald heiteren Gespräch versammelt haben. Neigung dazu war entschieden 
vorhanden. Jedenfalls aber hatten die Mitglieder von vorn herein, und das besagt ja 
schon jener oben erwähnte § 3, das Bedürfnis, einander aufser bei ernster wissenschaftlicher 
Arbeit auch in zwangloserer Weise näher zu treten. 

Der erste noch am Stiftungsabend gewählte Forstand bestand aus nur 3 Per- 


sonen: Rn Be ER 
Staatsrat Minister von Struve Exc., Präsident, 


Pastor H. J. Müller, Virepräsident u. Sekretär, 
Dr. K. G. Zimmermann, Aassenführer. 


Nach Beendigung der geschäftlichen Angelegenheiten machten in jener ersten 
Sitzung Pastor Müller, von Struve, F. G. Böhlke, Physikus Duck und Dr. Zimmermann 
kurze wissenschaftliche Mitteilungen. Die Mehrzahl der Mitglieder blieb dann noch zum 
Abendessen versammelt, bei welchem, wie das Protokoll erzählt, »Herr Zeise die Gesell- 
schaft mit vortrefflichen, im luftleeren Raum konservierten Spargeln regalierte, die den 
frisch ausgegrabenen an Wohlgeschmack nichts nachgaben«. Gut konservierter Spargel 
dürfte damals noch zu den gröfsten Seltenheiten gehört haben; — wir sind heute in 
solchen Dingen verwöhnter. 


6 Dr. HEINRICH BOLAU, Geschichte des Naturwissenschaftlichen Vereins, 


In der zweiten Sitzung, am 16. Dezember 1837, begrüfste der neuerwählte Vor- 
sitzende von Struve die Versammlung mit einer längeren Rede, in der er die immer all- 
gemeiner werdende Licbe zu den Naturstudien als ein erfreuliches Zeichen der Zeit be- 
zeichnet und die Mittel zur Erreichung der Ziele des Vereins ausführlich bespricht. — 

Es kann nicht unsere Aufgabe scin, unsere Leser mit Aufzahlung der vielen 
Hunderte von Vorträgen, Mitteilungen, Referaten, Demonstrationen und sonstigen wissen- 
schaftlichen Unterhaltungen zu ermüden, die im Laufe der verflossenen fünfzig Jahre in 
den Sitzungen unseres Vereins vorgekommen sind; — es ist fleifsiv gearbeitet worden. 
Davon reden die Jahresberichte, die leider nicht ganz rewelmäfsig erschienen sind, davon 
sind auch die stattlichen 10 Bände Abhandlungen Zeuge, die der Verein herausgegeben 
hat und die manche wissenschaftliche Arbeit von dauernden Werte enthalten. — Alles, 
was an neuen naturwissenschaäftlichen Entdeckungen bekannt wurde, war einst, wie noch 
heute, Gegenstand der Besprechung in den Versammlungen; und manches, was heute viel- 
fach vervollkommnet, unentbehrliches Gemeingut aller geworden ist, sehen wir in den 
ersten Jahrzehnten unseres Vereinslebens als unbedeutenden Anfang auf der Bildfläche er- 
scheinen. So bespricht gleich in der zweiten Sitzung, den 16. Dezember 1837, von Struve 
»die merkwürdigen Versuche« über die aufserordentliche durch den galvanischen Strom 
erregte Leuchtkraft der Kohle — d. h. also mit anderen Worten die ersten Anfänge des 
elektrischen Lichts; — derselbe erwähnt in derselben Sitzung des socben entdeckten Saft- 
stroms in den Zellen der Chara. Im Februar 1838 ist von der neuen Anwendung des 
Erdpechs zum Pflastern der Strafsen in Paris die Rede. Man habe — schon damals! — 
die Fahrwege am Eingang der Champs Elysées mit Asphalt gepflastert; man fahre sehr 
angenehm darauf, die Pferde gleiten nicht, die Wagen leiden nicht und die neue Pflasterung 
habe sich auch während der strengen Kälte des Winters bewährt. Am 28. Februar 1838 
legt Ad. Repsold »der Gesellschaft cine Probe des elektrischen Telegraphen in München 
vor, der auf 36000 Fufs Mitteilungen macht. Es war cin Papierstreifen mit regelmäfsig gc- 
reihten Punkten und dem darunter gesetzten Alphabet.« Es handelte sich hier offenbar um 
einen mit telegraphischen Schriftzeichen versehenen Papierstreifen aus einem ‚Jorseschen 
Drucktelegraphen, erfunden 1837. — Die Daguerreotypie beschäftigte, nachdem am 6. Februar 
1839 Dr. Herlbut zuerst über diese aufserordentliches Aufsehen erresende Erfindung berichtet, 
die Mitglieder wiederholt; es wurde namentlich die Frage der Haltbarkeit der Daguerreo- 
typen in mehreren Sitzungen auf das eingehendste behandelt. — Am zweiten Stiftungs- 
festtage, den 18. November 1839, stellte G. Lex mehrere Arten Leuchtgas dar und besprach 
namentlich das aus Steinkohlen hergestellte in einem längeren Vortrage. Später folgen 
Schiefsbaumwolle und Guttapercha, Aluminum und anderes, und neuerdings haben sich Dar- 
wins Lehre, entwicklungsgeschichtliche Vorträge, sowie wiederholte Besprechungen der 
wichtigsten Erfindungen auf dem Gebiete der angewandten ElcktrizitätsIchre — elektrisches 
Licht, Telegraph und Telephon — würdig angereiht. Das von Äezss erfundene Tele- 
phonium hat übrigens bereits vor 23 Jahren, am 28. September 1864, den Vercin be- 
schäftigt, wo Dr. Zimmermann über diese neue Erfindung nach einem auf der Giefsener 
Naturforscher-Versammlung gehaltenen Vortrage berichtet. Von neuem erscheint das 


Dr. HEINRICH BOLAU, Geschichte des Naturwissenschaftlichen Vereins. 7 


Telephon als Be//sches dann erst wieder am 28. November 1877, wo Dr. Voller dasselbe 
demonstriert. Über Sonnenprotuberanzen, von ihm zu Wien während der Sonnenfinsternis 
am 8. Juli 1842 beobachtet, sprach Etatsrat Schumacher. Doch genug der Beispiele! 

Der Plan zur Errichtung eines Naturhistorischen Museums hat den Verein schon 
im ersten Jahre seines Bestehens wiederholt und sehr lebhaft beschäftigt. Bereits in der 
dritten Versammlung, am 13. Januar 1838, erbietet sich von auswärts ein Freund der 
Naturwissenschaften, für die Erreichung der Zwecke unseres Vereins mitzuwirken, und 
zwar namentlich durch Abgabe von Doubletten aus seinen naturhistorischen Sammlungen, 
falls ähnliche Sammlungen vom Verein beabsichtigt würden. In der siebenten Versamm- 
lung, am 25. April 1838, ist von einem eigenen Vereinslokale die Rede, wo der Verein 
seine Versammlungen halten und etwa anzulegende naturwissenschaftliche Sammlungen 
aufstellen könne; man liefs für's erste die Frage fallen in der Hoffnung, dafs sich in dem 
im Bau begriffenen neuen Gymnasiumsgebäude — Johanneum, — (eingeweiht am 5. Mai 
1840), eine für die Zwecke des Vereins passende Lokalität finden werde. Am 25. Juli 
desselben Jahres bringt der Vorsitzende von Struve die Gründung eines Naturwissen- 
schaftlichen Museums von neuem zur Sprache unter Hinweis auf die glänzenden Erfolge, 
die man binnen wenigen Jahren mit dem Sen£enberg-Museum in Frankfurt a./M. gehabt 
hatte. Man beschliefst, die Sache im Auge zu behalten und nichts unversucht zu lassen, 
— namentlich auch bei Gelegenheit des nun fortschreitenden Baues des grofsen Bi- 
bliothekgebäudes, wo dem Vernehmen nach auf den Platz zu einem Museum Bedacht 
genommen — auch unsere Staatsbehörden dafür zu interessieren und so mit vereinten 
öffentlichen und Privatkräften die Gründung eines Hamburgischen Naturhistorischen Mu- 
seums zu fördern. Und wie ernst man es mit dieser Förderung der guten Sache nahm, 
zeigte die Sammlung, die beim festlichen Mahle am ersten Stiftungstage, den 18. No- 
vember 1838, zu gunsten des Museums vorgenommen wurde; sie brachte einen Ertrag 
von 59 Ld’ors und 92 Ẹ 8 £ Cour., zus. 918 # 8 £ Cour. oder 1102 M. 20 4. — Der 
Verein hatte mittlerweile den erfreulichsten Aufschwung genommen; viele der angesehen- 
sten Bürger der Stadt waren seine Mitglieder geworden, Sektionen für die verschiedenen 
Hauptwissenschaften waren gegründet worden und hatten fleifsig gearbeitet, ein reger 
wissenschaftlicher Verkehr auch nach aufsen mit Gelehrten und Vereinen hatte sich ent- 
wickelt. Die alten, kurzgefafsten Statuten erwiesen sich als nicht mehr genügend, man 
nahm daher in den Sitzungen vom 28. Dezember 1838 und 9. Januar 1839 eine Revision 
derselben vor, die dadurch von Wichtigkeit wurde, dafs Bestimmungen über die Verwal- 
tung des Naturhistorischen Museums aufgenommen wurden. Damit wurde am 9. Fa- 
nuar 1839 das Naturhistorische Muscum unseres Vereins gegründet und die Verwaltung 
desselben in die Hände der Museumskommission gelegt. Dieser Tag ist somit als 
Stiftungstag des Museums des Naturwissenschaftlichen Vereins anzusehen. Die hierher 
einschlagenden Paragraphen der Statuten sagen über das Museum unter anderın das 
Folgende: (Statuten von 1839, SS 38, 40 u. 17). »Alle Einsendungen naturhistorischer 
Gegenstände, von welcher Art sie sein mögen, werden mit Dank aufgenommen und mit 
den Namen der Geber bezeichnet. In der Jahresversammlung teilt der Präsident das 


5 Dr. HEINRICHI BOLAU, Geschichte des Naturwissenschaftlichen Vereins, 


Verzeichnis sämtlicher eingegangener Geschenke der Gesellschaft mit.« Ferner: »Das 
Museum wird in einem passenden Lokale aufgestellt und an bestimmten Wochentagen 
dem freien Besuch des Publikums geöffnet sein. Über die weitere Benutzung desselben 
von seiten der Mitglieder oder öffentlicher und Privat-Bildungsanstalten, wird seiner Zeit 
ein besonderes Reglement das Zweckmäfsige verfügen. « 

Die Museumskommission sollte aus neun wirklichen Mitgliedern des Vereins be- 
stehen »und möglichst aus solchen zusammengesetzt sein, die sich den verschiedenen 
Zweigen der Naturwissenschaften gewidmet haben.- 

Die Aluseumskommission wurde dann in der folwenden Sitzung, am 31. Januar 1839, 
wenn auch noch nicht vollzählig, gewählt. Sie bestand zunächst aus den Mitgliedern: 

Physikus Dr. W. Buck für Botanik, 

Prof. Lt. Ca/mbers für Mineralogie, Geologie und Petrefaktenkunde, 

Dr. D. Gädechens für die Säugetiere, 

Oberalter /”. 7. Röding für die Vögel, 

Dr. Heilbut an Stelle des die Wahl ablehnenden Dr. Roding 

für Amphibien und Fische, 

G. Thorey für die Entomologie, 

Dr. Jonas für die Conchyliologie. — 

Als erstes Lokal für die Aufstellung des Vereins-Museums hat cin Raum im 
alten Johannis-Klostergebäude gedient. Es heifst darüber in dem Protokoll der Sitzung 
vom 30. Oktober 1839: -Der Herr Präasident (von Struve) brachte das Lokal für das 
Muscum des Vereins zur Sprache und wies darauf hin, wie höchst ungenügend und un- 
passend das gegenwärtig für unsere Sammlungen dienende, düstre und enge Zimmer in 
dem alten Johannis-Klostergebäude sei und wie daher eine möglichst baldige Veränderung 
des Lokals nicht nur wünschenswert, sondern dringend notwendig werde. So allgemein 
wie dies von der Gesellschaft anerkannt und bestätigt wurde: so ungern vernahm man 
die Mitteilung, dafs nach der letzten vom Herrn Protoscholarchen Senator Pehmöller ge- 
gebenen Äufserung, unser Verein sich keine Hoffnung mehr machen dürfe, eine l.okalität 
für seine wissenschaftlichen Sammlungen in dem neuen Gymnasiumsgcebäude auf dem 
Domsplatz zu erhalten.« 

Kurze Zeit darauf hatten Vereinsvorstand und Museumskommission gemeinschaft- 
lich ein passenderes Lokal für die Sammlungen des Vereins im Hause von Dr. Korken- 
burg an der Kaffamacherreihe No. 33 gefunden; ein geräumiger Saal und zwei anliegende 
Zimmer wurden mit Zustimmung der Vereins-Versammlung vom 18. Dezember 1839 auf 
3 Jahre zu 400 & Cour. (= 480 M. — 4) das Jahr gemiethet. 

In der nächsten Zeit wiederholen sich dann die Berichte über immer erneute 
und immer vergebliche Verhandlungen mit der Gymnasial-Deputation, der Vorgängerin 
unserer Oberschulbehörde, über eine bessere Unterbringung des Vereins-Museums in einem 
städtischen Gebäude, an die sich in der zweiten Hälfte des Jahres 1840 solche betreffs 


einer Vereinigung der städtischen naturhistorischen Sammlungen mit denen des Vereins: 


unter Einer Direktion und unter Aufwand gemeinschaftlicher Geldmittel anschlossen. Am 


Dr. HEINRICH BOLAU, Geschichte des Naturwissenschaftlichen Vereins. 9 


30. Dezember desselben Jahres erfolgte dann die Annahme der von der Museumskom- 
mission und dem Vorstande ausgearbeiteten und von diesem dem Vereine vorgelegten 
Übereinkunft, betreffend die Vereinigung des Museums des Vereins mit dem des Staates, 
und zugleich wurden Vorstand und Muscumskommission beauftragt, weitere Schritte in 
dieser Angelegenheit bei der Behörde zu thun. — So rasch, als man wünschte, sollte 
die Sache leider nicht gehen; sie wurde überdies noch durch den grofsen Brand vom 
5. bis 8. Mai 1842 verzögert. Als man dann aber durch erneuerte Vorstellungen an 
das Scholarchat im August 1842 nicht zum Ziele kam, und als überdies Dr. Rothenburg, 
dessen dreijähriger Mietevertrag demnächst ablief, von jetzt ab eine wesentlich höhere 
Miete verlangte, wandte man sich mit einer Eingabe direkt an den Senat mit der Bitte, 
abgesehen zunächst von der gewünschten Vereinigung der Vereinssammlungen mit den 
städtischen, die Aufstellung der ersteren in den leeren Sälen des Gymnasialgebäudes (den 
jetzigen Museumssälen) zu gestatten. Man wurde abschlägig beschieden. Jetzt versuchte 
man es im Januar 1843 mit einer in schr dringlichen Ausdrücken abgefafsten Sturm- 
petition. Alle Mitglieder des Vercins wurden eingeladen, dieselbe persönlich zu unter- 
schreiben und überdies wurde sie lithographiert mit einem begleitenden Billet jedem 
einzelnen Scnatsmitgliede zugesandt. Das half. Als Antwort machte der Protoscholarch 
Senator Prhmöller bereits am 17. April dem Vereinspräsidenten von Struve die ver- 
trauliche Mitteilung, es solle demnächst ein Aamburgisches Naturhistorisches Museum 
gegründet werden, übergab ihm aufserdem eine Urkunde, wie es in dem betreffenden 
Vereinsprotokoll vom 22. April heifst, über dessen Organisation und aufserdem einen 
Vorschlag zu einer »Vereinbarung« mit dem Museum des Vereins unter gemeinschaftlicher 
Verwaltung. In der erwähnten Sitzung vom 22. April wurde in zahlreich besuchter Ver- 
sammlung dem Senate einstimmig für seinen Beschlufs gedankt, die Vereinbarung unver- 
ändert angenommen, und der Beschlufs gefafst, aus Vereinsmitteln nach jedesmaligen 
Umständen mehr, als die festgesetzten 500 Courant (== 600 M.) jährlich zur Museums- 
kasse zu geben und bei etwa einmal eintretender Auflösung des Vereins die Museums- 
kasse zur Erbin des disponibeln Aktivfonds einzusetzen. Endlich bat man, die Sache 
möge zur raschen Entscheidung an den nächsten Rat- und Bürgerkonvent gebracht 
werden. Am Schlufs des von Pastor Müller an dem Tage geführten Protokolls heifst es 
dann: »So sieht sich denn der Verein endlich dem Ziel seiner seit vier Jahren gehegten 
Wünsche und bisher vergeblichen Mühen nahe gcrückt. Möge es denn endlich zum 
Heil der Wissenschaft und zur Ehre und Freude der Vaterstadt und des Vereins er- 
reicht werden!« | 

Und es wurde jetzt bald erreicht! Durch Beschlufs des Rats und der Bürger- 
schaft vom 11. Mai 1843 wurden die Verfassung des Museums und die Vereinbarung 
genehmigt und die letztere dann durch Unterschrift der Beteiligten am 17. Mai 1843 
rechtskräftig gemacht. Damit war die Gründung des städtischen Naturhistorischen 
Museums vollzogen. 

Durch die »Vereinbarung«, die wir im Anhange unter IV im Wortlaute folgen 
lassen, verpflichtete sich der Verein I) seine gesamten Sammlungen dem Naturhistorischen 


2 


10 Pr. HEINRICH BOLAU, Geschichte des Naturwissenschaftlichen Vereins, 


Museum einzuverleiben, auch später ihm etwa zuschende Naturalien an dasselbe abzu- 
liefern; 2) alle bereits erworbenen oder noch zu erwerbenden naturwissenschaftlichen 
Werke und Kupfer der Stadtbibliothek zum Eigentum zu übergeben und 3) alljährlich 
eine Summe von 500 f Courant (= 600 Mò in die Muscumskasse zu zahlen. Zur 
dauernden Sicherung dieser Zahlung setzte der Verein in seinen Statuten fest, dafs nach 
und nach ein Fonds angesammelt werde, dessen Zinsen genügten, den Beitrag für das 
Museum von 600 M. jährlich zu decken. Dagegen wurde dem Verein die Mitverwaltung 
des Naturhistorischen Museums in der Weise cingeräumt, dafs er die Hälfte der acht 
Mitglieder der Museumskommission aus seinen Mitgliedern deputierte, während die andere 
Hälfte derselben von der Gymnasial-Deputation zu wählen war, und dafs seinem Präsi- 
denten alljährlich Bericht über die Fortschritte und die Kasse des Muscums zu erstatten 
war. Aufserdem wurde dem Verein zugestanden 1) die Benutzung der Räume des 
Gymnasiums zu seinen Sitzungen, 2) die Benutzung des Museums und der Stadtbibliothek 
bei seinen Versammlungen und 3) freier Eintritt in das Museum für die Vercinsmitglieder 
und durch sie etwa einzuführende Fremde. 

Die Museumskommission wurde nach Mafsgabe der Bestimmungen der Verein- 
barung dann wie folgt zusammengesetzt: 


[ Dr. Gacdechens, Mammalogie und Ornithologie, 
Vom Naturwissen- 


Dr. Jonas, Conchyliolorie und Malakozoolovie 
schaftlichen Verein y > sic, 


J Dr. Schmidt, Reptiliologie und Ichthyologic, 
ne Prof. Mredel, Mineralogie, Geognosie und Paläontologie. 
Dr. Sieeis, Botanik, 
Von der Gymnasial- | ZZorey. Entomologie, 
Deputation gewählt: | Dr. Wasmann, niedere Tiere, 
I”, von Winthem, Entomologie. 

Sic hielt ihre erste Sitzung am 31. Juli 1843. 

Wie bedeutend der Anteil war, den der Verein durch Hergabe seiner Samm- 
lungen an der Gründung des ;lHamburgischen Naturhistorischen Museums« nahm, und 
wie sehr seine Sammlungen die damaligen des Staates überragten, das zeigt am besten 
die Zusammenstellung, die wir im Jahresbericht des Vereins von 1843 nach cinem Ver- 
zeichnis von Professor IMede/ aufbewahrt finden: 


Alte, ursprünglich im Gymnasium Sammlung des 
vorhandene Sammlung: Naturwissenschaftlichen Vereins: 
12 ausgestopfte Säugetiere; 32 Fleder- 82 Species Säugetiere. 
mäuse in Glaskästen, 52 in Weingeist 
aufbewahrt. 
2 brauchbare Skelette und einige Schädel. 44 Säuretier-Skelette, darunter z. R. das 


einer Seekuh, HHalicore Dugong Quoy et 
Gaim. und 35 Schädel; 23 Vogelskelette; 
20 Fisch- und 11 Amphibienskelette. 


Dr. HEINRICH BOLAUD, Geschichte des Naturwissenschaftlichen Vereins. II 


Die von I:ssensche Vogelsammlung, die 
dem Staat im Jahre 1833 testamentarisch 
vermacht worden war; sie umfafste ziem- 
lich vollständig die Vögel Europas, viele 
Amerikas und anderer Weltteile, und war 
die einzige Sammlung, die in zweck- 
mäfsigen Schränken, wenn auch gedrängt, 
aufgestellt war. Sie bestand aus 1147 
Nummern. 

52 Species Schlangen, 80 Eidechsen, Schild- 
kröten und Frösche, 49 Fische; gröfsten- 
teils in Wecingeist aufbewahrt. Diese 
meistens aus der Sammlung des verstor- 
benen Physikus Bolten herrührenden Na- 
turalien litten fast sämtlich an den Ge- 
brechen des Alters. 

Die Amsincksche Käfersammlung, ungefähr 
3000 Stück, und eine Sammlung Schmcet- 
terlinge von Senator Merck. 

1570 Stück Conchylien in 480 Species, 
meistens ganz gewöhnliche Stücke, viel- 
fach inkomplet und beschädigt. 

Unter den Mineralien, Gebirgsarten und 
Petrefakten waren nur eine Schenkung 
von Ruperti und eine geognostische Suite 
aus Mexiko bemerkenswert; alles Übrige 
war wenig brauchbar, ohne jede Ordnung 
und ohne nähere Angaben. 


35 ausgestopfte Vögel; — deren Zahl war 
deshalb so klein, weil man nur zur Er- 
gänzung der von Z:ssenschen Sammlang 
angekauft hatte. 


152 Species Schlangen, 68 Eidechsen, 
Schildkröten und Frösche, 54 Species 
Fische. 


4500 Species Insckten. 


3900 Stück Conchylien in 1860 Species, 
durch welche 205 Genera repräsentiert 
wurden. 

2000 Stück Mineralien, Gebirgsarten und 
Petrefakten, darunter wertvolle Uralische 
und Sibirische Mineralien, ein Geschenk 
von Minister von Struve. 


84 Stück Krustaceen, 85 Arachniden und 65 Echinodermen bildeten den vom 
Staat und dem Verein gemeinschaftlich gegründeten Stamm der betreffenden Abteilungen 


des neuen Museums. 


Der Verein hatte im November 1842 für seine Sammlungen im ganzen bereits 
5600 ¥ Cour. (= 6720 M.) aufgewendet; dazu kamen natürlich die reichen Geschenke, die 
dem Vereinsmuseum bis dahin bereits zugewendet waren. 

Das lebhafte Interesse, das der Verein an der Gründung unscres Naturhistorischen 


Museums genommen hatte, wurde naturgemäfs schon dadurch wach erhalten, dafs fast 
regelmäfsig bis zum heutigen Tage alles, was als neu dem Museum zuging oder sonst 
von hervorragender Bedeutung war, in den Vereinssitzungen vorgezeigt und besprochen 
wurde; dafs von dem Rechte, die Schätze des Museums bei den wissenschaftlichen Arbeiten 
im Verein zu benutzen, ein ausgedehnter Gebrauch gemacht wurde und dafs die Mitglieder 
der Museumskommission, — auch die von der Gymnasial-Deputation, bezw. von der 


12 Dr. HEINRICH BOT.AU, Geschichte des Naturwissenschaftlichen Vereins. 


Oberschulbehörde gewählten — bis zum Herbst 1882, wo das Museum in die alleinige 
Verwaltung des Staats überging, one lasnahme dem Verein angehörten. Daher hat denn 
auch der Verein die fernere Entwicklung unseres vaterstädtischen Institutes nicht nur 
dadurch gefördert, dafs er gemäfs der »Vercinbarung« alle ihm selber zugehenden Na- 
turalien an das Museum ablieferte; er hat aufserdem namentlich auch durch direkte An- 
käufe, wie durch Sammlungen von Geldmitteln und Veranstaltung von Verlosungen zur 
Ermöglichung des Ankaufs wünschenswerter Sammlungen und grösserer Objekte für die 
Ausfüllung von Lücken in den Museumssammlungen gesorgt. 

Geldmittel zur Förderung anfangs der eigenen Sammlungen, dann des Hamburger 
Naturhistorischen Museums sind aufser dem vertragsmäfsigen jährlichen Beitrag von 600 M. 
wiederholt im Verein und durch denselben aufgebracht worden. In der ersten Jahresver- 
sammlung, am 28. November 1838, ergab cine Subskription, wie oben bereits erwähnt, 
für das zu cerrichtende Museum die Summe von 918 $ 8 £ Cour. (= 1102 M. 20 %). 
Am 29. Dezember 1841 wurde beschlossen, für die Zizssche Reise nach Grönland cine 
Summe von 400 # Cour. (= 480 Mì durch Sammlung bei den Mitgliedern aufzubringen. 
Am 28. Mai 1845 wurden 200 Ẹ Cour. (= 240 M.) aus Vereinsmitteln zum Ankauf einer 
Sammlung von Wespennestern bewilligt, die den Stamm der betreffenden schönen und reich- 
haltigen Sammlung des Museums bildet. Kine neue Subskription zur Anschaffung von 
Tieren, — ursprünglich war nur der Ankauf ciner sehr schönen Zebrahaut vorgeschlagen, — 
wurde vom Verein dann bereits wieder am 24. September 1845 unter den Mitgliedern er- 
öffnet; sie hatte einen guten Erfolg; man erhielt, trotzdem die Sammellisten nicht einmal 
zu allen Mitgliedern gekommen waren, 1300 f Cour. (= 1560 M) und übergab das Geld 
dem Museum; dieses kaufte dafür einen braunen Bären, einen Lippenbären, Ursus labiatus 
Blainv., einen Steinbock, ein Zebra, Equus Zebra L., ein Paar Löwen, eine Hyäne, zwei An- 
tilopen, cin Renntier und verschiedene kleine Säugetiere. Für den Ankauf cines Teils des 
Rödingschen Museums wurde bereits im Januar 1847 wieder gesammelt.) Im Juni 1849 
wird auf Antrag der Museumskommission dem Kustos des Museums zu einer Reise nach 
Berlin zwecks Fachstudien ein Reisestipendium aus Vercinsmitteln bewilligt. Kin Jahr darauf 
im Mai 1850 wird wieder zu gunsten des Ankaufs eines Walfischschädels und der Sc/lott- 
hauberschen Helminthensammlung subskribiert; 249 $. 8 # Cour. (=- 299 M. 40 6%) werden 
zusammengebracht, welche Summe der Verein auf 281 $ 4; Cour. (20 I.d’or) erhöht. — 
Im Februar 1852 werden 50 Ẹ Cour. (-- 60 M.) aus Vereinsmitteln bewilligt, die verwendet 
werden sollen, falls eine durch die Museumskommission eröffnete Subskription zum Ankauf 
der von Winthemschen Schmetterlingssammilung nicht die genügenden Mittel ergeben sollte. 


zur Verwendung. Ähnlich wird verfahren, als im März 1853 der Ankaufspreis einer Giraffe, 


®) Das Aövdinesche Museum war cine reichhaltive Sammlung von Kunst- und Naturgepenständen. Nach 

S > 5 geg 
dem am 3. Juni 1846 erfolgten Tode des Besitzers, des Oberalten Aoding, wurden die wertvolleren Stücke des- 
selben für das Naturhistorische Museum angekauft. Die Subskription für den Zweck ergab ciwa 3000 13 


Cour. (= 3000 Al.) 


-— v e e e—a ĖS o e a M a > S o y any 


Dr. HEINRICH BOLAU, Geschichte des Naturwissenschaftlichen Vereins. 13 


500. Cour. (= 600 Mò, durch Sammlung aufgebracht werden soll. Die Subskription 
ergiebt 536 .& 8 £ Cour. (= 643 M. 80 $) und auch diesmal werden die aus der Vereins- 
kasse zur Verfügung gehaltenen 50 & Cour. (-= 60 M.) nicht gebraucht. — Die genannten 
Summen erscheinen um so bedeutender, wenn man bedenkt, dafs der Staat damals für 
die »Sustentation« des Museums nur 1000 fi. Cour. (= 1200 M.) jährlich aufwandte. 

Später wurden Sammlungen im Kreise der Vereinsmitglieder und in weiteren 
Kreisen zum Besten des Museums seltener. 

Wir finden die Erklärung dafür teils darin, dafs im Laufe der Zeit die »Susten- 
tation« des Staates an die Museumskasse höher geworden war, hauptsächlich aber in 
dem Umstande, dafs die reichen Zuwendungen, die die Zoologische Gesellschaft von 1863 
ab dem Museum machte, und die in allen wichtigeren Tieren bestanden, die im Zoolo- 
gischen Garten verendet waren, die Arbeitskraft des Präparators vollauf in Anspruch 
nahmen, so dafs schon aus diesem Grunde seltener an den Ankauf gröfserer Stücke ge- 
dacht werden konnte. | 

Für die Teilnahme weiterer Kreise an der Entwicklung des Muscums wurde aus 
der Mitte des Vereins heraus in verschiedenster Weise gesorgt. Der Abdruck der regel- 
mäfsigen Berichte der Museumskommission über die Fortschritte der ihr unterstellten 
Anstalt in den öffentlichen Blättern wurde von hier aus bereits. 1845 angeregt. Das ist 
umsomehr anzuerkennen, da man damals in solchen Dingen anders dachte, als in unsern 
Tagen. Denn wahrlich! charakteristisch für die engherzige Auffassung jener Zeit ist 
unter anderem jene Stelle im Protokoll der Vereinssitzung vom 23. Februar 1848, wo 
es heifst: »Herr V. Brandt sprach den Wunsch aus, es möge vom Vorstande eine An- 
zeige über die Leistungen des Naturhistorischen Museums und eine Angabe über den 
Ort, wo die Eintrittskarten zu demselben zu bekommen seien, den vaterstädtischen Blät- 
tern einverleibt werden, worauf Herr Prof. Wiebe! darauf aufmerksam machte, dafs, so 
wünschenswert eine solche Anzeige auch für das Gedeihen des Institutes sei, dieselbe doch 
unmöglich vom Vorstande des Vereins oder von der Museumskommission ausgehen könne, 
daher man abwarten müsse, ob nicht ein dem Institut selbst fern stehender Freund der 
Wissenschaft es übernehmen werde, die Aufmerksamkeit des Publikums auf dasselbe zu 
lenken.«e — Damals nämlich mufste jeder, der das Museum besuchen wollte und nicht 
etwa als Mitglied des Naturwissenschaftlichen Vereins durch seine Mitgliedskarte sich 
ausweisen konnte, tags zuvor sich cine Karte vom Kustos des Museums holen, um am 
folgenden Tage zum Besuch des Museums berechtigt zu sein. Man wollte zwar das 
Interesse am Museum vermehren, —— man fürchtete aber Überfüllung, vielleicht auch zu 
grofse Öffentlichkeit. Daher die Angst, selber auf die Leistungen des Museums öffent- 
lich aufmerksam zu machen! — In demselben Protokoll heifst es dann weiter: »Herr Brandt 
fragte weiter an, ob bis jetzt nichts geschehen sei, um dem in früheren Versammlungen 
ausgesprochenen Wunsche zu genügen, dafs das Naturhistorische Museum dem Publikum 
fortan eine Stunde länger geöffnet werde, und erhielt von dem Präsidenten die Erklärung, 
dafs in der Museumskommission ein diesem Wunsche entsprechender Antrag angenommen, 
dafs aber von der obersten Behörde eine öffentliche Anzeige der verlängerten Zeit zum 


14 Dr. IIEINRICH BOLAU, Geschichte des Naturwissenschäaftlichen Vereins. 


Besuche des Museums nicht beliebt worden sei, daher eine solche Anzeige für jetzt nur 


im Gymnasialsebäude angeschlagen werden könne.» (!) — Wieder also die Furcht vor 
der Offentlichkeit! — Es wurde nur langsam anders. — Der in jenen Tagen in Frankreich 


losbrechende Revolutionssturm rüttelte zwar auch bei uns die Geister aus alten Vor- 
urteilen auf; aber noch im Januar 1849, als die Museumskommission von der Bestimmung, 
nach welcher der Eintritt ins Museum nur gegen Eintrittskarten gestattet war, abging, 
wurde eine in der Sache an die Gymmasialdeputation gerichtete Anfrage von dieser 
durch den ausgesprochenen Wunsch dahin beantwortet, eine Öffentliche Bekanntmachung 
nicht zu veranlassen. — 

Die erfolgreiche Thätigkeit unseres Vereines für die Förderung des Naturhisto- 
rischen Museums wird in der Anlage zu einem Senatsantrage an die Bürgerschaft vom 
Mai 1854, betr. Erhöhung der Staatsdotation des Naturhistorischen Museums, besonders 
anerkannt; cs heifst dort: »Es ist nachziewiesen worden, dafs der Naturwissenschaftliche 
Verein nicht allein die 500 } Cour. alljährlich richtig einbezahlt, sondern auch durch 
scine Bemühungen von Privatpersonen schr anschnliche Geschenke und Beiträge herbei- 
geführt, nicht minder die jährlichen Kinnahmen durch Verkauf und Verlosung von 
Doubletten in umsichtiger und erfolgreicher Weise vermehrt hat. Dadurch hat das Iluscum 
einen Umfang und eine bedeutung erhalten, die wohl niemand vor sehn Jahren erwarten 
konnte, und die aus dem Staatssuschusse allein niemals zu beschaffen gewesen ware; es 
ist cine Zierde Hamburgs geworden und hat seinen Nutzen für die öffentlichen, sowie 
auch für Privatschulen vielfältig bewährt.« 

Und als später unter der fleifsigen Arbeit uncigennütziger Mitglieder unseres 
Vereins das Museum sich immer reicher und vollkommener entwickelt hatte, so dafs die 
Muscumskommission selber zu erklären sich genötigt sah, dafs sie bei der Unmöglichkeit, 
die auf ihr ruhende sehr bedeutende Arbeitslast zu bewältigen, sich nicht in der Lage 
sehe, ferner die Verantwortung für die Verwaltung der Sammlungen zu tragen; sie halte 
vielmehr die möglichst baldige Anstellung besoldeter Beamten für dringend geboten, — 
da war unser Verein, um der weiteren Ausbildung der Museumsverwaltung und damit des 
Museums selber nicht hindernd im Wege zu stehen, einsichtsvoll genug, secin Lieblings- 
kind, das jetzt zum Manne herangercift war, ganz der kräftigeren Führung des Staates 
zu überlassen. 

Bereits durch Beschlufs der Versammlung vom 29. Dezember 1875 hat der Verein 
dem Staate gegenüber die Erklärung abgegeben, dafs er sich den Anordnungen be- 
züglich der Verwaltung, welche sich später staatsscitig als erforderlich herausstellen sollten, 
unterwerfen wolle; er hat damit auf das Recht der Mitverwaltung des Museumis verzichtet, 
dasselbe aber noch vertragsmäfsig ausgeübt bis zum Herbst 1832, wo die neue staatliche 
Museumsverwaltung ihre Thätigkeit begann. Der Verein zahlt seit der Zeit keinen Bei- 
trag zur Museumskasse mehr, ist im übrigen aber, abgeschen von ganz unwesentlichen 
Änderungen, in demselben Verhältnis zum Staat geblieben, wie es durch die »Verein 
barung« vom 17. Mai 1843 festgesetzt ist. — 

Es ist hier der Ort auch noch der durch den Naturwissenschaftlichen Verein ge- 


Dr. HEINRICH BOLAU, Geschichte des Naturwissenschaftlichen Vereins. 15 


schehenen Neubegründung unsers Museums für Völkerkunde zu gedenken. Bis zum 
Jahre 1866 hatte in einem ziemlich dunklen, an der Domstrafse.belegenen Raume des 
Naturhistorischen Museums eine kleine Zrhnographische Sammlung unter der Obhut des 
Akademischen Gymnasiums ein kümmerliches Dasein gefristet. Niemand hatte sich 
ernstlich um sie bemüht, niemand für ihre Vermehrung Sorge getragen. So war sie 
denn allmählich mehr und mehr unter Rost, Staub und Mottenfrafs verkommen. — Da 
waren es die beiden Mitglieder unseres Vereins Ferdinand Worlee und Adolf Oberdörffer 
auf deren Veranlassung die Gymnasial-Deputation dem Naturwissenschaftlichen Verein den 
Wunsch aussprach, er möge die Verwaltung der Ethnographischen Sammlung übernehmen 
und zwei seiner Mitglieder mit deren Führung betrauen. Der Verein entsprach dem 
Wunsche gerne, wählte die obengenannten Ferdinand Worle und Adolf Oberdörffer als 
Verwaltungskommission und bewilligte ihnen, da von seiten des Staates keinerlei Mittel 
verfügbar waren, einen vorläufigen Kredit von 200 Ẹ Cour. (= 240 M.) — Später hat 
bekanntlich auch diese Sammlung als Museum für Völkerkunde eine selbständige Stellung 
unter den Staatssammlungen erhalten. 

Was das wissenschaftliche Leben in den Versammlungen des Vercins anlangt, 
so war dasselbe anfangs ein recht erfreulich reges. Neue Entdeckungen oder wissen- 
schaftliche Arbeiten der Mitglieder selbst kamen freilich selten zum Vortrag und zur Be- 
sprechung, die meisten Mitglieder konnten neben ihrer Berufsthätigkeit wenig Zeit für 
umfangreichere wissenschaftliche Untersuchungen erübrigen;, man teilte sich seine Er- 
fahrungen und Beobachtungen mit und suchte sich durch Besprechung von Objekten 
aus den eigenen’ Sammlungen oder aus denen des Museums gegenseitig zu belehren. 
Ein Augenzeuge, unser vor kurzem verstorbener Ehrenpräsident, Bürgermeister Alrchen- 
pauer sagt über die ersten Versammlungen des Vereins in einem Briefe an den Schreiber 
dieser Zeilen im November 1881: »Besonders lebhaft treten mir die ersten Versammlungen 
in der »Alten Stadt I.ondon« vor Augen, wo Struve, Miiller und Zimmermann am Präsi- 
dententisch safsen und etwa vier Reihen Stühle mit Teilnehmern ihnen gegenüber, umgeben 
von einem Gewirre ausgestopfter Tiere, Muscheln, Steinen, Pflanzen und sonstigen Raritäten 
aus den Sammlungen der einzelnen Herren, ... Leider bildeten sich bald Parteiungen .. .« 

Aus dem Wunsche, die Thätigkeit der Mitglieder nach Neigung und Studium 
mehr zusammenzufassen, entstanden die Sektionen. Neben der Hauptversammlung, die 
allmonatlich einmal statt hatte, versammelten sich die Scktionen ebenfalls der Regel 
nach allmonatlich einmal, so dafs durchschnittlich jede Woche eine Versammlung zu- 
sammentrat. Vom März 1838 ab fanden die Versammlungen meistens Mittwochs statt, 
doch hat die physikalische Sektion jahrelang Montags getagt aus Rücksicht auf 
einige Mitglieder, die Mittwochs an den Sitzungen der Bürgerschaft teilnehmen mufsten. 
Die erste Bildung von Sektionen fand bereits im März 1838 statt. Die erste Sektion, 
für Chemie, Physik, Astronomie und Meteorologie”) versammelte sich jeden ersten Mitt- 


——— 


*) Später, von 1848 ab: Erste Sektion für Physik, Chemie und Mineralogie, zweite für Zoologie und 
Botanik, dritte für Geographie und Geologie. 


16 Dr. HEINRICH BOLAU, Geschichte des Naturwissenschaftlichen Vereins. 


woch im Monat, die zweite Sektion, für Zoologie und Botanik (die sich später im Oktober 
1840 in cine solche für Botanik und eine für Zoologie teilte, welche sich abwechselnd 
alle zwei Monate versammelten,) tagte jeden zweiten Mittwoch und die dritte Sektion, 
für Mineralogie, Geologie und Petrefaktenkunde hielt am dritten Mittwoch jedes Monats 
ihre Sitzungen. Während die allgemeinen Sitzungen am letzten Mittwoch jedes Monats 
(nur die ersten vier Versammlungen im November und Dezember 1837 und Januar und 
Februar 1538 waren an einem Sonnabend gehalten worden) bis zum 24. April 1839 in der 
»Alten Stadt London«, dann aber im Hause des Vereinsvorsitzenden von Struve auf der 
Kaffamacherreihe 27 stattfanden, der zu diesem Zweck seinen Saal hergegeben hatte, 
tagten die Sektionen in den ersten beiden Jahren in den Wohnungen einzelner Mitglieder, 
die erste bci Dr. Zimmermann, die zweite bei Dr. lbendroth und die dritte beim Mi- 
nister von Struve. — Vom Mai 1840 bis Juni 1842 hielten sämtliche Sektionen ihre Ver- 
sammlungen im Lokale des Museums, Kaffamacherreihe 33. 

Eine Zeit lang gab es auch, wie oben bereits erwähnt, cine besondere botanische 
Sektion, die im Hause des Physikus Dr. Buck ihre ersten Sitzungen hielt und überhaupt 
nur 3—4 Jahre bestanden hat. Eine Sektion für Mikroskopie wurde während der ganzen 
Dauer ihres Bestehens, vom Februar 1865 bis zum September 1877, von Dr. med. C. A. 
Gottsche-Altona geleitet. | 

Neben den unleugbaren Vorteilen, die das Arbeiten in Sektionen bot: grössere 
Konzentration Gleichstrebender, bessere Verteilung der Verwaltungsarbeiten an die einzelnen 
Vorsitzenden und ihre Schriftführer, hatte eine solche Einteilung doch auch wieder manche 
Schattenseiten: es gelang für einzelne Sektionen nicht immer, die genügende Zahl von 
Vorträgen zusammenzubringen, während in anderen Sektionen wiederum eine Überfülle 
von Stoff vorhanden war; überdics schieden sich die Vertreter der einzelnen naturwissen- 
schaftlichen Fächer zum Teil gar zu sehr von einander ab, während doch eine Teilnahme 
aller an allen Arbeiten des Vereins erwünscht sein mufste. Nachdem man daher Ende 
1867 den Beschluss gefasst hatte, die alten Namen der Scktionen fallen und diese selbst, 
aber ohne scharfe Begrenzung der Fächer unter cigenen Vorsitzenden als erste, zweite 
und dritte Scktion fortbestehen zu lassen, wurde neuerdings die Sektionenabteilung ganz 
aufgehoben und die Leitung sämtlicher Sitzungen in erster Linic dem ersten Vorsitzenden 
des Vereins übertragen. Um aber den verschiedenen Zweigen der Naturwissenschaft doch 
möglichst gerecht zu werden, pflegt man scit cinigen Jahren die beiden Vorsitzenden in der 
Regel in der Art und zwar jährlich abwechselnd zu wählen, dass die beschreibenden und 


die exakten Naturwissenschaften zugleich durch sie vertreten sind; — überdies wird die 
Tagesordnung der einzelnen Sitzungen auch heute noch so geordnet, dafs die einzelnen 
naturwissenschaftlichen Fächer möglichst zusammengchalten werden. — Durch den rascheren 


Wechsel der leitenden Mitglieder unseres Vorstandes, der durch neuere Statutenänderungen 
in den Jahren 1878 und 1884 beliebt wurde, ist ein regeres, frischeres Leben in die Leitung 
des Vereins gekommen, wenn auch die Stabililät des Vorstandes dadurch eine geringere 
geworden ist. 

Für die Veröffentlichung der Sitzungsberichte in den meistgelesenen Zeitungen der 





Dr. HEINRICH BOT.AU, Geschichte des Naturwissenschaftlichen Vereins. 17 


Vaterstadt ist seit den ersten Zeiten des Bestehens des Vereins gesorgt worden, anfangs 
nur in längeren Zwischenräumen und nicht immer regelmäfsig, neuerdings allwöchentlich. 

Die Statuten des Vereins haben im Laufe der Jahre vielfache Änderungen er- 
fahren. Aus den anfänglich neun Paragraphen waren im Laufe der Zeit, und zwar be- 
reits im Jahre 1844 sechsundachtzig geworden, ein wahrer Codex mit allen möglichen Ein- 
schränkungen, Verwahrungen und Vorschriften, die nur zu leicht, weil sie zu sehr ins 
Einzelne gingen, Anlafs zu Differenzen gaben. Später ist Vieles wieder weggeschnitten 
worden, so dafs die Vereins-Satzungen heute nur noch 38 Paragraphen enthalten. Als 
eine der wichtigeren Änderungen in den Statuten ist die allmähliche Herabsetzung des 
jährlichen Beitrages der Mitglieder zu nennen, durch die man dem Verein eine breitere 
Grundlage in der Bevölkerung geben wollte. Die erste Ermäfsigung wurde am 27. De- 
zember 1848 beschlossen, wo das Eintrittsgeld von 8 Ķ Cour. (= 9 M. 60 4) gestrichen 
wurde. Mit dem jährlichen Beitrag selber ging man von dem anfänglichen Ld’or = 14 & 
Cour. (= 16 M. 80 4) am 28. Oktober 1868 herunter auf 10 Ẹ Cour. (= 12 M.) und 
am 26. Januar 1876 auf 10 M. — 

Der Tag der Stiftung unseres Vereins ist in den ersten Jahren regelmäfsig durch 
Rede und Festmahl gefeiert worden, bis 1841 in der »Alten Stadt London«; dann, als 
dieser Gasthof beim Brande zerstört worden war, im November 1842 im Logensaal auf 
der grofsen Drehbahn. Im Jahre 1840 waren zum erstenmal Damen zu diesem Feste 
erschienen; ob auch in den folgenden Jahren, läfst sich nicht feststellen, es ist aber nicht 
wahrscheinlich. 

Die funfzigste (Monats-)Versammilung des Vereins hätte am 25. Mai 1842 statt- 
finden sollen. Durch den grofsen Brand vom 5. bis 8. Mai wurde ihre rechtzeitige Ab- 
haltung aber leider verhindert. Am 6. Mai war auch der /Zllertsche Gasthof, die »Alte 
Stadt London«, das gewöhnliche Versammlungslokal des Vereins, zerstört worden. Es 
hatte südöstlich neben S/rezis Hötel am Jungfernstieg 26 und 27 gelegen und wurde an 
demselben Tage wie dieses durch Sprengung niedergelegt. 

So kam es denn, dafs sich die Mitglieder zur funfzigsten Versammlung erst am 
29. Juni 1842 und zwar zum erstenmal in dem Raume zusammenfanden, der seit jener 
Zeit ununterbrochen zu unsern Versammlungen gedient hat: im grossen Hörsaal des 
Gymnasiums (»Grofses Auditorium des akademischen Gymnasiums«) im Mittelgebäude des 
Johanneums. Das Lokal war auf eindringliche Verwendung des Präsidenten von Struve 
vom Scholarchate für den Zweck eingeräumt worden. Von Struve eröffnete die Ver- 
sammlung, die eine den Zeitverhältnissen entsprechend ernste war, mit einigen Worten 
des Dankes an die Behörden, die den neuen Raum für die Versammlungen bewilligt 
hatten und mit der Mahnung an die Mitglieder, trotz der grofsen Verluste, die die ver- 
heerende Flamme unserm Hamburg und insbesondere auch einzelnen unserer Mitglieder 
gebracht, die zum Teil sehr wertvolle Sammlungen verloren hätten, den Mut nicht sinken 
zu lassen, sondern frisch und unermüdlich die wissenschaftliche Arbeit fortzusetzen; der 
Verein selbst könne sich glücklich schätzen, dafs ihm die in seinem Museum angesam- 
melten Schätze erhalten geblieben wären. Redner gedachte dann noch der grofsen Ver- 


3 





IS Dr. HEINRICH BOLAU, Geschichte des Naturwissenschäfllichen Vereins, 


lüste, die Physikus Duek erlitten, dessen ausgezeichnete Pflanzen- und Fruchtsammlung 
cin Raub der Flammen geworden war, und der „Inszliche Verein, dessen gesamte Bi- 
bliothek verloren gegangen sei und trug dann namens des Vorstandes darauf an, das im 
Vereinsmusceum befindliche, von Dr. A. @. Zimmermann geschenkte Herbarium, sowie 
die dort angesammelten Früchte dem Physikus uek zu schenken und dem Arztlichen 
Verein sämtliche durch Tausch erhaltene medizinische Schriften aus der V'ereinsbibliothek 
zu überweisen. — Da von vornherein botanische und medizinische Gegenstände von den 
Sammlungen des Vereins ausgeschlossen gewesen waren, so fanden beide Anträge all- 
gemeine Zustimmung, 

Die friedliche, ruhige Entwicklung unseres Vereines unter wissenschäftlicher Arbeit 
und in freundschaftlichenn Zusammenhalten seiner Mitglieder sollte bald darauf und leider 
auf lange Dauer unterbrochen werden. Die Wahl der ersten Museumskommission im 
Jahre 1843 gab zuerst zu ernsten Mifshelligkeiten und Streitiokeiten im Schofse des 
Vereins Anlafs, die, wie schon die Abnahme der Mitglieder (s. Anhang HI) zeigt, auf das 
Leben des Vereins vom nachteiligsten Fıinflufs waren und die bald aus diesem, bald aus 
jenem Grunde immer von Neuem wieder angefacht wurden; wir finden ganze Protokolle 
mit Streitigkeiten, Protesten und ähnlichen Dingen erfüllt, während die wissenschaftliche 
Arbeit schweren Schaden litt. Alle Versuche, durch öffentliche Vorträge und Demon- 
strationen das Vereinsleben wieder zu heben, blieben unter diesen Umständen erfolglos. 
Man gab dieselben wegen Mangel an Teilnahme auch bald wieder auf. Die Vereins- 
versammlungen selbst wurden schliefslich aufser dem Vorstande nur noch von einzelnen 
Mitgliedern besucht, so dafs oft nicht einmal zehn Personen in den Versammlungen an- 
wesend waren. Es wundert uns daher auch nicht, wenn von der Feier cines Stiftungs- 
festes bald überhaupt nicht mehr die Rede war und wenn selbst die November- 
versammlung des Jahres 15862 vorübergehen konnte, ohne dafs des fünfundzwanzigjährigen 
Bestchens des Vereines auch nur mit Einem Worte gedacht worden wäre. Anders wurde 
es erst, als im März 1864, nachdem der gröfste Teil des Vorstandes scin Amt nieder- 
gelegt hatte, durch Urwahl ein neuer Vorstand an die Spitze des Vereins berufen wurde. 
Von jener Zeit her ist der Verein in Eintracht und Frieden und unter fleifsiger Arbeit 
von Jahr zu Jahr kräftiger erblüht. Die erste Folge des wicderhergestellten Friedens war 
die Wiedervereinigung der Nalurwissenschaftlichen Gesellschaft mit unserm Verein. 
Bald nach dem Ausbruch der erwähnten Zwistigkeiten, am 8. Januar 1845, traten nämlich 
sechs Männer, die bis dahin eifrig thätige Mitglieder unsers Vereins gewesen waren, 
zusammen zu einer Naturwrssenschafllichen Gesellschaft, die beim Beginn des dritten 
Jahres bereits 21 Mitglieder zählte und an deren Spitze der bisherige erste Präsident 
unsers Vereins, Heinrich von Struve, bis zu seinem Tode, den 9. Januar 1851, stand. Die 
Wiedervereinigung dieser Sezession fand auf Einladung des Natursnrssenschaftlichen Vereins 
vom 30. März 1864, und nach am 27. April erfolgtem Vorschlag, am 25. Mai 1864 statt. 
Die Mitglieder der »Gescllschaft« wurden, soweit sie nicht bereits dem Verein angehörten, 
gemeinsam und einstimmig in denselben aufgenommen. Seit der Zeit hat sich der Verein 
in friedlicher wissenschaftlicher Arbeit freudig weiterentwickelt; das zeigt am besten die 


Dr. HEINRICH BOL.AU, Geschichte des Naturwissenschaftlichen Vereins. 19 


auf 220 angewachsene Zahl der wirklichen Mitglieder (s. Anhang II). Am 26. Novem- 
ber 1864 wurde zuerst wieder und von da ab regelmäfsig das Stiftungsfest gefeiert. 1869 
nahmen an demselben zuerst wieder Damen teil, im Kriegsjahr 1870 wurde von einer 
gröfseren Feier abgesehen; dafür aber in patriotischer Weise die Summe von 300 }. Cour. 
(= 360 M) für die Pflege im Felde erkrankter Krieger bewilligt. 

Von der regen wissenschaftlichen Arbeit der Mitglieder des Vereins geben auch 
die »Abhandlungen aus dem Gebiete der Naturwissenschaften, herausgegeben vom Natur- 
wrssenschaftlichen Verein in Hamburgs Kunde. Nachdem bereits früher, im Jahre 1845 
erfolglose Verhandlungen mit der Naturforschenden Gesellschaft in Rostock und mit der 
Kieler und Schleswigschen Gesellschaft für Naturkunde wegen einer gemeinsamen Rce- 
daktion und Herausgabe einer naturwissenschaftlichen Zeitschrift stattgefunden hatten, 
erschien im Jahre 1846 der erste Band unserer eigenen »ÄAbhandlungen.« Neun stattliche 
Quartbände mit zahlreichen Tafeln sind im Lauf der Jahre einander gefolgt, der letzte er- 
schien im vorigen Jahr 1886; ihnen schliefst sich der vorliegende zehnte als Jubiläums- 
festschrift an. — In den ersten Jahren wurden, wenn auch nicht regelmäfsig, aufserdem 
kurze Jahresberichte gedruckt und von 1875 bis 1881 » Perkandlungen«, in die aufser den 
eigentlichen Sitzungsberichten eine Reihe kürzerer wissenschaftlicher Arbeiten aufgenommen 
wurde. Neuerdings sind die Jahresberichte den Abhandlungen vorgedruckt worden. 

Mit verwandten hiesigen und auswärtigen wissenschaftlichen Akademien, Vereinen 
und Gesellschaften hat unser Verein stets im regen Verkehr gestanden, der sich insbesondere 
auf den Austausch der wissenschaftlichen Arbeiten erstreckt hat. Heute stechen wir mit nicht 
weniger als 169 wissenschaftlichen Gesellschaften in Verbindung, von denen 66 in Deutsch- 
land, 73 im übrigen Europa, 2 in Asien, 26 in Amerika und 2 in Australien ihren Sitz haben. 

Von den hiesigen Gescllschaften, mit denen unser Verein stets ein freundschaft- 
liches Verhältnis unterhalten hat, nennen wir zunächst die älteste, die Vathematische Ge- 
sellschaft, dann den Ärstlichen Verein, die Geographische Gesellschaft und den Verein für 
naturwissenschaftliche Unterhaltung, sowie die Botanische und die Meteorologische Gesell- 
schaft. Zur Gruppe Hamburg-Altona der Deutschen Gesellschaft für Anthropologie, Etno- 
logie und Urgeschichte ist unser Verein durch Beschlufs vom 10. Juni 1885 in einen 
näheren Verband getreten; die Sitzungen dieser Gesellschaft finden nämlich von da ab 
am ersten Mittwoch jedes zweiten Monats gemeinschaftlich mit der Sitzung unsers Ver- 
eins, aber unter dem Vorsitz jener Gesellschaft, statt. 

In den ersten 6 Jahren besafs unser Verein eine eigene Drbliothek. Gemäfs der 
»Vereinbarung« mit dem Staat vom Mai 1843 ging dieselbe an die Stadtbibliothek über 
und von der Zeit ab hat der Verein die sämtlichen ihm im Tausch oder als Geschenk 
zugehenden wissenschaftlichen Werke vertragsmäfsig an die Stadtbibliothek abgeliefert. 
Diese ist dadurch in den Besitz einer ansehnlichen Reihe wertvoller, naturwissenschaft- 
licher Werke gelangt. — Wenn der Verein somit eine cigene Bibliothek nicht besitzt, auf 
Anschaffung einer solchen vielmehr zu gunsten der Stadtbibliothek verzichtet hat, so 
geniefst er dadurch auch seinerseits verschiedene nicht unwesentliche Vorteile: die von 
ihm erworbenen wissenschaftlichen Werke sind einer wohlgcordneten, staatlichen Ver- 


20 Dr. HEINRICH BOL.AU, Geschichte des Naturwissenschäftlichen Vereins. 


waltung unterstellt, für die der Verein selber keinerlei Opfer, weder an Zeit, noch an 


Geld zu bringen hat; die betreffenden Werke sind — natürlich unter Innchaltung der 
Bibliothekordnung — den Mitgliedern jederzeit zugänglich und stehen überdies dem wis- 


senschaftlichen Publikum überhaupt zur Verfügung, der Verein erfüllt also auch dadurch 
eine seiner Aufgaben: Unterstützung wissenschaftlicher Arbeiten und Verbreitung natur- 
wissenschaftlicher Kenntnisse. 

Hier dürfte der Ort sein, des nefurwissenschaftlichen Lesezirkels des Vereins 
Erwähnung zu thun. Derselbe wurde namentlich auf Mödrxs’ Betrieb im Jahre 1858 von 
der Stadtbibliothek eingerichtet, der auch die zirkulierenden Schriften verblieben. Jedes 
Mitglied des Lesezirkels zahlte einen Jahresbeitrag von 14 M. 40 4} und der Verein 
unterstützte das Unternehmen dadurch, dafs er den in der Abrechnung sich ergebenden 
Fehlbetrag im Belaufe von jährlich durchschnittlich 200 M. aus seinen Mitteln deckte. Im 
Jahre 1885 wurde der Lesezirkel hauptsächlich deswegen aufgehoben, weil die in ihm 
zirkulierenden Schriften zu lange der Benutzung in der Stadtbibliothek entzogen wurden. 

Wissenschaftliche Versammlungen und hervorragende Alänner der Wissenschaft in 
Hamburg zu begrüfsen, hat der Vercin wiederholt und freudig Gelegenheit genommen. 

Der 49. Versammlung deutscher Naturforscher und Arste, die im September 1876 
hier tagte, widmete unser Verein ein Heft sciner Abhandlungen; die Deutsche Ornitho- 
logische Gesellschaft hielt auf unsere Einladung im Jahre 1881 ihre Jahresversammlung 
in unsrer Vaterstadt, und den Deutschen Geographentag konnten wir Ostern 1885 zugleich 
mit der Geographischen Gesellschaft begrüfsen. — Als unser berühmter Landsmann, der 
Afrikareisende Dr. Heinrich Darth, nach langer, ebenso mühe- und gefahrvoller, wie 
erfolgreicher Reise am ı. Oktober 1855 den Boden Deutschlands in Hamburgs Hafen 
zuerst wieder betrat, wurde er gemeinschaftlich mit dem Kommerzium und den De- 
putationen anderer Vereine auch von unserm Verein herzlich willkommen geheifsen. Zu 
Ehren der von den Folarstationen zurückkehrenden Forscher, wie des Afrikareisenden 
Dr. G. A. Fischer veranstalteten die Geographische und die Mathematische Gesellschaft 
in Verbindung mit dem Naturwissenschaftlichen Verein, dem Verein für Naturwissenschaft- 
liche Unterhaltung und der Botanischen Gesellschaft am 17. November 1883 ein Abendfest 
in den Räumen des Sagebiel'schen Etablissements. — Seinem verdienten Mitgliede Dr. Schra- 
der und dessen Gefährten, die sich zu einer wissenschaftlichen Ixpedition nach Neu-Guinea 
begeben wollten, gab der Verein am 2. Febr. 1886 einen feierlichen Abschieds-Kommers. 

Alexander von Humboldts 100)Jähriger Geburtstag wurde vom Verein am 14. Sep- 
tember 1869 durch eine öffentliche Festversammilung begangen. 

Den Verkehr nach aufsen hat der Verein, wie durch seine Verbindung mit 
wissenschaftlichen Gesellschaften, so auch dadurch zu beleben gewufst, dafs er hervor- 
ragende Forscher auf dem Gebicte der Naturwissenschaften zu /Zhren- oder zu or- 
respondierenden Mitgliedern ernannte. Ein Verzeichnis der gegenwärtigen Ehren- und 
korrespondierenden Mitglieder geht dieser Abhandlung vorauf. Im übrigen müssen wir 
uns leider darauf beschränken, nur die Namen der zuerst vor 50 Jahren ernannten Zihren- 
mitglieder zu nennen. Es sind: 














Dr. HEINRICH BOLAU, Geschichte des Naturwissenschaftlichen Vereins, 21 


Carl Friedrich Hipp, Prof. emer. am hiesigen Gymnasium und Johanneum, als 
erstes Ehrenmitglied erwählt am 10. Februar 1838. 
M. J. Schleiden, Prof. der Botanik in Jena, erw. am 30. Mai 1838. 


Dann folgt am 31. Oktober desselben Jahres die Ernennung von 21 Gelehrten, 
darunter: 


J. F. Blumenbach, Dr., Obermedizinalrat und Professor in Göttingen, 
J. F. Brandt, Dr., Akademiker in St. Petersburg, 

Ph. A. G. Dahlbom, Dr., in Lund, 

J. F. L. Hausmann, Dr., Hofrat in Göttingen, 

F. C. L. Koch, Bergrat in Grünenplan bei Hannover, 

K. C. von Leonhard, Geheimrat und Professor in Heidelberg, 

M. H. K. Lichtenstein, Dr., Geheimrat und Professor in Berlin, 
Mädler, Dr., Professor in Berlin, später in Dorpat, 

Herm. von Meyer, Dr., in Frankfurt a./M., 

J. Nöggerath, Dr., Oberbergrat und Professor in Bonn. 


Man ernannte in den ersten Jahren sehr viele Ehrenmitglieder, so dafs der Verein 
1846 z. B. neben 92 ordentlichen Mitgliedern 66 Ehren- und 80 korrespondierende Mit- 
glieder zählte, und im Jahre 1852 bei einer Zahl von nur 66 wirklichen Mitgliedern sogar 
63 Ehren- und 87 korrespondierende Mitglieder. 

Als Ehrenpräsidenten haben dem Verein im Laufe der Jahre drei um denselben 
hochverdiente Männer vorgestanden: 


Heinrich von Struve, Kais. Russ. wirkl. Staatsrat und Minister-Resident, xc., er- 
wählt am 9. August 1843; legte sein Amt am 22. Januar 1845 nieder. 

K. G. Zimmermann, Dr. med., praktischer Arzt, erwählt den 29. Januar 1876 an 
seinem achtzigsten Geburtstage, starb am 6. April 1876. 


G. H. Kirchenpauer, Dr. jur. et philos., Bürgermeister von Hamburg, erwählt am 
8. August 1881 bei Gelegenheit seines funfzigjährigen Doktorjubiläunss, 
starb am 4. März 1887. 


Heinrich von Struve gehörte zu den Stiftern des Vereins und hat auf die erste 
Entwicklung desselben einen hervorragenden Einflufs gehabt. Er hat demselben als erster 
Präsident vom Tage der Stiftung an, den 18. November 1837, bis zum 7. Juni 1843 vor- 
gestanden. Der ausbrechende Unfriede veranlafste ihn zugleich mit der Mehrzahl seiner 
Kollegen vom Vorstande, sein Amt niederzulegen; man wählte ihn zwar zu demselben Anıte 
nicht wieder, ernannte ihn aber bald darauf im August desselben Jahres am Tage seines 
funfzigjährigen Dienstjubiläiums zum Ehrenpräsidenten. Eine Ehrendeputation überbrachte 
ihm mit den Glückwünschen des Vcreins die Ernennungsurkunde. Aber schon nach Jahres- 
frist, am 22. Januar 1845, legte der um den Verein hochverdiente Mann auch dieses 
Amt nieder. Als Mitglicd blieb er dem Verein bis zu seinem Tode, den 9. Januar 1851, 
treu. Bei der Leichenfeier war der Verein durch eine Deputation offiziell vertreten. 


t9 
td 


Dr. HEINRICH BOLAU, Geschichte des Naturwissenschäaftlichen Vereins. 


Von Struves Verdienste legen für unsern Verein in erster Linie in der sicheren 
und friedlichen Führung desselben, die für die wissenschaftlichen Arbeiten, wie für die 
Entwicklung unserer Gesellschaft von heilbringenden Folgen war. Als die Frage der 
Gründung cines Museums zur Verhandlung kam und als dann zunächst das Vereins- 
museum eingerichtet war, da war es vor allen vox Struve, der seinen ganzen Einflufs 
aufwandte, die Vereinigung der Vereinssammlungen mit denen des Staates zu stande zu 
bringen. Durch oft wiederholte reiche Schenkungen, namentlich an russischen Mineralien 
und mineralogischen Werken, wie durch regelmäfsige bedeutende Geldzuwendungen hat 
er bis an sein Lebensende die junge Anstalt gefördert. Ein neues, im Grunde unserer 
abgebrannten Nicolai-Kirche gefundenes Mineral, der Szruvit, trägt seinen Namen. Seine 
im Museum aufgestellte Büste bewahrt die Erinnerung an den um unsern Verein, wie 
um das Museum und um die Förderung der Naturwissenschäften in Hamburg überhaupt 
hochverdienten Mann! 

Dr. med. A. G. Zimmermann ist als Mitstifter unsers Vereins bereits auf dem 
ersten Blatte dieses geschichtlichen Abrisses an hervorragender Stelle genannt worden. 
Er hat viele Jahre hindurch dem Vorstande als cines der eifriesten Mitglieder angehört. 
Nach der Abtrennung der ; Naturwissenschaftlichen Gesellschaft: wirkte er in dieser, 
trat dann aber im Jahre 1864 zugleich mit allen Mitgliedern derselben unserm Verein 
wieder bei und hat in dessen Vorstand dann als Vizepräsident, Präsident und IÜhren- 
präsident bis in sein hohes Alter unermüdet gewirkt. Zimmermann war im Besitze einer 
reichhaltigen mineralogisch-paläontologischen Sammlung, die er schliefslich unserm Natur- 
historischen Museum vermachte und die namentlich die paläontologischen, krystallogra- 
phischen und die Metcoriten-Abteilungen desselben um viele wertvolle Nummern be- 
reicherte. Zimmermann hat belehrend und anregend durch sehr zahlreiche Vorträge, 
namentlich mineralogischen und meteorolozischen Inhalts gewirkt, wie er sich auch mit 
Vorliebe mit Erdbebenkunde zu beschäftigen pflegte. 

Bürgermeister Dr. C. //. Kirchenpauer. — Es ist ein sehr interessantes Zu- 
sammentreffen, dafs gerade an demselben Tage, wo man die erste Kommission zur Ver- 
waltung des Naturhistorischen Museums wählte, am 31. Januar 1839, der Mann in unsern 
Verein aufgenommen wurde, der jederzeit der Entwicklung und dem Gedeihen des Ver- 
eins und des Museums, wie des wissenschaftlichen Lebens der Vaterstadt überhaupt, 
seme regste Teilnahme widmete: Dr. jur. Gustav Heinrich Kirchenpauer. — Für ihn 
war die Beschäftigung mit den Naturwissenschaften, insbesondere mit zoologischen Unter- 
suchungen nicderer Tiere, die angenchniste Erholung in den Mufsestunden, die er nament- 
lich nach den schweren und oft sorgsenvollen Arbeiten der Woche in der Ruhe des 
Sonntags gerne suchte und fand. Wiederholte Vorträge im Verem und zahlreiche, zum 
Teil schr umfangreiche wissenschaftliche Arbeiten in unsern Abhandlungen zeugen ebenso 
von der gründlichen Wissenschaftlichkeit des seltenen Mannes, die er hier auf einem Ge- 
biete bekundete, das seiner amtlichen öffentlichen Thätigkeit gänzlich fern lag, wie sie seine 
unermüdete Arbeitskraft bekunden. Hatte er doch selbst noch — in seinem 79. Lebens- 
jahre — eine gröfsere Arbeit für unsere jetzt vorliegende Jubilaums-Festschrift zugesagt | 


Dr. HEINRICH BOLAU, Geschichte des Naturwissenschäftlichen Vereins. 23 


Mit der Geschichte des Naturhistorischen Museums wird der Name Krrchenpauer 
für alle Zeiten verknüpft bleiben. Wenn heute ein stattlicher Neubau für dasselbe sciner 
Vollendung sich naht, wenn bedeutendere Mittel, als bisher, für seine Sammlungen vom 
Staate zur Verfügung gestellt sind, wenn die_Anstalt unter der Leitung zahlreicher Ober- 
und Unterbeamten einer ferneren glücklichen Entwickelung entgegenscehen kann, so danken 
wir das vor allem unserm Ärrchenpauer, der, als ihn das Vertrauen seiner Mitbürger in 
die höchste Behörde unseres Freistaates berief, und als er dann als Bürgermeister an 
dessen Spitze gestellt wurde, für die wissenschaftlichen Bestrebungen in unserm Gemein- 
wesen stets ein klares Verständnis und ein offenes Ohr hatte, in gleicher Weise wie für 
die matericllen Interessen seiner Mitbürger: — dafür zeugt seine Thätigkeit im Senate, in 
der Oberschulbehörde, in der Handelskammer und in zahlreichen anderen Deputationen 
und Kommissionen. — Wem es vergönnt war, mit ihm als Vorsitzenden der Oberschul- 
behörde amtlich in Angelegenheiten unscrer vaterstädtischen wissenschaftlichen Institute zu 
verkehren, der wird sich gern erinnern, wie der liebenswürdig-vornehme Mann stets bereit 
war zu eingchender Besprechung und wirksamer Förderung der Interessen derselben! Mit 
Recht ehrte ihn unser Verein am Tage seines 5o jährigen Doktorjubiläums daher dadurch, 
dafs er ihn zu seinem Zrhrenpräsidenten ernannte! An seinem Lebensabend hatte er noch 
die Freude, den stattlichen Bau für das Naturhistorische Museum, den er mit geplant 
hatte, emporwachsen zu sehen — seine Vollendung hat er leider nicht mehr erlebt! — 

Neben den genannten Ehrenmännern hat es unserm Verein nie an tüchtigen und 
begeisterten Führern gefehlt, die die Fahne der Wissenschaft alle Zeit hoch gehalten und 
um sie die Mitglieder geschaart haben. Von gegenwärtigen Mitarbeitern abgesehen, nennen 
wir nur Möbius, der die neue Blütezeit des Vereins durch seine unermüdete und erfolg- 
reiche Thätigkeit an der Spitze desselben einleitete und den wir ungern von hier scheiden 
sahen; wir nennen Dr. G, L. Ulex und Jimil Oberdörffer, die in der physikalisch-chemischen 
Sektion das Hauptfeld ihrer Thätigkeit fanden und endlich den unermüdlichen Physikus 
Dr. Buek, der die wertvolle Pflanzen. und Fruchtsammlung, die er durch den grofsen 
Brand im Jahre 1842 verloren hatte, sehr bald durch eine neue gröfsere ersetzte, die heute 
zusammen mit der Bürgermeister-Dznderschen Algensammlung den Stamm des städtischen 
Botanischen Muscums bildet. 

Möge es dem Verein auch ferner nie an Männern, wie die genannten fehlen, die, 
vcreint mit Gleichstrebenden ihre ganze Kraft in warmer Begeisterung einsetzen für die 
Förderung der Wissenschaft und damit für die Ehre des Vereins und der Vaterstadt! 








24 Dr. HEINRICH BOLAU, Geschichte des Naturwissenschaftlichen Vereins. 


ANHANG, 


I. 


Die Ehrenpräsidenten des Naturwissenschaftlichen Vereins. 


Staatsrat und Minister von Struve, Exc., erwählt den 9. August 1843, legt 
sein Amt nieder den 22. Januar 1845. 

Dr. med. K. G. Zimmermann, erwählt den 29. Januar 1876, gestorben 
den 6. April 1876. 

Bürgermeister G. H. Kirchenpauer, Dr. jur. et phil., erwählt den 8. August 
1881, gestorben den 4. März 1887. 


II. 
Die Präsidenten des Naturwissenschaftlichen Vereins. 


Staatsrat Minister von Struve, Exc., erw. den 18. November 1837, legt sein Amt nieder 
den 7. Juni 1843. 

Dr. med. W. Birkenstock, erwählt den 14. Juni 1843, legt sein Amt nieder den 22. Ja- 
nuar 1845. 

Syndikus Dr. Karl Sieveking, erwählt den 22. Januar 1845, gestorben den 30. Juni 1847. 

K. Wiebel, Professor der Physik und Chemie am Akademischen Gymnasium, erwählt 
den 17. November 1847. 

Derselbe, wieder gewählt den 29. Januar 1851. 
Derselbe, wieder gewählt den 24. Februar 1858. 

Dr. Karl Möbius, Ordentlicher Lehrer an der Realschule des Johanncums (jetzt Professor 
und Direktor des K. Zool. Museums in Berlin), erwählt den 2. März 1864, legt 
am I. April 1868 scin Amt nieder, weil er einer Berufung als Professor an die 
Universität Kiel folgte. 

Dr. med. K. G. Zimmermann, crwählt den 29. April 1868. 

Derselbe, wieder gewählt den 25 Januar 1871. 

Dr. Heinr. Bolau, Direktor des Zoologischen Gartens, bis Ostern 1876 zugleich noch 
Ördentlicher Lehrer an der Realschule des Johanneums; erwählt den 26. Jan. 1876. 

Dr. Aug. Voller, Oberlehrer am Realgymnasium des Johanncums, scit 1. Oktober 1885 
Direktor des Physikalischen Staatslaboratoriums, erwählt den 30. Januar 1878. 


Dr. HEINRICH BOLAU, Geschichte des Naturwissenschaftlichen Vereins, 25 


Dir. Dr. Heinr. Bolau, erwählt den 28. Januar 1880. 

Dir. Dr. Aug. Voller, erwählt den 25. Januar 1882. 

Prof. Dr. Karl Kraepelin, Oberlehrer am Realgymnasium des Johanneums, erwählt den 
23. Januar 1884. | 

Dir. Dr. Heinr. Bolau, erwählt den 28. Januar 1885. 

Hermann Strebel, Kaufmann, erwählt den 27. Januar 1886. 

Dir. Dr. Aug. Voller, erwählt den 26. Januar 1837. 





IH. 


Zahl der wirklichen Mitglieder des Naturwissenschaftlichen 


Vereins in Hamburg. 














Wirkliche 
Mitglieder 


Wirkliche 
Mitglieder 


Wirkliche 
Mitglieder 


Wirkliche 
Mitglieder 





Jahr 











1837 53 1850 69 1863 96 1876 167 
1838 80 1851 63 1864 106 1877 170 
1839 96 1852 66 1865 118 1878 176 
1840 107 1853 70 1866 119 1879 185 
1841 115 1854 80 1867 120 1880 197 
1842 | 120 1855 76 1868 125 1881 207 
1843 122 1856 74 1869 135 1882 222 
1844 105 1857 72 1870 133 1883 222 
1845 93 1858 74 1871 148 1884 217 
1846 92 1859 73 1872 164 1885 217 
1847 82 1860 76 1873 168 1886 220 
1848 79 1861 88 1874 171 1887 223 
1849 72 1862 86 1875 162 Ende Okt. 


26 


, 
Dr. HEINRICH BOLAU, Geschichte des Naturwissenschaftlichen Vereins, 


IV. 
Vereinbarung 


von Seiten 


der Gymnasial-Deputation und des Naturwissenschaftl. Vereins, 


nach Anleitung 


der Verfassung des Hamburgischen Naturhistorischen Museums. 


Da der Naturwissenschaftliche Verein den Wunsch zu erkennen gegeben hat, dass seine 


Sammlungen dem Hamburgischen Naturhistorischen Museum einverleibt werden mögen und er 
durch Vertreter an dessen Verwaltung Theil nehme, so ist, nach deshalb gepflogenen Ver- 
handlungen zwischen der Gymnasial-Deputation einer- und dem Naturwissenschaftlichen Vereine 
andererseits, mit Vorbehalt höherer Genehmigung, folgende Vereinbarung getroffen worden: 


I) Der Naturwissenschaftliche Verein übergiebt seine gesanımten Sammlungen, nichts davon 


ausgenommen, dem Staate zum alleinigen und unwiderruflichen Eigenthume, um sie 
dem Hamburgischen Naturhistorischen Museum einzuverleiben, mit welchem sie fortan 
ein unzertrennliches Ganze bilden werden. 


2) Er verpflichtet sich, alle Naturhistorischen Gegenstände, welche er künftig auf irgend 


eine Weise acquiriren wird, ebenmässig solchergestallt dem Hamburgischen Naturhisto- 
rischen Museum zu übergeben. 


3) Er verpflichtet sich ferner, alle von ihm bereits erworbenen oder noch zu erwerbenden 


Naturwissenschaftlichen Werke und Kupfer der Stadtbibliothek zum unbeschränkten 
und alleinigen Eigenthume zu übergeben. 


4) Er verpflichtet sich endlich, jährlich eine Summe von Fünfhundert Mark grob Courant*) 


in die Museums-Casse einzuschiessen, um sie zur Bereicherung der Sammlungen des 
Hamburgischen Naturhistorischen Museums zu verwenden. 


5) Dagegen wird dem Naturwissenschaftlichen Vereine die Mitverwaltung des Hamburgischen 


Naturhistorischen Museums ın der nachfolgend bestimmten Modalität eingeräumt, und 
zwar nach Vorschrift der Verfassungs-Urkunde des Museums, welche jedoch, so lange 
diese Vereinbarung besteht, die folgenden Modificationen erleidet: 


a) (ad § 7 und 8 derselben) der Naturwissenschaftliche Verein deputirt zu der- 
Museums-Commission vier seiner Mitglieder, und hat die Gymnasial-Deputation 
ihrerseits statt acht auch nur vier Mitglieder zu ernennen, welche ebenmässig 
aus den Mitgliedern des Naturwissenschaftlichen Vereins zu erwählen ihr un- 
benommen bleibt.. 


Die Mitglieder der Museums-Commission, sie seyen von der Gymnasial-Deputation 
oder vom Naturwissenschaftlichen Vereine ernannt, haben durchaus gleiche Rechte 
und Pflichten, und verwalten ihr Amt lediglich als Staats-Angehörige im allge- 
meinen Interesse des Staats, des Publikums und der Wissenschaft. 

Jährlich tritt ein Deputirter des Gymnasii und einer des Naturwissenschaftlichen 


Vereins aus, und ernennen also künftig Gymnasium und Verein jeder jährlich 
einen neuen Deputirten. 





*) = 600 Al. 


Dr. HEINRICH BOLAU, Geschichte des Naturwissenschaftlichen Vereins. 27 


b) (ad § ır) der jährliche Einschuss des Naturwissenschaftlichen Vereins von 500 ¥ 
wird den im $ ıı der Verfassungs-Urkunde gedachten ıo00 Ķ hinzugefügt. 

c) (ad $ ı2 und 6) das Inventarium mit seinen Rectificationen und Zusätzen wird all- 
jährlich auch dem Herrn Präsidenten des Naturwissenschaftlichen Vereins vor- 
gelegt und demselben die General-Abrechnung des Jahres in beglaubigter Ab- 
schrift zugestellt. 

6) Es werden dem Naturwissenschaftlichen Vereine ausserdem folgende Zugeständnisse 
gemacht: 

a) die Benutzung des kleinern Gymnasial-Auditoriums zu seinen wöchentlich einmal 
zu haltenden Sections-Versammlungen; 

b) die Benutzung des grössern Gymnasial-Auditoriums zu seinen monatlich einmal 
zu haltenden General-Versammlungen; 

c) die Benutzung des Museums bei diesen seinen Versammlungen, sofern sie im 
Gymnasial-Gebäude Statt finden; 

d) alles mit Heitzung und Beleuchtung der sub a & b gedachten Localitäten bei 
den Versammlungen; 

e) die Benutzung der Stadtbibliothek zum Behufe wissenschaftlicher Untersuchungen, 
welche von dem Naturwissenschaftlichen Vereine in seinen General- und Sections- 
versammlungen vorgenommen werden, nach Vorschrift des Bibliothek-Reglements 
und unter näher zu bestimmenden etwaigen Erleichterungen; 

f) freier Eintritt in das Museum für die Mitglieder des Vereins und Fremde, welche 
sie auf Karten einführen können, während mehrerer näher zu bestimmenden 
Stunden jedes Tages. 

7) Sollte der Naturwissenschaftliche Verein mit dem sub No. 4 dieser Vereinbarung von 
ihm versprochenen jährlichen Einschusse von 500 # in die Museums-Casse während 
eines Zeitraums von vier Jahren im Rückstande verbleiben, so hören alle dem Natur- 
wissenschaftlichen Vereine in der gegenwärtigen Vereinbarung zugestandenen Rechte 
und Befugnisse ipso jure auf. 

Diese Vereinbarung ist nomine der Gymnasial-Deputation von dem Herrn Proto- 
scholarchen und nomine des Naturwissenschaftlichen Vereins von dessen Vorstande mit Vor- 
behalt der Höheren Genehmigung unterzeichnet. 


Hamburg, den 17. May 1843. 
C. N. Pehmöller, 


Protoscholarch, Praeses der Gymnasial-Deputation. 


(L. S.) 


Heinrich von Struve, d. Z. Präsident des Vereins. 

Prof. K. Wiebel, d. Z. Vicepräsident. 

H. J. Müller, Prediger, d. Z. protocollführender Secretair. 

K. G. Zimmermann, Med. & Chir. Dr., d. Z. corresp. Secretair. 
C. W. Köhler, d. Z. Cassenführer. 


(L. S.) 


28 Dr. HEINRICH BOLAU, Geschichte des Naturwissenschaftlichen Vereins. 


V. 
Vereinbarung 


zwischen der 


Oberschulbehörde und dem Naturwissenschaftlichen Verein 
zu Hamburg. 


(Beschlufs der Oberschulbehörde, erste Sektion, vom 8. November 1884 
und Beschlufs des Naturwissenschaftlichen Vereins vom 
3. Dezember desselben Jahres.) 


Nachdem durch die in der Verfassung des Hamburgischen Naturhistorischen Museums 
in der letzten Zeit eingetretenen Änderungen die Notwendigkeit herbeigeführt worden ist, auch 
die nach dem Übergange der Sammlungen des »Naturwissenschaftlichen Vereins« an das Na- 
turhistorische Museum unterm 17. Mai 1844 zwischen der ehemaligen Gymnasial-Deputation und 
dem Naturwissenschaftlichen Verein abgeschlossene Vereinbarung in mehreren Punkten abzu- 
ändern, ist in der Absicht, die in jener Vereinbarung festgestellten und noch heute bestehenden 
beiderseitigen Verpflichtungen, sowie die Fürsorge des Hamburgischen Staates für die För- 
derung der durch den Naturwissenschaftlichen Verein repräsentierten wissenschaftlichen Be- 
strebungen den veränderten Verhältnissen gemäfs zu erneutem Ausdruck zu bringen, zwischen 
der Ersten Sektion der Oberschulbehörde und dem Naturwissenschaftlichen Verein das Folgende 
neu vereinbart worden: 

ı) Der Naturwissenschaftliche Verein verpflichtet sich, sämmtliche wissenschaftliche Gegen- 
stände, die er erwerben wird, den Museen und Sammlungen des Hamburgischen 

Staates zu übergeben; 

2) Er verpflichtet sich ferner, alle von ihm zu erwerbenden naturwissenschaftlichen Werke 
der Stadtbibliothek zum unumschränkten und alleinigen Eigentum zu übergeben. 


Dagegen werden dem Naturwissenschaftlichen Verein folgende Zugeständnisse gemacht: 


1) Die Oberschulbehörde weist dem Vereine die passenden Räume mit Heizung und Be- 
leuchtung in einem Staatsgebäude an für seine Vorstands-, Vereins- und öffentlichen 
Sitzungen, sowie zur Unterbringung des Archivs; 

. 2) Die Oberschulbehörde gestattet dem Verein die Benutzung der öffentlichen Muscen 
und Sammlungen nach Mafsgabe der Regulative, welche darüber von seiten der Be- 
hörden erlassen sind oder werden; 

3) Um den Vereinsmitgliedern die Benutzung der vom Verein der Stadtbibliothek über- 
gebenen wissenschaftlichen Werke zu erleichtern, soll es ihnen gestattet sein, dieselben 
innerhalb vier Wochen, nachdem sie von der Stadtbibliothek in Empfang genommen 
wurden, wieder zu entleihen, und zwar selbst in dem Falle, dafs sie noch nicht ge- 
bunden sind. 


Dr. HEINRICH BOLAU, Geschichte des Naturwissenschaftlichen Vereins, 


VI. 


Mitglieder der Museums-Kommission 
1843—1882. 

















Dr. B. Gaedechens. . . 2. .... | 1843—1855 | 4 Jahre Vorsitzender der Kommission. 


Dr. J- He Jonas... we 2er | 1843 — 1848 

DH Denebo LLLLILIIDD amsbmende |) 4 Jahre Vorsitzender 

Dr: Je Slettze. 23 242.0 8 Sir 1843 — 1862 

G: LAOT a Er En a ehe 1843—1850 

Dr. Ad. Wasmann ......... 1843—1840 ı Jahr Vorsitzender. 

Prof. K. Wiebel. u. 0 %.4 5 wm es | 1843—1869 | 5 Jahre Vorsitzender. 

W. von Winthem - . . 2:22... | 1843—1847 

Dr. J. G. Fischer...’ ı 1848—-1856 |] "S 
a RE EN | 1878—1879 |[ 3 Jente Vorsitzender 

C Wo Ludt 3. a ia Daea ` 1849—1856 | 

Be Ghad 2. Ena a a ad | 1850—1855 | 

Dr: x. Lode na a wen 1850-— 1853 

Dr. Æ. Moebius . .. 2. 2.2.2... 1854—1868 | 5 Jahre Vorsitzender. 

Bo BKOMMIED u. a u erg 1856—1868 

Dr. 4. A, Ruil oocarpus an | 1858—1860 

Dro H Ado Merer saaa wo ae 1850—1868 3 Jahre Vorsitzender. 

Wilho Wri e e goaie 8 8 0% 1860— 1882 | 

Dr. ZA. Pfingsten . 2. 22.2 222.0. | 1857—1858 | 

IS. ne re `. 1863—1875 2 Jahre Vorsitzender. 

Dr Co H PUF a a e e ak k | 1865—1868 

Dr. Heinrich Bolan . ........ 1867—1882 | 6 Jahre Vorsitzender. 

Dr. C. F. A. A. Crüger ...... 1869— 1881 

Dr. C. Herm. Dorner... ..... 1869— 1875 

Dr. A. M. Hilgendorf. - ...... 1860—1871 

Dr. Ferd. Wiel. .... 2.2.2... 1870— 1882 4 Jahre Vorsitzender. 

Prof. Dr. Œ. F. W. Behn ..... | 1870 

C. W. Herm. Strebel ........ | 1871—1882 ı Jahr Vorsitzender. 

Dr. O. W. Sonder ......... 1372 — 1881 ı Jahr Vorsitzender. 

Phys. Dr. J. J. Reincke. ...... 1876— 1879 

Dr. J. A. Ferd. Richters ...... 1876—1877 

Drege ZN: Bihi 2. 4 u wee 1880—1882 

Dr. Karl Kraepelin ......... 1880—1882 


Hauptlehrer C. Æ. Amandus Partz. . | 1882 


— a e m Ml 


29 


30 Dr. HEINRICH BOL.AAU, Geschichte des Naturwissenschäftlichen Vereins. 


VII, 
Inhalt der Abhandlungen 


aus dem 


Gebiete der Naturwissenschaften 


herausgegeben vom 


Naturwissenschaftlichen Verein. 


Band I. 1846. 


Prof. Dr. Stannius, Rostock. Uber den Bau des Delphingehirns. 4 Tfln. 

Dr. Steinheim, Altona. Die Entwicklung des Froschembrvos. 2 Tfin. 

Dr. J. H. Jonas. Molluskologische Beiträge. 5 Ttn. 

Dr. A. Wasmann. Beiträge zur Anatomie der Spinnen. 3 Tfin. 

Dr. Ph. Schmidt. Beschreibung zweier neuer Reptilien aus dem Naturhistorischen Museum zu 
Hamburg. 2 Tfln. 

Dr. W. Sonder. Revision der Heliophileen. 3 Tfin. 


Band II. 1848—1852. 


Prof. X. Wrebòel. Die Insel Helgoland. 2 Karten und ı Tf. 

Dr. G. Hartlaub, Bremen. Beitrag zur Ornithologie Westafrikas. 11 Tfin. 
Derselbe. Zweiter Beitrag zur Ornithologie Westatrikas. 

Dr. Ph. Schmidt. Beiträge zur ferneren Kenntniss der Meerschlangen. 7 Tfn. 
Prof. A. IFrebel. Das Gold der Goldküste, besonders das von Elmina. 

Dr. J. GŒ. Fischer. Die Gehirnnerven der Saurier. 3 Tfin. 


Band III. 1856. 


Dr. J. G. Fischer. Die Familie der Secschlangen. 3 Tfin. 
Derselbe. Neue Schlangen des Hamburger Naturhistorischen Museums. 3 Tfin. 
Dr. A. Möbius. Die Nester der gesclligen Wespen. ı9 Tfin. 


Band IV. 1858—1866. 


Dr. X. Moebius. Die echten Perlen. ı Tfl. 

Prof. Dr. Aazup, Darmstadt. Neue aalähnliche Fische des Hamburger Museums. 5 Tfln. 
Dr. A. Möbius. Neue Scesterne des Hamburger und Kieler Museums. 4 Tiln. 

Dr. G. H. Kirchenpauer. Die Seetonnen der Elbmündung. ı Karte. 

Dr. F. W. Klatt. Die Gattung »Lysimachia« L. 24 Tfin. 


Band V. 1866—1873. 


Dr. X. Möbius. Über den Bau, den Mechanismus und die Entwicklung der Nesselkapseln 
einiger Polypen und Quallen. 2 Tfin. 


Dr. HEINRICH BOLAU, Geschichte des Naturwissenschaftlichen Vereins, 31 


Dr. R. von Fischer-Benzon, Kiel. Mikroskopische Untersuchungen über die Struktur der Halysites- 
Arten und einiger silurischer Gesteine aus den russischen OÖstseeprovinzen. 3 Tfln. 

Dr. W. Sonder. Die Algen des tropischen Australien. 6 Tfin. 

Dr. G. H. Kirchenpauer. Über die Hydroidenfamilie Plumularidae, einzelne Gruppen derselben 
und ihre Fruchtbehälter. I. Aglaophenia 1. 8 Tfn. 

Dr. Heinrich Bolau. Die Spatangiden des Hamburger Museums. r Tf. 


Band VI. 1873. 


Herm. Strebel. Beitrag zur Kenntniss der Fauna mexikanischer Land- und Wasser-Conchylien. 
9 Tfn. g 

Dr. G. H. Kirchenpauer. Uber die Hydroidenfamilie Plumularidae, einzelne Gruppen der- 
selben und ihre Fruchtbehälter. (II. Plumularia et Nemertesia). 8 Tfin. 

Dr. Aiinrich Bolau und Dr. Ad. Pansch, Kiel. Uber die menschenähnlichen Affen des Ham- 
burger Museums. 2 Tfln. 


Band VII. 1880—1883. 


Dr. G. H. Kirchenpauer. Über die Bryozoen-Gattung Adeona. 3 Tfn. 

Petrus Bleeker. Musei Hamburgensis Species piscium novae minusque cognitae. ı Tf. 

Dr. Heinrich Bolau. Ein neuer Hirsch aus dem Amurlande. ı TH. 

Dr. C. M. Gottsche. Neuere Untersuchungen über die Jungermanniae Geocalyceae ı Tfl. 

Dr. Georg Pfefer. Die Pteropoden des Hamburger Museums. ı Tfl. 

Derselbe. Beiträge zur Naturgeschichte der Lungenschnecken. 

Dr. Hugo Kriüss. Die Grundlagen der Photometrie. 

Dr. A. Voller. Über die Anwendung von Dispersionslinsen bei photometrischen Messungen. 

Dr. F. Wibel. Die Änderungen der osmotischen Erscheinungen und Gesetze durch die strömende 
Bewegung der Flüssigkeiten. 8 Tfln. 


Band VII. 1884. 


Hermann Strebel. Die Ruinen von Cempoallan im Staate Veracruz. — Mitteilungen über die 
Totonaken der Jetztzeit. — Ruinen aus der Misantla-Gegend. 6 Tfn. 

Dr. J. G. Fischer. Herpetologische Bemerkungen. ı Tf. 

Dr. Hugo Kriss. Eine neue Form des Bunsen-Photometers. 

Prof. J. Kiessling. Nebelglüh-Apparat. 

Dr. Georgy Pfefer. Die Cephalopoden des Hamburger Naturhistorischen Museums. 6 Tfn. 

Dr. G. H. Kirchenpauer. Nordische Gattungen und Arten von Sertulariden. 6 Tfn. 


Band IX. 1886. 


Dr. J. G. Fischer. Über eine Kollektion Reptilien und Amphibien von der Insel Nias und 
über eine zweite Art der Gattung Anniella Gray. ı Tfl. 

Dr. Karl Kraepelin. Die Fauna der Hamburger Wasserleitung. 

Dr. Georg Pfeffer. Übersicht der im Jahre 1881 vom Grafen Waldburg-Zeil im Karischen Meere 
gesammelten Mollusken. r Tfl. 

Dersclbe. Über die Schiefheit der Pleuronectiden. 

Dr. J. G. Fischer. Herpetologische Notizen. 2 Tfln. 

Kapt. A. Schück. Beobachtungen der Missweisung, Inklination und Schwingungszeit der Magnet- 
nadel auf der Elbe und Nordsee. 7 Tab. und 4 Karten. 


32 Dr. HEINRICH BOLAU, Geschichte des Naturwissenschaftlichen Vereins. 


Band X. 1887. 


(Festschrift zur Feier des Sojährigen Bestehens des Vereins.) 


Dr. Heinrich Bolau. 1837—1887. Zur Geschichte des Naturwissenschaftlichen Vereins in Hamburg. 

Dr. Zmil Wohlwill. Joachim Jungius und die Erneuerung atomistischer Lehren im 17. Jahr- 
hundert. 

Prof. J. Kiessling. Beiträge zu einer Chronik ungewöhnlicher Sonnen- und Himmelsfärbungen. 

Prof. Dr. G. Neumayer. Die Thätigkeit der Deutschen Sceewarte während der ersten 12 Jahre 
ihres Bestehens. 

Dr. Hugo Kriss. Die Farben-Korrektion der Fernrohr-Objektive von Gauss und von Fraunhofer. 

Dr. A. Voller. Über die Messung hoher Potentiale mit dem Quadrant-Elektrometer. ı Tfl. 

Dr. F. Waibel. 1. Die Schwankungen im Chlorgehalt und Härtegrade des Elbwassers bei Ham- 
burg. — l. Chemisch-antiquarische Mitteilungen. 1. Thonerdehydrophosphat 
(? Coeruleolactin) in pseudomorpher Nachbildung eines Gewebes oder Geflechts. 
2. Raseneisenerz, Eisenschlacke oder oxydiertes Eisen. 3. Analyse einer altmexi- 
kanischen Bronzeaxt von Atotonilco. 

Dr. C. Gottsche. Die Mollusken-Fauna des Holsteiner Gesteins. 

Prof. Dr. X. Kraepelin. Die Deutschen Süfswasser-Bryozoen. 7 Tfin. 

Prof. Dr. A. Möbius, Berlin. Das Flaschentierchen (Folliculina ampulla). ı Tfi. 

Dr. Georg Pfeffer. Beiträge zur Morphologie der Dekapoden und Isopoden. 

Dr. F. Stuhlmann. Zur Kenntnis des Ovarıums der Aalmutter (Zoarces viviparus Cuv.). 4 Tfin. 





Joachim Jungius 


und die Erneuerung atomistischer Lehren 


im 17. Jahrhundert. 


Ein Beitrag 
zur Geschichte der Naturwissenschaft in Hamburg. 


Von 


Dr. Emil Wohlwill. 


— IRI AD — 





Joachim Jungius und die Erneuerung atomıstischer Lehren 
ım 17. Jahrhundert. 


Von 
Dr. Emil Wohlwill. 


Unter den Namen derjenigen, die in Hamburg an der Förderung der Natur- 
wissenschaft thätigen Anteil genommen haben, wird seit langer Zeit in erster Linie 
Joachim Fungius genannt, aber eine genauere Bestimmung der wissenschaftlichen Lei- 
stungen, um derentwillen diesem Manne der Ehrentitel eines hervorragenden Naturforschers 
zuerkannt werden mufs, sucht man sowohl in der ihn betreffenden Litteratur, wie in den 
umfassenderen Werken zur Geschichte der Naturwissenschaft vergebens. Nur über die 
Bedeutung seiner Arbeiten im Gebiet der Botanik besteht kein Zweifel. Das Verdienst, 
eine Terminologie der Pflanzenkunde geschaffen zu haben, deren im wesentlichen noch 
die heutige Wissenschaft sich bedient, wird ihm seit zwei Jahrhunderten von allen denen 
zuerkannt, die auf die Geschichte der Botanik ein gewissenhaftes Studium verwandt 
haben. Als hochbedeutenden Vorgänger erkennt ihn der grofse Systematiker John Ray 
an, indem er den grundlegenden Abschnitten im allgemeinen Teil seiner Historia plan- 
tarum bald ganze Kapitel, bald mindestens die Definitionen aus Jungius’ Isagoge phy- 
toscopica voranstellt, an dieselben seine Ausführungen knüpft und auf diese Weise den 
Gesamtinhalt der Jungiusschen Schrift fast Satz für Satz in die seinige aufnimmt. Ist 
das geschichtliche Verhältnis der beiden bedeutenden Männer, wie diese Thatsache es 
kennzeichnet, eine Zeit lang verkannt worden, so hat in unserm Jahrhundert in der Folge 
der historischen Darstellungen jede neue mit den früheren in dem Bestreben gewetteifert, 
dem Botaniker Jungius gerecht zu werden. !) 

Und doch beruhte diese Anerkennung der Fachgenossen in dem besonderen Ge- 
biet nur auf dem Inhalt eines bescheidenen Hefts von nicht 50 Seiten und einer Zu- 


1) Ich hebe hervor Kar! F. W. Jessen, Botanik der Gegenwart und Vorzeit in kulturhistorischer Ent- 
wickelung. Leipzig 1864, pag. 215—21. — 7. Sachs, Geschichte der Botanik. München 1876. Vergl. beson- 
ders pag. 43, 63—68. 


4 Dr. EMIL WOHLWILTL, Joachim Jungius. 


sammenstellung von fragmentarischen Aufzeichnungen, die aus seinem Nachlafs veröffent- 
licht wurden; man durfte gewifs sein, dafs dicse beiden Schriften nicht die einzige Frucht 
des echten Forschergeistes waren, von dem sie zeugten; dennoch blieben die durch die 
Litteratur zweier Jahrhunderte zerstreuten Bemerkungen einzelner, die Jungius eine 
wesentlich weiterreichende Bedeutung nicht nur um eines aufsergewöhnlichen Strebens, 
sondern auch um positiver Leistungen willen zuerkannten, fast unbeachtet. Das Verdienst, 
zur Wiederbelebung seines Andenkens in diesem weiteren Sinne die Veranlassung ge- 
geben zu haben, kommt unzweifelhaft Goethe zu. Goethes Wort »ich möchte dem wackern 
Manne gern ein gründlich Andenken stiften,« ist zur That geworden, nicht allein durch 
die unschätzbare Studie, die er selbst »dem Leben und Wirken des Hamburger Rektors« 
gewidmet hat, sondern auch durch die wirksame Anregung, die er zur Entstehung einer 
ersten umfassenden Monographie, dem Werk Guhrauers über Jungius !) gegeben hat. 

Durch Guhrauers Buch zumeist ist in weitere Kreise die Vorstellung getragen, 
dafs Jungius in ähnlicher Weise wie Bacon von Verulam, wenngleich in völlig eigen- 
artigem Denken als Vorkämpfer gegen die aristotelisch-scholastische Wissenschaft auf- 
getreten sei, ihr gegenüber die Erneuerung der Wissenschaft auf Grund wahrhafter Natur- 
beobachtung und mittels wissenschaftlicher Induktion gefordert und durch Untersuchungen 
über die wahre Methode der Forschung für die Erfolge der späteren Generationen den 
Weg gebahnt habe. Als unverkennbarer Vorzug des »Bacons der Deutschen«, wie man 
— um der gleichen Richtung der Bestrebungen willen — Jungius genannt hat, ergab 
sich dabei, dafs er einerseits nicht mit summarisch verwerfendem Urteil die aristotelische 
Wissenschaft abthut, sondern mit streng ins Einzelne gehender Kritik die Mängel ihrer 
Methode, den Unwert ihrer Ergebnisse nachweist; dafs er andrerseits der hohen Be- 
deutung der Mathematik für die Begründung einer wahrhaften Naturwissenschaft in vollem 
Mafse gerecht wird, dafs er hier wie dort, in den Lehren des Aristoteles und Galen nicht 
minder wie im Mathematischen, überall gründlicher Kenner ist. 

Auch über die aufserordentliche Mannigfaltigkeit seiner Bemühungen im Bereich 
der einzelnen Wissenschaften hat Guhrauers Bericht zum crsten Mal wenigstens einen 
Überblick gegeben. War schon Goethe, dem nur ein Teil der von Jungius selbst ver- 
öffentlichten und die nach seinem Tode gedruckten Schriften vorlagen, durch die grofse 
Vielseitigkeit des Inhalts überrascht, so lassen die von Guhrauer abgedruckten Mit- 
teilungen Martin Vogels”) und das Verzeichnis der in Hamburg bewahrten Hand- 
schriften) die thatsächliche Ausdehnung seiner wissenschaftlichen Thätigkeit noch ungleich 
gröfser, fast allumfassend erscheinen. Sehen wir von den philosophischen und historischen 
Wissenschaften ab, so kommen zu den von Goethe berührten Gebieten seiner Studien und 


1) G. E. Guhrauer, Joachim Jungius und sein Zeitalter. Nebst Goethes Fragmenten über Jungius. 
Stuttgart und Tübingen 1850. 

2) Guhrauer, pag. 290—295. 

1) Guhrauer, pag. 280. Das Verzeichnis ist unvollständig; von den mitgeteilten Aufschriften der Ma- 
nuskripte sind mehrere unzutreffend, die wenigsten für den Inhalt charakteristisch. 


Dr. EMIL WOLILWILTL, Joachim Jungius. 5 


selbständigen Forschungen: der Medizin, Botanik, Mineralogie, Zoologie, allgemeinen 
Physik, Akustik und der »empirischen« Geometrie nach Guhrauers Übersichten: Me- 
teorologie, fast alle Teile der reinen uud angewandten Mathematik, unter den letzteren 
Statik und Mechanik, Optik, Astronomie, Befestigungskunde und als Wissenschaften von 
teilweise mathematisch-naturwissenschaftlichem Charakter: Chronologie und Erdkunde. 
Nur wenigen der allerbedeutendsten Forscher ist es gegeben gewesen, als einzelne in so 
verschiedenen Richtungen Hervorragendes zu leisten; so kann auch in unserm Falle die 
grofse Zahl der Namen nicht als eine Antwort auf die Frage nach Jungius’ Stellung in 
der Wissenschaft des 17. Jahrhunderts gelten, sondern zunächst nur die weitere Frage 
nahelegen: ist er der Gefahr der Zersplitterung, die bei so vielseitigem Wollen nur 
schwer vermieden wird, glücklich entgangen? Und ist nicht vielleicht in eben dieser 
erstaunlichen Ausdehnung der Studien eine Erklärung dafür zu suchen, dafs dieselben 
für die Förderung der einzelnen Wissenschaften nicht in erheblichem Mafse fruchtbar 
geworden sind, dafs eben darum die allgemeineren geschichtlichen Berichte dem An- 
scheine nach vollständig sein können, ohne den Namen Fungius zu nennen? Guhrauer 
hat die Notwendigkeit, derartige Fragen 'auf Grund eingehender Einzelforschungen zu 
beantworten, nicht übersehen; darauf deuten die Gutachten angesehener Fachgelehrter 
über Jungius’ Leistungen in der Mathematik und der Naturgeschichte, die er im An- 
hange seines Buches mitteilt; er hat sich jedoch weder durch den teilweisen Widerspruch 
dieser Gutachten, noch dadurch, dafs die Äufserungen der Sachverständigen sich nur auf 
den kleinsten Teil des Jungiusschen Nachlasses beziehen, verhindern lassen, in seiner 
Gesamtdarstellung mit allem Nachdruck die Ansicht zu vertreten, dafs Jungius auch in 
den einzelnen Zweigen der Naturwissenschaft als »bahnbrechender« Forscher betrachtet 
werden mufs. Guhrauer hat dabei allerdings den allein Überzeugung begründenden 
Weg nicht eingeschlagen; er hat nirgends Einzelleistungen namhaft gemacht, nirgends 
den Zusammenhang der Jungiusschen Forschung mit derjenigen grofser Vorgänger und 
Zeitgenossen nachgewiesen, noch dargethan, wie sie den späteren Fortschritt vorbereitet 
hat oder doch bei rechtzeitiger Veröffentlichung vorzubereiten geeignet gewesen wäre. 
Er redet von Gesetzen, die Jungius entdeckt, von seinen Erfindungen, aber wir erfahren 
nichts vom Inhalt der Gesetze, nichts vom Gegenstand der Erfindungen. Dagegen trägt 
er kein Bedenken, Jungius, wie er ihn als Philosophen neben Descartes und Dacon stellt, 
als Naturforscher in gleicher Reihe mit Kepler und Galilei zu nennen. Um das Urteil 
zu rechtfertigen, das in einer solchen Zusammenstellung liegt, genügen allerdings die 
Daten der Lebensbeschreibung nicht, aus denen klar hervorgeht, dafs Jungius unter 
seinen Zeitgenossen sich grofsen Ansehens erfreut hat, nicht, dafs Holländische geachtete 
Mathematiker ihn als Schiedsrichter bei ihren gelehrten Streitigkeiten in Anspruch 
nehmen, dafs tüchtige Gelehrte ihm erklären: von ihm erwarte man die Begründung 
einer neuen Physik; und selbst der hohen Anerkennung gegenüber, die zahlreiche 
Äufserungen in Lezönitz’ Briefen und Schriften unzweideutig bekunden, kann der An- 
spruch nicht ungerechtfertigt erscheinen: einem so hochstehenden Richter nur auf Grund 
eines klaren Einblicks in fafsbare Verdienste zustimmen zu dürfen. 


6 Dr. EMIL WOHLWILL, Joachim Jungius. 


Dafür, dafs Guhrauer in dieser Beziehung wie er sagt, sich kurz fafst, !) richtiger 
ausgedrückt, jede Ausführung vermissen läfst, führt er selbst als cine Art Rechtfertigung 
an, dafs »mit wenigen Ausnahmen, wohin vor allem die Botanik Jungius’ gehört, das 
Wesentliche unserer Kenntnisse von diesen Dingen auf den gedrängten Berichten Martin 
Vogels zum Schlusse des Lebensabrisses von Jungius beruht«. Auf diese Berichte wird 
dann, wie zum Ersatz der Leser verwiesen. Dieselben können jedoch als Ersatz für die 
vermifsten Darlegungen um so weniger dienen, als auch sie mehr von Absichten und 
Entwürfen als von Ergebnissen zu sagen wissen. Selbst da, wo sie im einzelnen weiter- 
gehen, wie wenn Vogel mitteilt: Jungius habe das Verzeichnis der Fixsterne wesent- 
lich verbessert und vervollständigt, er habe Galilei gegenüber bestritten, dafs die an 
den beiden Endpunkten aufgehängte Kette die Form einer Parabel annehme, ist doch 
durch diese genauere Inhaltsbestimmung ein Urteil über den Wert der angedeutcten 
Verbesserungen und Ergänzungen keineswegs ermöglicht. 

Eine weitere Erklärung für den berührten Mangel der Guhrauerschen Charakteristik 
läfst sich seinen Äufserungen über die verhängnisvollen Folgen jener Feuersbrunst im 
Hause des Professors Vagetius entnehmen, durch die in der Nacht des 25. Mai 1691 
der »wertvollste Teile von Jungius’ nachgelassenen Schriften« vernichtet wurde. Guhrauer 
betrachtet, auf Grund der zeitgenössischen Berichte, die mehr als hundert Fascikel, die 
vor dem Brande in der Hamburger Stadtbibliothek in Sicherheit gebracht waren und sich 
bis auf diesen Tag erhalten haben, als »Trümmer, welche fast nur eine Ahnung des 
erlittenen Verlustes gestatten.« So scheint cs, als ob für immer die Aussicht zerstört sei, 
im einzelnen die Vorstellung von aufserordentlichen Leistungen zu rechtfertigen, die noch 
Leibnitz seiner Kenntnis des vollständigen Nachlasses entnehmen konnte. Wie ceine 
Bestätigung dieser Auffassung lautet das von Guhrauer mitgetcilte Urteil eines hoch- 
stehenden Mathematikers der Neuzeit über den Wert der erhaltenen Manuskripte 
mathematischen Inhalts. Während Leibnitz Jungius auch als Mathematiker »vortrefflich«, 
»in mathematischen Abstraktionen grofs« nennt, ist das Höchste, was Kummer von ihm zu 
rühmen weifs, eine sehr grofse Gewandtheit im Gebrauch der zur damaligen Zeit noch 
neuen Buchstabenrechnung«.?) Mufs man nicht glauben, dafs ähnliche Eindrücke auch 
für Gerhard, den bewährten Forscher im Gebiet der Geschichte der Mathematik, ent- 
scheidend gewesen sind, der nach Guhrauers Mitteilungen den Entschlufs gefafst hatte, 
auf Jungius, »diesen längst vergessenen deutschen Mathematiker« aufmerksam zu machen, ?) 
und doch in seiner »Geschichte der Mathematik in Deutschland: t) Jungius nicht einmal 
dem Namen nach erwähnt? 

Erwägungen dieser Art lassen allerdings die Lücke in Guhrauers Biographie 
verständlich und doch auch das gerechtfertigt erscheinen, dafs, auf Leibnitz’ Autorität 


N Fungius und sein Zeitalter, pag. 181. 

?) Guhrauer, J. Jungius und sein Zeitalter, pag. 297. 
3) Ebenda, pag. 297. 

4) München 1877. 


Dr. EMIL WOHLWILL, Joachim Jungius. 7 


gestützt, Guhrauer kein Bedenken getragen hat, ein Gesamturteil festzuhalten, mit dem zahl- 
reiche Äufserungen von Jungius’ Zeitgenossen und Schülern, vielfache Daten der älteren 
Lebensbeschreibung und des noch erhaltenen Briefwechsels im besten Einklange stehen. 

Was insbesondere das Zeugnis des Briefwechsels betrifft, so ist durch die 
höchst dankenswerthe Veröffentlichung von Ave-Lallemant') dieser wichtige Bestandteil des 
Jungiusschen Nachlasses allgemein zugänglich geworden, in ihm die beste Rechtfertigung, 
wenn es der Rechtfertigung bedürfte, jener warmen Begeisterung für Jungius’ Andenken, 
von der die Darstellung Guhrauers durchaus erfüllt ist. Die gleiche Grundstimmung, 
an der gleichen Quelle genährt, kennzeichnet die ergänzenden Mitteilungen und Be- 
trachtungen Ave-Lallemants. Es ist in der That nicht möglich, bei der Lektüre dieser 
Briefe sich dem Eindrucke der persönlichen Bedeutung des Mannes, von dem sie 
geschrieben und an den sie gerichtet sind, zu entziehen, zu verkennen, dafs eine aufser- 
ordentliche Wirkung von ihm ausgegangen ist. Aber auch der Briefwechsel ist zwar 
reich an Thatsachen zur Geschichte der Wissenschaft in Jungius’ Zeitalter, aber wenig 
ergiebig an Material zur Würdigung seiner Verdienste im besonderen. Ich darf in diesem 
Zusammenhange nicht unerwähnt lassen, dafs die einzige klar bezeichnete Entdeckung, 
die der Herausgeber auf Grund des Briefwechsels für Jungius in Anspruch nimmt — die 
Entdeckung des veränderlichen Sterns im Sternbild des Wallfischs?) — ihm thatsächlich nicht 
zukommt, dafs aber auch, wie die genauere Prüfung des Wortlauts und zwei weitere von 
mir aufgefundene Briefe?) ergeben, Jungius niemals geglaubt, geschweige BENAnpIe. hat, 
erster Beobachter des merkwürdigen Phänomens zu sein. 

Im übrigen scheint auch der Herausgeber des Briefwechsels Guhrauers Ansicht 
über die Bedeutung des Brandes von 1691 zu teilen; auch er scheint zu glauben, dafs, 
was die Nachwelt über Jungius wissen konnte, nach jenem unglücklichen Tage sich 
fast nur noch auf die unbestimmte Einsicht beschränkt, dafs er den Besten nicht nach- 
gestanden. 

In dieser Vorstellung liegt ein eigentümlicher Widerspruch. Fast 34 Jahre 
waren seit Jungius’ Tode vergangen, als Vagetius starb; die Veröffentlichung, die dieser 
vorbereitet hatte, war die siebente aus Jungius’ Nachlafs; unter diesen sieben Arbeiten ^) 
gewähren wenigstens diejenigen von Vogel und Vagetius, den Hauptherausgebern, noch 
heute den Eindruck gröfster Gewissenhaftigkeit, treuster Hingebung; ist es nun denkbar, 
dafs diese Männer, Jungius’ Lieblingsschüler, von ihm selbst mit der Veröffentlichung 


1) Des Dr. Joachim Jungius aus Lübeck, Briefwechsel mit seinen Schülern und Freunden. Ein Beitrag 
zur Kenntnis des grossen Jungius und der wissenschaftlichen wie socialen Zustände zur Zeit des dreissigjährigen 
Krieges, aus den Manuskripten der Hamburger Stadtbibliothek zusammengestellt von Dr. med. Aodert C. B. 
Ave-Lallemant. Lübeck 1863. 

?) Av&-Lallemant a, a. O., pag. 370-72, 373-74. Etwas weniger bestimmt lauten A.-L.'s Äusserungen 
über diesen Anspruch in seiner zweiten Schrift: das Leben des Dr. med. Joachim Jungius aus Lübeck. Breslau 
1882, pag. 142-147. 

3) Unter ihnen der von Avé-Lallemant, pag. 374, vermisste. 

4) S. das Verzeichnis bei Guhrauer, pag. 313-15. 


8 Dr. EMIL WOHLWILL, Joachim Jungıus. 


betraut und in die Eigenart seines Denkens wie die Weise seiner Aufzeichnungen völlig 
eingeweiht, aus den Schätzen des noch vollständig erhaltenen Nachlasses sich als Gegen- 
stand ihrer ersten Bemühungen solche Bestandteile ausgewählt hätten, die weniger 
geeignet waren, von Jungius’ Bedeutung Zeugnis abzulegen, um die »werthvollsten« den 
Nachfolgern, wenn nicht weniger einsichtsvollen, doch sicherlich Jungius fernerstehenden 
Gelehrten zur Bearbeitung zu überlassen? Eine so zweckwidrige Handlungsweise wird 
man Jungius’ Schülern und Freunden um so weniger zutrauen dürfen, je bestimmter 
schon die Auswahl der Gegenstände dieser sieben Schriften die Absicht bekundet, den 
verehrten Mann in solchen Richtungen seiner Thätigkeit der wissenschaftlichen Welt sich 
darstellen zu lassen, von denen bis dahin über den Kreis seiner Zuhörer hinaus nichts 
bekannt geworden war. 

Es liegt demnach in den bis 1691 erfolgten Veröffentlichungen für die Gebiete, 
auf die dieselben Bezug nehmen, ein vielleicht nicht vollständiges, aber keinenfalls als min- 
derwertig abzuweisendes Material der Beurteilung vor, und es scheint nicht gestattet, 
bestimmte Ergebnisse, zu denen diese Teile des Nachlasses führen, nur darum in Frage 
zu stellen, weil andere Teile unbekannten Inhalts verloren sind. 

Andrerseits gewähren eben diese Veröffentlichungen aus zumeist vernichteten 
Handschriften in gewissem Mafse die Möglichkeit eines Vergleichs zwischen den erhaltenen 
und den für immer verlorenen Teilen des Nachlasses und dadurch eines Urteils darüber, 
wie weit die Behauptung, dafs »alles Wertvolle zu Grunde gegangen und etwa hundert 
Fascikeln fast ohne Wert erhalten« !) seien, der Wirklichkeit entspricht. 

»Glänzende Titel, dürftigster Inhalt«, so kennzeichnet Vincenz Placcius in einem 
Brief an Leibnitz, mit dem er die Übersendung des Inhaltsverzeichnisses begleitet, die 
Beschaffenheit der erhaltenen Bände. ?) »So enthält«, fügt P. zur Erläuterung hinzu, »die 
Historia literaria Verzeichnisse von mancherlei Büchern, die auf der Messe gekauft werden 
sollen oder im Mefskatalog versprochen werden u. s. w.«. »Alles Bessere ist verbrannt«. 

Diesem Urteil entspricht dem Anscheine nach, dafs eine Handschrift, die an Be- 
deutung derjenigen der Isagoge phytoscopica nahekommt, sich unter den erhaltenen nicht 
befindet; dafs abgesehen von der Sammlung der Jungiusschen Schul- und Universitäts- 
Reden, keine einen nur annähernd soweit für die Veröffentlichung vorbereiteten Text 
enthält, wie diejenige, die das Hauptmaterial für die Doxoscopiae physicae minores °) 
geliefert hat. Selbst ein in sich zusammenhängendes Fragment von dem Umfange der 
durch Szvers publicirten Phoranomica ¢*) ist wenigstens unter den Manuskripten natur- 


1) Brief von Vincenz Placcius an Leibnitz in Opera Leibnitii ed Dutens. VI pag. 51. Das Datum 15/4 91 
ist offenbar unrichtig, da der Brand 25/5 91 stattfand. 

2) Brief vom 1. August 1695. Derselbe findet sich in Abschrift in Fol. 71, No. 124 der Uffenbach- 
Wolfschen Brief-Sammlung der Hamburger Stadtbibliothek ; er ist abgedruckt in Leibnitii Opera VI, 57. 

®) Veröffentlicht durch Martin Vogel 1662. 

4) Joach. Jungii Phoranomica, id. est de motu locali. Das Exemplar der Hamburger Stadtbibliothek hat 
weder Druckort noch Jahreszahl, noch den Namen des Herausgebers hinzugefügt ; dasselbe umfasst nur 47 Seiten. Guh- 
rauer (pag. 314) berichtet über ein anderes, von dem er fünf Bogen gesehen. Die kleine Schrift ist 1689 erschienen. 


Dr. EMIL WOHLWILL, Joachim Jungius. Ò 


wissenschaftlichen Inhalts nicht vorhanden. Dafs es jedoch nicht gerechtfertigt sein würde, 
diesen beiden Schriften den Mafsstab für die Schätzung des Verlorenen zu entnehmen, 
geht daraus hervor, dafs denselben keine gleichwertigen Veröffentlichungen gefolgt sind. 
Vorhanden waren allerdings im gröfsten Umfange Bearbeitungen aller Teile der Logik; !) 
da man jedoch offenbar den Neigungen des Zeitalters besser durch Schriften aus dem 
Bereich der Naturwissenschaft zu entsprechen glaubte, so sahen Christian Bunke und 
Johann Vagetius sich genötigt, ihren aufopfernden Fleifs auf eine Reihe von Fascikeln zu 
verwenden, deren Inhalt offenbar für den Druck nicht bestimmt und auch ohne die 
eingreifendsten Veränderungen und Ergänzungen kaum zu verwerten war, während doch 
die Pietät eine derartige Bearbeitung als ausgeschlossen ansehen liefs. In dem Brief vom 
27. November 1686, mit dem Vagetius die Übersendung der »Germania superior« 2) an 
Leibnitz begleitet, erklärt er ausdrücklich »er habe die Jungiussche Handschrift in so 
rohem Zustande (ita crudum) herausgegeben, damit denjenigen, die nach Jungius’ Schriften 
verlangten, offenbar würde, dafs dieselben nicht Werke seien, sondern Material für man- 
cherlei Werke, und zwar ein sehr zerstücktes, aber doch wie, er glaube, im kleinsten 
wie im gröfsten immer irgendwo Nützliches bietend.« °) 

Aber auch die vier Jahre später veröffentlichte Schrift »Mineralia« ist nicht viel 
mehr als eine Sammlung von Excerpten aus mineralogischen und metallurgischen Werken, 
denen an vielen Stellen Jungius’ Beobachtungen und Meinungsäufserungen hinzugefügt 
sind, nichts weniger als eine selbständige mineralogische Schrift, und auch hier ruft der 
Herausgeber, der seine Bemühungen auf die Herstellung eines korrekten Textes beschränkt, 
gelegentlich aus: »wenn nichts anderes, wird wenigstens das durch diese Ausgabe er- 
reicht sein, dafs die ungerechten Urteile über die Nichtherausgabe der Jungiusschen 
Papiere sich vermindern können und dafs man weniger verkennt, wie viel Mühe dieselben 
in Anspruch nehmen«. 

Auch die unvollendete »Historia vermium« ist nur ein Aggregat von Bruch- 
stücken kleineren und kleinsten Umfangs, in dem allerdings den gesammelten fremden 
Beobachtungen gegenüber die eigenen mehr hervortreten; und nichts rechtfertigt die 
Vorstellung, dafs der durch den Brand von 1691 zerstörte Teil der Schrift nicht etwa 
nur andere Gegenstände, sondern diese in zusammenhängendem Vortrag behandelt hätte. 4) 





1) Nach M., Vogels Bericht (abgedruckt bei Guhraier, pag. 293, hätte das vorhandene handschriftliche 
Material ausgereicht, um jedes der 6 Bücher der Logica Hamburgensis zu einem starken Band zu erweitern, 
Ein erhaltenes genaues Inhaltsverzeichnis der auf Logik und Metaphysik bezüglichen Handschriften des ursprüng- 
lichen Nachlasses verzeichnet 5 Fascikeln in Quart und 63 in Octav. 

9) J. Jungii Schedarum fasciculus (ex fasce 87mo IIltius) inscriptus Germania superior, recensente 
Joh. Vagetio, cujus subitancae quaedam adjectae sunt annotationes. Hamburgi 1685. 

3) Leibnitii Opera ed Dutens, VI pag. 33. 

*) Guhrauer schreibt pag. 301: »nächst den Pflanzen hat Jungius den Insekten die gröfste Aufmerk- 
samkeit zugewandt, da aber das Meiste dieser Arbeiten bei dem unglücklichen Brande im Jahre 1691 vernichtet 
wurde, und nur ein Fragment davon gerettet wurde, so ging auch darin die Frucht seines wissenschaftlichen 
Lebens fast verloren.e Ungleich zutreffiender bezeichnet Goethe den Thatbestand, wenn er bei Besprechung der 
historia vermium sagt: leider ist die letzte Hälfte dieses Werks in einem Brande zu Hamburg untergegangen. 


+ 


2 


Io Dr. EMIL WOHLWILT, Joachim Jungius. 


Diese Schriften in Verbindung mit den wiederholten Klagen ihres Herausgebers 
über die Beschaffenheit der Handschriften lassen demnach mindestens zweifelhaft er- 
scheinen, ob die allgemein verbreitete, durch Placcius’ Urteil hervorgerufene Ansicht über 
das Wertverhältnis der verlorenen und der erhaltenen Handschriften dem Thatbestand 
entspreche. Mufs man annchmen, dafs im Gebiet der Mincralogie, Zoologie und Erdkunde 
wesentlich Wertvollercs, als die berührten Veröffentlichungen bieten, auch in dem ursprüng- 
lichen Nachlafs nicht zu finden war, so gcht daraus hervor, dafs auch in der Gesamt- 
heit der schriftlichen Aufzeichnungen, wie sie bei Jungius’ Tode sich vorfanden, nament- 
lich in dem naturwissenschaftlichen Teil derselben die durchgearbeiteten, abgeschlossenen 
Schriften neben den Excerpten und den fragmentarischen gelegentlichen Aufzeichnungen 
der Zahl und dem Umfange nach nur in untergeordnetem Verhältnisse vorhanden ge- 
wesen sind. : 

Wenig wahrscheinlich erscheint diesem Zeugnis der thatsächlich erfolgten Ver- 
öffentlichungen gegenüber, dafs der Nachlafs in scinem ursprünglichen Zustande ohne 
weiteres gewährt hätte, was man nach Jungius’ Tode sich von demselben versprach 
und in der Gegenwart mit ihm vernichtet glaubt: die Rechtfertigung jener hohen Vor- 
stellungen von der Bedeutung des Naturforschers und Mathematikers Jungius, zu denen 
namentlich Leibnitz’ Urteil Veranlassung gegeben hat. 

Mufs aber die Schätzung des Verlorenen auf ein bescheideneres Mafs reduziert 
werden, so wird man auch fernerhin nicht glauben dürfen, dafs ohne erneute gründliche 
Prüfung des Erhaltenen die Pflicht der Nachlebenden gegen das Andenken des aufser- 
ordentlichen Mannes sich erfüllen lasse. 

In der That hat das Vorurteil, dafs »alles Bessere« vernichtet sci, cine ungebührliche 
Vernachlässigung auch den zu Jungius’ Lebzeiten gedruckten Schriften und den Ver- 
öffentlichungen seiner Schüler eingetragen. Auch diese haben für eine Würdigung dessen, 
was Jungius in den verschiedenen Richtungen der Wissenschaft geleistet, — immer mit 
Ausnahme der Botanik — kaum in beschränktestem Mafse Verwertung gefunden. 

Die umfangreichste dieser Veröffentlichungen — die Doxoscopiae physicae minores 
— in der der Herausgeber offenbar eine Art wissenschaftlichen Testaments seines Lehrers 
der Nachwelt zu überliefern glaubte, ist in diesem Sinne bisher nicht erkannt oder der 
Erschliefsung nicht wert erachtet worden. 

Unter den Schriften, die Jungius selbst veröffentlicht hat, sind scine Hamburgischen 
Disputationen — etwa 40 an der Zahl!) — die zum gröfsten Teil den Kampf gegen die 
aristotelische Physik zum Inhalt und schon um dicsces Gegenstandes willen allgemeinere 
Bedeutung haben, zwar von Guhrauer in Einzelheiten berührt, aber einer zusammen- 
hängenden kritisch-geschichtlichen Betrachtung weder in älterer noch in neuerer Zeit 
unterzogen worden. 

Weniger noch ist man dem Inhalt des in Hamburg bewahrten ungedruckten 
Nachlasses gerecht geworden. Ich darf nach eingehender Beschäftigung mit den auf Natur- 


1) Zu den von Guhrauer, pag. 311 und 12, und vom Hamburger Schriftsteller-Lexikon angeführten 
habe ich als in der Hamburger Stadtbibliothek vorha den sieben weitere nachzutragen. 


Dr. EMIL WOHLWILL, Joachim Jungius. II 


wissenschaft bezüglichen Teilen desselben die Zuversicht aussprechen, dafs auch diese 
Bruchstücke aus Jungius’ Geisteswerkstatt als wertvolle Reliquien in dem Mafse Aner- 
kennung finden werden, als sich Sachkundige unter gewissenhafter Einhaltung des 
historischen Standpunktes ihrer Durchforschung im einzelnen widmen. Wohl gilt von 
diesem erhaitenen Teil in vollem Mafse die Charakteristik, die Johann Vagetius für das 
Ganze gegeben: »es sind nicht Werke sondern Material für mancherlei Werke und zwar 
ein äufserst zerstücktese; aber nicht minder, was er hinzufügt und was ihn in seiner 
undankbaren Arbeit nicht ‚ermüden liefs: dafs sich »überall im kleinsten, wie im gröfsten 
(im Sinne des Zeitalters) Nützliches« bietet, oder wie Leibnitz zustimmend und ergänzend 
dem Hamburger Gelehrten erwiderte: » Nützliches und Auserlesenes«. 1) 

Es liegt mir fern, durch solche Meinungsäufserung die Bedeutung des dielbckigten 
Verlustes abschwächen zu wollen. Wer die Eigenart des Jungiusschen Geistes in seinen 
Schriften kennen gelernt hat, kann nicht darüber im Zweifel sein, dafs nach der Zerstörung 
des gröfsten Teils seiner Aufzeichnungen eine geschichtliche Reproduktion seines Wirkens 
und Schaffens immer nur in beschränktem Mafse gelingen kann. Aber man braucht sich 
in dieser Beziehung keiner Täuschung hinzugeben, um im Hinblick auf das vorhandene 
Material eine Wiederaufnahme der Jungius-Forschung für möglich und — weil sie möglich 
ist — für geboten zu halten. 

Von einem Nutzen in dem Sinne, wie er noch zu Leibnitz’ Zeiten Geltung hatte, 
wird man freilich bei einem erneuten Studium dieser nunmehr ein Vierteljahrtausend alten 
Schriften und Schriftstücke nicht reden können; umsomehr darf auf die Bedeutung einer 
erschöpfenden Kenntnis ihres Inhalts für die geschichtliche Betrachtung einer der denk- 
würdigsten Perioden in der Entwickelung der Naturwissenschaft Nachdruck gelegt werden. 
Mag immerhin die unbefangene l’orschung zu weit getriebene Verehrung in einer Vor- 
stellung erkennen, die Jungius zum Range jener wenigen Heroen erhebt, ohne die wir 
die Naturwissenschaft der Gegenwart nicht zu denken vermögen: nicht zweifelhaft ist, 
dafs er als ein unabhängiger und produktiver Denker von seltener Begabung mit klarem 
Bewufstsein und vielseitig thätig an der grofsen wissenschaftlichen Bewegung des 17. Jahr- 
hunderts teilgenommen, dafs, was irgend Hervorragendes von seinen Zeitgenossen erkannt 
und gedacht ist, auch sein Denken in Anspruch genommen hat, ihm Gegenstand selb- 
ständiger Forschung und Beurteilung geworden ist. 

So darf man als gewifs ansehen, dafs in seiner geistigen Hinterlassenschaft sich 
Zwischenglieder jener hochwichtigen Entwickelung . bieten müssen, deren Bedeutung für 
das Verständnis des geschichtlichen Vorgangs nur derjenige verkennen wird, der im Ge- 
schichtlichen auf dem Standpunkt der Geologen vor Lyell steht. 

Es ist die Absicht der nachfolgenden geschichtlichen Untersuchung, bei Gelegen- 
heit des 300sten Geburtstags unseres Joachim Fungius zunächst an einer einzelnen Rich- 
tung seiner wissenschaftlichen Thätigkeit als einem Beispiel darzulegen, dafs für eine 
Jungius-Forschung in dem hier angedeuteten Sinne ergiebige Quellen zur Verfügung stehen. 


1) Leibnitz an Vagetius in Leibnitii opera ed. Dutens VI, 37. 





12 Dr. EMIL WOHLWILL, Joachim Jungius. 


Ich habe bei der Benutzung derselben mich des liberalsten Entgegenkommens 
und vielfacher Unterstützung abseiten der Verwaltung der Hamburger Stadtbibliothek zu 
erfreuen gehabt; es ist mir ein Bedürfnis, dafür an dieser Stelle meinen aufrichtigsten 
Dank auszusprechen. 


I. 


Die grofse geistige Bewegung des 16. und 17. Jahrhunderts, die zur Begründung 
der neueren Naturwissenschaft geführt hat, ist in ihren Anfängen aufs engste mit der 
Lossagung der Gelehrten von der bis dahin herrschenden Naturlehre des Aristoteles und 
seiner mittelalterlichen und neueren Bearbeiter und Ausleger verknüpft. Wie nun diese 
Gegnerschaft nicht sowohl gegen einzelne Meinungen und Lehren, als vielmehr gegen 
die ganze Art des Wissens und Forschens, die Methode der alten Wissenschaft sich 
richtete, so konnte es kaum ausbleiben, dafs diejenigen, die nicht etwa als reine Em- 
piriker, sondern als denkende Gelehrte an der Erneuerung der Wissenschaft thätigen 
Anteil nahmen, eine Förderung der eigenen Bestrebungen in der Rückkehr zur Atomistik 
der voraristotelischen Naturphilosophen erkannten, denn hier fand sich die andere Me- 
thode, die andere Art des Denkens, deren man bedurfte; in jener einfachen Brauchbarkeit 
der atomistischen Hypothesen, von der Aristoteles in seinen meistgelesenen Schriften 
nicht ohne Anerkennung berichtete, lag, was man suchte; was dagegen Aristoteles an 
ihnen tadelte und vermifste, gehörte dem Gebiete jener Metaphysik an, von der man für 
eine wahre Naturerkenntnis keinen Gewinn erwartete; ja, die niedere Sphäre des Er- 
kennens und Begreifens, die zu allen Zeiten die Gegner der Atomistik ihr zum Vorwurf 
gemacht haben, entsprach durchaus der bewufsten Beschränkung in der Erfassung und 
Bearbeitung der Aufgabe, die der aristotelischen gegenüber die neue Naturlehre kenn- 
zeichnet. Der Gegensatz gegen alles scholastische Operieren mit dunklen Begriffen und 
Kräften konnte nicht schärfer zum Ausdruck gebracht werden, als es in der alt-atomi- 
stischen Deutung der Erscheinungen des Anderswerdens, des Vergehens und Entstehens 
geschehen war, in der Zurückführung der qualitativen Verschiedenheit auf Verschieden- 
heiten der räumlichen Anordnung, der Verwandlungsphänomene auf Ortsbewegungen der 
an sich unveränderlichen kleinsten Teile. 

Überdies war diese ältere Lehre nicht allein niemals ganz in Vergessenheit ge- 
raten, sondern in den Schriften des Aristoteles, Cicero und Lucrez, wie auch in der 
medizinischen Litteratur allgemein zugänglich geblieben, mit den Lehren des Aristoteles 
und Galen zu allen Zeiten Gegenstand der Interpretation und Disputation gewesen; so 
bot sie sich wie von selbst denjenigen dar, die eine neue Naturphilosophie im Sinne 
trugen, und es kann kaum überraschen, dafs namentlich im ersten Viertel des 17. Jahr- 
hunderts räumlich getrennt und wahrscheinlich auch geistig unabhängig von einander 
mehrere Forscher als Verteidiger sei cs der unveränderten Lehren des Demokrit und 
Epikur, sei es einer mehr oder minder umgestalteten Atomistik auftreten. 


Dr. EMIL WOHLWILL, Joachim Jungıus. 13 


Während aber in andern Zweigen der Naturlehre, insbesondere in der Bewegungs- 
lehre, der Optik, der Astronomie, wie in den rein mathematischen Wissenschaften ein 
neuer gewaltiger Aufschwung der Forschung Sich in bedeutenden Entdeckungen schon 
in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts bekundet, bleibt die Erneuerung der Atomistik 
zunächst nur ein theoretischer Fortschritt, ein Hilfsmittel der Veranschaulichung, der Be- 
trachtungsweise mehr als der Einzelbetrachtung dienlich. Damit mag es zusammen- 
hängen, dafs dieser wichtigen Wendung auch in ihrer geschichtlichen Entwickelung bis 
in die neueste Zeit nur geringe Aufmerksamkeit geschenkt worden ist. Die Lücke der ge- 
schichtlichen Betrachtung, die noch in Langes »Geschichte des Materialismus« sich fühlbar 
machte, ist von Äurd Lasswitz durch eine Folge von Abhandlungen, die zum gröfseren 
Teil dem laufenden Jahrzehnt angehören, im wesentlichen ausgefüllt worden.!) Ich hebe 
mit besonderer Rücksicht auf die nachfolgende Untersuchung hervor, dafs Lasswitz’ Ar- 
beiten zum ersten Mal die allmählich sich erhebende Opposition gegen die vier Elemente der 
alten und die Entstehung der neuen Lehre der Chemiker von der Zusammensetzung der 
Stoffe aus Salz, Schwefel und Quecksilber in ihrer Bedeutung für die Vorbereitung der 
neueren Atomistik zur Darlegung gebracht haben. Lasswitz hat ferner auf die lange 
Vorgeschichte der Frage nach dem Verhalten der Bestandteile in dem durch Mischung 
entstandenen Körper und auf die wichtige Rolle hingewicsen, die eben dieser Frage 
schon in jener Übergangsperiode zukommt; er hat — um nur das Eine noch zu be- 
rühren — besondere monographische Behandlung den weniger bekannten Vertretern der 
Atomistik, dem französischen Arzt Sedastian Basso und dem deutschen Daniel Sennert 
zu teil werden lassen und denselben die ihnen gebührende Stellung angewiesen. 

Ein Blick in die von Martin Vogel 1662 herausgegebene Doxoscopiae physicae 
minores läfst erkennen, dafs auch Jungius zu denen gehört, die der aristotelischen 
Lehre vom Entstehen und Vergehen gegenüber die Physik auf atomistischer Grundlage 
zu erneuern versuchen. Da das Wesentliche der atomistischen Anschauung darin liegt, 
dafs die qualitative Veränderung auf Zusammenmischung (Synkrisis) und Entmischung 
(Diakrisis) zurückgeführt wird, so bezeichnet Jungius die von ihm vertretene Lehre 
durchgehends als die »syndiakritische«, ihr gegenüber steht ihm die Lehre der Schule 
als die »actupotentiale«, weil die Ansichten der Peripatetiker bei mannigfacher Verschie- 
denheit darin übereinstimmen, dafs alles Entstehen und Vergehen auf das Wirklichwerden 
eines Möglichen, potentiell Vorhandenen zurückgeführt wird. Bei der hervorragenden 
Stellung, die dieser Gegensatz, die Bekämpfung der actupotentialen und die Verteidigung 
der syndiakritischen Ansicht in Jungius° Denken und Forschen einnimmt, ist es von 








"X. Lasswitz Die Erneuerung der Atomistik in Deutschland durch Daniel Sennert und sein Zusam- 
menhang mit Asklepiades von Bithynien. (In der Vierteljahrsschrift für wissenschaftliche Philosophie III. 4). 
Giordano Bruno und die Atomistik. (In derselben Zeitschrift VIII. 1.) Zur Genesis der Cartesischen Corpus- 
cularphysik (Ebenda X. 2.) Die Lehre von den Elementen während des Übergangs von der scholastischen Physik 
zur Corpusculartheorie. (Gothaer Gymnasial-Programm von 1882). Hierher gehört auch Lasswitz’ ältere Ab- 
handlung: Der Verfall der »kinetischen« Atomistik im siebenzehnten Jahrhundert in J. C. Poggendorffs Annalen 
der Physik und Chemie, Bd. 153, pag. 373 (1874). 


14 Dr. EMIL WOIILWILL, Joachim Jungius. 


~ 


nicht geringem Interesse, die Veranlassungen oder die Einflüsse nachzuweisen, durch die 
er für die Atomistik gewonnen wurde, oder besser gesagt, gewonnen werden konnte; 
denn bestimmte Daten lassen sich in dieser Beziehung weder seinen eigenen Aufzeich- 
nungen noch den biographischen Mitteilungen seines Schülers Martin Vogel entnehmen. 
Man darf annehmen, dafs sich bei Jungius wie bei anderen bedeutenden Denkern des 
17. Jahrhunderts die Befreiung von der Autorität der aristotelischen Lehren nicht in plötz- 
licher Entscheidung vollzogen, dafs er zunächst gegen einzelne Meinungen sich kritisch 
verhalten, selbständig zu denken oder oppositionelle Ansichten anderer sich anzucigenen 
gewagt hat und dann allmählich mit der gesamten Wissenschaft und Lehrweise der 
Schule in Widerspruch getreten ist. 

Es waren zumeist Mathematiker und Ärzte, von denen die Aufklärung über den 
Unwert der aristotclischen Naturlchre ausgegangen ist. Jungius war beides. Als Mathe- 
matiker war er nicht allein frühzeitig an die strenge l’orm der Beweisführung gewöhnt, 
sondern auch durch die gründliche Beschäftigung mit den Lehren des Copernicus mit 
einer Denkweise vertraut geworden, die den wichtigsten Deduktionen der Erd- und 
Himmelskunde des Aristoteles den Boden entzog. Die Rede, mit der er im Jahre 1609 
sein Amt als Professor der Mathematik in Giessen antrat, darf in allen ihren Teilen als 
Beweis einer freien Denkweise angesehen werden.!) Wie Galilei im gleichen jugend- 
lichen Alter erscheint hier Jungius als Mathematiker von Begeisterung vor allem für 
Archimedes erfüllt. Des Copernicus gedenkt er als des Mannes, der bei den Forschungen 
über die Länge des Sonnenjahrs »jeden Knoten durchschnitten«; Jläfst sich in dieser 
Äufserung auch nicht (wie Guhrauer geglaubt hat) eine unumwundene Anerkennung der 
copernicanischen Weltansicht finden, so darf man doch mindestens auf cine vorurteilsfreie 
Stellung ihr gegenüber daraus schliefsen, dafs Jungius nicht, wie es bei Mathematikern 
alten und neuen Glaubens in jenen Tagen üblich war, dem rühmenden Wort über die 
Beobachtungen und Rechnungen des grofsen Astronomen eine Verwahrung in betreff 
seiner »absurden Hypothese von der Erdbewegung« hinzufügte.?) Gab dieselbe Rede 
keine Veranlassung, Fragen, die ins Gebiet der eigentlichen Physik gerechnet wurden, 
zu erörtern, so verdient umsomehr Beachtung, dafs sie zwar vom Aristoteles nicht spricht, 
aber den Demokrit, den meistgenannten der alten Atomistiker, als »verehrungswürdig in 
den physischen Wissenschaften« bezeichnet. 

In das erste Jahr der Giessener Professur traf dann die Kunde von Galileis ersten 
teleskopischen Entdeckungen; dafs Jungius an diesen, wie insbesondere an den späteren 
Forschungen über die Sonnenflecken den lebhaftesten Anteil genommen und Galilei in 
der Verwertung seiner Beobachtungen gegen die aristotclische Naturlehre zugestimmt 
habe, läfst sich teils völlig unzweideutig, teils mit grofser Wahrscheinlichkeit den erhaltenen 
Aufzeichnungen aus der Giessener Zeit entnehmen. Für den Kenner des Altertums 
waren es auch hier zum nicht geringen Teil demokritische Lehren, die den aristotelischen 


1) Dieselbe ist in der Handschrift »Orationese erhalten. Auszüge finden sich bei Guhrauer p. I9 u. 
?) Man vergleiche insbesondere die Schriften von C/awius, Iagini und zum Teil auch Zycho Brahe. 


Dr. EMIL WOHLWILL, Joachim Jungius. 185 


gegenüber sich als Wahrheit zu erweisen schienen. Diese Beziehungen veranlafsten den 
Römischen Gelehrten Julius Caesar Lagalla in seiner schon 1612 erschienenen Schrift de 
phaenomenis in orbe lunae nicht nur die Weltbildungstheorie, sondern auch die gesamte 
atomistische Lehre des Demokrit einer eingehenden Besprechung zu unterziehen. Ein 
von Jungius benutztes Exemplar dieses Buches ist erhalten, und es mag in diesem Zu- 


sammenhange nicht unerwähnt bleiben, dafs in demselben — unzweifelhaft von Jungius’ 
Hand — sämtliche auf die Atomlchre bezüglichen Stellen unterstrichen sind. !) 


Wir sind nicht auf eine Überschätzung dieser und ähnlicher Thatsachen an- 
gewiesen, um eine Vorstellung davon zu gewinnen, in welchem Mafse Jungius schon in 
dieser jugendlichen Periode unabhängiger Denker war; seine mehrjährige Teilnahme an 
Ratichius’ Bestrebungen, um derentwillen er auf die Giessener Professur verzichtete, ist 
an sich des Beweises genug.”) Kein Jünger des Aristoteles im Sinne der Schule konnte 
jene Artikel schreiben, in denen Jungius und sein Freund Helvich den Inbegriff der 
»Ratichianischen Lehrkunst« zusammenfafsten.?) 

»Alles durch Erfahrung und stückliche Untersuchung «,*) so lautete in der deutschen 
Ausgabe der wichtigste dieser Artikel; und die Erläuterung sagt: 

»kein Regel, auch kein Lehrgrieff wird zugelassen, die nicht gründlich auf's 
neu erkündiget und in der Prob richtig erfunden sei, unangesehen viel oder -alle so 
oder so halten. Denn es mufs Gewifsheit und Sicherheit da sein und ist keineswegs 
auf einige Autoritet zu bauen. So weis man denn, dafs man nicht fehlen kann. Drum 
gilt kein Autoritet blos und schlecht, wenn nicht Ursach und Grund da ist. Auch 
lange Gewohnheit ist nichts zu achten, denn sie bringt hierin keine Sicherheit. « 

Der pädagogischen Episode folgte für Jungius die Zeit medizinischer Studien. 
Es bedarf nicht der Ausführung, wie vielfach demjenigen, der vom Autoritätsglauben 
befreit. den Lebenserscheinungen nahetrat, der Wert »syndiakritischer« Auffassungsweise 
sich darbieten mufste, umsomcehr als die medizinische Litteratur alter und neucr Zeit in 


N) Lagallas Schrift ist in dem auf der Ilamburger Stadtbibliothek befindlichen Exemplar hinter die 
Originalausgabe von Galileis Nuncius Sidereus gebunden. Der Einband ist neu, doch darf wohl angenommen 
werden, dafs beide Schriften auch ursprünglich zusammengebunden waren, also auch die Ausgabe des Nuncius 
Jungius’ Eigentum gewesen oder doch von ihm benutzt worden ist. Im Nuncius sidereus sind gleichfalls alle 
wichtigeren Stellen, unter diesen die beiden auf die Bewegung der Erde bezüglichen unterstrichen; es fehlen 
jedoch Randbemerkungen, wie dieselben bei Lagallas Schrift sich finden und die Benutzung durch Jungius 
aufser Frage stellen. Der Name des Besitzers ist in keiner der beiden Schriften eingetragen. 

> Vergl. Guhrauer p. 23 u. f. š 

3) Vergl. Ahenii Methodus Institutionis novae quadruplex, Lipsiae 1617. p. 161 u. f. 

*) Die lateinische Fassung desselben Satzes ə»per inductionem et experimentum omnia« hat, wie mir 
scheint, ohne Grund die Veranlassung gegeben, an einen Einflufs von Bacon von Verulam zu denken; denn von 
der Notwendigkeit, auf die Erfahrung zuritckzugehen, sprechen viele Bücher vor Bacon; andrerseits wird auch 
die Art der Induktion, die man vielleicht als spezifisch baconisch betrachten kann, in dem einzigen damals ver- 
öffentlichten, englisch geschriebenen Werk Bacons nur ganz oberflächlich berührt, und erst im Novum Organon 
(1620) näher erörtert. Jungius’ >stückliche Untersuchung« entspricht jedenfalls weit cher dem üblichen Begriff 
der Induktion als der »inductio per rejectiones et exclusionese, 


16 Dr. EMIL WOHTLWILL, Joachim Jungius. 


der Behandlung der Lehre von den Elementen und Qualitäten reiche Veranlassung gab, 
die gegenüberstehenden Meinungen zu vergleichen. 

Unter den wissenschaftlichen Bestrebungen bedeutender Mediziner, die auf Jungius 
unzweifelhaft einen Einflufs ausgeübt haben, mufs die Lehre des Paduaners Sanctorius 
hervorgehoben werden. Im Jahre 1614 veröffentlichte Sanctorius, wie er sagt, auf Grund 
3ojähriger Erfahrung, seine »medicinische Statik«. Hauptgegenstand dieses Werkes war die 
Lehre von der unwahrnehmbaren Perspiration des gesunden und kranken Menschen, deren 
Vorhandensein und deren quantitative Schwankungen unter den verschiedensten Be- 
dingungen S. systematisch durchgeführten Wägungen entnahm. Von einer Schätzung 
der durch die Wage gewonnenen Resultate, wie Sanctorius sie lehrte, konnte nur unter 
der Voraussetzung die Rede sein, dafs bei der Gesamtheit der den Lebensvorgängen 
zu Grunde liegenden chemischen Umsetzungen Änderungen des Gewichts nicht etwa 
durch eine völlig unberechenbare Transmutation erfolgen, sondern ausschliefslich durch 
ein Überwiegen der Zahl entweder der hinzukommenden oder der austretenden Teile; 
dies aber ergiebt sich mit Notwendigkeit, wenn die stofflichen Veränderungen auf Zu- 
sammenmischung und Entmischung beruhen, und würde nach den Prinzipien der Trans- 
mutationslehre nur als zufällig und nebenbei stattfindend zu verstehen sein. ') Wohl konnte 
daher in dieser Lchre auch für denjenigen, dem zuvor die atomistische Betrachtungsweise 
ausgeschlossen erschien, eine Anregung zur gründlichen Prüfung derselben licsen. Gewifs 
ist andrerseits, dafs, als Jungius in den Jahren 1618 und 19 in Padua Zuhörer des Sanctorius 
war, die Lehre von der unmerklichen Ausdünstung und ihre Konsequenzen sein Nach- 
denken in Anspruch genommen haben. Wie diese Thatsache ist auch die seiner Studien 
im Gebiet der Geschichte der Medizin durch die erhaltenen Papiere aus der Paduaner 
Zeit verbürgt.*) Hier lernte er den Bithynier Asklepiades kennen, von dem er später 
in seiner Helmstädter Antrittsrede (21. Juni 1625) sagt: er habe auf Grund der Hypothese 
des Demokrit und des Epikur die gesamte Medizin in ihrer Theorie wie in ihrer Praxis 
umgestaltet. °) 

Bedürfte es eines bestimniteren Zeugnisscs dafür, dafs Jungius auch im ärztlichen 
Studium und den gröfsten ärztlichen Autoritäten gegenüber die selbständige Denkweise 
bewahrte, so ist auch dieses seinen Paduaner Aufzeichnungen zu entnehmen. 

Unter der Überschrift »Autoritas« enthalten dieselben cine Blumenlese von 
Äufserungen meistens italienischer medizinischer Schriftsteller, in denen jede Abweichung 
von den Lehren des Hippokrates und Galen als aufserhalb der Wissenschaft stehend 
gekennzeichnet wird. So sagt unter anderm Alexander Massaria: »ich bin der Meinung, 


1) Ich darf nicht unbemerkt lassen, dafs in den mir zugänglichen Schriften des Sanctorius diese 
Konsequenz nicht zur Sprache gebracht wird, dafs ich auch sonst in diesen Schriften direkte Äufserungen in 
atomistischem Sinne nicht gefunden habe. 

» Ein mit »Historia medica« bezeichneter Fascikel befand sich unter den vernichteten Handschriften. 
Erhalten sind nur zerstreute Notizen und die im Text erwähnte Helmstädter Rede, 

3) Aus der Handschrift »Orationese. 


Dr. EMIL WOHLWILL, Joachim Jungius. 17 


dafs medizinische Lehren insofern wahr sind und angenommen werden müssen, als sie 
mit den Lehren des Hippokrates und des Galen übereinstimmen.«e An anderer Stelle 
heifst es bei demselben Schriftsteller: »trifft es sich einmal, dafs mir schwierige und 
zweifelhafte Stellen aufstofsen, deren Bedeutung ich nicht recht zu treffen glaube, so habe 
ich, der Galenischen Vorschrift eingedenk, gelernt, eher mir selbst zu mifstrauen und des 
eigenen Geistes Schwachheit anzuerkennen, als solche Männer leichthin des Irrtums zu zeihen.« 

Nach einigen Citaten ähnlichen Sinnes fügt Jungius das eigene Urteil hinzu. 
»Ich dagegen«, sagt er, »bin der Meinung, dafs es allen Wahrheitsliebenden zukomme, 
dem Vorgang guter Politiker zu folgen, die für ratsam halten, dafs wir (solange wir 
die Herren sind) bisweilen den Aufforderungen und Ratschlägen anderer nicht nach- 
kommen, wenn sie auch gut, nützlich und richtig sind, damit ihnen nicht durch die 
Gewohnheit gewissermafsen ein Recht uns zu gebieten erwachse, wir vielmehr Freiheit 
und Recht, über unsere Angelegenheiten zu entscheiden, unversehrt erhalten. Denn 
keinenfalls kann die Verwerfung eines einzelnen guten und nützlichen Vorschlags soviel 
Nachteil oder Schaden bringen, als ein allgemeiner Verzicht auf Freiheit der Entscheidung. « 

Die milde Form des Urteils läfst nicht verkennen, dafs es ein festes Prinzip für 
Wissenschaft und Leben ist, was Jungius in diesen Worten zum Ausdruck bringt. Man 
wird keinen besseren finden, wenn man einen Wahlspruch für die mit dem Jahre 1619 
beginnende Periode seines Lebens sucht. Es war die Zeit, in der er bald in Lübeck, 
bald in Rostock neben der ärztlichen Praxis!) sich im ausgedehntesten Mafse produktiver 
mathematischer und naturwissenschaftlicher Thätigkeit widmete. 

In eben diese glückliche Periode trifft das Erscheinen dreier Werke, von denen 
ein jedes nach seiner Art geeignet war, Jungius in der eigenen Denk- und Forschungs- 
weise zu bestärken. Es erschien im Jahre 1619 Daniel Sennerts de Chymicorum cum 
Aristotelicis et Galenicis consensu ac dissensu liber, ?) 1620 Francis Bacons Novum 
Organon, 1621 Sebastian Bassos Philosophia naturalis adv. Aristotelem. Bei aller Ver- 
schiedenartigkeit des anderweitigen Inhalts und der Behandlungsweise auch in den auf 
Atomistik bezüglichen Abschnitten stimmen diese Werke darin überein, dafs sie der 
herrschenden die demokritische Naturlehre gegenüberstellen. Bietet Bacon in dieser Be- 
ziehung weniger als in vielen andern fruchtbare Gesichtspunkte, so sind die beiden 
andern Schriften mit Recht als hochbedeutend für die Erneuerung der Atomistik angesehen 
worden; während Sennert die Anwendbarkeit und die Vorzüge einer atomistischen Be- 
trachtungsweise namentlich für die chemischen Wirkungen zur Geltung bringt, vertritt 


1) Die von Guhrauer übersehene Thatsache, dafs Jungius nach seiner Rückkehr in die Heimat als 
praktischer Arzt thätig gewesen ist, ergiebt sich aus den von seiner Hand in den Jahren 1621—23 aufgezeichneten 
Krankheitsgeschichten. cf. Fasc. II der mit Medica (8°) bezeichneten Handschriften. 

2) Lasswitz führt eine Stelle unzweıdeutig atomistischer Lehre in Bezug auf das Verhalten der Bestand- 
teile in der Mischung aus Sennerts schon 1618 veröffentlichter Epitome scientiae naturalis an; die mir vorliegende 
2. Ausgabe dieses Werkes vom Jahre 1624 enthält an der Stelle, wo die Gesamtausgabe eben dieselbe 
Äufserung bringt, statt dieser eine andere, die ebenso unbedingt der gegnerischen Ansicht Recht giebt; es müssen 
daher die von Lasswitz angeführten Worte erst in späteren Ausgaben substituiert sein. 


I8 Dr. EMIL WOHLWILL, Joachim Jungius. 


Sebastian Basso in weiterem Umfange sowohl vom philosophischen Standpunkte aus wie 
für die Erklärung physikalischer und chemischer Vorgänge die Forderung der Rückkehr 
zur atomistischen Naturlehre. Als ein wesentlicher Unterschied der übrigens nahe ver- 
wandten Lehren ist hervorzuheben, dafs Sennert unter Beibehaltung des eigentümlich 
modifizierten Formbegriffs eine Vermittelung zwischen Aristoteles und der Atomistik mög- 
lich findet, während Basso die »Formen« der Peripatetiker schlechthin verwirft. !) 

Wenn nun aufser Frage steht, dafs beide Werke länger als ein Jahrzehnt vor 
Jungius’ ersten Veröffentlichungen über den gleichen Gegenstand verbreitet wurden und 
selbst nicht wahrscheinlich ist, dafs Jungius die eigenen Ansichten vor dem Erscheinen 
der Bassoschen Schrift in bestimmte Formen gebracht, so trage ich doch kein Bedenken, 
für seine syndiakritische Lehre eine Entstehung, unabhängig von den Werken der beiden 
älteren Zeitgenossen in Anspruch zu nehmen. 

Die in der Hamburger Stadtbibliothek bewahrten Ausgaben der letzteren beweisen, 
dafs Jungius dieselben nicht nur gekannt, sondern auch aufs gründlichste studiert hat; 
aber die Beschaffenheit seiner auf die gleichen Gegenstände bezüglichen, reichlich vor- 
handenen Excerpte und kritischen Bemerkungen läfst mit ziemlicher Sicherheit annehmen, 
dafs das Studium der Schriften Sennerts und Bassos einer späteren Zeit angehört als die 
älteren zusammenhängenden Aufzeichnungen, auf die im folgenden näher einzugehen 
sein wird. Excerpte aus Sennerts Schriften und zustimmende oder widersprechende 
Äufserungen über Sennerts Ansichten kommen in Jungius’ Handschriften und gedruckten 
Schriften sehr häufig vor; doch scheint unter den vorhandenen keine vor 1629 geschrieben 
zu sein; so ist es auch ein Exemplar der zweiten, 1629 veröffentlichten Ausgabe der 
Schrift de consensu, das Jungius namentlich in den hier in Betracht kommenden Ab- 
schnitten mit seinen Randbemerkungen reichlich versehen hat; eine Bezugnahme auf 
Sebastian Basso finde ich nur in einer Disputation vom Jahre 1634. 

Liegen demnach keine äusseren Beweise dafür vor, dafs Jungius’ verwandte 
Richtung unter dem Einflusse der genannten Schriften entstanden oder zur Reife gebracht 
wäre, so ist andrerseits die Übereinstimmung, namentlich mit Sennert keineswegs eine 
so weitgehende, um eine derartige Wirkung auch nur wahrscheinlich zu machen; denn 
dieselbe beschränkt sich auf wesentlich demokritische Lehren, für die als solche eine 
Vermittelung nicht erforderlich war, während für die Einsicht, dafs in denselben die 
Grundlage einer wahrhaften Naturwissenschaft zu suchen sei, die Vorbereitung sich auf 
dem angedeuteten Wege naturgemäfs ergab. 

Es mag nicht unerwähnt bleiben, dafs Jungius selbst bei voller Anerkennung der 
Verdienste Sennerts nirgends andeutet, dafs er ihm in Bezug auf die Erneuerung der 
Atomistik eine bahnbrechende Stellung zucerkenne. Ebensowenig nennt er einen andern 
bestimmten Forscher und Führer auf dem Wege, auf dem er neben sich eine kleine, aber 
wachsende Zahl von Gleichdenkenden wahrnimmt. 


1) Vergl. über die Lehren Sennerts und Bassos die oben angeführten Abhandlungen von Lasswitz. 


Dr. EMIL WOHLWILL, Joachim Jungius. IQ 


Als einzige der gleichen Frage geltende geschichtliche Bemerkung, die sich bis- 
her gefunden, verdient der Satz einer Disputation vom Jahre 1642 Beachtung, in dem 
sich Jungius dahin äufsert, dafs es die chemischen Forschungen seien, die zur Wieder- 
belebung der syndiakritischen Betrachtungsweise in neuerer Zeit geführt haben. Dafs er 
schon in der Natur der Aufgaben, mit denen der Chemiker sich beschäftigt, eine Ver- 
anlassung zu rationellerer Auffassung des Problems der Veränderung erkannt hat, geht 
unter anderm aus einer Äufserung seines Schülers Friedrich Büxten hervor, der — ver- 
mutlich in übertriebener Ausdrucksweise — den Inbegriff der ihm zu Teil gewordenen 
Belehrung in der Aufforderung findet: »sıch von den Meinungen der Physiker abzuwenden, 
um sich ausschliefslich der Chemie zu widmen.«!". So scheint auch Jungius selbst in der 
Beschäftigung mit chemischen Versuchen in den Jahren 1619—22 *) bestimmtere Anregung 
zur Zusammenfassung und Gestaltung seiner Ansichten in gleicher Richtung gefunden 
zu haben. 


II. 


Es sind nur wenige mit der Jahreszahl 1622 bezeichnete oder dem Zusammen- 
hang nach diesen sich anschliefsende Blätter, in denen uns nicht zu mifsdeutende Zeugnisse 
seiner Denkweise in jenem Zeitpunkt vorliegen. Dieselben gehören zwei anscheinend 
gesonderten Gedankenfolgen an. und finden sich auch in den Manuskripten völlig von- 
einander getrennt. Die eine Reihe dieser wesentlich atomistisch gedachten Erörterungen 
will mit Ga/en, den Jungius im übrigen als grofsen Denker verehrt, sich in Bezug auf 
die atomistische Betrachtungsweise gewissermaisen ausceinandersetzen.?) In andern dem 
Inhalte nach zusammengehörigen, gleichfalls auf losen Blättern verzeichneten Sätzen tritt 
er dem atomistischen Grundgedanken durch Überlegungen näher, die er unter dem 
Wahlspruch des alten Nominalisten Wilhelm von Occam (gest. 1347) »nicht soviel Wesen- 
heiten als Attribute« zusammenfafst.e. In möglichst mannigfaltigen Zusammenstellungen 
sucht Jungius den Widersinn und das Unnatürliche einer Auffassung darzulegen, die der un- 
ermefslichen Mannigfaltigkeit der Modifikationen im Verhalten der Naturkörper durch eine 
gleich grofse Zahl hypothetischer »Formen« entsprechen mufs. Ich lasse hier einige dieser 
unzweifelhaft im Sinne einleitender Betrachtungen niedergeschriebener Sätze folgen.*) 

Unter der Überschrift: »mehr Attribute als Wesenheiten« und dem Datum »Mai 
22.« findet sich die folgende Betrachtung. 


1) Vergl. Büxtens Brief bei Av&-Lallement l. c. p. 213. 

?) Die von Vagetius herausgegebene Schrift »Mineralia« enthält zahlreiche » Beobachtungen« chemischen 
Inhalts, die zumeist eben diesen Jahren angehören. j 

8) Dieselben finden sich in dem mit »Doxoscopia Galenica«e bezeichneten Fascikel der zur Medizin 
gerechneten Handschriften. Das älteste der hier in Betracht kommenden Blätter ist mit 22, Febr. (d. h. Febr. 1622 
bezeichnet. 

t) Dieselben sind von AM. Vogel in den Text der Jungius’schen Doxoscopiae physicae minores an ver- 
schiedenen Stellen und zwischen Äufserungen viel späteren Ursprungs eingeschaltet. Ich reproduziere sie nach 
dem erhaltenen Original-Wortlaut der Handschrift Doxoscopiae phys. min. in 8°. 


20 Pr. EMIL WOHTLWILL, Joachim Jungius. 


»Die so leicht die Qualitäten vervielfältiren, mögen die folgenden Qualitäten in 
Betracht ziehen: Zerbrechlichkeit, Dehnbarkeit, Formbarkeit, Fähigkeit des Aneinander- 
haftens, Ziehbarkeit, Klebrigkeit, Zerreifsbarkeit, Zähigrkeit, Geschmeidigkeit, Biegsamkeit, 
Spaltbarkeit, Schneidbarkeit, Zerreiblichkeit, Zerflicfslichkeit (wie wenn Pottasche in der 
Luft wegen der unmerklichen Feuchtigkeit zerfliefst) und dergl. mehr und mögen ver- 
suchen, ob sie eine bestimmte Zahl derartiger Qualitäten aufstellen können oder ob sie 
alle diese Attribute unter zwei entgegengesetzte Qualitäten ordnen wollen. : 

»Eine andere ist die Ziehbarkeit in der Wolle, dem Flachs, den Haaren des 
Wollgrases und gewisser ähnlicher Gewächse, eine andere im Metall, denn dieses folgt 
nicht, wenn es nicht erhitzt wird und hängt nicht zusammen, wenn die Teile des Drahtes 
sich berühren.« 

»Verschieden ist die Spaltbarkeit, denn das Line wird durch das Eindringen 
eines Fremden gespalten, das Andere von selbst, wie wenn Kalk austrocknet.« 

Der unausgesprochene Zweck dieser Zusammenstellungen ist: die atomistische 
Betrachtungsweise unvermeidlich erscheinen zu lassen. Es geht dies schon aus dem 
Widerspruch gegen die Entstehung der Qualität durch bestimmte \Wesenheiten deutlich 
hervor, bestimmter noch aus mehrfach vorkommenden Betrachtungen ähnlichen Inhalts, bei 
denen ausdrücklich hinzugefügt wird, was hier zu ergänzen ist! dafs die Verschiedenheiten 
des Zusammenhangs auf entsprechende Modifikationen in der Anordnung der Atome 
zurückgeführt werden müssen. »Diejenigen,« heifst es in einer späteren Aufserung, 
»welche leugnen, dafs die Qualitäten aus den Atomen entstehen können, mögen zeigen, 
wie der Zusammenhang, wie er in seidenen, leinenen, hanfenen Fäden, \Weidenruten, 
den Fäden der Spinne, der Raupen u. s. w. beobachtet wird, von den vier Elementen 
selbst unter Hinzunahme des Salzes, herkommen soll. Dasselbe gilt von der Dehnbarkeit.« 1) 

Auf einem andern dem Jahre 1622 angehörigen Blatte wird eine weitere Reihe 
von Erscheinungen unter der gleichen nominalistischen Devise in gleichen Sinne erörtert. 
‚Nicht soviel Wesenheiten,« heifst cs hier, »sind in einem Gegenstande (Körper) anzu- 
nehmen, als an ihm Attribute wahrgenommen werden, ja nicht einmal soviel Arten 
des Seins; so ist z. B. das Eisen im Salpetergeist löslich, im Vitriolgeist eisartig er 
starrend, desgleichen in eine fettige Erde oder eine schwarze oder aschengraue Butter 
verwandelbar, mit Salpetergeist aufbrausend, durch Wasser zu Rost sich umbildend u. s. w. — 
wer möchte soviel Arten des Seins oder Halbwesenheiten im Eisen annchmen? Und doch 
sind dieses wahre Attribute und wahr ist, dafs das Eisen so verändert wird.« 

»In gleicher Weise erscheint der Saphir blau oder ruft dieselbe Veränderung im 
Auge hervor, wie die Blüte der Cyane, der Aquilegia, der Ochsenzunge u. dgl. mehr. 
Es ist nicht nötig, eine besondere Qualität oder Form dafür anzunehmen, sondern wie 
eine gewisse Durchmischung und Verbindung der Bestandteile (Prinzipien) des Saphirs 
ihm verleiht, dafs er der Feile widersteht, durch das Pulver des Diamanten poliert und 
geformt, durch das Feuer centfärbt wird und diese Kräfte oder Fähigkeiten doch in 


1) ef. Handschr. Ad Sennerti Auctarium Fol. 71. 


Dr. EMIL WOHLWILL, Joachim Jungıus. 21 


Wahrheit im Saphir sind und nicht als Wesenheiten, die von der Substanz des Saphirs 
verschieden sind, so wird auch mit Recht vom Saphir ausgesagt, dafs er blau sei, d. h. 
dafs er das Auge in solcher Weise verändert oder dafs das von ihm aus auf die Netz- 
haut des Auges sich verbreitende Licht ein solches sei, wie es empfunden wird, oder 
auch, dafs das Licht, das vom Saphir aus durch eine Öffnung in einem Papierblatt sich 
in ein dunkles Zimmer ausbreitet, ein solches sei. Denn das Licht, das vom Saphir 
aus sich verbreitet, ist verschieden von dem Licht, das vom Diamanten aus sich ver- 
breitet, und das sekundäre Licht, das von der Milch aus sich verbreitet, ist verschieden 
von dem sekundären Licht, das von der Dinte ausgeht.« !) 

Ersichtlich wird hier, wie das chemische und mechanische, so auch das optische 
Verhalten als Ergebnis der »Mischung« aufgefafst. 

Andere Blätter aus derselben Zeit beweisen, dafs Jungius schon hier Wert dar- 
auf legt, die Gesinnungsgemeinschaft mit den älteren griechischen Naturphilosophen auch 
durch Verteidigung derselben gegen die üblichen Vorwürfe zu bethätigen. So schreibt 
er im Februar 1622: Aristoteles nimmt so wenig an Zahl unendliche Prinzipien an, wie 
wir an Zahl unendliche Arten der Körper. Wenn wir jedoch die Arten der »gleich- 
teiligen« Körper unendlich setzen, so ist die Zahl der Prinzipien ebenso unendlich nach 
den Averroisten wie nach Anaxagoras. Nehmen wir eine endliche Zahl von Arten an, 
so werden auch die Prinzipien des Anaxagoras endlich an Zahl sein.« 

»Die Arten der Naturkörper», heifst es auf einem anderen Blatte, »sind nach 
Aristoteles nicht weniger unendlich als nach Demokrit. Denn die Vereinigungen der 
ersten Qualitäten sind erstens dem Verhältnisse nach unendlich und zweitens sind die 
Prozesse, aus denen neue Arten hervorgehen, unendlich mannigfaltig, je nach der ver- 
schiedenen Wirkungsweise des Wirkenden und Leidenden.« Demokrit und Anaxagoras 
erscheinen demnach schon. hier, wie in Jungius’ späteren Schriften, als Vertreter der 
Corpusculartheorie neben einander. 

Eine eigentliche Begründung dieser Theorie findet sich unter diesen älteren Auf- 
zeichnungen nicht; doch geht aus allem hervor, dafs es die unvergleichlich gröfsere Ein- 
fachheit der atomistischen Naturansicht ist, um derentwillen Jungius sie als die natur- 
gemäfse erkennt. Die Entstehung der mannigfaltigsten Modifikationen im Verhalten 
der Körper durch Änderungen in der Lage der Atome ist ihm nur ein einzelnes Bei- 
spiel der allgemeinen Wirkungsweise der Natur, die seiner Überzeugung nach in allem 
dem Grundsatz der Nominalisten des 14. Jahrhunderts entspricht, dafs »nicht durch Vieles 
geschieht, was durch Weniges geschehen kann.« Diesen Gedanken führt, den vorstehen 
den Betrachtungen sich anschliefsend, ein mit Febr. 23 bezeichnetes Blatt in folgender 
Weise aus: 

»Dafs die Natur nicht wirkt, wie die Chinesen schreiben, sondern wie andere 
Nationen, nämlich nach dem Alphabet, geht deutlich aus Vielem hervor. 





I) Dazu folgt in Klammern die Bemerkung: welcher Art aber die Wandlung oder Änderung ist, die 


das Licht von dem farbigen Gegenstande oder von dem, was farbig genannt wird, erfährt, ist noch unbekannt, 


22 Dr. EMIL WOHTLWILT., Joachim Jungius. 


1. Die Schwänze der Vögel und Fische gleichen dem Steuer der Schiffe und 
können auf den Hebel zurückgeführt werden und auf die ablenkende Bewegung. 

2. Die Flügel der Vögel und die Flossen der Fische gleichen dem Ruder. Das 
Eichhörnchen bedient sich des Schwanzes als Mast und Segel. 

3. Die Bewegung der Tiere geschieht entweder durch das Anschwellen der Mus- 
keln, wie Cäsalpin, Aristoteles und ich oder durch Zusammenziehen der Fasern, wie Galen 
will (was mir nicht gefällt, denn durch die naturgemäfse Zurückziehung der Fasern 
will er die Bewegung der Muskeln demonstrieren, während sie doch Bewegung des 
Lebenden ist‘. 

4. Der Bau des Auges ist durchaus nach optischer Theorie gebildet; denn die 
Krystallflüssigkeit sammelt die Strahlen und verhindert so die Zerstreuung. 

5. Die Klappen des Darms, der Herzgefäfse haben etwas Mechanisches, jedoch 
nicht aus der Statik und Phoranomik. ') 

6. Die Saugnäpfe des Polypen gleichen den Schröpfköpfen; denn indem er die 
Ränder kräftig an den zu fergreifenden Gegenstand prefst, erweitert er durch allseitiges 
Zurückziehen der inneren Haut die Höhluns der Saugnäpfchen, so wird die Luft ver- 
dünnt u. s. w., wie ein Schlüssel nach dem Aussaugen der Luft an der Zunge oder den 
Lippen haftet.« 

»Die Natur hat demnach nicht soviel Fähigkeiten, Kräfte, Qualitäten den Dingen 
eingegeben, als sie Wirkungen in ihnen hat hervorrufen wollen, sondern bestimmte Ge- 
setze hat sie den Grundbestandtcilen (Prinzipien) eingegeben, nach denen cin Grundbe- 
standteil mit dem anderen zusammengesetzt, zusammengemischt, von den anderen unter- 
stützt, gehindert, zur Abweichung gebracht wırd.« 

Jungius kommt auf dieses »Axiom in seinen Studien oftmals zurück. Bei 
späterer Gelegenheit bezeichnet er dasselbe als »die Hypothese aller Hypothesen«; »wird 
diese geleugnet,« sagt er, »so fällt alles rationelle Philosophieren und Forschen nach 
Ursachen weg«; aber er ist nicht minder bemüht, an zahlreichen Äufserungen früherer 
Forscher nachzuweisen, dafs seine Annahme eine allgemein anerkannte, » Allen gewisser- 
mafsen von Natur eingeprägte« sei. 

In der Auswahl der vorstehend aus den Handschriften mitgeteilten Betrachtungen 
habe ich mich zunächst auf solche beschränkt, die mit den Jahreszahlen 1622 und 23 
bezeichnet sind oder mit eben diesen in leicht erkennbarem Zusammenhange stehen. 
Dieselben sind ersichtlich als Teile eines gröfseren Ganzen, einer allgemeinen »Einführung 
in die Physik« oder einer Schrift »gegen die Meinungen«®) gedacht; es wird dies be- 
sonders dadurch wahrscheinlich, dafs auch aus den Jahren 1623—29 zwar nicht umfang- 
reiche, aber zahlreiche Aufzeichnungen verwandten Inhalts vorliegen, die sich als weitere 
Beiträge zu dem etwa 1622 begonnenen Werk betrachten lassen. So findet sich z. B., 


1) 4 und 5 sind hier, wie bei Vogel, aus einem mit 25. Jan. bezeichneten Blatte eingeschaltet. 
2 In dem Band vermischter Aufzeichnungen, dem die mitgeteilten Sätze entnommen sind, kommen oft 


bwechselnd die Überschriften »Isagoge physicae und »Antidoxa«, seltener »Doxoscopia« vor. 


Dr. EMIL WOHLWILL, Joachim Jungius. 23 


um nur das eine anzuführen, wiederum unter der Überschrift »nicht soviel Wesenheiten 
als Attribute« ein Blatt vom Juli 1625, auf dem es heifst: 

»Demokrit, als er sagte, dafs die Qualitäten Schein seien, wollte nicht sagen, 
dafs z. B. das Harte nicht hart sei, d. h. bei Berührung nicht Widerstand leiste, sondern 
nur das, dafs jene Fähigkeit, bei Berührung Widerstand zu leisten, nicht eine eigentüm- 
liche Wesenheit oder ein Hinzukommendes sei, von dem Körper selbst verschieden, so- 
wie auch eine angeschwollene Blase für die Sinneswahrnehmung ebenso hart oder bei 
Berührung widerstehend ist, als Marmor. Demokrit war demnach Occamist.« 

Dieser merkwürdige Satz spricht nachdrucksvoll aus, dafs Jungius, wie schon 
oben angedeutet, sich durchaus bewufst ist, die atomistische Lehre auf nominalistische 
Prinzipien zu begründen. Umgekehrt läfst sich behaupten, dafs die hier berührten Äufser- 
ungen unter nominalistischer Devise die Einführung demokritischer Lehren zum Ziel haben. 

Was nun den Zweck und die Bedeutung des Werks betrifft, wie sie Jungius 
vorschwebten, so giebt uns darüber neben den angeführten Bruchstücken eine Folge 
Jugendlich schwungvoller Aphorismen aus der gleichen Periode Aufschlufs, die allem An- 
scheine nach für das Vorwort bestimmt waren.) Ich lasse deshalb auch einige dieser 
Sätze hier folgen. 

»Weshalb unternimmst du allein, gegen die Meinungen zu kämpfen? Müfste ich 
allein bleiben, so hätte ich die Feder nicht gegen die Meinungen erhoben. Denn besser 
wäre es gewesen, von meinem Unglück zu schweigen, das mir eine Meinung statt der 
Wissenschaft aufgedrängt und die übrige Zeit meines Lebens darauf zu verwenden, nach 
Wissenschaft zu suchen. Aber ich habe gehofft, dafs mehrere solchen Geistes leben, 
denen es nicht gleich ist, ob sie in Meinung oder Wissenschaft ihre Nahrung finden, und 
dafs ich diese entweder bestärken oder schützen könnte.« — 

»Ihr dürft nicht traurig sein, weil euch Schutz zu Teil werden soll 

I. gegen den Rost des Verstandes, 

2. gegen die Gewohnheit trügerischen Schliefsens, 

3. ihr selbst noch ausreicht, eine Physik zu finden, 

4. wenngleich es Trugschlüsse, falsche Lehrsätze und leere Hypothesen sind, mit 
denen wir es zu thun haben, so beschäftigen wir uns doch mit denselben in apodiktischer 
Weise; aber jedes apodiktische Verfahren vervollkommnet den Verstand. « °) 


1) Dieselben sind schon von Vogel im Jahre 1662 abgedruckt, kommen aber dabei so wenig wie in 
Guhrauers Reproduktion (p. 144—45) zur gebührenden Geltung, weil hier wie dort der Zeitpunkt, in dem 
Jungius so reden konnte und durfte, unberücksichtigt geblieben ist. 

2) Dieser 4te Trostigrund steht mit Jungius’ späteren Ansichten im entschiedensten Widerspruch; be- 
sonders in den Disputationen wird kaum eine zweite Behauptung so häufig wiederholt, als die, dafs in Aristoteles 
physikalischen Schriften immer nur dialektische, nie apodiktische Entwickelungen vorkommen. — Bei Vogel 
(und nach ihm bei Guhrauer, lauten die letzten Worte: omnis autem apodicticus processus intellectum demul- 
cet ac perficit, Im Original ist das dritlletzte Wort nicht zu entziffern; von Vogels Hand ist darunter ge- 
schrieben »an demulcet:« 


24 Dr. EMIL WOHLWILL, Joachim Jungius. 


»Dafs diejenigen, die, weil es ihnen an geistiger Begabung fehlt oder aus Mangel 
an Zeit oder aus einer anderen Ursache die ausführlichen Erörterungen der Actupoten- 
tialen nicht prüfen können und deshalb ihre Lehrsätze nicht als Schlüsse, sondern wie 
Überlieferungen, allgemein anerkannte Meinungen, feststehende Entscheidungen annehmen 
und um nicht andern untergeordnet zu erscheinen, vorgeben, dafs sie in untrüglicher 
Gewifsheit sich zu ihnen bekennen — dafs diese lesen, was wir gegen die Meinungen 
schreiben, wird weder uns noch ihnen nützen; denn sie sind nur eine Zahl.«") 





Diese kampflustigen, selbstbewufsten Worte erinnern an die ähnlich gestimmten 
des kurz zuvor geschriebenen Programms der »ereunetischen Gesellschaft«, als dessen 
alleiniger Verfasser Jungius betrachtet werden mufs.?) Hier wie dort ist eine Verwandt- 
schaft der Reden und Empfindungsweise mit derjenigen, die Bacons »neues Organon: 
charakterisiert, nicht leicht zu überhören. Es liegt in dieser Übereinstimmung ein Beweis 
dafür, dafs, wer in jenen Tagen der herrschenden Schulwissenschaft offen gegenüberträt, 
wie er der Entschlossenheit des Reformators bedurfte, so auch in innerster Empfindung 
von dem Glauben erfüllt sein konnte, dafs in seinem Widerspruch durchaus Neues der 
widerstrebenden Welt geboten sei, wenn gleich die späte geschichtliche Betrachtung sein 
Wollen und Wirken nur als ein einzelnes Glied in der Kette der vielen auf das gleiche 
Ziel gerichteten Bestrebungen erkennt; so konnte Bacon von Verulam in einem Zeitpunkt, 
der für uns durch Galileis und Keplers Forschung gekennzeichnet ist, von einer Wissen- 
schaft der Zukunft reden, zu der er selbst die Wege gezeigt, geebnet und als Erster 
betreten; und in ähnlicher Weise Jungius wenige Jahre später seine Kritik der herrschenden 
Lehrmeinungen in der Vorstellung in Angriff nehmen, als gelte es eine Neuerung von 
aufserordentlicher Tragweite. Dafs er das früh entworfene Buch, von dem er so Grofses 
erwartete, in jenen Jahren nicht zum Abschlufs brachte, wird durch die Nötigung zu 
mannigfaltigsten anderen Arbeiten, die ihm in raschem Wechsel die Professuren der 
mathematischen und der medizinischen Wissenschaften auferlegten, zur Genüge erklärt.) 
Erst mit der Übersiedelung nach Hamburg und mit der Übernahme einer Professur 
der »Physik« fand Jungius die Mufse und die bestimmte Veranlassung, seine syndiakritische 
Lehre im Zusammenhang zu bearbeiten. 

Die Ordnungen des Hamburgischen akademischen Gymnasiums, an dem Jungius 
neben dem Rektorat das Lehramt des Physikers übertragen wurde, schrieben vor, dafs 


D) Einige weitere bei Guhrauer abgedruckte Aphorismen. die dem Inhalt nach hierher gehören und 
auch im Original sich auf benachbarten Blättern finden, müssen der wesentlich abweichenden Handschrift nach 
als späteren Ursprungs angesehen werden. Der eine dieser Sätze ist überdies mit 55. April bezeichnet. 

2) Vergl. Guhrauer pag. 71 u. f. 

8) Jungius wurde im Frühjahr 1624 Prof. der Mathematik in Rostock, 1625 Prof. der Medicin in 
Helmstedt, war im selben Jahr als Arzt in Braunschweig, dann in Wolfenbüttel thätig und wurde im Herbst 1626 
wieder mit der mathematischen Professur in Rostock betraut. Die Vorarbeiten für seine Vorträge an beiden 
Universitäten sind zum gröfsten Teil erhalten und lassen die aufserordentliche Ausdehnung sowohl der litterarischen 
Studien als auch die selbständigen Beobachtungen erkennen, die Jungius auf diese Vorlesungen verwandte. 


Dr. EMIL WOHLWILT, Joachim Jungius. 25 


in der Philosophie — als deren Teil die Physik galt — die Lehren des Aristoteles in 
erster Linie zu berücksichtigen seien. Jungius hat diese Anweisung von vornherein in 
solcher Weise befolgt, dafs er zwar seine Schüler mit der Naturlehre des Aristoteles und 
seiner bekanntesten Ausleger gründlich vertraut machte, zugleich aber die Unhaltbarkeit und 
Wertlosigkeit der vorgetragenen Sätze darlegte und denselben die Vorstellungen der 
syndiakritischen Lehre als die richtigen und naturgemäfsen gegenüberstellte. Wer hören 
wollte, konnte schon aus der Antrittsrede vom 19. März 1629 sein Urteil über die Physik 
der Schule entnehmen. In dem geschichtlichen Teil seines Vortrags leitet er die Be- 
schaffenheit eben dieser Schulwissenschaft, die Erniedrigung der Naturlehre zum Objekt 
streitsüchtiger Kommentatoren, von der völligen Vernachlässigung der mathematischen 
Studien während der Jahrhunderte des Mittelalters ab. Wenn er dann in ironischer Wendung 
die Forderung, dafs die Mathematik als Propädeutik der Naturlehre betrieben werde, 
unter anderm durch die Erwägung begründet, dafs nicht leicht jemand geneigt sein 
werde, sich mit Punkten, Linien und Winkeln zu beschäftigen, dessen Geist erfüllt sei 
von der fünften Essenz des Himmels, der ewigen Materie der Welt unter dem Monde, 
den verborgenen Qualitäten und dergleichen grofsen oder gewinnbringenden Dingen, so 
war nicht leicht zu verkennen, was in Wahrheit ihm selbst als das Niedrige und das 
Hohe, das Wertlose und das Gewinnbringende erschien. !) 

Dafs sein Unterricht alsbald und ın vollem Mafse verwirklichte, was diese ein- 
leitenden Worte verhiefsen, dafür liegen uns zunächst in den Diktaten schon aus den 
ersten Jahren seiner Hamburger Amtsführung überzeugende Beweise vor. Dem Inhalte 
nach wenigstens erkennen wir in diesen alten Heften, die unter dem Namen Lectiones 
Physicae teils von Jungius’ Hand, teils von Schülern abgeschrieben, erhalten sind, die 
Ausführung der Entwürfe von 1622, den Inbegriff der syndiakritischen Lehre nach 
Jungius’ Auffassung. In gesonderter Folge sind die Definitiones den Assertiones voraus- 
geschickt, unter den ersteren an der Spitze diejenigen, die der allgemeinen Lehre der 
physikalischen Attribute und der Bewegungserscheinungen dienen; dann folgen als 
Definitiones secundae diejenigen, die zur Begründung der beiden gegenüberstehenden 
Theorien des Entstehens und Vergehens benutzt werden. In den darauffolgenden 
Assertiones wird dann ohne weitere Gruppierung des Inhalts die herrschende Lehre der 
Kritik unterworfen, die atomistisch-syndiakritische ihr gegenüber begründet und auf die 
Deutung der Erscheinungen angewandt. Einem ersten, die Lehre in ihrer Allgemeinheit 
darlegenden Teil, folgt ein zweiter, der speziell die Grundzüge einer Lehre von den 
homogenen Körpern, eine Art chemischer Mineralogie. zum Gegenstande hat. 

Dafs Jungius in diesem für seine Zuhörer bearbeiteten Heft nicht etwa nur Aus- 
züge giebt, sondern das Wesentliche seiner Gedanken über die erörterten Fragen zu- 
sammengefafst hat, läfst sich daraus schliefsen, dafs unter seinen späteren Aufzeichnungen 
sich zwar manche ergänzende Betrachtungen, Definitionen und kritische Bemerkungen 


1) Die hier berührte Antrittsrede, die schon Vogel zur Veröffentlichung bestimmt hatte, ist vollständig 
erhalten. Auszüge hat Guhrauer (pag. 97 u. f.) mitgeteilt. 


26 Dr. EMIL WOILWILL, Joachim Jungius. 


über die gleichen Gegenstände finden, aber keine grundsätzlich abweichenden Deduktionen. 
keine eigentliche Erweiterung des Hauptinhalts. 

In der That bilden die Lectiones physicae aus den ersten Hamburger Jahren, 
durch Zuthaten von untergeordneter Bedeutung ergänzt, das Hauptmaterial derjenigen 
Schrift, die mehr als 30 Jahre später Martin Vogel aus Jungius’ Nachlafs veröffentlicht 
hat, der mehrfach genannten Doxoscopiae physicae minores. 

čs ist daher auch in geschichtlichem, wie biographischem Interesse von Bedeutung. 
die Entstehungszeit jener Diktate, deren ‘Original-Manuskript durch keine Jahreszahl ge- 
kennzeichnet ist, möglichst genau zu bestimmen. Zu diesem Zwecke hatte schon M. Vogel 
Nachforschungen über den Zeitpunkt angestellt, in dem ein Adam Poltsius, von dessen 
Hand eine schön geschriebene vollständige Kopie des Jungiusschen Heftes erhalten ist, 
das Hamburgische Gymnasium besucht hat; er fand in der Matrikel des Gymnasiums 
zwei Inskribierte des Namens Poltsius, aber keinen Adam Poltsius. Dagegen ist ihm 
eine auf Grund des Poltsiusschen Hefts entstandene Kopie zugänglich gewesen, die nach- 
weislich aus dem Jahre 1632 stammt. 

Diesem Datum kann ich als zweites bestätigendes dasjenige des bereits erwähnten 
Briefes von Friedrich Büxten hinzufügen. In diesem Brief, der vom 19. März 1632 
datiert ist, führt Büxten als den Inhait der »Assertio 13 des ersten Abschnittss der 
Jungiusschen Diktate einen längeren Satz in betreff der angeblichen Zusammensetzung 
der Körper aus Schwefel, Salz und Quecksilber an, der mit dem Originaltext wörtlich 
übereinstimmt. Daraus ist zu entnehmen, dafs B., der, als er schrieb. Hamburg noch 
nicht lange verlassen hatte, eine Abschrift der Lectiones physicae, die beide Abschnitte 
umfafste, spätestens seit 1631 besafs; da er aber, nach Ausweis der Matrikel, im 
März 1630 in das Hamburgische Gymnasium aufgenommen worden, könnte er die be- 
treffenden Vorlesungen auch schon 1630 gehört haben. Da andererseits kürzere Aufzeich- 
nungen von Jungius Hand seine Beschäftigung mit dem gleichen Gesenstande, ins- 
besondere die Ausarbeitung dahingchöriger Definitionen im Jahre 1629 aufser Frage 
stellen, so wird man die Entstehung der endeültisen Redaktion der Diktate in dem Zeit- 
raum 1629/31 als vorzugsweise wahrscheinlich, eine spätere aber als ausgeschlossen 
anzusehen haben. ’) 

Dafs Jungius eine Schrift, die, wie im folgenden naher nachzuweisen, in so vielen 
Beziehungen Neues bot, ursprünglich zur Veröffentlichung bestimmt hatte, läfst sich mit 
Sicherheit voraussetzen. In der That berichtet \Vogel,*) dafs er zu verschiedenen Zeiten 
mit der Absicht umgegangen sei, eine Isagoge physica drucken zu lassen; aber die Aus- 
. führung unterblieb, sci es, wie Vogel schreibt, »dafs immer neue Sorgen seine Gedanken 
nach den verschiedensten Richtungen ablenkten, sei es, dafs eine Einigung mit dem 
Verleger nicht zu Stande kam, dafs ihm die Form der Typen, namentlich der griechischen 


1) Ich bezeichne im Folgenden der Kürze wegen diese Diktate als das Heft von 1630. 
2) cf, Annotationes Generales ad J. Jungii Doxyscopias physicas minores. Annot., I. de edendi hujus 


operis causis. 


pm 


Dr. EMIL WOHLWILL, Joachim Jungius. 27 


mifsfiel oder dafs der Plan einer ausführlicheren Bearbeitung ihn dieses wie andere Werke 
zurückzulegen veranlafste, bis der Tod allen Plänen ein Ende machte.« 

Einen gewissen Ersatz für die allzulange hinausgeschobene Veröffentlichung der 
gröfseren Schrift bieten die gedruckten Disputationen des Hamburgischen Gymnasiums. ') 
Jungius bediente sich derselben, um wenigstens über die Stellung, die er als Lehrer der 
Physik der aristotelischen Naturlehre gegenüber einnahm, auch nach aufsen hin keinen 
Zweifel zu lassen. Hier fand er auch die Gelegenheit, zunächst in einzelnen Thesen, dann 
in gröfserem Zusammenhange als entschiedener Anhänger der atomistischen Lehre auf- 
zutreten. So behandelt eine Disputation, die unter Jungius’ Vorsitz am 23. März 1633 
veranstaltet wurde, als ihren Hauptgegenstand die Widerlegung der :forma substantialis«. 
In diesem Zusammenhange wird der Begriff der »zusammengesetzten Substanz« berührt, 
von der man entweder in dem Sinne einer Durchdringung der einzelnen Substanzen rede 
oder in dem einer Zusammenmischung der Atome in gewisser Proportion und Ordnung; 
»von der ersteren träumen die trägen Knechte der »Formen«, der letzteren bedienen sich 
die Jünger der wahren Philosophie.« Und unter den Corollarien zu derselben Disputation 
stehen, dem gleichen Gedankenkreis entnommen, die beiden Sätze: 

»Es ist falfsch, dafs alle Dinge unter dem Mond (d. h. die 4 Elemente) sich in- 
einander verwandeln lassen. « 

»Nicht Alles ist aus den gewöhnlichen vier Elementen zusammengesetzt. « 

Einer Disputation des folgenden Jahrs 1634 sind 10 durch vergröfserten Druck 
hervorgehobene Corollarien angehängt, in denen bercits Grundsätze der syndiakritischen 
Lehre zu bestimmtem Ausdruck gelangen, darunter die folgenden drei: 

»Dafs es aufser den (4) Elementen noch andere Prinzipien des Gemischten gebe 
und dafs man in der Auflösung des Gemischten nicht immer bis zu den ersten Elementen 
gelangt, darin stimmen wir den Ausführungen Sennerts bei.« °) 

»Falsch ist das Axiom, welches behauptet: in welche Stoffe ein jedes aufgelöst 
wird, daraus ist es auch von Natur zusammengesetzt; sehr wahr ist aber dieses: in welche 
Stoffe ein jedes zuletzt aufgelöst wird, aus denen ist es auch zusammengesetzt. « 

»Es ist bisher weder ein einfaches noch ein zusammenfassendes Bestimmungs- 
merkmal nachgewiesen worden, durch welches die Transmutation der für die Wahrnehmung 
gleichartigen Stoffe sich von der Zustandsänderung unterscheiden liefse, aufser durch 
Zusammenmischung und Entmischung.« 

Solche Sätze, so einfach sie heute klingen, widersprachen damals noch auf’s 


D Es ist die Frage aufgeworfen, ob die unter Jungius’ Präsidium gehaltenen Disputationen insgesamt 
nach Inhalt und Wortlaut als Jungius’ Eigentum zu betrachten sind. Ein Zweifel in dieser Beziehung scheint 
jedenfalls für die hier in Betracht kommenden V)isputationen ausgeschlossen. 

2) Über Jungius’ Verhältnis zu den vier Elementen des Aristoteles wie zu den dreien der Chemiker 
ist im folgenden eingehender zu reden. Hier sei nur erwähnt, dafs schon unter den ältesten handschriftlichen 
Aufzeichnungen sich ein »principia corporum« überschriebenes Blatt findet, in welchem Jungius erörtert, ədafs es 
aufser den drei berühmten Prinzipien, Schwefel, Quecksilber und Salz noch andere giebte; dafür hätte er Sennert 


nicht eben so sicher citieren können. 


28 Dr. EMIL WOHLWILL, Joachim Jungius. 


schärfste den herrschenden Vorstellungen; nicht allein, dafs Jungius Vorgänger am Gym- 
nasium, Leter Lauremberg, der seiner Zeit ein geachteter Physiker war, für die gleichen 
Fragen wenige Jahre zuvor streng schulgerechte Antworten gegeben hatte; auch den 
Zeitgenossen an den meisten deutschen Hochschulen, und den Kollegen ihm zur Seite 
galten seine Lehren als verwegene Neucrungen. Unter den Corollarien, die Bernhard 
INeremberg, Professor der Geschichte und praktischen Philosophie am Hamburger Gym- 
nasium, ciner Disputation vom Jahre 1635 hinzufügte, lautet in nicht zu mifsdeutender 
Anspielung das erste: 

»Cicero im ersten Buch de natura deorum sagt über die Atome des Demokrit 
und Epikur: wunderbar erscheint es, dafs nicht der Ilaruspex lacht, wenn er den Haruspex 
sieht; wunderbarer noch, dafs ihr das Lachen verhalten könnt.<') Darauf, dafs Ciceros 
Wort sich zunächst nicht gegen die Atomlchre, sondern gegen ihre Anwendung auf 
das Seelenleben und die Götter richtet, konnte es dem Spotter nicht ankommen. 

Jungius antwortete dem streitsüchtigen Kollegen bei passender Gelegenheit mit 
den lakonischen Worten, die er einer andern Disputation hinzufürte: »ob die Lehre des 
Demokrit von den Atomen zu verspotten sei? ist eine Frage, die unbestreitbar ins Gebiet 
des Physikers gehört. «?) 

Fingehender erwiderte er in ciner Disputation vom Juni 1639 durch den Mund 
eines Schülers auf den Vorwurf der Neuerungssucht.?) Unter der Überschrift -sieben 
Sondermeinungen« stellt er die Ansichten zusammen, um derentwillen man ihn des 
Vergehens, eine neuc philosophische Sekte gründen zu wollen, verdächtig fand; zu seiner 
Rechtfertigung liefs er dann jedem der angeklagten Sätze übereinstimmende Meinungs- 
aufserungen angeschener Gelehrter folgen. 

Ich kann mir nicht versagen, diese geschichtlich denkwürdige Zusammenstellung 
von Sonder-Meinungen, die im Jahre 1639 einem Physiker zum Vorwurf gemacht wurden, 
an dieser Stelle zu reproduzieren, wenn gleich ein Teil derselben nur mittelbar mit den 
hier erörterten Fragen zusammenhängt. 

I. Erstens hat der Herr Präses uns mit allem Fleifs darauf hingewiesen, dafs 
alle Disputationen, die er gegen bestimmte verbreitete Meinungen bisher gehalten, 
darauf hinzielen, dafs endlich die trügerischen und dunklen Texte der physikalischen 
Bücher des Aristoteles verlassen und das grofse Buch der Natur selbst geprüft, d. h. 
dafs Beobachtungen sorgfältig und genau angestellt, von den Beobachtungen zu Induktionen, 
von diesen zu Beweisen in der Physik geschritten werde, umsomchr als es aufser- 
ordentlich viele Gegenstände der Naturwissenschaft giebt, über die Aristoteles entweder 


H) ef. Corollaria hinter B. Weremberg Gymmnasmatum historicorum decimum sextum, de philosophis 
Graecis, familiam ducentibus. Hamburgi 1636 (Disputation vom 18. Sept. 1635.) 

?) Die Antwort findet sich hinter der Disputation vom 20. Mai 1637 de probationibus eminentibus in 
demselben Auctarium Praesidis, das um einer anderen Frage willen in Jungsus’ Biographie eine wichtige Rolle 
spielt. cf. Guhrauer p. 112 u. f. 

”) Heptas singularium opinionum, quam in Gymnasio Hamburgensi sub tutela Dr. J. Jungii in publicum 
Disputationis exercitium producit Nic. Ropers, 1639. 


Dr. EMIL WOHLWILI, Joachim Jungius. 29 


wenig oder nichts Geschriebenes hinterlassen hat; denn diejenigen, meint er, die ihre 
Lehren nur auf die Worte des Aristoteles begründen, seien vielmehr Ausleger der 
Philosophie als Philosophen, und endlich sei cine solche Weise zu philosophieren eine 
knechtische und eines Christen unwürdige. 

II. Er hat bisher beständig gelehrt, dafs in den die Physik betreffenden Büchern 
des Aristoteles, d. h. in den 8 Büchern physicae auscultationis, den 4 Büchern de coelo 
und den 2 de generatione et corruptione und ihres Gleichen sich nur dialektische 
Argumentationen, aber keine Beweise finden, dafs daher diese Bücher von Irrtümern nicht 
frei sind. 

II. In nicht wenigen Disputationen und philosophischen Untersuchungen hat er 
gezeigt, dafs die Lehre des Zabarella vom Beweise, welche heute vielfach in den Schulen 
Deutschlands sowohl in den logischen Compendien wie in öffentlichen Disputationen vor- 
getragen wird, von Irrtümern und Verkehrtheiten wimmelt. ') 

IV. Er leugnet, dafs die wechselseitige Transmutation der 4 Elemente oder ein- 
fachen Körper, als da sind: Feuer, Luft, Wasser, Erde, durch irgend welche Experimente 
erwiesen werden könne. 

V. Er hat gelehrt, dafs wenn die Verwandlung der Elemente wegfällt, auch der 
Beweis für die aristotelische erste, d. h. die von allen substantiellen wie accidentellen 
Formen freie Materie fällt. 

VI. Er hat überdies gelehrt, dafs wenn man auch die aktupotentielle Transmutation 
nach Aristoteles zugestehen wollte, doch das Entblöfst sein (die privatio, or&oyoıc) kein 
wahres Prinzip sei, sondern nur durch eine völlig mifsbräuchliche Anwendung des Worts 
den Prinzipien zugerechnet werde, und dafs alle Behauptungen, in denen man der privatio 
sich bedient, durch andere bequemere, gleichwertige Behauptungen zu ersetzen seien. 

VII. Desgleichen hat er gegen jene substantiellen, materiellen, verborgenen und 
einfachen Formen, die nach der Lehre der lateinischen Peripatetiker aus der potentia der 
ersten Materie hervorgebracht werden sollen, gestritten und hat behauptet, dafs dieselben 
mit sehr schwachen Argumenten von Zabarella, Toleto, Fonseca, Suarez bewiesen worden 
und dafs diese Lehre von der Meinung des Aristoteles durchaus abweicht. ?) 


Dieser Zusammenstellung von Meinungen wesentlich kritischen Inhalts liefs Jungius 
im Jahre 1642 in zwei Disputatiouen ȟber die Grundbestandtcile (Prinzipien) der Natur- 
körper« eine mehr positive Darlegung seiner Ansichten über die Natur der Verwandlungs- 





1) Kaum ein zweiter Name kommt in den Lehrbüchern der peripatetischen Schule des 17. Jahrhunderts, 
namentlich den in Deutschland erschienenen so häufig vor, wie der des 1589 gestorbenen Paduaner Philosophen 
Jacob Zabarella; auch Jungius rıchtet seine Angriffe gegen die Lehren der Schulwissenschaft meistens gegen die 
Form, in der Zabarella dieselben verteidigt. 

3) In betreff der Einzelheiten der hier berührten »physikalischene Lehren des Aristoteles und der 
mehr oder minder abweichenden seiner »lateinischene Anhänger in neuerer Zeit mag auf die Lehrbücher der 


Geschichte der Philosophie verwiesen sein, 


30 Dr. EMIL WOHLWILL, Joachim Jungius. 


Erscheinungen, die Elementarbestandteile der Körper und die Grundsätze für die Er- 
mittelung derselben folgen. Dieselben sind der Hauptsache nach ein Auszug aus dem’ 
Heft von 1630; sie sind, wie die ganze Reihe der Hamburgischen Disputationen, wahr- 
scheinlich niemals sehr verbreitet gewesen, heute nur in wenigen Bibliotheken zu finden; 
ihre geschichtliche Bedeutung ist auch von denen, die sich eingehender mit Jungius 
beschäftigt haben, nicht beachtet worden. Ich lasse deshalb an dieser Stelle beide 
Disputationen in beinahe vollständiger Übersetzung folgen. Besser als durch ein umständ- 
liches Referat wird auf diese Weise anschaulich werden, nicht nur, wie Jungius denkt, 
sondern zugleich wie er lehrt, die Strenge seiner Kritik, die Schärfe seiner Definitionen 
und logischen Ableitungen, die Unabhängigkeit seiner Gesinnung wie seine Klarheit über 
die Grenzen der eigenen Einsicht. Jungius selbst hat auf diese Disputationen nicht geringen 
Wert gelegt; dafs es in seiner Absicht gelegen, dieselben im Zusammenhang mit andern 
Abhandlungen zur »Einführung in die Physik« von neuem drucken zu lassen, deuten die 
zahlreichen Zusätze gröfseren und geringeren Umfangs und die vielfachen Korrckturen 
im einzelnen an, die er in mehreren Exemplaren am Rande cingetragen hat. 

Nur weniges ist zur Einführung vorauszuschicken. Jungius’ Vorstellungen über 
die Zusammensetzung der Körper sind nicht die unsrigen; die Chemie, die er zu fördern 
hofft, ist die seines Zeitalters; dem entsprechen scine Beispiele und seine Erläuterungen; 
ihn deswegen entschuldigen wollen, wie dies einer der von Guhrauer zu gutachtlicher 
Äufserung veranlafsten Gelehrten gethan hat, hiefse Nachsicht dafür in Anspruch nehmen 
wollen, dafs er als Sohn des ı6ten und nicht vielmehr des ıgten Jahrhunderts geboren 
ist. Nicht überflüssig ist jedoch vielleicht, hervorzuheben, dafs in Jungius’ Schriften 
der Eindruck des Fremdartigen, das für die heutigen Leser in der wissenschaftlichen 
Anschauungsweise des 17ten Jahrhunderts liegt, noch durch die reichliche Anwendung 
einer gelehrten, zum Teil ihm eigentümlichen Terminologie gesteigert wird. Dafs schon 
für die Zeitgenossen in dieser Aufsenseite ein Hindernis lag, wenngleich ein solches, 
dessen Überwindung der freier Denkende als reichlich lohnend anerkennen mufs, geht 
aus den Worten hervor, mit denen Samuel Hartlib die Übersendung einer Schrift von 
Jungius an seinen Freund Robert Boyle begleitet. Er schreibt ihm: »here you have 
a rude draught of Dr. Jungius’s protonoetical Philosophy, which as it lyes in a pack 
bound with such coarse expressions and terms as he useth, makes no great shew; but 
if it were fully opened, a great deal would appear to be rich cloth of Arras. This is 
the judgment or opinion of your S. H.«') 

An diese Charakteristik wird man erinnert, wenn man unter den nachfolgenden 
Aphorismen beispielsweise dem Satze begegnet: »die syndiakritische Verwandlung beruht 
auf hypostatischen, die aktupotentiale oder pcremptorische auf synhypostatischen Prin- 
zipien.« Aber über den einfachen Sinn derartiger fremdklingender Worte giebt der Zu- 


') R. Boyle Works vol. V pag. 266 a. Der Brief ist vom 15. Mai 1654. Der hier erwähnten Schrift 
von Jungius wird auch in einem Brief des Florian Crusius vom 1. Sept. 1639 gedacht (cf Guhrauer, pag. 262). 


Dieselbe scheint nicht erhalten zu sein. 


Dr. EMIL WOHLWILL, Joachim Jungius. 31 


sammenhang der Ausführungen völlig befriedigenden Aufschluss; bei der ausserordent- 
lichen Sorgfalt, die Jungius hier wie in allen seinen Schriften auf die Schärfe der Nominal- 
Definitionen verwendet, kann der uneingeschränkte Gebrauch gelehrter Redeweise nur für 
denjenigen das Verständnis erschweren, der ihn bruchstücksweise zu lesen versucht. Eine 
derartige Beschäftigung mit seinen Abhandlungen erträgt allerdings Jungius schon darum 
weniger als mancher andere Schriftsteller, weil es seinen Gewohnheiten entspricht, auch 
die gegnerische Ansicht möglichst vollständig zu Worte kommen und dann gesondert — 
oft erst spät — die eigenen Einwendungen folgen zu lassen. So bedarf es allerdings 
einer gewissen geduldigen Aufmerksamkeit, um nicht der nachfolgenden ersten Disputation 
die Vorstellung zu entnehmen, dass er selbst neben hypostatischen auch synhypostatische 
Bestandteile annimmt, was allerdings durch § 72 ausgeschlossen erscheint. 








Über die Grundbestandteile (Prinzipien) der Naturkörper. 


Erste Disputation. ') 
(1642. 30. März.) 


manae — iiai 


1) Die heute Physik lehren, verwenden ihr erstes Bemühen darauf, die Grund- 
bestandteile der Naturkörper kennen zu lehren. Denn obgleich es angemessener wäre, 
mit den Prinzipien der Erkenntnis, nämlich Begriffserklärungen, Axiomen, Postulaten, 
Hypothesen zu beginnen, ohne welche die verborgenen Bestandteile der Körper nicht ans 
Licht gebracht werden können, so wollen sie doch, weil dies von Aristoteles verabsäumt 
worden, lieber auf dem hergebrachten Wege vorgehen, als den richtigen aufsuchen. 

2) Auch wir sind, da uns die nötigen Hilfsmittel noch fehlen, um in gehöriger 
Weise die Prinzipien der Erkenntnis festzustellen, genötigt, der allgemeinen Gewohnheit 
uns zu fügen, in der Weise jedoch, dafs wir zugleich auf eine wahrhafte Begründung der 
Wissenschaft die Augen gerichtet halten. 

3) Der gewöhnlichen Annahme nach werden von Aristoteles die Prinzipien der 
Naturkörper im ersten Buch der Physik text. 42. [188a] definiert, indem er sagt: es 
müssen die Prinzipien weder wechselseitig das eine aus dem andern sein, noch aus 
anderem, und aus ihnen alles. 

4) Aristoteles verfährt in dieser Stelle dialektisch, indem er in betreff der Prin- 
zipien der Naturkörper das Für und Wider erörtert, und die Behauptungen der alten 


ı) Der vollständige Titel lautet: Disputationum de principus corporum naturalium prima in Gymnasis 
Hanıburgensi plublice proposita praeside Joachimo Jungio Phil. ac. Med. Doctore, Physicae ac p. t. Logicae 
Professore, Gymnasiique Rectore, Respondente Johanne Hogio Hamburg. Habebitur XXX Martii horis matutinis 
Hamburgi 1642. 


32 Dr. EMIL WOHLWILL, Joachim Jungius. 


Philosophen in Erwägung zicht; überdies ergeht er sich, wie es seine Weise ist, in un- 
deutlichen und dunklen Wendungen und hat nicht die Absicht, nach apodiktischer oder 
euklidischer) Art zu lehren. 

(Das hier ausgesprochene Urteil, das einem Fundamentalsatz der herrschenden 

Physik jede wissenschaftliche Bedeutung abspricht, wird nun im folgenden durch 
eine scharf ins einzelne gehende Prüfung begründet und dabei insbesondere die 
Vieldeutigkeit der aristotelischen Wendung eivas FE «mr und die dadurch be- 
dingte völlige Unbestimmtheit der vermeintlichen Definition philosophisch und 
philologisch dargethan. Diese Untersuchung führt zum Begriff des Teils; auf 
diesen kommt man, mag nun das »aus Änderm sein: im Sinne von »entstehn- 
oder »bestehn« genommen werden. Es ist daher ferner — soweit es der Zweck 
der Untersuchung erfordert — zu erwägen, in wie vielfachem Sinne von Teilen 
geredet werden kann.) 

32) Von den Teilen nennen wir den einen hypostatisch, den andern synhypostatisch. 

33) Aypostatisch ist derjenige, der auch ausserhalb des Dinges, dessen Teil er 
ist, in der Weise bestehen kann, dafs er keines Dinges Teil ist (in gleicher Weise 
nämlich wie er Teil des früheren Dinges war). 

34) So ist der Faden hypostatischer Teil des L.einens; denn er kann vom Leinen 
in solcher Weise abgetrennt werden, dafs er nicht mehr Teil eines Gewebes ist. So ıst 
die Faser ein Teil des aus mehreren Fasern gedrehten Fadens. 

35) So ist der Käse hypostatischer Teil der Milch; denn er kann bestehen, ohne 
Teil der Milch oder eines andern Dinges in derselben Weise zu sein, wie er Teil der 
Milch war, in der Weise nämlich, dafs Teilchen des Käses mit andern Teilchen anderer 
Art gemischt sind, wie sie mit den Teilchen der Butter und den Tropfen der Molken 
gemischt gewesen sind. 

36) Synhypostatisch kann der Teil genannt werden, der nur mit seinem Nebenteil 
(oder verbundenem Teil) bestehen kann, oder der von seinem Nebenteil nicht in der Weise, 
dafs er selbständig bestehe, getrennt werden oder der aufserhalb seines Ganzen nicht 
bestehen kann; 

37) und deshalb, wenn das Ganze zu Grunde geht, entweder gleichfalls zu Grunde 
geht, oder eines andern Ganzen Teil in derselben Weise wird, wie er Teil des früheren 
gewesen ist. Wenn man z. B. sagt, die Berührung, Anordnung und Lage der Fäden, 
in der dieselben über und untereinander zu liegen kommen und sich straff oder lose an- 
einander legen — sei ein Teil und zwar ein formaler des Leinens, da er ja dem Leinen 
seine Besonderheit giebt, so kann dabei nur von einem synhypostatischen Teil die Rede 
sein. Denn wenn das Leinen in der Weise aufgelöst wird, dafs es aufhört, Leinen zu 
sein, so geht auch die Ordnung, Lage und wechselseitige Berührung der Fäden, die dem 
Leinen seine Besonderheit gab, zu Grunde. Das Leinen bestand daher aus einem hypo- 
statischen und einem synhypostatischen Teil. 

38) So hört, wenn aus warmem Wasser kaltes wird, wenn das Wasser warm zu 
sein aufhört, auch die Wärme auf zu bestehen und die Kälte, die an die Stelle der 


Dr. EMIL WOHLWITLL, Joachim Jungius. 


Qə 
A) 


Wärme tritt, fängt an zu bestehen. Wird daher das warme Wasser als ein Ganzes ge- 
nommen, so werden sowohl das Wasser als die Wärme synhypostatische Teile desselben 
gewesen sein, weil weder Wärme noch Wasser bestehen konnten, sofern sie nicht eines 
andern derartigen Ganzen Teile gewesen wären; denn das Wasser wird notwendig nur 
ein Teil entweder warmen oder kalten oder teils warmen teils kalten Wassers sein. 

39) Nimmt man dagegen an, dafs die Kälte nicht eine reale Qualität, sondern 
nur Entziehung der Wärme sei, so wird man folgerichtig auch das Wasser für einen hypo- 
statischen Teil des warmen Wassers halten. 

40) In gleicher Weise nehmen diejenigen, die aus dem Wasser Luft in der Weise 
entstehen lassen, dafs an die Stelle der verborgenen »substantiellen Form« des Wassers 
die verborgene »substantielle Form« der Luft tritt, während die gemeinsame Materie be- 
stehen bleibt, Materie und Form als synhıypostatische Teile ihrer Composita an. 

41) Denn sie behaupten, die Form gehe nicht von einer Materie auf die andere 
über und bestehe nicht, ehe sie in ihrer Materie zu bestehen anfängt und bestehe nicht 
weiter, nachdem sie in ihrer Materie zu bestehen aufgehört hat. 

42) Derselben Lehre gemäfs bleibt zwar die Materie, wenngleich ihr Ganzes zer- 
stört ist, aber sie besteht nie ohne eine andere substantielle Form anzunehmen; sie ist 
daher in derselben Weise, wie sie ein Teil des Wassers gewesen, so auch ein Teil der 
Luft, die aus dem Wasser erzeugt wird. 

43) Die Peripatetiker pflegen derartige Teile wesentliche zu nennen, aber diese 
Bezeichnung unterscheidet sie nicht von den hypostatischen, da auch diese das Wesen 
ihres Ganzen ausmachen. 

44) Vielleicht möchten sie dieselben lieber als untrennbare Teile bezeichnen, da 
ihr Lehrmeister sowohl die Form als die Materie als untrennbar betrachtet. 

45) Dem Unterschied zwischen hypostatischem und synhypostatischem oder trenn- 
barem und untrennbarem Teil entsprechend, kann auch das Prinzip (der Grundbestandteil) 
als ein zwiefaches angenommen werden, als ein hypostatisches und ein synhypostatisches, 
oder ein trennbares und ein untrennbares. 

46) Es unterscheidet sich demgemäfs das hypostatische Prinzip von dem synhypo- 
statischen ungefähr ebenso wie das Element (oroıyetov) von dem Prinzip bei Galen im ersten 
Buch cap. 6 seiner Elemente unterschieden wird und bei P/utarch B. I de plac.c. 2, der 
Meinung der Peripatetiker entsprechend, wenngleich Aristoteles meistens die Ausdrücke 
Prinzip und Element ohne Unterschied gebraucht. 

47) Ausserdem ist das Prinzip entweder ein erstes oder ein nicht erstes, ebenso 
entweder ein nächstes oder ein entferntes. !) 

48) Erstes Prinzip ist dasjenige, das kein anderes Prinzip hat. 

49) Nächstes oder unmittelbares Princip wird A von B genannt, wenn zwischen 
A und B kein mittleres Prinzip vorhanden ist. 


1) Turgius verwendet demnach, wie hier und im folgenden klar ausgesprochen, das Wort Prinzip 
(«pyn) nicht nur für die letzten Bestandteile, sondern für Bestandteile schlechthin. 


34 Dr. EMIL WOTTWILT, Joachim Jungius. 


50) Entferntes Prinzip wird A von C genannt, wenn zwischen A und C ein 
mittleres Prinzip B vorhanden ist, so dass A Prinzip von B ist, B aber von C. 

51) Da übrigens die Erkenntnis der hypostatischen Prinzipien leichter ist als die 
der synhypostatischen, ja der Nachweis der letzteren der Auffindung jener vorausgcht, so 
wird mit Recht von den hypostatischen cher als von den synhypostatischen zu handeln sein. 

52) Nun ist aber, wenn man auf die Erforschung hypostatischer Prinzipien aus- 
geht, immer die Auffindung der näheren leichter als die der ferneren; denn durch Ver- 
mittlung der näheren Prinzipien gelangt die Auflösung der hypostatisch zusammengesetzten 
Körper schliefslich zu den entfernteren. 

53) Es darf deshalb der Physiker nicht sofort zu den ersten hypostatischen 
Prinzipien cilen, bevor er in der Erforschung der näheren hinlanglich geübt ist. 

54) Gäbe es in den natürlichen Dingen keine Verwandlung (transmutatio) so würde 
auch in betreff ihrer Prinzipien keine Vermutung bestehen; denn die Beobachtung der 
natürlichen Verwandlungen hat die Lehre von den Prinzipien zu Tage gefördert. 

55) Wie aber die Verwandlung im Geiste als cine zwiefache aufgefafst wird, so 
wird auch eine zwiefache Art von Prinzipien angenommen. Denn die syndiakritische 
Verwandlung beruht auf hypostatischen, die actupotentiale oder peremptorische oder ver- 
nichtende auf synhypostatischen Prinzipien. 

56) Syndiakritisch oder durch Syndiakrise stattfindend wird die Verwandlung 
genannt, die entweder durch Entmischung (Diakrise) oder durch Zusammenmischung 
(Synkrise) oder durch beides zugleich zu stande kommt. 

57) Wir bedienen uns demnach des Ausdrucks Syndiakrise in einer Zusammen- 
setzungsweise, wie die Griechen bei den Worten Prostaphaeresis oder Auxomeiosis. 

58) Synkrise oder Zusammenmischung ist es, wenn sich die ihrer Kleinheit wegen 
unwahrnehmbaren Teilchen zweier oder mehrerer für die Wahrnehmung wenigstens gleich- 
artiser Körper in der Weise bis zur Berührung oder Nebeneinanderlagerung mit einander 
mischen, dafs daraus ein neuer für die Sinneswahrnehmung gleichartiger, durch seine wahr- 
nehmbaren Eigenschaften von den früheren sich unterscheidender Körper hervorgeht. 

59) Z. B. Wenn aus Salz und Wasser Salzlake wird, aus Bleiglätte (Lithargyrum), 
Essig und Öl ein Pflaster, was Tripharmacum genannt wird, wenn aus Pech, Harz, 
Wachs und Fett das Tetrapharmacum genannte Pflaster hergestellt wird, wenn aus der 
Mischung von Gold und Silber oder von Gold, Silber und Kupfer eine dem Anscheine 
nach gleichartige Masse zusammengeschmolzen wird, so sagt man, dafs eine Zusammen- 
mischung stattfindet. 

60) Dafs eine Durchmischung der unwahrnehmbaren Teile in Bezug auf Lage 
oder Berührung stattfinde, sagen wir, wenn in ihnen keine innere Veränderung stattfindet, 
nicht in ihrer Gestalt und noch viel weniger in ihren übrigen Attributen, sondern sie 
sich nur wechselseitig aneinander legen, so dafs sich jetzt berühren, die sich früher nicht 
berührten oder die Berührung mit einer andern Seite (alia parte) stattfindet als zuvor. 
Wir drücken uns aber so aus zur Unterscheidung von einer andern Art der Mischung, 
der vernichtenden, welche die Vertreter der vernichtenden Verwandlung einführen. 





Dr. EMIL WOHLWILL, Joachim Jungius. 35 


61) Wenn wir sagen, dafs an den unwahrnehmbaren Teilchen innerlich keine 
Veränderung stattinde, so wollen wir das nicht so verstanden haben, als ob bei jener 
Durchmischung keiner der unwahrnehmbaren Teile innerlich etwas erleide; denn es kann 
vorkommen, dafs ein unwahrnehmbares Teilchen in andere noch kleinere Teilchen zerrissen 
und so innerlich verändert wird, wir reden jedoch von denjenigen unwahrnehmbaren 
Teilchen, in die als letzte ein jeder der gleichartigen Körper, die mit einander gemischt 
worden, geteilt und zerpflückt wird; dafs diese, wie sie in dem neuen gleichartigen Körper 
sich befinden, von sich selbst, wie sie in dem früheren gleichartigen Körper angeordnet 
waren, durch nichts anderes als durch Berührung und Lage verschieden sind, wollen wir 
verstanden wissen, wenn wir sagen, dafs eine Durchmischung in Bezug auf Berührung 
(secund. tactum) stattgefunden habe. | 

62) Entmischung (Diakrisis) eines für die Wahrnehmung gleichartigen Körpers 
wird es genannt, wenn dieser Körper so in Atome oder der Quantität nach unwahr- 
nehmbare, der Art nach verschiedene Teile getrennt wird, dafs aus ihnen andere für die 
Wahrnehmung wenigstens gleichartige Körper entstehen, die untereinander und von dem 
früheren durch ihre Eigenschaften oder der Art nach verschieden sind. 

63) So findet eine Entmischung der Salzlake statt, wenn dieselbe in Dampf und 
Salz sich scheidet, so eine Entmischung des Rheinischen Goldes, wenn es in reines Gold, 
‚Silber und Kupfer getrennt wird. | 

64) Dafs durch Entmischung und Zusammenmischung zugleich eine Verwandlung 
stattfinde, sagt ınan, wenn bei der Entmischung von gleichartig erscheinenden, der Art 
nach verschiedenen Körpern die Ausscheidung des einen mit den Ausscheidungen der 
übrigen sich wieder zu einem für die Wahrnehmung gleichartigen Körper vereinigt. 

65) Ausscheidung eines für die Wahrnehmung gleichartigen Körpers wird ge- 
nannt, was aus demselben durch Entmischung abgesondert wird oder was aufhört, sein 
hypostatischer Teil zu sein. So sind Butter, Käse, Molken Ausscheidungen der Milch. 

66) Durch Entmischung und Zusammenmischung zugleich entsteht das Bier; denn 
es entsteht aus Gerste, Hopfenblüte und gewöhnlichem Wasser. Aber nicht aus diesen 
als Ganzen. Denn abgeschieden werden zuerst durch Maceration der Gerste und durch 
Rösten die Wurzelkeime, so dafs aus Gerste Malz wird, dann durch Gährung und Ab- 
ziehen die Hefen, die aus den unnützen Teilen der Gerste und des Hopfens, wie auch aus 
zufälligen Unreinigkeiten des Wassers sich sammeln. 

67) Entmischung und Zusammenmischung zugleich findet statt, wenn das Rind 
aus Gräsern, Klee und Dotterblume Fleisch erzeugt, und zwar ist diese Verwandlung eine 
Entmischung, weil sowohl flüssige als trockene Exkremente abgeschieden werden, eine 
Zusammenmischung aber, weil aus den verschiedenen ungleichartigen Teilen verschiedener 
Pflanzen, und demnach auch aus gleichartigen Teilen, die der Art nach verschieden sind, 
die Nahrung des Rindes gebildet wird. 

68) Denn nichts ist bis ins Unendliche in ungleichartige Teile teilbar, man mufs 
"vielmehr auf Teile kommen, die der Wahrnehmung nach gleichartig und endlich auf 
solche, die absolut gleichartig \exquisite similares) sind. 


26 Br. EMIL WOHRLWTLT., Joachim Jungius. 


69) Den gleichartigen Körper aber haben wir schon an anderer Stelle als den- 
jenigen definiert, dessen ausgedehnten Teilen insgesamt dieselben Eigenschaften zu- 
kommen. 

70) Diejenigen, die Atome in der Natur anerkennen und ohne weiteres zuge- 
stehen, dafs die Verwandlung durch Entmischung und Zusammenmischung stattfinde, ver- 
fahren nicht richtig, wenn sie bei der Einführung der Anfänger in die Naturwissenschaft 
die hypostatischen Prinzipien mit Stillschweigen übergehen und über die synhypostatischen, 
nämlich Materie und Form, viel Worte machen !)}, da das L.eichtere, Gewissere und was 
für das Folgende Licht geben kann, in jeder Lehre vorausgeschickt werden mufs. 

71) Erst wenn man durch auflösende Beobachtung zu den ersten hypostatischen 
Prinzipien, d. h. zu absolut gleichartigen, aus Atomen derselben Art bestehenden Körpern 
gelangt sein wird, wird sich mit Sicherheit erforschen lassen, ob es synhypostatische 
Prinzipien giebt und wenn es ihrer giebt, welche und wieviel der Art nach es sind. 

72) Denn so lange wir die Naturerscheinungen auf Entmischung und Zusammen- 
mischung und auf wahrnehmbare Prinzipien der Verwandlung zurückführen können — 
was brauchen wir auf verborgene und unwahrnehmbare Prinzipien zurückzugehen? 

73) Selbst wenn die Beobachtung ergeben sollte, dafs ein der Wahrnehmung 
nach gleichartiger ganzer Körper in einen ebenfalls der Wahrnehmung nach gleichartigen, 
aber der Art nach verschiedenen, oder in wahrnehmbaren Eigenschaften sich anders ver- 
haltenden Körper verwandelt wird, und deshalb durch Zusammenmischung und Ent- 
mischung einc Erklärung der Transmutation nicht gegeben werden kann, so ist doch auch 
dadurch eine vernichtende Transmutation nicht nachgewiesen. Denn auf A/vzasynkrise oder 
Metaschematismus kann ohre Mühe diese Erscheinung zurückgeführt und so das Aus- 
reichen hypostatischer Prinzipien verteidigt werden. 

74) Metasynkrisis und Metaporopoicsis, d. h. Abänderung der Zusammenmischung 
und Änderung der Zwischenwegre erwähnt Galen, Metaschematismus der Poren Philo der 
Arzt bei Plutarch. 

75) Dafs eine Metasynkrise stattfinde, sagten die Alten, wo zwar dieselben 
hypostatischen Prinzipien des der Wahrnehmung nach gleichartigen Körpers erhalten 
bleiben, aber in anderer Ordnung und Lage zu einander gefügt, einen der Wahrnehmung 
nach gleichartigen Körper bilden, der von dem früheren durch seine wahrnehmbaren 
Eigenschaften verschieden ist. 

76) Denn wenn ein Körper aus 4 der Art nach verschiedenen Atomen A, B,C, D 
besteht, so können dieselben so geordnet werden, dafs entweder B und C zwischen A 


') In einem von Jungius mit Randbemerkungen versehenen Exemplar dieser Disputation finden sich hier, 
von seiner Hand geschrieben, die Worte: tangitur Sennertus. Vielleicht bezieht sich die Kritik des S 70 auf 
die oben (pag. 17, Anmerkung 2) berübrte peripatetisch klingende Äufserung in Sennerts Epitome. 

2) Ich schalte hier zur Ergänzung. die unter den Manuskripten gefundene, schon von Vogel abgedruckte 
Definition der Metasynkrise ein. >»Metasynkrisee, heifst es hier, vist die Umlagerung oder Umordnung der Teile, 
die durch Zusammenmischung gemischt sind.e Dazu fügt Jungius deutsch hinzu: »Als wan man ein Ding umb- 
pakket, ordentlicher oder unordentlicher, loser und lukker oder dichter leget.« 


Dr. EMIL WOHLWILL, Joachim Jungius. 37 


und D sich befinden, oder B und D zwischen A und C oder in anderen Weisen, und 
zwar so vielen als hierneben angegeben, ') und dies zwar, wenn wir sie als in gerader 
Linie oder in einer einzigen Dimension angeordnet ansehen. Zu gröfserer Mannigfaltigkeit 
der Anordnung bietet sich die Veranlassung bei einem Körper von drei Dimensionen, 
und diese Verschiedenheit kann auch in der Ebene dargethan werden. 

77) Wenn endlich die Atome nicht kugelförmig, sondern eckig und insbesondere 
von unregelmäfsiger Figur sind, so kann ihre wechselseitige Lage und Berührung in viel- 
facher Weise der Abänderung unterliegen. Mit der Änderung der Lage aber ist auch 
die gröfsere oder geringere Weite und Enge der leeren Räume zwischen den Atomen 
verbunden. Aus der Beschaffenheit der Zwischenräume aber scheinen dann andere Eigen- 
schaften sich zu ergeben, wie die Durchsichtigkeit, die Opacität, Dichte, Dünne, Härte, 
Weichheit u. s. w.; ob jedoch diese Eigenschaften nur der Anordnung der Atome zu- 
zuschreiben sind, würde zu entscheiden noch nicht an der Zeit sein. 

78) Auch ob die Hypothese der Metasynkrise für die Erklärung der Erscheinungen 
notwendig ist, kann uns noch nicht als völlig entschieden gelten, solange durch 
Beobachtungen nicht entschieden ist, ob die Verwandlung eines Ganzen in ein Anderes 
stattfindet, z. B. die des Wassers in Luft, die der Erde in Dunst. ?) 


Mit diesen Betrachtungen über die Metasynkrise schliefst die erste Disputation 
über die Prinzipien der Naturkörper. Ihr folgt eine zweite, die als unmittelbare 
Fortsetzung nur drei Tage später im Hamburgischen Gymnasium den Gegenstand 
öffentlicher Verhandlung bildete. Ihr Inhalt ist ein zwiefacher. Jungius zeigt zu- 
nächst zu weiterer Verteidigung der syndiakritischen Auffassung der Natur- 
erscheinungen, dafs dieselbe als die allein naturgemäfse nicht allein zu allen 
Zeiten eifrige Vertreter gefunden hat, sondern häufig genug selbst bei denjenigen 
Forschern zu Grunde gelegt wird, die ihr um philosophischer Prinzipien willen 
widerstreben; selbst bei Aristoteles, ihrem entschiedensten Widersacher, findet er 
in den späteren Schriften unzweideutige Hinneigung zu den Ansichten, die er 
in der Physik und den Schriften über den Himmel und das Entstehen und Ver- 
gehen bekämpft hat. Bei alledem legt Jungius allerdings den Nachdruck weniger 
auf die Übereinstimmung im einzelnen als auf eine allgemeine Verwandtschaft 
der Anschauung und der Ausdrucksweise. 

Im zweiten Teil der Disputation werden die Grundbestandteile der Natur- 
körper nach den Lehren der Chemiker der Kritik unterworfen und Prinzipien 
für die künftige Ergründung der wahren Elemente abgeleitet. 


H Am Rande steht her: ABCDAÄAABDCACBD,ACDB ADBC ADCH. 

2) Hier, wie in mehreren anderen Stellen liegt der Nachdruck nicht auf den — zum Teil für Schüler 
oder Unkundige gewählten — Beispielen; das Heft von 1630 wie auch der oben angeführte Satz IV der Dis- 
putation von 1639 beweist, dafs Jungius die hier als zweifelhaft hingestellten Verwandlungen nicht zugesteht. 


38 Dr. EMIL WOHTWILL, Joachim Jungius. 


Auch diese zweite Disputation liegt in den Handschriften in einer späteren 
Bearbeitung vor, in der insbesondere die Auswahl der Stellen aus Aristoteles 
und Galen zur Bekräftigung der Ansicht, dafs beide sich syndiakritischer Aus- 
drucksweise bedienen, eine sehr vervollständigte ist. Dem Zweck der vorliegen- 
den Erörterungen gemäfs beschranke ich mich in der Wiedergabe dieses ersten 
Teils, der für die Geschichte der griechischen Philosophie von nicht geringen 
Interesse ist, auf kürzere Auszuge und lasse denselben den zweiten Teil in voll- 
ständiger Übersetzung folgen. 


Über die Grundbestandteile der Naturkörper. 


Zweite Disputation.') 
(1642. 2. April.) 


ı) Auf so festen und augenscheinlichen Zeugnissen der Erfahrung beruht die 
Hypothese der hypostatischen Grundbestandteile, dafs auch die grofsen Schutzherren der 
synhypostatischen dieselbe nicht selten durch ihr Votum bestätigen, durch ihre Experimente 
veranschaulichen. 

2) So streitet zwar Galenus hier und dort gegen Atome und gegen die Hypothese 
der Syndiakrise und Metasynkrise, aber er thut's im Kampf gegen die Ärzte der metho- 
dischen und asklepiadeischen Sekte, die mit dieser Hypothese Mifsbrauch trieben und den 
Figuren und der Lage der Atome allzuviel zuschrieben, indem sie lieber mit ihren Ein- 
bildungen und leeren Mutmafsungen als durch genauc Beobachtungen die Geheimnisse 
der Natur zu durchdringen versuchten. 

(Jungius beweist nun zunächst für Galen durch eine Reihe von Citaten dessen 
Zustimmung im allgemeinen, fügt aber hinzu:) 

8) Wie wir jedoch nicht alles, was dem Demokrit und scinen Nachfolgern zu- 
geschrieben wird, annehmen, z. B. das zufällige Zusammentreffen der Atome, das sehr 
wenig für denjenigen pafst, der nach dem Zeugnis des Laërtius behauptete, dafs alles nach 
Notwendigkeit geschche, so verteidigen wir auch nicht alle Einzelheiten des Galen, da 
nur das Allgemeine der syndiakritischen Hypothese uns am Herzen liegt. 

11) Auch Aristoteles scheint zwar in den Büchern de physico auditu und de 
gener. et corr. die den meisten der Alten, dem Demokrit, Hippokrates, Anaxagoras, 
Empedokles gemeinsame Hypothese der Syndiakrise nicht zu billigen, bekennt sich jedoch 
in den späteren Schriften offenbar zu dieser Lehre, sei es nun, dafs er sie nur dialektisch 


!) Disputationum de principiis corporum naturalium altera, in Gymnasio Hamburgensi publice proposita 


praeside Joachimo Jungto, respondente Jodoco Slaphio. Hamburgi 1642. 


Dr. EMIL WOHLWILL, Joachim Jungius. 39 


und um seine Zuhörer zu üben, in jenen andern bekämpft, sei es, dafs er durch seine 
späteren Bemühungen die früheren Betrachtungen habe verbessern wollen. 

Diese Ansicht wird im folgenden durch eine lange Reihe von Citaten be- 
gründet. Dieselben weisen syndiakritische Anklänge auch in Aristoteles’ älteren 
Schriften nach, bestimmtere Annäherung der Denkweise namentlich im 4. Buch 
der Meteorologie. 

30) Im ganzen 4. Buch der Meteorologie redet Aristoteles von den gleichartigen 
Körpern in solcher Weise, dafs man sieht, er versteht darunter solche, die nur für die 
Wahrnehmung gleichartig erscheinen und bekennt demnach offen, dafs er die syndia- 
kritische Hypothese zulässig findet. 

36) Ja, im 8. Kapitel dieses Buches geht er so offen ins Lager der Syndia- 
kritiker über, dafs er sich sogar des ihnen eigentümlichen Ausdrucks bedient, indem er 
schreibt: was sich verdichtet hat, weil die Feuchtigkeit fehlt, wird durch die Feuchtigkeit 
verflüssigt, sofern es nicht so zusammengegangen ist, dafs die Poren kleiner geworden 
sind, als die Teilchen des Wassers (roð vdaroc oyxoı) und ähnlich im Kap. 9. 

37) Denn diejenigen, welche die Naturkörper aus Atomen bestehen liefsen, 
nannten sie öyxoı, weil es aufser den Atomen nichts wahrhaft festes gebe, die sinnlich 
wahrnehmbaren Körper aber, wie grofs und schwer sie sein mögen, seien nur dem 
Anscheine nach fest, da sie aufser den Atomen viel leeren Raum enthalten. 

(Nach weiteren Citaten, die er in ähnlichem Sinne deutet, fährt Jungius fort:) 

44) Und deshalb, da nicht nur die tägliche Erfahrung uns die Hypothese der 
Syndiakrise aller Orten aufdrängt, sondern auch Hippokrates, Aristoteles und Galen sie 
durch ihr Votum bestätigen, ist es wunderbar, dafs diejenigen, die sich Hippokratiker, 
Aristoteliker und Galeniker genannt wissen wollen, so sehr in der actupotentialen Trans- 
mutation und ihren Prinzipien, d. h. den synhypostatischen befangen sind, dafs sie der 
syndiakritischen Transmutation und der hypostatischen Prinzipien gänzlich zu vergessen 
scheinen. 

46) Diejenigen, die den Übungen der Chemie!) obliegen und Spagirische und 
Hermetische Philosophen genannt werden wollen, haben die fast in Vergessenheit be- 
grabene syndiakritische Hypothese durch ihren Fleifs in neueren Zeiten wieder an das 
Licht gezogen. 

47) Aber eben dieselben machen diese Hypothese vielen wieder verdächtig, indem 
sie, ihren Mutmafsungen nachgebend, bisweilen mehr, als die Erfahrung ihnen in Wahr- 
heit zeigt, als Ergebnis ihrer Beobachtung hinstellen. °) 

48) Es kommt dazu, dafs sie, an versteckte und ınystische Redeweisen gewöhnt, 





1) Jungius hat in den Original-Disputationen chymia und chymici drucken lassen; später hat er in den 
von ihm eigenhändig korrigierten Exemplaren überall das y durch ein e ersetzt. 

3) In dem Exemplar des Auctarium epitomes physicae Dan. Sennerti (1635), das sich auf der Ham- 
burger Stadtbibliothek befindet, sind von Jungius’ Hand die Worte eingetragen: Demonstrant quidem aliquid 
Chymici, sed semper plus aliquanto sibi credi volunt quam demonstrant. 


40 Dr. EMIL WOHLWILTL, Joachim Jungius. 


auch dann, wenn sie zumeist es wünschen, ihre Lehren nicht deutlich und logisch 
vortragen. 

49) Indem sie behaupten, dafs jeder Körper in die drei von ihnen angenommenen 
Grundbestandteile Salz, Schwefel und Mercurius sich auflöse, und es so darstellen, als 
ob sie das bewiesen haben, verwickeln sie sich und andere in Wortzweideutigkeiten. 

50) Denn wenn sie das Salz als einen homogenen festen, in Wasser zerfliefsenden 
oder löslichen Körper bezeichnen, so ist zu entgegnen, dafs aus jedem für die Wahr- 
nehmung homogenen Körper ein solches Salz nicht abgeschieden werden kann, so aus 
Korallen, Perlen, Metallen und Halbmetallen. Wird es aus ihnen dem Anscheine nach 
gewonnen, so wird es nur sophistisch gewonnen. 

51) Ja selbst gewisse homogene Körper, die sie selbst als aus ihren Prinzipien 
zusammengesetzt bezeichnen, haben bisher, soviel zum mindesten nach allgemein zugäng- 
licher Erfahrung bekannt ist, eine wahrhafte Entmischung nicht zugelassen, wie Gold, 
Silber, Amianth, Talk, Quecksilber. 

52) Dann, wenn wir davon abschen, wie sie mit der Definition von Salz und 
Schwefel fertig werden, definieren oder beschreiben sie jedenfalls ihr drittes Prinzip, den 
Mercurius in solcher Weise, dafs man sie unbeständiger findet, als den metallischen 
Mercurius selbst, von dem sie die Benennung entlehnt haben. Denn bald fällt er mit 
dem flüchtigen Salz, bald mit dem Schwefel oder Öl, öfter mit dem Wasser selbst 
zusammen. 

52) Überdies, wenn sie ohne weiteres sagen, dafs cin anderes Salz aus dem Ab- 
sinth, ein anderes aus Salvey, ein anderes aus Eschenholz, ein anderes aus Blut, kurz 
der Art nach verschiedene aus der Art nach verschiedenen gemischten oder homogenen 
Stoffen abgeschieden werden und vom Schwefel und Merkur ähnliches zu berichten haben: 
so erscheinen sie eben dadurch überführt, dafs sie von dem Ziele, das sie sich vorstecken, 
oder wenigstens vorstecken sollten, sich weit entfernen. 

54) Denn was haben wir durch die emsige Erforschung der Prinzipien gewonnen, 
wenn wir die Zahl der Prinzipien dreimal so grofs finden, als die der Stoffe, deren 
Prinzipien sie sind? Wer würde eine Schreibkunst billigen, die mehr Buchstaben und 
Elemente der Schrift darbietet, als es Worte giebt, die durch Buchstaben ausgedrückt 
werden sollen? Wer würde dem Geometer folgen mögen, der den Anspruch erhebt, dafs 
für jedes einzelne Problem ihm neue Postulate zugestanden werden? Besser ist es jeden- 
falls, auf der Zahl nach beschränkte als unbeschränkte und auf wenige als viele Prinzipien 
zurückzuführen, mögen wir nun von Prinzipien der Erkenntnis reden oder von denen 
der Dinge selbst. 

55) Den gründlichen Philosophen genügen deshalb nicht jene Chemiker, welche, 
wenn irgend eine Auflösung des scheinbar homogenen Körpers zu stande gebracht ist 
und einige Körper daraus hervorgehen, die dem Salz, Öl oder Merkur analog sind, als- 
bald die Beobachtung einstellen; denn nicht allein die Auflösung durchführen, d. h. die 
homogenen aus der ersten sich ergebenden Stoffe weiter auflösen, sondern auch ver- 
schiedene Auflösungen desselben scheinbar homogenen Stoffes vornehmen und dieselben 


Dr. EMIL WOHLWILL, Joachim Jungius. 41 


mit einander vergleichen mufs derjenige, der die Prinzipien eines Dinges, sowohl die 
nächsten wie die ersten ergründen will. 

56. Wir können endlich auch das nicht billigen, dafs gewisse Körper, mit denen 
ebenso wie mit andern, denen man den Namen Prinzipien giebt, die Auflösungen homo- 
gener Körper endigen, dennoch von der Zahl der Prinzipien deshalb ausgeschlossen werden, 
weil sie weniger aktiv oder wirksam sind, als diejenigen, die durch den Namen Prinzipien 
ausgezeichnet werden. Derartige sind diejenigen, die man durch die Bezeichnung terra 
damnata, caput mortuum, Phlegma, Hefen und Unreinigkeiten herabsetzt. 

57. Denn wenn im höchsten Grade jene Schwäche des Wirkens ihnen eigentüm- 
lich wäre, wie man es darstellt, ja wenn sie jeder Fähigkeit zu wirken ermangelten, so 
würden sie deshalb doch nicht verdienen, aus der Zahl der Prinzipien ausgestofsen zu 
werden, da man vergebens mit aktiven Prinzipien die Natur versieht, wenn man denselben 
nicht auch passive hinzufügt, auf die sie ihre Kraft ausüben. Denn nicht nur die Er- 
scheinungen der Bewegung und der Veränderlichkeit, sondern auch diejenigen der Sta- 
bilität, des Widerstands, der Dauer sind auf ihre Ursachen zurückzuführen. 

58. Dann ist auch nicht nur dasjenige als aktiv zu betrachten, was rasch, plötz- 
lich und gewissermafsen gewaltsam wirkt, sondern auch dasjenige, was mäfsig, langsam 
und nach und nach seine Kräfte ausübt, zumal wenn solche Stoffe deutlichere Spuren 
einer ausgeübten Wirkung zurücklassen. Das Salz der Kresse wirkt sofort auf die Zunge, 
aber in kurzem verschwindet seine Kraft; das Salz, das im Arum (Zehrwurz) verborgen 
ist, wirkt langsam, aber diese Langsamkeit gleicht es durch die Gröfse oder den Grad 
der Wirkung aus. 

59. Auch Seltenheit und Häufigkeit unterscheiden uns nicht mit Recht Prinzipien 
von Elementen, wenn wir nicht etwa die Kaufleute nachahmen wollen, die seltenere 
Waren höher im Preise zu schätzen pflegen. Ich will nicht davon reden, dafs wir die 
Tiefe des Erdballs, geschweige des ganzen Universums noch nicht so weit erkannt und 
durchforscht haben, um bestimmen zu können, in welchem Verhältnis die Prinzipien, zu 
denen als letzten die Auflösung führt, im Universum enthalten sind, ob die Masse des 
Feuers, Wassers, Salzes oder der Erde gröfser ist. !) 

60. Und dies mag auch in Bezug auf die Prinzipien der Hermetiker ausdrücklich 
gesagt sein, damit man nicht durch die Verwandtschaft der Dinge getäuscht, wo hypo- 
statische Prinzipien und Syndiakrise von uns berührt werden, glauben möge, dafs auch 
alles das, was die Chemiker hier und dort feil bieten, unsere Billigung finde, und dafs 
man nicht, wenn aus einem der Wahrnehmung nach homogenen Körper ein homogener 
Körper ausgeschieden wird, diesen letzteren sofort als ein Prinzip des ersteren, geschweige 
als ein erstes Prinzip ansehen möge. 

61. Denn derselbe homogene Körper kann auf verschiedenen Wegen oder durch 
verschiedene Prozesse in hypostatische Teile aufgelöst werden, während doch wahrschein- 


1) Der Zusammenhang ergiebt, dafs diese teils arıstotelischen, teils chemischen »Elemente« hier nur bei- 


spielsweise genannt, nicht als wirkliche Grundbestandteile hingestellt werden, Man vergleiche im folgenden § 68. 


6 


42 Dr. EMIL WOHLWILT, Joachim Jungius. 


lich ist, dafs er von Natur aus immer aus denselben nächsten hypostatischen Prinzipien 
zusammengesetzt sei. Es dürfen deshalb nicht sofort die hypostatischen Teile, in die ein 
der Wahrnehmung nach gleichartiger Körper aufgelöst wird, als die hypostatischen Prin- 
zipien desselben angesehen werden. 

62. Wenn Holz verbrannt wird, zerteilt es sich in Asche, Rauch und diejenigen 
Teile, die durch die Luft davongehen; aus der Asche wird fixes Salz und Erde, aus 
dem Rauch flüchtiges Salz und Öl gewonnen, und doch sind deshalb nicht Asche oder 
Rauch als nächste hypostatische Prinzipien des Ilolzes anzunehmen; denn nach einem 
anderen Verfahren kann eine Auflösung desselben durch Destillation ausgeführt werden, 
so dafs zuerst entweder ein Öl, verschieden von dem aus dem Rauch erhaltenen oder 
ein Spiritus oder eine saure Flüssigkeit sich ergiebt. 

63. Dafs aber falsch das Axiom sei, das gewöhnlich aufgestellt wird: worin ein 
jedes aufgelöst wird, daraus ist es auch zusammengesetzt, das geht schon aus der Er- 
fahrung an den Zahlen hervor: denn wenn eine quadratische oder kubische Zahl zerlegt 
wird, so wird sie nicht in dieselben nächsten Glieder zerlegt, aus denen man sie erhielt. 
wenn sie durch Multiplikation der Wurzel auf gewöhnlichem Wege gebildet wurde; 

64. wenngleich wir nicht leugnen wollen, dafs auch aus denselben nächsten Teilen 
ein Quadrat oder ein Kubus gebildet werden kann, in die als nächste die Zahl auf- 
gelöst wird, aus dem Quadrat oder dem Kubus nämlich des höchsten Einers und den 
viereckigen würfelförmigen Gnomonen!) der übrigen Einer, ja auch auf viele andere 
Weisen, aber nicht auf dem gewöhnlichen und gewissermafsen natürlichen Wege.?) 

65. Wenn der Maurer eine Mauer zerstört, so löst er sie nicht sofort in 
Ziegelsteine und Kalk auf, sondern der Kalk wird zum Teil von den Ziegelsteinen ge- 
trennt, zum Teil haftet er an denselben so fest, dafs die Steine selbst eher zerbrechen, 
als sie die Verbindung mit dem Kalk aufgeben. Man mufs sich denken, dafs etwas 
ähnliches bei den hypostatischen Teilen stattfinden könne, die in demselben der Wahr- 
nehmung nach homogenen Körper verborgen sind. i 

66. So dafs es sehr wahrscheinlich ist, dafs man oft leichter zu den ersten hypo- 
statischen Prinzipien der für die Wahrnehmung homogenen Körpers gelangen könne, als 
zu den nächsten. 


1) Man vergleiche über Gnomonen und Gnomonzahlen M. Cantors Vorlesungen über Geschichte der 
Mathematik. Band I. 1880. p. 136 u. f. 


2) In den Doxoscopiae physicae minores wie in den ältesten Handschriften, aus denen dieselben her- 
vorgegangen sind, folgen im gleichen Zusammenhange zu weiterer Erläuterung die nachstehenden Sätze: 

Aber die einfachen oder unauflöslichen Endglieder, nämlich die Einheiten, sind bei der Bildung wie 
der Auflösung notwendig dieselben. 

Ebenso wird zwar die Milch in Butter, Käse und Molken aufgelöst; es ist jedoch nicht notwendig, 
dafs sie ursprünglich aus der Mischung eben derselben Bestandteile entstanden sei. Dagegen müssen notwendig 
in den ersten Stoffen, durch deren Mischung die Milch entstanden ist, dieselben absolut gleichartigen Körper und 
zwar in demselben Verhältnis vorhanden gewesen sein, wie man sie bei fortgesetzter Auflösung in der Butter 
und dem Käse als vorhanden erkennt. 


Dr. EMIL WOHLWILL, Joachim Jungius. 43 


67. Denn durchaus wahr ist das Axiom: worin ein jeder Körper zuletzt aufgelöst 
wird, daraus als ersten Bestandteilen ist er auch zusammengesetzt, und umgekehrt. 

68. Welche hypostatischen Prinzipien aber als erste für die homogenen Körper 
anzunehmen sind, das ist nicht durch Mutmafsungen, sondern durch gewissenhaften, 
aufs einzelne eingehenden und unablässigen Fleifs im Beobachten zu ergründen. 


IV. 


Es kennzeichnet den bisherigen Stand der Jungius-Forschung, dafs über die beiden 
im vorstehenden ihrem Hauptinhalte nach mitgeteilten Disputationen in der wissenschaft- 
lichen Litteratur keine andere Notiz gefunden wird, als die des gelehrten Philologen Con- 
rad Dietericus (f 1667), der Jungius’ Weise zu definieren den Lexikographen als Muster 
empfiehlt ') und mehr noch, dafs auch Guhraucr die Bedeutung derselben durch dics phi- 
lologische Urteil illustrieren zu müssen glaubt *) j 

Wer die Geschichte der Chemie kennt, wird nicht übersehen, dafs diese kurzen 
im Jahre 1642 veröffentlichten Abhandlungen im wesentlichen schon die Gedanken ent- 
halten, um derentwillen Robert Boyles 1661 erschienener Sceptical chemist als für die 
Chemie epochemachend betrachtet wird. Um so mehr verdient Beachtung, dafs diese 
Gedanken insgesamt in den Diktaten von 1630 bereits enthalten und meistens ausführ- 
licher entwickelt sind. Es wird daher angemessen sein, bei Hervorhebung einiger Haupt- 
punkte aus dem Inhalt der Disputationen die entsprechenden Betrachtungen aus der Hand- 
schrift von 1630 zur Ergänzung und Erläuterung herbeizuziehen. 

Als Jungius eigentümlich mufs vor allem die Berücksichtigung der Metasynkrise 
als notwendiger Konsequenz der atomistischen Hypothese hervorgehoben werden. °) Scheint 
es auch durchaus naheliegend, bei rein theoretischer Ableitung der verschiedenen Möglich- 
keiten atomistischer Anordnung den Fall in Betracht zu ziehen, dafs bei unveränderter 
Zahl und Natur der zusammentretenden Atome nur die relative Lage derselben sich ändert, 
so haben doch die bekanntesten Vertreter der atomistischen Lchre im ersten Viertel des 
17. Jahrhunderts der Bedeutung dieses Falls für die chemische Forschung ihre Aufmerk- 
samkeit nicht zugewandt. Jungius erkennt als möglich an, dafs es Fälle wesentlicher Ver- 
änderung gibt, bei denen die Erklärung durch Hinzukommen oder Austreten von Atomen 
nicht zulässig ist; hier, wo der eigentlichen Transmutation ein Spielraum geblieben scheint, 
ist für den Syndiakritiker keineswegs die Notwendigkeit gegeben, auf atomistische Deutung 
zu verzichten, denn es steht ihm die Vorstellung einer Umlagerung der kleinsten Teile 
zu Gebote. Dafs bei dem damaligen Stand der chemischen Kenntnisse sich von keinem 


1) Nach Molleri Cimbria literata III, 349. 
2) A. a. O. p. 312. Anm. 3. 
3) Vergl. Disputation I. § 73—78. 


44 Dr. EMIL WOHT.WTLL, Joachim Jungius. 


bestimmten Vorgang sagen lasse, er beruhe auf Metasynkrise, hat Jungius so vollständig 
begriffen, dafs er selbst die Entscheidung darüber, ob eine Veränderung durch Umlagerung 
nicht allein theoretisch möglich sci, sondern in der Wirklichkeit stattfinde, der künftigen 
Entwicklung der Wissenschaft anheimstellt. Wohl nur zur Verdeutlichung des Gesagten 
führt er als Beispiele der Transmutation, die durch Metasynkrise zu deuten wären, die 
eigentliche Verwandlung von Wasser in Luft, Erde ın Dunst an, die er selbst an anderer 
Stelle als Fiktion betrachtet. Bestimmter bezeichnet er allerdings im Heft von 1630 die 
Verwandlung des Weins in Essig als einen auf Metasynkrise beruhenden Vorgang; ;denn 
diese Veränderung«, sagt er, »kann in einem hermetisch verschlossenen Glasgefafse statt- 
finden, so dafs das Gewicht der Flüssigkeit dasselbe bleibt; und wenn dabei etwa eine 
Ausscheidung stattfindet, so geschieht das nebenbei und gehört nicht zu eben dieser Ver- 
änderung. Es findet aber die Veränderung des Weins in lissig statt, wenn entweder die 
Wärme auf den Wein in so mäfsiger Weise wirkt, dafs sie ihn nur durchrührt, nicht aber 
den brennbaren, aus flüchtigem Schwefel und fluchtigem Salz bestehenden Weingeist heraus- 
treibt, oder wenn, falls etwa die Wärme den Wein auf denjenigen Grad bringen sollte, 
der seinen Geist auszutreiben und abzuscheiden vermag, doch die J.uftlöcher und Ofi 
nungen des Gefäfses so geschlossen und verklebt sind, dafs entweder nichts oder wenig 
von dem Geist entweichen kann, sondern wenn etwas sich auszuscheiden beginnen sollte. 
dieses vom Gefäafs gewissermafsen zurückgeworfen und den übrigen Teilen des Weins 
wieder beigemischt wird.« Jungius versucht dann geradezu die vermutete Umlagerung 
näher zu bestimmen, wenn er fortfahrt: »durch dieses Durchrühren und die Cirkulation, 
wie es die Chemiker nennen, werden die beständigeren und »tartarischen« Teile des Weins 
mehr zerkleinert und mit den flüchtigeren Teilen vollständiger vermischt, die sie alsdann 
vermöge ihrer Zähigkeit enger umfassen, so dafs, was erst Weingeist und flüchtiger als 


gewöhnliches Wasser war, nun Essiggeist geworden ist und minder flüchtig als gewöhn- 
liches Wasser gefunden wird.« !) 

Um den speziell chemischen Teil dieser Erklärung zu würdigen, genügt es, sich 
zu erinnern, dafs noch 1778 Macquer ausspricht: »cs scheine bei der Essiggährung eine 
innige Verbindung der sauren Teile des Weines mit den brennbaren vor sich zu gehen :, °) 
was beinahe wörtlich mit Jungius’ Erklärung übereinstimmt. Erst durch Lavoisier wurde 
die Aufnahme des Sauerstoffs als wesentlich für die Essigbildung erkannt, und erst da- 
durch die Vermutung widerlegt, dafs dieselbe ein Fall der Metasynkrise sei. Damit ist 
aber nichts daran geändert, dafs Jungius klar die Möglichheit dessen begriffen hat, was 
für die heutige Chemie durch eine aufserordentlich grofse Zahl von Fällen der Zsomeri 
als erwiesene Thatsache gilt. Jungius selbst erhebt allerdings hier so wenig wie für den 
gröfseren Teil seiner atomistischen Lehre den Anspruch auf Originalität; er nimmt nur 


wieder auf, »was Galen oftmals verspottet«. 





cf. Ass. 126 des Hefts von 1630, abgedruckt mit geringfügigen Abweichungen in Doxoscopiat 
physicae minores ed. Vogel. P. II. Sect. 1. C. 23. Ass. 6. 
2) Kopp, Geschichte der Chemie IV. p. 337. 


Dr. EMIL WOHLWILL, Joachim Jungıus. 45 


Den Hauptgegenstand der Erörterung bildet in beiden Disputationen die Frage 
nach den wahren Grundbestandteilen der Körper. Jungius betrachtet die nähere Be- 
stimmung derselben durchaus als Aufgabe einer künftigen Forschung; er hat sich jedoch 
mehrfach bemüht, allgemeine Grundsätze für diese Forschung aufzustellen. Als vorbe- 
reitende Betrachtungen für den gleichen Zweck lassen sich diejenigen ansehen, in denen 
er Merkmale angiebt, mit deren Hilfe eine Veränderung als auf Vereinigung, Scheidung 
oder Umlagerung beruhend erkannt wird. Da in dem Heft, das seinen Vorträgen zur 
Grundlage gedient hat, die Kritik der »actupotentialen« Transmutationslehre von der Auf- 
stellung syndiakritischer Grundsätze nicht geschieden ist, so findet man auch hier die 
Untersuchung darüber, ob gewisse Vorgänge als Veränderung oder Verwandlung, acci- 
dentelle oder substantielle Veränderung, Entmischung oder Zusammenmischung zu be- 
trachten sind, mehrfach in einer das Verständnis erschwerenden Weise mit einander ver- 
mengt. Einige der hierher gehörigen Sätze verdienen jedoch sehr wohl, dafs man aus 
der fast scholastischen Hülle der Ausdrücke den rationellen Kern herausschält. Einer 
solchen Vermittlung wird das hier zunächst anzuführende allgemeine Prinzip der Trans- 
mutations-Forschung nicht bedürfen. 

»Der syndiakritischen Hypothese gemäfs: — so lehrt Behauptung 42') — »hat 
man als gewifs zu betrachten, dafs, wenn gewisse Veränderungen einander kontinuierlich 
folgen und sich so zu einander verhalten, dafs aus den übrigen entstandenen Körpern 
eine Zurückführung (Reduktion) auf den ersten stattfinden kann, dieser erste in allen jenen 
Veränderungen unversehrt erhalten bleibt, wenngleich in betreff der Veränderungen selbst 
es aus Mangel an Erfahrung noch nicht zu bestimmen gestattet ist, ob dieselben nur 
Metasynkrise oder Synkrise oder Diakrise genannt werden müssen. So wird aus 
Wasser Dampf, aus Dampf Schnee; aus Schnee kann eine Rückkehr in oder zu Dampf 
nicht stattfinden, aber aus Dampf und Schnee in Wasser kann sie stattfinden.?) Es ist 
daher gewifs, dafs die Substanz des Wassers sowohl im Dampf wie im Schnee unversehrt 
ist. Aber die Verwandlung des Wassers in Dampf kann sowohl für eine reine Metasyn- 
krise gehalten werden, indem die enge Lage der Atome in eine losere verwandelt wird, 
als auch für eine Synkrisis aus den Atomen des Wassers und des Feuers. In gleicher 
Weise wird aus Blei Bleiweifs, und aus Bleiweifs Sandyx (Mennige). Aus Sandyx findet 
eine Zurückführung auf Bleiweifs nicht statt, aber zum Blei kann man sowohl vom Blei- 
weils wie vom Sandyx aus zurückkehren. Es ist daher gewifs, dafs das Blei in beiden 
Veränderungen unverdorben erhalten bleibt. Aber die Verwandlung von Bleiweifs in 
Sandyx kann sowohl für eine Metasynkrise, wie für eine Synkrise gehalten werden, bis 
genauere Erfahrung hinzukommt.« 


1) Gedruckt in Doxoscopiae physicae minores ed Vogel. P. II. Sect. 1. C. 12. Ass. 18. 

?) Wenn es auf den ersten Blick überrascht, dafs hier zunächst ein Beispiel angeführt wird, das man 
heute als physikalische Veränderung betrachtet, so ist daran zu erinnern, dafs bis in die zweite Hälfte des 19. 
Jahrhunderts das angesehenste Lehrbuch der Chemie die Änderungen des Aggregatzustandes in »syndrakritischem « 
Sinne dargestellt hat. 


46 Dr. EMIL WOHLWILL, Joachim Jungius. 


Dieser Betrachtung schliefst sich dem Inhalte nach Behauptung 26 an,'!) die ich 
hier folgen lasse. 

»Der Anhänger der syndiakritischen Hypothese wird cin Erkennungsmerkmal der 
accidentellen und der substantiellen Veränderung bequem in der Weise aufstellen, dafs er 
sagt, es habe nur eine accidentelle Veränderung stattgefunden, wenn eine Zurückführung 
(Reduktion) stattfinden kann; z. B. wenn aus Grünspan (acrugo) oder Vitriol (chalcanthus) 
Kupfer wieder hergestellt wird, wird dies ein Zeugnis dafür sein, dafs keine Zerlegung 
des Kupfers stattgefunden, sondern nur eine Zusammenmischung aus Kupfer und saurem 
Geist. Fafst man diese Synkrise und die Entstehung von aerugo oder chalcanthus auch 
als substantielle, für das Kupfer jedoch accidentelle Veränderung auf, so wird man gegen 
die syndiakritische Hypothese nicht verstofsen und auch mit den Erscheinungen sich nicht 
in Widerspruch setzen.« 

Die hier zur Frage stehende Unterscheidung der Veränderungen als accidentelle 

und substantielle gehört ersichtlich nicht der von Jungius angenommenen, sondern der 
scholastischen Transmutationsichre an. In den kritischen Ausceinandersetzungen, die der 
mitgeteilten vorhergehen, hat Jungius umständlich gezeigt, dafs sämtliche von den An- 
hängern der actupotentialen Theorie versuchten Unterscheidungsmerkmale für diese beiden 
Arten der Veränderung teils an logischen Widersprüchen leiden, teils den Erscheinungen 
gegenüber sich als unanwendbar erweisen. \Wenn er nun hier die Möglichkeit der Re- 
duktion als entscheidend bezeichnet, und dann doch nichts einwenden will, wenn man 
die Bildung des Grünspans auch als substantielle, für das Kupfer jedoch nur accidentelle 
Veränderung betrachte, so erklärt er dadurch die Unterscheidung selbst für wertlos, so- 
fern sie nicht mit dem Gegensatz von Synkrise und Diakrise zusammenfällt. Dem ent- 
sprechend ist bei wiederholter Erörterung des gleichen Gegenstandes in einem andern 
Zusammenhange nur noch von Synkrise und Diakrise die Rede. Die geschichtliche Be- 
deutung der Frage, die Jungius hier beantwortet, wird eine Anführung auch dieser zweiten 
Stelle rechtfertigen. 

»Wenn Blei und Zinn«, sagt er, (schwarzes oder weifses Blei) in Cerussia (Blei- 
weils), Kupfer in Grünspan, Eisen in Eisenrost verwandelt wird, so wird das von den 
Griechlein und der Menge für Fäulnisvorgänge und Auflösungen in die Elemente ge- 
halten. Es sind aber Synkrisen und Metasynkrisen, nicht Diakrisen; denn jene Metalle 
werden entweder, wenn sie in Säuren und durchdringenden Flüssigkeiten eingetaucht 
sind, oder über denselben hängend und so gewissermafsen in ihre Dünste eingetaucht, 
oder endlich in verborgener Weise und allmählich, von den Dünsten und den Dunst- 
atomen, die durch die Luft zerstreut sind, getroffen und zernagt (corroduntur), und ver- 
einigen sich mit den an ihnen hängenbleibenden Atomen zur Erscheinung (species) eines 
weifsen, grünen oder roten Rostes, legen dabei die metallische Zähigkeit ab und werden 
brüchig und unschmelzbar. Aber unter der Erscheinung des Rostes verborgen, behalten 
sie die Substanz des Metalls, was die Reduktion oder die Wiederherstellung zeigt. Denn 





1) Abgedruckt bei Vogel 1. c. P. II. Sect. 1. C 12. Ass. 19. 





Dr. EMIL. WOHT.WILT., Joachim Jungius. 47 


wenn sie mit geeigneten, nichts Metallisches enthaltenden Zusätzen vorbereitet, dem Feuer 
ausgesetzt werden, so verlassen die sauren Geister (Spiritus) und die korrodierenden 
Atome die Metalle und dringen in den Zusatz als einen angenehmeren und bequemeren 
Aufenthaltsort, die Metalle aber erlangen die ursprüngliche Biegsamkeit, Dehnbarkeit, 
Schmelzbarkeit und ihre übrigen Eigenschaften wieder. « !) 

Die Anwendung, die Jungius bei den vorstehenden Auseinandersetzungen von der 
Thatsache der ausgeführten Reduktion als Beweismittel macht, veranschaulicht. wie auch 
der schärfste Logiker vor logischen Fehlern, die ihm in anderm Zusammenhange 
als die schlimmsten erscheinen, nicht geschützt ist, wo es an Erfahrungen über die 
Mannigfaltigkeit natürlicher Wirkungsweisen fehlt. Klar wie immer definiert Jungius: 
»dafs ein Körper, der aus einer Veränderung entstanden ist, zurückgeführt (reduziert) 
werde, sagt man, wenn er wieder in den Körper übergeht, aus dem er entstanden ist, 
wobei von der Entscheidung darüber abgesehen wird, ob die beiden Körper accidentell 
oder substantiell verschieden sind.« Soll nun aber die Ansicht, dafs der Rost das Eisen 
enthält und nicht Bestandteil desselben ist, durch die Reduktion des Rosts zu metallischem 
Eisen bekräftigt werden, so ist ein solcher Beweis offenbar nur dann zutreffend, wenn im 
voraus feststeht, dafs der Vorgang der Reduktion ein Zersetzungsvorgang ist, das heifst, 
wenn vorausgesetzt wird, was bewiesen werden soll. Auch Jungius’ Erklärung der Wir- 
kung der Zusätze — so hübsch sie klingt — enthält offenbar nur eine Deutung, die 
mit seiner Voraussetzung im Einklange steht, nichts, was diejenigen widerlegen könnte, 
die etwa in diesen Zusätzen einen wesentlichen Bestandteil des zu bildenden Metalls an- 
nehmen möchten. Man wird deshalb auch auf die anscheinende Übereinstimmung seiner 
Auffassungsweise mit derjenigen, die erst Lavoisier zu allgemeiner Anerkennung gebracht 
hat, nicht allzugrofsen Wert zu legen haben. Es kommt dazu, dafs Jungius die schein- 
bar naheliegende Anwendung seines Prinzips auf die Erklärung des Vorgangs der Ver- 
kalkung nicht ausgeführt und deshalb auch nicht, wie man aus seiner Erörterung schliefsen 
könnte, die Metalle insgesamt als nichtzerlegbare Stoffe angesehen hat. 

Ausdrücklich unterscheidet er unter den Metallen Gold und Silber als voll- 
kommene, durch Feuer nicht bezwungene und deshalb der Diakrise nicht zugängliche, 
von den übrigen vier, die der Diakrise und Zerstörung unterliegen.”) Bestimmter spricht 
er von der Zerlegung des Bleis bei der Scheidung des mit Blei vermischten Silbers. 
»Wird die Mischung,« erklärt er, »in der Kapelle gröfserer Hitze ausgesetzt, als zum Zu- 
sammenschmelzen erforderlich war, so wird das Blei vom Silber getrennt; denn Silber ist 
ein feuerbeständiger Körper, das Blei aber, das aus einem beständigen und einem flüchtigen 
Teil besteht, wird durch die Wärme aufgelöst, so dafs der flüchtige Teil in Rauch auf- 
geht, der beständige aber, wie auch ein nicht aufgelöster Teil des Bleis, dem Feuer 
sich entziehend, in die Asche der Kapelle eindringt.«°) 


") Doxoscopiae phys. minores ed Vogel P. II, S. 1, C. 22, Afs. VI[; in der Original-Handschrift von 
1630. Afs. 97. ` | 
?) Doxoscopiae ed. Vogel P. 2, S. 2, C. 5, Afs. 1. Original-Handschrift von 1630 P. II, Afs. 22. 
3) Doxoscopiae ed. Vogel. 1. c. C. 17, Afs. ro. Heft von 1630 Aís. 77. 


48 Dr. EMIL WOHLWILL, Joachim Jungius. 


Jungius hat demnach keine Veranlassung gesehen, die von seinen Zeitgenossen 
fast ohne Ausnahme angenommene Lehre von der Zusammensetzung der unedlen Metalle 
in Frage zu stellen und dieselbe in ähnlicher Weise wie bei den rostartigen Körpern 
durch den Reduktionsversuch zu prüfen. Eine konsequente Anwendung seiner Vorschrift 
unter Benutzung der gleichen »nichts Metallisches enthaltenden Zusätze« würde minde- 
stens die Analogie der beiden Gruppen von Veränderungen klarsestellt haben. 

Im übrigen ergänzt er diese Vorschrift für den Fall des negativen Ergebnisses: 

»Kann eine Reduktion nicht stattfinden, so hat man nicht sofort zu glauben, dais 
(bei der betreffenden Veränderung) Transmutation oder Diakrise stattgefunden haben; 
denn wenn du mit dem Pistill Glas, Diamant, Perlen oder Korallen zu Pulver zerstöfsest 
oder sie mit dem Hammer zerschlägst, so wird eine Zurückführung dieser Körper in den 
früheren Zustand nicht stattfinden können (d. h. die Gesamtheit der verlorenen Attribute 
kann nicht wieder erlangt werden) und doch kann man deshalb nicht zutreffender Weise 
sagen, dafs jene Dinge der Substanz nach verändert seien. So kann auch ein Gewebe, 
dafs du zerschneidest und fadenweise auseinander ziehst, nicht wiederhergestellt werden 
und doch hat eine Veränderung nur der Lage nach stattgefunden. « ') 





Von besonderem Interesse sind die in den SS 55 und 60—67 der zweiten Dis- 
putation gegebenen Andeutungen über chemische Zerlegungen und die Verwertung der- 
selben zu Schlüssen über die Zusammensetzung der Körper. Aus den verwandten 
Betrachtungen der ausführlichen Bearbeitung und einigen andern Schriften ist hier hinzu- 
zufügen, was Jungius über die Berücksichtigung der Gewrchtsveränderungen ausge- 
sprochen hat. oo. 

Wenn die Gesamtheit der chemischen Veränderungen auf dem Hinzutreten oder 
Austreten von Atomen, resp. der Umlagerung des so gebildeten Atomıkomplexes beruht, 
so folgt daraus mit Notwendigkeit, dafs die Natur des cinzelnen Vorgangs nur mit Hilfe 
der Wage erkannt werden kann. Dafs trotzdem nach der Erneuerung der Atomistik 
noch anderthalb Jahrhunderte vergingen, bis das Zeitalter der eigentlich quantitativen 
wissenschaftlichen Forschung in der Chemie beginnt, ist zum grofsen Teil darauf zurück- 
zuführen, dafs die Verwirklichung des als richtig anerkannten Prinzips eine genauere 
Kenntnis der Natur und der spezifischen Verschiedenheiten luftförmiger Körper sowie 
der Mittel, dieselben zu messen und zu wägen, voraussetzte. Ist eben deshalb die Chemie 
des 17. und 18. Jahrhunderts noch eine vorzugsweise qualitative, ja der Grundirrtum 


1) Doxoscopiae ed. Vogel. P. 2, S. 1, C. 12, Afs. 20. Original MS. von 1630 Afs. 26. Jungius 
hat, wie das älteste Verzeichnis seines handschriftlichen Nachlasses beweist, eine Schrift oder Collectaneen unter 
dem Titel: Texturarum swore modo sciendi physico inserviens hinterlassen. Vergleiche wie der obenstehende, 
die früher angeführten (vergl. p. 32) und manche Aufserungen verwandten Inhalts in andern Handschriften 
lassen vermuten, dafs den Hauptgegenstand des (seit 1691) verlorenen Fascıkels Betrachtungen über die Anordnung 


und das Verhalten der Teile im zusammengesetzten Ganzen gebildet haben. 


Dr. EMIL WOHLWILL, Joachim Jungius. 49 


ihrer bedeutendsten Richtung wesentlich durch die Zurucksetzung der Quantitätsbestim- 
mungen bedingt, so nehmen diejenigen Bestrebungen, die in dieser Periode oder in 
früherer Zeit durch Berücksichtigung der Gewichtsveränderungen das wichtigste Prinzip 
aller wissenschaftlichen chemischen Forschung zur Geltung bringen, ein eigenartiges 
Interesse in Anspruch. Lassen sich in dieser Beziehung aus Jungius’° Aufzeichnungen 
keine Erörterungen anführen, die denjenigen seines französischen Zeitgenossen Jean Rey') 
an Bedeutung gleichkommen, so sind doch seine Bemerkungen über verwandte Gegen- 
stände als Ergebnisse eines klaren und konsequenten Denkens der Beachtung wert. 

Es ist bereits angeführt, dafs Jungius unter den Gründen für die Annahme, dafs 
ein chemischer Vorgang auf »Metasynkrise« beruht, die Erhaltung des Gewichts an die 
Spitze stellt. Auch in allgemeinerem Sinne vertritt er die Ansicht, dafs bei einer Folge 
von Vereinigungen und Zersetzungen die Quantität der dabei in Wirkung tretenden 
Elemente unverändert bleibt. Demgemäfs verlangt er auch von denen, die an eine Auf- 
lösung des »homogenen Gemischten« in die vier Elemente glauben, eine Erklärung dar- 
über, »ob in demselben Verhältnis der Gröfse oder der Menge, die Elemente aus dem Ge- 
mischten wieder hervorgehen, in dem sie zusammengetreten sind, um dasselbe zu bilden;« 
»denn,« sagt er, »es erfordert die Natur der Auflösung, dafs man auf dieselben End- 
glieder auch der Quantität nach komme, aus denen, wie behauptet wird, dasjenige, was 
der Auflösung unterworfen wird, zusammengesetzt war.< °) 

Auch über die wichtige Thatsache der Gewichtszunahme bei der Verkalkung hat 
Jungius Gelegenheit gehabt sich zu äufsern, sie hat wenigstens vorübergehend seine Auf- 
merksamkeit in Anspruch genommen; aber die kurzen Notizen, denen dies zu entnehmen 
ist, beweisen nur, dafs er hier, wie überall, nicht geneigt ist, sich durch Scheinerklärungen 
beruhigen zu lassen. In der Sammlung von Excerpten und Beobachtungen mineralogisch- 
metallurgischen Inhalts, die Vagetius unter dem Titel »Mineralia« veröffentlicht hat, findet 
sich unter der Überschrift »Lithargyron« die Bemerkung: »ex spumae argenti (Glette) 
libris 130 plerumque conficiuntur plumbi librae tantum 100«. Dazu wirft Jungius die 
Frage auf: »ob die Bleiasch schwehrer ist als das Blei, das da wider aus werden kann 
oder obs daher komme, weil die Glette mit Asch vermenget ist?«°) 

An anderer Stelle‘; führt er aus Bodinus’ theatrum naturae dessen Worte über 
die gleiche Thatsache an. »Blei,« heifst es hier, »wird im Feuer des Reverberierofens in 
einen Kalk verwandelt, wird dabei aber um den zehnten Teil seines Gewichts schwerer, 
während die übrigen Metalle leichter werden«. Hier schaltet Jungius ein: »das glaube ich 
kaum«. Bodinus meint, die Ursache der Gewichtszunahme könne sein: »dafs die leichtere 
luftige Materie durch das Feuer ausgetrieben und deshalb der Kalk des Bleis so viel fester 


1) Vergl. H. Kopp, Geschichte der Chemie III. p. 131 u. f. 

2) Doxuscopiae ed. Vogel P. 2. Sect. 1. C. 20 Afs. VI. Original MS. von 1630 Afs. 104, 

*) J. Jungii schedarum fasciculus (32), inscriptus Mineralia. Hamburgi 1689 p. 130. 

t) Ebenda p. 41. Da die Schrift Aufzeichnungen aus mehreren Jahrzehnten zusammenfafst, darf diese 
wiederholte Erörterung der gleichen Frage ohne Bezugnahme auf die frühere Mitteilung des Thatbestands nicht 
befremden. 


so Dr. EMIL WOHL\WILL, Joachim Jungius. 


(solidior) werde.- Darauf entgegnet Jungius: »dieser Grund ist keiner, denn Holz, zu Säge- 
spänen zerteilt, ist nicht leichter!) als Holz, und doch ist zwar im Holze Luft eingeschlossen, 
aber mehr zwischen den Atomen der Sagespäne, und jedenfalls ist Luft in Luft weder 
schwer noch leicht; nicht aus diesem Grunde kann daher der Kalk des Bleis schwerer 
sein.«e Bodinus erlautert weiter: »Denn die Erde wird durch die erste Kochung leichter, 
durch die zweite und dritte schwerer. (-ich glaube, auch das ist falsch,« ruft Jungius da- 
zwischen) »weil dasjenige, was seiner Natur nach leichter ist, nämlich die Luft, verbrannt 
wird und die Erdsubstanz mehr in sich zusammengedrängt wird. : 

Während Bodinus hier, wie andere noch beinahe zwei Jahrhunderte nach ihm. 
seine Erklärung auf eine \Verwechselung des absoluten Gewichts mit dem spezifischen 
begründet, hat Jungius, der ihm darin nicht folgt, einer feineren physikalischen Trugvor- 
stellung nicht widerstanden. Unter den späteren Zusätzen zu dem Heft von 1630, über 
deren Entstehungszeit nichts naheres bekannt ist, findet sich unter anderen bereits ange- 
führten Bemerkungen über die Zerlegung des Gemischten auch der Satz: 

»Daraus, dafs etwas an Gewicht nicht vermindert wird, folgt nicht sofort, dafs 
nichts aus ihm fortgcht; denn erstens kann dies etwas vollig Unwahrnchmbares sein; 
zweitens kann es leichter als Luft sein und deshalb das Ding vorher leichter gemacht 
haben. « °) 

Überraschender noch als diese Lehre, die man der zweiten Halfte des 18. Jahrhun- 
derts angehörig glaubt, wird den meisten Lesern der Zusatz sein: siehe Galrler im Saggiatore. 

In der That ist niemand als Galilei der Urheber der merkwürdigen Vorstellung, 
durch die noch im Jahre 1772 Guyton de Morveau die Phlogistontheorie mit der Gewichts- 
zunahme beim Verkalken zu vereinigen suchte.?) Die wenig beachtete Stelle des Saggiatore, 
auf die Jungius Bezug nimmt, lautet folgendermafsen: 

»wenn man sagt: dieser Körper hat, wie die Wage beweist, an Gewicht nicht 
abgenommen, folglich ist kein Teil desselben verbraucht worden, so ist das ein Trug- 
schluss; denn es kann sein, dafs etwas davon verbraucht und doch das Gewicht nicht 
vermindert, sondern sogar gröfser geworden ist. Dies wird immer stattfinden, wenn das- 
jenige, was verbraucht oder entfernt wird, spezifisch leichter ist als das Medium, in dem 
die Wägung vorgenommen wird; so kann es z. B. vorkommen, dafs ein Stück Holz, weil 
es viele Knoten enthält und nahe der Wurzel genommen ist, ins Wasser gebracht, zu 
Boden sinkt und in demselben beispielsweise vier Unzen wiegt, und dafs, wenn man davon 
etwas abschneidet, nicht vom knotigen und der Wurzel, sondern von dem minder dichten 
Teil, der für sich spezifisch weniger schwer ist als das Wasser, so dafs er teilweise die 
ganze Masse (im Gleichgewicht) hielt, dasjenige, was übrig bleibt, in demselben Medium 
mehr wiegt als zuvor.« f) 








1) Im Originaltext heifst es: non est gravius ligno; der Zusammenhang des Arguments fordert: non 
est levius. 

2) Doxoscopiae ed. Vogel Part. 2, Sect. 1, C. 20, Afs. IX. 

3) Vergl. Kopp, Geschichte der Chemie III, 149. 

H) Vergl. Galilei opere, ed. Alberi, vol. IV. pag. 313— 14. 


Dr. EMIL WOHLWILL, Joachim Jungius. 5I 


Die beiden Disputationen lassen die Frage, ob die ver aristotelischen Elemente 
als Grundbestandteile der Körper zu betrachten seien, unerörtert; wie Jungius in dieser Be- 
ziehung denkt, kann allerdings den allgemeinen Grundsätzen gegenüber, die er für die Bestim- 
mung der Prinzipien aufstellt, nicht zweifelhaft sein. Das Heft von 1630, wie andere ältere 
und spätere handschriftliche Aufzeichnungen, sind in der Kritik der alten Elementenlehre, 
die damals immer noch die herrschende war, sehr ausführlich. Jungius’ Widerspruch gegen 
dieselbe ist ein vierfacher; er richtet sich gegen die Ableitung der vier Elemente aus 
den ersten Qualitäten, gegen die unklaren Vorstellungen, nach denen Erde und Feuer 
als einfache Stoffe gekennzeichnet werden, gegen die vermeintlichen Beweise für die 
Entstehung und die Zusammensetzung der Naturkörper aus den vier Elementen und 
gegen die Annahme einer wechselseitigen Transmutation derselben. Ich hebe nur 
Einzelnes hervor. 

In Bezug auf die Annahme des als Zrde bezeichneten Elements macht Jungius 
sich im Wesentlichen IMr//ram Gilberts Urteil!‘ zu eigen; er giebt eine Art mineralogischer 
Übersicht über die grofse Mannichfaltigkeit der schon in der äufsersten Erdrinde ge- 
fundenen erdigen Substanzen und fragt: welche von allen diesen soll die einfache und cle- 
mentare Erde sein??) Ihm eigentümlich ist die Kritik der einzelnen Bestimmungen, die das 
Element der Erde kennzeichnen. »Klang ohne Sinn geben die Peripatetiker«, sagt er, 
»wenn sie ihre eigene Erde als zm Aöchsten Grade trocken bezeichnen und doch nicht 
lehren, in welchem Sinne sie die höchste Trockenheit nehmen. Sagt man: es giebt in 
der Natur einen wahrhaft homogenen, im höchsten Grade trockenen Körper, so versteht 
man darunter entweder eine accidentelle und äussere Trockenheit, d. h. einen Körper, 
dem durchaus nichts von einem flüssigen, sei es nur wirklich fliefsenden, ob wäfsrigen, 
öligen oder metallischen, sei es auch schmelzbaren oder zu verflüssigenden Körper beige- 
mischt ist; oder man meint eine zunere oder wesentliche Trockenheit, d. h. einen Körper, 
der entweder im höchsten Grade fest (extreme consistens), oder nicht nur dies, sondern 
aufserdem noch weder zu verflüssigen noch schmelzbar ist, ja wenn man will, auch nicht 
einmal zu verdampfen oder in einen flüchtigen Körper zu verwandeln.«°) 

Jungius scheint nun der Meinung zu sein, dafs ein Körper der letzteren Art, also 
eine Erde der bezeichneten Beschaffenheit, als zusammenhängendes Ganzes nicht existieren 
kann. Er argumentiert hier folgendermafsen; 

»Nimmt man einen zusammenhängend festen (nicht pulverigen) Körper an, der 
von jedem flüssigen Körper rein ist, so mufs derselbe notwendig schmelzbar sein. Denn 
wenn er das nicht ist, wird er entweder teilbar (zerbrechlich, zerreiblich, zu zerfeilen) 
sein oder unteilbar; behauptet man das letztere, so wird er in der Natur ohne Nutzen 


N Vergl. G. Gilberti de magnete. Londini 1600 l. I c. 17. 

2) Vergl. Doxoscopiae ed. Vogel P. 2, S. 1, C. 13, Afs. II und V. Nur der Text der Afs. II findet 
sich uster Ais. 68 im Heft von 1630; Afs. V ist den gleichfalls mit Doxoscopiae physicae minores bezeichneten 
Fascikeln in 8y°. entnommen und findet sich ebenda in Vol. II, p. 335—336. 

*) Afs. 56 im Heft von 1630. Afs. 7 in P. 2, Sect. 1, C. 13 der Doxoscopiae ed. Vogel. 


52 Dr. EMIL WOHLWILL, Joachim Jungius. 


(nullius usus)') sein, da er sich mit andern Körpern nicht mischen kann; ja er wird ein 
Gebilde der Phantasie /ażesuarodes; und einem Erdichteten ähnlich sein, da bisher kein 
solcher Körper Jemandem vorgekommen ist; behauptet man, dafs er teilbar sei, so fragt 
man mit Recht, wie er zum festen Ganzen geworden sein soll, da Alles, was aus Pulver, 
Schutt, Feile, Mehl, Staub zu einer festen zusammenhängenden Masse sich vereinigt, ent- 
weder selbst schmelzbar ist (wie Metalle, nicht fluchtige Salze, Glas, schmelzbarer Stein) 
oder durch einen beigemischten flüssigen Körper in den festen Zustand übergeht. «?) 

Mit dieser Ausschliessung des unschmelzbaren zusammenhängend festen Körpers 
scheint jedoch das Vorkommen eines Stoffes von ebensolcher Beschaffenheit als Bestandteil 
anderer Körper nicht unvereinbar; das ist wohl der Sinn des bald nach dem angeführten 
folxenden Satzes, in dem es heifst: 

»Dafs es in den Dingen einen Körper giebt (sei es ezuen der Art nach oder ver- 
schiedene), der weder durch Wasser zu verflüssigen, noch durch Wärme schmelzbar, ent- 
zündbar oder zu verdampfen ist, beweist bisher die Erfahrung. Diesen oder einen von 
ihnen kann man reine Erde (terra mera) nennen.« “) 

Die Betrachtung läfst unentschieden, ob dies Feuerbestandige in den Körpern 
einfach oder zusammengesetzt ist, wie sie ausdrücklich dahingestellt sein läfst, ob es der- 
artiger Bestandteile nur einen oder viele giebt. So ist das Ergebnis hier, wie in alien 
Teilen der Untersuchung über die Elemente vollständige Skepsis und Hinweis auf die 
Notwendigkeit von Grund aus erneuerter Forschung. — 

Wie sich denken läfst, erkennt Jungius das Zezxer nicht als Element an. Aus 
den zerstreuten, von Martin Vogel zusammengcetragenen Betrachtungen über diese viel- 
besprochene Frage mag hier die älteste, dem Jahre 1628 angehörige angeführt sein, die 
Jungius als aufmerksamen Beobachter auch im Kleinen zeigt und zugleich den Zustand 
der Wärmelchre jenes Zeitalters veranschaulicht, Unter der Überschrift »das Feuer ist 
kein beständiger Körpers äufsert Jungius sich folgendermafsen: 

»Dafs das Feuer nach oben getragen wird, nimmt Plato im Timäus an; aber 
dabei liegt ein fälschlicher Gebrauch der Worte zu Grunde; denn das Feuer wird nicht 
durch die Luft getragen. wie die Luft durch das Wasser, sondern nach oben wird der 
Rauch, der Dampf getragen, so lange sie heifs sind; die Flamme richtet sich nach oben, 
wie es scheint, aber es giebt keinen so leichten Docht oder Brennstoff, dafs seine Flamme 
nach oben stiege; denn ein anderes ist es, sich nach oben richten, ein anderes aufsteigen. 
Die Atome zwar, die die Flamme bilden, werden beständig nach oben getragen und 
wenn sie eine gewisse Strecke von dem Brennstoff sich entfernt haben, nehmen sie die 
Form des Rauches an und steigen nach oben, von der Wärme getrieben. Sagt man, die 
Atome des Rauchs, d. h. des flüchtigen Salzes, werden durch einen an sich warmen Körper 


t) »Ohne Nutzen,« heifst hier wohl nur: sals Grundbestandteil unbrauchbar«, so dafs es nicht nötig, 
ist, Jungius, der im übrigen die Zweck- oder Endursachen von der naturwissenschättlichen Betrachtung ausschliefst, 
der Inkonsequenz zu zeihen. 

?) Doxoscopiae ed Vogel P. 2, Sect. 1, C. 13, Afs. 7; Heft von 1630, Afs. 56. 

h. Doxoscopiae l. c. Als. 12; Heft von 1630 Afs. 59. 


Dr. EMIL WOHLWILL, Joachim Jungius. 53 


nach oben mit fortgerissen, so würde ich allerdings, wenn sich dies beweisen liefse, zu- 
gestehen, dafs dieser verborgene Körper ein einfacher Körper wäre, der leichter als die 
Luft ist. Aber die Wärme geht allmählich verloren; denn so lange der sich entwickelnde 
Rauch noch der Flamme nahe ist, kann er noch den brennbaren Stoff, den er trifft, an- 
zünden; aber, wenngleich man ihn durch eine Röhre (damit er sich nicht verteilt) auf- 
steigen läfst, verliert er doch in kurzem die Kraft zu zünden; und doch müfste (jener 
Körper), je höher er gestiegen, um so kräftiger und schneller im Anzünden sein; denn 
um so mehr ist er vom Rauch gereinigt. — 

»Dafs zu gewissen brennbaren Stoffen das Feuer gewissermafsen herauszufliegen 
scheint, wie bei Naphtha und dergleichen, scheint daher zu kommen. dafs die Flamme, 
indem sie die Luft an sich zieht, zugleich auch den fetten Dunst, der aus jenen bitumi- 
nösen Stoffen abdunstet, mit anzieht und so ihn ergreift, sowie auch den fetten Dunst 
aus einer soeben gelöschten Kerze die Flamme ergreift, wenngleich sie den rauchgebenden 
Docht selbst nicht berührt. Jedenfalls findet diese Bewegung der Flamme zur Naphtha 
nicht nur nach oben, sondern auch seitwärts in die Quere statt und spricht demnach 
nicht zu Gunsten des Aristoteles. « !) 


Was die Zusammensetzung der »gemischten« Körper aus den 4 Elementen be- 
trifft, so spricht Jungius sich darüber kurz und unzweideutig aus. »Aristoteles«, sagt er, 
läfst meistens aus den vier sogenannten Elementen, zuweilen, wie im 4. Buch der Meteo- 
rologie (c. 5 und 10) aus zweien, nämlich Erde und Wasser, die Körper, die man ge- 
mischte nennt, bestehen. Aber wie immer der Versuch angestellt werden möge — 
niemals wird aus jenen vier allein, geschweige aus zweien irgend welche Art des Ge- 
mischten gebildet werden, und keine wird man in jene vier allein zerlegen. ?) — 

Den Widerspruch gegen eine wechselseitige Transmutation der vier Elemente 
hat Jungius schon in den Diktaten von 1630 mit voller Bestimmtheit formuliert. Ich 
lasse als Beispiele seiner gegen Aristoteles gerichteten Beweisführung eine rein logische 
und eine auf Beobachtungen gestützte Argumentation hier folgen. Den Beweis des 
Aristoteles für die Annahme, dafs Zrde sich in Wasser verwandeln kann,?) widerlegt er 
folgendermafsen: 

»es giebt Leute, die so argumentieren: wenn aus Erde Wasser wird, so geschieht 
dies entweder durch Absonderung oder durch vernichtende Transmutation (das Fort- 
gehen der Form der Erde und Eintreten der Form des Wassers. Geschähe es durch 
Absonderung, so müfste entweder unendliches Wasser in endlicher Erde enthalten sein, 
oder alles Wasser schliefslich daraus abgeschieden sein, so dafs kein Wasser mehr aus 


1) Der Originaltext dieser Erörterung findet sich in den. mit Doxoscopiae physicae minores in 8° be- 
zeichneten Fascikeln Vol. II, Fol. 350—52; abgedruckt in den Doxoscopiae ed. Vogel. P. 2, Sect. 1, C. 13, 
Als. XVIIL Die verwandten Ansichten vau Z/elmonts konnten Jungius, als er diese Sätze schrieb, nicht be- 
kannt sein, 

2) Doxoscopiae l, c. c. 16, Afs, II. 

5 Aristoteles de coelo 1. III, cap. 7. 


54 “ Dr. EMIL WOHLWILT., Joachim Jungius. 


der übrigen Erde abgeschieden werden könnte. Das Letztere ist falsch, weil immer aus 
Erde Wasser abgeschieden werden kann, das Erstere aber ist absurd; es kann also durch 
Absonderung aus Erde nicht Wasser werden, folglich durch Transmutation. 

Darauf ist zu antworten: Die Behauptung bezieht sich entweder auf reine oder 
auf unreine Erde; wenn auf reine, so mag durch Erfahrung und Vernunft bewiesen 
werden, dafs aus ihr Wasser werden kann, wenn auf unreine, dann entweder auf die 
ganze Masse der Erde oder einen bestimmten Teil derselben. Spricht man von der 
ganzen Erdkugel, so gestehen wir zu, dafs aus ihr immer Wasser abgeschieden werden 
kann, weil, was auf ihrer einen Seite abgeschieden und in Dämpfen fortgetragen wird, 
auf der andern ihr durch Regen, Schnee, Hagel zurückerstattet wird; spricht man von 
einem gewissen Teil, insbesondere einem solchen, der unserer Behandlung zugänglich 
und in ein Gefäfs eingeschlossen werden kann, so sind wir der Meinung, dafs aus 
diesem schliefslich alles Wasser abgeschieden werden kann; ist das geschehen, so wird 
das übrige reine Erde sein und aus derselben, so lange sie rein bleibt, niemals irgend- 
welches Wasser hervorzulocken sein.«') 

Die Verwandlung von Wasser in Luft bestreitet Jungius auf Grund genauer Er- 
fahrung. »Dafs Wasser in Luft oder diese in jenes verwandelt werden, oder dafs durch 
das Mittelglied des Dampfes diese Veränderung erfolge, kann durch keinerlei Experimente 
dargethan werden. Denn Dampf, der aus reinem Wasser aufsteigt, wie hoch er auch 
getragen und wie weit zerstreut werden möge, bleibt immer Dampf, bis er ganz wieder 
zu Wasser wird. Sind irgendwelche flüchtige Körper dem Wasser beisemengt gewesen, 
so hindert nichts, dafs ihr Dunst dem Wasserdampf sich beimenge. Das Experiment 
aber, das man anführt in Betreff einer Verwandlung von Luft in Wasser durch die Kälte 
des Salpeters, beweist nicht, was es sollte. Ein gläserner Storchschnabel, dessen Bauch 
mit Salpeter gefüllt ist,?) wird mitten im Sommer in freier Luft aufgehängt. Dann 
sammeln sich allmählich Wassertröpfchen und träufeln in das darunterstehende Gefäfs, 
namentlich wenn der Boden des Storchschnabels etwas in eine Spitze ausgezogen ist. 
Denn die wässrigen Dämpfe oder die feinsten (unwahrnehmbaren) Atome des Wassers, 
die durch die Luft überall zerstreut sind und gewissermafsen schwimmen, werden, so- 
bald sie das Glas treffen, durch die Kälte des Salpeters zu Wasser verdichtet. (Denn 
wie ein Federchen, ein Faden, Schabsel lange, das feinste Stäubchen länger in der Luft 
schweben kann, so auch das feinste Wassertröpfchen. Und es genügt, dafs Dampf 
immer in der Luft ist; denn keine Luft ist so trocken und kalt, dafs in ihr nicht irgend- 
welcher Dampf aufstiege, wie der Spiegel zeigt; denn auch in winterlicher Luft ist etwas 
Wärme übrig, die den angehauchten Spiegel abwischt und den Hauch oder das Ange- 





1) Original M. S. von 1630, Afs. 62. Der Abdruck in den Doxoscopiae physic. min. ed. Vogel, {P. 2, 
Sect. 1, C. 14, Afs. IT), enthält unter anderen Abweichungen einen sinnentstellenden Fehler. 

2) Jungius läfst hier das Wichtigste weg. Baptista Porta, in dessen Magia naturalis (Francofurti 1597, 
p. 649) der Versuch beschrieben und als Beweis für die Verwandlung von Luft in Wasser hingestellt wird, mischt 
Salpeter und Eis. In einer Aufzeichnung ähnlichen Inhalts in den Doxoscopiae phys. min. in 8°, Fol. 356 
findet sich richtig die Mischung von Salpeter und Schnee. 





Dr. EMIL WOHLWILL, Joachim Jungius. 55 


spritzte nach oben trägt. Trifft dieses dann auf ein Hindernis, z. B. einen Baumzweig 
und kommt noch starke Kälte dazu, so entsteht Reif.) !) 

Wenn wir ebenso, wie wir ein mit Wasser gefulltes Gefäfs durch Verwandlung 
des Wassers in Dampf vollständig leer werden sehen, auch ein Uefäfs voll Luft durch 
Verwandlung der Luft in Wasser sich leeren sehen würden, dann erst würden wir mit 
Recht zugestehen, dafs durch Erfahrung die wechselseitige Transmutation von Luft und 
Wasser dargethan sei. 

(Eine Rücksicht auf das Vacuum und die Durchdringung der Körper kann hier 
nicht als Hindernis wirken, da ja ein solches Hindernis nicht der Verdampfung des 
Wassers entgegen steht.)« °) 

Eingehender als die aristotelischen sind in den Disputationen von 1642 die »%er- 
metischen« Prinzipien behandelt; auch hier bietet das Heft von 1630 sowohl in dem 
ersten allgemeinen, wie auch namentlich in dem zweiten mineralogischen Teil vielfache 
wertvolle Ergänzungen für den Beweis, dafs die allgemeine Anerkennung, die von den 
Chemikern der Lehre von der Zusammensetzung der Körper aus Schwefel, Salz und 
Merkur gezollt wird, durch die Experimente, die zu ihrer Begründung angeführt werden, 
keineswegs gerechtfertigt ist. Insbesondere findet Jungius die Lehre vom Salz in hohem 
Grade unbefriedigend; ja, er zweifelt wenigstens, ob Salz überhaupt als Grundbestandteil 
anzusehen sei, da auch Salz oder ein salzartiger Körper aus dem, was angreift und dem, 
was angegriffen wird (ex corrodente et corroso) entstehen könne. Er betont, dafs man 
bis dahin nicht im Stande gewesen sei, aus irgend einem Metall Schwefel abzuscheiden 
und dafs man ebensowenig vermocht habe, Schwefel mit Quecksilber oder einem andern 
Körper zum Metall zu vereinigen. Er widerspricht aufs bestimmteste der Vorstellung, dafs es 
den Chemikern gelungen sei, Grundbestandteile der Naturkörper auch nur der Gatturg nach 
nachzuweisen. Mit dieser schon in den ältesten Manuskripten ausgesprochenen, in allen 
späteren wiederholten und in eigentümlicher Weise begründeten Ablehnung einer Theorie, 
die unter andern angesehenen Chemikern des Zeitalters auch Sennert noch im wesentlichen 
beibehält, schliefst Jungius sich denjenigen an, die eine Erneuerung der chemischen 
Forschung von Grund aus, namentlich unter Verzicht auf alle durch das Experiment 
nicht gerechtfertigte Verallgemeinerung fordern. »Es fehlt an sorgfältigen Zerlegungen« 
— das ist der Eindruck, den ihm namentlich die ihm vorliegenden Versuche einer Syste- 
matik des Mineralreichs hervorrufen. Er zweifelt nicht, dafs hier eine jede Einteilung 
auf chemischer Grundlage beruhen mufs und eben deshalb erklärt er, dafs eine gewisse 
und sichere Einteilung der homogenen Fossilien, wie der Gesamtheit der homogenen 
Körper in Arten nicht gegeben werden kann, ehe jeder homogene Körper in seine hypo- 
statischen Teile zerlegt ist.« Aber »das unglückliche Vertrauen auf die dialektische 
Naturlehre des Aristoteles und die daraus hervorgegangene Nachlässigkeit im Beobachten 


1) Die eingeklammerten Sätze sind hier, wie bei Vogel aus Doxoscopiae phys. min. in 8° Fol. 356 
eingeschaltet. 
?) Original M. S. von 1630 Afs. 49. Doxoscopiae ed. Vogel. l.c. cap. 14. Afs. III. 


56 Dr. EMIL WCHLWILL, Joachim Jungius. 


hat bewirkt, dafs auch heute noch keineswegs erkannt ist, wie viele Arten völlig gleich- 
artiger oder einfacher Körper es giebt.« 

Als einfachen Körper bezeichnet Jungius denjenigen, der nicht nur dem Anscheine 
nach, sondern in Wirklichkeit aus gleichartigen Teilen besteht; er ist der Meinung, dafs 
»nur wenige von denjenigen Körpern, die zu den einfachen gezählt werden, dies in 
Wirklichkeit sind. Einige, wie Gold, Silber, Quecksilber, Schwefel, Talk sind ver- 
schiedentlich behandelt und untersucht und haben dabei nicht in verschiedenartige Teile 

getrennt werden können; bei andern ist teils schon erkannt, teils hofft man, dafs sie sich 

zerlegen lassen werden; denn für manche ist eine Scheidung deshalb noch unbekannt, 
weil Chemiker, Metallurgen, Künstler, Handwerker keinen Nutzen darin gesehen und keine 
anderweitige Veranlassung dazu gefunden haben, sie auszuführen.« !) 

So kann die Quintessenz der Lehren, die Jungius über die einfachen Körper oder 
Elemente seinen Schülern vorgetragen hat, in einem Satze gefunden werden, der von 
den heutigen Ansichten nicht abweicht. :./:s folgt nicht. sagt er, »dass alles, was 
bisher nicht zerlegt werden konnte, nicht zusammengesetzt ist: denn auch das armenische 
Salz hat bisher nicht zerlegt werden können, wenn aber etwas nicht zerlegt werden 
kann, von dem man nicht weiss, dass es susammengesetst ist, so kann dies für einen 
einfachen oder völlig homogenen Körper gehalten werden. -?) 


V. 


Jungius war nicht eigentlich Chemiker, wenigstens nicht in dem Sinne, wie die 
meisten, die im 17ten Jahrhundert mit diesem Namen bezeichnet werden; dafs er trotzdem 
über die Aufgaben und Wege der rationellen chemischen Forschung so klar gedacht und 
das Ungenügende der damals erlangten Kenntnisse und Anschauungsweisen so scharf 
beurteilt hat, wie kaum ein Zweiter der Zeitgenossen, geht, wie mir scheint, aus den vor- 
stehenden Erörterungen zur Genüge hervor. Es wird nicht überflüssig sein. die Über- 
legenheit seiner Auffassung auch in der Behandlung eines einzelnen chemischen Vorgangs 
nachzuweisen. 

Als entschiedener Gegner der Transmutationslehre legt Jungius besonderes Gewicht 
auf die rationelle Deutung einer Erscheinung, die als Lieblingsbeispiel von den Anhängern 
der Transmutation verwertet wurde: die scheinbare Verwandlung des Eisens in Kupfer 
beim Eintauchen in eine Lösung von blauem Vitriol. Als Verwandlungserscheinung war 
diese Veränderung nicht allein von Paracelsus und Georg Agricola, sondern noch zu 
Jungius’ Zeit von vielen namhaften Chemikern aufgefasst worden. Die einfache Erkläruns, 
dafs das Kupfer nicht entstehe, sondern aus dem Vitriol, in dem es enthalten war, aus- 





) Heft von 1630. Teil II. Afs. 4. Doxoscopiae ed. Vogel. P. 2, Sect 2, Cap. 2, Afs. II. 

?) Diese Behauptung findet sich nicht im Heft von 1630, sondern unter Aufzeichnungen, die ohne 
Zweifel den Text desselben ergänzen sollten, in der Handschrift Doxoscopiae phys. min. in 8” auf Fol. 417; ab 
gedruckt in Doxoscopiae ed, Vogel. P. 2, Sect. C. 20, Als. VII. 


Dr. EMIL WOHLWILL, Joachim Jungius. 57 


geschieden werde, hat wahrscheinlich zuerst Angelus Sala gegeben!) doch hielt auch 
dann noch unter anderen Daniel Sennert die alte Deutung fest?), und kein Geringerer 
als Mewrton hat noch 12 Jahre nach Jungius’ Tode einem Reisenden, der ihn um Ratschläge 
bat, nicht nur im allgemeinen Aufmerksamkeit auf jede Art von Transmutationen einer 
Species in eine andere, insbesondere des Eisens in Kupfer anempfohlen, sondern ihm 
zugleich die Nachforschung nach den besondern Fundstätten solchen Vitriols oder 
Vitriolwassers an’s Herz gelegt, von dem man berichtet, dass es diese wunderbare 
Wirkung ausübe. °) 

Weniger beachtet ist, dafs auch A. Sala in seiner langen Auseinandersetzung 
über den vielbesprochenen Vorgang denselben weder vollständig beschreibt, noch be- 
friedigend erklärt. Allerdings führt er als neue Thatsachen an, dafs auch aus Lösungen 
in Scheidewasser und andern Lösungsmitteln Eisen eine Abscheidung des Kupfers be- 
wirkt, dafs ebenso (sold durch Silber, Silber durch Kupfer abgeschieden wird, aber in 
allen diesen Fällen lässt er das feste Metall auf das gelöste anziehend wirken und führt 
ausschliesslich auf diese Anziehung die Abscheidung zurück; demgemäfs ist auch bei ihm 
nicht davon die Rede, dafs Teile des Eisens statt des Kupfers in die Lösung eingehen, 
ja er sagt ausdrücklich, dafs nachdem das Kupfer abgeschieden ist, »dieser Vitriol seinen 
Namen verliert und nichts davon übrig ist. als Wasser und der saure Geist des Schwefels, 
Vitriolöl genannt.« 

Dem gegenüber bedeutet Jungius’ Auffassung des Vorgangs einen wesentlichen 
Fortschritt. Er hat die Verwandlung des Eisens in Kupfer zum Gegenstand eines ausführ- 
lichen Exkurses*) gemacht. 

»Es irren diejenigen, sagt er, die der Meinung sind, Eisen, in Vitriolwasser ge- 
legt, werde in Kupfer verwandelt. Wahr ist allerdings, dafs eiserne Stäbchen in Wassern, 
die blauen Vitriol reichlich enthalten, so mit Kupfer gewissermafsen bekleidet werden, 
dafs das Eisen aus demselben wie aus einer Scheide herausgezogen werden kann. Wahr 
ist gleichfalls, dafs Nägel und andere derartige Eisenstüucke in Gruben, die solches Wasser 
enthalten, durch die Länge der Zeit endlich als kupferne gefunden werden. Dennoch 
findet keine Verwandlung statt, sondern vielmehr eine Vertauschung (permutatio). Denn 
weil der Schwefelgeist (spiritus sulfuris), der in diesem Wasser enthalten ist, entweder das 
Eisen als das unvollkommnere Metall leichter als das Kupfer anfressen und so zu sagen, 
bezwingen kann, oder von gröfserer Sympathie gegen dasselbe ergriffen ist (majore sym- 





1) cf. Kopp, Geschichte der Chemie I. p. 116. Vergl. auch Kopp, die Alchemie in älterer und neuerer 
Zeit. Heidelberg 1886. I. p. 29, 33, 40, 47--48. 

2?) Noch in der zweiten Ausgabe seiner Schrift de chymicorum cum Aristotelicis et Galenicıs consensu 
ac dissensu (Wittebergae 1629) p. ı0, in der A. Sala und dessen Schrift anatome vitriol mehrfach citiert werden, 
wendet sich Sennert mit grolser Heftigkeit gegen diejenigen, die eine Transmutation des Eisens zu leugnen wagen. 

3) cf. Brewster, memoirs of the life, writings and discoveries of Sir Is. Newton. Edinburgh 1855, 
Vol. I. p. 388 —89. 

t) Anatomia vitrioli in duos tractatus divisa, p. 398—401 der opera medico-chimica Angeli Salae. 
Francof. 1647. Die Anatomia vitrioli ist zuerst 1613 erschienen, 


53 Dr. EMIL WOHLWILL, Joachim Jungius. 


pathia erga ilud aftıcitur), lafst er das Kupfer, mit dem er bisher zu einem Gemischten 
oder wie die Chemiker sagen, einem Magisterium vereinigt war, fahren und ergreift da- 
gegen und verschluckt gewissermafsen ebenso viel von dem Eisen. Geschieht dies all- 
mählich und in einem langen Zeitraum, in dem die Atome des Kupfers an die Stelle 
der Eisen-Atome treten, so kann es gelegentlich geschehen, dafs Eisenstücke. dieselbe 
Gestalt behaltend, endlich als kupferne gefunden werden. Ein Zeichen aber, dafs dies 
durch Permutation, nicht durch Transmutation geschehe, kann auch daraus entnommen 
werden, dafs die Farbe des Wassers allmählich vom Blauen ins Grüne abweicht, und so- 
bald das Wasser ebenso viel Kupfer, als es enthalten, wieder von sich gegeben hat, das 
Eisen nicht weiter verwandelt werden kann. Enthält das Wasser nur grünen Vitriol, so 
wird diese scheinbare Metamorphose nicht stattfinden. Ein ähnlicher Austausch wird in 
der sogenannten aqua fortis (Scheidewasser) wahrgenommen. Wirft man nämlich in das- 
selbe, wenn es schon Silber enthält, Blattchen von Kupfer oder Eisen, so haftet das 
Silber in aschenartigem Aussehen an den Blättchen. Präzipitation nennen die Chemiker 
eine derartige Abscheidung, von der sich Beispiele auch bei andern Körpern bieten, die 
in Wasser verflüssigt und zurückgehalten werden können.«!) 

Jungius’ Erklärung ist im wesentlichen die der heutigen Chemie; dafs sie nicht 
etwa die selbstverständliche, schon damals nächstliegende war, erkennt man beim Ver- 
gleich mit derjenigen, die ungefähr zur selben Zeit van Helmont, einer der Heroen der 
chemischen Wissenschaft. gegeben hat. ?) Auch van Helmont führt die Zersetzung auf 
die Eigenschaft des Eisens zurück, das im Vitriol gelöste Kupfer an sich zu ziehen und 
dadurch sichtbar zu machen, dabei beobachtet er allerdings den gleichzeitigen Übergang 
des Eisens in die Lösung und geht dadurch uber Sala hinaus. 

Beachtung verdient, dafs Jungius auch hier die Gewichtsverhältnisse nicht unbe- 
rücksichtigt läfst; es entspricht seiner Ansicht über die Natur des Vorgangs, dafs er 
der Erklärung hinzufügt: es werde soviel Kupfer ausgeschieden, als in der Lösung ent- 
halten gewesen sei, und dann höre die scheinbare Transmutation auf; er spricht aber 
auch eine Vermutung über die Quantität des gleichzeitig von der Lösung aufgenommenen 
Eisens aus; dafs in Wirklichkeit die sich ersetzenden Mengen beider Metalle nicht, wie 
er voraussetzt, genau gleich sind, beeinträchtigt nicht den Wert der Thatsache, dafs es 
ihm gewissermafsen Bedürfnis ist, auch an das Quantitative der chemischen Umsetzung 
zu denken. 

Nicht minder bemerkenswert erscheint in der mitgeteilten Erörterung sein Ver- 
such, über die nachweislichen Thatsachen noch hinauszugehen, indem er die Zersetzung 
auf eine gröfsere Sympathie des Schwefelgeistes zu dem minder vollkommenen Metall 


t) Doxoscopiae ed. Vogel P. 2. Sect. 1, C. 19, Ass. VI; in der Original-Handschrift (II. Ass. 44) fehl 
der letzte Teil; derselbe ist jedoch schon in der nicht viel später entstandenen Abschrift von Adam Poltsius 


vorhanden. 
23) J. B. van Helmont opera omnia ed. 1707 p. 650. Van Helmonts Werke erschienen mit wenigen 


Ausnahmen erst nach dem Tode des Verfassers 1648. 


Dr. EMIL WOHLWILL, Joachim Jungius. 59 


zurückführt. Diese »gröfsere Sympathie« ist ersichtlich von der etwas später in die 
Chemie eingeführten »Wahlverwandtschaft« nicht wesentlich verschieden, sie ist offenbar, 
wie diese, nicht etwa nur eine qualitas occulta im alten Sinne, sondern vor allem für die 
Gruppierung der chemischen Wirkungen ein wichtiges Prinzip. Es ist ersichtlich die 
gleiche Erklärungsweise, wenn Jungius in dem früher angeführten Beispiel die Wirkung 
der reduzierenden Zusätze auf Grünspan und Bleiweifs darauf zurückführt, dafs für die 
sauren Geister und die ätzenden Atome der Zusatz!) ein angenehmerer und bequemerer 
Aufenthalt ist als die Metalle. Allgemeiner heifst es in einer dritten Stelle: »es giebt 
in den Naturkörpern ein gewisses, sei es Vermögen 'potentia), sei es Bestreben (appetitus), 
wodurch sich dasjenige, was der Art oder Gattung nach verwandt ist, wechselseitig er- 
strebt, anzieht, verbindet, in den einen stärker und deutlicher erkennbar, in den andern 
schwächer und minder wahrnehmbar.«?) Neben Magnet und Eisen, Bernstein und leichten 
Körpern, werden hier auch die chemisch sich verbindenden Stoffe als »der Art und 
Gattung nach verwandt« betrachtet. 

Dafs Jungius eine Transmutation in alchemistischem wie im peripatetischen Sinne 
als unannehmbar betrachtet, ist durch das Vorstehende zur Genüge dargethan, es wird 
jedoch nicht überflüssig sein, hier schliefslich das Wenige hinzuzufügen, was sich bisher 
in seinen Aufzeichnungen über die grofse Frage der künstlichen Herstellung des Goldes 
gefunden hat. 

Das Heft von 1630 enthält nur in Afs. 95 eine allgemeine Äufserung darüber, 
dafs es unverständig sei, eine Erzeugung der Metalle aus den Beobachtungen der Me- 
tallurgen zu folgern, die in Gruben und Gängen eine Verdichtung oder Neubildung der 
Metalle aus Dünsten wahrgenommen haben wollen, da doch die gleiche Substanz in der 
Form eines Metalls, eines Lehms, eines Breis, einer Flüssigkeit und eines Dunstes fort- 
bestehen und mit unverändertem Gewicht wieder in den früheren Zustand gebracht 
werden könne. 

Dem fügt ein vereinzeltes Blatt eines andern Fascikels das Folgende hinzu: »dafs 
Gold und Silber in Erzgängen neu entstehen, wachsen, angesprengt werden, gestehen 
wir zu; aber daraus kann nicht geschlossen werden, dafs in Wahrheit beide aus hypo- 
statischen Bestandteilen erzeugt werden (viel weniger aus synhypostatischen); denn Gold 
und Silber können die Form des Staubes, Salzes, der Flüssigkeit, des Dunstes annehmen 
und doch Gold und Silber bleiben. Wenn aus zwei verschiedenen Dünsten oder Flüssig- 
keiten, von denen keine Gold ist, Gold entsteht — das ist eine wahre Erzeugung 
des Goldes.« °) 


1) An anderer Stelle redet Jungius vom Weinstein als dem allgemeinen Reduktionsmittel, 

2) Heft von 1630, Afs. 76. Doxoscopiae ed. Vogel P. 2, Sect. 1, C. 17, Ass. IX. 

3) Doxoscopiae phys. min. in 8° Fol. 411, mit den zuvor mitgeteilten Sätzen abgedruckt bei Vogel 
P. 1, Sect. 1, C. 19, Afs. V. 











60 Dr. EMIL WOHLWILL, Joachim Jungius. 


VI. 


Überblicken wir schliefslich, was sich spezieller als Jungius’ atomistische Lehre 
bezeichnen läfst, so müssen wir vor allem anerkennen: sie ist wenigstens so, wie sie uns 
heute vorliegt, nur ein Fragment, wir wissen nicht, ob sie jemals mehr gewesen ist. Aller- 
dings erwähnt das Verzeichnis der ursprünglichen Sammlung seiner Handschriften unter anderen 
einen mit »Democritica« bezeichneten Fascikel, der heute verloren ist und über dessen In- 
halt wir nicht unterrichtet sind; ein anderer, der dort unter dem Titel »Mathesis Atomistica : 
angeführt wird, ist vermutlich mit demjenigen identisch, der heute die weniger passende 
Bezeichnung »Circuli locum replentes« trägt, und vorzugsweise im Anschlufs an Giordano 
Brunos mathematische Spekulationen !) sich mit der Aufgabe der Ausfüllung des Raumes 
durch eine Anhäufung mathematischer Figuren beschäftigt, selbstverständlich ohne für die 
physikalische Atomistik brauchbare Ergebnisse zu Tage zu fördern. Diesen beiden ist ver- 
mutlich der schon erwähnte, jetzt verlorene Fascikel hinzuzufügen, der unter dem eigen- 
tümlichen Titel »texturarum Jewg/a modo sciendi physico inserviens« angeführt wird und 
wohl auch die gleichfalls verlorenen Bemerkungen zu Gassendis Schriften. Was wir heute 
namentlich in den von Vogel herausgegebenen Doxoscopiae physicae minores, wie in den 
oben mitgeteilten Disputationen von klar ausgesprochenen Ansichten zur Atomistik finden, 
hat mehr den Charakter gelegentlicher Äufserungen, als den eines zusammenhängenden 
Systems oder gar einer vollständigen Weltanschauung, wie bei den Atomistikern des 
Altertums. Es mag dies einerseits damit zusammenhängen, dafs fast alles, was uns an 
Aufzeichnungen dieses Inhalts erhalten ist, mit Jungius’ Unterricht unmittelbar oder mittel- 
bar zusammenhängt und sich demgemäfs auf Hauptsätze beschränkt, andrerseits aber ent- 
spricht es auch seinen Gewohnheiten und wissenschaftlichen Grundsätzen, im Hypotheti- 
schen sich möglichst wenig von der Erfahrung zu entfernen. Der Hauptzweck seiner 
atomistischen Betrachtungen ist: die mannigfaltigen Modifikationen im Verhalten des homo- 
genen festen Körpers und dieEntstehung des scheinbar Gleichartigen aus den ungleichartigen 
Bestandteilen verständlich zu machen. Dafür scheint es ihm ausreichend, die folgenden 
Sätze an die Spitze der allgemeinen syndiakritischen l.ehre zu stellen. 

»Gesteht man zu, dafs es in der Natur Körper giebt, die für die Wahrnehmung 
homogen erscheinen, in Wahrheit aber inhomogen sind, so müssen zugleich Atome 
wenigstens der konsistenten, nicht flüssigen Teile zugestanden werden, wenn man auch 
annehmen darf, dafs die flüssigen und zeitweilig geschmolzenen Teile völlig zusammen- 
hängend sind.« 


1) Vergl. Lafswitz: Giordano Bruno und die Atomistik. 


Dr. EMIL WOHLWILL, Joachim Jungius. 61 


»Ferner löst alles, was verflüssigend (lösend) wirkt, zu einer gewissen Kleinheit; 
auch die Peripatetiker gestehen zu, dafs die substantielle Form nur bei einer gewissen 
Gröfse erhalten bleibe, es bleibt aber die Form des Goldes erhalten, wenn es in Königs- 
wasser verflüssigt wird.« 

»Mag daher auch der gleichartige schmelzbare Körper ein wahrhaftes Continuum 
sein, so hat doch der Körper, der aus einem nicht flüssigen und einem flüssigen oder 
aus einem nicht zu verflüssigendem und einem leicht schmelzbaren besteht, (wie Messing) 
seine Atome und ist nicht in Wahrheit ein Continuum.«!) 

Jungius scheint demnach die Annahme der atomistischen Konstitution für den 
flüssigen Körper nicht als notwendig anzusehen. Er hält einen kontinuierlich» oder 
»wahrhaft« flüssigen Körper für denkbar und definiert denselben als eine Flüssigkeit, die 
Gestalt und wechselseitige Lage der Teile ändern kann, ohne dabei einen leeren Raum 
entstehen zu lassen, indem sie jederzeit in sich zusammenhängend ohne Höhlungen oder 
Poren bleibt. Dafs er jedoch von dem Vorkommen solcher wahrhaften Flüssigkeit in der 
Natur nicht überzeugt ist, beweist ein weiterhin folgender Satz: 

»Die innere Bewegung, die wir in den flüssig oder weich erscheinenden Körpern 
wahrnehmen, läfst erkennen, dafs man entweder in Wahrheit flüssige Körper oder ein 
verteiltes Vacuum (vacuum dispersum) annehmen mufs. Denn keine Figur der Atome 
kann von einem Stereometer ausgedacht werden, die der aus ihnen gebildete Körper so 
verändern könnte, dafs nicht bei Veränderung der Lage der Atome ein Spalt zwischen 
denselben anzunehmen wäre.« 

Jungius, der mit den besten seiner Zeitgenossen keine Veranlassung sieht, die 
Existenz eines zusammenhängenden, die Weltkörper trennenden Vacuums anzuerkennen, 
der in der Deutung derjenigen Erscheinungen, die man noch immer auf eine Scheu vor dem 
leeren Raum zurückführte, zwar diese Form der Erklärung vermeidet, aber doch die so 
bezeichnete Ursache beibehält, trägt kein Bedenken, völlig leere Räume zwischen den 
Korpuskeln zuzugestehen, die sich bei der Ausdehnung des Körpers vergröfsern, bei der 
Zusammenziehung verkleinern. Er redet nirgends von einer Ausfüllung dieser Zwischen- 
räume durch einen hypothetischen Äther, wie ihn Basso annimmt. 

Als Atome bezeichnet Jungius auch die kleinsten Teile der zusammengesetzten 
Körpes, und für diese wenigstens nimmt er Verschiedenheiten der Gröfse und Gestalt an. 
So definiert er einen der Substanz oder Zusammensetzung nach gröderen, (anscheinend 
homogenen) Körper als einen solchen, der in gröfsere Atome zu teilen ist, der Substanz 
nach feiner heifst nach ihm der Körper, der in kleinere Atome geteilt werden kann. Auf 
die gröfsere Feinheit der Substanz glaubt er in der Regel nach dem leichteren Durch- 
dringen anderer Substanzen schliefsen zu können; so gehe z. B. reines Wasser schneller 
durch Löschpapier als gesättigte Salzlösung, obgleich diese schwerer ist, weil jenes aus 


1) Doxoscopiae ed. Vogel 1l. c. C. 5 Afs. III. Nur der erste Absatz findet sich im Heft von 1630, 
die beiden folgenden auf Fol. 261 der Doxoscopiae phys. min. in 8°, 








62 Dr. EMIL WOHLWILL, Joachim Jungius. 


kleineren Atomen besteht und demgemäfs in dünneren Fäden die Poren des Papiers zu 
durchsetzen vermag. 

An Verschiedenheiten der Gestalt scheint er zu denken, wenn er beispielsweise 
die Entstehung eines zusammenhängend festen Körpers aus zwei flüssigen durch die Be- 
schaftenheit der ungleichartigen Atome erklärlich findet, »die, wenn mit einander gemischt, 
sich mit einander verschlingen und gegenseitig binden, während die gleichartigen beider 
Gattungen gesondert leicht auseinander fliefsen«. 

Von den Bewegungen der Atome berücksichtigt er im wesentlichen nur die- 
jenigen, die zur Erklärung eintretender Volum- und Zustandsanderungen, sowie für den 
Mechanismus der chemischen Umsetzung anzunehmen sind, nicht solche, die der Erhaltung 
des Zustands dienen; von einer Zurückführung der Wärme auf Bewegungszustände der 
kleinsten Teile, ist nirgends im Zusammenhange und in klarer Meinungsäufserung auch 
bei den speziellen Erörterungen nicht die Rede. Von der Flamme heisst es gelegentlich, 
dafs sie mit Licht, Farbe und ihren übrigen Attributen infolge einer gewissen Lage und 
Bewegung der sie bildenden Atome begabt sei, doch wird sogleich hinzugefügt: oder weil 
dem fetten Dunst, der sie bildet, Atome des Feuers beisemischt sind. Ich finde keine 
zweite Stelle, die in solcher Weise gewissermafsen beide Wärmetheorien nebeneinander 
zur Anwendung zu bringen scheint. Dagegen wird bei ähnlichen Veranlassungen mehr- 
fach neben dem Eindringen des Feuers als materiellen Wärmestoffs die Änderung des 
Abstandes der Atome als mögliche Ursache der Wärmewirkung bezeichnet.) In ent- 
sprechender Weise läfst Jungius bei dem Versuch, die Ausdehnung des Wassers beim Ge- 
frieren begreiflich zu machen, unentschieden, ob dieselbe auf einer Beimischung von Luft 
und dadurch bedingter veränderter Anordnung auch der Atome des Wassers oder unter 
Ausschliefsung jeder Beimischung lediglich auf Anderung des Abstandes der Wasser- 
atome und entsprechender Vergröfserung der leeren Räume zurückzuführen sei. 

Dafs mit derartigen Erklärungen die Atomistik nur unvollständigen Ersatz für die 
»actupotentiale« Deutung der Vorgänge gewährte, hat Jungius nicht übersehen; er erkennt 
namentlich in den Thatsachen der »freiwilligen Mischung « Beleze dafür, dafs es in der Natur 
Prinzipien des Wirkens, insbesondere des syndiakritischen Wirrkens auch aufser der Wärme 
und der Kälte giebt und bezeichnet es als eine nächstliegende Aufgabe der Beobachtung, 
die Aufstellung weniger und bestimmter Hypothesen in dieser Beziehung vorzubereiten, 
auf die sich die Vielheit der Erscheinungen zurückführen lasse. »Wohl trägt«, sagt er, 
»Gestalt und Lage der Zwischenräume und Atome etwas dazu bei, hier Aufklärung zu 
geben, doch scheint darin nicht alles zu lıegen.«”) Aber er fügt alsbald hinzu, dafs das 
Unzulängliche der bisherigen Erkenntnis keine Veranlassung gebe, »zu den beiden Schlupf- 
winkeln der Unwissenheit, den verborgenen Formen und den geheimen Qualitäten seine 


) Vergl. oben p. 45. 
*) Pororum sane et Atomorum figura et situs aliquid ad hanc Theoriam expediendam confert, non 
tamen in eo videntur sita efse omnia. cf. Heft von 1630, Afs. 66. Doxoscopiae ed. Vogel l. c C. 17, Afs. L 


Vergl. auch oben p. 37, S 77 der ersten Disputation von 1642. 


Dr. EMIL WOHLWILL, Joachim Jungius. 63 


Zuflucht zu nehmen.«e Wenn in der That Daniel Sennert und seine Anhänger zur Bei- 
behaltung einer gewissen Art peripatetischer Formen nicht nur durch den Wunsch, zwischen 
den entgegengesetzten Ansichten zu vermitteln, sondern auch durch die Erkenntnis ver- 
anlasst wurden, dafs Gestalt und Lage der Atome an sich vieles unerklärt lasse, so steht 
Jungius den Formen neuer und alter Schule, denen die »aus dem Busen der Materie« her- 
vorgebracht werden, wie denen, die »sich vervielfältigen» und »fortpflanzen«, gleichermafsen 
entschieden ablehnend gegenüber; je näher im übrigen seine Ansichten den Sennertschen 
stehen, um so lebhafter bekämpft er Sennert und seinen Schüler Sperling gerade in diesem 
Punkt, und kaum ein zweiter Gegenstand der zeitgenössischen Physik wird in seinen nach- 
gelassenen Schriften so gründlich und von so verschiedenen Seiten her zur Erörterung ge- 
bracht wie Sennerts Lehre. Auf diese Polemik näher einzugehen, liegt nicht im Zweck 
dieser Übersicht. Es mag jedoch in diesem Zusammenhange Erwähnung finden, dafs 
Jungius es für angemessen hielt, auch seine Schüler mit den Lehren Sennerts möglichst 
vollständig vertraut zu machen. Zu diesem Zwecke hat er eine Zusammenstellung der 
wichtigsten zur Lehre von den Grundbestandteilen und zur Atomistik gehörigen Sätze 
aus einigen Sennertschen Schriften, namentlich dem Hauptwerk de chymicorum cum 
Aristotelicis et Galenicis consensu ac dissensu abdrucken lassen und unter dem Titel 
Auctarium Epitomes Physicae clarissimi algue experientissimi viri Dn. Danielis Sennerti 
et aliis ejusdem libris excerptum veröffentlicht. Dafs` diese kleine Schrift, wie man bisher 
angenommen zu haben scheint, von Sennert selbst verfafst oder zusammengestellt wäre, 
macht schon der Titel unwahrscheinlich; entscheidend ist das Nachwort, in dem es heifst; 
»diese Auszüge, die wir aus der ersten Ausgabe des Buchs de consensu et dissensu ab- 
schreiben lassen, befanden sich schon unter der Presse, als uns bekannt wurde, dafs das 
rīte Kapitel dieses Buches, aus welchem Kap. ı und 2 des Auctarium zum gröfseren 
Teil entnommen waren, von dem Verfasser in der zweiten Ausgabe an vielen Stellen 
vermehrt und mit Einschaltungen versehen sei; deshalb wurden die Paralipomena hinzu- 
gefügt« u. s. w. Wenn nun aufser Frage ist, dafs nicht Sennert diese Worte geschrieben 
haben kann, so liegt andrerseits der Beweis dafür, dafs Jungius sie geschrieben, also 
auch die Compilation des Auctarium veranlafst hat, in einem von seiner Hand beschrie- 
benen Blatte vor, auf dem man eben dieselben Worte durchgestrichen und mit mancherlci 
Korrekturen noch heute lesen kann. So erklärt sich einfach genug, dafs čas Auctarium 
epitomes Sennerti in Hamburg und zwar typis Jacobi Rebenlini, das heifst mit denselben 
Lettern wie drei Jahre später Jungius’ bekanntestes Werk, die Logica Hamburgensis, ge- 
druckt worden ist). Allem Anscheine nach hat Jungius den Abdruck Sennertscher Sätze 
unmittelbar für den Zweck seiner Vorlesungen veranstaltet. Es entsprach seinen Gewohn- 


l ) Die hier erwähnten Thatsachen sind mir erst zur Gewifsheit geworden, nachdem die ersten Bogen 
dieser Abhandlung bereits gedruckt waren. Der Zusammenhang ergiebt, dafs Jungıus nicht, wie auf p. 18 glaublich 
erscheint, sein Studium der Sennertschen Ansichten vorzugsweise oder gar ausschliefslich an die zweite Ausgabe 
der Schrift de consensu geknüpft hat; allerdings enthält auch das Heft von 1630 die Citate mit den Seitenzahlen 
dieser zweiten Ausgabe. 


64 Dr. EMIL WOHL\WILL, Joachim Jungius. 


heiten, seinem Vortrag an bekannte Lehrbücher und insbesondere solche zu knüpfen, die 
ihm zu eingehender kritischer Behandlung der herrschenden physikalischen Lehren Ver- 
anlassung gaben. So hat er im Jahre 1636 Sennerts Epitome Physicae, namentlich das 
2. und 3. Buch über den Himmel und die Elemente seinen Vorlesungen zu Grunde ge- 
legt; daran schlossen sich, wie es scheint, im selben Jahre zur Ergänzung Vorlesungen 
über Sennerts atomistische Lehren an. Der Annahme, dafs Jungius das Auctarium 
drucken lassen, um für diese zweite Reihe der Vorlesungen den Schülern einen bequemen 
Text in die Hand geben zu können, entspricht sowohl der Titel des Buchs, wie die 
Veröffentlichung ım Jahre 1635. 

Die noch erhaltenen Notizen für die Vorlesungen über das Auctarium Physices 
Sennerti, unter denen auch das erwähnte Blatt sich gefunden hat, beweisen, dafs auch in 
diesem Falle Jungius besonderen Wert darauf gelegt hat, seine abweichenden Ansichten 
»über die hypostatischen Prinzipien« auseinanderzusetzen. Dafs es ihm bei dieser Polemik 
insbesondere gegen die Sennertschen Formen um die Bekämpfung der peripatetischen 
Lehren auch in ihren Überresten, nicht um Worte zu thun ist, beweist eine Äufserung 
aus etwas späterer Zeit, die klarer als viele andere seine Stellung den »Formen« gegen- 
über kennzeichnet. »Ich streitee, sagt er, »gegen die neue Lehre von den synhypo- 
statischen Prinzipien für die alte von den hypostatischen. Dies will ich jedoch so ver- 
standen wissen, dafs wenn man, obgleich Anhänger der syndiakritischen Hypothese, sich 
der Namen Materie und Form bedienen will, ich nichts dagegen habe Denn sowie 
man die Grundstoffe (primigenia corpora), das heilst die völlig homogenen Körper oder 
ihre Atome die Materie der übrigen Naturkörper nennen mag, so kann auch Form ent- 
weder das Verhältnis der gemischten hypostatischen Prinzipien oder die Ordnung und 
Lage der Atome oder eine gewisse Zusammenstellung von Attributen oder dergleichen 
genannt werden. ti 

Was nun Jungius’ eigene Gedanken über die Ergänzung der atomistischen Lehre 
betrifft, so sind dieselben unverkennbar auf die Annahme von Molekularkräften gerichtet. 
Es ist geradezu ein Ringen nach dem Kraftbegriff, was sich uns in den zerstreuten Be- 
trachtungen veranschaulicht, die Martin Vogel in den Doxoscopiae physicae minores be- 
sonders im Kapitel de actione elaborativa”) zusammengestellt hat. Von den auf Mole- 
kularwirkungen bezüglichen Äufserungen mögen hier nur zwei Erwähnung finden. 

»Wer behauptet, dafs das Flüssige und das Trockene nur infolge der Mischung 
und nicht wegen einer Wirkung des Flüfsigen auf das Trockene zusammenhängen, 
dem stimmen wir zu, wenn dabei an eine »vernichtende Wirkung« (actio exannihi- 
lativa) gedacht wird, dem widersprechen wir, wenn an irgend welche Wirkung; denn 
durch eine reale Wirkung ziehen diese Körper sich wechselseitig an, halten sie sich fest 
und umfassen sich, mag das nun der Sympathie oder den Gestalten der Atome zuzu- 
schreiben sein. Denn das Wasser geht nicht ebenso mit Glaspulver in eine Masse zu- 


I) Diese Äufserung findet sich in der ungedruckten Handschrift Doxoscopiae physicae majores Tom I. p.177. 
3) Doxoscopiae phys. min, ed. Vogel P. 2 Sect. 1, C, 17. Hierher gehört auch die oben p. 59 citierte Stelle. 


Dr. EMIL WOHLWILL, Joachim Jungins. 65 


sammen w'e mit Mehl, in wie kleine Teilchen immer das Glas durch Zerreiben gebracht 
werde und wenn man auch stärkere und anhaltendere Wärme anwendet; so hängt auch 
das Quecksilber nicht mit dem Silber ebenso zusammen wie mit dem Golde, der Essig 
nicht mit dem Golde, wie mit dem Kupfer, der Leim klebt nicht Steine zusammen, 
aber Hölzer.« !) 

Vielleicht bestimmter noch deutet auf den Begriff der Molekularkraft die Stelle, 
in der es heifst: 

»Die eine syndiakritische Mischung verteidigen und jene verborgenen Formen 
leugnen, lassen deshalb nicht sofort in der Nebeneinanderlagerung (juxtapositio), oder 
Durchmengung die Mischung bestehen; denn es ist aufserdem eine Fähigkeit des Zu- 
sammenhängens (cohaesivitas) der gemischten Körper erforderlich, damit sie sowohl leicht 
als auch beständig ‚et promte et constanter) zusammenhängen; die einen zeichnen sich durch 
beiderlei Zusammenhangsfähigkeit aus, die andere durch eine von beiden Arten; überdies 
ist eine gewisse Gleichmäfsigkeit der Durchmischung erforderlich.« Was Jungius hicr 
sucht und zu finden meint, ist deutlicher noch an den mehrfach durchstrichenen Aus- 
drücken zu erkennen, die uns in dem handschriftlichen Text derselben Stelle erhalten 
sind. Anfangs hatte er dasjenige, was ihm aufser der juxtapositio erforderlich schien, 
als familiaritas bezeichnet; dem hatte er hinzusetzen wollen szve affinitas, aber mit dem 
letzteren Wort ist er nur bis zum affi gekommen, dann wurde familiaritas und affinitas 
gestrichen und in der folgenden Reihe geschrieben: cohaesio permistorum quae consistit 
oritur, endlich auch dies gestrichen und dafür cohaesivitas permistorum h. e. aptıtudo 
cohaerendi gesetzt. Auch im folgenden hatte Jungius ursprünglich geschrieben: alıa 
utroque modo erga se invicem affecta sunt, alia altero und dann erst alia utraque cohaesi- 
vitate antecellunt.?) Es wird nicht zuviel gesagt sein, wenn man behauptet, dafs in dem 
Wechsel dieser wie versuchsweise hingeschriebenen Ausdrücke die Vorstellung von einer 
Kraft, die die getrennten Atome auf einander ausüben, zu Worte zu kommen sucht. Wie 
in so vielen andern Beziehungen auf dem Gebiet der hier besprochenen Lehren dürfen 
demnach Jungius’ Gedanken auch für die Annahme von Molekularkräften als Vorläufer 
der späteren Entwicklung bezeichnet werden. 

In welchem Mafse Jungius’ Lehren auf diese spätere Entwicklung einen 
Einflufs geübt haben, wird sich mit Sicherheit kaum noch ermitteln lassen. Das 
Hamburgische akademische Gymnasium wurde während Jungius’ 28 Jahre umfassen- 
den Lehrthätigkeit von Studierenden aus einem grolsen Teil von Deutschland be- 
sucht; so kann man nicht bezweifeln, dafs auch die Diktate, in denen er seit 1630 
seine syndiakritische Lehre zusammenfafste, deren Inhalt so wesentlich von dem 
der verbreiteten Lehrbücher abwich, früh in weiteren Kreisen bekannt geworden 
sind. Dafs seine Disputationen und unter ihnen auch die vom Jahre 1642 auf deutschen 





1) Heft von 1630 Afs. 112a, Doxoscopiae ed. Vogel Part. 2 Sect. 1 C. 17 Afs XX. 
%) cf. Blatt 390 der Handschrift Doxoscopiae phys. min in 8°. Der endgültig angenommene Text ist 
von Vogel P. 2 Sect, ı C. 16 Afs. 25 mitgeteilt. 


66 Pr. EMIL WOHLWILT., Joachim Jungius. 


Universitäten zur Zeit der Veröffentlichung gelesen und besprochen wurden, geht aus den 
Briefen seiner Schüler unzweideutig hervor. Aber nicht minder verbürgt ist, dafs späte- 
stens seit 1638 durch die Vermittlung von Samuel Hartlib gedruckte wie ungedruckte 
Schriften von Jungius englischen zeitgenössischen Gelehrten, unter ihnen namentlich 
Robert Boyle zur Kenntnis gekommen sind; ob etwa auf diesem Wege seine physikalisch- 
chemischen Forschungen in ähnlicher Weise wie die botanischen thatsächlich zu einer 
Wirkung gelangt sind, die ihrer Bedeutung entsprach, mufs dahingestellt bleiben. Un- 
abhängig davon, wird man für die »Physik auf syndiakritischer Grundlage«, wie Jungius 
sie in Hamburg gelehrt hat, eine hervorragende Stellung unter den verwandten Be- 
mühungen seiner Zeitgenossen, der deutschen, wie der aufserdeutschen in Anspruch 


nehmen dürfen. 








Beiträge zu einer Chronik 


ungewöhnlicher 


Sonnen- und Himmelsfärbungen 


J. Kiessling. 


Beiträge zu einer Chronik 


ungewöhnlicher Sonnen- und Hımmelsfärbungen. 


Von 
J. Kiessling. 

Ais im Winter 1883 die fast gleichzcitig auf dem gröfsten Teil der Erdober- 
fläche auftretenden farbenprächtigen Dämmerungserscheinungen ein allgemeines Interesse 
in Anspruch nahmen, und die Frage nach der Ursache dieser Erscheinungen und -ihrem 
Zusammenhang mit den vulkanischen Vorgängen auf Krakatau alle Mcteorologen und 
Physiker auf das lebhafteste beschäftigte, wurde bereits von verschiedenen Seiten darauf 
hingewiesen, dafs ähnliche Erscheinungen, Sonnenfärbungen durch Nebel, sei derselbe ir- 
dischen oder kosmischen Ursprunges, und lang anhaltende, ungewöhnlich starke Himmels- 
rötungen bei Sonnenaufgang und Sonnenuntergang beobachtet worden seien. Zur end- 
gültigen Feststellung des Zusammenhanges zwischen vulkanischen Erscheinungen und 
optischen Störungen innerhalb der Atmosphäre habe ich ausser experimentellen Untersuchun- 
gen auch historische Nachforschungen angestellt. Selbstverständlich konnten die letzteren 
bei der Unvollkommenheit und Lückenhaftigkeit der am hiesigen Orte erreichbaren litte- 
rarischen Hilfsmittel ein nur durch Zufälligkeiten bedingtes Ergebnis liefern. Aus einer 
Notiz im Kosmos (Bd. 3, S. 413) geht hervor, dafs Alex von Humboldt eine reichhaltige 
Sammlung von »Nachrichten über plötzlich eintretende Abnahme der Tageshelle« zusammen- 
gestellt hatte. Leider scheint diese Sammlung verloren gegangen zu sein. Humboldt ver- 
machte bekanntlich seine ganze Bibliothek nebst vielen Manuskripten seinem Diener, der 
sie der Firma Asher & Co. zur Versteigerung in London übergab. Aber gerade als ein 
Amerikaner für dieselbe einen hohen Preis bot, und das Geschäft abgeschlossen werden 
sollte, verbrannte die ganze Bibliothek im Juni 1865 im Krystallpallast zu Sydenham. 

Die auf Dämmerungserscheinungen sich beziehenden Beobachtungen aus früheren 
Jahrhunderten und den Jahren vor 1883 werden in einem besonderen Abschnitt einer 
grösseren Schrift »Untersuchungen zur Erklärung der Dämmerungserscheinungen« zum 
Abdruck gelangen. Daher sind im folgenden nur die auf ungewöhnliche Himmels- und 
Sonnenfärbungen, und Nebel von gröfserer Ausdehnung sich beziehenden Beobachtungen 











4 J. KIESSLING, Sonnen- und Himmelsfärbungen. 


zusammengestellt, bei denen kein Einflufs auf die Entwickelung der Dammerung namhaft 
gemacht worden ist. Selbstredend sind alle diejenigen Falle ausgeschlossen worden, in 
denen zweifellos von einer Nordlichterscheinung die Rede ist, da diese bereits von Mairan 
(Traite physique et historique de l'aurore boreale. Paris 1794) gesammelt worden sind. 
Möchten diese vereinzelten Notizen die Anregung geben, die bis jetzt noch so wenig 
beachtete meteorologische Litteratur früherer Jahrhunderte genau zu durchforschen. Dann 
wird sich gewifs feststellen lassen, ob die Fälle, in denen ‚gezeizeitzg mit Erdbeben, optische 
Erscheinungen beobachtet worden sind, auf einem zufälligen Zusammentreffen oder auf einem 
ursächlichen Zusammenhang beruhen. Die Zahl der im vorstehenden mitgeteilten Fale 
eines solchen Zusammentreffens ist zu gering, um daraus bereits auf einen ursächlichen 
Zusammenhang schliefsen zu können. Möchte es Fachgenossen, welche in der glücklichen 
Lage sich befinden, eine grofse und vollstandige Bibliothek benutzen zu können, gelingen, 
die Zahl dieser Beispiele, deren Zusammenstellung gegenwärtig, bei ihrer Unvollstäandisckeit, 
nur die Bedeutung ciner Kuriositätensammlung besitzt, beträchtlich zu vermehren. Eine 
gütige Mitteilung derselben würde den Verfasser zu grofsem Dank verpflichten. 


Vor Chr. Geb. 
464. A. Postumio Albo, Sp. Furio Fuso Coss. 
Caclum visum est ardere. (Liv. 3, 5). 
461. P. Volumnio slimentino, Servio Sulpicio Camerino Coss. 
Terra igenti motu concussa et caelum visum est ardere. (Liv. 3, 10). 
223. C. Vlaminio, P. Furio Philo Coss. 

Apud Tuscos caelum ardere visum. Arimini nocte multa lux clara ctfulsit, tres 
lunac distantibus cacli regionibus exortae. Magno terrae motu Caria et Rhodus 
insula adeo concussae sunt, ut labentibus vulgo tectis, ingens quoque colossus 
corrucrit. (Oros. 4, 13. Lycosthenes, prodigiorum chronicon. Basel 1557, S. 108). 

212. „Ippio Claudio Pulchro, Q. Fulvio Flacco III. Coss. 

In Albano monte biduum continenter lapidibus pluit. Reate saxum ingens volitare 

visum: sol rubere solito magis, sanzuineoque similis (Liv. 25, 7). 
204. M. Cornelio Cethego, P. Sempronio Tuditano Coss. 

Duos soles visos, et nocte interluxisse, et facem stellae ab ortu solis ad occidentem 
porrigi visam (Liv. 29, 14). 

203. Cn. Servilio Caepione, Cn. Servilio (remino Coss. 

Anagniac sparsi primum ignes in caclo, deinde fax ingens arsit. Frusinone arcus 
solem tenui linea amplexus est (Liv. 30, 2. Lyc. S5. 131). 

200. P. Sulpicio Galba, C. slurcelio Cotta Coss. 

In Lucanis caelum arsisse affercbant. Priverni sereno per diem totum rubrum 

solem fuisse (Liv. 31, 12). 


J. KIESSLING, Sonnen- und Himmelsfärbungen. 5 


198. Ser. lelro Paeto, T. Quinctio Flaminio Coss. 

Caclum ardere visum erat Aretii; terra Velitris trium iugerum spatio caverna 

ingenti desederat (Liv. 32, 9). 
168. 2. Makkabäer Kap. 5. V. 1—3: 

Um dieselbige Zeit zog Antiochus zum andernmal in Ägypten. — Man sahe 
aber durch die ganze Stadt, vierzig Tage nach einander, in der Luft, Reiter 
in güldenem Harnisch mit langen Spiefsen in einer Schlachtordnung. Und man 
sahe, wie sie mit einander trafen, und mit den Schilden und Spiefsen sich weh- 
reten, und wie sie die Schwerdter zuckten und auf einander schofsen, und wie 
das güldene Zeug schimmerte, und wie sie mancherlei Harnische hatten. Da 
betete jedermann, dafs es ja nichts Böses bedeuten sollte. (Vergl. Lyc. S. 158). 

163. 7. Graccho, M. luwentio Coss. | 
Capuae nocte sol visus. Formis duo soles interdiu visi. Caelum arsit. Nocte 
species solis Pisauri adfulsit. (Jul. Obs. 14. Lyc. S. 164). 
162. P. Scipione Nasica, C. Marcio Figulo Coss. 
Anagniac caelum nocte arsit. (Jul. Obs. 15. Lyc. S. 166). 
147. P. Africano, C. Livio Coss. 

Caere nocte caclum ac terra ardere visum. ĻLanuvii inter horam tertiam et 
quintam duo discolores circuli solem cinxerunt rubente alter, alter candida 
linea (Jul. Obs. 20). 

134. P. Africano, C. Fulvio Coss. 

In Amiterno sol noctu visus, eiusque lux aliquandiu fuit visa. 

(Jul. Obs. 27. Lyc. S. 173). 
113. C. Caecilio, Gn. Papirio Coss. 

Albanus mons nocte ardere visus. Terra in Lucanis et Privernati late hiavit. 

In Gallia caclum ardere visum. (Jul. Obs. 38. Lyc. S. 185). 
104. C. Mario, C. Flavio Coss. 

Arma caclestia tempore utroque ab ortu et occasu visa pugnare, et ab occasu 

vinci. (Jul. Obs. 43. Lyc. S5. 189.) 
94. C. Coclio. L. Domitio Coss. 

In Vestinis in villa lapidibus fluit. Fax in caelo apparuit et totum caelum ardere 

visum (Jul. Obs. 51. Lyc. S5. 199). 
93. C. Valerio, M. Herennio Coss. 

Vulsiniis prima luce flamma caelo emicare visa, cum in unum coisset, os flammae 
ferrugineum ostendit. Caclum visum discedere, e cuius hiatu vertices flammae 
apparucrunt (Jul. Obs. 52. Lyc. S. 200). 

63. 4. Cicerone, C. slntonio Coss. 

Terrae motu Spoletum totum concussum et quaedam corruerunt. Trabs ardens 
ab occasu ad caelum extenta (Jul. Obs. 61.) 

44. In dem Jahr, in welchem Caesar ermordet wurde, war den ganzen Sommer, ja 
das ganse Fahr über, die Sonne glanzlos und trüäbe; es fehlte daher auch an 


J. KIESSLING, Sonnen- und Himmel-farbungen. 


Wärme, weil die dunstige und schwere Luft sie nicht durchdringen liefs, und 
wegen der kühlen Luft reiften die Früchte auch nur unvollkommen (Schnurrer, 
Chronik der Seuchen, 1. S. 71). 

44. JM. Antonio, P. Dolabella Coss. 

Terrae motus crebri fuerunt. Soles tres fulserunt, circaque solem imum corona 
spiceae similis in orbem emicuit et postea, in unum circulum sole redacto, 
multis mensibus languida lux furt. (Jul Obs. 6S). Inter praecipua et cru- 
delia prodigia ali enumerant stellam crinitam horrendae magnitudinis, quae 
septem noctes post eius necem nimio fulgore et magno mortalium metu 
apparuit. Solis practerea lumen caligme obsessum. Toto namque illius anni 
spatio pallens globus et sine splendore oriens, imbecillum et tenuem ex se 
emittebat calorem, inde aëris intemperies maximaque frugum cruditas extitit. 

© (Lyc. S. 222. Derselbe zitiert Plutarch, vita Caes. c. 69). 

— Llintus, Flist. nat. 1. 30: 

Fiunt prodigiosi et longiores solis defectus, qualis occiso Caesare dictatore et 

Antoniano bello totius paene anni pallore continuo 

— ters. Georg I. 463—408: 
Solem quis dicere falsum 

audeat? Me etiam caecos instare tumultus 
saepe monct, fraudesque et operta tumescere bella. 
Hle etiam exstincto miscratus Caesare Romam, 
cum caput obscura nitidum Jerrugine texit, 
impiaque aeternam timuerunt saccula noctem. 

Servius bemerkt zu Verg. Georg I. v. 472: »ut dicit Livius, tanta flamma ante 
mortem Cacsaris Actna defluxit, ut non tantum vicinae urbes, sed etiam 
Regium civitas afflaretur.« 

— Ovid. Metam. NV. 785- 790: 
Solis quoque tristis imago 
lucida sollicitis praebebat lumina terris, 
Sacpe faces visae mediis ardere sub astris, 
sacpe inter nimbos guttae cecidere cruecntac. 
Caerulus et vultum ferrugine Lucifer atra 
sparsus crat, spars! lunares sanzume CUVTUS. 
—  Trbull. I. 5. 75: 
Ipsum ctiam solem defectum lumine vidit 
nuigere pallentes nubilus annus eguos. 


J. KIESSLING, Sonnen- und Himmelsfärbungen. 7 


Nach Chr. Geh. 

71. Vitellio imperante sinistra apparuerunt prodigia. Nam et comctes apparuit et luna 
contra rationem statuti temporis bis deficere visa est. Quarto enim et septimo 
die obscurata est. Praeterea in oriente atque in occidente duo soles visi sunt 
eodem tempore, quorum hic imbecillis et pallidus, ille potens et clarus crat. 
(Lyc. S. 251). 

137. Georg Cedrenus ed. Bekker 1838. I, S. 650: 

èv toúrto ta yoóvo 0 MAuoc, moneo 7 orkývy ywgis axılvay ımv aıyımv èoróyvašev 
Qnavta tov èviavrtóv, ènmi nisiorov ÔÈ èxhsinovtæ Eoxeı. 

262. Während eines Erdbebens soll zu Rom, Libyen und Kleinasien eine mehrtägige 
Verfinsterung der Sonne beobachtet worden sein (Leonhard, Neues Jahrb. f. 
Min. 1861. S. 802). 

360 blieb es in allen östlichen römischen Provinzen einmal einen ganzen Vormittag dunkel, 
welches man nach der Beschreibung des Ammian (XX, 3) nicht für eine 
Verdunklung durch Aschenregen halten kann, weil die Sterne sichtbar waren, 
was aber auch keine Total-Finsternis gewesen sein kann, weil die Dunkelheit so 
lange andauerte, sondern vielleicht einer Bedeckung der Sonne durch eine kos- 
mische Materie, die vorüberzog, zuzuschreiben ist (Schnurrer I. S. 103.) 

396 hat man neben andern Wunderzeichen auch schroeckliche Fewerzeichen am Himmel 
gesehen (Angeli Annal. S. 19). 

396 oder 397. Erdbeben während einiger Tage ohne Angabe der Gegend. Mar- 
cellinus Comes und Hieronymus berichten davon, jeder mit denselben Worten: 
»Terrae motus per dies plurimos fuit, coe/umque ardere visum est.« (v. Hoff, 
Chronik der Erdbeben, I. S. 184). 

398 ist ein Erdbidem etliche Tage nacheinander gewest, und ist der Himel vol fewers 
gewest (Fincel, Wunderzeichen, 1556). 

398. Constantinopolis iram Dei reformidans, zgne super nubem terribiliter fulgente, ad 
poenitentiam conversa, evasit (Lyc. S. 285). 

400 ist der Himmel etliche Tage lang schrecklich, als ob er gar brennete, anzusehen 
gewesen (Spangenberg, Mansfeldische Chronika, 1572, S. 50). 

400. Terraemotus per dies plurimos fuit. Coelum ardere visum est (Lyc. S. 285). 

462. Aschenresen und gleichzeitig grofsen Schrecken erregende Himmelsrötung in 
Konstantinopel. (Vergl. Kiessling, Unters.) 

631, vielleicht auch ein Jahr später, fand eine ganz besondere Trübung der Sonne statt; 
es sendete dieses Gestirn keine Strahlen aus, sondern hatte einen matten 
Schein wie der Mond, und wie wenn ihr Glanz nachlassen wollte. 

Crusius setzt in das Jahr 534 Höhenrauch (Schnurrer I. S. 122). 

Auf dasselbe Ereignis bezieht sich die Notiz in der Cometographia von Hevelius 
S. 361. (1665). »Justiniani Caesaris tempore, referente Patricio ex Petro Messia 
Lib. ı9. Pancosm. S. 111, majore anni parte, aëre'’sereno, nullo relato nube, 
solem tam exiliter luxisse, ut vix lunae splendorem lux eius superaret.« 


$ J. KIESSLING, Sonnen- und Himmeltäirbungen, 


536. Justinianus Caesar Junior annos triginta octo imperavit (527 —565). Anno ipsius 
nono (530) deligumm lucis passus est sol, quod annum integrum et duos 
amplius menses duravit, adco ut parum admodum de luce ipsius appareret: 
dixeruntque homines soli aliquid accidisse, quod nunquam ab co recederet. — 
Anno sequente (537) apparuit in coclo signum mirum, remissusque est toto 
anno calor solis, adco ut in ipso non maturucrint fructus, (Greg. Abul Phara- 
gius, historią compendiosa dynastiarum ed. Ed. Pococke. Oxoniae 1663. 

541. Item in diesem Jahr ist der Zlzmmel oft anzusehen gewest, als wenn er gebrand 
lette (Angeli Ann. S. 21). 

560—561 wurde Berytus, Cos und Tripolis stark durch Erdbeben erschüttert; dem 
srdbeben folgte alleemeine Trockenheit, auch soll es einen ganzen Tag 
dunkel gewesen sein (Schnurrer I. S. 135). 

567. Apparuit in coelo ignis flammans juxta polum arcticum, qui annum integrum 
permansit; obtexeruntque tenebrae mundum ab hora diei nona noctem 
usque, adeo ut nemo quicquam videret, deciditque ex aere quiddam pulveri 
minuto et cineri simile — acciditque terraemotus validus (Abul Pharag. Hist- 
dynast. S. 95). Vergl. Schmidt, Studien über Erdbeben S. 155. 

571. Zgneac acies in coclo per Italiam visae senguinem emanantes, ac deinde, pluribus 
diebus continuatis imbribus, tanta aquarum vi auctus Tiberis, ut magna strage 
populi humiliora loca Romae submergeret Lyc. S. 308). 

580. Zu Anfang der Regierung König Huldwerds hat man viel grawsamer Fewerzeichen 
am Himmel geschen, meldet Sibertus (Sp. S. 61. Lyc. S. 309). 

627. Anno Heraclii decimo septimo dimidium corporis solaris lumine defecit, mansitque 
eius deliquium a Tisrin ad Haziran, adeo ut non appareret nisi parum quid 
de lumine ipsius (Abul Pharag. Hist. dynast. S. 99). 

652 ist Asche vom Himmel herabgefallen mit grofsem erschrecken, und entsetzen aller 
Menschen (Sp. S. 65. Lyc. S. 322). 

653. Eines besonderen Staub- und Aschen-Regens in Konstantinopel erwähnen in diesem 
Jahre, dem elften Regierungsjahr Constans II, Theophanes, Cedrenus und 
Paulus Diaconus (Schnurrer L S. 157). Vergl. Angel Ann. S. 23. 

653. Anno Constantis imperatoris undecimo, ezxzere pluit, undo metus magnus Constan- 
tinopolim invasit ct zewzs de coelo cecidit Lyc. S. 322). 

673 dauerte ein Möhenrauch 57 Tage lang. Sunne verlur iren Schin 57 T 
ander. Königshofer Chronik S. 496 (Schnurrer I. S. 158). 

673 hat man sehen Tage lang am Ilimmel eraivsame Fewerzerchen gesehen, das viel 
Leute hart sind erschrocken (Sp. S. 65). 

673. Anno Constantini quinti imperatoris quarto iris atque ¿gwis apparuıt in coelo mense 


“age anein- 


Martio adeo horrendae magnitudinis, ut mortales ultimum consummationis diem 
praesto esse clamitarent (Lyc. S. 373). 

700. Paulus Diaconus narrat anno 700 solis discum veluti sanguinco colore ofusum 
toti Europae multorum dierum spatio; coelo maxime sereno et defaecato ita 


J. KIESSLING, Sonnen- und IHimmelsfärbungen. 9 


obscure luxisse, ut pene tenebras mundo offunderet («Kircher, Mundus sub- 
terr. S. 62). 

721 ist der Mond gar blutfarb yesehen worden, und ist also gestanden bifs zur 
Mitternacht (Angeli Ann. p. 23). 

733. Am 19. August wurde re Sonne auf eine schreckenerregende Weise verdunkelt; 
cs scheint eine Verfinsterung durch meteorische Substanzen gewesen zu sein. 
(Schnurrer I. S. 164). 

745. Vom 10—15. August fiel zu Konstantinopel ein Aschenregen unter einer 5 Tage 
dauernden Verdunklung (Schnurrer I. S. 165). 

790. Notante Paulo Diacono, solem anno 790 obtenebratum csse radiosquc suos diebus 17 
haud edisse (Hevelius Cometogr. S. 361). 

797. Eo anno quo Hyrene imperatrix erepto sibi imperio, femineo dolore abuso, Con- 
stantinum filium suum oculis ac impcrio privavit atque Carolus rex Saxones 
gravi proelio vicit, so/ obtencbratus est per dies 17. Terraemotus in Creta et 
Sicilia. Item alus Constantinopoli valde horribilis (Lyc. S. 337). 

— Do verlor die sunne iren schin und kam ein vinsternisse, die werte 17 tage. und 
sprechent ctlich, es were dovon geschehen das der milte gute Keyser were 
geblendet worden (Chroniken d. deutschen Städte Bd. 8, S. 400). 

— nach Chr. herrschte breit ausgedehnter Höhenrauch. Siebzehn Tage lang sah 
man in allen bekannten Gegenden der Erde, in England so wenig wie in 
Konstantinopel die Strahlen der Sonne, und die Schiffe auf dem Meere ver- 
loren ihren Kurs. In Konstantinopel wurde es als cin Zeichen des göttlichen 
Zornes angesehen, weil die Kaiserin Irene ihren Sohn hatte blenden lassen. 
(Histor. miscell. XXII. Schnurrer I. S. 170). 

870. Dazumal oder je im folgenden 871 Jhar, hat man am zehenden Tage Augusti 
in der Luft wolcken gesehen gegen einander ziehen, wie zwey grosse Heer, 
mit fewrigen blutroten Spiessen, welches gar schrecklich anzuschawen ge- 
wesen (Sp. S. 96). 

980. Decimo sexto Calend. Mart. mane circa gallorum cantum usque ad illucescentem 
diem conspectae sunt per totam coeli faciem acies sanguineae in quadam 
Galliae regione (Lyc. S. 360). 

935 hat am 4. Scpt. der Vollmond &/użtroth ausgesehen (Frodoard) und einen rechten 
Schein gehabt, und ähnliche Erscheinungen werden von der Sonne angegeben. 
(Schnurrer I. S. 188). 

987. Sol sereno coelo obscuratus est, per fenestras vero domornm rodios quasi sanguineos 
emittebat. Henricus rex codem anno moritur (Lyc. S. 361). 

940. Die Sonne hatte mehrere Tage lang einen Ö/utrothen Schein (Schnurrer I. S. 188). 

971 hat man nach Urspergensis anzeigung grawsame und schreckliche Fewerzeichen 
am Himmel gesehen (Sp. S. 146). 

989. Am 7. April in Kairo ungewöhnliche Morgendämmerung nach einem Wüstensturm 


(s. K. Unters.). 


Io J. KIESSLING, Sonnen. und Himmelsfärbungen. 


1008. Chronik d. St. Bd. 7. S. 80. (Schöppenchronik v. Magdeburg): dar na vor 
sunte Philippi Jacobi dage, twe dage vor, dat was vridach und sonavent, 
wandelde sick wunderliken de sunne, se was vorge an erem schine und 
blotvar da twe dage, an dem dridden tage quam er varbe und schein 
wedder. (1. Mai 1008). 

1009. Eclipsis solis facta est hora diei secunda. Ac ut ali scribunt so/ nebula hor- 
renda obscuratus est et colore stupendo mutatus, veluti sanguineus ac se ipso 
minor, terrorem intuentibus incussit (Brunnius, Triadis electoralis liber. Frct. 
1601 S. 2). Vergl. Schnurrer I. S. 200. 

1013. Capta a Turcis Hierosolyma, luna cruento apparuit aspectu: terra prodigiose mota 
est (Sabell. Cent. 15. fol. 660, Brunnius S. 3). 

1074. Den 27. Januarij ward zu Wormbs ein wunderbarlichs zeichen am Himel gesehen. 
Denn wie die Sonne auffgieng erschienen zugleich zwo schöne Goltfarbe Säulen 
zu beiden seiten der Sonnen / und stiegen zugleich mit derselben auff / bifs 
sie eben hoch in die Höhe kam /da die Säulen erst verschwunden. Die 
Nacht zuvor hatte man auch einen schönen hellen Regenbogen am klaren 
Himmel gesehen (Sp. 196. Lyc. S. 383). 

1066 und 67 stellte sich im Frühlinge ein stinkender und so dichter Nebel durch 35 Tage 
ein, dafs man auf vier Schritte nichts unterscheiden konnte (Lupacius Ephe- 
merides rer. Bohem. 1534). 

1091. Am 29. September gab es eine Verdunklung der Sonne, welche drey Stunden 
dauerte, und nach welcher die Sonne eine eigene Färbung behielt, und die 
grofsen Schrecken verbreitete. (Crusius Ann. Schnurrer I. S. 219). 

1098. Am 26. Sept. Erdbeben im mittleren Frankreich mit der Bemerkung: coelum ap- 
paruit zubzceundum (Mallet Cat. S. 22). 

1104. Crebra prodigia terruere mentes hominum. Coelum ardere frequenter visum. Sol 
atque luna crebro praeter solitum defecere. Complures stellae de coelo in 
terram cadere visae. Faces ardentes, jacula ignita, ignis volans saepius per 
aëra ferri conspecta sunt. (Lyc. S. 391. Hevelii Cometogr. S. 821). 

1112. Inter ipsa Nativitatis Festa, 3 Non. Januarii, tantus terraemotus suboritur, ante 
inauditus. Nam multae ecclesiae ac civitates inde submersae sunt, Leo- 
dium inclyta civitas aquarum vi, immensam cladem passa est. Visae sunt 
sanguineae nubes, maximum incutiens hominibus terrorem. (Suev. Annal. 
Brunnius S. 19). 

1115. In Paschate coe/um vasto hiatu discissum fulgorem nitidum demisit, qui cum inte- 
gram diem durasset, aurer coloris imaginem in medio ostendit. (Chron. Sax. 
Ursperg. Cent. 12 Br. S. 21). 

1117. 3 Cal. Martii nubes sanguineac per medium cocli se extendentes, unicuique loco 
vicinae incumbantcs. Alibi sic invenitur scriptum. In Suevia, terra domorum 
instar ebullit et subito in abyssum delapsa est. Aer visus est zene et san- 
guine mMistus. 


J. KIESSLING, Sonnen- und Himmelsfärbungen. II 


1117. Auffallende Dämmerungserscheinungen an verschiedenen Orten is. K. Unters.). 

— In villa Suabach et in Suevia, ante finem eiusdem anni, nocte intempesta, coelum 
rubuit triste cum rimis sanguineis ct subalbis radiis (Br. S. 23). Vergl. Hoff, 
Chronik der Erdbeben I. S. 213. 

1118. Decembris 20. sub primam noctis horam zeweae actes in coelo conspectae sunt, a 
septentrione versus orientem, quae per totum deinceps coelum sparsae, stupore 
spectatores affecerunt (Brunnius S. 23). 

—  Auffallende Abendröte in Polen (s. K. Unters.). 

1121. Es ist die Sonne in diesem Jhare von einem stinckenden decken Nebel gar ver- 
finstert worden, das sie von Neun schlagen an, desselben Tages bis auff 
den dritten tag, iren rechten schein nicht gehabt, sondern als ob sie mit Dlut 
gefarbet were, durch den Nebel ist anzusehen gewesen (Sp. S. 429). Olearius, 
Chronik v. Arnstadt S. 243: »Die Sonne wurde drey Tage hintereinander 
Blutroth geschen.« Schnurrer I. S. 235 zitiert hierbei: Erphord. antiqu. varil. 

1139 war die Luft in Böhmen eine Woche lang sehr dunkel und wurde am 24. Mai 
um Mittag noch viel dunkler, während sich in derselben cin Schwefelgeruch 
verbreitete. Lupacz (Schnurrer I. S. 240). 

1154. In den letzten Tagen des September glich die Sonne ganz der Mondscheibe. 
Ursperg. (Schnurrer I. S. 243). Sol per totum diem Calend. Octob. ob- 
scuratus est (Lyc. S. 411). 

1173. Febr. 11. acies igneae in coelo conspectae sunt (Brunnius S. 52). 

1178. Idibus Septemb. so/ ipsa meridie obscuratus est, cum nulla tum eclipsis nullaeque 
coelo nubes obductae essent, ut pallidus esse horas prope duas appareret. 
(Boet. lib. 13. Scot. Cent 12. Br. S. 34). 

1179 den 19. Augusti hat man den Mond bis umb die Mitternacht am Himmel gar 
schön und klar gesehen, aber bald darauff ist er gants blutfarò worden, und 
hat also gestanden, bis gegen den Morgen. Den folgenden Tag ist ein 
Zirckel umb die Sonne gestanden, wie in Variloquo Erfurd. angezeigt wird. 
(Sp. S. 268). 

1186 gab es heftige Stürme, die Sonne war drey Tage lang, wie es scheint durch einen 
Höhenrauch, verhüllt; es fielen unerhört grofse Hagelsteine, wahrscheinlich 
Mecteor-Steine, grosse Fenerflammen zogen durch den Himmel, es erfolgten Erd- 
beben, und in manchen Gegenden brauste das Meer auch ungewöhnlich auf. 
(Michaud II. 272 Schnurrer, Chronik I. S. 255). 

1192. Der Sommer dieses Jahres war sehr heifs, im August aber trat plötzlich Kühle 
ein, es entstanden hitzige und viertägige Fieber, man sah auch am westlichen 
Himmel eine Feuererscheinung von grofsem Umfang (Godefr.) Auch im 
nächsten Jahr gab es nach denselben Nachrichten eine gleiche Erscheinung. 
(Schnurrer, Chronik I. S. 259). 

1206 oder 1308. Am letzten Februar 1206 nach Villalba, nach Crusius aber an dem- 


selben Tage des Jahres 1208 wird eine Verfinsterung der Sonne erwähnt, 





12 J. KIESSLING, Sonnen. und Fhmmelsfärbungen. 


welche nicht nur vollkommene Dunkelheit zur Folge hatte, sondern auch, weil 
sie sechs Stunden dauerte, nicht wohl von dem Monde hergeleitet werden 
kann, sondern nach der Erklärung von Chladni cher ciner Metcormafse zu- 
oeschrieben werden mülste; es folgten darauf unerhörter Regen und Über- 
schwemmungen (Schnurrer I. S. 205). 
1222. Auf Island fingen der Hekla und Reikanese an Feuer auszuwerfen; de Sonne 
N 
1241. Besonders ist von diesem Jahr eine so starke Verfinsterung der Sonne, dafs bey 


bekam einen blutrothen Schein und es entstand Hohenrauch (Schnurrer I. S. 27 


IA 


derselben, da der Himmel ganz klar war, man die Sterne sehen konnte, be- 
merkenswerth. Diese Verfinsterung der Sonne darf nicht mit einer totalen 
Sonnenfinsternis verwechselt werden, welehe in jenen Jahren auch stattfand. 
denn derselbe Abt Hermann von Nieder-Altach, welcher dieser letzteren 
(3. Juli 1239) erwähnt, spricht auch von jener ganz eigentümlichen Verdunklung 
der Sonne, die nach emer anderen Angabe auch das Ausrezeichnete hätte, 
dafs sie in nicht sehr grofsen Entfernungen an einisea Stellen bemerkt wurde, 
an andern dagegen nicht. Chron. Claustro. Neob.  (Schnurrer I. S. 256). 

1261 hat man viel zeichen geschen, sonderlich blutige wolcken. Appendix Urspergensis. 
(Angeli Ann. S. 103). 

1269. Sexta die decembris crepusculo novus et signis splendor in figuram crucis effor- 
matus, coclitus non modo urbem, sed omnem vicum circa regionem illustravit 
(Lycosth. S. 441. Ilevelii Cometogr. S. 827). 

1347. Man sah in diesem Jahr cinen weziverörezteten Dunst von Norden nach Süden 
zichen, welcher Alles mit Schrecken erfüllte (Schnurrer I. S. 320). 

1391 bemerkte man im Juli eine besondere Këte der Sonne und darauf einen Höhen- 
rauch (Webster. Schnurrer I. S. 353). 

1465. In diesem Jahre ist e Sonne umb den heiligen Creutztag gar Zunckel am Himmel 
gestanden und ein blawer Circkel rings umbher / so blaw als cin Kornblume 
gesehen worden (Sp. S. 392). 

1504 gab es einen Höhenrauch, wie gewöhnlich von grofser Hitze begleitet. So? 

. adeo pallide et glauce resplenduit ac multum triste, ac si eclypsi magna; se- 

quitur aliqua siccitas (Schnurrer I. S. 56). 

1524. Sol ut globus ignitus coelo sereno constitit per plurimos dies, sequente tumultu 
tragico rusticorum in Germania contra principes (Brunnius S. 151). 

Im jar 1525 ist die Soxen einen gantzen Monad lang klein als ein Ball gesehen worden / 
darauff der tödlich abganı Hertzog Friedrichs zu Sachssen / Christlicher hoch- 
löblicher gcdechtnus / erfolget / welcher den fünfften Maij zur Lochaw ver- 
schieden / und ist in stifft zu Wittemberg begraben worden. 

Dergleichen Wunderzeichen mit der Sonnen ist zuvorn auch geschehen / 
denn ehe Julius Caesar der erste Römische Kaiser von seinen Widersachern 
zu Rom erstochen wurde / ist die Sowen ein gants Jar lang klein und bleich 
am Himmel gestanden (lincelius, Wunderzeichen). 


J. KIESSLING, Sonnen- und Himmelsfärbungen. 13 


1549 den 17. Maij hat man zu Abend bei dem Mond zwey Schwerdter gegen einander 
gericht zu Eisleben und anderswo mehr gesehen. 

Den 19. dieses Monds ist die Sowne früc Morgens gar rot wie ein Blut 
auffsangen und hat man die neheste Nacht darauf sehen Fewerklumpen vom 
Himel fallen (Sp. S. 455). 

1551. Vicesimo octavo Januarii die, Lisiboni in Portugallia virgae sanguineae, nec non 
horrendt ignes in coelo conspecti sunt, pluit enim sanguine, terraemotus porro 
incensus est tantus, adeo quod 200 domos horribiliter concuteret et demo- 
liretur, qua excussione ultra mille hominum periere (Lyc. S. 611). 

Im jar 1552 ist umb S. Veit zu Schonfelt in der krone Bohem ie Sonne in irem auff- 
gang geschen worden /gros als ein dopff und voller bluts / das es deutlich 
geschienen / als flösse blut aus der Sonnen uff die erden / darnach sind zween 
balcken die quer in der Sonnen gestanden /der eine nach Bohem / ist nicht 
lang / Aber der ander gegen Sachsen warts ist ser lang gewesen / diese 
balcken sind viclmals in der Sonnen hin und wider geschossen (Fincelius). 

1552. Mechliniae, inferioris Germaniae oppidi percelebris, undecimo Calend. Martii, circa 
horam post meridiem tertiam, so/ orrendo aspectu, primum coeruleo, ac deinde 
sanguimeo colore magnoque circulo, cum iride visus est (Lyc. S. 622). 

1554. Grüne Sonne und auffallende Dämmerungserscheinungen in Thüringen (s. K.Unters.) 

Anno 1558 den letzten Martij, und den folgenden Tag hat man die Sonne sehen blutrot 
des Morgens aufgehen, wie dann gleicher Gestalt auch der Mond gans blutig 
am Himmel gestanden (Sp. S. 463). 

1560 den 28. Decembris hat man früe Morgens zwischen fünffen und sechsen / ein sehr 
schrecklich Fewerzeichen am Himmel gesehen. Es ist ein solcher greilicher 
Anblick gewesen / der gleich zuvor nicht von Leuten so dazumal gelebt, ge- 
sehen worden. Es sahe der Himmel nicht anders / denn als ob er brennete, 
und unter dem Fewer citel Blutflüsse. Wie denn daran etliche Tractetlin 
dazumal in Druck sind ausgegangen / welcher gestalt auch an andern orten 
dieses Zornzeichen gesehen worden (Sp. S. 480). 

— Am 28. Dezember ungewöhnliche Morgenröte in Holstein (s. K. Unters.). 

Anno 1568. Den sechtzehenden Julij / ist die Sonne den gantzen tag Blutrot am Himmel 
gestanden / welches gar trawrig und zugleich auch schrecklich anzusehen ge- 
wesen / wiewol umb dieselbige Zeit an etlichen andern örten / mit Christlichen 
Lehrern und Zuhörern also gefaren worden / das nicht allein kein wunder / das 
beyde Sonn und Mond solche unbillichkeit anzuschen / ein abschew tragen 
und ihren Schein verbergen / sondern GOTT wol nach scinem billichen und 
gerechten Zorn /ursachen mehr denn genug hatte / mit dem hellischen Fewer 
drein zu schlagen und alles in hauffen zu werffen/ wenn er nicht umb seines 
kleinen Heufflins seiner lieben Ausserweleten willen / bifs er derselbigen zall 
voll mache / der Welt verschoncte / doch wird er solche Feinde zu sciner Zeit 
auch wol zu finden wissen (Sp. S. 490). 








14 J. KIESSLING, Sonnen- und Ihmmelstärbungen. 


1569. Auffallende Morgenröte (s. K. Unters.). 

1571. Im eingang des Aprills hat man beynahe alle tage lenger denn cine Woche, zu 
Morgends und Abends «Ze Sonne schen Ölutrot auff und nider gehen, und 
haben sich sunst auch allerley seltzame Gesichte und Zeichen in den Weolcken 
ereugenet (Angeli Ann. S. 368. Sp. S. 497). 

— Grüner Mond am 27. Oktober (s. K. Unters. ı. 

1580. Am 10. September sahe man ezne besondere Rothe am Himmel, worauf viele 
Krankheiten folgten; dies war wohl nichts anderes als ein Nordlicht, und die 
daher entstandenen Krankheiten hatten ihren Grund wohl nur in der Ver- 
kältung, welche sich die erstaunten Beobachter in der frischen Abendluft zu- 
gezogen (Gronau, Witterung von Brandenburg, S. 66). 

1594. Am 13. und 14. Junii erschienen Sonne und Mond in einem röthlichen. Dunste. 
Am 19. October sahe man bey einem Nordlichte ein besonderes Phänomen 
am Monde, der einem geschwänzten Kometen glich (Gronau S. 68). 

Den 13. tag des Brachmonats, auff den Abendt, war der Mond fast 
Ölutroht, und des folgenden Tages auch die liebe Sonne. bifs an den Mittag 
hinan (Angeli Ann. S. 413). | 

1596 den 6. Martii gieng die Sonne gar rot auff und unter (Angeli Ann. S. 429). 

1605. In Neapel ungewöhnliche Himmelsfärbung bei einer totalen Sonnenfinsternis (s. K. 
Unters.) 

1645. David Fröhlich schreibt an Hevel aus Caesartopolis: »Egomet 25. april. hor. 3 
vespertina vidi corpus solis instar ferri candentis, vel lunae fulvae, radiis 
suis prorsus privatum.« (Hevelii Cometograph. S. 361). 

1657. Um den 13. April dieses Jahres war die Sonne beim Auf- und Untergange, 
(obschon heitere Tage waren) arve ein glühendes Fisen, und öfters blutroth, 
man konnte ohne Verletzung der Augen ihren Glanz vertragen. Man er- 
zählt, dafs gegen Mähren zu drei feurige Säulen und drei Schwerter am 
Himmel gesehen worden (Strnadt, merkwürdige Erscheinungen S. 18). 

1661. Ungewöhnliche Himmelsröte in Dänemark bei einem Orkan am 4. Januar ıs. K. 
Unters.). 

1668 am 20. April zwischen 3 und 4 Uhr nach Mittag, /irdbeben im Canton Glarus mit 
starkem unterirdischem Getöse. Nach demselben verbreitete sich dort ezn 
starker Dunst oder Nebel. (v. Hoff I. S. 315. Geschichte der Veränderungen 
der Erdoberfläche II. S. 271. ohne Angabe der Quelle). 

1680. Am 22. Mai auffallende Morgenröte in Dänemark (s. K. Unters.). 

1693, vom 9. bis 11. Januar Erdbeben, welches vorzüglich Sicilien hart betraf, zu- 
gleich aber auch in einigen anderen Gegenden von Europa empfunden 
wurde. In Sicilien war der 9. ein heiterer Tag bis gegen Sonnenuntergang. 
Um diese Zeit bedeckte sich der westliche Horizont mit einigen Wolken. 
Zugleich fing der Aetna an häufigen Dampf und Flammen auszustofsen. Um 
5 Uhr Nachts wurde Sicilien stark erschüttert, am stärksten aber Catania, 





J. KIESSLING, Sonnen- und Himmelsfürbungen. I5 


wo Gebäude zerstört wurden. Am Irr. erschien die Sonne matt und blutfarbig, 
und am Morgen erfolgten einige heftige Erdstöfse. Gegen 21 Uhr aber ge- 
schah unter erschreckendem Getöse ein so heftiger und fürchterlicher Stofs, 
dafs sechzig Städte und Dörfer und gegen 60000 Menschen begraben wurden. 
Catania erlitt die fürchterlichste Zerstörung und verlor allein 18000 Einwohner. 
Die Luft blieb düster und im Augenblick des Stofses sah man aus dem 
Krater des Aetna Feuerströme ausfliefsen und eine dicke Mafse schwarzen 
Rauches aufsteigen, der die Luft verfinsterte (Hoff. Chr. I. S. 346 nach Gu- 
glielmi, Catania disrutta. Palermo 1695). 

1695. Vom 24. bis 25. Februar in der Nacht Erdbeben im WVenetianischen Gebiete. 
Zuerst mäfsige Stöfse in dem Territorio Asolano in der Diöcese von Treviso. 
Aber noch vor Aufgang der Sonne erfolgten die heftigsten, deren man sich 
erinnern konnte; und von der Zeit an verging mehrere Monate nacheinander 
kein Tag, da man nicht Erschütterungen empfunden hätte. Während dieser 
Zeit soll die Sonne selbst bei heiterem Himmel wie verdunkelt gewesen sein, 
ungefähr wie bei dem trockenen Nebel des Jahres 1783. (v. Hoff. Chr. S. 349. 
Kries, von den Ursachen d. Erdbeben S. 70 zitiert Codice meteorico di Nico- 
demo Martellini, Venezia 1700. fol.). 

1719. Am 21. Juni schien in Berlin die Sonne blutroth; gegen Abend entstand ein fürch- 
terliches Gewitter. Vom 12. bis 21. Juli war der Himmel beständig dunstig 
und Sonne und Mond erschienen blutroth., Ærdbeben waren den 6. März in 
Constantinopel, Aleppo und Lissabon. Der Vesuv, warf bis zum 9. Juli Feuer 
aus. Besonders war dieses Jahr reich an Nebensonnen und Nebenmonden. 
(Gronau S. 125). 

1721. Auffallende Sonnen- und Himmelsfärbung nach einem Erdbeben in Persien (s. K. 
Unters.). 

1722. In diesem Jahre waren Nebensonnen, Nebenmonde, Mond- und Sonnenzirkel und 
dergleichen Phänomene sehr häufig (Gronau S. 131). 

723. Nebensonnen, Höfe um die Sonne und den Mond sahe man im Januar, Februar, 
August, September und November ziemlich oft (Gronau S. 133). 

1724 und 1725. Auffallende Dämmerungserscheinungen in Schlesien und in Nürnberg 
(s. K. Unters.). 

1731. Am 20. und 21. Erdbeben in der Umgebung von Neapel. Am Monte Gargano 
will man Feuererscheinungen bemerkt haben. Am 21. schien die Sonne ganz 
blafs wie durch einen dünnen Nebelschleier (Mallet. Cat. S. 128). 

— Im Oktober beobachtet Maran in Frankreich ungewöhnlich lange Abenddäm- 
merungen (s. K. Unters.). 

1748. Ungewöhnliche Wolkenfärbungen bei einer totalen Sonnenfinsternis am 25. Juli 
(s. K. Unters). 

1754. Ausbruch des Taol auf Luzon. Die Explosionen waren schrecklich und dauerten 
zehn Tage. Die Detonationen wurden bis auf eine Entfernung von 300 Leguas 





16 J. KIESSLING, Sonnen- und Himmelsfärbungen. 


echört. Finsternis entstand infolge der Wolken von ausgeworfener Asche, welche 
die Dörfer und lläuser des 20 Leg. entfernten Manila bedeckten (Scrope S. 424). 

1755. Lirdstofs am 4. Okt. in Toledo. Zu dieser Zeit sollen auffallende Sonnen- und 
Mondhöfe beobachtet worden sein. (Collect. Académique. Mallet. Cat. S. 162). 

1756. Vom 5. bis 8. Juni schien die Sonne ganz roth und dunstig (Gronau S. 194). 

1761. Am 31. März 12 Uhr Mittags wurde zu gleicher Zeit in Lissabon und in Funchal 
auf Madeira ein Erdstofs verspürt. Während des Erdbebens trübte sich das 
Wasser des Brunnens in Funchal. Der Himmel war heiter bis auf kleine 
flicehende Wolken. Nach dem Stofse zeigte sich zen die Sonne em grosser Hor 
(Philos. Trans. Bd. 52. S. 141, 155, 422, 425, 428). 

1764 weisen im Juli die meteorol. Register der Akademie intensive trockene Nebel auf. 
Besprochen von De la Lande. Gothaisches Magazin für das Neueste der 
Physik und Naturw. Bd. U. St. 2. S.89. Vergl. Schnurrer Chronik II, S. 341. 

1767. Unsewöhnliche Farbenerscheinungen bei der Abenddäammerung am 18. April 
(s. K. Unters.). 

1775. Auf Sumatra, wo es wegen der Nähe der Linie gewöhnlich viel regnet, fng die 
trockene Jahreszeit in der Mitte des Junius an und dauerte mit wenig Unter- 
brechung bis in den März des folgenden Jahres; während dieser Zeit ver- 
deckte ein dichter Nebel Monate lang die Sonne (Schnurrer II, S. 364). 

1779. Im April sahe man die Sonne und den Mond roth durchscheinen wie 1771 vor 
dem grofsen Regen. Hamb. Adrefsnachrichten. (Kuss H. S. 160). 

— Erdbeben zu Bologna am 2., 4., 10. Juni und am 14. und 19. Juli. Die ganze 
Zeit über war der Ilimmel gleichsam mit einer Bleyfarbe überzogen. Von 
den nahegelegenen Hügeln schienen die Dünste, welche auf der Stadt und 
Ebene lagen, als wenn sie aus ganz feiner Asche beständen, und hatten für 
jeden, der sie betrachtete, etwas recht schreckliches. Montag und Dienstag 
vor der letzten Erschütterung war der Himmel ebenso beschaffen, und weil 
dabei eine völlige Windstille herrschte, konnte ich nicht umhin, gegen einige 
Bekannte zu sagen, dafs ich diesem Himmel nicht traute. Wie ich in den 
folgenden Tagen fortfuhr den Himmel zu beobachten, fand ich ihn stets von 
der gewöhnlichen Bleyfarbe. Die wenigen Gewölke, welche sich darin zeigten, 
hatten eine ganz andere Gestalt als die Wolken, welche aus wässerichten 
Dünsten bestehen, zu haben pflegen. Sie schienen vielmehr aus schr feinen 
Ausdünstungen zusammengesetzt, dabei glatt und glänzend zu sein, als wenn 
sie polirt wären. Ob man gleich zuweilen aus ihrer Figur urtheilte, dafs sie 
sich von einander geben und zerstreuen würden, und cs auch bisweilen schien, 
als müfsten sie sich nunmehr in wenigen Minuten trennen, so blieben sie 
gleichwohl einige Stunden in ihrer Lage, ohne nur einen Punkt in ihrer Bil- 
dung zu verändern. Heute (23. July) ist der erste Tag, an dem der Himmel 
von allen diesen Erscheinungen wieder völlig frei ist (Dr. Canterzanıi. 
Götting Magazin d. Wissensch. v. Lichtenberg u. Forster. 1780. I. S. 313). 


J. KIESSLING, Sonnen- und Himmelstärbungen. 17 


1779 und 1780 wurde Bologna fast ein ganzes Jahr lang durch Erdbeben geängstigt. 
In dieser Zeit schien die Sonne bleich, der Himmel war gewöhnlich mit blei- 
farbigen Wolken bedeckt und der Horizont sah ganz braun aus vor dicken 
Nebeln (Voigt, Mag. d. Naturk. 1802. S. 596. Moll. Annalen für Berg- 
u. Hüttenk. II. S. 452). 

1780. Eine merkwürdige, zwar noch wenig besprochene, durch die zuverlässigsten 
Zeugnisse jedoch erwiesene meteorische Erscheinung trug sich am 19. May 
zwischen Io und II Uhr auf einer mehrere Meilen breiten Fläche in Nord- 
amerika zu. Es verbreitete nämlich, nachdem es schon einige Tage zuvor 
dunstig gewesen war, eine ganz dunkle Wolke, welche über Connecticut zu 
stehen schien, eine solche Dunkelheit, dafs man Lichter anzünden mufste; 
um 12 Uhr wurde es zwar wieder etwas heller, aber während des ganzen 
Tages sahen alle Gegenstände gelblich aus, und das Barometer sank während 
dieser Zeit anhaltend. (Schnurrer II. S. 370. Sam. Williams u. Mem. of the 
americ. of arts and sciences. Vol. I. p. 234.) 

1783. Den Sommer über in ganz Europa und auf dem atlantischen Ozean ungewöhnlich 
dichter Nebel (s. K. Unters.). 

1787. Am 5., 7. und 21. Sept. zeigte sich ein röthlicher Dunst oder Nebel in der 
Atmosphäre (Gronau S. 290). 

1788. Im September wie im Oktober erschienen helle und prächtige Nordlichter (?) 
gleich nach Sonnenuntergang (Kuss. I. p. 192). 

1791. Turin. Den 20. Mai Abends hatte die Sonne einen neblichten röthlichen Kreis um 
sich her, welches Viele für ein Zeichen eines bevorstehenden Erdbebens hielten, 
das auch wirklich in der Nacht um ı Uhr erfolgte \Hamb. Corresp. 1791. No. 96). 

1799. Am 25. Januar um 4!/2 Uhr morgens erfuhr Nantes einen heftigen Erdstofs, der 
über eine Minute dauerte und Hausgeräth und andere Sachen umstürzte. Die 
Luft war zu dieser Zeit in der Gegend von Nantes gans erleuchtet (Hamb. 
Corresp. 1799. No. 25). 

1800. Am 26. Januar gegen 4 Morgens fand in der Bretagne und in mehreren Gegenden 
der unteren Loire Erdbeben statt. Zu la Guerche hatte man am vorher- 
gehenden Abend, bei schwachem Westwinde, ein dumpfes, eintöniges und an- 
haltendes Getöse in der Luft gehört. In der darauf folgenden Nacht zwischen 
2 und 3 Uhr überzog den Himmel einförmiges graues Gewölk, hinter welchem 
ein vöthliches Licht zu schimmern schien. In Caen wurde das Erdbeben einige 
Minuten vor 4 Uhr empfunden; die Erschütterungen waren jedoch nicht be- 
trächtlich. Auch dort soll der Himmel röthlich gefärbt erschienen sein (Voigt 
Magazin Bd. 3, St. 2. S. 319. v. Moll Annalen Bd. 2. S. 446). 

1814 Am 3. April Erdbeben zu Pisa. Die Luft war ruhig und warm; die Sonne schien 
den ganzen Tag über in mattem Licht (Mallet. II. S. 102). 

1815. Nach dem Ausbruch des Tambora grüne Sonnenfärbung im indischen Ozean. 


(s. K. Unters.). 


a) 


18 


J. KIESSLING, Sonnen- und Himmelstärbungen. 


1818. Im September ungewöhnlich grüne Abenddämmerung in München (s. K. Unters.). 
1821. Ungewöhnliche Sonnenfärbuug am 18. August in Frankreich und England (s. K.U nters.). 
1822. Am 21. May verbreitete sich gegen 5 Uhr Abends, acht bis zehn Stunden im Um- 


kreise von Paris plötzlich ein ganz ungewöhnlicher Nebel, durch welchen die 
Sonne mit einer besonders starken Röthe blickte, wobey man einen bestimmten 
Geruch von Salpetergas bemerkte. An den zwey nächsten Tagen wurde 
wieder um Paris, aber auch im Rheinthal einige Stunden vor Sonnenuntergang 
derseibe Nebel beobachtet, dessen Färbung in Nichts der eines feuchten 
Dunstes, sondern mehr dem Rauch einer Steinkohlengluth, dessen Geruch er 
hatte, glich, und den man sogleich dem vor 40 Jahren nach dem Erdbeben 
von Calabrien, oder könnte man vielleicht richtiger sagen, nach dem vul- 
kanischen Ausbruch auf Island ähnlich fand. Auch ım Enzthal sah man am 
23. denselben Nebel (Schnurrer, Chronik II. S. 5397. Annales de chimie 
Bd. 21, S. 412). 


1823 im Oktober soll in Ragusa und Bosnien während cines Erdbebens die Sonne ver- 


finstert gewesen sein (Leonhard, neues Jahrb. f. Min. S. 802). 

Am 13. Dezember fand in Belley (Départ. del’Ain, Frankreich‘ 3 Uhr Morgens eine 
Erderschütterung mit Detonation wie von Artilleriefeuer statt, die etliche 
Sekunden dauerte. Man twill dabei (ohne cin bestimmtes Meteor) den Himmel 
wie in Feuer gesehen haben.  (Constitutionel 1823 Dec. 21. Ferussac Bull. 
des Sc. nat. T. I. p. 5. Gilbert-Poggendorf Annal. Bd. 78. (2). S. 167). 

Auffallend grüne Abenddämmerung am 18. September im indischen Ozean (s. K. 
Ünters.). 


1824. Im Januar wurden cinige Gegenden Böhmens von Erderschütterung heimgesucht. 


Die Luft war ruhig aber vielfach mit Nebel erfüllt. (Kastner Archiv I). 

Am 18. Juli Erdbeben im Departement Aude, Tarn u. a. a. O. Zu Perpignan 
stieg das Thermometer abends auf 35° C. Die Luft schien wie mit bren- 
nenden Dämpfen erfüllt zu sein (Mallet. II. S. 160). 

August I2. u. 13. Zu San Pietro dı Bagno und Silvaplana (Toscana) fanden in 
den Morgenstunden gegen zwanzig Erderschütterungen statt, unter denen doch 
nur drei so stark waren, dafs sie die Glocken anschlagen machten. Einige 
Schornsteine ficlen ein. Den folgenden Tag und die folgende Nacht spürte 
man noch mehrere Stöfse, doch ohne bedeutende Wirkung. Vor Eintritt der 
Erschütterungen hatte man z» der Luft um die Sonne einc besondere Art von 
Nebel bemerkt. Die Sonne schien wie umschleiert und glich mehr dem Monde. 
(Preuss. Staats-Zeitg. 1824. No. 217. Archive des decouv. 1824. S. 214). 


1829 soll am 5. Nov. bei einem heftigen Orkan zu Tiflis die Sonne durch eine vor die- 


selbe tretende Ölutrothe Scheibe verfinstert worden sein (Preuss. Staats-Zeitg. 
No. 346. Moniteur No. 357. p. 1927. 

Am 28. April soll zu Livorno bei einem Erdbeben ein röthlicher Schein am Himmel 
beobachtet worden sein (Leonhard, Neues Jahrbuch für Min. 1861. S. 802). 





1831. 


1837. 


1839. 


1841. 
1845. 


1356. 


1858. 


1862. 


1880. 


J. KIESSLING, Sonnen- und Himmelsfärbungen. | IQ 


Ungewöhnliche Sonnenfärbungen und Dämmerungserscheinungen im August und 
September im ganzen südlichen Europa nach den vulkanischen Vorgängen 
auf der Insel Ferdinandea (s. K. Unters.). 

Ungewöhnliche Abendröthe am 22. September nach einem Erdbeben in Van Die- 
mensland (s. K. Unters.). 

Am 11. Januar um 5 Uhr 45 Min. fand auf der Insel Martinique ein sehr heftiges 
Erdbeben statt. Der Wind war NW. und die ganze Insel war in dichten 
Nebel gehüllt, eine in dieser Jahreszeit sehr seltene Erscheinung (Mallet. II. 
p. 280. Comptes Rendus t. VIII. p. 329, 364). 

Am 27. August wurde 1 Uhr Mittags in Messina ein heftiger Erdstofs bemerkt. 
In dem Augenblick als derselbe erfolgte, zeigte die Luft eine röthliche oder 
rosa Färbung, gerade so wie zu Parma am 12. und 13. März 1832 beobachtet 
worden ist (Journal des Débats, 18. Sept. Mallet. II. S. 286). 

Im April desselben Jahres tand zu Algier ein Staub- oder feiner Sandregen statt, 
welcher die Aufmerksamkeit der Soldaten auf sich lenkte. Der Ingenieur- 
Offizier M. Remond hatte von der Marmorplatte einer Sonnenuhr eine ganze 
Menge dieses Staubes sammeln können. An demselben Tage zeigte der 
Himmel bei Sonnenuntergang eine auffallend rothe Färbung (Comptes Rendus 
Bd. 8. S. 715). 

Am ı. September ungewöhnliche Abendröte am Ural (s. K. Unters.), 

Auffallende optische Erscheinungen auf der Ostsee am 6. September unmittelbar 
nach dem Ausbruch des Hekla (s. K. Unters.). 

Am ı2. Oktober ı2 Minuten nach 2 Uhr Morgens Erdbeben von aufserordentlich 
weiter Verbreitung auf den Inseln und Küsten des Mittelländischen Meeres. 
Der Mittelpunkt desselben war die Insel Kandia und von hieraus verbreiteten 
sich die Stöfse über alle Inseln und Küsten des Ägäischen Meeres und bis 
nach Italien. Auf Kandia und Malta bemerkte man während des Erdbebens 
am Himmel einen rothen Lichtschein mit zitternder Bewegung (Leonhard, 
Neues Jahrb. f. Min. 1861. S. 804). 

Ungewöhnliche Dämmerungserscheinungen in Quito am 13. Dezember unmittelbar 
nach dem Ausbruch des Cotopaxi (s. K. Unters.). 

Ungewöhnliche Dämmerungserscheinungen am 20. Novomber im südlichen Atlan- 
tischen Ozean (s. K. Unters.). 

Ungewöhnliche Dämmerungserscheinungen in Neapel während eines Ausbruches 
des Vesuv (s. K. Unters.). 

Auffallende Sonnen- und Wolkcafärbungen bei einem Ausbruch des Cotopaxi am 
3. Juli (s. K. Unters.). 


Die Thätigkeit 


der Deutschen Seewarte 


während der ersten 


12 Jahre ihres Bestehens 


(1875—1886). 
Von 


Dr. G. Neumayer. 











Die Thätigkeit der Deutschen Seewarte 
während der ersten 12 Jahre ihres Bestehens (1875—1886). 


Mi dem Aufschwunge, welchen der Weltverkehr zur See seit der Mitte unseres 
Jahrhunderts genommen hat, mit der Entwickelung der Technik nach allen Richtungen 
und den stets sich steigernden Anforderungen bildete sich nach und nach das Bedürfnis 
einer strengeren Pflege der nautischen Wissenschaften heraus; es wurde auch dem minder 
Einsichtsvollen in das Wesen dieser Wissenschaften klar, dafs nicht unwesentliche Änder- 
ungen in der Ausübung der Navigation einzutreten haben würden. Dazu kam ein fernerer, 
in seinen ersten Anfängen kaum hinsichtlich seiner Bedeutung zu überschauender Um- 
stand, die Anwendung des Eisens bei der Konstruktion der Schiffe, der zur Komplizierung 
der Aufgaben, welche dem praktischen Schiffer im Seeverkehr gestellt werden, ganz 
erheblich beitrug. Wenn es früher, und zwar schon seit Dezennien, klar geworden war, 
dafs hinsichtlich der nautisch-astronomischen Probleme strengste Wissenschaftlichkeit allein 
genügen, den zu stellenden Anforderungen Entsprechendes leisten könne, wenn auch die 
neueren Anschauungen über die Anwendung der Grundsätze der Hydrographie und Me- 
teorologie seit geraumer Zeit anerkannt waren, so brachten doch die soeben erwähnten 
Umstände ein Element der Schwierigkeit in die Ausübung der praktischen Navigation, 
welches nicht so ohne weiteres und ohne Beihilfe wissenschaftlicher Forschung zu be- 
seitigen war. | 
Von Erwägungen durch die Erkenntnis der Richtigkeit der berührten Gesichts- 
punkte geleitet, hatte man sich denn auch bei Einrichtung jengr Institutionen, welche 
für den Vorteil der Pflege der Navigation im weitesten Sinne berechnet waren, ernstlich 
damit befafst, allen jenen Organen, welchen die Pflege der Navigierung zufallen konnte, 
eine gediegene und zeitgemäfse Gestaltung, bezw. Umgestaltung zu geben. Zunächst 
mufste die Durchführung der sich ergebenden Grundprinzipien den von staatswegen ge- 
troffenen Einrichtungen zufallen, und so geschah es denn auch, dafs die Kriegs- 
marinen der verschiedenen Staaten in erster Linie nach dieser Richtung eine gründliche 
Beachtung erfuhren. Die Hydrographischen Ämter, wie wir die durch vorstehendes ge- 
kennzeichneten Einrichtungen schlechthin benennen wollen, der einzelnen Staaten fühlten 
denn auch in mehr oder minder vollkommener Weise die ihnen obliegende Pflicht. So 


4 Dr. G. NEUMAYER, Die deutsche Scewarte. 


entstanden fast überall in Verbindung mit den hydrographischen Ämtern der Staats- 
marinen Observatorien zur Pflege der Lehre von der Deviation der Kompasse an Bord 
eiserner Schiffe, zur Vervollkommnung der Konstruktion der Kompasse, zur strengen 
Prüfung der Chronometer, Zentralstellen zur Verarbeitung mcteorologischer und hydro- 
graphischer Materialien für Verwertung in den der Navigierung gestellten Aufgaben ın 
Segel-Handbüchern, Segel-Anleitungen und wie Werke dieser Art alle genannt werden 
mögen. Neben diesen erheblichen Leistungen wurde die ältere Branche der Hydro- 
graphischen Ämter, die kartographische Aufnahme, sowie die Organisation der wissen- 
schaftlichen Arbeit innerhalb der Staatsmarinen mit mehr oder minderem Nachdruck und 
mit mehr oder minderem Erfolge gepflegt. 

| Es verdient an dieser Stelle anerkannt zu werden, dafs die Einrichtungen, welche 
allerwärts für den Unterricht der Seeleute in der Wissenschaft der Navigation getroften 
wurden, auch ernstlich bemüht waren, den Forderungen der Zeit zu genügen und die 
Segnungen strenger wissenschaftlicher Arbeit auch den Bestrebungen der Handels-Marinc, 
der Ausübung des Weltverkehrs zur See nutzbar zu machen. 

Allein auf diesem Wege konnte der Grundsatz, wie er bereits in Staatsmarinen 
allseitig zur Annahme gelangt war, die Trennung der Institutionen für den Unterricht 
von jenen. für die Forschung, nicht zur Geltung kommen und mufste sonach die Ein- 
wirkung einer strengen Pflege der physikalischen Wissenschaften auf den praktischen 
Weltverkehr von sehr mäfsigem Umfange bleiben. In der That ist es unbedingt erfor- 
derlich, dafs die staatlicherseits getroffenen Einrichtungen so ausgerüstet sind, dafs sie 
selbstthätig forschend und in steter unmittelbarer Berührung mit der Praxis ihrem hohen 
Berufe gemäfs zu wirken vermögen und darin nicht durch die schwere Bürde der Schule 
gehemmt werden. In welcher Weise sodann die fruchtbringenden Beziehungen zwischen 
Schule und solchen Instituten zur Forschung herzustellen sind, ist eine Aufgabe, die 
in ihrer Lösung bei nur einigermafsen gutem Willen von beiden Seiten mit nicht allzu 
grofsen Schwierigkeiten umkleidet sein dürfte. 

Die Schaffung von Einrichtungen, welche in ihren Zielen gleichlaufend zu 
erachten sind mit den hydrographischen Ämtern der Staatsmarinen, ist nach den 
Grundsätzen, die wir stets vertreten haben, eine Forderung der Zeit und der wissen- 
schaftlichen Einsicht. | 

Es mufs von hohem Interesse sein, die Begründung der soeben ausgesprochenen 
Grundsätze an der Hand der durch längere Erfahrung erworbenen Wahrheiten zu er- 
weisen. Solches kann nur geschehen durch statistischen Nachweis, weil eine akademische 
Diskussion der Frage über die Nützlichkeit und Zweckmäfsigkeit von Institutionen der 
bezeichneten Art weder erquicklich, noch auch erspriefslich sein könnte. Es soll daher 
der Versuch gemacht werden, in dieser Abhandlung in klarer, wahrer und unwider- 
leglicher Weise den Nutzen analoger Einrichtungen, wie sie bei den Staatsmarinen be- 
stehen, auch für die Handels- und Kauffahrteimarine zu erweisen. Nur nebenbei sei hier 
erwähnt, dafs man nach dem Vorschlage von Dr. Otto Volger für Einrichtungen dieser 
Art die Bezeichnung »Seewarte« gewählt hat; es soll von hier an unter dieser Bezeich- 


Dr. G. NEUMAYER, Die Deutsche Seewarte. 5 


nung ein Institut begriffen werden, welches die Aufgabe hat, in steter wissenschaftlicher 
Forschung die dadurch gewonnenen Resultate zum Vorteile der Ausübung der Navigation 
zu verwerten. Aus den hierfür zweckdienlich erscheinenden Erörterungen wird sich zur 
Genüge ergeben können, dafs Wechselwirkung einerseits zwischen Forschung und Ver- 
wertung, andererseits zwischen Beobachtungen und Zusammentragung von Material die 
vornehmste Grundbedingung ist für ein gedeihliches Wirken. . 

Von solchen und ähnlichen Erwägungen geleitet, wurden im Jahre 1874 die 
Entwürfe für die Organisation der deutschen Reichs-Seewarte ausgearbeitet, so dafs mit 
dem Beginne des Jahres 1875 dieses Institut ins Leben treten konnte. Dafs dies nicht 
mit einem Male, d. h. den Entwürfen für die Einrichtung nach allen Richtungen hin 
gleich vom Anfange an gerecht werdend, geschehen konnte, ist wohl ohne ins Einzelne 
begründende Darlegung an und für sich klar. Nicht nur, dafs hinsichtlich der instrumen- 
tellen Ausstattung des Institutes und den zur Verfügung stehenden Räumlichkeiten nur 
sehr bescheidene Ansprüche verwirklicht werden konnten, hatte auch mit Rücksicht auf 
das Personal eine durch die Umstände gebotene Beschränkung einzutreten. Mit Bezug 
auf den letzteren Punkt war die Erwägung bestimmend — abgesehen von den durch 
die Etats-Verhältnisse auferlegten Beschränkungen — dafs es für das gedeihliche Wirken 
des jungen Institutes vortheilhafter sei, mit wenigen, erprobten Kräften in die Arbeit 
einzutreten und erst im Laufe der Zeit, nach einiger Erfahrung und nachdem jüngere 
Kräfte herangebildet werden konnten, mit der Erweiterung des Personals in planmäfsiger 
Weise vorzugehen. 

Die Geschichte der Entwickelung der Deutschen Seewarte, namentlich auch die 
Errichtung und Einrichtung eines eigenen Dienst-Gebäudes, sind in den 9 Jahresberichten 
(von 1875—1886) in so eingehender Weise behandelt, dafs es wohl überflüssig erscheinen 
müfste, wollte man in dieser Darlegung, die einen Überblick über die bisherigen Leistungen 
des Institutes gewähren soll, nochmals auf das dort Gesagte und Beschriebene zurück- 
kommen. Wo ein solches Eingehen zum Verständnisse des Berichtes erforderlich sein 
sollte, wird im Laufe der folgenden Darlegungen in aller Kürze an die betreffenden 
Ausführungen der Jahresberichte der Seewarte angeknüpft werden können, ohne den Zu- 
sammenhang derselben zu benachteiligen. | 

Vor allem darf wohl daran erinnert werden, dafs die Organisation der Deutschen 
Seewarte von vornherein die Bildung von vier Abteilungen in sich schlofs. Allerdings ist 
das Chronometer-Institut als IV. Abteilung der Seewarte erst im Beginne des Jahres 1877, 
also zwei Jahre nach der ersten Errichtung ins Leben getreten. Allein bei der an und 
für sich sorgen- und arbeitsvollen Zeit der ersten Einrichtung. wo überhaupt erst nach und 
nach in bestimmte Bahnen eingelenkt werden konnte, fällt der kleine Zeitunterschied 
kaum ins Gewicht. Im Laufe der Zeit stellte sich die Notwendigkeit der Bildung neuer, 
weiterer Abteilungen stets klarer heraus und so entstanden zwei, in gewissem Sinne als 
Abteilungen zu betrachtende Stellen in dem Institute: jene des Meteorologen und der 
Lehrkursus. Es wird im Laufe unserer Ausführungen genügend Gelegenheit geboten 
werden, auf die Bedeutung namentlich der letzteren Einrichtung zurückzukommen und 


6 Dr. G. NEUMAYER, Die Deutsche Scewarte. 


soll hier zunächst nur von der Gliederung des Institutes in Abteilungen alles das berührt 
werden, was dabei mafsgebend war. 

In dem Jahres-Berichte der Seewarte über deren Thätigkeit vom Jahre 1875—78°) 
ist ein Bericht über den Stand der weiteren meteorologischen Forschung in Deutschland 
enthalten, auf den umsomehr hier verwiesen werden kann, als unterdessen der Gedanke 
der Wichtigkeit der Pflege maritim-meteorologischer Arbeit zur Förderung der Ent- 
wickelung meteorologischer Forschung überhaupt so schr zum Gemeingut geworden ist, 
dafs es nicht notwendig erscheinen kann, an der Hand historischer Darlegung den Gang 
der Entwickelung dieses Zweiges der Forschung in Deutschland, und dadurch gewisser- 
mafsen deren Notwendigkeit zu erweisen. Dagegen dürfte es zweckmäfsig erscheinen, 
hier in Kürze hervorzuheben, wie der Erfolg, das segensreiche Wirken der Einrichtung 
einer maritim-meteorologischen Zentralstelle in erster Linie davon abhängt, dafs das 
Prinzip der Wechselwirkung zwischen Forschung und Ausbreitung der Resultate derselben. 
das der Leistung und Gegenleistung, wovon wir schon gesprochen haben, strenge durch- 
geführt werde und auf gesunder Basis beruhe. Wenn einerseits durch die Zentralstellen 
der maritimen Meteorologie die Arbeit der meteorologischen Beobachtungen und deren 
Sammeln in systematischer Weise durchgeführt werden, so ist andererscits darauf Bedacht 
zu nehmen, dafs die sofortige Verwertung des gewonnenen Materiales im Interesse der 
Sicherheit und der Schnelligkeit des Weltverkehrs zur See durchgeführt werde. Nur in 
der Wahrung dieses Grundsatzes liegt die Bürgschaft für den Bestand eines Systemes 
der maritim-meteorologischen Forschung. Unzweifelhaft ist es für den Seemann in der 
Ausübung seines Berufes geradezu unentbehrlich, dafs er Wind-, Wetter- und Meeres- 
strömungen zum Gegenstande seiner Beobachtung mache; allein von diesem Stadium der 
Anwendung einer Wissenschaft in der Praxis bis zur Förderung derselben durch, nach 
einem festen Plane eingerichtete Beobachtungen besteht noch ein wesentlicher Unter- 
schied. Es dürfte schwer fallen, eine Analogie aus einem anderen Wirkungs- und 
Forschungskreise nachzuweisen, welcher die selbstlose Arbeit der durch praktische See- 
leute ausgeübten meteorologischen Beobachtung an die Seite gestellt werden könnte. Wir 
werden im Verlaufe dieser unserer Ausführungen erkennen, welche geradezu erstaun- 
liche Arbeit durch die mit der Scewarte in Verbindung stehenden und ihr meteorologisches 
Journal führenden Seeleute gelcistet wird. Diese Arbeit einzuleiten und zu überwachen, 
die Beobachtungen selbst zu sammeln und daraus für die Praxis verwertbare Schlüsse 
zu ziehen, ist die schöne Aufgabe der I. Abteilung der Deutschen Scewarte. 

Dem Einsichtsvollen und Vorurteilsfreien ist es längst klar, dafs eine gediegene 
Ausübung der Navigirung eines Schiffes zu einem guten Teile von der Tüchtigkeit der 
dabei zu verwendenden Instrumente abhängt; auch hat man in Staatsmarinen, wie dies 
schon hervorgehoben wurde, — die Bedeutung dieses Grundsatzes erkennend — längst 
schon dafür Sorge getragen, Einrichtungen zu treffen, welche dazu dienen konnten, die 
Instrumente für Navigierung eines Schiffes zu prüfen oder zu adjustieren. Dasjenige der 


*) Aus dem Archiv der Deutschen Sceewarte Jahrg. I, No. 1. 


Dr. G. NEUMAYER, Die Deutsche Seewarte. 7 


nautischen Instrumente, welches in Gemeinschaft mit dem Kompasse als das wichtigste 
bezeichnet werden kann, der Sextant, der als Repräsentant der Gattung der Reflexions- 
Instrumente gelten mag, bedarf — soll er seine wichtigen Dienste leisten — der strengen 
Kontrolle und Adjustierung. Auf diesem Gebiete vermag ein Institut in wirksamster 
Weise in die Ausübung des immer schwieriger sich gestaltenden Seeverkehres einzugreifen, 
indem es dafür Sorge trägt, dafs der Konstruktion dieser Instrumente alle Beachtung 
zugewendet und die Möglichkeit einer strengeren Adjustierung derselben geboten werde. 
Wenn man mit dem Aufwenden geistiger und materieller Kräfte die Ephemeriden, jene 
wichtigen Hilfsmittel der Navigation, verbessert und die Mondstafeln stets korrigiert und 
praktischer gestaltet, so ist dies seitens der Behörden, die solches veranlassen, weise ge- 
handelt. Was aber vermag alle Genauigkeiten der nautischen Tafeln zu erreichen, 
wenn mit den zur Verfügung stehenden Instrumenten nicht genau gemessen werden kann! 

Es wurde schon — wenn auch nur im vorübergehen — des Kompasses als 
eines der wichtigsten Instrumente der Navigation gedacht. Die Bedeutung, die Zuver- 
lässigkeit desselben, würde aber in unserer Zeit, in welcher der Eisen-Schiffbau solch 
kolossale Dimensionen annimmt, in bedenklicher Weise gefährdet, wenn nicht die Wissen- 
schaft helfend eintreten könnte. Die Gründung der Lehre von der Deviation der Kompasse 
an Bord eisener Schiffe, einer der jüngsten Zweige der angewandten Wissenschaft, wurde zu 
solcher Perfektibilität ausgebildet, dafs der Schiffkompafs heute seinen alten Ruf und alten 
Wert wieder zu behaupten vermag. Allein auch in diesem Falle ist strenge Überwachung 
unerläfslich und darf nur in dem steten Verkehre mit Jenen, welche die Lehre der 
Deviation in Praxis anzuwenden haben, eine Bürgschaft für eine korrekte Behandlung 
der sowohl bei der Konstruktion als in dem Gebrauche gestellten Aufgaben erblickt 
werden. Es fügt sich aber auch in diesem Falle, dafs nur in der Wechselwirkung von 
Forschung und Ausübung ein Heil zu erblicken und ein Fortschritt, eine Weiterent- 
wickelung der in Frage stehenden Wissenschaft zu erzielen ist. Um aber das durch diese 
Ausführungen bezeichnete Ziel erreichen zu können, bedarf es der systematischen Regi- 
strierung der auf See über die Deviation gemachten Beobachtungen, was andererseits 
wieder ein vorzügliches Material für die Forschung liefert; wir meinen hier das regel- 
mäfsige Führen eines Deviations-Journales und die stete Prüfung und Diskussion der in 
demselben niedergelegten Beobachtungen, sei es zu Zwecken theoretischer Untersuchung 
oder der praktischen Verwertung der Resultate einer solchen. 

Für die Zwecke der meteorologischen Beobachtungen, sowohl für jene am Lande, wie 
für jene auf See, sind Barometer und Thermometer zu konstruieren, adjustieren und zu prüfen, 
wenn die mittels derselben gewonnenen Resultate brauchbar, d. h. dem gegenwärtigen 
Stand der Wissenschaft genügen sollen. Der II. Abteilung der Deutschen Seewarte liegt 
es ob, sowohl hierfür, als auch für die Prüfung der nautisch astronomischen Instrumente und 
eine strenge Anwendung der Lehre vom Magnetismus in der Navigation Sorge zu tragen. 

Auch der Beobachtung der magnetischen Elemente — soferne dieselben einen 
Einflufs auf die Anwendung dieser Lehre haben — ist seitens dieser Abteilung Sorgfalt 
zu widmen, während die erdmagnetische Forschung im strengeren Sinne nicht zu ihren 


8 Dr. G. NEUMAYER, Die Deutsche Secwarte. 


Aufgaben gerechnet werden kann, sondern Instituten mit dafür besonders geeigneter 
Organisation, Zrdmagnetischen Observatorien, überlassen bleiben mufs. 

Das Sturmwarnungswesen und die küstenmeteorologische Forschung bedarf zur 
Sicherheit der Schifffahrt und des Fischerei-Gewerbes ın jedem zivilisierten Lande sorg- 
fältigster Pflege. Dafs eine solche Pflege nur auf Grundlage wissenschaftlicher Bearbeitung 
eines ausgedehnten, alltäglich ein oder mehrere Male in der Zentralstelle einlaufenden 
meteorologischen Beobachtungs-Materials in gedeihlicher Weise ausgeübt werden kann, 
bedarf heut zu Tage einer eingehenden Begründung nicht weiter. Minder bekannt, oder 
zum wenigsten beachtet, ist die Thatsache, dafs das Sturmwarnungswesen nur alsdann mit 
Erfolg zu wirken vermag, wenn das Gebiet, auf welchem metcorologisches Beobachtungs- 
Material zu beziehen ist, möglichst weit nach Westen hin ausgedehnt liegt und dafs, da 
wir in Deutschland in dieser Hinsicht nicht sehr günstig situirt uns befinden, die Aufgaben 
des Sturmwarnungswesens in ihrer Lösung mit ganz besonderen Schwierigkeiten umgeben 
sind. Diese zu überwinden und die Nachteile möglichst unschädlich zu machen, ist 
das Forschungs-Gebiet durch die maritim - meteorologische Arbeit weit über den Ozean 
hin auszudehnen und durch nachträgliche Studien der Ergebnisse daraus thunlichst 
zu vervollkommnen. Unter solchen Erwägungen konnte die Verbindung beider For- 
. schungs-Richtungen in einem Institute nur als die richtige Mafsnahme erscheinen, und so 
geschah es, dafs die Deutsche Seewarte in zArer JI. Abteilung als Zentralstelle Jier 
das Sturmwarnungswesen zu wirken berufen ist. 

Eine Anzahl meteorologischer Stationen längs der Küste ist errichtet worden, um 
die Studien meteorologischer Vorgänge an der deutschen Küste mit Aussicht auf Erfol: 
pflegen und dem Sturmwarnungswesen als Stütze dienen zu können; eine grofse Anzahl von 
Signalstellen bedecken überdies von Memel bis Borkum die deutsche Küste und vermitteln 
die Sturm-Prognosen der Seewarte der Schifffahrt und Fischfang treibenden Bevölkerung. 

In den letzten 5 oder 6 Dezennien hat das Schiffs-Chronometer erheblich an Be- 
deutung gewonnen; grofse Sorgfalt wurde denn auch in allen Schiffahrt treibenden Staaten 
dem Industriezweige der Chronometer-Fabrikation gewidmet. Es entstanden im Laufe 
der Zeit, durch den Vorgang in England angeregt, Chronometer-Institute, deren Aufgabe 
es ist, die Schiffs-Chronometer strengstens zu prüfen und durch dieselbe die Chronometer- 
Fabrikation quantitativ und qualitativ zu heben. Auch mit der Deutschen Seewarte 
wurde ein Chronometer-Institut verbunden, welches auf die, vom Hamburger Staate 
unterhaltene Sternwarte gestützt, sich lediglich mit der Chronometer-Frage zu befassen 
hat. Dafs auch in diesem Falle nur durch gewissenhaftes Kontrollieren der auf See ge- 
wonnenen Beobachtungs -Resultate Erspriefsliches geleistet werden kann, bedarf wohl keiner 
weiteren Begründung; das Führen eines Chronometer-Journales und das Diskutieren der 
darin niedergelegten Beobachtungen ist von diesem Gesichtspunkte betrachtet auch von der 
Direktion der Seewarte als die wesentlichste Bedingung tür den Erfolg in dem Bestreben, 
durch wissenschaftliche Untersuchungen die Chronometerfrage zu fördern, angesehen worden. 

Wenn in den vorstehenden Ausführungen durchweg der Gedanke betont wurde, 
dafs auf den in Rede stehenden Gebieten der Anwendung theoretischer Forschung auf 





Bl 





Dr. G. NEUMAYER, Die Deutsche Seewarte. O 


die Praxis des Weltverkehrs zur Sce, dem Prinzipe der Leistung und Gegenleistung ein 
besonderer Wert beigelegt werden müsse und das Augenmerk der Direktion der See- 
warte auch vom Beginn an darauf gerichtet war, diesem Gedanken Rechnung zu tragen, 
so konnte man sich nicht verhehlen, dafs der Erfolg zu einem guten Teil abhängig sein 
müfste von der wissenschaftlichen und technischen Einsicht derer, welche den Beruf 
haben, in der Praxis der Navigierung zu wirken, d. h. also der Schiffsführer und Steuer- 
leute. Bei der Schwierigkeit der hier in Rede stehenden Fächer, namentlich jenes der 
Deviationslehre, mufste darauf Bedacht genommen werden, die Durchbildung der jungen 
Seeleute in möglichst gediegener Wcise zu erzielen. Die Navigationsschulen haben hierzu 
allerdings in erster Linie den Beruf und sind demselben auch mit Gewissenhaftigkeit nach 
dem Mafse der ihnen zur Verfügung stehenden Kräfte nachgekommen. Um aber in 
wirksamerer Weise in dieser Richtung vorgehen zu können, so erschien es zweckmäfsig, 
den zu Lehrern an Navigationsschulen Berufenen an der Seewarte selbst Gelegenheit zu 
geben, ihre Ausbildung zu vervollständigen, und zwar stets unter Benutzung der neuesten, 
auf den in Rede stehenden Gebieten gemachten Erfahrungen. Solches konnte mit Erfolg 
nur durchgeführt werden in Verbindung mit den Einrichtungen der Seewarte, weil dieses 
Institut stets mit der Praxis und den Bestrebungen zur Weiterforschung in enger Be- 
rührung steht. Von Erwägungen dieser Art geleitet, wurde die Direktion dieses Instituts 
auf Anregung der Technischen Kommission für Seeschiffahrt beauftragt, einen Lehrkursus 
einzurichten, welcher in gewissem Sinne als Seminar fur die Aspiranten der Navigations- 
lehrer zu wirken berufen ist. Dieser Lehrkursus trat im Jahre 1882 ins Leben und um- 
fafste seither in jedem Jahre die Zeit vom 1. April bis 30. September, während welcher 
die Teilnehmer Vorträge zu hören, sich im Rechnen und Beobachten zu üben hatten. 

Ehe diese einleitenden Bemerkungen abgeschlossen werden, sind noch einige 
Bemerkungen über zwei der wesentlichsten Zweige des Instituts, jene der meteoro- 
logischen und der erdmagnetischen Forschung am Platze, und zwar ist es wünschens- 
wert, den Stand derselben in Deutschland vor dem Inslebentreten der Seewarte etwas 
näher zu präzisieren. | 

Wir dürfen hier als bekannt voraussetzen, dafs in Deutschland die neueren 
I.chren der meteorologischen Forschung erst in einer vergleichsweise späten Zeit Wurzel 
fafsten und können wohl die Gründe, welchen die Verzögerung der Aufnahme jener 
Lehren zugeschrieben werden mufs, ohne weiteren Kommentar an dieser Stelle übergehen. 
Nur wenige Daten mögen dazu dienen, den Übergang von der alten zur neuen Lehre 
zu beleuchten. In unserem Vaterlande wurde die neuere Richtung in den 6oer Jahren 
nur von einem einzigen Meteorologen vertreten, nämlich von Dr. Prestel in Emden, 
welcher sich derselben einige Jahre, nachdem der Umschwung in Westeuropa sich voll- 
zogen hatte, mit Eifer zuwandte und in einer Reihe von Aufsätzen *) im Laufe der Jahre 


+ Namentlich: Weser-Zeitung vom 8. Dezember 1867, Kleine Schriften der Naturforschenden Gesell- 
schaft in Emden XIV, Österr. Zeitschr. für Meteorologie. 1871, Seite 337 und »Der Siurmwarner und Wetter- 
Anzeigere, Emden und Aurich, 1870. 


Io Dr. G. NEUMAYER, Die Deutsche Seewarte, 


1867— 71 gesucht hat, das deutsche Publikum mit den neuen Anschauungen bekannt zu 
machen; die räumliche Nachbarschaft und persönliche Bekanntschaft mit Duys- Dallot 
hat hieran gewifs cinen wesentlichen Anteil, obwohl Z’resze?/ in diesen Aufsätzen uber- 
haupt nur schr selten Namen nennt und auf die Entstehung der von ihm vorgetragenen 


Sätze wenig eingeht. Der Erfolg war — gegenüber der fast erdrückenden Autorität 
Doves — vorläufig nur gering, obwohl manche der Schriften Prestes die neueren Lehren 


in klarer und der Hauptsache nach in, mit der gegenwärtigen Auffassung überein- 
stimmender Darlegung vortrusen; so besonders jene »das Geseis der Winde, abgeleitet 
aus dem Auftreten derselben über Nordwest-Furopas, welche in den kleinen Schriften der 
Naturforsch. Gesellschaft in Emden, allerdings erst 1869, erschien, welche von einer 
Isobarenkarte für den 2. Dezember begleitet ist und mit feiner Wendung als Motto 
Worte von Dove trägt: »In der Naturwissenschaft soll nicht geträumt werden, was sein 
könnte, sondern gefunden werden, was ist.« 

Seit dem Jahre 1866 hatten aber die deutschredenden Meteorologen ein Zentral- 
Organ in der Zeitschrift der Österreichischen Gesellschaft für Meteorologie erhalten, 
welches in 2ojähriger Wirksamkeit von segensreichstem Einflusse auf die Entwickclung 
unserer Wissenschaft und insbesondere ihr Gedeihen in Deutschland gewesen ist. Im 
HI. und IV. Bande dieser Zeitschrift hat Jelinek deren Leser mit den neueren Anschau- 
ungen über Druckverteilung und Wind bekannt gemacht, indem er zuerst (1868) den 
grofsen Aufsatz von Duys-Ballot über das Aäroklinoskop und im folgenden Jahre die 
Untersuchungen von Sievensen und von Scott über den Zusammenhang zwischen Stürmen 
und barometrischen Gradienten übersetzte. Andere Zweige von dem, was man heute 
als dynamische Meteorologie, nach englischem Vorgange, zu bezeichnen sich gewöhnt 
hat, finden sich schon in den ersten beiden Bänden der Zeitschrift behandelt und ge- 
fördert, so namentlich durch Abhandlungen von ann und Mühry, die Fragen über den 
Föhn, die Umkehrung der vertikalen Temperatur-Verteilung und über die meteorologischen 
Vorgänge beim Gewitter zum Gegenstand hatten. Die Behandlung dieser Fragen ist — 
namentlich durch die Einführung der mechanischen Wärme-Theorie und der Rücksicht- 
nahme auf die ceigenartigen Folgen vertikaler Bewegung der Atmosphäre in meteoro- 
logischen Untersuchungen von nachhaltigem Jinflusse auf die ganze Entwickelung der 
Wissenschaft gewesen. 

Die Bewegung in der Meteorologie, welche in Westeuropa in den Jahren 1860 
bis 1864 sich entwickelte, übte somit erst viel später eine Einwirkung auf die deutschen 
Gelehrtenkreise aus; intensiver wurde diese Wirkung erst, als mit dem Schlusse der 
60er Jahre auch von Skandinavien her der Ausbau der neuen Vorstellungen durch Erfah- 
rung und Theorie in Angriff genommen wurde. Das norwegische Meteorologische 
Institut wurde 1867, das dänische 1872, das schwedische 1873 organisiert. In der Reihe 
von Studien, welche von dort her in den folgenden Jahren bekannt wurden, steht 
Mohns 1870 erschienener Storm-Atlas obenan. Zwei Jahre später veröffentlichte der- 
selbe einen kleinen populären Grundrifs der Meteorologie unter dem Titel »Om Vind 
og Vejr«.. Der Atlas wurde den deutschen Gelchrten teils durch einen ausreichenden 


Dr. G. NEUMAYER, Die Deutsche Seewarte., II 


Auszug von diskuticrendem Text in der Zeitschrift der Österreich. Gesellsch. f. Meteo- 
rologie 1871 bekannt. 

Während sich die Meteorologen des Auslandes emsig bemühten, die neueren Lehren 
zu pflegen und auszubreiten, wurde in Deutschland des Altmeister Doves » Gesetz der Stürme« 
in 4. Auflage herausgegeben. Die darin niedergelegten, zur Genüge bekannten meteoro- 
logischen Dogmen beherrschten überall da, wo in Deutschland Meteorologie gelehrt wurde, 
den Unterricht und für die Forschung selbst waren dieselben fast durchweg mafsgebend: 
Zwar hatte Dr. Neumayer sich im Laufe des Winters 1871—72 in Vorträgen, abge- 
halten in der Gesellschaft für Erdkunde in Berlin und in Hamburg, bemüht, der neueren 
Richtung in der meteorologischen Arbeit die Wege zu bahnen, allein von entscheidender 
Wirkung erwiesen sich erst die Verhandlungen auf der Meteorologen - Konferenz in 
Leipzig (1872), bei welcher Gelegenheit auf den Antrag Dr. Neumayers die Anwendung 
der neueren Grundsätze der Meteorologie auf das Sturmwarnungswesen einer eingehenden 
Prüfung unterworfen wurden. Der auf Grund der im Laufe des Jahres 1873 angestellten 
Erhebungen dem Meteorologen-Kongresse in Wien erstattete Bericht sprach sich in 
günstiger Weise über diese Anwendung aus und ebnete der Einführung der neueren 
Lehren den Weg*). Im April des Jahres 1873 hatte bereits auf Veranlassung des Reichs- 
amtes des Innern in Berlin eine Kommission getagt, welcher die Aufgabe gestellt worden 
war, auf Grundlage der neueren Meteorologie einen Plan für die Einführnng des Sturm- 
warnungswesens in Deutschland zu entwerfen. Diese Kommissions-Sitzungen waren inso- 
fern noch von ganz besonderem Interesse, als der Vorsitzende, der Geheime Regierungs- 
rat Professor Dove, hier — vielleicht zum letzten Male — mit allem Nachdrucke seine 
Ansichten über das Wesen und die physikalische Erscheinung der Stürme verfochten hat 
und namentlich den Sturm vom 12. und 13. November 1872, der in der Ostsee solch 
grofse Verwüstungen angerichtet hatte, als Beweis für seine Theorien ins Feld führte. 
Bewunderungswert war der Fleifs, mit welchem die meteorologischen Thatsachen dicses 
denkwürdigen Phänomens von Dove kartographisch niedergelegt worden waren, aber fast 
in demselben Mafse erdrückend die Argumente, welche aus diesen Darstellungen gegen 
die Doveschen Ansichten zeugten. 

Es wurde der Verdienste Prestels um die Einführung der neuen Lehre bereits 
gedacht; zur Ergänzung dessen ist noch hervorzuheben, dafs seitens der hannöverschen 
Regierung unter /resie/s wissenschaftlicher Leitung der Versuch der Einrichtung eincs 
Sturmwarnungswesens an der nordwestlichen Küste Deutschlands gemacht wurde. Auch 
Dove hatte an den Küsten der Ostsee ein Sturmwarnungs-System eingerichtet, das aber 
— ebenso wie das hannöversche — von besonderen Erfolgen nicht zu berichten hatte. 
Die grofse Schwierigkeit, die sich der Durchführung einer solchen Organisation in 
damaliger Zeit entgegenstellen mufste, bestand in der mangelhaften telegraphischen Ver- 
bindung mit dem Auslande und der Zerrissenheit der politischen Organisation Deutsch- 
lands im Innern, 


*) Siehe Hydrograph. Mitteilungen, Jahrgang 1874, No. 17. 


12 Dr. G. NEUMAYER, Die Deutsche Scewarte. 


Der erste Meteorologen-Kongrefs, welcher in Wien im September 1873 ab- 
gehalten wurde, war, wie für die metcorologische Forschung im allgemeinen, so auch 
im besonderen für die Organisation der meteorologischen Arbeit in Deutschland von 
höchster Wichtigkeit. Deutschland war auf diesem Kongresse durch eine Anzahl her- 
vorragender Männer der Wissenschaft vertreten und es war namentlich der kräftigen 
Anregung der skandinavischen Meteorologen zu verdanken, dafs man in Deutschland sich 
von nun ab lebhaft für die neuere Richtung der Meteorologie interessierte. Wir haben 
schon von dem Einflusse gesprochen, welchen die Arbeiten ‚/o/rrs ausübten, allein es 
mufs hier hervorgehoben werden, dafs unter den fremdländischen Gelehrten den tief- 
greifendsten Einflufs der unvergefsliche /Zofmeyer ausübte. Die von ihm ausgearbeiteten 
und in Wien damals vorgelegten synoptischen Studien fesselten durch das Originelle der 
Auffassung, durch die Gewissenhaftigkeit der Durchführung und durch den edlen Eifer, 
mit welchem die bereits gewonnenen Ergebnisse erläutert wurden, die Aufmerksamkeit 
aller, die sich um die Förderung meteorologischer Forschung interessierten. Unter diesem 
Eindrucke reifte bei den deutschen Delegierten der feste Entschlufs, in der Heimat für 
die neue Richtung eintreten zu wollen. Dieser Entschlufs nahm in einer Anzahl von 
Anträgen, welche hinsichtlich der Organisation der Meteorologie in Deutschland auf 
neuer Grundlage an die deutsche Reichsregierung gestellt wurden, eine feste Gestalt an, 
allerdings zunächst ohne jeden Erfolg. 

Der Aırfbahnung eines Umschwunges zu gunsten der neueren Richtung der 
meteorologischen Forschung war der Umstand besonders günstig, dafs auf Veranlassung 
Dr. Neumayers das oben schon erwähnte kleine Werk von John »Om Vind og Vejr: 
in's Deutsche übertragen worden ist. Mit einem Vorworte \ezomayers erschien i. J. 1874 
eine von .„Yohn selbst bearbeitete deutsche Original-Auswabe dieses Werkchens unter dem 
Titel: »Grundzüge der Meteorologie«. Die linführung dieses vortrefflichen, populär ge- 
haltenen Werkes in alle Kreise, die sich für Meteorologie interessierten, und selbst in 
die‘ Navigationschulen, war sehr bald vollzogen und nach kurzer Zeit hatte dasselbe den 
Boden für die neuere Meteorologie erobert. Es darf nicht unerwähnt bleiben, dafs das 
vortreffliche Werk von Professor Repe über Wirbelsturme, Ternados und Wettersäulen, *) 
welches Anfang der 70er Jahre erschienen ist, ganz wesentlich dazu beigetragen hatte, 
den unbedingten Glauben an das Gewirr der Hypothesen vergangener Zeiten zu er- 
schüttern und den wissenschaftlichen Geschmack für metcorologische Untersuchungen 
auf neuer Grundlage zu steigern und namentlich das Verständnis für die Notwendigkeit 
fortschreitender Entwickelung unserer Wissenschaft in Deutschland anzubahnen. So 
erheblich war die Anregung durch dieses Werk, dafs 1380 eine zweite unveränderte Auf- 
lage davon verlegt werden konnte, obwohl es inzwischen durch die nun rasch sich folgen- 
den weiteren Untersuchungen auf dem neu erschlossenen Gebiete als veraltet gelten konnte. 

Es ist nicht wohl möglich, die Bedeutung der Gründung der Deutschen See- 
warte im vollen Umfange zu würdigen, ohne vorher einen Blick auf die Entwickelung 


*) Ilannover 1872. 


Dr. G. NEUMAYER, Die Deutsche Scewarte. I3 


zwcier Zweige der physikalischen Wissenschaft geworfen zu haben während der Zeit, 
welche dieser Gründung unmittelbar vorher geht. Wir meinen hier jenen Zweig meteoro- 
logischer Arbeit, den man unter der Bezeichnung: »Nautische oder maritime Meteorologie « 
zusammenzufassen pflegt und die Lehre vom Magnetismus der Erde, vorzugsweise in 
ihrer Anwendung auf die Navigation. 

In dem I. Jahres-Bericht der Deutschen Seewarte (Aus dem Archiv der Deutschen 
Seewarte I. Jahrgang 1878. No. 1.) wurde ein kurzer historischer Überblick über die 
Pflege der maritimen Meteorologie in Deutschland gegeben. Wir können um so mehr 
uns auf das dort Gesagte beziehen, als in den einzelnen Jahres-Berichten, die jenem ersten 
folgten, keine Gelegenheit verabsäumt wurde, die Entwickelung und den jeweiligen Stand 
unserer Wissenschaft darzulegen, Es kann daher hier genügen, daran zu erinnern, dafs 
mit dem Beginn d. J. 1868 durch Herrn W. v. Z'recden ein Institut ins Leben gerufen 
wurde, welches mit Rücksicht auf die maritim-meteorologische Arbeit als eine Vor- 
läuferin der heutigen Deutschen Seewarte auzusehen ist. Aber auch in diesem Falle war 
die internationale Anregung durch die im September 1874 in London abgehaltene maritime 
Konferenz von entscheidener Bedeutung und am I. Januar des darauf folgenden Jahres 
trat die neue Zentralstelle für maritim-metcorologische Forschung. in Deutschland, die 
Deutsche Seewarte in Hamburg, ins Leben. 

In gleichem Schritt mit der Umwandlung theoretisch-meteorologischer Anschauungen 
mufste sich auch die Pflege und die Anwendung der maritimen Meteorologie umgestalten: 
auch in diesem Zweige mufste die synoptische Arbeit einen tiefgreifenden Einflufs äufsern. 
Sollte Erspriefsliches geleistet werden, so mufste an die Stelle der Folgerung aus statistischen 
Zusammenstellungen über Wind und Wetter das Bestreben treten, aus der Analyse gleich- 
zeitiger Witterungs-Erscheinungen die Anwendung der Erkenntnis über die jeweilige 
Wetterlage in der Praxis zu ermöglichen, eine Anleitung für das Verständnis der hierdurch 
dem praktischen Meteorologen gestellten schwierigen Aufgabe zu geben. Was man 
gcewissermafsen in den Tagen der ersten Entwickelung maritim-meteorologischer Begriffe 
auf dem vergleichsweise beschränkten Gebiete, welches Wirbelstürme einzunehmen pflegen, 
übte, um die Gefahren derselben zu vermindern oder zu vermeiden, sollte nunmehr — 
allerdings in nicht unwesentlich veränderter Form — seine Anwendung finden, in Bezug 
auf die ungeheuren Gebiete des Ozeans, über welchen die Strömungen der Atmosphäre 
sich ausbreiten, womit der Navigateur zu rechnen hat. Die Gewinnung eines möglichst 
klaren Einblickes in das Wesen der jeweiligen Wetterlage an der Hand einer synoptischen 
Betrachtung war die Aufgabe, um deren Lösung es sich bei vorkommenden Schwierig- 
keiten handelte. Es ist ein gewaltiger Umschwung, der sich zwischen den Anschauungen 
früherer Zeit und denen der Gegenwart zu vollziehen hatte, wenn die Gegenleistung 
theoretischer Arbeit für die grofse Arbeitssumme, welche die praktischen Seeleute durch 
ihre Beobachtungen über alle Meere gewährten, nur einigermafsen aufgewogen werden 
sollte. Obgleich noch immer weit davon entfernt, das vorgesteckte Ziel erreicht zu haben, 
vermag man heute zum mindesten so viel zu sagen, dafs auch auf diesem Gebiete die 
neuere Richtung der Meteorologie sich bewährt hat und der endliche Erfolg unter unbeirrtem 


14 Dr. G. NEUMAYER, Die Deutsche Seewarte. 


Fortschreiten auf den betretenen Wegen errungen werden mufs. Wir werden im Verku 
der weiteren Ausführung auf die Einzelheiten des bereits Erzielten zurückzukommen haber. 

Es ist wohl nicht nötig daran zu erinnern, wie es deutscher Wissenschaft z. 
verdanken ist, dafs in die erdmagnetische Forschung eine strenge wissenschaftlich 
Grundlage hineingetragen wurde. Die unvergänglichen Arbeiten auf diesem Gebiet: 
eines Gauss und Lamont werden für alle Zeit als jene Grundlage anzusehen sein. Wer: 
nun auch anerkannt werden mufs, dafs durch die Veröffentlichungen erdmagnetisch:: 
Karten und Atlanten vieles dazu beigetragen wurde, was auch der Anwendung dies: 
Wissenschaft in der Praxis förderlich sein konnte, so blieb das eigentliche Feld der Ar 
wendung der Lehre vom Magnetismus in der Navigation, die Behandlung der Deviatic: 
der Kompasse an Bord eiserner Schiffe, in Deutschland nahezu unbebaut. Wenn w 
abschen von den Übertragungen ins Deutsche und der teilweisen Kommentierung eng 
lischer Arbeiten auf diesem Gebiete durch Dr. Schaub, so sind es nur einige Bearbeitunge: 
von zweifelhaftem Werte, die dem deutschen Seemanne zur Behandlung der wichtiger 
Frage der Deviation in die Hände gegeben werden konnten. Dafs unter diesen Um 
ständen an eine strenge Behandlung der sich bei dieser Materie darstellenden Schwierz 
keiten nicht zu denken war, liegt auf der Hand. Aber nicht nur, dafs von einer syste 
matischen Untersuchung eiserner Schifte und des Verhaltens der Kompasse an Bord der 
selben in Deutschland nicht die Rede sein konnte, hatte man auch in deutschen Hite: 
nicht einmal die nötigen Einrichtungen getroffen, um diese Untersuchungen vornehme 
zu können. Die Anzahl eiserner Schiffe war, wenn man absicht von den damals noc 
in geringer Zahl vorhandenen Dampfern, in deutschen Häfen zur Zeit, die unmittelbi 
der Gründung der Seewarte vorherging, noch eine beschränkte und deshalb die Ger? 
einer Vernachlässigung dieser Branche des nautischen Wissens minder eminent, als i 
unseren Tagen. Immerhin erachtete es die Reichsregierung, als sie die Errichtung eme 
Institutes von der wissenschaftlichen und praktischen Tragweite der Seewarte ins Aug 
fafste, als eine der ersten Aufgaben dieses Institutes, die systematische Behandlung de 
Deviationslehre innerhalb der deutschen Kauffahrtei-Marine in Angriff zu nehmen. W 
müssen ihr darum den ernstlichsten Dank wissen, denn nur derjenige, dem überhavf: 
der Zustand unseres Wissens nach dieser Richtung vor der Zeit der Gründung de 
Deutschen Seewarte nicht genau bekannt ist, wer den ganz aufserordentlichen Fortschr: 
seit jener Zeit nicht beobachten konnte oder nicht beobachten wollte, kann der neue: 
Reichs-Institution die Anerkennung versagen, dafs sie gerade auf diesem Gebiete währen. 
ihres 1ı2Jährigen Wirkens hervorragende Erfolge zu verzeichnen hat. Vergegenwartiz: 
man sich nur einen Augenblick den einstigen Zustand der Kompafs-Konstruktion! Gav: 
auf die Fortschritte Englands nach dieser Richtung angewiesen, blieb die deutsch 
Industrie nicht nur im Schlepptau jener, sondern gab es überhaupt eine irgendwie & | 
klarer Einsicht beruhende Kompafs-Konstruktion zu jener Zeit in Deutschland nicht. F- 
mag dies auf den ersten Blick als ein Urteil von besonderer Härte erscheinen, allein © 
wäre ein Leichtes, würde sich solches an dieser Stelle geziemen, den Nachweis fü 
dessen Richtigkeit zu erbringen. Im Jahre 1872—73 ging das hydrographische Bureai 





Dr. G. NEUMAYER, Die Deutsche Seewarte, 15 


der Kaiserlichen Admiralität in Berlin zuerst nach dieser Richtung mit Nachdruck und 
Erfolg vor. Die Arbeiten auf dem Kompafsgebiete von C. Bamberg in Berlin müssen 
unbedingt als diejenigen bezeichnet werden, welche diesseits des Kanals bahnbrechend 
gewirkt haben. 

Das Jahr 1875 und 1876 brachte uns die neuen Konstruktionen von Kompassen 
für Marinezwecke des englischen Physikers Sir William Thomson. Was auch immer 
von der Anwendbarkeit in der Praxis dieser Kompasse gesagt werden mag, so ist es 
unzweifelhaft, dafs der ausgezeichnete Physiker zuerst und mit voller Beherrschung des 
Gegenstandes die Relationen zwischen Trägheitsmoment und magnetischem Moment der 
Rose von solchen Gesichtspunkten definierte, dafs daraus ein Nutzen für den Gebrauch 
des, grofsen Schwankungen stets unterworfenen Schiffskoınpasses gezogen werden konnte. 
Ruhe der Rose unter steter Schwankung des Kompasses und grofse Fähigkeit, sich stets 
wieder genau einzustellen, sind scheinbar widerstreitende Anforderungen und erheischt es 
Tüchtigkeit der Technik, die Ausgleichung dieser Widersprüche herbeizuführen. Dic 
Thatsache, dafs dies durch den Kompafs des Sr William Thomson nicht vollständig 
erreicht werden konnte, wenn man namentlich die Funktions- und Existenz-Bedingungen 
dieser Apparate an Bord von Schiffen neuer Konstruktion und Bewegungs-Qualität ins 
Auge fafste, veranlafste die Seewarte von vornherein, der Konstruktion von Schwimm- 
oder Fluid-Kompassen eine ganz besondere Aufmerksamkeit zuzuwend«n. Hier galt es je- 
doch, grofse Schwierigkeiten zu überwinden, was nur durch wissenschaftliche Raterteilung 
an der Hand der Erfahrung zu erreichen war; die Verdienste der Deutschen Seewarte 
mit Beziehung auf diesen Punkt können von Einsichtsvollen kaum unterschätzt werden. 

Aber auch in Hinsicht auf die für die Behandlung der Deviation an Bord eiserner 
Schiffe erforderlichen Angaben der jeweiligen Werte der magnetischen Elemente an unserer 
Küste wurde seitens der Kaiserlichen Admiralität und späterhin durch die Deutsche 
Seewarte alles Erforderliche bestimmt. Schon im Oktober 1872 und Frühjahr 1873 *) 
wurde an der nordwestdeutschen Küste eine Reihe, sämtliche magnetische Elemente um- 
fassender Beobachtungen ausgeführt, während die Direktion der Seewarte es den ihr 
unterstellten Agenturen zur Pflicht machte, zum mindesten die magnetische Deklination 
und Inklination zu öfteren Malen im Laufe des Jahres zu beobachten. So wurden unter 
andern in Memel, Neufahrwasser, Swinemünde, Rostock, Barth, Lübeck, Flensburg, Ham- 
burg und Wilhelmshaven in den meisten Fällen allmonatlich magnetische Beobachtungen 
ausgeführt. Dabei ist zu erwähnen, dafs systematische Beobachtungen, sofern man dar- 
unter stündliche Beobachtungen und, was mit denselben in Verbindung steht, begreift, 
von vornherein nicht in den Arbeitsplan eingeschlossen wurden. Arbeiten dieser Art 
müssen besonders dafur eingerichteten Observatorien zugewiesen werden, wie dies auch 
in Beziehung auf Wilhelmshaven geschehen ist. Noch weniger konnte es die Aufgabe 
eines Institutes von so eminent nautischem Charakter, wie die Seewarte, sein, sich mit 
der magnetischen Landesaufnahme Deutschlands oder eines Teiles desselben zu befassen. 





*) Siehe Hydrographische Mitteilungen 1873 u. 1874. 


16 Dr. G. NEUMAYER, Die Deutsche Seewarte. 


Der Aufgaben, welche der Scewarte bei ihrer Gründung zugeteilt wurden, waren an und 
für sich zu viele und mufste, sollte der Erfolg in wesentlichen Dingen nicht gefährdet 
werden, eine weise Beschränkung in der Bearbeitung rein wissenschaftlicher Frager 
auferlegt werden. 

Es kann diese Betrachtung derjenigen Disziplinen der Wissenschaft, welche einen we: 
sentlichen Teil des Arbeitsgebietes des neuen Institutes ausmachten, nicht abgeschlossen wer- 
den, ohne des Umstandes zu gedenken, dafs in dem Norden des deutschen Reiches zur Zeit 
weder eine Organisation für die Förderung metcorologischen, noch eire solche für die 
Förderung der erdmagnetischen Wissenschaften bestand, und dennoch war es für den 
Erfolg unerläfslich, dafs an solche Institutionen angeknüpft werden konnte. Die Seewarte. 
zugleich als Repräsentantin und Schule für die neuere Richtung der Meteorologie in 
Deutschland, war denn auch bestrebt, teils die Arbeit der Organisation solcher Ein- 
richtungen selbst in die Hand zu nehmen, teils auch die Anregung zu solchen zu geben 
und grewissermafsen als Stütz- und Krystallisationspunkt, um welche sich die Neubildungen 
auf diesem Gebiete gruppieren konnten, zu dienen. Dafs durch diese Verhältnisse und 
Pflichten das junge Institut in den ersten Jahren vielfach von der ihm vermöge seines 
ganzen Charakters angewiesenen Bahn abgelenkt werden mufste, liegt auf der Hand; 
jedenfalls mufs ihm aber gerade um deswillen die vollste Anerkennung für die Opfer- 
bereitheit, mit welcher es den so eben berührten Aufgaben nachkam, gezollt werden. Wir 
werden in dem Nachfolgenden sehen, wie die Deutsche Seewarte — nach Erfüllung der ihr 
durch die obigen Umstände auferlegten Mission — sich nach und nach mehr auf ihr eigenes 
Forschungs- und Wirkungsfeld zurückgezogen und darauf Erfolge errungen hat. 

Die Institution der Deutschen Scewarte bedurfte, wie cs zur Genüge aus den 
über die Gliederung des Institutes gegebenen Darlegungen hervorgeht, der ausübender 
Zweigorgane an der Küste, der Agenturen, der Normal-Beobachtungsstationen und der 
Signalstellen; es wurde schon vorher oben dieser Einrichtungen gedacht. Wenn es ver- 
gleichsweise eine einfache Sache war, sobald der Etat des Reiches die erforderlichen 
Mittel vorgesehen hatte, die Agenturen und Signalstellen einzurichten und mit ent- 
sprechenden Apparaten zu versehen, so mufsten sich andererseits ganz erhebliche 
Schwierigkeiten bei der Einrichtung der Beobachtungsstellen darbieten durch die Be- 
schaffung einer so erheblichen Anzahl neuer und zuverlässiger Instrumente. Die von 
der Admiralität kräftigst unterstützte mechanische Werkstelle von Grezner jr. und Gerssier 
in Berlin war glücklicherweise inzwischen so weit erstarkt, dafs sie die umfassenden 
Aufträge der Deutschen Seewarte während der Jahre 1875 und 1876 gröfstenteils zu er- 
ledigen vermochte. Es wird sich bei der Besprechung der Entwickelung der einzelnen 
Abteilungen Gelegenheit bieten, auf das schrittweise Inslebentreten des Sturmwarnungs- 
wesens mit seinen zahlreichen Beobachtungsstationen und die Organisation der Wetter- 
Telegraphie für das Deutsche Reich zurückzukommen. Nur so viel mag jetzt schon ge- 
sagt werden, dafs die Beobachtungen im Jahre 1876 an sämtlichen Stationen aufgenommen 


*) Im Sinne der neuern Richtung der Meteorologie und des Magnetismus. 


Dr. G. NEUMAYER, Die Deutsche Seewarte. 17 


worden sind und der regelmäfsige Dienst in Verbindung mit dem Sturmwarnungswesen 
im Monate September desselben Jahres eröffnet wurde. 

Durch Kaiserliches Dekret vom 13. Januar 1876 wurde Professor Dr. Neumayer 
zum Direktor der Deutschen Scewarte ernannt; derselbe siedelte am 17. März von Berlin 
nach Hamburg über und übernahm die von ihm bis zu diesem Tage provisorisch geführte 
Leitung definitiv. 

Die Geschichte des Institutes von jenem Tage bis zu dem Ende des Jahres 1886 
zeigt zwar der interessanten Momente eine nicht geringe Zahl, allein im Wesen ist die- 
selbe doch nur zu kennzeichnen als eine Kette von Anordnungen zu Zwecken der Aus- 
bildung der durch die Kaiserliche Verordnung vom 22. Dezember 1875 gegebenen Ge- 
schäfts-Normen und als ein Eintreten in die, ihr durch jene Verordnung vorgezeichneten 
wissenschaftlichen Arbeiten, sowie denn auch die Ausbildung des gesamten Personales 
für die, dem Institute zufallende amtliche Thätigkeit einen nicht unbedeutenden Teil der 
Blätter der Geschichte des Institutes in den ersten Jahren zu füllen vermöchte, wollte 
man sich der Aufgabe unterziehen, dieselbe in das Einzelne gehend darzulegen. In den 
Jahresberichten ist dies überdies auch zur Genüge geschehen und mögen hier jene, die 
sich für die Einzelheiten interessieren, auf die Ausführungen in denselben verwiesen werden. 

Wie es ja wohl in der Natur begründet liegt, konnte die Deutsche Seewarte die 
ersten Jahre ihres Bestehens nicht ganz ohne Kampf und Widerstand zürücklegen, allein 
es ist hier die Stelle, zu konstatieren, dafs der Direktion, von einzelnen isolierten Fällen 
abgesehen, überall im Reiche, an der Küste wie im Binnenlande das gröfste Wohlwollen 
und die freudigste Unterstützung entgegengebracht wurde. Namentlich aber waren es 
die Behörden der gröfseren Seehäfen der deutschen Küste, welche, wenn immer darum 
angegangen, in nachdrücklichster Weise die Bestrebungen der Seewarte unterstützten. 

Begreiflich ist ferner, dafs das Institut der Deutschen Seewarte, welches in dem 
Umfange, den es jetzt hat, ein Vorbild nicht besafs, nicht sofort in allen seinen Teilen 
definitiv und in sich abgeschlossen geschaffen werden konnte; auch wurde im Laufe der 
Zeit der durch die Kaiserliche Verordnung gegebene Geschäftskreis mit Sanktion der 
höchsten Behörden nicht unerheblich erweitert, woraus sich wiederum ergab, dafs die 
Seewarte erst in der letzten Hälfte der Epoche, über welche sich diese Besprechung 
erstreckt, als ein abgeschlossenes Ganzes sich darstellen kann. Erst alsdann und mit 
der Beziehung des neuen Dienstgebäudes nahm das Institut eine definitive Gestaltung an. 

Die wesentlichsten Momente in der Erbauung der »Neuen Seewarte« sind folgende. 
Nachdem Senat und Bürgerschaft der freien und Hansestadt Hamburg in freigiebigster 
Weise den Baugrund durch miethweise Abtretung des Stintfanges an das Reich her- 
gegeben hatten, wurde im Sommer des Jahres 1879 die Einfriedigung des Baugrundes 
vorgenommen, sodann mit der Aufstellung einzelner Apparate begonnen. Am 15. Juni 1880 
war der Bau soweit vorangeschritten, dafs an diesem Tage die feierliche Grundsteinlegung 
erfolgen konnte, und wurde sodann am 14. September 1881 das neue Dienstgebäude 
durch Se. Majestät den Kaiser Wilhelm I., seinem Zwecke übergeben. 

Im Laufe des Jahres 1832 hatte das junge Institut eine Aufgabe zu lösen, welche 


3 


18 Dr. G. NEUMAYER, Die Deutsche Seewarte. 


zwar zu seinem Geschäftskreise nicht gehörte und gehören konnte, wohl aber durch die 
wissenschaftlichen Fragen, um deren Lösung es sich dabei handelte, in mehr oder minder 
enger Beziehung zu demselben stand. Es handelte sich nämlich um die Organisation 
der deutscherseits ins Werk gesctzten Unternehmen zur Unterstützung der internationalen 
Polarforschung. Es kann wohl mit einiger Zuversicht ausgesprochen werden, dafs es 
geradezu unmöglich gewesen sein würde, bei der Kürze der für Ausstattung und für 
Prüfung der Instrumente gelassenen Zeit, ohne ein Institut von der Ausdehnung, den 
räumlichen Verhältnissen und der instrumentellen Ausrüstung, wie es die Deutsche Sec- 
warte ist, rechtzeitig mit den Vorbereitungen zur Absendung der Expeditionen zu stande 
zu kommen. Vom ı. April des Jahres 1852 an bis zu Ende Juni waren die Räum- 
lichkeiten des Institutes, sofern dadurch die Arbeit in den einzelnen Abteilungen nicht 
gestört wurde, für Aufstellung der Instrumente zu Zwecken der Prüfung, für deren 
Instandsetzung und Verpackung zur Verfügung gestellt. 

Nahezu gleichzeitig mit dem Eintreffen der Mitglieder der verschiedenen deutschen 
Expeditionen im Systeme der internationalen Polarforschung und mit dem Eintreffen der 
zu denselben gehörigen Instrumente, Ausrüstungs-Gegenstände u. s. w. trat die neue Ein- 
richtung des Lehrkurses für Navigationsschul-Aspiranten an der Seewarte ins Leben. Die 
mit Aufnahme der Thätigkeit an diesem ersten Kursus verknüpften Neueinrichtungen 
boten in der That unter den so eben dargelegten Verhältnissen mancherlei Schwierig- 
keiten; allein es gelang schliefslich auch, die oft widerstreitenden Interessen in Einklang 
und den ersten Lehrkursus um die Mitte Scptember 1882 zu einem befriedigenden Ab- 
schlusse zu bringen. 

Die Zentralstelle des ganzen Systems ist in den obigen Ausführungen geschildert 
worden; es erübrigt nun, in allgemeinen Zügen und ohne allzusehr auf technische Gegen- 
stände einzugehen, die Einrichtungen des Dienstgebäudes dieser Zentralstelle hier anzufügen. 

Das neue Dienstgebäude der Seewarte erhebt sich auf dem, 32 m über dem Null- 
punkte des Pegels der Elbe bei Hamburg gelegenen Stintfange. Die Vorzüge dieses 
Platzes bestehen darin dafs derselbe mitten im Verkehr der Seeleute an der Elbe liegt, 
im übrigen aber durch die ihn umgebenden Parkanlagen von der Stadt soweit getrennt 
liegt, dafs sich schädliche Einflüsse nicht in erheblichem Mafse auf die Beobachtungen 
äufsern können. Die freie Rundsicht über den Horizont gestattet, namentlich von den 
oberen Räumen des Institutes, Witterungs-Beobachtungen unbehindert durch störende 
Objekte anstellen zu können. Das Gebäude enthält in dem Erdgeschosse nebst der Dienst- 
wohnung des Direktors die Bureaus für die Abteilung II, die Räume für den Navigation- 
schul-Aspiranten Kursus, sowie den Modellsaal nebst zugehörigem Instrumentenzimmer. An 
dem nach Norden gelegenen Fenster des letzteren befindet sich die Vorrichtung zur 
Beobachtung der Lufttemperatur und Luftfeuchtigkeit. Der erste Stock enthält das Bureau 
des Direktors, den Konferenz- und Sitzungssaal, ferner die Registratur und Verwaltungs- 
Räumlichkeiten, an welche sich wieder die Bibliothek-Räume, das Lesezimmer und die 
Bureaus der Abteilung I anreihen. Im zweiten Stock nimmt die Abteilung III den gröfsten 
Teil des Raumes ein, indem, nebst dem Bureau des Abteilungs-Vorstehers, Zimmer für die 


Dr. G. NEUMAYER, Die Deutsche Seewarte, IQ 


Assistenten und den Telegraphisten hier untergebracht sind. Ferner befinden sich auf 
demselben Korridor der Zeichen- und Kartensaal, sowie das Zimmer des Meteorologen, 
die Dienstwohnung des Vorstehers der Abteilung III, die Dienstwohnung des persönlichen 
Assistenten des Direktors und ein Schlafzimmer für auswärtige, zum Studium an der See- 
warte sich aufhaltende Gelehrte. Das Gebäude mit quadratischer Grundfläche hat in jeder 
Ecke einen turmartigen Aufbau. Die Diagonale liegt nahezu in der Richtung des astrono- 
mischen Meridians. Auf dem Südturme befindet sich die Vorrichtung zum Untersuchen 
der Sextanten; auf dem Westturme sind die anemometrischen Einrichtungen angebracht, 
während auf den Nord- und Osttürmen Observatorien zu astronomischen Zwecken sich 
befinden. Über der Hauptfassade erhebt sich auf dem Dache der Signalmast. Die ge- 
nannten Räumlichkeiten sind um einen Lichthof von 10 m Seite angeordnet, aber durch 
geräumige Korridore von demselben getrennt. In der Mitte dieses Lichthofes ist ein 
Combe’scher Apparat, welcher durch einen im Souterrain untergebrachten Gasmotor 
in Bewegung gesetzt wird. Der Chronograph zur Registrierung der Beobachtung dieses 
Apparates ist auf einer in der Nordecke des Lichthofes sich erhebenden Beobachtungs- 
Kanzel angebracht. Das Souterrain enthält folgende Räumlichkeiten: 

Die Dienstwohnung des Hauswarts, die Wirtschaftsräume zur Dienstwohnung des 
Direktors, sodann die Druckerei und Steinschleiferei, das chemische Laboratorium, die 
beiden Räume für die Normal-Instrumente und Registrier-Apparate, ferner eine mechanische 
Werkstatt und eine solche für kleinere Tischler-Arbeiten. Durch einen um etwa 3 m 
tiefer liegenden unterirdischen Gang wird die Verbindung mit dem, von der vorderen 
Fassade des Gebäudes um 19,6 m (von der Mitte gerechnet) entfernten unterirdischen 
Kompafs- und magnetischen Observatorium hergestellt. Auf dem an der Nordost-Seite 
des Hauses liegenden überbauten Wasser-Reservoir sind die Apparate zum Messen der 
Temperatur und die photometrischen Einrichtungen zum Vergleichen der Schiffs-Positions- 
Laternen angebracht. An dem äussersten, dem Nordende des Grundstückes an der Nord- 
seite des Reservoirs erhebt sich ein zu magnetischen Untersuchungen dienender Pavillon. *) 

Bei der dem Hamburger Staate gehörigen Sternwarte liegt, telephonisch mit dem 
Hauptgebäude der Seewarte verbunden, das Dienstgebäude des Chronometer- Prüfungs- 
Institutes. Dasselbe umfafst die Räumlichkeiten für die Prüfung der Chronometer bei 
gewöhnlicher und erhöhter Temperatur, sowie eine Dienstwohnung für den Assistenten 
der Abteilung. Im Souterrain sind die Räume für die Prüfung der Chronometer bei tiefen 
Temperaturen und die Kohlen-Lagerstellen untergebracht. **) 

Von der instrumentellen Einrichtung der Zentralstelle soll in nachstehendem ein 
gedrängter Überblick gegeben werden. 


a. Meteorologische Instrumente. 


Die Zentralstelle besitzt ein Normal-Barometer nach der Konstruktion Wild-Fuess, 
welches mittels eines 92 cm davon entfernten Kathetomcters abgelesen wird. Der Mafs- 





*) Siehe » Aus d. Archiv d. D. S. Jahrg. 1884, No. 2.¢ **) Siehe »Aus d. Archiv d. D. S. Jahrg. 1875-1878, No. 2.« 


20 Dr. G. NEUMAYER, Die Deutsche Scewarle., 


stab für das Barometer ist neben der Röhre aufgehängt und werden die Messungen 
mittels des Kathetonicters in transversaler Weise ausgeführt. Aufser diesem Barometer 
sind noch eine Anzahl solcher Instrumente, teilweise die Konstruktionen der Barometer 
in anderen Beobachtungs-Systemen darstellend, vorhanden, so dafs man Untersuchungen 
über den relativen Wert der einzelnen derselben anzustellen vermag. Das zu den 
regelmässigen Beobachtungen benutzte Barometer ist cin Gefäfs-Heber-Barometer nach 
Dr. Aöppen’s Angabe. Zum Prüfen der Marine-Barometer und der Aneroid-Barometer 
dient ein Vakuometer, welches mittels eines Kathetomceters abgelesen wird. Das letztere 
besitzt ein Kontroll-Barometer Zxess’scher Konstruktion. Sämtliche Barometer sind in 
den Kellerräumen aufgestellt und zwar in der oben schon angedeuteten Verteilung. 

Zum Prüfen der Thermometer ist ein von Zuess angefertigter Apparat in Gebrauch. 
Es gestattet derselbe eine gröfsere Anzahl Thermometer zugleich mit dem Normal-Ther- 
mometer zu vergleichen. Die Thermometer zum Beobachten sind teils an dem meteoro- 
logischen Fenster und in dem von der Seewarte eingeführten Zinkgehäuse aufgestellt, 
teils sind sie in der Thermometer-Hütte auf dem Reservoir untergebracht. Die Sce- 
warte besitzt eine Sammlung von Thermometern gewöhnlicher Konstruktion und Maximum- 
und Minimum-Thermometer, welche von verschiedenen Fabrikanten in Deutschland, 
England und Frankreich angefertigt sind, so dafs auch hinsichtlich dieser Instrumente 
Untersuchungen über ihren relativen Wert angestellt werden können. 

Von Hygrometeren ist das Acgnwaulfsche als das Normal-Instrument in Gebrauch 
und neben dem zu den Beobachtungen verwendeten Thermometergehäuse in einem be- 
sondern Jalousiekasten aufgestellt. Im übrigen befinden sich an demselben Orte eine 
Anzahl anderer zu Hygrometer-Messungen verwendbarer Apparate. 

Von selbstregistrierenden Apparaten befinden sich in der Scewarte aufgestellt: 
der Barothermograph von Dr. P. Schreiber, der kontinuierlich registrierende Barograph von 
Dr. Sprung, die Zrpp'schen Registrier-Apparate für Temperatur und Luftdruck und 
überdies ein einfaches Wage-Baromcter von Greiner jr. und Gerssler in Berlin. Der Ane- 
mograph von Fuess verzeichnet Windrichtung, Windgeschwindigkeit und Druck des Windes 
auf den Quadratmeter, und zwar ohne Unterbrechung (kontinuierlich registrierend). Durch 
elektrische Übertragung werden die Angaben von Windrichtung und Windgeschwindigrkeit 
in den Räumen der Abteilung III angezeigt. 

In der Sammlung der Seewarte befinden sich Anemometer der verschiedensten 
Konstruktion, teilweise als Modell, teilweise werden sie auch zu gelegentlichen Bceobach- 
tungen benutzt und zu Untersuchungen über ihren relativen Wert. 

Hierzu kommen noch an meteorologischen Apparaten: Die Regenmesser, eine 
Anzahl Psychrometer nach Negretti & Lambras Konstruktion der registrierenden Umkehr- 
Thermometer, Sonnen- und Erdstrahlungs-Thermometer. 


b. Magnetische Apparate. 


Zu Zwecken der Bestimmung der magnetischen Elemente besitzt die Seewarte 
cine Anzahl nach verschiedenen Grundsätzen konstruierter Apparate. Wir nennen hier: 


Te nn ga, 


gg m ern rg 








Dr. G. NEUMAYER, Die Deutsche Seewarte. 21 


einen grofsen magnetischen Theodolit nach Lamont, einen Meyerstein’schen Intensitäts- 
Apparat und verschiedene Inklinatorien. Für die Zwecke der Bestimmung der Elemente 
zur See ist in der Sammlung der Seewarte vorhanden: Das Marine-Deklinatorium und 
das Deviations Magnetometer von Neumayer, die Stamgartsche Bussole u. a. m. 

An Kompassen besitzt die Seewarte eine reiche Sammlung, in welchen die ver- 
schiedenen Konstruktionen namentlich der Rosen, welche heute im Gebrauch sind, und 
auch solche aus früherer Zeit veranschaulicht werden. 


c. Apparate zu nautisch-astronomischen und sonstigen Zwecken. 


Ein Apparat zum Prüfen der Sextanten-Spiegel, eine Vorrichtung zum Prüfen der 
Reflexions-Kreise, Sextanten und Oktanten. Das dazu benutzte Stativ ist nach Neumayer's 
Angaben und befindet sich in einem eigenen Observatorium in der Loggia des Südturmes. 
Ein Universal-Instrument von Frank von Liechtenstein mit einem Horizontalkreise von 21 cm 
und einem Vertikalkreise von 14,5 cm Halbmesser; es ist dieses Instrument zu Azimut 
und systematischen Refraktions-Bestimmungen in Verwendung. Ein Durchgangs-Instrument 
von demselben Mechaniker mit einer Objektiv-Öffnung von 7 cm. Dieses Instrument wird 
zu Zeitbestimmungen und anderen astronomischen Zwecken benutzt. Zu den beiden letzt- 
genannten Apparaten gehören Chronographen, welche mit einer Änodlich’schen Uhr, die in 
dem Raume für Normal-Instrumente aufgestellt ist, in elektrischer Verbindung stehen. 

Der Comödesche Apparat zum Prüfen der Anemometer und mit einer Einrichtung 
versehen, um die Relationen zwischen Druck des Windes auf eine Fläche und Windge- 
schwindigkeit feststellen zu können, ist nach den Angaben von Dr. Neumayer und Dr. 
Recknagel, von den Mechanikern von Liechtenstein und Ritter ausgeführt. Es wird der- 
selbe durch einen Gasmotor getrieben, und zwar können dabei zwei verschiedene Gänge 
zur Anwendung kommen, der eine von einer Schnelligkeit von 0,5 bis 1,5, der andere 
von 6 bis 27, jedesmal Meter pro Sekunde. 

Der Comde’sche Apparat kann auch dazu benutzt werden, die Schiffs-Chronometer 
auf bewegter Unterlage zu prüfen, indem ein Kasten, welcher für die Aufnahme der 
Chronometer bestimmt ist, durch einen einfachen Apparat mit zwei excentrischen Scheiben 
in Schwankungen, ähnlich jenen eines Schiffes auf See, versetzt wird. Zu diesem letzteren 
Zwecke geht der Apparat nur mit einer Schnelligkeit von ı bis 1,5 m in der Sekunde. 

Das Normal-Kathetometer ist von C. Bamberg konstruiert und hat zwei Fern- 
röhren mit Mikrometern an einem starken Cylinder als Katlıetometer-Säule; derselbe trägt 
keinen Mafsstab. Es kann das Kathetometer, wie ein vertikal stehender Komparator, 
bei einer Entfernung des Objektes von 0,2 m bis zu 6 m durch Vorsetzen von ver- 
schiedenen Objektiven benutzt werden. Das dazu gehörige Objekt-Stativ steht auf einem 
sehr soliden hölzernen Rollpfeiler, der innerhalb der angebenen Grenzen je nach Bedarf 
zum Kathetometer herangebracht oder von demselben entfernt werden kann. 

Eine Normal-Wage von Bunge in Hamburg, mit kurzen Armen und berechnet, 

um darauf 4 kg mit einer Genauigkeit von !/ıo mg wiegen können. 
| Eine Normal-Pendeluhr von Änodlich, Hamburg. Die beiden letzten Apparate 


22 Dr. G. NEUMAYER, Die Deutsche Scewarte. 


stehen in demselben Zimmer, in welchem auch das Normal-Barometer und Kathetonieter 
aufgestellt sind. 

In dem Raume, in welchem sich der Thermometer-Vergleichungs-Apparat be- 
findet, ist gleichzeitig ein kleines chemisch-physikalisches Laboratorium, welches für die 
Zwecke des Glasblasens, Barometerfüllens und dergleichen eingerichtet ist. Während der 
Dauer des Lehrkursus für Navigationsschul-Aspiranten dient es auch gleichzeitig für die 
die Vorlesungen illustrierenden Experimente. 

Ein Apparat zum Untersuchen schwerer Eisenmassen auf ihre magnetische 
Induktionsfähigkeit und zum Illustrieren der Deviations-Krscheinungen, in dem magne- 
tischen Pavillon im Garten aufgestellt, besteht aus einem Komplex von gröfseren und 
kleineren Apparaten. 

Für die Zwecke des Studiums der Deviations-Frscheinungen, sowie gleichfalls 
für den Gebrauch im Navigationsschul-Aspiranten-Kursus sind in der Seewarte zwei De- 
viations-Modelle nach Neumayer zur Verfügung. 

Zum Prüfen des relativen Wertes der Positions-Laternen, namentlich auch bei 
verschiedenen Stellungen derselben, dient ein photometrischer Apparat, welcher auf einer 
Basıs von 42 m in der Weise aufgestellt ist, dafs sich die beiden zu vergleichenden 
Laternen an den Enden derselben und das Photometer in der Mitte befindet. 

In dem Hauptgebäude der Zentralstelle, und zwar im Keller-Geschoss desselben 
befindet sich noch eine Schnellpresse zur Herstellung der in dem Institute gebrauchten 
Lithographien, sowie ferner eine kleine mechanische Werkstätte. 

Das Chronometer-Institut bedarf, da es dem Direktor der Hamburger Sternwarte 
unterstellt und insofern zu diesem Institute gehört, der eigenen astronomischen Apparate 
nicht, wohl aber besitzt dasselbe, aufser dem Apparate für die Prüfung bei hohen Wärme- 
graden, auch noch Vorrichtungen zum Uhntersuchen des Einflusses des veränderten I.uft- 
druckes und der magnetischen Kraftäufserung auf den Gang der Chronometer. Aufser- 
dem sind in dem Institute eine Anzahl von Chronometer-Modellen aufgestellt, welche 
die verschiedenen Gänge und Echappements zu illustrieren bestimmt sind. 

Die Einteilung und Einrichtung der Zweigstationen an der deutschen Küste. Dic 
Zweigorgane, derer die deutsche Seewarte bedarf, um auch aufserhalb des Sitzes der 
Zentralstelle eine erspriefsliche Thätigkeit entfalten zu können, zerfallen in folgende Klassen: 

1) Die Hauptagenturen und Agenturen, 

2) Die Nominal-Beobachtungs-Stationen und Ergänzungs-Stationen, 

3) Die Signalstellen erster und zweiter Klasse. 

Die Hauptagenturen und Agenturen der Seewarte. Die Hauptagenturen sind 
mit allen Apparaten ausgestattet, die zum Vergleichen der meteorologischen Instrumente, 
welche auf See gebraucht werden, erforderlich sind. Dieselben haben überdies die zum 
Bestimmen der Deviation der Kompasse an Bord eiserner Schiffe erforderlichen Instru- 
mente und Apparate. Auch sind dieselben ausgestattet mit den wichtigsten Seekarten, 
einer Sammlung von Werken über nautische Gegenstände, namentlich Segel-Handbüchern, 
Werken über Deviation u. s. w. Da dieselben auch die Schiffs-Positionslaternen auf 











Dr. G. NEUMAYER, Die Deutsche Seewarte. 23 


Ersuchen zu prüfen haben, so sind dieselben mit den dazu erforderlichen Instruktionen 
und Apparaten versehen. Die Öbliegenheiten dieser Hauptagenturen bestehen im Wesen 
darin, die Seewarte in allen, ihr nach der Kaiserlichen Verordnung zufallenden Ge- 
schäften nach Kräften zu unterstützen; ihre Funktionen sind durch eine besondere In- 
struktion strengstens geregelt und die Fälle, in welchen sie die Seewarte zu vertreten 
haben, festgestellt. Bei dem Umfange der Thätigkeit an diesen Zweigorganen der See- 
warte wurde es von vornherein als notwendig erkannt, dafür besondere Beamte anzu- 
stellen, welchen es möglich sein würde, sich den Pflichten des Vorstehers einer Haupt- 
agentur ausschliefslich zu widmen. Wo es sich thunlich erwies, sind die Hauptagenturen 
mit den Normal-Beobachtungs-Stationen vereinigt worden. Solche Hauptagenturen sind 
an drei Hafenplätzen der deutschen Küste errichtet, nämlich in Bremerhaven, Swine- 
münde*) und Neufahrwasser. 

Die Agenturen zweiten Ranges haben im allgemeinen dieselben Obliegenheiten, 
wie die Hauptagenturen und unterscheiden sich nur durch die mindere Bedeutung der 
Hafenorte, an denen sie errichtet sind und die dadurch bedingte Vereinfachung der Aus- 
stattung. Die Ausstattung mit Apparaten zum Vergleichen der Instrumente und zum 
Bestimmen der Deviation richtet sich nach den lokalen Bedürfnissen, ein gleicher Mafs- 
stab wurde auch beim Bemessen der an die Vorsteher der betreffenden Agenturen zu 
zahlenden Remuneration angelegt. Wo immer es möglich war, und die Personal-Ver- 
hältnisse dazu günstig waren, wurden die Agenturen an Navigations-Direktoren oder 
Lehrer übergeben. Auch im Falle der Agenturen zweites Ranges ist Vorsorge getroffen, 
dafs Schiffspositions-Laternen auf Ersuchen geprüft werden können. Solche Agenturen 
befinden sich an folgenden Hafenorten: Memel, Pillau, Stralsund, Barth, Wustrow, 
Rostock, Lübeck, Flensburg, Hamburg, Brake, Elsfleth, Emden. In Wustrow ist die 
Agentur mit der Normal-Beobachtungs-Station der Seewarte vereinigt. 

Bei der ersten Einrichtung wurden auch Agenturen zweiten Ranges in Apen- 
rade, Leer und Papenburg errichtet, die aber in der Folge, da sie nie oder nur sehr 
selten beschäftigt worden sind, wieder aufgehoben sind. 

Die Normal-Beobachtungs-Stationen sind meteorologische Stationen erster Ord- 
nung nach der Definition, welche der Wiener Meteorologen-Kongrefs für solche Stationen 
gegeben hat. Sie sind dementsprechend ausgestattet mit selbstregistrierenden Apparaten 
für Luftdruck. Temperatur (nur teilweise), Windrichtung und Windstärke; im übrigen 
haben sie die Ausstattung mit meteorologischen Instrumenten, wie sie Stationen zweiter 
Ordnung gegeben wird, d. h. Psychrometer, Haar-Hygrometer, Maximum- und Minimum- 
Thermometer, Winddrucktafel und Regenmesser. Solcher Normal-Beobachtungs-Stationen 
sind an der deutschen Küste folgende, wenn sie von Osten nach Westen fortschreitend 
aufgezählt werden: Memel, Neufahrwasser, Swinemünde, Wustrow, Kiel, Keitum auf Sylt, 
Hamburg (Zentralstelle), Wilhelmshaven, Borkum. In Fällen, wo die Entfernung zwischen 
zwei Normal-Beobachtungs-Stationen zu grofs ist, oder andere besondere Umstände dies 


*) Diese Hauptagentur wurde iin Jahre 1887 von Swinemünde nach Stettin verlegt. 


24 Dr. G. NEUMAYER, Die Deutsche Seewarte. 


erheischen, sind Ergänzungs-Stationen eingeschaltet. Es sind dies Stationen zweiter Ordnung 
nach der Definition des Wiener Meteorologen-Kongresses. Solcher Stationen sind an der 
deutschen Küste in Rügenwaldermünde, Flensburg und in Cuxhaven. 

Es mufs erwähnt werden, dafs sämtliche Beobachtungs-Stationen der Seewarte 
unabhängig von den anderen meteorologischen Systemen an der Küste (Preufsen. Mecklen- 
burg, Holstein) errichtet wurden und auch so verwaltet werden. 

Der meteorologische Dienst an den Beobachtungs-Stationen ist durch eine Spezial- 
Instruktion, welche alle Zweige desselben umfafst, geregelt. *) 

Die Signalstellen erster und zweiter Ordnung haben die Obliegenheit, die von 
der Seewarte empfangenen Witterungs-Mitteilungen dem Publikum zu verkünden. Diese 
Mitteilungen sind zweifacher Natur, nämlich entweder alltaglich erfolgende Nachrichten 
über Witterungs - Thatbestände (Hafen -Telegramme), oder gelegentliche Sturmwarnungen. 
Die ersteren werden in einem besonders dafür eingerichteten »Wetterkasten« ausgestellt. 
mit ihnen die täglichen Bulletins der Seewarte und eine kurze Erklärung über meteoro- 
logische Vorgänge. Im Wetterkasten befindet sich ein Aneroid-Barometer und ein Thermo- 
meter. Die Sturmwarnungen werden durch Anschlag in einem besonderen Kasten zu: 
Kenntnis des Publikums gebracht. Um auch Schiffen oder Fischern, welche auf der 
Rhede liegen, oder nicht leicht zum Orte des Anschlags der Sturmwarnungen gelangen 
vermögen, Kunde von den Sturmwarnungen geben zu können, werden von eigens dazu er- 
richteten Masten (Signalmasten) Signale geheifst, welche sich im allgemeinen an jene von 
Fitzroy s. Z. in England eingeführten anschliefsen. Solche mit Wetterkasten und Signal- 
mast ausgerüstete Signalstellen werden als Signalstellen erster Klasse bezeichnet. Die 
Signalstellen zweiter Klasse führen nur eine Stange, an welcher eine Kugel als Zeichen 
gehifst wird, dafs eine Sturmwarnungs-Depesche eingelaufen ist, und das Publikum von 
dem Wortlaute der Sturmwarnung Kenntnis nehmen kann. An den Signalstellen erster 
und zweiter Ordnung sind überdies noch Regenmesser aufgestellt und werden an denselben 
abgelesene Regenmengen in die von den Signalisten zu führenden Tagebücher eingetragen. 

Da, wo es thunlich war, die Aufsicht über die Signalstelle mit einem oder dem 
anderen Zweigorgane der Seewarte an demselben Orte zu vereinigen, geschah diese: 
ausnahmslos; in allen anderen Fällen wurde dafür Sorge getragen, dafs diese Aufsicht 
einem mit dem Seewesen vertrauten Manne übertragen wurde. Der Dienst der Signa- 
listen ist durch eine von der Direktion herausgegebene Spezial-Instruktion®; geregelt. 

Es befinden sich an der deutschen Küste, von der Scewarte eingerichtet, folgend: 
Signalstellen erster Klasse: 

Memel, Brüsterort, Pillau, Neufahrwasser, Rixhöft, Stolpmünde, Rügenwalder- 
münde, Colbergermünde, Swinemünde, Greifswalder Oie, Arcona, Stralsund, Darfserort. 
Warnemünde, Travemünde, Marienleuchte, Friedrichsort, Schleimünde, Aroesund, Hamburg. 


*) Siehe »Aus dem Archiv der Deutschen Seewarte.e Jahrg. I, No. 2. 


*) Instruktion für die Signalstellen der Deutschen Seewarte. Herausgegeben in 2. Auflage von der 
Direktion 1880, 


Dr. G. NEUMAYER, Die Deutsche Seewarte. 25 


Altona, Glückstadt, Cuxhaven, Neuwerk, Bremerhaven, Geestemünde, Schiltig, Wilhelms- 
haven, Wangeroog, Norderney, Nefserland-Emden, Borkum. 

Signalstellen zweiter Klasse befinden sich in Hela, Leba, Ahlbeck, Thiessow, 
Wittower Posthaus, Wismar, Flensburg, Keitum auf Sylt, Tönning, Brunshausen, Brake, 
Karolinensiel. 

An einer Anzahl anderer Orte, wo es die nautischen Interessen erheischen, werden 
teils die Witterungsberichte ausgestellt, teils auch Sturmwarnungen abgegeben. Es ver- 
dient erwahnt zu werden, dafs sich während der sieben Jahre des Betriebes der Sturm- 
warnungs-Einrichtungen dieselben längs der ganzen Küste in dem Mafse nützlich gezeigt 
haben, dafs an vielen Stellen teils auf private Kosten, teils auf Kosten der Lokal- 
Regierungen Signalstellen eingerichtet wurden, welchen gegenüber die Seewarte nur die 
Verpflichtung übernimmt, sie auf ihre (der Signalstellen) eigenen Kosten mit den nötigen 
Telegrammen zu versehen. Solche Einrichtungen sind sowohl auf den am weitesten nach 
Westen, als auch jene am weitesten nach Osten gelegenen Strecken der Küste getroffen 
worden. Von einem Aufzählen der einzelnen Orte, welche durch Lokal-Initiative mit Signal- 
stellen versehen wurden, wird hier Abstand genommen, deren Zahl ist etwa 12 oder 14. 

Die sämtlichen Zweigorgane der deutschen Scewarte werden alljährlich inspiziert, 
und zwar teilweise durch den eigens dafür angestellten Inspektor, oder, je nachdem, 
durch einen anderen Beamten, dem alsdann für die Inspizierung besondere Aufträge zu 
erteilen sind, und jedes zweite oder dritte Jahr durch den Direktor in Person. 

Die korrespondierenden meteorologischen Stationen in Deutschland. Sowohl 
für den täglichen Witterungsdienst, das Entwerfen der täglichen Wetterkarten, als auch 
für die Zwecke des Sturmwarnungs-Wesens bedarf die Seewarte eine gröfsere Anzahl 
korrespondierender meteorologischer Stationen in Deutschland. 

Die Auswahl dieser Stationen geschah in den verschiedenen deutschen meteoro- 
logischen Beobachtungsnetzen je nach dem besonderen Werte einer Station, hinsichtlich 
der Lage, der Ausrüstung, zum mindesten als Station 2. Ordnung, und auch der der- 
selben vorstehenden Persönlichkeit. Auch wurde dabei in Betracht gezogen, ob eine 
Station nicht schon seit längerer Zeit als solche bestehe, damit die Ableitung der Normal- 
werte der verschiedenen metcorologischen Faktoren mit einem gröfseren Mafse von 
Sicherheit ausgeführt werden könne. 

Wir werden später, bei der Besprechung der Thätigkeit der Abteilung IHI., noch 
auf diese Stationen, deren namentliche Aufführung hier, wo es sich nur um die eigent- 
lichen Einrichtungen der Seewarte handelt, kaum berechtigt sein wurde, zurückkommen. 

Aufser den deutschen meteorologischen korrespondierenden Stationen steht die 
Seewarte noch mit einer grofsen Anzahl von zu anderen europäischen Beobachtungs- 
Systemen gehörigen Stationen und Zentralstellen in täglicher Verbindung. 

In demselben Mafse, wie sich der Geschäftskreis erweiterte und die Inanspruch- 
nahme der Seewarte sich steigerte, mufste auch im Laufe der 12 Jahre 1875—1886 das 
Personal eine Vermehrung erfahren. Am Schlusse des Jahres 1886 bestand das Personal 
der Zentralstellen aus etwa 38 Personen, wenn alles gerechnet wurde. Es waren darunter 


4 


26 Dr. G. NEUMAYER, Die Deutsche Seewarte. 


8 oder 10 akademisch gebildete Beamte und 9 Seeleute, meistens frühere Kapitäne 
und Mitarbeiter der Secwarte zur See. Man sieht aus diesen Zahlenangaben, wie sehr 
sich das Institut gegen den ursprünglichen Rahmen vergröfsert hat. 

Ehe wir in den Darlegungen über die Ausbreitung und Entwickelung der 
Thätigkeit der Seewarte weiter fortfahren, scheint es uns von besonderer Wichtigkeit zu 
sein, Einiges über die derselben zur Verfügung stehenden Sammlungen hier anzufugen. 
Es bedarf der näheren Begründung nicht, wenn hier gesagt wird, dafs das gedeihliche 
Leben und Wirken eines Institutes zu einem guten Teile durch die demselben zur Ver 
fügung stehenden Sammlungen bedingt wird. In erster Linie gilt dieses von der Bücher- 
und Kartensammlung und kann mit Rücksicht darauf anerkannt werden, dafs das Institut 
von vornherein eine exzeptionell günstige Stellung einnahm. Durch die Gnade Sr. Majestät 
des Kaisers wurde die vorzüglich ausgestattete meteorologische Bibliothek Æ. MH. Doves 
seitens der Reichsregierung erstanden und der Deutschen Scewarte überwiesen. Der be- 
sondere Wert dieser Bibliothek bestand darin, dafs das gesamte Beobachtungs-Materia.l 
aus allen Teilen der Erde nahezu vollständig darin vertreten war und sonach dem 
Personale bei Inangriffnahme gröfserer Arbeiten eine Quelle der Information zur Ver- 
fügung gestellt werden konnte, wie dies nur an schr wenigen anderen Instituten der 
Erde der Fall sein dürfte. 

Einen weiteren, nicht unwesentlichen Zuwachs erfuhr die Bibliothek der Seewarte 
durch die Erwerbung einer Anzahl Bücher und Karten, welche Eigentum des Privat- 
Institutes des Herrn von Zreeden gewesen waren. Im ganzen bestand der Zuwachs von 
dorther aus 816 Büchern und 82 Karten; von den Büchern bestand der gröfste Teil 
und zwar 417, aus meteorologischen Werken, unter denen die Publikationen mehrerer 
meteorologischer Institute, namentlich die des Königlich niederländischen Instituts zu 
Utrecht und des Londoner Meteorolorischen Amtes die weitaus gröfste Zahl bildeten. 
Von den 82 Karten bezogen sich 32 auf die Nordsee und Ostsee, 5 auf den Indischen 
und 13 auf den Stillen Ozean. - 

Nach dem im Februar 1879 erfolgten Tode des Professor Preste? wurde seitens 
der Seewarte aus dem Nachlasse dieses verdienten Gelehrten eine gröfsere Anzahl 
meteorologischer und astronomischer Werke käuflich erworben. 

Die Direktion der Seewarte war unablässig bemüht, soviel es die ihr zur Ver- 
fügung stehenden Mittel gestatteten, den durch die genannten Zuwächse gebildeten Stock 
der Bibliothek in planmäfsiger Weise von Jahr zu Jahr zu erweitern, so dafs gegen- 
wärtig die Bibliothek der Scewarte als eine höchst vollständige bezeichnet werden kann, 
sofern dabei die Zwecke der Seewarte ins Auge gefafst werden. 

Mit der Doweschen Büchersammlung gingen 469 Bände, in welchen Abkandiangen 
verschiedener Autoren zusammengebunden sind, als »Sammelbände« in den Besitz der 
Seewarte über. Dicse wertvolle Sammlung umfafst rund 6076 einzelne Titel und mufste, 
wenn sie überhaupt nutzbringend sein sollte, katalogisiert werden, was denn auch ge- 
schehen ist. \Wenn nun auch der ursprüngliche Besitzer Sorge dafür getragen hatte, 
dafs Gleichartiges zusammengebunden wurde, so wäre es dennoch sehr wünschenswert, 


Dr. G. NEUMAYER, Die Deutsche Seewarte. 27 


die einzelnen Bände auseinander zu nehmen, indem die angewendete Weise der Unter- 
bringung kleinerer Werke für die Zwecke der Bibliothek eines Institutes nicht zu em- 
pfehlen ist. Da jedoch zunächst wichtigere Anforderungen befriedigt werden müssen, so 
erachtete man es für zweckmäfsig, diese Sammlung kleinerer Schriften so zu belassen, 
wie sie erstanden wurde. 

Es darf wohl kaum hervorgehoben zu werden, dafs die sämtlichen, die Bibliothek 
bildenden Werke ohne Rücksicht auf ihre Entstammung eingeordnet wurden; die Ver- 
schmelzung der einzelnen Teile zu einer eirheitlichen Gesamtbibliothek wurde auch bei 
der Katalogisierung derselben als grundlegende Maxime angesehen. Die Gesamtsumme 
der Titel (einzelner Werke) erhebt sich zur achtbaren Zahl von 16792, wenn man die 
in den Sammelbänden enthaltenen mitrechnet. Um nur im allgemeinen ein Bild von 
der Zusammensetzung dieser Bibliothek zu erhalten, wird erwähnt, dafs sie beispielsweise 
584 Bände Astronomie, Mathematik und Geodäsie, 565 Physik, 480 nautische Hand- und 
Lehrbücher, 782 Hydrographie, 560 meteorologische Lehrbücher und Abhandlungen u. s. w. 
enthält. Ein grofses, wohl das wesentlichste Kontingent ist repräsentiert durch das 
meteorologische Material, welches, sich auf alle Teile der Erde beziehend, in zahlreichen 
Bänden niedergelegt ist. 

Aufstellung und Katalogisierung sind in jeder Hinsicht vorzüglich zu nennen und, 
da beide im strengen Einklange miteinander durchgeführt sind, so ist die Gebrauchs- 
fähigkeit dieser ganzen, an und für sich komplizierten Büchersammlung als nach jeder 
Richtung hin entsprechend zu bezeichnen. 

Die Karten-Sammlung besteht aus 1079 Nummern, wovon 920 Blatt Seekarten 
von allen Meeren der Erde und 159 ältere Landkarten sind. Die Seekarten werden von 
Monat zu Monat nach den Nachrichten für Seefahrer und anderen ähnlichen Quellen 
korrigiert. Bis zum Ende des Jahres 1886 waren 5142 Korrekturen dieser Art aus- 
geführt worden. 

Mit der Bibliothek ist ein Lesezimmer verbunden, in. welchem die neuesten Zeit- 
schriften aus den Gebieten der Wissenschaften, welche den Geschäftskreis der Seewarte 
berühren, ausgelegt sich befinden. Dieses Lesezimmer ist das ganze Jahr hindurch und 
an jedem Tag der Woche von morgens 8 bis abends 10 Uhr geöffnet. 

Für das wissenschaftliche Leben des Instituts sind die allwöchentlich seit Jahren 
abgehaltenen Kolloquien von grofsem Interesse. Alles, was in der Litteratur der 
Astronomie, Nautik, Physik, Meteorologie, des Magnetismus u. s. w. von Interesse sich 
erweist, kommt in diesen Versammlungen in Referaten zur Besprechung. Im Jahre 1886 
fanden beispielsweise 33, sich jedesmal über 2 Stunden ausdehnende Kolloquien statt, 
in welchen 135 verschiedene Themata zur Verhandlung kamen. Aus der Thätigkeit 
der Seewarte nach dieser Richtung hin während eines Jahres kann man sich einen 
Begriff von der wissenschaftlichen Anregung machen, welche diese Kolloquien während 
ihres ıojährigen Bestehens im Kreise des: wissenschaftlichen und nautischen Personales zu 
geben vermochten. 

Unmittelbar nachdem den wichtigsten Bedürfnissen durch umfangreiche Beschaffung 





28 Dr. G. NEUMAYER, Die Deutsche Seewarte. 


von Instrumenten Rechnung getragen worden war, reifte bei der Direktion der Entschluß. 
mit allem Nachdrucke dahin zu wirken, dafs die Schaffung einer umfangreichen Modei- 
sammlung möglich wurde. Man ging dabei in erster Linie von dem Gesichtspunkte aus. 
dafs es für alle Zweige der praktischen und nautischen Thätigkeit von unberechenbarem 
Nutzen sein mufste, stets das Erprobteste und die neuesten Erfindungen in einer Modtll 
sammlung zur Ausstellung gebracht zu haben. Wie natürlich, richtete sich das Augen- 
merk der Dircktion zunächst darauf, an Instrumenten metcorologischer und nautisch- 
astronomischer Natur für die Sammlung zu gewinnen, was immer sich nach dem Mais 
der Mittel und der sich dafür darbietenden Gelegenheit thunlich erwies. Sodann war 
das Bestreben darauf gerichtet, auch andere Gegenstände als Schiffe verschiedener Kon 
struktion und aus verschiedenen Zeiten, Schiffsteille u. s. w. für die Sammlung zu gc- 
winnen und war man auch hinsichtlich des Iirwerbes solcher Gegenstände mehr oder 
minder erfolgreich. Die Schwierigkeiten, rasch zu reufsieren mit der Gewinnung einer 
nach allen Richtungen hin befriedigenden Modellsammlung bestanden darin, dafs die 
durch den Etat alljährlich zur Verfügung gestellten Mittel für andere Zwecke, welchen 
unmittelbar Rechnung getragen werden mufste, zu verwenden waren und die unentgelt- 
liche Kontribuierung, auf deren Einflufs einige Zeit gehofft wurde, sich in zu geringem 
Mafse manifestierte, um das Zustandebringen einer gediegenen Modellsammlung wesentlich 
fördern zu können. Wir werden sofort schen, dafs man keine Anstrengungen scheutt, 
den Sinn für ein so gemeinnütziges Unternehmen zu wecken, aber auch, dafs der Erfolg 
in keiner Weise den Erwartungen entsprach. Nach wie vor mufste die Direktion, wollte 
sie etwas nambhaftes erzielen, dies mit ihren Mitteln zu erreichen suchen. Es ist ihr denn 
auch gelungen, im Laufe der 12 Jahre, welche seit der Errichtung der Seewarte verflossen 
sind, eine Sammlung zu stande zu bringen, welche zum mindesten die Anfänge fur eın 
maritimes und meteorologisch-magnetisches Museum in sich birgt. Wir geben in nach 
folgendem die 8 Gruppen an, wovon eine jede bereits cine Anzahl von einzelnen Excm- 
plaren zählt, welche wieder als die Repräsentanten einer Klasse von Objekten anzuschen 
ist. Als die Gruppen von Objekten, welche bereits in der Modellsammlung vertreten 
sind, nennen wir die folgenden: 
I. Gruppe: nautisch-astronomische und geodätische Instrumente. 
Sextanten, Spiegel- nnd Prismenkreise, Universal-Instrumente, Pendelapparate u. s.w. 
II. Gruppe: Chronometer und Uhren. 
Chronometer-Modelle, Echappements-Modelle verschiedener Art, Pendeluhren u. s.w. 
Ill. Gruppe: magnetische Instrumente und Kompasse, Kompafs-Rosen, Kompasse 
verschiedener Art, Kompensations - Vorrichtungen, Stabmagnete, Intensitäts 
Apparate u. s. w. 
IV. Gruppe: Hydrographische Apparate. 
Apparate zu Lotungs- und Tiefeforschungszwecken, Tiefsee-Thermometer, Modell 
registrierender und integrierender Pegel u. s. w. 
V. Gruppe: Meteorologische Instrumente und Apparate. 
Barometer und Thermometer verschiedener Konstruktion und aus den verschiedenen 





Dr. G. NEUMAYER, Die Deutsche Seewarte, 29 


renommierten Werkstätten, Barographen, Thermographen, Anemometer, Regen- 
messer u. S. W. 


VI. Gruppe: Physikalische Apparate zu Instruktions-Zwecken. 
Anemometrische Zählapparate, pneumatische Apparate (Luftpumpe), Deviations- 
Modelle, Wasser-Zersetzungs-Äpparate, Hypsometer u. s. w. 


VI. Gruppe: Apparate zum Signalisieren von Witterungs-Zuständen. 
Wetterkasten, Signalapparat der Secwarte im Modell, Zeichnungen verschiedener 
anderer Apparate u. s. w. 


VIII. Gruppe: Modelle von Schiffen und Schiffsteilen. 
Verschiedene Modelle von Schiffen älterer und neuerer Bauart, Modelle von 
Maschinen, Schrauben, Steuer-Apparaten u. s. w. 


Die Aufstellung der Objekte in dem nach Nordost gelegenen grofsen Modell- 
saale ist gegenwärtig noch als provisorisch zu bezeichnen, indem es nicht ratsam erschien, 
jetzt schon eine systematische und definitive Einordnung eintreten zu lassen, und dem 
entsprechend auch die Einrichtungen zur Aufstellung zu treffen. Wenn sich die Sammlung 
von Modellen aller Art in einigen Jahren zu einem gröfseren Umfange entwickelt haben 
wird, dann wird es auch an der Zeit sein, für eine durchaus zweckentsprechende Auf- 
stellung Sorge zu tragen. Für jetzt ist nur darauf Bedacht genommen, den zahlreichen 
Besuchern der Seewarte und insonderheit des Museums Gelegenheit zu geben, ihr Ver- 
ständnis und ihr Interesse an den zur Ausstellung gebrachten Objekten zu wecken 
und dadurch den Bestrebungen der Direktion nach dieser Richtung sowohl in fach- 
männischen Kreisen, wie im Laien-Publikum eine werkthätige Unterstützung zu gewinnen. 

Bei Gelegenheit der Einweihung des neuen Dienstgebäudes durch Se. Majestät 
den Kaiser, wurde in den Räumen der Scewarte eine Ausstellung maritimer Gegenstände 
veranstaltet, wie dies schon in den einleitenden Bemerkungen erwähnt wurde. Die Leitung 
der geschäftlichen Seite dieser Ausstellung lag in den Händen einer Kommission, in 
welcher die hervorragendsten Rheder Hamburgs vertreten waren. Da aber die Ausstellung 
von ganz Deutschland beschickt werden sollte und auch beschickt wurde, so war es zum 
mindesten erforderlich, die Kommission dadurch erheblich zu erweitern, dafs auch Ver- 
treter der anderen bedeutenderen Hafenorte an der deutschen Küste zugezogen wurden. 
In der That wurde dadurch erreicht, dafs das Wertvollste, was an nautischer Litteratur, 
an Instrumenten, Schiffsmodellen u. s. w. an der deutschen Küste überhaupt vorhanden 
ist, auch ausgestellt wurde. Der Katalog, welcher von der Kommission heraus gegeben 
wurde, umfafst 1222 Nummern und legt ein beredtes Zeugnis für den Wert und die 
Quantität maritimer, in Deutschland befindlicher Objekte ab. Wenn sonach auch die 
Hoffnung der Direktion der Seewarte, bei dieser Gelegenheit für ihre Sammlungen einige 
wertvolle maritime Gegenstände zu gewinnen, nur in geringem Mafse realisiert wurde, 
so ist doch in dem Umstande allein, dafs einmal bekannt wurde, was an Dingen der be- 
zeichneten Art vorhanden, ein wichtiges Stadium in der Pflege maritimer Studien in 
Deutschland zu erblicken. Der Katalog über die Ausstellung vom September 1881 ist 





30 Dr. G. NEUMAYER, Die Deutsehe Seewarte. 


für spätere Zeiten ein wichtiger Führer, wenn einmal cine zweite deutsche Ausstellung 
maritimer Gegenstände ins Werk gesctzt werden sollte. 

In den verschiedenen Jahresberichten der Sceewarte, namentlich aber in jenem, der 
sich über die Periode 1875 bis 1878 erstreckt, wurde in eingehender Weise dargelegt, wie 
sich die Pflege der maritimen Meteorologie in Deutschland entwickelte und es wird 
die Aufgabe dieses Teiles der Abhandlung sein, den Nachweis zu liefern, wie sich bis 
zum Ende des Jahres 1886 die Inanspruchnahme der Abteilung I. stets steigerte. Aus 
diesem Nachweis wird sich ferner ergeben, dafs die Beteiligung der Sceleute an den 
maritim-meteorologischen Arbeiten der Seewarte einen Aufschwung genommen hat, den 
man allerdings in den Zeiten des Überganges von der Norddeutschen Scewarte zum 
Reichsinstitute kaum zu hoffen wagte. Daraus ergicbt sich konsequentermafsen wieder 
der Schlufs auf die Würdigung der Leistungen des Institutes seitens der beteiligten See- 
leute. Die Abteilung I. hat in erster Linie den Beruf für die Segelschifffahrt, von welcher 
die Meteorologie die wichtigsten Beobachtungen erhält, alles zu leisten, was sie hinsichtlich 
der Erteilung von Ratschlägen in Segelanweisungen, in Fällen schwerer atmosphärischer 
Störungen u. s. w. zu leisten vermag. Es war das Bestreben des Institutes darauf ge- 
richtet, zur Vereinfachung der Lösung dieses Teiles der der Abteilung I. gestellten Auf- 
gabe mit allem Nachdrucke die Herausgabe von Sege/handbüchern zu fördern. Die Um- 
bildung der meteorologischen Anschauungen, in welcher die Wissenschaft gegenwärtig 
begriffen ist, machte darauf gerichtete Bestrebungen sehr schwer ausführbar, aus Gründen, 
die an einer früheren Stelle, wenn auch nur andeutungsweise doch berührt worden sind. 
Daraus ergiebt sich, dafs in einer anderen, mehr dem Übergangsstadium angepafsten 
Weise, gesucht werden mufste, den billigen Anforderungen der Secfahrer zu entsprechen. 
Die Herausgabe eines Werkes, das in ausführlichen Berichten die Ergebnisse der praktischen 
Navigation wiedergab, zugleich aber auch sich bestrebe, das was von theoretischen An- 
schauungen brauchbares festgestellt war, im Interesse der Seeschifffahrt zu verwerten, 
sollte in erster Linie Abhilfe bringen. »Der Pilot«, ein Führer für Segelschiffe, ist der 
Titel des zu diesem Behufe von der Direktion herausgegebenen Werkes, wovon bereits 
der vierte Band vorliegt. In demselben wird der Standpunkt des statistischen Nachweises 
und der darauf hin erteilten Ratschläge mehr und mehr verlassen und darauf hingewirkt, 
dafs eine gründlichere Einsicht in das Wesen der metcorologischen Vorgänge in dem 
Seemannsstande Platz greife, auf welcher Grundlage alsdann fruchtbringend der Ver- 
wertung der Ergebnisse maritim-metcorologischer Beobachtungen im Interesse der Segel- 
schifffahrt näher getreten werden kann. In ganz gleichem Sinne wirken die Aufsätze und 
Berichte, welche seitens der Seewarte regelmäfsig und wie wir sehen werden, in betracht- 
lichem Umfange in den Annalen der Hydrographie und maritimen Meteorologie, schon 
seit 12 Jahren veröffentlicht werden. Diese Veröffentlichungen unterscheiden sich, soweit 
die Abteilung I dabei in Frage kommt, in zwei Klassen: »Die Reiseberichtee, Auszüge 
aus in jüngster Zeit ausgeführten Seereisen von Segelschiffen mit erläuternden Bemerkungen, 
und zweitens die Aufsätze über maritim-meteorologische Gegenstände überhaupt. 

Eine dritte, nicht unerhebliche Thätigkeit der Abteilung I. zur Förderung der 





Dr. G. NEUMAYER, Die Deutsche Seewarte. 31 


Segelschifffahrt besteht in der Erteilung von Segelanweisungen für bestimmte Reisen und 
einzelne Fälle. Das Erteilen von 'Segelanweisungen mufs nach und nach mit dem 
Wachsen der einschlägigen Litteratur in Abnahme kommen, erhält aber gegenwärtig da- 
durch noch einen bestimmten, fördernd wirkenden Charakter, dafs die Schiffe und selbst 
die Personen, welche Scegelanweisungen auf Ersuchen erhalten, im Laufe der Zeit den 
betreffenden Beamten des Institutes in ihren Leistungen und ihren Qualitäten genau be- 
kannt werden, wodurch eine Rücksichtnahme darauf und dadurch, ein erspriefsliches 
Wirken dieser Einrichtung möglich wird. 

Für die Dampfschifffahrt kann der Natur der Sache nach in der gegenwärtigen 
Entwickelungs-Periode der Meteorologie die Thätigkeit der Abteilung I. nur einen be- 
dingten Einflufs äufsern. Die Studien, die übrigens auf diesem Gebiete auch seitens der 
Seewarte mit allem Nachdrucke betrieben werden, berechtigen zur Erwartung, dafs auch 
dem Dampfer-Verkehre durch die Wetterstudien in nicht zu ferner Zeit ein wesentlicher 
Vorteil erwachsen wird. Wir beziehen uns hier zunächst nur auf die synoptischen 
Arbeiten über den Atlantischen Ozean, die unseren Verkehr mit den Staaten von Nord- 
amerika nahe berühren, glauben aber die Überzeugung aussprechen zu sollen, dafs auch 
andere Meeresteile der Erde in ähnlicher Weise der Forschung zum Nutzen der Navi- 
gation unterworfen werden müssen, wenn dieser Nutzen ganz und allgemein zum Ertrage 
gebracht werden soll. Die Dampfschifffahrt gewährt aber wieder dem synoptischen 
Wetterstudium eine ganz wesentliche Stütze, indem an Bord der Dampfer ein Journal 
geführt wird, welches vorzugsweise auf die Vervollständigung der Beobachtungen zu 
synoptischen Zwecken berechnet ist. Im Gegensatze zu den vollständigen meteorologischen 
Journalen werden die Dampfer-Journale die »Auszugs-Journale« genannt, da in den- 
selben nur zwei Stunden Beobachtungen des Tages gegen 6 Stunden in den vollständigen 
Journalen verzeichnet sich befinden. Auch die Beobachtungen selbst sind in den letzteren 
vollständiger d. h. mehr den Abmachungen der internationalen meteorologischen Konfe- 
renzen gemäfs eingerichtet. 

Durch diese Arbeiten ist im wesentlichen die Möglichkeit geboten worden, das 
grofse Werk der Herausgabe der synoptischen Wetterkarten über den Atlantischen 
Ozean von Hoffmeyer auch alsdann weiter fortzuführen, als die finanzielle Bürde zu er- 
heblich wurde, um sie dem einzelnen zumuten zu können, denn in der That waren die 
Karten vom Dezember 1873 bis November 1876 dieses Werkes auf Risiko Hoffmeyers 
erschienen. Eine schon im Jahre 1878 zwischen dem Direktor des Dänischen meteoro- 
jogischen Institutes und jenen der Deutschen Seewarte getroffenen Vereinbarung, wonach 
die Fortführung der Herausgabe des genannten Werkes gemeinschaftlich geschehen sollte, 
liefs sich erst im Jahre 1884 realisieren, und zwar wurden nun die synoptischen Wetter- 
karten für den Nordatlantischen Ozean vom I. Dezember 1880 an veröffentlicht und 
seitdem durch mehrere Jahrgänge fortgeführt. Wir werden sofort sehen, dafs es der 
Seewarte auch gelungen ist, einen weiteren Punkt jener Abmachungen zu realisieren, 
nämlich die Herausgabe eines, diese Karten erläuternden Textes. 

Wenn auch mit einigem Bedenken, so mufste sich die Seewarte gegen das Ende 














32 Dr. G. NEUMAYER, Die Deutsche Seewarte. 


des Jahres 1885 dazu entschliefsen, die Rezseberichte, welche eine Reihe von Jahren der 
Segelschifffahrt so erhebliche Dienste gethan hatten, einzustellen. Es kann hier nicht 
der Ort sein, auf die hierfür bestimmenden Gründe einzugehen, es genüge die Versiche- 
rung, dafs sich die Direktion der Seewarte ernstlich bemühte, einen Ersatz für dieselben 
zu finden. Jener erläuternde Text zu den synoptischen Karten schien dafür geeignet 
zu sein, und zwar um deswillen, weil es möglich wurde, zum mindesten für den Nord- 
atlantischen Ozean die Reiseberichte in der Weise fortzuführen, dafs in Anlehnung an 
die synoptischen Wetterkarten die meteorologischen Phänomene und der Fortgang der 
Reisen besprochen werden konnten. Der zweite Teil der Veröffentlichung, welche den 
Titel führt »Vierteljahrs-Wetter-Rundschaug, ist lediglich der Besprechung nautisch-meteoro- 
logischer Vorkommnisse gewidmet. Wie der Titel besagt, erscheint die Veröffentlichung 
in vierteljährlicher Folge; das erste Vierteljahr beginnt mit dem 1. September 1883. 
Nebenbei sei noch bemerkt, dafs diese Veröffentlichung mit wertvollen Karten aus- 
gestattet ist, welche als das Resultat eingehender Untersuchungen des Meteorologen des 
Institutes, Professor Köppen, über die Verlagerung der Depressionen und Maxima, an- 
zusehen sind. 

Die Anzahl der Schiffe der Handelsmarine, deren Führer Mitarbeiter der See- 
warte waren, betrug Ende 1886 ungefähr 273. Unter diesen sind 75 im Laufe des 
Jahres neu eingetreten, während 59 wegen Verlust ihres Schiffes oder aus anderen, in 
mehreren Fällen nur zeitweilig wirkenden Gründen die Führung des Journals aufgegeben 
haben. Die Norddeutsche Seewarte ist nach dem von ihrem Direktor herausgegebenen 
Jahresberichte für 1874 von 163 Schiffen, worunter 30 Dampfer, beschäftigt gewesen. *) 

Bezüglich der Ausrüstung der Schiffe, welche das vollständige Meteorologische 
Journal führen, sind folgende Stellen des Jahresberichtes 1875—1878, hier wiedergegeben. 

Die Schiffe, auf welchen das Meteorologische Journal geführt werden soll, müssen 
nach den Anforderungen der Seewarte zum mindesten mit 1 Chronometer, ı Sextanten, 
ı Quecksilberbarometer und 3 Thermometern ausgerüstet sein. Auf das Vorhandensein 
des Thermometers mit nasser Kugel und des Aräometers und dementsprechend auf die 
Ausfüllung der Spalte 16 und 24 des Journals wird erst in zweiter Linie Gewicht gelegt. 

Mit Bezug auf die zu den meteorologischen Beobachtungen benutzten Instrumente 
besteht der Plan, an dessen Realisierung systematisch gcarbeitet wird, an sämtliche Mit- 
arbeiter die Instrumente leihweise auszutcilen. Gegenwärtig (Ende 1886) sind die In- 
strumente der Privaten mehr und mehr verschwunden und nur noch eine kleine Zahl 
gehört den Schiffen. Die Anzahl der ausgelichenen Instrumente hat sich in Gemässheit 
mit dem soeben dargelegten Plane seit der Errichtung der Seewarte stetig vermehrt, so 
dafs zu Anfang des Jahres 1879 sich bereits 79 Marinebarometer, 32 Marinepsychrometer, 
192 Marinethermometer und 9 Aräometer, welche Eigentum der Seewarte sind, an Bord 
von Schiffen befanden. 

Zu Ende des Jahres 1886 befanden sich an Bord von Schiffen an Instrumenten 


*) 1873 waren es 172 Schiffe, worunter 29 Dampter. 


Dr. G. NEUMAYER, Die Deutsche Seewarte. 33 


der Seewarte 157 Marinebarometer, 684 Thermometer (Psychrometer und Wasser-Thermo- 
meter) und 19 Aräometer. 

Die Zahl der auf Schiffen der Handelsmarine geführten meteorologischen Journale, 
welche nach vollbrachter Reise der Schiffe direkt oder durch die Vermittelung der 
Agenturen — und in fremden Häfen durch die Konsulate — an die Zentralstellen ab- 
geliefert wurden, steigerte sich von Jahr zu Jahr, wovon nur das Jahr 1876 insofern eine 
Ausnahme bildete, als die Zahl von 111 Journalen in dem genannten und dem folgenden 
Jahre auf 83 sank. Von dort ab ging es stetig aufwärts, und zwar in dem Mafse, dafs 
im Jahre 1885 im ganzen 342 vollständige Journale und 220 Nummern Auszugs-Journale 
eingeliefert wurden und im Jahre 1886 358 vollständige Journale und 241 Auszugs-Journale. *) 

Es ist von Interesse, die Gesamt-Nummernzahl der Journale, welche sich bis 
zum 31. Dezember 1886 in dem Archiv der Seewarte angesammelt hatten, zu erfahren; 
im Nachfolgenden finden wir diese Zahl zugleich mit der Zusammensetzung derselben: 


Meteorologische Journale von Segelschiffen . . . . . . 2643 Nummern 

» » » Dampfern . . . en 852 » 

» » » deutschen Kaer acen . . 408 » 
Auszugs-Journale von Dampfern . . . 2 aaa a a.. I756 » 
An älterem Material Maurys Abstr. Log.. . ©... I66 » 

» » > Neumayers Melbourne Abstr. Don: ; 33 » 
» » » gewöhnliche Schiffsjournale mit Baro- 
meter und Thermometer-Ablesungen . 154 » 





6012 Nummern. 

Von dem Privat-Institute des Herrn von Freeden wurden am I. Januar 1875 
1033 Nummern übernommen. 

Wenn man die obigen Reihen überblickt, so erkennt man darin die Spuren des 
Kampfes während des Überganges in den Jahren 1875 und 1876. Der feindseligen Hal- 
tung, die von einem Teil der fachmännischen Presse aus hier nicht näher zu erörternden 
Motiven angenommen wurde, und dem dadurch gegen das junge Reichsinstitut herauf- 
beschworenen Vorurteile mufs die Schuld des zeitweiligen Rückganges in den Jahren 
1875 und 1876 beigemessen werden. Es zeugen aber auch die obigen Darlegungen, wie 
siegreich der Kampf bestanden wurde, was allerdings noch schlagender aus den hier 
folgenden Zahlen, die sich auf die Anzahl der Beobachtungssätze beziehen, hervorgeht. 
Unter einem Beobachtungssatz versteht man eine zu einem Termin (Beobachtungs-Stunde) 
ausgeführte und die folgenden Daten enthaltende Beobachtungsreihe: Luftdruck, Luft- 
temperaturen, Temperatur des Seewassers, Windrichtung und Stärke, Form der Wolken 
und deren Zug, so wie Bewölkungsgrad und allgemeine Bemerkungen. Strömungen des 


*) Im Jahre 1874 wurden bei der Norddeutschen Seewarte von Segelschiffen 100, von Dampfern 41 
vollständige Journale abgeliefert, so dafs die Gesamt-Summe nur 141 vollständige Journale betrug gegen die 
übrigen Zahlen (s. Jahr.-Ber. d. Nordd. Scew. 1874). 


34 Dr. G. NEUMAYER, Die Deutsche Seewarte. 


Ozeans, Salzgehalt des Wassers und Luftfeuchtigkeit sind in vielen Fällen gleichfalls mit 
beobachtet und in das Journal eingetragen. 
An solchen Beobachtungs - Sätzen wurden in der beigeschriebenen Zahl von 
Monaten gesammelt: l 
1875—1878 während 3496 Monaten an Beobachtungssätzen 709 205 





1879 >» 1104 > » » 181 950 
1880 > 1538 » > » 261 700 
1881 » 1484 » 3 » 251 200 
1882 > 1722 » >, » 293 440 
1883 » 1820 » » N 309 700 
1884 » 1770 » » » 299 900 
1885 » 1786 » » » 292 200 
1886 » 1698 » » » 280 460 
In den Jahren 1875—1886 » 16418 » » » 2879755 


Die am ı. Januar 1887 im Besitze der Seewarte befindlichen vollständigen me- 
teorologischen Journale oder Auszugs-Journale enthalten die während 20884 Monaten der 
Beobachtung gewonnenen 3 560820 Beobachtungssätze, in welchen Zahlen die während 
der Jahre 1868—1874 gesammelten 681065 Beobachtungssätze mit inbegriffen sind. *) 

Als Durchschnittszahl der Beobachtungssätze ergiebt sich 


für die Periode 1868—74 . . . . 97295 
>» o» » 1875—82 . . . . 212187 
» > » 1883—86 . . . . 295 565. 


Wie sich aus den obigen Zahlen schon ergiebt, hat sich im Verhältnis zur Ver- 
mehrung des Materials die Zahl der Mitarbeiter der Seewarte zur See vermehrt. An 
dem Zusammentragen des gesamten Beobachtungs-Materials beteiligten sich während der 
Jahre 1875—86 in allen Meeren der Erde, die durch den Seehandel berührt werden, 
678 Mitarbeiter. Es ist unmöglich, die Summe der Arbeit, welche diese Männer des 
praktischen und wahrhaftig nicht leicht zunehmenden Lebens gethan haben, zu hoch anzu- 
schlagen. Es will uns zu Zeiten, wenn wir diese Summe von Arbeit überschauen und 
erwägen, welches wertvolle Material für unsere Forschung dadurch zusammengetragen 
wurde, bedünken, als gehöre ein bedeutend höherer Grad der geistigen Bildung dazu, 
der Wissenschaft diese Unterstützung zu gewähren, als man es einfachen Seeleuten von 
manchen Seiten zugestehen will. 

Zu dem reichen Beobachtungs-Materiale, welches sich im Laufe der Jahre in 
dem Archiv angesammelt hat, treten ‚noch eine Reihe von Beobachtungs-Journalen von 
Stationen, welche die Deutsche Seewarte in überseeischen Orten einrichtete, oder doch 
— wie im Falle der Labrador-Stationen — eingerichtet übernommen und fortgeführt hat. 
Solcher meteorologischer Journale sind bereits vorhanden von 6 Stationen an der Küste 
von Labrador für die Jahre 1883—1886, ferner von Kamerun für das Jahr 1885/86, von 


*) Von der Norddeutschen Seewarte. 


Dr. G. NEUMAYER, Die Deutsche Seewarte. 35 


Walfisch-Bay und von Cuyaba (Süd-Amerika). Die Resultate der überseeischen deutschen 
Beobachtungen werden in der Deutschen Seewarte gesammelt und in zwanglosen Heften, 
betitelt »Deutsche überseeische meteorologische Beobachtungen«, herausgegeben. 

Es ist einleuchtend, dafs ein meteorologisches Archiv von solchem Umfange 
nicht sofort und von dem Personale des Institutes bearbeitet und ausgebeutet werden 
kann. Abgesehen davon, dafs dies an und für sich eine Unmöglichkeit wäre, ist es 
auch schon durch den Fortschritt in der Wissenschaft bedingt, dafs von Zeit zu Zeit 
solche Schätze faktischer Beobachtungen von neuen Gesichtspunkten aus bearbeitet werden 
müssen. In dieser Hinsicht ist es eine erfreuliche Erscheinung, dafs schon seit Jahren 
junge Gelehrte, Studierende an Hochschulen, sich Aufgaben zur Bearbeitung stellen, wofür 
sie in dem Archiv der Seewarte die Grundlage, d. h. das Beobachtungs-Material finden, 
und auch von dem durch diesen Umstand gebotenen Vorteile Gebrauch machen. All- 
jährlich halten sich zu solchem Zwecke eine Anzahl junger Gelehrter an dem Institute auf. 

Es mag in Kürze hier erwähnt sein, dafs sich die Güte des in dem Archiv der 
Seewarte befindlichen Materials von Jahr zu Jahr gehoben hat, so dafs es heute einen 
Rang einnimmt, der von keinem Materiale eines anderen Instituts übertroffen wird. 
Gerade dadurch wird dieses Material aber für strengere meteorologische Untersuchungen 
so aufserordentlich wertvoll. Da es im Archiv strengstens geordnet ist, und in den 
Büchern, welche die Prüfungs-Resultate über ihre Güte enthalten, eine Kritik des Wertes 
jeder Gattung von Beobachtungen gegeben wird, so ist auch die Möglichkeit der Be- 
nutzung nach jeder Richtung hin gewährleistet. | 

Zu verschiedenen Malen wurde in diesen Darlegungen 'auf die Gegenleistungen 
verwiesen, durch welche die Seewarte ihre Mitarbeiter in der Ausübung ihres Berufes 
zu unterstützen bestrebt ist. Alle Veröffentlichungen, die von dem Institute ausgehen, 
erhalten die Mitarbeiter gratis. Dahin gehören die Arbeiten, welche in den Annalen der 
Hydrographie und maritimen Meteorologie erscheinen, und in Separat-Abdrücken zur 
Verteilung gelangen. Dahin gehören ferner die klimatologischen Arbeiten über die 
Zehngradfelder des Atlantischen Ozeans, der Pilote, die synoptischen Karten des Nord- 
atlantischen Ozeans und die Segel-Handbücher. Auch wurden auf Verlangen Segel- 
Anweisungen für spezielle Reisen ausgearbeitet, die mit der Zunahme der von der See- 
warte herausgegebenen einschlägigen Litteratur mehr und mehr ın Abnahme kamen. Im 
ganzen wurden von 1875—1886 630 solcher Anweisungen ausgegeben, die gröfste An- 
zahl im Jahre 1881 mit 90 einzelnen Anweisungen, im Jahre 1875 nur 25 und die 
gleiche Anzahl im Jahre 1886. 

l Der Verkehr aktiver Schiffer und Steuerleute innerhalb der Seewarte, sowohl in 
der Abteilung I, wie in der Bibliothek und den sonstigen Sammlungen ist ein sehr reger; 
die Raterteilung seitens des Vorstehers der Abteilung I. in nautischen Dingen an prak- 
tische Seeleute bildet heutzutage eine erhebliche Quote der demselben zufallenden Arbeit. 

Wir haben schon in einem früheren Teile dieser Abhandlung von der Gegen- 
leistung gesprochen, die darin besteht, dafs die nautischen Instrumente aller Art in der 
Seewarte geprüft werden. Es ist die Aufgabe der Abteilung II, dieser Pflicht zu ge- 


36 Dr. G. NEUMAYER, Die Deutsche Seewarte. 


nügen; wie sie derselben nachkam, kann nicht schlagender beleuchtet werden, als durch 
den Wandel zum Besseren, welcher hinsichtlich der Präzisions-Instrumente zu den Zwecken 
der Navigation eingetreten ist. 

Begreiflicherweise ist es nicht möglich, in dieser immerhin nur kurzen Abhand- 
lung über die Thätigkeit der Seewarte während zwölf Jahren eingehend die Errungen- 
schaften hinsichtlich der Verbesserung der Instrumente zu besprechen; es liegen darüber 
auch spezielle Abhandlungen vor, so über die Prüfung von Sextanten, über die Prüfung 
von Thermometern, die Resultate der Deviations-Bestimmungen in den deutschen Hafen, 
welche sämtlich in dem von der Seewarte herausgegebenen Sammelwerke »Aus dem 
Archiv der Deutschen Seewarte« enthalten sind. Aus diesen Arbeiten erhellt zur Genüge 
sowohl die grofse Zahl von einzelnen Instrumenten, die hier zur Untersuchung gelangten, 
wie auch, dafs die Qualität derselben sich von Jahr zu Jahr gehoben hat. 

Aus der Reihe jener Arbeiten heben wir hier nur den Bericht über die Thermo- 
meter-Prüfungen hervor, da unzweifelhaft gerade auf diesem Gebicte durch die Thätig- 
keit der Seewarte ein erheblicher Umschwung und Fortschritt mit Beziehung auf die 
Pflege der Thermometrie in Deutschland eingetreten ist. Vor der Zeit, da die Seewarte 
die Prüfung von Thermometern zu ärztlichen Zwecken aufgenommen hatte, geschah in 
Deutschland wenig oder nichts in dieser wichtigen Angelegenheit. Es mufste sich die 
Direktion der Seewarte sagen, dafs sie die Aufnahme dieser Arbeit nur alsdann zu recht- 
fertigen vermöchte, wenn die anderen wichtigeren und ihr mchr direkt zugewiesenen 
Arbeiten nicht geschädigt werden würden, und dafs sie bereit sei, dieselbe aufzugeben, 
sobald ein Nachteil für die Thätigkeit des Institutes zu bemerken sci. Von solchen Er- 
wägungen geleitet, wurde die Thermometer-Prüfung während der Jahre 1878 bis Ende 
1883 in gröfserem Mafsstabe ausgeübt. Tausende wurden alljährlich geprüft und darüber 
Certifikate ausgestellt. Sobald nachteilige Folgen von dieser Überbürdung zu verspüren 
waren, und man sich anderwärts anschickte, die Arbeit aufzunehmen, wurde sie seitens 
der Abteilung II. der Seewarte eingestellt und blieb nur noch beschränkt auf die Prüfung 
von Thermometern zu Beobachtungs- und wissenschaftlichen Zwecken. Die kaiserliche 
Normal-Aichungs-Kommission nahm in der Folge die Prüfung der Thermometer auf und 
das Staats-Laboratorium in Hamburg folgte ihr nach, so dafs reichlich für ununterbrochene 
Fortführung derselben gesorgt ist. 

Ein hervorragend wichtiges Gebiet der praktischen Nützlichkeit und theo- 
retischen Forschung ergiebt sich aus der Pflege der Lehre vom Magnetismus in der 
Navigation für die Deutsche Scewarte; es wurde schon in den einleitenden Betrachtungen 
darauf hingewiesen, jedoch scheint es wichtig, gerade darüber in dieser Abhandlung 
Eingehenderes zu berichten, weil dies bisher nur gelegentlich und nicht im strengen 


Zusammenhange geschehen konnte. Es soll hier zunächst von den Kompassen ge- 
sprochen werden. 


Bei der Prüfung der Kompasse war in weit höherem Mafse, als bei den übrigen 
Instrumenten der Gesichtspunkt mafsgebend, Besseres und Brauchbareres einzuführen 
und die Konstruktion dieses für die Seefahrt unentbehrlichsten Instrumentes den Bedürf- 


Dr. G. NEUMAYER, Die Deutsche Seewarte. 37 


nissen einer genauen Navigierung entsprechend umzugestalten. In England war allerdings 
seit der Einführung des Eisenschiffbaues durch die Untersuchung von Zvans, Archibald 
Smith und die Arbeiten des Liverpool Compafls-Committee die Konstruktion des Kompasses 
bereits wesentlich vervollkommnet und befanden sich auch auf den Dampfern der grofsen 
Dampfschifffahrts-Gesellschaften Deutschlands (Hamburg-Amerikanische Packetfahrt-Aktien- 
Gesellschaft und Norddeutscher Lloyd), deren Schiffe sämtlich in England gebaut waren, 
ganz brauchbare Kompasse. Ebenso liefsen sich einzelne Firmen, wie C. Plath in Hamburg 
und W. Zudoph in Bremerhaven angelegen sein, den vorhandenen Mängeln, namentlich 
in der Konstruktion der Kompafsrosen thunlichst abzuhelfen. Bei dem Mangel einer ge- 
eigneten Stelle, an welcher nicht alleın diese Instrumente geprüft, sondern auch die Be- 
obachtungen und Erfahrungen der Seeleute über das Verhalten ihrer Kompasse auf See 
gesammelt wurden, konnte wenig mehr als eine einfache Nachbildung englischen Fabrikats 
vorgenommen werden. Die Anfertigung von Kompassen war in den Hafenstädten Deutsch- 
lands aufserdem noch vielfach in Händen ganz gewöhnlicher Handwerker, denen es an 
jeglichem Verständnisse der mechanischen Prinzipien bei Herstellung des Kompasses 
mangelte; es konnte daher nicht ausbleiben, dafs an Bord sehr vieler, auch eiserner Schiffe, 
die Kompafsausrüstung eine äufserst mangelhafte war. Der Kaiserlichen Marine war es 
gelungen. einen tüchtigen Mechaniker in der Person des Herrn C. Bamberg zu gewinnen, 
der sich der Konstruktion der Kompasse, sowie überhaupt der magnetischen Instrumente 
für Seegebrauch zu widmen die Kenntnisse und die Lust hatte. Die Kompasse, von 
C. Bamberg in Berlin angefertigt, wurden dann auch bald für die Seewarte als Muster 
angenommen und angeschafft, damit nach denselben die von den Hamburger Mechanikern 
angefertigten, verglichen, respektive verbessert werden konnten. Bei allen neu erbauten 
eisernen Schiffen, welche sich an die Scewarte behufs Regulierung der Kompasse wandten, 
wurde die Normalkompafsrose des Standardkompasses der englischen Admiralität (20 cm 
Durchmesser mit 4 Magncetstäben, jeden aus 2 Lamellen) als derzeit beste eingeführt und 
bei älteren Schiffen wurden vielfach die Kompasse mit besseren Rosen versehen und 
dahin gewirkt, dafs gute Azimutkompasse angeschafft und aufgestellt wurden. Die Ein- 
führung der Fluid- oder Schwimmkompasse auf den Dampfern als Steuerkompasse stiefs 
anfangs bei den Schiffsführen auf Schwierigkeiten, da bislang kein deutscher Mechaniker 
im stande gewesen war, gute und brauchbare Instrumente dieser Art anzufertigen. Bei- 
spielsweise waren die auf den Dampfern der Hamburg-Amerikanischen Packetfahrt-Aktien- 
Gesellschaft vorhandenen englischen Schwimmkompasse gröfstenteils nicht brauchbar, 
so dafs bei den Kapitänen cin nicht ganz unberechtigtes Vorurteil gegen die Anwen- 
dung dieser Kompasse als Steuerkompasse eingewurzelt war. Die Seewarte gab des- 
halb, um Versuche anstellen zu können und die Einführung zu ermöglichen, Schwimm- 
kompasse von Damderg Dampfern der Packetfahrt-Gesellschaft mit. Der Erfolg war ein 
so günstiger, dafs sofort auch für einige der New-Yorker Dampfer Kompasse dieser Art 
requiriert wurden. Dies gab die Veranlassung, dafs zuerst der Mechaniker der Hamburg- 
Amerikanischen Packetfahrt-Aktien-Gesellschaft Campbell & Co. Nachfolger, dann die 
Mechaniker C. Plath und A. Carstens sich eifriger mit der Herstellung dieser Kompasse 


38 Dr. G. NEUMAYER, Die Deutsche Seewarte. 


befafsten und auch bald brauchbare Instrumente liefern konnten. In den letzten Jahren 
ist hierzu noch der Mechaniker G. Fechelmann gekommen, dessen vorzügliche Instrumente 
sich bereits einen sehr guten Ruf erworben haben. Da die AdmiralitätsKompafsrose 
auf den Dampfern durch die Erschütterung der Schiffsschraube bei schlechtem Wetter leicht 
unruhig wurde, aufserdem die langen Nadeln der Rose einer Kompensation der viertel- 
kreisartigen Deviation der Regelkompasse, die sich immer mehr als eine Notwendigkeit 
herausstellte, hinderlich waren, so nahm die Direktion schon in den ersten Jahren des 
Bestehens der Seewarte als Reichsinstitut darauf Bedacht, eine Kompafsrose konstruieren 
zu lassen, welche bei kürzeren Nadeln den Anforderungen an Ruhe und Stabilität 
entsprach und dabei genügend empfindlich blieb. Wir haben schon davon berichtet, 
dafs in England Szr William Thomson eine solche Kompafsrose konstruiert hatte. 

Auf Anregung der Seewarte, welche beständig mit Versuchen über die beste 
Konstruktion der Kompafsrosen beschäftigt war, nahm der Mechaniker G. Hechelmann 
in Hamburg die Herstellung einer Kompafsrose, welche allen Anforderungen an Empfindlich- 
keit, Ruhe, Stabilität und Billigkeit entsprechen könnte, auf. Derselbe hat im Laufe der 
letzten Jahre nach einigen Versuchen die Aufgabe zur vollen Zufriedenheit der See- 
warte gelöst. Die Patent-Kompafsrosen mit kurzen Nadeln dieses Mechanikers sind bereits 
in über 2co Exemplaren auf verschiedenen Dampfern und Segelschiffen in Anwendung 
gekommen und erfreuen sich dieselben einer immer gröfser werdenden Aufnahme unter 
den Schiffsführern. Es darf sonach wohl behauptet werden, dafs in Bezug auf die Güte 
und Brauchbarkeit der Kompasse, seit dem Bestehen der Seewarte ein vollständiger 
Wandel zum Bessern geschaffen worden ist und mehrere deutsche Mechaniker jetzt durch- 
aus im stande sind, Instrumente dieser Art, die allen Anforderungen des Verkehrs 
entsprechen, zu liefern. Geprüft wurden im ganzen im Laufe der 12 Jahre 800—900 
Kompasse; die meisten derselben waren mit Reserverosen versehen. 

Die Anwendung der Lehre vom Magnetismus in der Navigation ist der Teil 
der Aufgaben der Abteilung II, der sich in Verbindung mit der Verbesserung der Kompasse 
im Laufe der Jahre als der wichtigste und bedeutsamste erwies. Bei Errichtung der 
Seewarte vollzog sich in Deutschland die Umwandlung der Segelschiffahrt in Dampf- 
schiffahrt und der Übergang von Holzschiffen zu Eisenschiffen, sodafs in den deutschen 
Häfen allmählich mehr und mehr Werften für Eisenschiffbau entstanden und ein grofser 
Teil neuer Dampfer und Segelschiffe, welche früher fast ausschliefslich in England gebaut 
waren, jetzt in Deutschland hergestellt werden konnten. Damit ergab sich aber ganz 
von selbst das Bedürfnis nach einer geeigneten Stelle, wo Schiffbauer, Rheder und 
Kapitäne sich über Aufstellung der Kompasse und Kompensation der Deviationen der- 
selben kompetenten Rat erholen konnten. Es wurden allerdings an verschiedenen Hafen- 
plätzen Deutschlands von Navigationslehren und von Mechanikern Untersuchungen über 
die Deviationsverhältnisse der Kompasse an Bord eiserner Schiffe vorgenommen, die 
Untersuchungen beschränkten sich indefs lediglich auf Bestimmung der Deviatıon auf ge- 
radem Kiel, an eine Bestimmung des Krängungsfehlers und der mittleren Richtkraft wurde 
nicht gedacht und auch auf die Aufstellung des Kompasses keine besondere Rücksicht 


Dr. G. NEUMAYER, Die Deutsche Seewarte. 39 


genommen, wie denn überhaupt von einer streng wissenschaftlichen Behandlung der 
Sache bei dem mangelnden Verständnis nicht wohl die Rede sein konnte. 

Welche Einrichtungen getroffen werden mufsten und welche Schwierigkeiten zu 
überwinden waren, um hierin Wandel zu schaffen, ist bereits im ersten Jahresbericht 
der Seewarte (1875—1878) ausführlich dargelegt. Der darin entwickelte, theoretisch be- 
trachtet, allein richtige Standpunkt der Direktion, dafs die Seewarte als wissenschaftliches 
Institut eigentlich in die Praxis der blofsen Deviationsbestimmung selbst, sowie der 
Kompensation zu grofser Deviationen nicht einzugreifen habe, sondern wesentlich sich 
darauf beschränken müfste, Rat und Instruktion zu erteilen, über die zweckmäfsigste 
Aufstellung der Kompasse an Bord, über die Art und Weise ihrer Kompensation, die 
Behandlung der Deviation auf See und durch Sammlung und Diskussion der Schiffs- 
beobachtungen die Lehre der Deviation zum Zweck einer genaueren Navigierung der 
Schiffe zu fördern, konnte in der vollen Strenge nicht durchgeführt werden. Es mangelte 
dazu vor allem an der notwendigsten Vorbedingung, nämlich an Personen, welche nicht 
allein im stande waren, die Deviation eines Kompasses zu bestimmen und eventuell zu 
kompensieren, sondern die auch ein tieferes Verständnis für das hatten, was sie thaten, 
d. h. welche wenigstens einige physikalische und mathematische Kenntnisse besafsen, 
um auch den wissenschaftlichen Anordnungen der Seewarte folgen zu können. Die meisten 
Navigations-Schulen hatten sich damals noch nicht eingehend mit diesem Zweige der Nautik, 
der Deviationslehre, befafst. Ebenso war in den deutschen Lehrbüchern der Navigation 
über diesen Gegenstand nur Unzulängliches enthalten, zuerst in der vierten Auflage zu 
Breusings Steuermannskunst (1877) wurde beispielsweise der Deviationslehre ein besonderes 
Kapitel gewidmet. | 

Die Seewarte sah sich daher genötigt, voll und ganz, praktisch und theoretisch 
in die Deviationsfrage einzutreten und auch in ihren Verordnungen und Regulativen die 
praktische Regulierung der Kompasse an Bord eiserner Schiffe inklusive der Deviations- 
bestimmung mit auf ihr Programm zu schreiben. Bei dieser teılweisen Verschiebung 
des Standpunktes, bei der Unmöglichkeit, im Anfange ohne Beobachtungsmaterial, welches 
erst gesammelt werden sollte, wesentliche Fortschritte zu erzielen und daher gezwungen 
Untersuchungen anzustellen, die zu praktischen Folgerungen für die Navigierung des 
Schiffes zu verwerten waren, konnte es nicht ausbleiben, dafs die eigentliche Bestimmung 
der Deviation selbst zu viel in den Vordergrund trat. Dies mufste naturgemäfs, ver- 
bunden mit den unvermeidlichen Vorurteilen, die stets und allerorten zu überwinden sind, 
sobald Neues geschaffen und mit althergebrachten Gewohnheiten gebrochen werden soll, 
einen gewissen Widerstand in nautischen Kreisen hervorrufen. Die Seeleute wandten 
ein, dafs, da die Deviation sich auf See fortwährend ändere, Deviationsbestimmungen in, 
oder in der Nähe des Hafens keinen Wert für sie hätten, die Änderungen in der Deviation 
aber seien so unregelmäfsig, dafs man doch immer beobachten müsse und daran könne 
auch die Seewarte nichts ändern; dies aber war nur mit dem in Einklang, was die Seewarte 
auch fortwährend betonte: dafs Deviationsbestimmungen allerdings nach wie vor auf 
See angestellt werden müfsten und gerade zu diesem Zwecke den Schiffen eigene Journale 


40 Dr. G. NEUMAYER, Die Deutsche Scewarte. 


mitgegeben werden, die dazu dienen sollen, in systematischer Weise jene Änderung 
der Deviation zu verfolgen und aus den auf diesem Wege gewonnenen Resultaten Schlüsse 
für die Navigierung des Schiffes zu ziehen. Überdies lag das Bedürfnis nach einer 
korrekten Regulierung der Kompasse bei den zunehmenden Neubauten von eisernen 
Schiffen in Deutschland so sehr vor, dafs die Hilfe der Scewarte sehr bald mit mehr 
oder minder Bereitheit in Anspruch genommen wurde. 

Die folgenden Zahlen erweisen, wie sich nach und nach die Inanspruchnahme 
der Seewarte nach dieser Richtung steigerte. Es wurden während der ganzen Epoche, 
1875 bis 1886, 742 deutsche Schiffe untersucht, wovon auf die Jahre 1875 bis 1878 135, 
1879 bis 1882 270, 1883 bis 1886 337 entfallen. 

Die Organisation einer strenge geregelten Beobachtung der Kompafsfehler an 
Bord der Schiffe auf See und die Eintragung derselben in das Deviations-Journal, dessen 
Führung ein grofser Teil der von der Zentralstelle in Hamburg untersuchten Schiffe 
übernahm, wodurch die Schiffsführer auf die Änderungen in den Deviationen ihrer Kom- 
passe und die Gefahren, denen sie ausgesetzt waren, aufmerksam wurden, konnte an sich 
selbst schon nicht verfehlen, die Sicherheit in der Navigierung der eisernen Schiffe zu 
fördern und den Bestrebungen der Seewarte mehr Eingang zu verschaffen. Durch die 
streng wissenschaftliche Diskussion der Beobachtungen aber ergaben sich alsbald Resultate, 
welche es ermöglichten, nicht allein das Gesetz der Änderungen der Deviationen für das 
betreffende Schiff festzustellen, sondern auch allgemeine Schlufsfolgerungen zu ziehen, 
welche für die Auswahl der Aufstellungsorte der Kompasse und die Art ihrer Kompen- 
sation von Bedeutung waren. Durch Forschungen dieser Art wurde die Abteilung 
allmählich in den Stand gesetzt, den Kapitänen derjenigen Schiffe, deren Kompasse von 
der Seewarte reguliert wurden, von vornherein einen positiven Anhalt über Richtung und 
Gröfse der zu erwartenden Änderungen der Deviation auf See bei Ortsveränderung des 
Schiffes mitgeben zu können. Begreiflicherweise konnte solches nur alsdann geschehen, 
wenn der Baukurs des Schiffes und die Richtung der Lage desselben vor der Beobachtung 
bekannt waren, was sich in den meisten Fällen ermitteln liefs. 

Ein sehr wichtiger Fortschritt in der Deviationslehre war zu verzeichnen, als es 
durch die Untersuchungen des Vorstehers der Abteilung gelungen war, die der Schiffahrt 
am meisten Gefahr bringenden Schwankungen in den Deviationen der Kompasse, welche 
durch die Aufnahme von remanentem Magnetismus infolge der Erschütterungen durch 
die Fahrt auf längere Zeit eingehaltenen Kursen entstehen, der Rechnung zu unterwerfen. *) 
Die vorzüglichste Bedeutung erhalten die Resultate dieser Untersuchung dadurch, dafs die 
Navigierung eiserner Schiffe eine ungleich gröfsere Sicherheit zu Zeiten gewinnen kann, 
wo direkte Beobachtungen über die Deviation auf See nicht zu erlangen sind. 

Auch auf anderen Gebieten der Untersuchung von Apparaten, welche zur Sicher- 
ung der Navigierung führen, hat die II. Abteilung der Seewarte bedeutsame Arbeiten ge- 


*) Vergleiche Kapitän Ar/dewey: »Über die Veränderung des Magnetismus in eisernen Schiffen.ce Aus 
dem Archiv der Deutschen Seewarte, II. Jahrgang 1879, No. 4. 


Dr. G. NEUMAYER, Die Deutsche Seewarte. 4l 


liefert. Schon im Jahre 1875 wurde die Konstruktion und Leuchtkraft der Positions- 
Laternen durch praktische Versuche eingehend geprüft. Ein darüber veröffentlichter 
Bericht enthält die Resultate dieser Untersuchung und giebt diejenigen Normen für die 
Konstruktion dieser wichtigen nautischen Apparate an, welche die darüber durch Kaiser- 
liche Verordnung geregelten Anforderungen zulassen, d. h. es werden für die zu er- 
füllenden Bedingungen, die Minimal-Anforderungen an die Apparate festgesetzt. Im 
Frühjahre des Jahres 1880 wurden in gleicher Weise die Schallsignale, Nebelhörner, 
Sirenen u. s. w. verschiedener Konstruktion geprüft und auch dafür in einem umfassenden 
Berichte die Normen gegeben. 

Wir sehen sonach aus den vorstehenden Schilderungen, dafs das Wirken 
der Deutschen Seewarte auf dem Gebiete der Verifikation und Prüfung der ver- 
schiedenartigsten Instrumente, welche in der Nautik zur Anwendung kommen, ein 
sehr vielseitiges und — wir zögern nicht, es auszusprechen — ein von greifbarem 
Nutzen begleitetes war. 

'Es wurde schon in einem früheren Stadium dieser Darlegungen über die Thätig- 
keit der Seewarte der leitenden Gesichtspunkte gedacht, welche bei Errichtung eines 
Chronometer-Prüfungs-Institutes in Verbindung mit der Deutschen Seewarte mafsgebend 
gewesen sind. Glücklicherweise ist die allgemeine Einsicht in diesen wichtigen Zweig 
der Instrumenten-Kontrolle gegenwärtig so weit gereift, dafs es einer umständlichen Aus- 
einandersetzung über die Bedeutung der Sache nicht mehr bedarf. Auch geben teils die 
einzelnen Jahres-Berichte, teils auch spezielle Abhandlungen über den Gegenstand so um- 
fassenden Aufschluss über die Entwickelung und den gegenwärtigen Stand der Perfek- 
tiblität der deutschen Chronometer-Fabrikate, dafs es wohl nicht erforderlich ist, hier 
noch des Näheren auf eine Präzisierung der einzelnen Punkte einzugehen. Mit einiger 
Befriedigung kann es ausgesprochen werden, dafs sich durch die steten im Chronometer- 
Institute ausgeführten Untersuchungen die deutsche Industrie nach Qualität und Quantität 
seit den letzten 10 Jahren gehoben hat. Nicht unwesentlich trugen hierzu die alljährlich 
abgehaltenen Chronometer-Konkurrenz-Prüfungen, deren bereits 10 abgehalten worden 
sind, bei. Die Gesamtsumme der in diesen Prüfungen untersuchten Instrumente beträgt 
313, und zwar sind dieselben nur von deutschen und schweizer Chronometer-Fabrikanten 
eingeliefert worden. Die letzteren waren von fremden Nationen allein zugelassen. Mit 
diesen Prüfungen waren Prämierungen verknüpft und konnte überdies mit einiger Sicher- 
heit darauf gerechnet werden, dafs prämierte Instrumente zu hohen Preisen von der 
Kaiserlichen Admiralität angekauft wurden. Die Inanspruchnahme des Institutes seitens 
des nautischen Publikums und der Chronometermacher war keine sehr lebhafte, was seinen 
Grund allein darin hat, dafs Schiffsführer am liebsten ihre Instrumente den Uhrmachern, 
deren Hilfe sie ja doch bei der Reinigung in Anspruch nehmen müssen, während der Zeit 
ihrer Anwesenheit im Hafen zur Überwachung ihres Ganges übergeben. Dagegen wäre 
denn auch an und für sich nichts einzuwenden, wenn man für alle Fälle die Überzeugung 
haben könnte, dafs diese wichtige Funktion in strengster Weise ausgeführt werden würde. 
So lange die Führung eines Chronometer-Journales nicht obligatorisch ist, und die Vor- 


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42 | Dr. G. NEUMAYER, Die Deutsche Seewarte. 


legung desselben vor ciner kompetenten Behörde nicht für nötig erachtet wird, wird auch 
ein entschiedener Wandel zum Besseren nicht erwartet werden dürfen. 

Es werden die Untersuchungen dieser wichtigen Instrumente im allgemeinen 
heute, am Schlusse d. J. 1886, nach denselben Normen durchgeführt, wie zur Zeit, als 
dieselben aufgenommen wurden. In neuester Zeit sind Chronometer-Untersuchungen aus- 
geführt worden, wobei die Instrumente auf schwankender Unterlage sich befanden, sowie 
denn auch namentlich in umfassender Weise Untersuchungen über den Einflufs der 
Feuchtigkeit auf das Chronometer und die Mittel, diesen Einflufs zu paralisieren, gemacht 
werden. | 

In jedem Jahres-Berichte der Scewarte wird dem Wunsche Ausdruck gegeben, dafs 
sich Rheder und Schiffsführer beim Erwerben von Instrumenten doch der Vermittelung 
der Seewarte insoferne bedienen möchten, als sie über den Charakter eines bestimmten 
Instrumentes Information einzuziehen nicht verabsäumen. In dieser Hinsicht bleibt auch 
heute noch vieles zu wünschen übrig. 

Einem grofsen Teile des deutschen Publikums gilt die Scewarte in erster Linie 
als das Zentral-Wetterbureau für Deutschland, das sich mit dem Aufstellen von Wetter- 
Voraussagungen (Prognosen) als Hauptaufgabe zu befassen hat. Welche Bewandnis es 
mit dieser Auffassung hat, geht wohl einem jeden, dem es überhaupt um ein klares 
Erkennen zu thun ist, aus dem bereits über die bisherige Thätigkeit der Seewarte Ge- 
sagten zur Genüge hervor. Die erschwerenden Umstande, unter welchen gerade dieser 
Zweig der Thätigkeit der Deutschen Scewarte ins Leben trat, ergeben sich schon aus 
dem, was über den Stand meteorologischer Forschung in Deutschland an einer anderen 
Stelle gesagt wurde. Wir können uns daher hier lediglich auf das beschränken, was über 
die Entwickelung der Wetter-Telegraphie in Deutschland und die ausübende Witterungs- 
kunde überhaupt zu sagen ist. 

In wenigen Zeilen sci hier noch einmal das Grundprinzip der Seewarte auf 
diesem Gebiete betont, wie cs in allen Handlungen und Darlegungen in bestimmtester 
Weise bekannt gegeben wurde. Die Grundlage aller Sturm- und Wetter-Prognose wird 
durch ein gründliches Studium der jeweiligen synoptischen Witterungs-Verhältnisse über 
ein gröfseres Gebiet gegeben; wir mufsten das Gebiet Europas als das annehmen, worauf 
sich — mangelnder telegraphischer Verbindungen wegen -— das Feld der Forschung 
zu beschränken hatte. Aus Untersuchungen für die täglichen Zwecke, die auf solcher 
Grundlage aufgebaut werden können, ist es unter allen Umständen nur möglich, ganz 
allgemeine Folgerungen über die kommende Witterung anzugeben. Den lokalen Beob- 
achtungen mufs es, namentlich mit Beziehung auf das Vorkommen der Niederschläge, über- 
lassen bleiben, eine genauere Definierung der zu erwartenden Erscheinungen zu geben. 
Etwas anders und günstiger liegt der Fall hinsichtlich der zu erwartenden Windstärken 
und Windrichtung und sind dieselben, wenn man absieht von durchaus lokalen Ein- 
flüssen, wie etwa einen durch Gebirge gegebenen Windschatten, mehr allgemeiner Natur 
für ein gröfseres Gebiet, weshalb sich in diesem Falle schon cher von einer Lokal-Prog- 
nose abschen läfst. Die Deutsche Seewarte konnte, diese Grundsätze als unantastbare 


Dr. G. NEUMAYER, Die Deutsche Seewarte. 43 


aufstellend, daher nur in einer enggegliederten Organisation im Innern des Landes irgend 
einen Vorteil, der sich aus Wetter-Vorhersagungen ergeben könnte, erblicken, während 
sie es wagen durfte, Sturm-Prognosen mit Aussicht auf Erfolg, selbst für eine so ungünstig 
gelagerte Küste, wie die Deutschlands, zu geben. Bei aller und jeder Gelegenheit, in 
Schrift und in Wort, hat dieselbe seit 1876 ihren Standpunkt klar und unverrückt dar- 
gelegt und mit ihrem ganzen Einflusse darauf hingewirkt, dafs im Deutschen Reiche jene 
organisatorische Gliederung auf dem ganzen Gebiete durchgeführt werde; von vornherein 
wurde mit Nachdruck betont, dafs ohne eine solche ein entsprechender Erfolg nicht zu 
erwarten sei. Dies geschah in Versammlungen in Hamburg, Bremen, auf der Natur- 
forscher-Versammlung in München (1877), auf jener in Cassel (1878) und bei verschie- 
denen anderen Gelegenheiten, so u. a. vor dem deutschen Landwirtschaftsrate (1880), 
aber vergeblich: die unbedingt notwendigen Organisationen wurden nicht, oder zu spät, 
oder aber für viel zu kleine Gebiete geschaffen, um ceinen Erfolg erzielen zu können. 
Die Deutsche Seewarte war aber hinsichtlich dieses Erfolges zu keiner Zeit allzu san- 
guinisch, vielmehr betrachtete sie das, was jetzt geschehen konnte, nur als ein Vor- 
studium für das, was durch ausgebreitete, über den Ozean und nach dem hohen 
Norden führende Verbindungen auf diesem Gebiete geleistet werden konnte. Wir werden 
sogleich hören, wie sich die mafsgebenden Persönlichkeiten des Institutes die Entwickelung 
der ausübenden Witterungskunde mit besonderer Anwendung auf Europa denken. In 
der festen Erwartung, dafs man die einmal aufgenommene Sache nicht entmutigt fallen 
lassen würde, ist seitens des jungen Institutes in die schwierige Aufgabe der Sturm- 
und Wetter-Prognose eingetreten worden; es geschah dies nicht etwa infolge eines 
Kompromisses, ehe die Gliederung der Beobachtungs- und Signalstellen durch das ganze 
Reich geschaffen worden war, sondern infolge der sicheren Erwartung, dafs die einmal 
alf Grundlage neuester meteorologischer Forschung aufgenommene Organisation seitens 
der Regierungen der einzelnen Staaten aufgenommen werden würde. Diese Erwartung 
hat sich allerdings nicht erfüllt und es ist deshalb ein ungerechtfertigter und unhalt- 
barer Vorwurf, wenn man das, was durch mangelnde Thatkraft verschuldet wurde, 
nunmehı der Sache selbst zur Last legen möchte. Die zukünftige Forschung wird 
darüber entscheiden. 

Sobald die Scewarte erkannt hatte, dafs an die Verwirklichung ihrer An- 
schauungen nach dieser Richtung in Deutschland nicht zu denken sei, erklärte sie auf das 
bestimmteste, keinen Augenblick länger bei mangelnder Organisation in der beregten Sache 
wirken zu wollen. Auf den ganz bestimmt formulierten diesbezüglichen Antrag der Direk- 
tion an die Kaiserliche Adnyiralität wurden denn auch die Wetter-Prognosen vom 1. Juni 1884 
an für das Gebiet des Reiches, wie sie bisher ausgegeben worden waren, eingestellt und 
blieben lediglich darauf beschränkt, dafs in den autographierten täglichen Wetter-Berichten 
eine ganz allgemeine Prognose gegeben wurde, an welche jederzeit bei lokaler Gliederung 
des Witterungsdienstes die respektiven Lokal-Prognosen angeknüpft werden konnten. 
Wenn in der Folge von mancher Seite dieser, stets klar und unumwunden ausgesprochene 
Sachverhalt ignoriert wurde, um daraus für das Vorgehen der Steewarte ungünstige 


44 Dr. G. NEUMAYER, Die Deutsche Seewarte. 


Schlüsse zu ziehen, so sind die daraus folgenden unvermeidlichen Verdrehungen im 
Interesse der Wissenschaft und der Wahrheit zu bedauern. 

Unterdessen hat das Sturmwarnungswesen an der deutschen Küste, dem man 
ursprünglich, namentlich von praktischer Scite, zwceifelnd gegenüberstand, sich allenthalben 
Freunde erworben. Weil man erkannt hatte, dafs in der That Wertvolles durch dasselbe 
gelcistet wurde, so entstanden im Laufe der Jahre an der Küste, wo ursprünglich nur 45 
Stellen waren, zahlreiche Privat-Signalstellen und solche, die von Lokal-Regierungen ein- 
gerichtet und unterhalten wurden. Die Zentralstelle für Wetter-Telegraphie des deutschen 
Reiches übernahm bereitwilligst die Übermittelung der Nachrichten und Warnungen auch 
an solche Stellen. 

Immer weiter und umfangreicher entwickelte sich die Mitteilung von Witterungs- 
Thatbeständen, an welche in vielen Fallen die Warnungen angeknüpft waren. Von einem 
solchen Systeme zogen und zichen heute noch Schiffahrt und Fischerei-Gewerbe, ja selbst 
die Bernstein-Industrie im fernen Osten und der Weide-Betricb im Westen unläugbaren 
und erheblichen Vorteil. 

Begreiflicherweise mufs mit einem so ausgedehnten Systeme des Signalwesens 
auch das einer tüchtigen Beobachtung der meteorologischen Vorgänge verbunden sein. 
Normal-Beobachtungs-Stationen (Stationen der I. Ordnung nach der Definition des Wiener 
Kongresses), Ergänzungs Stationen (Stationen der II. Ordnung) und zahlreiche Regen- und 
Gewitter-Stationen sind an den vorgeschobensten Punkten der Küste errichtet worden. 
Es bedarf wohl nicht besonders hervorgehoben zu werden, dafs durch ein solches 
System allmonatlich ein reiches Beobachtungs-Material zusammengetragen wurde, welches 
teils in monatlichen, teils in vierteljährlichen und teils in jährlichen Berichten ver- 
öffentlicht wurde. 

Ehe die Deutsche Seewarte in die Organisation des meteorologischen Dienstes 
eintrat, suchte sie dahin zu wirken, dafs die benachbarten Systeme zum Vorteile der 
ausübenden Witterungskunde, namentlich jene von Holland und Dänemark, mit in das 
Interesse gezogen und einheitliche Einrichtungen erzielt wurden. Infolge dieser Be- 
strebungen traten die Direktoren der metcorologischen Systeme von Holland und Däne- 
mark zu einer Konferenz zusammen, welche zwischen dem 11. und 14. Dezember 1875 
in den Räumen der Deutschen Seewarte in Hamburg tagte. Die Herren Direktoren Buys 
Pallot und Hoffmeyer, die langjährigen und treuen Freunde der Deutschen Seewarte, 
folgten gerne der an sie ergangenen Einladung zu einer solchen Konferenz und es kann 
in der That gesagt werden, dafs die Resultate derselben von dem weittragendsten 
Einflusse auf die Entwickelung der Wetter-Telegraphie in Nordwest-Europa gewesen sind. 

Als sich nach und nach und nicht zum geringen Teile durch den Einflufs, den 
die Arbeiten und Bestrebungen der Deutschen Scewarte ausübten, in den verschiedenen 
Staaten Deutschlands meteorologische Organisationen entwickelt hatten, wurde auch die 
Stellung des Institutes insofern eine günstigere, als erhebliche Arbeit von ihr genommen und 
zugleich auch das Verständnis für ihr Wirken gehoben wurde. Das Königreich Sachsen 
war hinsichtlich meteorologischer Einrichtungen am weitesten voraus, seinem Beispiele 


Dr. G. NEUMAYER, Die Deutsche Seewarte. 45 


und jenem der Seewarte folgten nach und nach die anderen Staaten, nur in Preufsen 
liefsen die nötigen Einrichtungen lange auf sich warten, bis sie endlich am ı. Oktober 1885 
infolge der Übernahme der Geschäfte des meteorologischen Instituts in Berlin durch 
Herrn Professor von Besold ins Leben traten. ` 

Auf der 49. Naturforscher- Versammlung, welche im September 1876 in Hamburg 
tagte, wurde seitens der daselbst anwesenden Meteorologen der Beschlufs gefafst, eine 
gemeinsame Veröffentlichung » Meteorologische Beobachtungen in Deutschland«, zu ver- 
anstalten. Dieser Beschlufs kam zur Ausführung, indem die nach dem in Wien fest- 
gesetzten internationalen Schema zusammengestellten Beobachtungen für Deutschland ver- 
öffentlicht wurden. In den Jahren 1876 und 1877 erschienen 

. die »Meteorologischen Beobachtungen in Deutschland« unter der Redaktion 
des Bu de Professors Bruns in Leipzig, von 1878 bis 1886 bedeutend erweitert und 
namentlich mit den Ergebnissen selbstregistrierender Instrumente ausgestattet unter jener 
der Direktion der Seewarte. Aufser dieser Veröffentlichung, von welcher bereits 11 Jahr- 
gänge vorliegen, sind von der Abteilung III. noch die folgenden periodischen Veröffent- 
lichungen herausgegeben worden, 

2. Tägliche autographierte Wetter-Berichte der Sceewarte, von welchen gleich- 
falls 11 volle Jahrgänge vorliegen; dieselben wurden vom ı. Januar 1886 an bedeutend 
erweitert, und zwar dahin, dafs alltäglich für 3 Termine die Wetterlage in Europa durch 
Karten dargestellt wurde, 

3. Monatliche Übersicht der Witterung. Auch davon liegen bereits 11 volle Jahr- 
gänge vor, wovon nahezu ein jeder eine Einleitung enthält, welche teilweise aus den wissen- 
schaftlichen Ergebnissen zusammengesetzt ist, teilweise die praktischen Resultate bespricht, 

4. Monatliche Tabellen der Mittel, Summen und Extreme aus den meteoro- 
logischen Aufzeichnungen der Seewarte. Diese Veröffentlichung kommt sowohl in den 
Annalen der Hydrographie und Maritimen Meteorologie, als auch in der »Monatlichen 
Übersicht der Witterung« allmonatlich zur Verwendung; es erschien dieselbe zuerst mit 
Januar 1878, so dafs Ende 1886 108 Monate dieser Zusammenstellung vorlagen. 

Es kann in dieser Abhandlung nicht die Rede von einer eingehenden Besprechung 
der Abteilung des Witterungsdienstes in Deutschland sein; solches ist in umfassender 
Weise in einem jeden Jahresberichte von 1875 bis 1886 geschehen und müssen wir 
mit Rücksicht auf den ziffernmäfsigen Nachweis, wie sich sowohl die Arbeitslast der 
Abteilung III, welcher der Witterungsdienst anvertraut ist, von Jahr zu Jahr ebenso, wie 
die Erfolge, steigerten, auf jene alljährlich erscheinende Veröffentlichung verweisen. 
Namentlich wurde durch Einführung eines beschränkten Nachtdienstes seit September 1882 
sowohl die erstere erhöht, wie auch die letztere in solchem Mafse gesteigert, dafs man 
sich aufs neue der Hoffnung hingeben konnte, es werde endlich die Küsten-Bevölkerung 
und das schiffahrttreibende Publikum mit der wachsenden Einsicht in das Wesen der 
Thätigkeit der Seewarte, den vollen Vorteil auch auf dem hier in Rede stehenden Ge- 
biete zu ziehen vermögen. 

Die ausübende Witterungskunde in Deutschland wird in dem durch die Ungunst 


46 Dr. G- NEUMAYER, Die Deutsche Seewarte. ® 


der Verhältnisse auferlegten Kampfe mutig ausharren, sie wird — sofern dies in der 
Macht der Zentralstelle legt — auch im Kampfe gegen die leeren Prätensionen, 
wie sie in zahlreichen Äufserungen sowohl mangelnder Einsicht, als auch man- 
gelnder Aufrichtigkeit zu Tage treten, nicht erlahmen. Das Augenmerk der Direktion 
der Scewarte ist unverrückt darauf gerichtet, dafs eines Tages eine, die Region der inten- 
sivsten Witterungs-Vorgänge im Nordwesten von Europa umspannende telegraphische 
Verbindung von Schottland nach den Faröer und Island und von dort bis Süd-Grönland 
und Labrador ausgedehnt und die Mittel bieten werden, den Witterungs- Ausblick nach 
Nordwesten hin zu schärfen und dadurch die Arbeit der Prognose für Europa sicherer 
zu gestalten. 

Es kann diese Darlegung der Thätigkeit der Deutschen Seewarte innerhalb der 
Periode der ersten 12 Jahre ihres Bestehens nicht abgeschlossen werden, ohne einer Ein- 
richtung Erwähnung zu thun, die, indem sie getroffen wurde, einen Wunsch und das 
Bestreben aller jener, deren ernstes Bemühen es war, sowohl die Lehren der Meteorologie, 
wie jene des Magnetismus in die Praxis übergeführt zu schen, verwirklichte. Es ist dies 
der Lehrkursus für Aspiranten der Navigationsschulen, welcher auf Veranlassung der Tec%- 
nischen Kommission für Sceschiffahrt mit der Scewarte verbunden worden ist. Seit dem 
I. April 1882 bis zum Schlusse des Jahres 1886 wurden 5 Kurse abgehalten, alljährlich mit 
dem ı. April beginnend und mit dem 30. September abschliefsend, in welchen zusammen 
25 Navigationslehrer und Navigationsschul-Aspiranten gründliche Unterweisung in allen 
Fächern der Mathematik und Physik, die in der Nautik eine Anwendung finden, em- 
pfingen und im praktischen Beobachten auf den einschlägigen Gebieten ausgebildet 
wurden. Es mag uns erlassen bleiben, an dieser Stelle ein wejteres Wort zur Begründung 
der Zweckmäfsigkeit der von Reichswegen durch diesen Kursus geschaffenen Einrichtung 
zu sprechen; der Erfolg sollte allen jenen, die bisher Gegner derselben waren, die Augen 
öffnen. Es ist unzweifelhaft dieser Kursus als eine schwere Belastung für die See- 
warte anzusehen, zumal derselbe in sciner gegenwärtig noch provisorischen Gestaltung 
in vieler Hinsicht hemmend auf die Thätigkeit des Institutes einwirken mufs. Die 
Direktion hat sich denn auch mit allem Nachdruck bei verschiedenen Gelegenheiten dahin 
ausgesprochen, dafs sie zwar gerne bereit ist, dem deutschen Navigations-Schulwesen 
den wichtigen Dienst zu leisten durch die Aufrechterhaltung des auf Wunsch der 
Technischen Kommission errichteten Lehrkursus für Navigationsschul-Aspiranten, dafs 
sie aber andererseits eine Schädigung der Interessen, um derentwillen die Seewarte 
eigentlich gegründet wurde, gerne vermieden sähe. Das letztere kann nur durch eine 
definitive Einrichtung mit entsprechendem Personale, welches nicht mit den Arbeiten der 
Abteilungen des Institutes zusammenhängt, gewährleistet werden. 

Es ist übrigens die Lehrthätigkeit, welche die Seewarte ausübt in diesem Lehr- 
kursus nicht die einzige, vielmehr geniefsen alljährlich eine gröfsere Anzahl von Kapitänen 
und Steuerleuten und solche, die sich für das Navigations-Schulwesen interessieren, in 
einem oder dem anderen Gegenstande — vorzugsweise in der Lehre von der Deviation 
— Unterweisung und Belehrung. Im Laufe der 5 Jahre seines Bestehens haben fremd- 


Dr. G. NEUMAYER, Die Deutsche Seewarte. 47 


ländische Autoritäten der Hydrographie und des Navigations-Unterrichtes die Seewarte 
gerade um dieses Kursus willen besucht und — wir zweifeln nicht daran — sich dadurch 
von der Richtigkeit des Grundsatzes überzeugt, dafs man, um gerade auf diesem Gebiete 
lehren zu können, gründlich und in steter Berührung mit Erfahrung und Forschung 
gebildet sein mufs. | 

Wir können diese Besprechung kaum für den dabei im Auge gehabten Zweck 
praktischer abschliefsen, als durch eine Aufzählung der von der Seewarte in regelmässiger 
Folge herausgegebenen Werke und Veröffentlichungen. 

Zunächst sei erwähnt, dafs als Mitteilungen von der Deutschen Scewarte in den 
Annalen der Hydrographie und Maritimen Metcorologie eine grofse Anzahl von Aufsätzen 
und Berichten erschienen sind, worüber die einzelnen von der Direktion herausgegebenen 
Jahres-Berichte einen Überblick gewähren. Dieselben repräsentieren bis zum Schlusse 
des Jahres 1886, 3430 Grofs-Oktavseiten und sind vorwiegend nautischen Inhalts. Zu 
dieser erheblichen Kontribuierung zu den wichtigen Veröffentlichungen der »Annalen« 
treten auch noch die an einer anderen Stelle erwähnten 108 Tafeln meteorologischer 
Beobachtungen. Da, wo von den litterarischen Leistungen der Abteilung III die Rede 
war, wurde schon der derselben obliegenden Veröffentlichungen gedacht. Daran schliefsen 
sich die folgenden. 

5.*) Aus dem Archiv der Deutschen Seewarte, ein Sammelwerk für verschiedene 
Abhandlungen über physikalische, magnetische, meteorologische und nautische Gegenstände. 
Davon sind bis Ende 1886 9 Jahrgänge erschienen. 

6. Resultate meteorologischer Beobachtungen von deutschen und holländischen 
Schiffen für Eingradfelder des nordatlantischen Ozeans. Davon sind 7 Bände erschienen. 

7. Tägliche synoptische Wetterkarten für den nordatlantischen Ozean des 
Dänischen meteorologischen Instituts und der Deutschen Seewarte; erschienen sind 
3 Jahrgänge. 

8. Der Pilote, ein Führer für Segelschiffe. Davon sind erschienen 4 Bände. 

9. Deutsche überseeische meteorologische Beobachtungen, erschienen oder im 
Erscheinen begriffen ist das erste Heft mit den Termin-Beobachtungen für die 6 deutschen 
Stationen an der Küste von Labrador für je 15 Monate und der Stationen der Neu- 
Guinea - Compagnie in Hatsfeldthafen für 5 Monate, sowie der Missions-Station in 
Walfischbat. | 

10. Schon im J. 1885 wurde der Grund gelegt zu einer weiteren periodischen 
Veröffentlichung, die mit dem Beginn des J. 1887 ins Leben trat. Es ist dies 10. die 
» Vierteljahrs-Wetter-Rundschau an der Hand der täglichen synoptischen Wetterkarten für 
den nordatlantischen Ozean des Dänischen meteorologischen Institutes und der Deutschen 
Seewarte. Herbst 1883. Jahrgang I, Heft ı. (Mit 9 Karten).« | 

Diese zahlreichen fortlaufenden Veröffentlichungen, deren Charakter und Inhalt 


*) Es wird hier die Nummerierung fortgesetzt, welche da, wo von der litterarischen Thätigkeit der 
III. Abteilung die Rede war, begonnen worden ist. 


48 Dr. G. NEUMAYER, Die Deutsche Seewarte. 


bekunden zur Genüge die Ausbreitung des Arbeitsfeldes der Seewarte und deren Thätig- 
keit, welche, da zu diesen fortlaufenden Veröffentlichungen noch eine Anzahl gröfserer, 
von Zeit zu Zeit herausgegebener Werke, als Segelhandbiicher und Atlanten, Karten 
der magnetischen Elemente u. a. m. hinzukommt, als eine schon in litterarischer Hinsicht 
ganz ungewöhnlich intensive zu bezeichnen ist. 

Es würde diese Darlegung der Thätigkeit der Deutschen Scewarte während der 
der ersten 12 Jahre ihres Bestehens nicht vollständig sein, wenn nicht die Namen der- 
jenigen Männer, welche sich als Abteilungsvorsteher in diesem Zeitraume hervorragende 
Verdienste um das Gedeihen und Blühen des Instituts erworben haben, hier noch eine 
Stelle finden. Die Herren C. Koldewey, W. Wagner (im Jahre 1878 verstorben), Direktor 
G. Rümker, Professor Dr. W. Koeppen, Dr. F. van Bebber und L. Dinklage haben durch 
wissenschaftliche Arbeiten auf dem der Scewarte zugewiesenen Arbeitsfelde ihre Namen 
mit dem Wirken und Gedeihen des Institutes für alle Zeiten verknüpft. Wenn der 
Geist, der bisher die Arbeiten, welche von der Scewarte ausgingen, durchdrang, erhalten 
bleibt, so kann es keinem Zweifel unterliegen, dafs mit der Ausdehnung des deutschen 
Weltverkehrs zur See auch die Bedeutung der Secwarte für diesen Weltverkehr in 
gleichem Mafse gehoben werden wird. 


Die 


Farben-Korrektion der Fernrohr-Objektive 


Gauss und Fraunhofer. 


Dr. Hugo Krüss. 


.,_ lo — 


Die Farben-Korrcktion der Fernrohr-Objektive 


von Gauss und von Fraunhofer. 
Von 


Dr. Hugo Krüss. 


Vor längerer Zeit habe ich die Eigenschaften des von Gauss angegebenen Fern- 
rohr-Objektives mit dem Zraunhoferschen Objektive, als dessen Typus das Objektiv des 
Königsberger Heliometers nach Desses klassischer Beschreibung gilt, sowie mit dem von 
Steinheil damals zum Photographieren des Venusdurchganges konstruierten Objektive 
verglichen und gezeigt, dass das Gausssche Objektiv eine ungleiche Vergröfserung für 
Strahlen von verschiedener Farbe liefert und aufserdem nur ein kleines Gesichtsfeld ver- 
trägt '); dieses ist der Grund, aus welchem man bis heute an der in diesen Beziehungen 
besseren /raunhoferschen Konstruktion des Fernrohr-Objektives festhält, so dass nur wenig 
Gausssche Objektive überhaupt vorhanden sein mögen. Auf der Naturforscherversammlung 
in Berlin (1886) fand sich nun in der wissenschaftlichen Ausstellung aufs neue ein Objektiv 
Gaussscher Konstruktion; dasselbe war aus Jenaer Glas von Dr. S. Czapski in Jena be- 
rechnet und von C. Bamberg in Berlin ausgeführt worden. Ich habe infolge dieses 
äufseren Anlasses mich mit erneuctem Interesse diesem Gegenstande zugewendet und 
gebe nun im folgenden das seit meiner ersten Veröffentlichung darüber von mir ange- 
sammelte Material. Hauptsächlich in Bezug auf das sekundäre Spektrum mag dasselbe 
von Interesse sein, weil, wie zu erwarten stand, das neue Objektiv aus Jenaer Glas in 
dieser Beziehung günstiger hergestellt werden konnte, als solches vordem möglich war. 


I. Die Gausssche Bedingung. 


Kin optisches System liefert in allen Beziehungen fchlerfreic Bilder, wenn allen 
auffallenden Strahlen dieselben Haupt- und Knotenpunkte und dieselben Brennpunkte zu- 
kommen, welche der mittlere Axenstrahl, das heifst ein Strahl mittlerer Brechbarkeit, 


H) Vergleichung einiger Objekuv-Konstruktionen.  Inaug.-Diss. Munchen 1873. 


4 Dr. HUGO KRÜSS, Fernrohr-Objektive. 


welcher in der optischen Axe des Systems legt, hat). Es ist demgemäfs vollkommen 
frei von Kugelabweichung, wenn diese Punkte dieselben sind für alle möglichen Strahlen 
derselben Farbe, welche von einem Objekte in oder aufser der Axe kommen und auf 
irgend welche Punkte der Öffnung treffen. Alle aus der Nicht-Übereinstimmung der 
Kardinalpunkte für diese grofse Anzahl von Strahlen herrührenden Fehler eines optischen 
Systemes gehören in das Bereich der Zeller wegen der Kugelgestalt?). Nach dem all- 
gemein üblichen Sprachgebrauch ist aber cin optischer Apparat dann frei von Augelab- 
wezchung, wenn ein am Rande und ein nahe der Axe einfallender Strahl, die aus dem- 
selben Punkte der Axe kommen, sich nach der Brechung wieder in einem Punkte der 
Axe vereinigen’). Daneben spricht man, um die anderen von der Nichtproportionalitat 
der Brechung der Strahlen herrührenden Fehler zu bezeichnen, von Verserrung‘), von 
gleichzeitiger Hebung des Kugelgestaltfehlers über das ganze Gesichtsfeld?) oder für 
Objekte in verschiedenen Entfernungen (//erschelsche Bedingung), vom sogenannten 
»Kreuzen : der Strahlen®) oder vom Astiemäatismus u. s. f£ Die Auswahl der zu erfül- 
lenden Bedingungen mufs bei der Konstruktion eines optischen Apparates jedesmal den 
zur Verfügung stehenden Mitteln und den geforderten Leistungen angepafst werden. 
Ebenso ist die verschiedene Brechbarkeit der verschiedenfarbigen Strahlen Ursache 
einer ganzen Reihe von Fehlern. Im allgemeinen werden die Kardinalpunkte aller in 
derselben Richtung und an derselben Stelle auf das optische System fallenden Strahlen 
von verschiedener Wellenlänge eine verschiedene Lage haben und wenn diese Abweichung 
selbst für zwei Farben gehoben ist, so ist wegen der Nichtproportionalität der Zerstreuung 
in den verschiedenen zu dem optischen System benutzten Glasarten dieses für Strahlen 
anderer Farben nicht der Fall, wenn auch dieser Fehler der sekundären Farben bei .\n- 
wendung entsprechender Gläser aus den Glastechnischen Laboratoriums in Jena jetzt be- 
deutend geringer ausfällt als früher. Wäre dieser Fehler nun aber wirklich streng fur 
diese Strahlen gehoben, so wäre er es nicht ohne weiteres für alle solche Strahlen, die 
zwar von demselben Punkte ausgehen, das System aber in anderer Entfernung von der 
Axc treffen und vollends nicht für Strahlen, die von anderen Punkten herrühren. Von 
allen diesen Fehlern bezeichnet man aber nur den Abstand der Brennpunkte von einander 
für zwei in der optischen Axe auf das System fallende verschiedenfarbige Strahlen mit 
Abweichung wegen der Farbenzerstreuung‘) und das Verschwinden dieses Abstandes ge- 
meinhin mit Achkromasie des Systems. Alle anderen von der verschiedenen Brechbarkceit 


N Steinheil, Göttinger Nachr, 1865, p. 133. 

2) Eine eingehende Behandlung der nächstliegenden Fälle s. Z. Seidel: Uber die Entwickelung der 
Glieder dritter Ordnung, welche den Weg eines ausserhalb der Ebene der Axe gelegenen Lichtstrahls durch ein 
System brechender Medien bestimmen. Astr. Nachr. No. 1027— 1029. 

9) Z. Seidel, Zur Theorie der Fernrohrobjektive. Astr. Nachr. No. 835 S. 302 und 1028 S. 313. 

$) Z. Seidel, Astr. Nachr. No. 1029, S. 321. 

2) > > > ? > > S. 326. 

6) > > > > > 1028, S. 319. 

) G. S. Alügel, Analyt. Dioptrik 1778 p. 108. — J. J. Littrow, Dioptrik 1830 p. 70. 


Dr. HUGO KRÜSS, Fernrohr-Objcktive. 5 


der Strahlen verschiedener Wellenlänge herrührenden Fehler brauchen nicht vernichtet 
zu sein, wenn man von einem System allgemein behauptet, es sei achromatisch, und 
auch hier wird es einer besonderen Betrachtung bedürfen, welchen ferneren hierher ge- 
hörigen Bedingungen man bei einem bestimmten optischen Apparate noch weiter ge- 
nügen will und kann. 

Ein Apparat, welcher frei von den Abweichungen wegen der Kugelgcstalt und 
wegen der Farbenzerstreuung ist, erfüllt also nur dre? Bedingungen: 

I) er besitzt eine gegebene Brennweite, 

2) er vereinigt einen nahe der Axe und einen am Rande der Öffnung auf- 
fallenden von demselben Punkte der Axe kommenden Strahl derselben Farbe 
nach der Brechung an sämtlichen Flächen in einen Punkt der Axe, 

3) er vereinigt einen Axenstrahl von einer anderen Farbe, ebenfalls in den- 
selben Punkt der Axe. 

Schliesst man die Dicken der Linsen und ihren Abstand von einander als Ele- 
ment der Konstruktion aus, so wird vorstehenden drci Bedingungen bereits Genüge 
geleistet durch das sogenannte »in einander gepasstex Objektiv, wie es schon von Dos- 
covich vorgeschlagen wurde und seit Fraunhofer als Fernrohr-Objcktiv für kleinere Dimen- 
sionen angewendet wird!) Hier sind, da die beiden inneren Radien einander gleich 
gemacht werden, drei Krümmungen als Elemente verwertbar. 

Sobald man über ein Element mehr verfügen kann, die Gleichheit der inneren 
Radien emes Objektives aus zwei Linsen also aufgiebt, so ist man im stande, eine fernere 
Bedingung zu erfüllen, denn zu jeder wie immer gebogenen positiven Crownglaslinse 
kann eine negative Flintglaslinse berechnet werden, welche bei gegebener Brennweite des 
ganzen Objektives den Kugelsestalt- und den Farbenfchler aufhebt, so dass die Form 
eines solchen Systems erst festgelegt ist durch die Einführung einer weiteren Bedingung. 
Als vierte Bedingung ist nun von verschiedenen Theorctikern und Praktikern eine ganze 
Reihe verschiedener Bedingungen vorgeschlagen und in Rechnung und Praxis einge- 
führt worden. | 

Ältere Theoretiker sprachen diese vierte Bedingung meistens in der Form aus, 
dass sie über das Verhältnis der beiden Radien der Crownglaslinse zu einander eine 
bestimmte Annahme machten. Æuler setzte, um die Kugelabweichung dieser Linse zu 


einem Minimum zu machen, dieses Verhältnis — 1 : 7”), Älügel, um möglichst kleine 
Brechungen zu erhalten, = ı: 3°), an anderer Stelle machte er beide Radien gleich ®) 


und erreichte dadurch möglichst geringe Krümmungen der brechenden Flächen und 
infolgedessen möglichst grofse Öffnung und Helligkeit des Objektivs. Diese Bedingung 





1) Steinheil, Math. Phys. Cl. d. Kgl. Bayer. Akad. d. Wiss. 1867, p. 284. Betrachtet man auch das 
Lerhältnis der Dicken beider Linsen zu einander als variabel, so kann einer weiteren Bedingung genügt werden 
(s. Scheibner, Math. Phys. Cl. d. sächs. Akad. d. Wiss., II. Band, § 13 fl.) 

2) L. Euler, Dioptrica. 

3) G. S. Alügel, Comment. Göttingen, 1795—98 Vol. XIM, 

H G. S. Alügel, Dioptrik. § 337- 


6 Dr. HUGO KRUSS, Fernrohr-Objektive. 


hielt auch Zztfrow für die wichtigste!) und gab zur Berechnung solcher Objektive eine 
eigene Tafel”) Dohnenberger hielt es dagegen für vorteilhafter, das Verhältnis der Ra- 
dien der Crownglaslinse = 2:3 anzunchmen.”) 

Welche Bedingung Zraunhofer als vierte bei der Konstruktion des ausgezeich- 
neten lernrohr-Objcktives für grössere Dimensionen, welches nach ihm benannt wird, 
scinen Rechnungen zu Grunde legte, ist lange zweifelhaft gewesen und es sind hierüber 
eine Reihe von Vermutungen aufgestellt worden), doch scheint cs wahrscheinlich, dass 
er bemüht war, den Kugelgestaltfchler über das ganze Gesichtsfeld möglichst zu heben. ”) 
Herschel gab eine Form des Objektives aus zwei Linsen an, bei welcher der Kugel- 
gestaltfehler für Objektive in verschiedenen Entfernungen gleichzeitig gehoben ist.®) 

Während die bisher aufgezählten Bedingungen sich sämtlich beziehen auf Fehler, 
welche von der Kugelgestalt der brechenden Flachen herrühren, so führte Gauss zuerst 
als vierte Bedingung die ein, dass auch ein Randstrahl der seiten Farbe sich nach der 
Brechung mit den drei anderen in Rechnung gezogenen Strahlen in einem Punkte der 
Axe vereinige?) und es soll nun ganz allgemein gezeigt werden, in welchem Verhältnis 
diese Gausssche Bedingung zu. den gewöhnlichen Bedingungen der Kugelabweichung und 
der Farbenzerstreuung steht. 

Zu diesem Zwecke sci: 

n: I das Brechungsverhältnis bei dem Übergänge aus Licht in eine Linse für Strahlen 
von mittlerer Brechbarkeit, welches sich in (n + ¿5 n): I verwandelt, wenn man 
zu cinem Strahl anderer Farbe übergeht; 

r der Abstand des Punktes, in welchem der Strahl die erste brechende Flache 
trifft von der Axe (innerhalb einer durch die Axe gelegten Ebene nach der 
einen Seite positiv, nach der anderen negativ gedacht), welches sich verändert 
in (r + A r) wenn man übergeht zu einem an anderer Stelle auffallenden Strahl 
desselben Büschels; 

a der Abstand desjenigen Punktes, in welchem der Strahl nach Brechung an allen 
Flächen die Axe trifft, von einem festen in der Axe angenommenen Punkte. 
Dann ist a cine Funktion von n und r, also 

a, 

Denkt man sich r durch (r -+ .> r) ersetzt und n durch ın -+- Un), d. h. gcecht 

man von dem zuerst betrachteten Strahl über zu einem solchen demselben Büschel an- 


D F. F. /ittrew, Dioptrik S. 127. 

2) Daselbst S. 136, s. auch Zrechtl: Prakt. Dioptrik S. 101 und Ztschr. f. Math. u. Phys. von Anu- 
gartner und Zlfinghausen II. u. IIL. Het, 

3) Zischr. f. Astronomie I, 279. 

%) Von Herschel, Biot, Seidel, Steinheil. Eine Zusammenstellung derselben bei einhell a. o. O. S, 283. 

5) Z. Seidel, Astr, Nachr. No. 1026, S. 326. 

6) Transactions of the roy. Soc. 1821, S. 222. 

3) C. F. Gauss, Über die achrom. Doppellinse. Ztschr. f. Astronomie IV, 345 u. Gauss Werke V, 307. 





Dr. HUGO KRÜSS, Fernrohr-Objektive. 7 


gehörigen, der gleichzeitig in anderem Abstand von der Axe auffällt und von anderer 
Farbe ist, so kann der veränderte Wert von a 


ds =f rH Arnt An 


nach dem TZaylorschen Satze nach Potenzen der beiden als klein angenommenen Grössen 


Ar und An zugleich entwickelt werden: 





df ı d'f d? f 
f =a tH a  m CNT eds 
' dr 7 + 1.2 dr” + ee | 
d ı d’f d” f 
een ee 3 a Ba ge run + 
Er I.2drdn Died | 
Iı d’f s d? f 
> en A re are 
1 1.2 dn? + 2.3 drd n? i | 
NE An 
„AN 
1.2.3 dn? 
wobei alle Differentialqustienten diejenigen Zahlenwerte haben, welche sich mit den 


ursprünglich vorausgesetzten r nnd n ergeben. 


Setzt man voraus, dafs der zuerst betrachtete Strahl zx der Are selbst auffällt, 


N 


Ar allein den, vorher (r + A r) genannten, Abstand 
des Punktes, in welchem der zweite Strahl einfällt, von der Axe; statt des A r in diesem 
Falle soll der Einfachheit halber 9 geschrieben werden. 
aber klar, dafs die Gröfse a’ denselben Wert haben mufs für zwei Strahlen, die sich 


so ist r = o; alsdann bezeichnet 
Unter dieser Voraussetzung ist 


dadurch unterscheiden, dafs der eine ebenso viel über wie der andere unter der Axe 
auffällt, d. h. für zwei Strahlen, deren ọ einander gleich und entgegengesetzt sind, als 
notwendige Folge der Symmetrie des Apparates und des Strahlenbüschels um die Axe. 
¿s müssen deshalb in der Entwickelung von a’ alle diejenigen Glieder fehlen (infolge 
identischen Verschwindens der Zahlenwerte der Differential-Koefhzienten, mit welchen sie 
multipliziert sind), welche mit ungeraden Potenzen von o multipliziert sind. Man erhält 
dann den bedeutend einfacheren Ausdruck: 





td f. 
, a e a 
a m +... 
Ä df p Iı d’f R 2 
Je n -I- EE E T 
d n = 2dndr e 
ı d? f F I d? f s 
- 51 an N Ne ea 
1 2 dv 1.2.3 dn” i ! 


Die spharische Abweichung für einen Strahl 


erhalten, wenn man An = O setzt. Sie ist also 
Iı d?’f 


~ 2 dr 


I 
g ee 


+ 


mittlerer Drechbarkeit wird nun 


dż f 


oe’ + 


ri 


g Dr, HUGO KRUSS, Fernrohr-Objektive, 


Die Aufhebung des Kaugeleestaltfehlers für den Strahl mittlerer Brechbarkeit 
D > 5 
bedingt also die Vernichtung dieser Glieder oder des ersten derselben, falls man die 
D D 

anderen als irrelevant ansieht, d. h. die Gleichung 
d? f 
5 dr? 
mufs erfüllt werden. 

Die Farbenabweichune in der Richtung der Axe für eimen Strahl, der in der 
Mitte des Objektives auffällt, wird erhalten, wenn man in der Haupteleichunge o = o 

J D > 
setzt. Sie findet sich 
II df f I d? f 


e a EE 
dn | 


n 4. 


Soll sie vernichtet sein, so mufs diese Reihe verschwinden. Bei den Näherungs- 


2 dr” 


df. . a 
formeln wird der Faktor — in ihrem ersten Gliede == o gemacht '). 


dn 
Betrachtet man endlich einen seitwärts der Axe auffallenden Strahl, dessen 
Brechung nicht die mittlere ist, so haben go und ^A n gleichzeitig Werte, welche von Null 
verschieden sind. Wenn jedoch die Fehler I und II bereits gehoben, also die betreffenden 
Glieder in der Gleichung schon vernichtet sind, so reduziert sich infolgedessen der Aus- 


druck auf ii I dsf 


as — a — 


0” EN n -+ e.a‘. 


Die Gleichung a, — a = o stellt nun die Gausssche Bedingung dar. 


2 dr“dn 


Sind der gewöhnlichen Annahme zufolge die Grössen 0 und An beide klein, 
so ist das Anfangsglied dieses Ausdruckes, und demgemäfs der ganze Ausdruck, viel 
kleiner als die Anfangsglieder von I und H sein würden, wenn nicht für die Vernichtung 
ihrer Koefficienten ausdrücklich gesorgt worden wäre, d. h. wenn die gewöhnlichen Vor- 
aussetzungen über ọ? und An zutreffen und man die sphärische Abweichung für Strahlen 
von mittlerer Brechbarkeit (I) und die Farbenzerstreuung für Strahlen, die in der Axe 
auffallen (II), gehoben hat, so ist der Fehler in der Vereinigungsweite für einen am Rande 
auffallenden Strahl von anderer Farbe (II) von selbst auf eine kleine Grösse höherer 
Ordnung reduziert?), also die Gausssche Bedingung »aresu erfüllt. 

Deshalb nehmen die optischen Konstruktionen, bei welchen obige Voraussetzungen 
zutreffen, z. B. das Zraunhofersche Objektiv mit Rücksicht auf die Forderung, etwa auch 
noch das Anfangsglied in III zu vernichten, 

Die Gausssche Bedingung kann nun cbenso wohl aufgefafst werden als sich be- 
zichend auf die Abweichung wegen der Kugcelgestalt, wie auf diejenige wegen der Farben- 
zerstreuung, denn der Ausdruck III stellt dar die Farbenzerstreuung für Strahlen, die am 
Rande auffallen, oder die Kugclabweichung der Strahlen von anderer als mittlerer Brech- 
barkeit; beides ist eines und dasselbe. 


!) Eine Entwickelung dieser Reihen s. Seidel, Astr. Nachr. No. 835. 
2) Zittrow, Dioptrik S. 126. 


Dr. HUGO KRÜSS, Fernrohr-Objcktive. 9 


Es zeigt sich nun bei näherem Eingehen in die Praxis vollauf bestätigt, was 
schon die Betrachtung der soeben geführten Entwickelung lehrt, dafs nämlich die Re- 
deutung der Gaussschen Bedingung keine sehr grofse ist, ja dafs selbst, wenn man sich 
lediglich auf die Betrachtung eines von der Mitte des Gesichtsfeldes herkommenden 
Büschels einschränkt, andere Bedingungen sich als wichti 
diejenige, dafs die Reihe I nicht nur für «zen Wert von ọ vernichtet werde, sondern für 
zwei verschiedene, etwa gleichzeitig für den am Rande und für den in zwei Drittel so 
erofser Entfernung von der Mitte auffallenden Strahl. 


cer herausstellen, so vor Allem 


Dd 


Endlich kann man die bisher gemachten Betrachtungen über die Veränderungen, 
welche die Lage des Brennpunktes erleidet, wenn man die Gröfsen r und n verändert, 
d. h. Strahlen von anderer Auffallshöhe und anderer Brechbarkeit untersucht, in derselben 
Weise durchführen für die Veränderungen in der Lage des Hauptpunktes, welche durch 
den Übergang vom mittleren Axenstrahl auf dieselben anderen Strahlen bedingt sind 
Die beiden hierher gehörigen Fehler sind: 


Die Verzerrung, hervorgerufen durch das Nichtzusammenfallen der Hauptpunkte 
für den mittleren Axenstrahl und den mittleren Randstrahl; 

Die ungleiche Grösse der verschiedenfarbigen Bilder, bedingt durch das Nicht- 
zusammenfallen der Hauptpunkte für die beiden verschiedenfarbigen Axenstrahlen. 

Seidel hat die Bedingung für das Verschwinden des letzt angeführten Fehlers 
ebenfalls entwickelt‘) unter der Voraussetzung, dafs der Fehler der Farbenzerstreuung 
bereits gehoben sei, und hat gezeigt, dafs wenn man dieser Bedingung genügt hat, 
gleichzeitig auch die Forderung erfüllt ist, dafs die verschiedenfarbigen Bilder nicht nur 
in eine Ebene fallen für ein Objekt in bestimmter Entfernung, sondern auch für andere 
etwas nähere oder entferntere Objekte. 


Wenn man also ausser der Farbenabweichung (im gewöhnlichen Sinne) noch 
einen von der verschiedenen Brechbarkeit der verschiedenfarbigen Strahlen herrüuhrenden 
Fehler vernichten will, so bietet sich als wichtigster derjenige der ungleichen Farbenver- 
gröfserung, dar, d. h. die Herbeiführung des Zusammenfallens nicht nur der Brennpunkte, 
sondern auch der Hauptpunkte für zwei verschiedenfarbige Axenstrahlen. In diesem 
Falle wird das System stabil achromatisch, d. h. Strahlen von zweierlei Farbe, welche 
vor der Brechung an der ersten Fläche des Systems demselben weissen Strahle ange- 
hörten, treten nach der letzten Brechung nicht nur nach demselben Punkte der Axe 
zielend, sondern auch unter demselben Winkel und an derselben Stelle aus, wieder einen 
weissen Strahl bildend. Auch diese Bedingung findet man bei dem Zraunhoferschen 
Objektive nahezu erfüllt. | 


Bei Apparaten mit ausgedehntem Gesichtsfelde wird man aber gut thun, sich 
nicht nur auf die Untersuchung eines Bildpunktes in der Axe zu beschränken, sondern 
auch einen Bildpunkt aufser der Axc zu untersuchen, so dafs man, wenn man überhaupt 


1) Astr. Nachr. No, 871 S. 115. 


10 Dr. HUGO KRÜSS, Fernrohr-Objektive. 


nur vier Bedingungen erfüllen kann, am besten als vierte eine solche wählt, welche sich 


auf diesen zweiten Bildpunkt bezicht. 





II. Beschreibung einiger Gaussscher Objektive. 


Gauss zeigte an einem Beispiel, wie es möglich sei, seine Bedingung zu erfüllen, 
also den Farbenfehler der in der Axe des Systems und der am Rande einfallenden 
Strahlen, sowie den Kugelgestaltfehler der Randstrahlen zu heben. 

Die Dimensionen, welche Gauss mitteilt, sind 

O = 2167,374. 
fpes 415,28 
+ 34152897 4 —_ x 


Crown vo 
Ira = + 10133,0007 , _ 

r u + 4207 421 EN E 50 

Flint j Fa TER je. 2805 


| r, = + 2807,320 

Hier bedeuten r} ra r, und r; die Radien der Flächen der Linsen, wie sie von 
der Objektscite her aufeinander folgen; sie sind positiv gerechnet, wenn die Flächen 
ihre konvexe Seite .dem auffallenden Lichte zuwenden. Ferner bezeichnen dı und d: 
die Dicken der Linsen, A den Abstand beider von cinander und zwar wie die Dicken 
in der Axe gemessen; O ist der Durchmesser der wirksamen Öffnung des Objektives. 

In Bezug auf die Brechungsverhältnisse geht Gauss bei seinem Beispiele von 
denselben Daten aus, welche Doznxenberger früher bereits benutzt hatte); diese sind 


Crown | Brechungsexponent der roten Strahlen r == 1,50435 
» » violetten » ny == 1,52598 
Flin Í > » roten > n'r == 1,58181 
| \ > » violetten » ny = 1,02173 
. o dn À 
Also ist das Zerstreuungsverhältnis TE 1,85. 
dn 


Diejenigen Punkte, in denen in der Axe, in zwei Drittel des Abstandes des 
Randes von der Axe, sowie am Rande des Objektives parallel der Axe auffallende rote 
und violette Strahlen nach der Brechung durch das System die Axe schneiden, er- 
geben sich mittels trigonometrischer Durchrechnung in folgenden Entfernungen p ( Ver- 
einigungsweiten) von der letzten Fläche des Objektives : 

r À vA r3 R vš R r R vR 


p 28294,60 28294,42 28289,26 28290,91 28293,39 28293,18 ) 





I, Zeitschrift f. Astronomie, Zindenan u. Dohnenberger I, 277. 
?) s. auch IWW, Schmidt: Die Brechung des Lichtes in Gläsern. Leipzig 1874, S. 115. 


Dr. HUGO KRÜSS, Fernrohr-Objcktive. II 


Hier ist der Farbenfehler Pr—Pv 
in der Axe rA—vA = +0,13 
in zwei Drittel der Öffnung rą R — vš R = + 5,16 
am Rande rR —vR = +4- 021 


Während dieser Fehler in der Axe und am Rande gehoben erscheint, tritt er 
dazwischen in zwei Drittel der Öffnung in beträchtlicher Gröfse auf. 
Der Kugclgestaltfchler findet sich 
Rote Strahlen rA —ri R = + 5.34 


rA—r R =-+ 121 
Violette Strahlen v A — vi R = -+ 3,45 
vA—vR => 4 172 


In gleicher Weise wie bei dem Farbenfehler zeigt sich auch bei dem Kugel- 
gestaltfehler, dafs, wenn die Randstrahlen mit den Axcenstrahlen vereinigt sind, zwischen 
beiden cin Maximum des Fehlers auftritt, eine Firscheinung, welche auch bei anderen 
Objektiv-Konstruktionen infolge der sphärischen Krümmung der Oberflächen vorkommt. 

Fällt man von den (virtuellen) Durchschnittspunkten der austretenden mit den 
zugehörigen einfallenden Strahlen Perpendikel auf die Axe, so ergiebt sich die Lage der 
Hauptpunkte und als deren Abstand von den Vereinigungspunkten die Drenmwezten P mit 

r À vA ra R v3 R r R vR 

P 29362,49 29396.60 29302,55 29402,85 29374,32 29417.89 

Die Abstände der (zweiten) Hauptpunkte von der letzten Fläche des Objektives 
sind also: 

rA vå rą R va R r R v R 
p— P — 1007,89 -— 1102,2. — 1073,29 — 1111,88 — 1080,93 -— 1124,71 

Während die Summe der Dicken der Linsen sowie des Abstandes beider von 
einander (dı + d: + .\) nur 330 beträgt, liegt der Hauptpunkt nun ca. 1100 vor der 
letzten, also ca. 770 vor der ersten Fläche des Objecktives. Bei der Gaassschen Kon- 
struktion befindet sich also der Hauptpunkt nicht innerhalb des Objcktives selbst, son- 
dern beträchtlich weit davor (ca. '/ao der Brennweite), so dafs Fernrohre mit Gaxssschem 
Objektive etwas kürzer werden können, als solche mit Objektiven anderer Konstruktionen. 

Es ergiebt sich nun als Anhalt für ze Vergrösserung verschiedener Farben der 
Unterschied in der Lage der Hauptpunkte !) 


(p — P) r — (p — P) v 


in der Axe rA — vA = 34,35 
in zwei Drittel der Offnune r} R— v} R = 4- 38,59 
am Rande rR—vR = + 43,78 
N Als Mass würde die Entfernung der Hauptpunkte von der Einstellebene dienen, d. h. pe — /p—P), 


wenn unter pe die Entfernung dieser Ebene von der letzten Fläche verstanden wird. 


12 Dr. HUGO KRÜSS, Fernrohr-Objektive. 


Die violetten Bilder werden demgemafs grofser sein als die roten, d. h. die 
Bilder weifser Objekte werden farbige Saume haben, bei denen die stärkst brechbaren 
Strahlen aufsen liegen. 

In Bezug auf die FPerzerrung bietet der Unterschied in der Lage der Haupt- 
punkte von Strahlen, welche in verschiedenen Entfernungen von der Axe auf das System 
treffen, einen Anhalt: 


© Rote Strahlen r\--r3 R-- J- 3.04 
r\—rR == -4 13,04 

Violette Strahlen vA — v R= + 964 
vA—vR = -$ 2247 


Fs zeigt sich hier, dafs die Hauptpunkte für weiter am Rande des Systems ein- 
fallende Strahlen ihre Lage beträchtlich verändern. 

Diese beiden Fehler in Bezug auf die Lage der Hauptpunkte werden durch vor- 
stehende Zahlen allerdings nur angedeutet; aber szeAer angedeutet, eine vollständige 
Durchrechnung eines Gazxssschen Objektives, welche ich ausdehnte'!) auch auf Strahlen- 
büschel, die geneigt zur optischen Axe auf das System treffen, zeigte auf das Klarste 
den in dieser Beziehung vorhandenen Mangel der Gaxssschen Konstruktion, welcher 
durch die Aufhebung der larbenabweichung am Rande gewifs nicht ausgeglichen cr- 
scheinen kann. — 

Die erste Mitteilung über die Ausführung des von Gauss nur theoretisch ent- 
wickelten Gedankens findet sich in cimem Bericht der Professoren Heber und Lesung” 
über ein von Senher! in München auszeführtes Fernrohr mit Gazssschem Objektive. 
Über die Abmessungen des Objektives ist weiter nichts berichtet, als dafs es eine OF 
nung von So mm und eine Brennweite von 1200 mm besitze. 

Steinheil fugt in der der Munchener Akademie der Wissenschaften erstatteten 
Mitteilung, welche von Weber wiederholt wird, hinzu, dafs das Gaasssche Objektiv bisher 
nur einmal in England und zwar mit sehr schlechtem Iirfolge ausgeführt worden sei 
Dieser Mifserfols werde aber erklärt durch die schwierige Ausführung des Gazssschen 
Objektives, bei welchem die Radien kleiner als cin Zehntel der Brennweite werden, 
während bei dem /Taunhoferschen Objektive der kürzeste Halbmesser nahe ein Drittel 
der Brennweite misst  Aufserdem wird der von Gauss selbst hervorgehobene Fehler in 
der Vereinigung solcher Strahlen, welche zwischen Mitte und Rand das Objektiv treffen. 
als Mitursache des schlechten Erfolges angesehen. 

Kin näheres Eingehen in die Sache zeigte S/ernheil jedoch, dafs die Gausssche 
Rechnung direkt gar nicht ausführbar war, weil Gauss für die Grenzen des Spektrums 
gerechnet hatte, also gerade die Hauptmasse der Strahlen unberucksichtigt liefs. Es war 
dieses durchaus kein Versehen von Gauss, im Gegenteil lag cs nur in seiner Absicht, zu 


aaO. 
p Göttinger Nachr. 1801, S. 75: 


Dr. HUGO KRÜSS, Fernrohr-Objektive. 13 


zeigen, dafs sich Strahlen von zweierlei Brechbarkeit vereinigen lassen und er wählte die 
Grenzwerte, weil er wufste, dafs wenn diese sich vereinigen lassen, dieses auch für die 
Zwischenwerte gilt. 


In Bezug auf das in zwei Drittel der Öffnung auftretende Maximum des Fehlers 
fand Steinheil, dafs dieser Übelstand sich durch die Dicken der Linsen und deren Ab- 
stand von einander heben liefse. Auch die genaue Herstellung des Objektives machte 
ihm bei seinen vorzüglichen Hilfsmitteln zur Prüfung der Krümmungen keine Schwierig- 
keit. Jedoch gab er dem Objektive eine ncue Art der Fassung, welche gestattete, jede 
Linse oder beide zusammen gegen die optische Axe zu neigen, die Mittelpunkte der 
Linsen gegeneinander zu verstellen und endlich den Abstand zwischen den Linsen zu 
verändern, so dafs also die letzte Berichtigung des Objektives nach dem Durchsehen er- 
folgen kann, wodurch die Fehler des Okulares und sogar gewisse Gestaltfehler des Auges 
mit verbessert werden können. | 

Steinheil teilte zugleich mit, dafs auch cin Objektiv von 54 Linien Öffnung und 
48 Zoll Brennweite fertig geworden sci, welches trotz der grofsen Öffnung keine Beein- 
trächtigung des Gesichtsfeldes oder der Schärfe des Bildes zeige. Auch sei es, wie das 
kleinere Objektiv, vollständig frei von primären Farben, was bisher bei keiner anderen 
Konstruktion der Fall gewesen war, während die sekundären Farben allerdings auch hier 
unvermeidbar seien. 

Weber und Listing prüften das ihnen von Siesmheil übergebene Objektiv und 
fanden durch abwechselnde Verdeckung der cinzelnen Drittel des Objektivöffnung mittels 
konzentrischer Ringe den Achromatismus über die ganze Öffnung hergestellt. Bei einem 
Vergleich mit einem Mersschen Fernrohre von 110 mm Öffnung und 1920 mm Brenn- 
weite leistete das neue Fernrohr (von nur 80 mm Durchmesser) bei 4omalıger Ver- 
eröfserung dasselbe wie das Merzsche bei 80 maliger. 


Steinheil führte nun mehrere Objekte nach der Gaussschen Konstruktion aus, 
über welche jedoch vorderhand nichts in die Öffentlichkeit gelangte. — 


Die nächste Veröffentlichung über diesen Gegenstand ist, so viel mir bekannt, 
meine kleine Arbeit über das Gausssche Objektiv im Jahre 1873. 


Die Bedingungen, welche ich mir dabei stellte, waren folgende: 


1) Das Objektiv soll aus den Glasarten des /raunhoferschen Heliome!er-Objektives 
in Königsberg hergestellt werden und dieselbe Brennweite und Öffnung, also 
dieselbe Helligkeit, erhalten wie jenes Objektiv, damit ein direkter Vergleich 
zwischen beiden gezogen werden könne. 

2) Für den Bildpunkt in der Mitte des Gesichtsfeldes soll der Kugelgestaltfchler 
der Randstrahlen gehoben werden. 

3) Für die in der Mitte sowie für die am Rande des Objcktives auffallenden 
Strahlen soll der Farbenfehler gehoben werden. 


Durch Anschlufs an ein früher von Sieinherl aus anderen Glasarten berechnetes 
Objektiv gelangte ich zu folgenden Mafsen desselben: 


14 Dr. HUGO KRUSS, Fernrohr-Öbjektive. 


0702 


-== -+ 146,20 
Crown | ra Ma dı =: 7,56 
| lg = -ļ- 428,501 z sOi 
. ra- rose, O? 
Flint | Ts 5. = EGG 
In lor: + 117,678 C 5,00 


Die zur Rechnung benutzten Brechungsverhaltnisse waren 


E Nv =— I, 529130 
Crownglas | ng Oo 
|l ny -- 1,540952 dn’ : 
= 202 
| ng -= 1,639121 dn 


Flintelas 
intglas |} n'v =- 1,663061 


Hier sollten die Werte ng und n’g cinem Strahl mittlerer Brechbarkeit entsprechen 
(also etwa cinem gelben, die Werte ny und n'y dagegen einem stark brechbaren also 
etwa violetten‘ Strahle. 


Die Durchrechnung ergab die | vreinigungsieciten 





gA vA g R va R os R v R 
p  1087,7!5 1087,077 [087,061 I1081,049 1087,725 1087,724 
Also ist der Farbenfchler Pg — pr: 

in der Axe v„N\—vA = 4- 0.037 

in zwei Drittel der Ötfnung g3 R —v; R = f 0,012 

am Rande eR—vR = 4+ o,001 

und der Kugelgestaltfehler : 

Gelbe Strahlen g A — g; R = + 0o54 
s A —gR = +0,01 
Violette Strahlen v A — va R = -+ 0,029 
vA—vR == — 0,046 


Hier ist die Verteilung der Fehler etwas anders als bei dem Gezssschen Original- 
Objektive, aber cs zeigt sich auch hier der Kugcelgestältfehler in zwei Drittel der Öffnung 
auftretend, wenn er für Randstrahlen gchoben ist. 

Die Jrennweiten und der Abstand der zweiten Tlauptpunkte von der letzten 
Flache sind bei diesem Objektive 





g À wi vs; R vä R g R vR 
P  1132,401 1133,093 1132,346 1133,114 1132,474 1133,321 
p= P —446856 = 45415 — 440655 — 45466 — 44749 — 45,597 
Der Unterschied der Zanptpunkte für verschiedene Farben ist demgemäfs 
P— Pe — (p — P) 


m 


in der Axe 


g A — vA = + 1129 


in zwei Drittel der Öffnung gł R — vi R =- 4 0.781 


am Rande g R—vyR =. + 0,848 


~ 


Dr. HUGO KRÜSS, Fernrohr-Objektive. 15 


und als Mafs der Verzerrung ergicbt sich 


Gelbe Strahlen g A — g3 R— — 0,001 
g A —gR = 4 0,063 
Violette Strahlen v A — v$ R = + 0051 


vA—vR == + 0,182 

Der Fehler der verschiedenen Farbenvergröfserung und der Verzerrung ist also 
in ähnlicher Weise vorhanden wie bei dem Original-Gazssschen Objektive; in Bezug auf 
die nähere Untersuchung der Kigenschaften des Bildes mufs ich hier auf meine frühere 
Veröffentlichung verweisen. — 

In der VII Versammlung der Astronomischen Gesellschaft im Jahre 1879 in 
Berlin machten die Herren Prof. C. A. Oudemans und Prof. Winnecke Mitteilungen über 
von Sieinheil hergestellte Objektive Gazxssscher Konstruktionen, welche sich auf den 
Sternwarten in Utrecht bezw. Pulkowa befinden. 

Das Objektiv des Herrn Oudemans hat einen Durchmesser von 9'/s Zoll und 
eine Brennweite von 10'/» Zoll; in der Versammlung äufserte er sich nicht sehr befriedigt 
über dasselbe. Ein Jahr später teilte er mir dagegen mit, dafs er nun sehr zufrieden mit 
den Leistungen seines Fernrohres sei; er sah damit & Arcctis (1,2) vollständig getrennt 
und «ah von in einer Entfernung von 800 Meter aufgestellten Schriften mit einer 
28omaligen Vergröfscrung dasselbe wie mit blofsem Auge auf 3 Meter Entfernung. 

Vielleicht war inzwischen eine Verbesserung der Zentrierung des Objektives mit 
Hilfe der verstellbaren Fassung desselben vorgenommen worden. 

Nur das sekundäre Spektrum sei hinderlich. . 

Oudemans teilte damals auch Zahlen über die Mafse des Objektives mit, wie sie 
ihm von Szernheil berichtet worden waren; allerdings stimmten die von ihm vorgenom- 
menca Messungen hiermit nicht vollkommen. Die Siznrkezischen Zahlen sind folgende: 


o = 9"5 
J rı = + 20,423 di — 


Crown Br ee 1 = I,Io 

= 24253 N TOOS 

Flint J] ' ' — 0,56 
| ra = 4- 15,349 


Die Brechungsverhältnisse für einen mittleren und einen blauen Strahl sind: 


| Mm = 1,51484 


au Inn = 1,52484 dn 
r sn 2,020 
Flint j n m == 1,62248 dn 
n'bo) = 1,64268 
Hieraus ergeben sich folgende Rechnungsresultate: 
m A bl A má R bl3 R m R bl R 

p 117,68 117,74 117,70 117,73 117,69 117,69 
P 122,13 122,25 122,27 122,39 122,44 122,53 


pP-=F — 4,45 — 4,51 — 4,57 == 4,66 — 4,75 2 4,84 


16 Dr. HUGO KRÜSS, Fernrohr-Objektive. 


und ist also der Zarbenfehler 


Pm — phl 
in der Axc m A — bl A = — 0,06 
in zwei Drittel der Öffnung mi R — bl; R = — 0,03 
am Rande m R — bl R = + 0,00 


Die Gausssche Bedingung ist hier etwas überkorrigiert, was nach einer Mitteilung 
Strinherls den Fehlern des Auges und der einfachen Okularlinsen entgegenwirken soll. 
Der Auveleestaltfehler ist: 
< k - 


für mittlere Strahlen m A — ma R = + 0,02 
m A — mR = 4 001 
für blaue Strahlen bl A —— bl} R == — 0.001 
bl A --bIR — —- 0,05 


Als Anhalt für die Vergrösserung der Farben ergicbt sich: 


(P—-P)m — (p—P’nı 


in der Axe m A — bl A = + 0,06 
in zwei Drittel der Öffnung mi R — bIER= + 0,09 
am Rande m R — bl R — -H 0,09 
und für die I verserrung: 
Mittlere Strahlen m A — maR == + 0.12 
mA — mR =: 4- 027 
Blaue Strahlen blA — bli R = -+ 0,15 
blå — bl R — + 0,27 


Winnecke äufserte sich bei gleicher Gelegenheit sehr günstig über das Gazsssche 
Objektiv von 4!/⁄2 Zoll Öffnung und 48 Zoll Brennweite in Pulkowa. Die Korrektion 
des Abstandes zwischen der Crown- und der I“lintglaslinse sei sehr langwierige, aber nach 
Vornehmen derselben habe das Instrument hochgespannten Erwartungen trotz seiner ver 
hältnismäfsig kurzen Brennweite entsprochen. 

Herr Dr. A. Steinheil in München war so freundlich, mir die Mafse und Durch- 
rechnungsresultate dieses Objektives mitzuteilen. Da die Dimensionen der Öffnung und 
der Brennweite damit übereinstimmen, so vermute ich, dafs es dasselbe Objektiv ist, 
welches in dem bereits angezogenen Berichte an die Göttinger Gesellschaft der Wissen- 
schaften erwähnt wurde. Die Konstruktion des Objcktives ist folgende: 


0 = 45 
; rı = + 6,1712 
Crown pi 5 4 dı = 0,5 
| ra == 4- 17,800 nOA 
a nk An 
Flint | _,. d: = 0,185 
Ir = -+ 4,0686 
Crown J nm = 1,52239 
Inn — 152570 dn’ Er 
en „© ) 
Flint j nm =~ 1,61942 dn 
l n'bi = 1,62592 


d 





Dr. HUGO KRÜSS, Fernrohr-Objektive. 17 


Die Durchrechnung ergibt 


m A bl A m R bl R m R bl R 
P 47,9133 47.9142 47,9019 47,9031 47,9128 47,9129 
253 50,2386 50,2677 50,2819 
3 


P 50,2247 50,2364 50,2 
p—P — 2,3114 — 2,3222 — 2,3234 — 2,3355 -— 2,3549 -- 2,3690 


Der Farbenfehler ist: 


Pm — Phl 
in der Axe mA — bl A = — 0,0009 
in zwei Drittel der Öffnung mł R — blł R:= -- 0,0012 
am Rande mR — bl R = — 0,0001 


und der Kugelgestaltfehler 
m A — m;R = + 00114 


m A — mR = -+ 0,0005 
er, bl A — bI5R = + oolli 
blaue Strahlen BAER 2 


mittlere Strahlen 


Der Farbenfehler ist für Axe und Rand vorzüglich gehoben, desgleichen der 
Kugelgestaltfehler für die Rundstrahlen, in zwei Drittel der Öffnung ist seine Gröfse aber 
wieder beträchtlich. 

Für die Farbenvergrösserung ergibt sich 


' (p— P)m == (pP—P)nı 


in der Axe m A — bl A = + 0,0108 
in zwei Drittel der Öffnung m$R— bl R= -+ 0,0121 
am Rande m R — biR = + 0,0141 


und für die Verzerrung 
m A — m;R = + 0,0120 


m Aå — mR = + 0,0435 
bl A — bl; R = + 0,0133 
bl A — bl R = + 0,0456 

Durch die angeführten Verhandlungen der Astronomischen Gesellschaft über das 
Gaxusssche Objektiv wurde auch Prof. C. A. Young in Princeton (New-Jersey) angeregt, 
das Objektiv Gaussscher Konstruktion, welches von C/ark hergestellt ist und zu dem 
Äquatoreal der Sternwarte der John C. Green-School of Sciences in Princeton gehört, 
näher zu untersuchen !). Young gibt die Mafse dieses Objektes wie folgt: 


mittlere Strahlen 


blaue Strahlen 


Oo — 9'',5 

Con Lo 10572 dı = 0,620 
ee 

Flint 13 2] 20,094 a. = 5 = 
ra = + 13,871 en 


1) The Color Correction of certain Achromatic Object Glasses. Sill Journ 19, 454 (1880). 


18 Dr. HUGO KRÜSS, Fernrohr-Objektve. 


Die Brennweite dieses Objektives von g'/s Zoll Öffnung ist 138 Zoll. Die Radien 
wurden von Young mittels eines Sphärometers gemessen. 

Um eine Durchrechnung dieses Objektives vornehmen zu können, ersuchte ich 
Herrn Prof. C. A. Young seiner Zeit um Mitteilung der Brechungsverhältnisse der 
Glasarten, aus welchen sein Objektiv besteht; leider konnte meinem \Wunsche nicht ent- 
sprochen werden. Young fügte in seiner Antwort hinzu, dafs selbst bei genauer Kenntnis 
dieser Brechungsverhältnisse cine Durchrechnung kein vollkommenes Bild der Leistung 
des Objektives geben werde, weil nämlich die Flächen desselben sæt spharisch seien. 
Young schreibt über diesen Punkt: »C/ark führt seine Objektive nach solchen Radien 
aus, welche annähernd cin für Kugelgestalt- und Farbenfehler korrigiertes Objektiv geben. 
Hierauf schleift er zonenweise eine Oberfläche jeder Linse derart, dafs beide Fehler 
möglichst gehoben werden. Im Verlaufe dieser Arbeit wird das Objektiv fortlaufend 
vor einem Planspierel geprüft, bis Strahlen, welche von einer kleinen Öffnung in der 
Brennebene auf das Objektiv fallen, ein möglichst gutes Bild nahe dieser leuchtenden 
Öffnung geben.« 

C. A. Young berichtet dann ferner, dafs das Fernrohr in jeder Beziehung aus- 
gezeichnet sei, besonders in Bezug auf Dunkelheit des Gesichtsfeldes und auf die Er- 
kennung schwacher Objekte, wie Monde des Mars und Uranus. 

Aufser diesem Objektiv hat C/ark noch zwei Objektive Gaxssscher Konstruktion 
von 5 Zoll Öffnung gemacht, über welche aber weiter nichts bekannt geworden ist. 

Über das neueste Gaxsssche Objektiv, dasjenige, welches zur Zeit der Natur- 
forscher-Versammlung im September 1886 in Berlin ausgestellt war, verdanke ich der 
Güte des Herrn Dr. S. Czapsk7 in Jena die nötigen Mitteilungen, um dasselbe hier zum 
Vergleich mit den bisherigen benutzen zu können. Die Mafse desselben sind: 


O = 134 mm 


Eee 26 
Flint aa En dı = 7,5 
| la De en 400,0 A 
ee 2:6 a S 
u | Ta = — 1256,0 
Crown d: = 12,0 
| ra = — 2787 ' 


Die Brechungsverhältnisse der hierzu benutzten Jenaer Gläser sind: 
A C D F G 
Flint n^ 1,60682 1,61153 1,61558 1,62540 1,63350 

Crown n 1,57030 1,57342 1,57005 1.58220 1,5 
Die Konstruktion dieses Objektives unterscheidet sich wesentlich von den bisher 
angeführten dadurch, dafs die Flintglaslinse dabei vorausgestellt wird^. ITierdurch wird 
der grofse Vorteil erlangt, dafs die Krümmungen der Flächen viel schwächer werden, 
als wenn die Crownglaslinse vorangestellt worden wäre; im letzteren Tall hätten die 

Radien nämlich bei derselben Brennweite sein müssen: 


!) Dasselbe versuchte Seiner fruher für das /raunkofersche Objektiv. Gött. Nachr. 1805, S. 138. 


Dr. HUGO KRÜSS, Fernrohr-Objcktive. IQ 


rı = -+ 2I0 
ra = + 576 
r3 = + 280 
r4 = + 174 


Die Rechnung wurde nun von Csapsti so ausgeführt, dafs der Kugelgestaltfehler 
für den Strahl D gehoben, und in Bezug auf den Farbenfchler die Strahlen C und F 
miteinander vereinigt wurden. Die Durchrechnung ergab nach den bisher benutzten 
Bezeichnungen: 
An Ac Ar Rp Re aR p Rn Re R p 
P 2085,51 2085,99 2085,94 2085,38 2085,96 2085,82 2085,46 2085,04 2085.72 


Es ist demgemäfs der Zarbenfehler 


Pe pr 
in der Axe Ac — Ar = + 005 
in zwei Drittel der Öffnung Re — 3 Rp = -+ 0,14 
am Rande Re — Rp = + 0,32 


und der Azge/gestaltfehler 
für dën Strahl D Ap — Rp = + 0,13 
An — Rp = + 0,05 
Die von Dr. Csapski mitgeteilten Brennweiten sind: 
Av Ac Ar Rp Rp 
P 2029,90 2030,61 2029,75 2028,70 2027,44 
also ergibt sich die Lage der Hauptpunkte 
An Ac ÀF Rp Rp 
p—P -5561r 4-5538 +5619 -56,08 + 58,02 
Hier liegt infolge der Konstruktion der Hauptpunkt nicht wie bei den bisherigen 
Formen vor, sondern beträchtlich /rxzer dem Objektiv. 
Als Anhalt für die Zarbenvergrösserung hat man hicr: 


(P—P)e — (PP)r 


in der Axe Ac — Ar == — 0,85 
und für die Jerzerrzang der Strahlen von der Brechbarkeit der Linie D: 
Ap — 5 Rp = — 117 
Ap — Rp = — 2,41 
Die verschiedene Vergrofserung der verschiedenfarbigen Strahlen, sowie die Ver- 


zerrung ist, wenn auch im entgegengesetzten Sinne, auch bei diesem Objektive vorhanden 
als eine Folge der Gaxssschen Konstruktion, bei welcher an drei Flächen eine Brechung 
in einem Sinne, an der vierten im entgegengesctzten stattfindet. 

Dr. Czapski fügt seinen Mitteilungen noch hinzu, dafs das Objektiv schr schöne 
Bilder liefere und dafs diese Konstruktion deshalb mit noch gesteigertem Offnungsver- 


hältnis (,— 1'4) nochmals ausgeführt werden solle. — 


Dr. HUGO KRÜSS, Fernrohr-Objektive. 


Als Vergleichsobjekt soll noch das von /raunhofer für das Königsberger Helio- 
meter gelieferte Objektiv in seinen Abmessungen und Leistungen angeführt werden '). 


Dieselben sind: 





o = 702 
r, = 4- 838,16 
Crown I" | 2 4da == 00 
| ra = == 333,708 , 
f = — 340,536 ^` E 
Flint J 0° Ia > de — 40 
| r4 = — 1172,508 
on ee 
| ny = 1,540952 dn’ l 
; o = 2025 
Flint | ng = 1,6039121 dn 
| | n'y = 1,663601 
gA vA gå R v4 R gR vR 
p 1127,7116 1128,1401 1127,6915 1128,2428 1127,6587 1128,3665 
P 1131,4544 1131,8557 1131,3039 1131,8115 1131,1109 1131,7521 
p—P — 3,7428 —- 3,7156 — 3,6126 — 3,5687 — 3,4522 — 3,3856 
Farbenfehler: 
Dar Pg — Pr 
in der Axe gA — vå = — 04285 
in zwei Drittel der Öffnung g R— v5R = — 0,5513 
am Rande gR — vR = — 0,7078 
Kugelgestaltfehler: 
für gelbe Strahlen gA — g5R = -+ 0,0201 
gR — gR = -4 0,0529 
für violette Strahlen vi — vāR - 0,1027 ` 
vå — vR = — 0,2264 
Farbenvergrösserung: 
ag (—P)g — v—P) 
in der Axe gA — gįR = — 0,0272 
in zwei Drittel der Offnung g3 R— viR = — 0,0439 
am Rande gR — vR = — 0,0666 
Verzerrung: 
für gelbe Strahlen gA — giR = — 0.1302 
gA — gR = -— 0,2906 
für violette Strahlen vå — vR = — 0,1469 
vå — vR = — 0,3300 


Nachfolgend sind die bisher beschriebenen Objektive übersichtlich zusammen- 


sestellt, indem alle auf cine Brennweite von P =— 1000 reduziert wurden. 


H) Arüss, Vergleichung einiger Objekuv-Konstruktionen. Munchen 1873, S. 14. 


Dr. HUGO KRÜSS, Fernrohr-Objektive. 21 


I. Abmessungen. 

















an ' atas Dicken u. Linsen-] ; Lage des 
Krümmungsradien der Flächen N, Öffnung Haupipunkik 
ya | Ben re EEE ae 
Ti | lu | T3 r4 dı | A t de O p—P 
premen: | | | | =, ex | Er 5 7. Fr 3 ? ar ge tn mm Eu AR A z Fa a, SEE A 
Gauss Original-Objektiv + 110,3 | + 345,1 Ä + 143,3; + 96,6 | 6,8 | n7 -2,7 73,8 — 36,4 
| | 
Arüss berechnetes Objekuv | + 129,1! + 378,4 | + 149,9 + 103,9 | 6,7 | 0,2 | 5,0 62,0 — 39,5 
Ou emans Objektiv im Utrecht} + 167,3 + 1338,7 + 198.6 | + 125,6 | 9,0 Ä 0,6 ! 4,6 77,8 -- 36,4 
| 
2 ER | 
Winnecke Objektiv inPulkowaf + 122,85 | + 354,5 Ä + 144,6: + 99,0 I 10,0 | 0,8 | 3,7 59,6 — 46,0 
| 
Cl. Young Objektiv in | a 7 f 
Princeton + 120,4 | + 410,1; + 149,8 + 100,5 | 45 | 2,3 | 2,2 69,6 Se 
CGzespski berechnetes Objektiv | — HE3 gr 197,90) — 615.7 | — 137,2 | 37 | 10 | 59 06,0 + 27,9 
une re + 440,5 | -- 294,9 | — 300,9  —1030,2 | 5,3 | o0 | 35 62,0 2383 
| | 
II. Fehler. 
Fehler der Brennpunkte Fehler der Hauptpunkte 





Kugelgestaltfehler der se ER 
mittleren Strahlen 
Axe | ; Rand | Rand 4 Rand Rand 


Farbenfehler Farbenver- | Verzerrung 


der mittleren 


grösserung Strahlen 








FENG IL TILL TU mm nn nn -m 











+ 0,182 + 0,045 + 1,170 | + 0,444 
+ 0,048 + 0,010 + 0,998 + 0,055 


Gauss Original-Objektiv + 0,006 | + 0,176 | + 0,007 


Arüss berechnetes Objektiv [+ 0,033 + 0,011 | + 0,001 





Oudemans Objektiv in Utrecht| — 0,491 !- - 0,245 | + 0,000 | + 0,164 + 0,082 + 0,491 | + 2,211 
Winnecke Obiektivin D | ! 
innecke Objektiv in Pulkowaf — 0,002 | — 0,023 + 0,219 + 0.001 + 0,207 l + 0,546 
Czapski berechnetes Objektiv | + 0,025 | + 0,069 | + 0,158 | + 0,064 + 0,025 + 0,419 | — 1,187 
Fraunhofer Ji ter-Ob- | 
Heliometer-Ob + 0,018 0,047 + 0,024 -— 0,292 


jektiv — 0,379 Eu 0,457 1 0,626 
| | 


Fr 
o 
o 
9 
ö 


Die in vorstchender Zusammenstellung enthaltenen Objektive sind allerdings nicht 
vollkommen direkt mit cinander vergleichbar, nämlich in Bezug auf den Kugelgestaltfehler 
nicht, weil sie verschieden erofse Öffnung besitzen, in Bezug auf den Farbenfchler des- 
halb nicht, weil nicht bei allen Objektiven die gleichen Abstände im Spektrum gewählt 
worden sind, jedoch treten bei allen Gaussschen Objektiven die denselben eigentümlichen 
Im vorstehenden bereits mehrfach besprochenen Fehler gegenüber dem Zraunhoferschen 
Objektive deutlich hervor. Der Farbenfchler des letzteren zeigt sich stark überkorrigiert ; 
dafs und wie solches mit der Art der Berechnung der Objektive durch Fraunhofer wahr- 
scheinlich zusammenhängt, soll im nachfolgenden noch gezeigt werden. 


22 Dr. HUGO KRÜSS, Fernrohr-Objektive. 


III. Das sekundäre Spektrum. 


Über die optischen Eigenschaften der von Zraunhofer zu dem Königsberger 
Heliometer-Objektive benutzten Glasarten sind nur die Angaben bekannt, welche Dessel 
darüber giebt); diese sind: 


Crown n = 1,529130 d n’ 


Flint n’ = 1,639131 dn 2023 


Diese Brechungsverhältnisse wurden bisher allen Rechnungen zu Grunde gelegt, 
durch welche die sphärische Aberration (im allerweitesten Sinne) jenes Objektives unter- 
sucht werden sollte, so vor allem von Desse/ selbst. Will man jedoch auch die Eigen- 
schaften des Systemes in Bezug auf Farbenabweichung prüfen, so gerät man in einige 
Verlegenheit. 

Ich nahm seiner Zeit an^), die von Bessel angegebenen Brechungsverhältnisse 
bezögen sich auf einen Strahl mittlerer Brechbarkeit, für welchen Fraunhofer die Kugel- 
abweichung gehoben habe, nannte diese Farbe gelb (g) und rechnete dann mit einem von 
mir als violett (v) bezeichneten Strahle ebenfalls durch das Objektiv; die Brechungsver- 
hältnisse dieses Strahles nahm ich willkürlich an zu 


Crown nv == 1,540952 
Flint ny = 1,663061 
so dafs d n’ n'g — ny _ 23940 _ _, oži 
dn ng — Nv 11822 ' 


wurde, wie von Dessel angegeben. 

Die Durchrechnung ergab, wie bereits auf S. 18 mitgeteilt, dafs bei diesen von 
mir angenommenen Zerstreuungen der Fehler des Königsberger Objektives nicht un- 
beträchtlich überkorrigiert erscheint. 

Eine ähnliche Berechnung ist von Z. 1. Hansen angestellt worden”), ebenfalls 
auf Grundlage derselben Aesse/schen Angaben. Z/ansen sieht die von Dessel berichteten 
Zahlen als die Brechungsverhältnisse der mittleren Strahlen an und setzt für seine 
Rechnung folgende Werte an: 


Gase | Ar = 1,518700 
| ny = 1,530560 dn’‘ 42242 
N ==- o -- 2,025 
Flint In = 1,618000 dn 20800 


lny -= 1,660242 


b 


1) Astron, Untersuchungen 1. Bd. IL, § 17, Königsberg 1841. Astron. Nachr. 18 S. 106. 

2) Inaug.-Diss. München 1873. 

3) Untersuchung des Weges eines Lichtstrahles ete. Abhdlgn. d. Math.-Physik. Klasse d. kgl. Sächs. 
Ges. d. Wiss. X. Bd. No. 2 S. 151 (1871). 


Dr. HUGO KRÜSS, Fernrohr-Objektive. f 23 
Finer Vergleichung dieser Werte mit den Brechungsverhältnissen anderer raun- 
hoferscher Glasarten entnahm //ansen, dass sie einem Punkte im hellsten Teile der roten 
Strahlen und einem Punkte im violetten Teile des Spektrums entsprächen. 
/lansens Rechnungsresultate sind nun für dieselben Veremi£ungsweiten p, wie 
sie vorstehend definiert wurden : 
rA vA r R vR 
p 1127,328 128,076 1127,049 1128,293 
Hier ergiebt sich der Farbenfchler 
r\X\—-vAÄ = -- 0748 
rR --vR = -- 1,246 


also ebenfalls überkorrigiert, aber wegen des grofseren Abstandes der in Betracht gc- 
zogenen Strahlen von einander entsprechend gröofser als bei mir. 

Um nun cin richtiges Urteil über die Art zu gewinnen, in welcher Fraunhofer 
die Farbenabweichung des Objektives bei der Berechnung desselben berücksichtigte, 
genügen augenscheinlich derartige Rechnungen mit willkürlichen Annahmen über den 
Abstand der Strahlen von einander nicht, man müfste vielmehr Angaben oder zuver- 
lässige Annahmen über die Brechungsverhaältnisse der beiden Glasarten für die ver- 
schiedenen Teile des Spektrums besitzen, wie /razunhofer solche bekanntlich für einige 
von ihm hergestellte Glasarten gegeben hat.) Der suchende Blick wendet sich natur- 
gemäfs zuerst auf diese Angaben /raunhofers. 

Diese sind: 

B C D E F G H 
Crownglas No. 13 1,524312 1,525299 1,527982 1,531372 1,534337 1,539908 1,544684 
Crownglas No. 9 1,525832 1,526849 1.520587 1,533005 1,536052 1,541657 1,546566 
Crownglas Lit. M 1.554774 1,555933 1,559075 1,563150 1,566741 1,573535 1,579470 
Flintglas No. 3 1,602042 1,603800 1,608494 1,614532 1,620042 1,630772 1,640373 
Flintglas No. 30 1,623570 1,625477 1.630585 1,637356 1,643466 1,655406 1,666072 
Klintglas No. 23 1,6265380 1,628460 1.633666 1,640519 1,646768 1,6058848 1,669683 
Flintelas No. 13 1.627749 1,029681 1,635030 1,642024 1,648260 1,660285 1,67 1062 


Bei dem Durchsehen dieser Brechungsverhältnisse kann man leicht auf die Ver- 
mutung kommen, dafs die Glasarten des Königsberger Heliometerobjektives sich eben- 
falls darunter befinden. Es stimmen die Angaben für Crownglas No. 9 und Flintglas 
Na, 13 so ziemlich mit Zesse/s Angaben überein, so dafs ich dieser Vermutung bereits 
emmal Ausdruck gab”) und daraus schlofs, dafs der von Aansen als Rot angenommene 
Strahl nicht im hellsten Teile des Rot liegen könne, sondern schr nahe dem roten Ende 
des Spektrums sich befinde, so dass die von Hansen angenommene Zerstreuung jedenfalls 
“u grofs sei und infolgedessen auch der von ihm berechnete Farbenfchler. 


= 


D Gilberts Annalen Bd. 56, 292 (1817) 


3) Astronom. Nachrichten Bd. S6, No. 2049, S. 143. 


24 Dr. HUGO KRÜSS, Fernrohr-Öbjektive. 


Ich war in dieser Vermutung bestärkt worden dadurch, dafs sich das Zer- 
streuungsverhältnis für die beiden Glasarten Crown No. 9 und Flint No. 13 für die 
hellste Stelle des Spektrums genau zu 2.025 ergicbt, wenn man dasselbe nach der Methode 
von Steinheril und Seidel’) berechnet. 

Gegen meine oben ausgesprochene Vermutung erhob IP. Scheibner?) den Ein- 
wand, dafs dieses Zerstreuungsverhältnis nur 2,00773 betrage, wenn man dasselbe aus 
denjenigen Gleichungen berechnet, welche II. Src%midt für die 7 bekannten Fraunhofer- 
schen Glasarten entwickelt hat.”) (Auf beide Methoden wird im folgenden zurück- 
gekommen.) Schezbner zeigte ferner, dafs unter diesen 7 Glasarten überhaupt keine zwei 
seien, welche das verlangte Zerstreuungsverhältnis von 2,025 besitzen (nach Sc/vmrdt be- 
rechnet), so dafs nicht behauptet werden könne, dafs beide Glasarten des Königsberger 
Heliometerobjektives unter den angeführten /rarerhoferschen Gläsern enthalten seien, 
infolgedessen auch die von mir an die Voraussetzung solcher Identität geknüpften 
Folgerungen über die von Hansen angenommenen Brechungsverhältnisse nicht wohl 
aufrecht erhalten werden könnten. 

Ich machte sodann eine Durchrechnung des Königsberger Objektives mit den 
fraglichen beiden Glasarten (Crown No. 9 und Flint No. 13). Es ergaben sich die 
Vereinigungsweiten der Axenstrahlen für die betreffenden Stellen des Spektrums mit 


B C D E F G H 
1115,2620 1114,9667 1114,5736 1114,3673 1115,1478 11117,1046 11109,4640 


und die Brennweiten 


1119,0126 1118,7152 41118,3154 1118,6005 I 118,8735 I 120,8108 1123,1643 


Abgesehen davon, dafs hier der Farbenfchler, wenn auch in demselben Sinne, 
so doch viel grösser erscheint, als selbst bei /Zansens Annahme, stimmt die berechnete 
Brennweite durchaus nicht mit der von esse? mittels sehr sorgfältiger Messungen that- 
sächlich ermittelten, sowie mit der mit Hilfe der von Jessel angegebenen Brechungs- 
verhältnisse zu berechnenden. Diese beträgt nämlich 1134,44, resp. 1131,4548. Den 
Unterschied zwischen diesen beiden Zahlen, zwischen der gemessenen und der berech- 
neten Brennweite, erklärt Desse? daraus, dafs die von Fraunhofer angegebenen, als der 
Konstruktion des Objektives zu Grunde gelegten Elemente nur als die Absicht andeutend 
angesehen werden können, welcher gemäfs es verfertigt werden sollte, während bei der 
wirklichen Herstellung kleine Abweichungen von dieser Absicht vorgekommen seien. 

Auf jeden Fall zeigt aber das mitgeteilte, von mir unter Zugrundelegung der 
Brechungsverhältnisse von Crownglas No. 9 und Flintglas No. 13 erhaltene, Rechnungs- 


H) Abhdlgn. d. Math.-Phys. Kl. d. kgl. bayer, Akad. d. Wiss. 5- Bd. TE Abtle. S. 255. 

?) Dioptrische Untersuchungen. Abhdlgn. d. Math.-Phys. Kl. d. kgl. sächs. Ges. d. Wiss. 11. Bd 
No. 6 S. 565 (1876.) 

* Die Brechung des Lichtes in Gläsern. Leipzig 1874. 


Dr. HUGO KRÜSS, Fernrohr-Objektive. 25 


resultat, dafs meine Vermutung in Bezug auf diese beiden Glasarten ciner genaucren 
Prüfung nicht standhält. 


Ich habe mich sodann noch an Herrn Szegmund Mers. den Inhaber der 
früheren /raunhoferschen Werkstätte in München, gewandt mit der Bitte um nähere 
Angabe über die Glasarten, aus welchen das Königsberger Heliometerobjektiv her- 
gestellt sei, habe aber die Antwort erhalten, dafs auch dort keine näheren Angaben 


bekannt seien. 


Vor kurzem habe ich nun cinen erneuten Versuch gemacht, die Brechungs- 
verhältnisse der betreffenden Glasarten zu ermitteln. Hierbei ging ich von der Annahme 
aus, dafs die von Desse! veröffentlichte Angaben der Brechungs- und der Zerstreuungs- 
verhältnisse seines Objcktives von Zraunltofer selbst herrühren, ebenso wie die An- 
gaben über die Abmessungen des Objcktives, sowie ferner, dafs die beiden zu suchenden 
(slasarten wenigstens den bekannten 7 Zraunhoferschen Glasarten ähnlich gewesen 
sind und hauptsächlich in Bezug auf ihre partielle Dispersion nicht wesentlich von 
diesen abweichen. 

Für die von Desse/ angegebenen Brechungsverhältnisse ist thatsächlich die sphärische 
Abweichung sehr gering; die grofse Vorzüglichkeit des /raunhoferschen Objcktives in 
Bezug auf die Vernichtung einer Reihe von Fehlern ist stets an der Hand dieser Zahlen 
nachgewiesen worden. Wenn nun /raunhofer nur für eine einzige Farbe das Brechungs- 
verhältnis mitteilte, wenn fur diese Farbe die Fehler wegen der Kugelgcestalt und andere 
Abweichungen musterhaft gehoben sind, so ist es äufserst wahrscheinlich, dafs diese 
Farbe der hellsten Stelle des Spektrums entspricht. Zraunhofer ermittelte, dafs der 
hellste Ort im Spektrum »um ungefähr } oder 4 der Länge DE von D nach E zu«< 
liege, und deutet an, dafs er als die »mittleren« Strahlen, für welche er die Kugel- 
abweichung zu heben suchte, gerade diejenigen Strahlen wählte, welche der hellsten Stelle 


des Spektrums entsprechen. Dieselbe Annahme macht übrigens auch Sc%eibner bei Be- ' 
rechnung der Zerstreuungsverhältnisse. 


Die erste von mir gemachte Annahme ist also die, dass die von Dessel mit- 
geteilten Brechungsverhältnisse 
Crown n = 1,529130 
Flint n’ = 1,639121 
einem mittleren Strahle entsprechen, welcher zwischen den Linien D und E und zwar 
bei D 30E (der ganze Abstand D bis E = 100 gesetzt) liege. Dieser mittlere Strahl 
werde mit M bezeichnet. 


Wendet man sich zuerst dem Crownglase zu, so kommt dieses dem Fraunhofer- 
schen Crownglase No. 13 schr nahe in Bezug auf das Brechungsverhältnis des mittleren 
Strahles M, es liegt zwischen Crownglas No. 9 und Crownglas No. 13. Man wird des- 
halb der Wahrheit recht nahe kommen, wenn man die Brechungsverhältnisse der zu 
Sichenden Glasart, welche mit Crown K bezeichnet werden mag, einfach zwischen die 
Werte für jene beiden /raunhoferschen Glasarten interpoliert: 


26 Dr. HUGO KRÜSS, Fernrohr-Objektive. 
Crown No. 9 Crown K Crown No. 13 
B 1,525882 1,524434 1,524312 
C 1,526849 1.525424 1,525299 
D 1,529587 1,528112 1,527982 
M 1,530612 1,529130 1,528999 
E 1,533005 1,531505 1,531372 
F 1,536052 1,534477 1,534337 
G 1,541657 1,54005 1 1,539908 
H 1,546566 1.544838 1,544684 


Bevor man nun zur Aufstellung der entsprechenden Daten für das Flintglas 
schreitet, mufs man sich über die Bedeutung des von Jessel als 2,025 mitgeteilten Zer- 


y 
zweier Glasarten zu ein- 

dn 

ander ist nicht konstant, sondern es variiert für die verschiedenen Stellen des Spektrums, 

also z. B. für das /raunhofersche Crownglas No. 13 und Flintglas No. 30 zwischen 

1,904 und 2,233. 

Fraunhofer nahm nun an, dafs bei einem Objektive die Abweichungen der 
helleren Strahlen mchr schaden. als diejenigen der weniger hellen und berechnete das 
Zerstreuungsverhältnis deshalb nicht einfach als Mittel aus den verschiedenen partiellen 
Zerstreuungsverhältnissen, sondern unter Berücksichtigung der den betreffenden Teilen 


streuungsverhältnisses klar sein. Das Zerstreuungsverhältnis - 


des Spektrums zukommenden Helligkeiten. 
Setzt man 


‘ 4 
nc —N% 
— En SE b 
ne == ny 
np — ne 
zS = = C f 
n D a ne u. S. . 


und die Helligkeit 
im Raume BC =: 8 
GR ze Ele 


» » 
so ist das Zerstreuungsverhältnis nach Zraunhofer: 


dn b8 Heyt dd f- es + AEs g7 


dn +6- 


"ats FöteHEte 





Zur Berechnung dieses Ausdruckes nahm /Zraunhofer auf Grund seiner Mes- 
sungen der Helligkcit der verschiedenen Teile des Sonnenspektrums an 
B = 0,021 
y = 0,299 
Ò == 1,000 
& = 0,328 
& = 0,185 
„ — 0,035 


Dr. HUGO KRÜSS, Fernrohr-Objektive. 27 


Auf diese Weise ergab sich für Flintglas No. 30 und Crownglas No. 13: 


d n’ 

qn ~ 2012 
Fraunhofer fand aber, dafs bei Objektiven aus diesen beiden Glasarten das Sehen dann 
am deutlichsten sei, wenn dieses Verhältnis —= 1,98 genommen wird. 


Steinheil und Seide! suchten diese Nichtübereinstimmung dadurch zu erklären, dafs 
die raunhofersche Berechnungsweise des Zerstreuungsverhältnisses nicht ganz exakt sei. 
4‘ 


Es stelle nämlich ia einen wahren Differentialquotienten dar, dessen Einführung dazu 
diene, von einer bestimmten Stelle des Spektrums aus, für welche das Objektiv die ge- 
forderten Bedingungen erfüllt und der das angenommene n und n’ zugechoren, mit An- 
näherung auf jede andere überzugchen. Wird also dieser besonders bevorzugte (mittlere) 
Strahl mit M bezeichnet und mit x der allvemeine Index irgend einer Stelle des 
Spektrums (entsprechend dem B, C...) und bedeutet 5 die derselben zugehörige Intensität, 


so wird hiernach der wahre Mittelwert sein: 


€ n’y — nM 
d n’ ng — nM 


dn [dx 
Nach dieser Formel fällt für dieselben beiden Glasarten der von /Traunhofer als 
der vorteilhafteste gefundene Wert 1,98 genau in die Mitte zwischen die beiden Werte, 
4 


.. dn , ; aut l 
welche man für Ta erhält, wenn man cinmal für M die Linie D, das zweite Mal die 
n 


Linie E wählt. 
Sodann hat II. Sc%midt nachgewiesen, dafs die sämtlichen Brechungsverhältnisse 


der 7 bekannten /raunhoferschen Glasarten sich durch die empirische Formel 


n=a + bI-! + cl? 
mit derselben Genauigkeit darstellen lassen, welche den Zraunkoferschen Messungen selbst 
innewohnt.!) Aus den so gewonnenen Gleichungen für die beiden /rammhoferschen 
Gläser Crown No. 13 und Flint No. 30 berechnete Sc/heröner für die hellste Stelle des 
Spektrums (D 30 E)\: 


ein Wert, welcher mit dem empirisch von Fraunhofer als dem besten erkannten vorzüg- 
lich stimmt. 

Wenn nun von /raunhofer als Zerstreuungsverhältnis der beiden Glasarten. 
welche er zum Objektive des Königsberger Heliomceters verwendete, an Bessel 2,025 mit- 


N W. Gerken hat gezeigt, dass dieselbe Formel auch die Brechungsverhältnisse von Thallıum-Glas, 
Benzol-Chlorid und Oleum Cinnamoneum mit genügender Genauigkeit darstellt. (Uber die Math. Theorie der 


Dispersion des Lichtes. Inaug.-Diss. Göttingen 1877.) 


28 Dr. HUGO KRÜSS, Fernrohr-Objektive. 


4 
geteilt wurde, so ist anzunehmen, dafs dieses’ der aus Zraunhofers Formel für ee her- 
geleitete Wert für diese beiden Glasarten ist, während Zrazunkhofer zur Berechnung des 
Objektives selbst vielleicht einen etwas kleineren Wert benutzte infolge seiner vorstehend 
mitgeteilten Erfahrungen über das günstigste Zerstreuungsvcerhältnis bei den Gläsern 
Crown No. 13 und Flint No. 30. In der That ist ja auch der Farbenfchler bei Annahme 
des Zerstreuungsverhältnissecs 2,025 überkorrigiert und würde bei einem etwas kleineren 
Zerstreuungsverhältnisse gehoben sein. 

Die Annahme, zu welcher ich mich nunmehr berechtigt halte, ist also die, dafs 
dn’ a . 
der Wert qp = 2025 für die betreffenden Glasarten von Zraznhofer durch Rechnung 


In 
nach der von ihm angegebenen Formel gewonnen wurde. 
Stellt man nun die Zerstreuungsverhältnisse des hypothetischen Crownglases K 
mit den Zraunhoferschen Flintglasern her, so findet sich, dafs die Flintgläser No. 23 
und No. 30 dem zu suchenden Flintglase am nächsten kommen. Es ist nämlich 
dn‘ 
dn 


Cr K u. FI No. 23 Cr K u. FI No. 30 





B—C 1,90 1,93 
C—D 1,94 1,90 
D—E 2,04 2,00 
E—F 2,10 2,06 
F—-G 2,17 2,14 
G-—II 2,16 2,23 
nach Zraunhofers 

Formel 2,05 2,01 


Interpoliert man zwischen diese beiden Reihen die Werte für die neu aufzustel- 
lenden partiellen Zerstreuungsverhältnisse eines vermutlich zu dem Königsberger Objektiv 
verwendeten Flintglases (Flint K», so erhält man 


dn’ 
An also 
CrK und FIK dn’ 

B—C 1,919 0,00 1900 
C—D 1,915 0,005 169 
D—E 2,015 0,006806 
E—F 2,057 0,006167 
F—G 2,151 0,01 1990 
G—H 2,241 0,010728 
nach Zraunhofers 
Formel 2,027 


und hieraus ergeben sich die Brechungsverhältnisse selbst für Flintglas K 


Dr. HUGO KRÜSS, Fernrohr-Objektive. 29 


B 1.630037 
C 1,631937 
D 1,637106 
M 1,639101 
l 1,643912 
F 1,650079 
G 1,662069 
HI 1,672797 
Es soll nun noch festgestellt werden, ob die so aufgestellten Werte der Brechungs- 
verhältnisse der hypothetischen Glasarten Crown K und Flint K sich ebenfalls wie die 
bekannten sieben /raunhoferschen Glasarten mit gleicher Genauigkeit durch die von 
W. Schmidt gefundene Formel darstellen lassen. 
Dieselbe lautet 
n =. a 4 bi + ct 
Hierin bedeuten I die Werte der von „Izgström gefundenen Wellenlängen der 
entsprechenden Strahlen in ITundertmillionteilen cines Pariser Zolles. Dieselben sind für 
B 2539,73 
C 2426,29 
D 2178,59 
E 1948,2 
F 1797,27 
G 1592,34 
H 1467,18 
und die Kocffizienten a, b und c bestimmen sich durch die Gleichungen 


= : | (si st — (ats ıN 
(alt yi — yit aA SI N 


Se en a ee 


b= - | (7x — (X19) YI N 
(SI 81-5 — yi yi) yN 
(31-1 81-4 — 7 21-5) SI# N 

ee (7 yl — (31) SI! N 


‘dS 21-5 — yl? SI) X N 
(XI 8174 — 7 y) YILIN 
e era 
a N? (319° u N]-8 (SR 

2 


a ee 


Com 
l 
SI 


N) Pogg. Ann. 123, S. 489. 


30 Dr. HUGO KRÜSS, Fernrohr-Objektive. 


Aus Zrammhofers Beobachtungen creicht sich die Gröfse 0,000049 als Grenze 
der Beobachtungsfchler und es lassen sich die Brechungsverhältnisse der Zraunhoferschen 
Glasarten durch die Gleichung Sc/hrmzedts so darstellen, dafs in keinem Falle die Rechnung 
von den wirklichen von Fraunhofer gescbenen Werten um mehr als 0,000049 abweicht. 
Untersuchen wir, ob dasselbe auch für die ncu aufgestellten Glasarten Crown K und 
Flint K der Fall ist. 


Crownglas K. 


N I N l-1 N 
B 1,524434 2 21734080328 6,82352231255 
C 1,525424 23225250N 8,19728298204 
DD 1,528112 2,5911480443 2 12,63290844279 
E 1,531505 2,90394582455 19,79697 262558 
F 1,534477 3,15398480323 27,38780704518 
G 1,540051 3,57282582561 44,01 101149329 
H 1,544838 3,858966404238 62,08083722162 


2 10,728841 20,65 144048852 181,53034272305 


J = 574624,93986335 — 4067034,4504823 — 374179,5496936 — 554055,3428127 + 
520972,8900419 = 328,486Yy171 


mr NE 


|; 


164903,036241 — 220241,306503 + 55833,037390 | 


. 494,767128 = 1,50620040 


bias 154166,2311583 — 114419,8130107 — 39742,5230211 l 
= =. 3,8951165 = 0,011857752 
D 1221,406149221 + 3299,745779383 — 4521,0801 13899 


. 0,071814705 = 0,00021862273 


n = 1,50620040 +4- 0,0118577521-! + 0,00021862273 1-% 


Hieraus berechnet sich 


B C D E F 
n 1,524425 1,525429 1,528114 1,551510 1,534475 
A =n — N — 0,000009 F 0,000005 ļ- 0,000002 -4 0,000005  — 0,000002 
| G H 
1,540042 1,544842 


— 0,000009 -++ 0,000004 


> ô = — 0,000004 


Dr. HUGO KRÜSS, Fernrohr-Objektive. 31 


Flintglas K. 


N I—N I-'"N 
B 1,630037 2,37095035349 7,29621212843 
C 1,631937 2.4840609580907 8,76965971288 
I) 1,637 106 2,775906407217 13,533962307 18 
E 1,043912 3,11708508188 21,24999974721 
F 1,650079 3:391 59478385 29,451 10695784 
G 1,662069 385590025730  48,14553496064 
H 1,072797 4.21 184508739 67,22949270008 
= 11,527937 22,20803544515 195.6759685 1426 
J = 328,4869171 (wie vorher) 
I | | 
a — J | 177185,197627 — 236841,916379 -+ 60181 798875 | 
l 
=- ~= . 525,050123 — 1,59848109 
I 
b=- J | 105786,4558037 — 122941.9278317 — 42838,0156101 | 
| 
= = 0,5123619 = 0019825331 
I 
= | 1310,539859803 4 3545,514511842 — 4861,854913978 | 
I 
— J’ 0,199457067 = 0,00060720125 
n’ = 1,59848109 -+ 0,019825331 l~! + 0,00060720125 l—* 


Hieraus folet 


B C D E F 
n’ 1,630036 1,631929 1,637118 1,643922 1,650067 
A‘ = nf — N’ — 0,000001 — 0,000008 —- 0.000016 — 0,00001I0 — O,OOOOII 
G H 
1,662065 1,672801 


— 0,000004 -H 0,000004 
N A’ = + 0,000006 


Aus diesen Rechnungen folgt, dafs die Brechungsverhältnisse der hypothetischen 
Glasarten Cr K und FI K sich mit der gewünschten Genauigkeit darstellen lassen durch 
dieselbe Gleichung, welcher nach W. Schmidt die Fraunhoferschen Gläser folgen. Wenn 
dieses natürlich auch kein Beweis dafür ist, dafs diese beiden Glasarten mit den für sie 
angenommenen Brechungsverhältnissen wirklich existiert haben, so hätte man dieselben 
andererseits bei einem negativen Ausfall vorstehender Rechnung doch entschieden ver- 
werfen müssen. 


32 Dr. HUGO KRÜSS, Fernrohr-Objektive. 


Die partiellen Dispersionsvcerhältnisse dieser beiden Glasarten sind bereits S. 26 
angegeben, cbenso das nach Zraunhofers Formel berechnete Verhältnis; es ergab sich 
zu 2,027. Berechnet man dasselbe Zerstreuungsverhältnis nach den Sch%midtschen Formeln 
und zwar für die der hellsten Stelle des Spektrums (D 30 E) entsprechende Wellenlänge, 
für welche 1—= 2101,15 (“Ineström) ist, so wird 

dn b’ + 4c'l”” 0,0330249 
dn b + 4c 1? 00166103 

Berechnet man dieses Verhältnis dagegen nach der Methode von Serner! und 

Seidel, so findet sich 


1,9882 


dn’ 
nach D genommen == 1,9867 
dn | 
> D >» = 2,0426 
I) 30 le B - 2,0035 


Ermittelt may nun dasjenige Zerstreuungsverhältnis, für welches der Farbenfehler 
des Königsberger Heliometerobjcktives gleich Null ist, so ergiebt sich durch eine einfache 
Rechnung ein Wert von 2,0777. 

Dieses Beispiel zeigt, dafs die von Szente! und Serde? durch ihre Methode sowie 
die von Scheibner nach den Schmödtschen Formeln erlangte Übereinstimmung des für das 
Fraunhofersche Crownglas No. 13 und Flintglas No. 30 berechneten Zerstreuungsverhält- 
nisses mit dem von Fraunhofer empirisch als das beste befundenen nur zufällig war. 

Eine Durchrechnung des Königsberger Heliometer-Objektives mit den Glasarten 
Crown K und Flint K für cinen in der Axe ceinfallenden Strahl ergiebt folsende Ver- 
einigungs- und Brennweiten der verschiedenen Farben: 

B C D M E F G H 
p 1128,669 1129,435 1127,799 1127,712 1127,754 1128,251 1130,326 1133,261 
P 1132,424 1132,184 1131,544 1131,454 1131,490 1131,98! 1134,048 1136,979 

Die Abweichung der Vercinigungsweiten der verschiedenfarbigen Strahlen von 

derjenigen für den Strahl M sind demgemäfs: 


dp 
B + 0,957 
C + 0,723 
D + 0,087 
M + 0,000 
E + 10,042 
Fo +$ 0,539 
G + 2,614 
IT + 5,549 


Die violetten Strahlen haben eine sehr starke Farbenabweichung, jedoch brauchte 
Fraunhofer diese nicht so sehr zu berücksichtigen, da sein Glas nicht weiss, sondern 
erüngelb war und deshalb die meisten der stärker brechbaren Strahlen absorbierte. 


Dr. HUGO KRÜSS, Fernrohr-Objektive. 33 
Dieses mag denn auch der Grund sein, dafs /raunhofer. wie er selbst angiebt und wie 
auch das vorstehende Beispiel zu beweisen scheint, bei Berechnung seiner Objektive 
stets ein kleineres Zerstreuungsverhältnis zu Grunde leste, als sich nach seiner Berech- 
nung dieses Verhältnisses für dasselbe ergab. 

Zur Prüfung der Richtigkeit des erlangten Resultates können einige Zahlen 
dienen, welche über andere Zraunhofersche Objektive bekannt sind. Leider ist über 
dieselben ja verhältnismässig wenige veröffentlicht worden; um so mehr Beachtung ver- 
dient das Vorhandene. 

Zuerst kommt hier in Betracht cine Arbeit von F. A. /r. Arnold über /raun- 
hofersche Objektive  Derselbe hatte sieben verschiedene /Taunhofersche Objektive 
zur Verfügung, an welchen er die Krümmungsradien der Flächen, die Dicken der 
Linsen und die Brechungsverhältnisse mit möglichster Genauigkeit mafs, Während 
eines dieser Objektive ein sogenanntes »ineinandergepafstes« war, stimmten bei den 
anderen sechs die Verhältnisse der Krümmungsradien vollständig miteinander überein, 
desgleichen die ermittelten Brechungsverhältnisse für die hellsten Strahlen, und “lrnold 
fand, dafs dieses dieselben waren,. welche Zraunhofer selbst für seine Gläser Crown 
No. 9 und Flint No. 3 angegeben hatte. Er machte deshalb durch eines der Objektive, 
welches er als »7ypus Fraunhofers bezeichnete, eine Durchrechnung. Die Abmessungen 
dieses Objektives waren: 


Cowl Au dı 


— 0,316 

| re == — 16,643 . = 

Sr a ee 
is ey 


Die Brennweite dieses Objektives war gemessen zu 60,880. 
Die Verhältnisse der Radien dieses Objektives zu denjenigen des Königsberger 
Heliometer-Objektives sind folgende: 


li re r3 r, 
2,0007 2,0054 2,0067 1,5508 


Man sicht hieraus, dafs die drei ersten Radien des »Irnoldschen Objektives voll- 
ständig mit denjenigen des Königsberger Objektives übereinstimmen, nur der vierte Radius 
ist bedeutend flacher bei ersterem wegen des geringeren Zerstreuungsverhältnisses zwischen 
den Glasarten Crown No. 9 und Flint No. 3 (ca. 1,72), 

Die von Arnold für sein Objektiv berechneten Vereinigungsweiten p fanden 
sich nun zu: | 


1) Über die Theorie der achromatischen Objektive, besonders der Zrwwnhoferschen. Quedlinburg- 


Leipzig 1833. 


34 Dr. HUGO KRÜSS, Fernrohr-Objektive. 


p dp 
C 60,7387 -+ 0,0212 
l) 60,7189 + 0,0014 
M 60,7175 O 
lv 60,7155 — 0,0020 
F 60,7243 + 0,0008 


G 60,8431 -+ 0,1256 

Der zweite Fall, welcher hier zur Vergleichung heranzuziehen wäre, ist der von 
G. Lorensoni mitgeteilte.!) Derselbe berechnete ein Zraunhofersches Objektiv aus den 
Glasarten Crown No. 13 und Flint No. 30. Das Zerstreuungsverhältnis dieser beiden 
Gläser ist nach der Fraunhoferschen Formel ausgerechnet, wie bereits mitgeteilt: 2,012, 
während der als der beste für die Wirkung cines Objektives von Fraunhofer erkannte 
Wert 1,98 beträgt. Für diesen letzteren hob Zorenson? die Farbenzerstreuung des von 
ihm berechneten Objcktives, dessen Abmessungen er leider nicht mitteilt, und fand 


folgende Vereinigungsweiten für die Strahlen verschiedener Brechbarkeit: 


p dp 
B ı751ı12 + 112 
C 1750,92 + 0,92 
D 1750,04 + 0.04 
M 1750,00 0,00 
E 1750,25 + 0325 
b 175043 + 0,43 
F 175126 -+ 1,26 


f 175375 + 375 
(Hy) 175475 + 475 
g 1755.00 + 5.06 

h 1757,92 + 792 

II 1760,19 f- 10,19 
Endlich wurden von M. C. Fogel?) die Brennpunkte eines /Traunhoferschen Ob- 
jektives von 243 mm Öffnung und 4331 mm Brennweite für Strahlen verschiedener 
Brechbarkeit ermittelt. Die von ihm hierbei angewandte, sehr grofse Schärfe zulassende, 
Methode war folgende. Stellt man das Okular so cin, dafs das Bild eines Sternes mög- 
lichst klein erscheint und befestigt dann hinter dem Okular einen Prismensatz mit gerader 
Durchsicht, so würde man ein vollkommen lineares Spektrum erhalten, wenn das Bild 
des Sternes wirklich ein Punkt wäre. Infolge der Unvollkommenheit der Achromasie 
des Objektives schneiden sich bei bestimmter Einstellung des Okulars aber im allge- 
meinen nur Strahlen von einer Brechbarkeit in einem Punkt, nur an der diesen Strahlen 
entsprechenden Stelle ist das Spektrum linear, besitzt also eine Einschnürung, während 


H) Astron. Nachr. 78, S. 389 (1871). 
?) Berl. Monatsber. 1880, S. 433. — Caris Rep. d. Phys. 1881, S. ı. 


Dr. HUGO KRÜUSS, Fernrohr-Objektive. 35 


es an den anderen Stellen verbreitert erscheint. WVerschiebt man das Okular mit dem 
Prismensatze in der optischen Achse des Fernrohres, so treten die Erscheinungen an 
anderen Stellen des Spektrums auf und man kann auf diese Weise die Unterschiede in 


den Vereinieungesweiten der verschiedenfarbisen Strahlen finden. 
D D 
Die Resultate, wie F’oge/ dieselben giebt, sind: 











a 


4 
690 
656 
590 
517 
486 
459 


(1y) 434 
(Il d) 410 
II 397 


Bildet man des leichteren Vergleiches wegen die Werte der Varbenzerstreuung 


dp 
— 0,8 mm 
s 2 » 
2,8 
— 12 » 
O 
+ 18 ~ 
4 4,0 R 
+ 85 > 
15,7» 

















P = 1000, d. h. also die Gröfsen 1000 dp so ergiebt sich folgende Zusammenstellung: 
| Königsberg | | zu 
Bezeichnung | Wellenlänge | mit Cr K Arnold 
u, FIK 

B | 656 -4 0,85 | — 

690 — — 
C 656 + 0,64 | -H 0,34 
D 590 4- 0,08 -- 0,02 
M 569 O O ~ 0 O 
D 526 — 0,03 4- 0,03 -- 0,15 | — 
b 517 — | — +- 0,25 + 0,30 
F 486 + 0,48 | 4- oọ,I1 Torz I-A 0558 

459 — | = o + 0,99 
f 447 = = ie 
(Hy) 434 = = 27. ||. 550 
(i 430 -{-" 2,32 + 2,06 . 2,89 — 
h (Hò 410 = Aa + 4,52 | -+ 2,54 
H 397 + 4,92 — | 5,82 | + 4,20 


diese Zusammenstellung zeigt einc 





gute Übereinstimmung in den vier Objektiven, 


so dafs der Schlufs jetzt wohl berechtigt erscheint, dafs die Glasarten, aus welchen das 


36 Dr. HUGO KRÜSS, Fernrohr-Objektive. 
Königsberger Heliometer-Objcktiv wirklich besteht, in ihren Brechungsverhältnissen nicht 
wesentlich verschieden sind von den angenommenen beiden Gläsern Crown K und 
Flint K. — 
Mit den somit als der Wahrheit schr nahe kommend anzunehmenden Brechungs- 
verhältnissen für die Glasarten Crown K und Flint K habe ich nun auch das von mir 
berechnete Gausssche Objektiv für die verschiedenfarbigen Axcnstrahlen durchgerechnet 
und folgende Vereinigungsweiten dadurch gefunden: 


B C D M E F G H 
p 1088,953 1088,649 1087,852 1087,715 1087,655 1088,074 1090,077 1093,037 


Die Abweichungen in den Vercinigungsweiten für dic verschiedenfarbigen Strahlen 
von derjenigen für den Strahl M sind demgemäfs: 


dp 
B + 1,238 
C + 0,934 
D + 0,137 
M 0,000 
E — 0,060 
I + 0,359 
G + 2,362 
H -+ 5,322 


Auch hier ist cin Vergleich möglich mit einigen Objektiven derselben Kon- 
struktion. 

C. +l. Young befestigte cin Spektroskop an sein Teleskop mit dem Gaussschen 
Objektiv von 138 Zoll Brennweite, brachte den zu beobachtenden Teil des Spektrums in 
die Mitte des Gesichtsfcldes und stellte die im Spektrum auftretenden von Verun- 
reinigungen der Spaltränder herrührenden Staublinien mit dem Beobachtungsfernrohr 
scharf ein; damit war also dic Ebene des Spaltes cingestellt. Sodann richtete er 
das Teleskop so, dafs der Rand des Sonnenbildes den Spalt des Spektroskopes recht- 
winklig kreuzte; bewegte er dann das ganze Spektroskop in der Richtung der op- 
tischen Axe des Objektives, so konnte cine Stellung gefunden werden, in welcher 
der Rand des Sonnenspektrums vollkommen scharf im Okular des Spektroskopes gce- 
schen wurde. In dieser Stellung fiel augenscheinlich der Spalt in die Brenncbene des 
Objektives für diejenigen Strahlen des Spektrums, welche in der Mitte des Gesichtsfeldes 
eingestellt waren. 

Young berichtet, dafs auf diese Weise Beobachtungen von überraschender Ge- 
nauigkeit möglich seien, indem die cinzelnen Einstellungen kaum um einen halben 
Millimeter von einander abwichen. So konnten also die Unterschiede der Vereinigungs- 
weiten für verschiedene Strahlen des Spektrums bestimmt werden; dieselben sind für 
Youngs Gausssches Objektiv: 


Dr. HUGO KRUSS, Fernrohr-Objektive. 37 

) dp 

A 760 0,199 Zoll 

B 686 0,09 > 

C 656 0,052 

D 589 0,002 > 
559 0,000 » 
532 0,004 » 

b 518 O,OII » 
490 0.035 

F è 4856 0,059 » 
453 0,197 > 

G 430 0,370 > 

h 410 0,626 

H 397 0,8I0 » 


Infolge dieser Messungen von C. A. Young versuchte auch Oudemans, dieselben 
an scinem Objektive Gazssscher Konstruktion auszuführen, bei welcher er allerdings, wie 
er mir gütigst mitteilte, nicht cine derartige Schärfe der Einstellung erzielte, und zwar 
infolge mangelhafter Montierung scines Spektroskopes. Scine Resultate sind nach bricf- 
licher Mitteilung an mich: 


dp 
B 4- 1,7 mm 
D + 19» 
Grün -+ 1,6.» 
Weiter Grün OO >» 
F 4 1,4 > 
H 1- 5,4 >» 


Oudemans legte allerdings nicht viel Gewicht auf die Richtigkeit seiner Resultate, 
weil sie aus dem ersten noch etwas unvollkommenen Versuche erhalten waren; die 
gegebenen Zahlen seien deshalb mit Vorsicht aufzunchmen. 

tndlich habe ich für das Objektiv, welches Csapski berechnete, aufser den 
von ihm mir gütigst mitgeteilten Zahlen die Vereinigungsweiten der Axenstrahlen 
für die den Linien A und G entsprechenden Strahlen des Spektrums ausgerechnet; 
sie sind: 

A C D F G 
p 2089,28 2085,99 2085,51 2085,94 2088,30 


Interpoliert man für den Strahl M p =— 2085,05, was nicht so ganz unzutreffend 
sein wird, so erhält man 


38 Dr. HUGO KRUSS, Fernrohr-Objektive. 


dp 
A H 1,78 
C +0,49 
D ++ 001 
M + 0,00 
Fo -f 0.44 


(1-4 2.80 


Für diese vier Objektive, sämtlich Gaussscher Konstruktion, sind die Werte von 





dp Blue Mal EURE ! \ 
1000 Fr d. h. die Farbenzerstreuung für eine Brennweite = 1000, in folgender Tabelle 


zusammengestellt: 























Bezeichnung | Wellenlänge | Arüss Fonie | Oudemans | Czapski 
u f Te A 

A | 760 u, Seat ee Fr 
B 686 + 1,09 | - 0,69 ` 0,0. — 

C | 66 | + 001 071 =, #024 

DD | 589 + 0,12 4+- 0,01 + 0,01 | 0,00 

M | 569 0,00 | 0,00 | 0,00 0,00 
ı 532 — 4+ 0o03 | — — 
E | 527 — 0,05 ` — | — — 
b 0518 = +008 ı — — 
496 = 05. = = 

F 486 + 0,32 | -+ 0,42 | + 0,42 + 0,22 
453 == + 1,43 = = 

G 431 + 2,09 + 2,62 ` — + 1.38 
h 410 = | Paoro e y S 
H 397 7498. +5750 + 6o j — 


Abgesehen von dem nur der Vollständigkeit halber mit angeführten Oudemans- 
schen Objektive ist bei dem von Czapskl aus Jenaer Glas berechneten das sekundäre 
Spektrum bedeutend kleiner als bei den beiden anderen Objektiven. 

Endlich scien zum Vergleich noch die entsprechenden Zahlen für vier weitere 
Objektive gegeben: 1) Objektiv von C/ark im Jahre 1871 für das Aquatorcal des Dart- 
mouth College angefertigt von 9,36 inches Öffnung und 12 Fufs engl. Brennweite. 
Dasselbe besteht nach der Zz/rowwschen Konstruktion aus ciner fast gleichscitig konvexen 
Crownglas- und einer nahezu plankonkaven Flintglaslinse. Dasselbe wurde in derselben 
Weise wie das Gaxsssche Objektiv durch C. 1. Young auf sekundare Farben untersucht. 


Die für die drei anderen Objektive gegebenen Zahlen stammen von 77. C. 


her und bezichen 
5400 mm Brennweite, 3) eins von Grubb von 207 mm Offnung und 3160 mm Brennweite, 
sowie 4) ein Siezwheilsches Objektiv von 135 mm Öffnung und 2160 mm Brennweite. 


Bezeichnung | 


OA 
B 
c 


h 
H 


Zum Schlusse mag daran erinnert werden, dafs von IT. 
> , 


Dr. HUGO KRÜSS, Fernrohr-Objektive. 


sich 


i 


| 
Wellenlänge 





760 
686 
656 
610 
589 
| 573 
569 
560 
556 
544 
532 
527 
518 
512 





500 
498 
486 
|476 
1.473 
| 459 
452 
445 
434 
410 
397 





Littriev 


-+ 0,97 
+ 0,49 
0,00 


0,00 


—— 


+ 2:94 
+ 4,44 
+ 6,50 


p 1,72 


auf 2) ein Objektiv von 


| 
| 
I 
| 
| 
| 











| 


Schröder 1: Grubb 





u | sm Steinheil 
Fr 5 = I iz 
+ 0,80 | +4- 0,60 + 0,51 
+0,59 | +0,32 | + 0,28 
Hong | +00 
+ 0,15 | — 0,00 
+ 0,04 | 0,00 = —- 
0,00 | 0,00 0,00 
— 0,07 | PER = 
nbe e e 
— 0,15 | — 0,03 = 
63 er == 
— — 0,06 + 0,09 
— 0,28 — — 
— 0,04 Be z 
0,00 + 0,26 — 
+ 0,15 ` + 050 | + 051 
+ 0,54 = 2 
+ 0,52 | -- 0,90 — 
Foza | Frae | — oos 
a u wu 
ie en), = 
+ 1,67 ; + 253 + 1,90 
+ 3,30 | H 3,66 


— 


39 


lorel 


Schröder von 298 mm Öffnung und 


Schmidt und von Ch. 


S. Hastings?) mit Hilfe der bisher vorhandenen Glasarten dreiteilige Objektive berechnet 


1) Die Brechung des Lichts in Gläsern. 


?) Sill. Journ. 18, 429 (1879). 


leipzig 1874, 


S. 106. 


40 Dr. HUGO KRÜSS, Fernrohr-Objektive, 


worden sind, welche ein äufserst geringes sckundäres Spektrum’ haben. IM. Schmidt 
benutzte dazu seine, bereits mehrfach vorstehend mitgeteilte Formel, /lastings dagegen 
eine von ihm aufscstellte 
N = A + Bn + Cr? 

Hierin bedeutet n den Brechungsexponent für cin bestimmtes Glas (Feil Crown 
No. 1219), auf welchen //astzngs durch seine Formel 18 andere Gläser mit genügender 
Genauigkeit beziehen konnte. Die Zahlen für das sekundäre Spektrum dieser Objektive 
sind in demselben Mafse, wie bei den übrigen benutzt wurden: 
































dp 
1000 ` 
p 
Hastings ' W. Schmidt 
l „Mere Crown II | Merz Crown III | Merz Crown IV | #2 Crown 1219 Fraunhofer Crown 15 
| > Flinty | » Flin Vo è | > Flim V |, ZZ Flint 1237 ; Flint 13 
Steinhed Fhimt IL | Ditscheiner Flint Steinheil Flint TI Fraunhofer Flint 13 ’ » 23 
- - . Ser u = y | = BR zuge | ae N A er eg SE 
A + 0,02 — | 0,00 — _ 
B — 0,51 — Ol — 0,32 0,00 | — 0,17 
C + 0,43 + 1,02 + 0,53 — 0,01 — 0,20 
D + 0,26 — 0,52 + 0,05 — 0,01 — 0,07 
E — 0,08 —- 0,58 — 0,07 + 0,24 + 0,22 
F — 0,12 — 0,49 — 0,01 — 0,01 — 0,17 
G + 0,02 + 0,30 0,00 — 0,01 | —- 0,48 
H — — — — | -++ 0,13 
| 


Bei den beiden letzten Objektiven ist cin merkwürdiger Sprung von D zu E 
auffallend; /Zastings ist der Meinung, dafs derselbe erklärt werde durch einen Fehler in 
Fraunhofers Angabe für den Brechungsexponenten des Strahles E in Bezug auf das 
Flintglas No. 13; dieses müsse um etwa 0,000030 kleiner sein, als Fraunhofer angegeben. 
Wegen dieses eigentümlichen Verhältnisses ist es nicht angängig, hier den Wert für den 
mittleren Strahl M zwischen diejenigen für D und E zu interpolieren. 

Es ist mir bis jetzt nicht bekannt geworden, ob und wo derartige Objektive aus 
drei getrennt stehenden Linsen bisher ausgeführt worden sind. 


Über die 


Messung hoher Potentiale 


mit dem 


Quadrant-Elektrometer. 


Von 


A. Voller. 


Je T y 


Mit einer Tafel. 


Über die Messung hoher Potentiale mit dem 
C)Juadrant-Elektrometer. 
Von 
A. Voller. 


Im Laufe des letzten Jahres hatte ich Veranlassung, meine Aufmerksamkeit auf 
die Höhe derjenigen elektrischen Potential-Differenz zu richten, welche durch die elektro- 
motorische Kraft der Reibung gewisser in der heutigen Industrie viel verwendeter Körper 
erzeugt werden kann. Insbesondere handelte es sich um die Kenntnis der elektromo- 
torischen Kraft, welche bei der Reibung von Hartgummi gegen weiche und harte Hölzer 
auftritt, und um deren Abhängigkeit von Druck, Temperatur etc. Obgleich nun die 
elektromotorische Kraft der Reibung die ältest bekannte ist und, insbesondere aus älterer 
Zeit, zahlreiche Untersuchungen über dieselbe vorliegen, so zeigt doch schon eine 
Prüfung der in unseren Hand- und Lehrbüchern zusammengestellten Resultate dieser 
Untersuchungen, dafs dieselben mehr qualitativer als quantitativer Natur sind, dafs ins- 
besondere die erzeugte Spannung als Funktion des Druckes, der Reibungsgeschwindig- 
keit, der Temperatur etc. nur wenig studirt worden ist, sowie auch, dafs die Anzahl 
der untersuchten Substanzen eine beschränkte ist. Über die elektromotorische Kraft der 
Reibung von Hartgummi gegen Holz fand ich in der Litteratur keinerlei Angaben. 

Der Grund dieses wenig befriedigenden Zustandes unserer Kenntnis von der 
elektromotorischen Kraft der Reibung liegt wohl wesentlich in der Schwierigkeit, so hohe 
Potentialdifferenzen, wie sie bei der Reibung heterogener Körper auftreten, einer Messung 
zu unterziehen. Die älteren Experimentatoren besafsen in der That keine hierzu geeig- 
neten Mittel, da man die gebräuchlichen, auf. der gegenseitigen Abstofsung gleichartig 
geladener leichter Körper, wie Stroh, Hollunder, Goldblättchen etc. beruhenden Instru- 
mente doch nur als Elektrofkope, nicht aber als Elektrometer im strengeren Sinne be- 
zeichnen kann. Erst die Einführung der Drehwage in die experimentale Physik durch 
Coulomb und die Ausbildung derselben durch Del/mann, Kohlrausch, Thomson etc. bahnte 
den Weg zu einer genaueren Messung resp. Vergleichung von elektrischen Potentialen. 
Indes gestattete dieses Instrument in den gebräuchlich gewordenen Formen uud Modi- 


4 A. VOLLER, Messung hoher Potentiale. 

fikationen (z. B. den ZAomsonschen Quadrant-Elektrometern) nur die Messung schwacher 
Potentiale, wie sie beim Kontakte heterogener Körper auftreten, deren Untersuchung ja 
allerdings während der letzten Jahrzehnte von besonderer Wichtigkeit war. Für die 
genaue Messung hoher Spannungen, welche Tausende von Volt betragen, wurde erst mit 
dem Zkhomson’schen absoluten Elektrometer ein Hilfsmittel dargeboten. Dieses Instrument, 
welches bekanntlich aus der, der elektrischen Anziehung zweier geladener Flächen äqui- 
valenten Gewichtsgröfse die Potentiale im elektrostatischen C-G-S-System abzuleiten ge- 
stattet, ist kürzlich- von G. Quincke*) und ganz neuerdings von Bichat und Blondlot”*) 
zu einer diese Gewichtsgröfse direkt messenden Wage umgestaltet worden. 

Gegenwärtig ist also eine Messung so hoher Potentiale, wie sie bei der Reibungs- 
clektricität auftreten, nicht mehr unmöglich; es schien mir daher nicht überflüssig zu 
sein, die seit längerer Zeit ruhende Untersuchung auf diesem Felde wieder aufzunehmen. 
Die sich hier darbietende Aufgabe besteht einerseits darin, die bis jetzt mehr oder we- 
niger auf Schätzungen beruhende, jedenfalls aber erst sehr lückenhaft bekannte Spannungs- 
reihe für geriebene Körper für gewisse Normalbedingungen wenn möglich in sicherer 
Weise festzustellen, andererseits aber die Abhängigkeit der elektromotorischen Kraft der 
Reibung bestimmter Körper von den Bedingungen des Druckes, der Reibungsgeschwin- 
digkeit resp. der Reibungsarbeit, der Temperatur und etwaiger sonstiger Verhältnisse so- 
weit wie möglich zu ermitteln. 

Es ist indes nicht die Absicht der vorliegenden Mitteilung, über die Art und 
Weise zu berichten, wie ich versucht habe, zur Lösung dieser Aufgaben, welche an und 
für sich eigentümliche experimentelle Schwierigkeiten darbieten, einen Beitrag zu liefern. 
Da diese Untersuchungen noch nicht weit vorgerückt sind, so mufs deren Veröffentlichung 
einem späteren Zeitpunkte vorbehalten bleiben. Dagegen schien es mir, ganz abgesehen 
von dem von mir ins Auge gefafsten besonderen Zwecke, nützlich zu sein, mitzuteilen, 
wie ich unter Benutzung des Prinzips der Drehwage resp. des Quadrant-Elektrometers 
zu einem neuen für die Messung sehr hoher Potentiale geeigneten Verfahren gelangt 
bin. Es schien mir nämlich, dafs das ZAomsonsche Instrument für die in Rede stehenden 
Untersuchungen .manche Schwierigkeiten darbiete, die wesentlich in der raschen Ver- 
änderlichkeit der durch Reibung erzeugbaren Potentiale und in der Notwendigkeit, 
diesen Veränderungen am Mefsinstrumente selbst mit der Drehung einer Mikrometer- 
schraube folgen zu müssen, begründet lagen. Die Owrnckesche Form des absoluten Elektro- 
meters war mir zu der Zeit, als ich die Frage der Messung hoher Potentiale zu prüfen be- 
gann, noch nicht bekannt, die Bichat-Blondlotsche Form, in welcher statt ebener cylindrische 
Flächen benutzt werden, existierte noch nicht. Für beide Instrumente ist natürlich die 
erwähnte Schwierigkeit zufolge der Natur dieser Untersuchungen ebenfalls vorhanden. Ich 
versuchte daher, auf anderem Wege zum Ziele zukommen und kehrte zur Drehwage resp. 
zu der durch Tomson ausgebildeten Form derselben, dem Quadrant-Elektrometer zurück. 





*) G. Quincke, elektrische Untersuchungen. Wied. Ann. 79 p. 707; 28 p. 531. 
##) Dichat et Blondlot, Cpts. rend, 702 p. 754; 703 p. 246, . 


A. VOLLER, Messung hoher Potentiale. 5 


Die Brauchbarmachung des Quadrant-Elcktrometers für die Messung hoher und sehr 
hoher elektrischer Potentiale bietet eine Reihe besonderer Schwierigkeiten dar. Abge- 
sehen von der für jedes Elektrometer vorhandenen, bei hohen Spannungen aber besonders 
dringlichen Notwendigkeit, die Isolation aller in Betracht kommenden Teile des Instru- 
mentes möglichst zu sichern, sind zwei Punkte besonders ins Auge zu fassen. Es mufs 
erstens eine Methode der Messung resp. eine Schaltung der messenden Teile (Nadel 
und Quadranten) gefunden werden, welche eine einfache mathematische Beziehung zwi- 
schen dem zu messenden Potential einer Ladung und der Gröfse des im Fernrohr abge- 
lesenen Nadelausschlages abzuleiten gestattet und es mufs zweitens eine Einrichtung ge- 
troffen werden, die Grenzen der Messungen, welche das Instrument ermöglichen soll, 
hinreichend weit zu machen. Inwieweit diese beiden Bedingungen in anderer Weise als 
bei einem für schwache Ladungen bestimmten Quadrant-Elektrometer zu erfüllen sind, 
und wie dieselben mit einander verknüpft sind, wird sich aus dem Folgenden ergeben. 

Die Erweiterung der Potentialgrenzen, innerhalb deren eine genaue Messung cr- 
reicht werden soll, hängt, abgesehen von den Dimensionen des Instrumentes, im wesent- 
lichen von der Bedingung ab, dafs eine, die elektrische Drehung der Nadel kompensierende 
Direktionskraft benutzt werde, welche bis zu beträchtlicher Gröfse gesteigert werden 
kann, so zwar, dafs die eingetretene Änderung dieser Kraft ihrer Gröfse nach in jedem 
Falle leicht und sicher bestimmt werden kann. Hierfür bietet sich ein bequemes Mittel 
dar in der Anwendung des Magnetismus als Direktionskraft, resp. eines veränderlichen 
magnetischen Feldes, unter dessen Einwirkung die Elektrometernadel ihre Drehungen 
auszuführen hat. Die Anwendung leichter Magnetnadeln zur Erhaltung einer konstanten 
Direktionskraft statt der Torsion ist bekanntlich mehrfach zur Anwendung gekommen, z. B. 
in den ursprünglichen ZAomsonschen, den Zdelmannschen u. a. Quadrant-Elektrometern. Es 
ist auch bekannt, dafs der gewollte Zweck hiermit streng genommen nicht erreicht wird, da 
die Stärke des kleinen Richtmagneten nicht konstant bleibt und die Dircktionskraft sich ihrer 
Gröfse wie ihrer Richtung nach infolge der unter gewöhnlichen Verhältnissen unvermeidlichen 
wechselnden Einflüsse benachbarter Eisenmassen, ja selbst bei Veränderungen des Erd- 
magnetismus ebenfalls ändert. Diese gewöhnlich störenden Änderungen des magne- 
tischen Feldes, innerhalb dessen die Nadel sich bewegt, können nun aber für den vor- 
liegenden Zweck in ausgezeichneter Weise nutzbar gemacht werden. Es kommt nur 
darauf an, diese Änderungen in weitem Umfange herbeizuführen und sie in einfacher 
Weise zu bestimmen: das erstere kann durch Anwendung eines künstlichen magnetischen 
Feldes von beliebig zu verändernder Stärke, das zweite durch Beobachtung der Schwingungs- 
dauer der magnetisch armierten Nadel geschehen. 

Um die Brauchbarkeit dieser Schlufsfolgerung einer vorläufigen Prüfung zu unter- 
werfen, bediente ich mich eines gewöhnlichen Zde/mannschen Quadrant-Elektrometers 
mit langen Quadranten und rahmenförmiger Nadel, das ich mit einer magnetischen Arma- 
tur von folgender Beschaffenheit versah. Das Elektrometer blieb in seinem Zinkring an 
der Wand befestigt, jedoch wurde (Fig. 1) der kleine Magnet der Nadel durch 3 etwas 
kräftigere Magnetchen, welche mit gleicher Pollage an einem innerhalb der Nadel ange- 


6 A. VOLLER, Messung hoher Potentiale. 


brachten leichten Messingstäbchen befestigt waren, ersetzt. Mit Hilfe eines unterhalb ange- 
brachten verschiebbaren Tischchens wurde sodann eine in Fig. ı dargestellte Armatur, 
welche aus zwei durch einen Eisenstab verbundenen senkrechten Magnetstäben bestand, 
deren entgegengesetzte Pole unten an den Enden des cisernen Querstabes lagen, resp. 
sich oben frei gegenüberstanden, von unten her so über die Glashülle des Elektrometers 
geschoben, dafs die durch den Erdmagnetismus allein indicierte Gleichgewichtslage sich 
nach eingetretener Ruhe wieder herstellte. Behufs Einstellung der Armatur in die hierzu 
erforderliche Lage war dieselbe auf einem drehbaren Fufse angebracht und behufs, Än- 
derung des Abstandes der Magnetstäbe von den Magnetchen der Nadel war die Armatur 
vermittels einer Messing-Führung in senkrechter Richtung verschiebbar und beliebig fest- 
zustellen. Versuche mit dieser Vorrichtung, die später noch dadurch abgeändert wurde, 
dafs statt der Zdelmannschen Aluminium-Nadel mit den 3 kleinen Magnetstäbchen eine in 
gleicher Grösse hergestellte kräftigere Nadel aus vergoldetem Messing mit den in Fig. 2 
dargestellten hufeisenförmigen Magneten zur Anwendung kam, ergaben die vollständige 
Brauchbarkeit gröfserer magnetischer Direktionskräfte. Ehe ich jedoch einiges über diese 
Versuche mitteile, schicke ich das Erforderliche über die bei hohen Spannungen anwend- 
baren Schaltungsweisen eines Elektrometers voraus. 


Die Schaltung eines Quadrantelektrometers für hohe Potentiale. 


Bekanntlich kann ein Quadrant-Elektrometer in verschiedener Weise zur Potential- 
messung benutzt resp. die Schaltung der Nadel und der Quadranten abgeändert werden. 
Für die Benutzung des Instrumentes zur Messung niedriger Potentiale sind die gewöhn- 
lich gebrauchten Schaltungsweisen, besonders auch mit Rücksicht auf die Eliminierung der 
in dem Elektrometer selbst auftretenden Kontaktpotentialdifferenzen kürzlich durch IF. 
FHallwachs*) diskutiert worden. Unter Benutzung seiner Bezeichnungsweise sind dies: 

I) Die Quadrantschaltung: Die Nadel wird auf ein bekanntes hohes Potential geladen 
und das zu messende kleine Potential mit einem der beiden Quadrantenpaare 
verbunden, während das zweite zur Erde abgeleitet oder mit einem ebenso grofsen 
Potential von entgegengcesetztem Zeichen verbunden wird. 

2) Die Nadelschaltung: Die Quadranten werden auf bekanntem, entgegengesetzt glei- 
chem hohen Potential erhalten und die Nadel mit dem zu messenden Potential 
verbunden, 

3) Die Doppelschaltung: Ein Quadrantenpaar und die Nadel erhalten beide das zu 
messende Potential, während das zweite Quadrantenpaar zur Erde abgeleitet bleibt. 
Der von Hallwachs untersuchte Einflufs der in dem Instrumente selbst, sofern 

dasselbe nicht durchweg aus demselben Metall besteht, vorhandenen Kontaktpotentiale 
kann bei einem für hohe Potentiale bestimmten Apparate ganz aufser acht gelassen 
werden, da diese Kontaktspannungen gegenüber den zu messenden Potentialen verschwin- 
dend klein sind. Dagcgen spielen hier die verteilenden Wirkungen der zu messenden 


*") II. /Zallsoachs, Elektrometrische Untersuchungen, Wied. Ann. 29, p. 1. 


A. VOLLER, Messung hoher Potentiale. ! 7 


starken Ladungen naturgemäss eine grofse Rolle. Dieselben äufsern sich im allgemeinen 
dahin, dafs der Einflufs der verschiedenen zu messenden Ladungen die Potentialhöhe der 
angelegten konstanten Ladung in schwer übersehbarer Weise ändert, so dafs die für 
die Quadrantschaltung und die Nadelschaltung bei kleineren zu messenden Potentialen 
vorhandene lineare Proportionalität derselben mit den Nadelablenkungen nicht mehr be- 
steht. In wie hohem Grade dies der Fall ist, zeigten eine Anzahl von Versuchen, die 
zum Zwecke der Prüfung dieses Verhaltens mit dem gewöhnlichen Zade/mannschen 
Elektrometer und der demselben beigegebenen Ladungsbatterie von Zink-Wasser-Kupfer- 
Elementen angestellt wurden. Erforderlichen Falls war dasselbe mit der beschriebenen 
provisorischen Armatur verschen. Die konstanten Ladungen der Nadel oder der Qua- 
dranten wurden in einzelnen Fällen absichtlich relativ klein genommen ; sie wurden ent- 
weder ebenfalls durch Zide/mannsche Wasserelemente oder durch Daxzellsche oder andere 
Elemente gcliefert. Da die Versuche nur zur vorläufigen Prüfung dienen sollten, so 
wurden stets nur kleine Ablesungsreihen gemacht, von denen ich der Kürze wegen hier 
nur das Mittel gebe. Ich teile nur wenige Versuche mit. 


I. Nadelschaltung mit konstanter Quadrantladung. 


Abstand der Skala vom Spiegel 2,5 m; die Skalentcile sind Doppelmillimeter. 

Ein Quadrantenpaar blieb mit dem -+ Pol eines oder mehrerer Ladungselemente 
verbunden, deren — Pol zur Erde abgeleitet war: das zweite Quadrantenpaar war abge- 
leitet. Die Nadel wurde durch den — Pol von n Wasserelementen geladen, deren + Pol 
ebenfalls abgeleitet war; s sind die Mittel der Ablenkungen, welche vermittels Kommu- 
tation der Quadranten abwechselnd nach rechts und nach links beobachtet wurden. 


I. Stärkere Quadrantladungen. 


a) 40 Wasserelemente, 








Nadelladungen: n = | ı | 2 | 3 | 4 | E 
Ablenkungen: s = 14,2 28,2 42,6 56, | Sktl. 
Die einfache Proportionalität 
verlangt — 28,4 42,6 56,8 » 
Differenz | | — 0,2 | © | — 0,2 | » 


b) 120 Wasserelemente. 














Nadelladungen: n = | 2 | 2 | 3 | l 4 | EL 
Alenkungen: s = | 570 | 113, | 167, | 222, | Sktl. 
Die einfache Proportionalität 
verlangt — 114,0 171,0 228,0 » 


Differenz | | — 0,4 | — 3,7 | — 5,6 | » 


x 


A. VOLLER, Messung hoher Potentiale. 


2. Schwache Quadrantladungen. 




















c) ı Dan. 
Nadelladungen: n= | 20 | 40 | 60 | 80 | 100 | 120 | El. l 
Ablenkungen: s = 5,7 13,5 21,8 | 30,5 42,1 57,0 Sktl. 
Die einfache Propor- 
tionalität verlangt Ila | 17,1 228, 285 | 348 |» 
Differenz | | + 2ı | + 4n|-+ 7% 2 13,6 | -- 228| » 
d) 2 Dan. 
= Nadelladungen: n = | 4o | o | 
Ablenkungen: s = 28,2 63,7 Sktl. 
Die einfache Proportionali- 
tät verlangt 56,4 » 
Differenz | | + 7,3 | » 
e) I Beetssches Trocken-Element. 
Nadelladungen: n = 40 | 80 | 120 | 160 | 180 | El. p 
Ablenkungen: 21. Juni 1886 s = — 32,8 61,3 | 121,5 — Sktl. 
22. >»  » S$ = — 34,3 = 131,2 == ò 
23.» » s = 14, 31,7 56,0 110,8 193,8 > 
Die einfache Proportionalität verlangt 28,2 42,3 56,4 63,5 > 


23. Juni Differenz | + 35 | + 13,7 | + 544 |+130,| > 


Während also die Versuche mit stärkeren konstanten Quadrantladungen und 
schwachen Nadelladungen eine befriedigende lineare Proportionalität zeigen, ist von einer 
solchen bei den Versuchen mit schwachen Quadrantladungen und starken Nadel- 
ladungen keine Rede mehr; die Ablenkungen werden sehr viel grösser als der einfachen 


Proportionalität mit den Nadelpotentialen entsprechen würde und zwar wachsen die 
Differenzen stärker als die Potentiale. 


A. VOLLER, Messung hoher Potentiale. 9 


II. Quadrantschaltung mit konstanter Nadelladung. 


Die Nadel blieb mit dem + Pol einer Anzahl Wasserelemente, deren — Pol 
zur Erde abgeleitet war, verbunden, ein Quadrantenpaar wurde mit dem — Pol von 
n Wasserelementen geladen, deren + Pol ebenfalls abgeleitet war. 


a) Nadel: 20 Wasserelemente. 























Quadrantladung: n = 40 o| A 6o | 8 o | 120 160 | El. 
Ablenkungen: s = 27 w 77 149,5 245 Sktl. u 

Die einf. Proportionalität verlangt — > 54 81 108 » 

Differenz +75 | + 23 + 685| + 137) > 

b) Nadel: 5 Wasserelemente. 
Osadrantladins: n = 40 | 60 pi 20 | 160 | El. 
Ablenkungen: s = 17 | 33 56 | 123 210 Sktl. 
Die einf. Proportionalitat verlangt | 25,5 = | SI 68 » 
Differenz | + 7,5 | 22 | + 72|+ 142, » 


Hier ist lineare Proportionalität noch weniger vorhanden als bei der Nadelschal- 
tung, die positive Differenz der Äblenkungen ist vielmehr relativ um so stärker, je kleiner 
die Nadelladungen sind; die Proportionalität nähert sich hier offenbar der quadratischen. 
Der Grund des stärkeren Hervortretens der verteilenden Wirkungen der zu messenden La- 
dungen bei der Quadrantschaltung ist leicht zu erkennen. Wird der Nadel ein starkes Potential 
zugeführt (Nadelschaltung), so wirkt dasselbe vermöge der symmetrischen Stellung der 
Nadel zu den Quadranten auf beide Paare in gleicher Weise ein, ruft also für sich allein 
noch kein Drehmoment hervor. Erst mit dem Eintritte einer durch das konstante Qua- 
drantpotential erzeugten Drehung der Nadel tritt eine Differenz der Influenzwirkung auf 
die Quadranten ein, welche offenbar um so grösser wird, je mehr der Drehungswinkel 
wächst, obgleich bei den in Betracht kommenden kleinen Drehungen eine gewisse durch 
die Höhe der zu messenden Ladung und die Dimensionen des Instrumentes bestimmte 
Gröfse dieses Einflusses nicht überschritten wird. Die Wirkung mufs aber um so mehr 
hervortreten, je kleiner das dem Quadrantenpaare von aufsen zugeführte Potential ist; 
dies zeigen die Beobachtungen unter I2 deutlich. 

Wird dagegen ein Ouadrantenpaar mit einem hohen Potential geladen, während 
die Nadel mit einem konstanten, relativ niedrigen Potential verbunden bleibt (Quadrant- 
schaltung), so ist die Influenzwirkung des ersteren auf die Nadel von vornherein eine ein- 


2 


10 A. VOLLER, Messung hoher Potentiale. 


seitige, mufs also stark hervortreten, Wird die Nadel überhaupt gar nicht von aufsen 
geladen, sondern zur Erde abgeleitet, so mufs die elektrische Verteilung in dem System 
des Elektrometers sich sehr einfach gestalten. Ist in diesem Falle V das Quadrant- 
potential, so wird das auf die Nadel ausgeübte Drehmoment V? proportional werden, 
da das durch Influenz in der Nadel erzeugte Potential dann stets durch — c V ausge- 
drückt werden kann, wo c der von den Dimensionen des Instrumentes abhängige Ver- 
teilungsfaktor ist. 

Dafs übrigens die Influenzwirkung der Quadrantladung auf die mit einem kon- 
stanten Potential verbundene Nadel sich in der Störung der linearen Proportionalität der 
Ablenkungen und Ladungen auch dann äufsert, wenn das Nadelpotential, wie bei der 
gewöhnlichen Quadrantschaltung der Fall ist, eine bedeutende Gröfse hat, falls die zu 
messenden QOnadrantladungen die gewöhnlich innegchaltenen Grenzen von einem oder 
wenigen Volt merklich überschreiten, wurde durch besondere Versuchsreihen festgestellt. 
Ich teile einige wenige derselben vollständig mit, damit der Gang der Beobachtungen 
erkannt werden kann. Die einzelnen Beobachtungsreihen enthalten je 9 selbständige 
Messungen, wovon 5 sich auf das eine und 4 damit abwechselnde auf das andere Qua- 
drantenpaar beziehen; der bei den Beobachtungen benutzte Commutator wird weiter 
unten beschrieben werden, ebenso die benutzten \Vasserelemente. Die Nadel blieb dau- 


ernd mit dem -+ Pol von 300 Elementen, deren — Pol abgeleitet war, verbunden; das 
Potential dieser Elemente betrug rot. 250 Volt. Die Quadranten wurden sodann ab- 
wechselnd mit dem — Pol von n = ı bis 40 dieser Elemente (0,33 bis 33 Volt) geladen. 


Der Skalenabstand betrug 2,; m. 


c) Nadelpotential : 300 Elem. (+ 250 Volt). 























Quadrantladung : n = I 2 | 3 4 El. 
5,3 Sa Ä 14,3 | 19,6 
| 
4,3 10,8 14,3 ; 20,1 
5,0 9,2 14,4 I 18,7 | 
4.5 10,3 | 14,7 | 20,8 
Ablenkungen :s = ! 5,0 9,8 | 14,2 | 19,0 
4,5 10,4 | 14,8 | 20,0 
4,0 | 9 144 ‚19,0 
5,8 ; 19,6 | 14,1 | 10,6 
3,83 | 90 , 14 | 19,0 


D 


Mittel 4, | 9,8 14,5 19,6 Sktl. 
Die lineare Proportionalität verlangt — Qn | 14,1 18,8 


Differenz — | + O,4 | + O, | + 0,8 | ` 





A. VOLLER, Messung hoher Potentiale. II 


d) Nadelpotential: 300 Elem. (+ 250 Volt). 























Quadrantladung:n == | 2 10 | 15 | 30 40 El. 
| 9 | 47 | 750 | 155,0 208,0 
| | 4m JLo | 1538| 205 
94 Ä 48,0 74,6 154,0 206,0 
| Qw 47,6 | RE 150,5 20.40 
Ablenkungen : s — \. 10,0 | 48,4 | 74.5 152,5 204,5 
75 | 47,0 | 79,2 | 150,5 203,0 
ls 48% ı 74% 151% 205,0 
7,0 46,0 | 69,3 149,5 203,0 
| 11,0 494 | 74,6 ' 150,5 205,5 
l Mittel 9.2 | 477 | 72,% 1519 | 204,» Sktl. 
Die lineare Proportionalität | | 
verlangt — | 460% | 69% 1350  |1840 » 
Differenz | — © + 17 | + 3,8 Ä + 13, | -+ 24,8 > 


Man erkennt sofort, dafs, während die Abwcichung von der einfachen Propor- 
tionalität bei schwachen Quadrantladungen ic) eine sehr geringe ist, bei stärkeren Qua- 
drantladungen (d) die Ablenkungen in steigendem Mafse über die der linearen Propor- 
tionalität entsprechende Gröfse hinausgehen. 

Die bisher mitgeteilten Messungen wurden an dem armierten Zdelmannschen 
Elektrometer vorgenommen. Als Elektricitätsquelle für die Erhaltung eines konstanten 
Potentials diente ursprünglich die diesem Instrumente beigegebene Zink-Wasser-Kupfer- 
Batterie von 200 Elementen, deren elektromotorische Kraft durch Vergleich mit einem 
Beetzschen Normal-Trockenelemente von 1,062 Volt E. K. bestimmt wurde. Als elek- 
tromotorische Kraft eines Elementes der Wasserbatterie bei gewöhnlicher Zimmer- 
temperatur ergab sich 


am 8. Oktober 1886: V = o.m Volt, 
5; 7 » s V = O, 


Diese Z:delmannsche Batterie erwies sich übrigens beim Gebrauch als nicht sehr 
zuverlässig. Die Isolation der einzelnen Elementgläschen durch Glasstreifen ist bei den 
beträchtlichen Änderungen der Oberflächenleitung des Glases infolge von Wasserdampf- 
kondensation unzureichend; die Ausschläge der Nadel unter sonst gleichen Verhältnissen 
sind bei feuchter Luft beträchtlich kleiner als bei trockener Luft. (vergl. Tab. Ie.) Als 
dieser Übelstand auch durch Firnissen der Glasplatten und der Bodenplatte nicht ge- 


12 A. VOLLER, Messung hoher Potentiale. 


nügeend beseitigt werden konnte und da zu befürchten war, dafs bei Anwendung einer 
stärkeren Batterie, wie sie für den weiteren Gang der Untersuchung erforderlich war, 
der Isolationsverlust im höchsten Grade störend werden würde, so unterliefs ich die Be- 
schaffung einer gröfseren Zahl dieser Zde/mannschen Elemente. Statt dessen konstruierte 
ich eine aus 1200 Elementen bestehende Batterie aus paarweise verlöteten Zink- und 
Kupferdrähten von 5 cm freier Länge, die ebenfalls in mit destilliertem Wasser gefüllte kleine 
cylindrische Gläschen von 2 cm Durchmesser tauchten. Die einzelnen Elemente dieser 
Batterie sind in der aus Fig. 3 ersichtlichen Weise vollständig durch Hartgummi von ein- 
ander isoliert; je 300 derselben stehen auf einem mit einer Hartgummiplatte bedeckten 
Grundbrette, und werden durch zwei oberhalb derselben befindliche, durch kleine Säulchen 
getragene, durchlochte, gleich grofse Hartzummiplatten in ihrer Lage gehalten. Die 4 Bat- 
terien zu je 300 El. stehen in einem Glasschranke auf Börtern übereinander und können 
bequem durch isolierte kurze Drähte mit einander sowie mit dem Elektrometerschlüssel 
verbunden werden. 

Die elektromotorische Kraft dieser neuen \Wasserelemente wurde zu O,s32 Volt 
bestimmt. Wie erwartet worden war, erwies sich die Isolation der neuen Ladungs- 
batterie als eine sehr bedeutende, selbst wenn alle 1200 Elemente zur Ladung benutzt 
wurden. Um dies zu konstatieren, wurde eine durch 9 Tage von sehr wechselnden 
atmosphärischen Feuchtigkeitsverhältnissen, jedoch wesentlich gleicher Zimmertemperatur 
fortgesetzte Beobachtungsreihe durchgeführt, indem die Ablenkung der zur Erde abge- 
leiteten Nadel (vergl. weiter unten) des mit der Magnetarmatur versehenen Elektrometers 
unter Anlegung der Quadranten an den + Pol der 1200 Elemente, während der — Pol 
zur Erde abgeleitet war, durch je 5 selbständige Messungen bestimmt wurde. Ich teile 
diese Beobachtungen in nachstehendem mit und füge zugleich die beobachtete Schwin- 
geungsdauer der Nadel hinzu, deren Konstanz die unveränderte Intensität des magnetischen 
Feldes sicher stellte. 


III. Quadrantladung + Pol von 1200 Elem. (rot. 1000 Volt), Nadel 
zur Erde abgeleitet. 





1887, Januar 26 Januar 27 | Januar 28 | Januar 31 | Februar I | Februar 3 





75,0 | 753 | 74,93 | 748 74,8 74,7 

746 745 | 73,9 | 74,4 74,0 741 
mn 75,1 | 753 75,0 746 748 747 

| 74,5 74,5 73,9 745 74,0 740 
7571 75.3 75,0 | 74% 74,8 74,8 

Mittel 74,8 | 74 | 74 79746 | 744 | 744 Sktle. 
Schwingungsdauer | 
der Nadel 0,919‘ O,920““ O,920“‘ | 0,920“ O;n20“' | O,920"' 


A. VOLLER, Messung hoher Potentiale. 13 


Die Ablenkungen sanken also am 3. Tage um o,s Skalenteile, was einer Vermin- 
derung des Batteriepotentials um 0,3 Prozent entspricht; von da ab war keine Änderung 
mehr zu erkennen. 

Von gleicher Wichtigkeit wie eine gute Isolation {der Ladungsbatterie ist für 
Arbeiten wie die in Rede stehenden die möglichste Vermeidung aller Spannungsverluste 
in den Zuleitungen (Drähten und Elektrometerteilen) und den in der Regel zu verwen- 
denden Kommutatoren oder Schlüsseln. Für die Zuleitungen wurden ausschliefslich mit 
Guttapercha isolierte Drähte verwandt, die an den Enden nur äufserst wenig von der Iso- 
lierung befreit und amalgamiert wurden. Die an dem Zde/mannschen Elektrometer be- 
findlichen Zuleitungs-Klemmschrauben {welche besonders zerstreuend wirken), wurden so- 
dann durch kleine in die Elektrometerplatte dicht eingesetzte Hartgumminäpfchen mit 
Kupferboden, in welchen die zu den Quadranten führenden Drähte eingeschraubt wurden, 
ersetzt; diese Näpfchen wurden mit Quecksilber gefüllt und dienten zur Aufnahme der 
Enden der Zuleitungsdrähte. — Für die Umschaltung etc. wurde anfangs ein Deetsscher 
Doppelschlüssel verwendet, der sich jedoch als stark zerstreuend erwies. Es wurde daher 
für die erforderlichen Versuche ein besonderer, dem Kommutator von Reusch nachge- 
bildeter Umschalter konstruiert, der in Fig. 4 abgebildet ist. Ein massiver Hartgummi- 
cylinder von 8 cm Länge und 5 cm Durchmesser trägt an jedem seiner beiden Enden 
einen Messingring mit je einer kurzen und einer langen vorspringenden Zunge (a und b) 
die um 180° von einander abstehen; die beiden Ringe sind so aufgesetzt, dafs die kurze 
Zunge des einen in der Fortsetzung der langen Zunge des andern liegt, jedoch so, dafs 
zwischen beiden ein Abstand von ı cm bleibt. In dem beiderseitigen freien Raume auf 
dem Cylindermantel, von den Zungen also jederseits um 90° abstehend, sind zwei Mes- 
singschienen (c, cı) angebracht, die vermittels eines, den Cylinder durchsetzenden 
Messingstiftes leitend verbunden sind. Die Grundplatte des Apparates trägt ferner einen 
kleinen und einen grofsen Hartgummiträger (d, e) mit sorgfältig abgerundeten federnden 
Neusilberstreifen; der kleinere Träger trägt eine dieser Federn, welche sich von unten 
gegen den Cylinder legt, der gröfsere trägt deren drei, welche sich von oben anlegen. 
Jede dieser Federn ist mit einem der beschriebenen Quecksilbernäpfchen (q) für die 
amalgamierten Drahtenden versehen; durchbohrte Gummistöpsel dienen zum Halten der 
Drähte. Der Kommutatorcylinder liegt in 2 Axenlagern und ist einerseits mit einem 
Griffe (g) versehen, der ein sehr bequemes Umlegen gestattet; ein leicht einfedernder 
Schnäpper hält ihn in jeder Hauptlage schwach fest. Der Kommutator gestattet natürlich 
mancherlei Schaltungen; die Art der Anwendung für die vorliegenden Messungen wird 
weiter unten besprochen werden. 

Nachdem die gemachten Erfahrungen gezeigt hatten, dafs für die Messung hoher 
Potentiale weder die Quadrantschaltung noch die Nadelschaltung eines Quadrant-Elektro- 
meters zulässig ist, bot sich unter den gebräuchlichen Beobachtungsmethoden noch das 
von Hallwachs als Doppelschaltung bezeichnete Verfahren dar, welches sich vor den 
beiden anderen Methoden dadurch vorteilhaft auszeichnet, dafs man dabei keiner be- 
sonderen Ladungsbatterie bedarf, sondern nur das zu messende Potential gleichzeitig der 


14 A. VOLLER, Messung hoher Potentiale. 


Nadel und einem Quadrantenpaare zuzuführen hat. Dagegen hat die Methode den grofsen 
Nachteil, dafs die Ausschläge der Nadel den Quadraten der zu messenden Potentiale 
proportional sind, wodurch der Umfang der unter gegebenen Verhältnissen möglichen 
Messungsgrenzen aufserordentlich verkleinert wird. Nimmt man beispielsweise bei einer 
Skalenlänge von beiderseits 250 Teilstrichen als kleinste für eine sichere Messung zulässige 
Ablenkung einen Teilstrich an, so kann bei linearer Proportionalität das 25ofache des 
eine solche Ablenkung bewirkenden Potentials, bei quadratischer Proportionalität nur 
etwa das I6fache gemessen werden. — Ein weiterer, für die gewöhnlichen Zwecke der 
Elektrometrie erschwerender Umstand bei der Doppelschaltung ist die Unmöglichkeit, 
kleinere Potentiale von einigen Volt und darunter zu messen, da dann die Ausschläge zu 
klein werden; — für die von mir ins Auge gefafsten Zwecke fällt dieser Übelstand 
natürlich fort. — 


Die Verwendung des Doppelschaltungsverfahrens für die Messung hoher Poten- 
tiale erwies sich jedoch als wenig zuvcrlässig. Bei einer Anzahl von Beobachtungen, 
die nach diesem Verfahren angestellt wurden, gelang es nicht, sichere Ablesungen zu 
erhalten, da die anfangs eingetretene Ruhclage der Nadel sich stetig im Sinne einer 
Abnahme der Ablenkungen änderte. Für diese unerwartete Erscheinung kann ich vor- 
läufig als mutmafslichen Grund nur das bedeutende Zerstreuungsvermögen der mit 
hohem Potential geladenen Nadel, resp. der zur Zuleitung dienenden Elektrometerteile 
des Schwefelsäuregefäfses mit seiner nach aufsen leitenden Messingfassung, der scharfen 
Kanten und Ecken der Magnete der Nadel und dieser selbst u. s. w. anführen; die 
elektromotorische Kraft der Wasserelemente bleibt infolge der entstehenden Polarisation 
ohne Zweifel während der Beobachtungsdauer nicht konstant. Da nun dieser störende 
Einflufs der Zerstreuung der Nadelladung in die umgebende Luft bei sehr hohen Poten- 
tialen in noch weit höherem Grade zu erwarten war, so mufste von der Anwendung der 
Doppelschaltung ebenfalls abgeschen werden. 


Die oben mitgeteilten Erwägungen hinsichtlich der störenden Einwirkung der 
Influenz starker Ladungen bei der Quadrant- und Nadelschaltung führen jedoch zu einer 
nahelicgenden Schlufsfolgerung. Es wird möglich sein, wenn ein Quadrant oder Qua- 
drantenpaar mit einem hohen Potential geladen wird, auf die Ladung der Nadel mit 
demselben oder einem anderen Potential ganz zu verzichten, also /ediglich dasjenige Dreh- 
moment su benutzen, welches aus der elnziehung der Quadrantladung auf die durch In- 
fluens in der zur Erde abgeleiteten Nadel entstandenen Ladung von entgegengesctstem 
Vorzeichen entsteht. 


Wie schon bemerkt, wird für irgend ein Quadrantpotential V das Potential 


dieser durch Influenz ereugten Ladung so lange durch — c V ausgedrückt werden 
können, als sich der Verteilungskoefhcient c nicht merklich ändert, welche Bedingung 
beim Quadrantelcktrometer als erfüllt angesehen werden kann. Folglich sind die 


durch 2 verschiedene Potentiale V und V; ausgeübten Drehmomente, wenn k die Kon- 
stante des Instrumentes ist. 


A. VOLLER, Messung hoher Potentiale. 15 


D = —ke V? : 
Dı = — kc V? 

mithin D:D, = V2: V:i? 

und ebenso s:co = VNV: 


wenn s und ø die zugehörigen Ablenkungen sind. Es ist also bei dieser, soweit mir 
bekannt, bis jetzt nicht benutzten Mefsmethode, die ich »Quadrantschaltung mit abge- 
leiteter Nadel« nennen will, das von der Ladung ausgeübte Drehmoment, also auch die 
Ablenkung, ebenso wie bei der Doppelschaltung, dem Quadrate des Potentials proportional. 

Zur Prüfung dieser Schlufsfolgerung wurden mit dem armierten Zdelmannschen 
Elektrometer, dessen magnctisches Feld auf verschiedene Intensitäten eingestellt wurde, 
ine gröfsere Zahl von Versuchen ausgeführt. Es wurde dabei der beschriebene neue 
Umschalter so benutzt, dafs die Elektrometernadel dauernd zur Erde abgeleitet blicb, 
während die beiden QJuadrantenpaare mit den beiden äufseren der drei oberen Quecksilber- 
näpfe (q) verbunden wurden und der Zuleitungsdraht von der Ladungsbatterie in den 
mittleren Napf geführt, endlich der für sich allein stehende Napf, welcher auf der zur 
Unterseite des Hartzsummicylinders führenden Feder steht, mit der Erdleitung verbunden 
wurde. Alle Erdleitungen führten zu einem mit den Bleiröhren der Wasserleitung ver- 
löteten Kupferdrahte. Stand der Umschalter so, dafs der kleine Handgriff etwa hori- 
zontal nach links gelegt war, so war das eine Quadrantenpaar mit dem benutzten Pole 
der I.adungsbatterie, das andere mit der Erde in Verbindung; beim Umlegen treten 
nach einer Drehung um go° alle Federn durch Vermittlung des den Cylinder durch- 
setzenden Metallstiftes mit der Erdleitung in Verbindung, so dafs in diesem Momente 
das Instrument vollkommen entladen wurde; nach einer weiteren Drehung um go 
wurde dann das zweite Quadrantenpaar geladen, während das erste zur Erde abgeleitet 
blieb. — Der nicht benutzte Pol der Batterie lag stets an der Erdleitung, jedoch war 
in die Verbindung ein Beetsscher Schlüssel eingeschaltet, der vor jeder Umlegung des 
Umschalters geöffnet wurde. Es war dies erforderlich, weil sonst im Momente der Ent- 
ladung des Elcktrometers beide Batteriepole mit der Erde in Verbindung, die Batterie 
also kurz geschlossen gewesen wäre, was eine sehr merkliche Depression der elektro- 
motorischen Kraft derselben zur Folge gehabt hätte. Die Beachtung dieses Umstandes 
erwies sich als sehr wesentlich. 

Ich teile nachstehend einige Beobachtungsreihen mit. Unter das Mittel der Ab- 
lesungen habe ich diejenigen Ablenkungen gesetzt, welche unter der Annahme einer 
strengen quadratischen Proportionalität hätten beobachtet werden müssen, wenn man 
von einem mittleren Potential als Mafs ausgeht. Wegen der zugehörigen sehr kleinen 
Ablenkungen eignen sich die kleinsten benutzten Potentiale nicht gut zu einer solchen 
willkürlichen Mafseinheit. t ist die Schwingungsdauer der Nadel. 


16 A. VOLLER, Messung hoher Potentiale. 


IV. Quadrantschaltung mit abgeleiteter Nadel. 


a) Elektrometer ohne Magnetarmatur. 











120 











845 123,0 190,5 




























































































Ab- 3,9 8,2 14,0 |21.2 1300 418 i540 |68 
len- 2,8: 70| 125| 202| 294! 394! 520: 66,0 go. | 117,4| 186,0 
kun- 4,2 17, 14,8 | 21, |30,0 Als 154.0 675 S42 1214 [188,5 
se 21) 7,4 Tr 20,4 28.9! Sa 51,6; 67o] 80o! 116| 183,5 
ee 4,3 | 7,8 15,8 21,2 30,0 |414 ker 1670 183, '120,4 |188,0 
Mittel | 3,3 7,6 I3,1 | 20,7 | 29,6 | 40,3 52,9 | 67,0 | 82,3 | 119,2 |186, Sktle. 
berechn.| 3,3 7,5 13,2 | 20,7 | 298 | 405 | — 67,» | 82,7 | 119,2 |1860 » 
Differ. | O eb: ör + O,» | G jes 0,2 | — a == | 0 enoa © | + 0,8 Sktle. 
bi ohne Armatur. 
30 60 | 90 150 El 
9,0 | 32,0 | 70,0 2045 
6,6 33,8 | RE 201,0 
Ablenkungen s = | 9,5 | 32, | 69,5 204,0 ; 
| 5,8 | 33.6 | 73.0 200,5 
| | | | 
95 | 31.8 68,0 203,5 
Mittel | 7,8 329 | 7lo  ! 202, Sktl. 
berechnet | 7,9 31,6 | = 197,3» 
Differenz | — O, | + 13 | _- | + 51 > 
c) Elektrometer mit Magnetarmatur, t = 0,5530“. 
Quadranten- | | | | 
ladung | 300, 600 | 900 | 1200 El. 
13. 53, 122, 225,0 
| 12,6 51,5 117,6 211,5 
Ablenkungen s = | 13,0 53.0 ' 120, 224, 
Ä 12, 50,x 116.4 210.5 
| 
12,» | 52,5 ‚ 119,4 223,6 
Mittel 128 | 524 | 1188 | 217, Sktl. 
berechnct 13,0 | — | 1172 12084 > 





Differenz: — 02 ` er I 412 1495 >» 


A. VOLLER, Messung hoher Potentiale. 17 



















































d) mit Armatur, t = 0,399“. 
Juadranten- | ob an boun ae 
Q ladung 300 | 600 900 1200 El. 
713 30,6 69,8 127,6 
76 30,0 67,0 120,0 
Ablenkungen s = | | 7,3 30,4 69,2 126,4 
| 75 29,6 66,4 118,6 
7? 30, 2 68,6 125,2 
Mittel Ja | 30, 68, | 122,8 Sktl. 
berechnet 7,5 | 67,7 1204 » 
Differenz | — on © — | +os 2a » 
e) mit Armatur. 
(Schwingungsdauer nicht paa 
e. 240 | 360 480 aly 720 | 840 960 1080 |1200 El. 
6,1 | 13,6 24a | 38ı l 53s | 738 952 [1218 | 149.6 
6,0 13,3 23,4 | 36,9 | 51,7 70.5 90.5 115,0! 141, 
3 6,0 13,5 24,2 37» 53,8 73» 95,8 121,5 149,4 
5,9 13,3 23,2 36,5 50,8 70,0 90,4 114,2 140,5 
24,0 37,1 536 2,7 95,4 120,» | 148,9 

































1145,1 Sk. 
145,6 » 


| — 0,5 » 


Mittel 
berechn. 


Differ. | + 0. 


118,0 
117,9 











13,1 23,3 36.4 
s | +05 | + 0» 





| 

13.4 23,8 37,3 52,4 71,8 | 93,0 
| f 
| | 








Die vorstehend mitgeteilten Beobachtungen zeigen die vollständige Brauchbar- 
keit der neuen Schaltungsweise für hohe Potentiale, da die Übereinstimmung zwischen 
Rechnung und Beobachtung eine sehr befriedigende ist. 


Ich gehe nunmehr zur Besprechung des zweiten, oben erwähnten Punktes über, 
der Erweiterung der Grenzen der nach diesem Verfahren möglichen Messungen durch 
Anwendung eines veränderlichen magnetischen Feldes. 

Es ist zunächst daran zu erinnern, dafs unter sonst gleichen Verhältnissen der 
durch ein bestimmtes Potential erzeugte Nadelausschlag durch die Gröfse der auf die 
magnetisch armierte Nadel wirkenden magnetischen Direktionskraft .7 bestimmt ist. Es 


3 


18 A. VOLLER, Messung hoher Potentiale. 


kann ferner diese Dircktionskraft, welche dem Produkte der Momente des Nadelmagne- 
tismus und der von aufsen einwirkenden magnetischen Kraft proportional ist, durch 
Änderung des einen oder des anderen oder auch beider Faktoren abgeändert werden 
und es ist endlich bekannt, dafs — sofern die Horizontalkomponente des magnetischen 
Feldes für alle Nadelausschläge dieselbe Gröfse behält und so lange das Trägheitsmo- 
ment der Nadel nicht geändert wird — die Gleichung besteht: 


wenn t und tı die Schwingungszeiten der Nadel innerhalb des homogenen magnetischen 
Feldes, welche den Direktionskräften ./ und ‚A entsprechen, bezeichnen. Es ist also 
die Direktionskraft unter irgend welchen Verhältnissen durch die Schwingungsdauer der 
Nadel bestimmt, vorausgesetzt, dafs das Trägheitsmoment derselben unverändert bleibt. 
Letzteres ist der Fall, wenn die Nadelmagnete stets dieselben bleiben, so dafs cine 
etwaige Änderung der Direktionskraft nur durch eine veränderte Intensität des von aufsen 
einwirkenden Magnetismus herbeigeführt wird. Wendet man nun, statt des Erdmagne- 
tismus, cin künstliches magnetisches Feld an, so kann man statt der Änderung des Mo- 
mentes der äufseren Magnete die Zuffernung derselben von den Nadelmagneten ändern, 
was ja gleichbedeutend ist. 

Nun wurde oben nachgewiesen, dafs für die Quadrantschaltung mit abgeleiteter 
Nadel, so lange das magnetische Feld dieselbe Intensität behält 


S V: 
(AJ zZ Vi: 


ist. Da ferner für den Fall, dafs unter sonst unveränderten Verhältnissen nur diese In- 
tensität geändert wird, die durch Vı bewirkte Ablenkung ø in eine Ablenkung s, übergeht, 
welche durch die Gleichung 

S) A 


(07 A 


bestimmt ist, vorausgesetzt, .dafs die Torsion der Aufhängung der Nadel vernachlässigt 
werden kann, was bei starken magnetischen Dircktionskräften zulässig ist, so ergiebt sich 
folgendes: | | 

Es sei den Elektrometerquadranten, nachdem ein Potential V bei der Schwin- 
gungsdauer t die Ablenkung s bewirkte, ein Potential Vı zugeführt worden, während 
gleichzeitig die Intensität des Magnetfeldes geändert wurde, so dafs nunmehr die Schwin- 
gungsdauer tı besteht. Ohne die letztere Abänderung wäre die Ablenkung oø entstanden, 
jetzt entsteht | 


A. VOLLER, Messung hoher Potentiale. IQ 


Vi? 
Da nun ferner o = S ——-- 
yV?’ 
so folgt VË t? 
= > Sı = S VZ E 
6) 
; aor I 
woraus V:? = V? . 25 
S ti 


|i 
< 
| œ 
Rn 


oder Vi 


wo V, t und s resp. Vi, ti, sı zusammengehörige Werte des Potentials, der Schwingungs- 
dauer und der Nadelablenkung resp. des Skalenausschlages sind. Diese Formel gestattet, 
Beobachtungen, die bei der Schwingungsdauer t angestellt werden, mit solchen zu kon- 
binieren, welche bei der Schwingungsdauer tı stattfinden. 

Die Erweiterung des Umfanges der durch das armierte Flektrometer möglich 
gemachten Messungen mit Hilfe der Aenderung des magnetischen Feldes ist eine sehr 
bedeutende. Beispielsweise konnte die Schwingungsdauer der abgeänderten Nadel des 
I:delmannschen Instrumentes von O, bis 5,5 Sekunden, also auf das ı4fache gesteigert 
werden. Durch Astasierung der Nadel kann natürlich die Schwingungsdauer noch be- 
deutend gröfser gemacht werden (bis etwa 30“), so dafs das Instrument auch den Ver- 
gleich schwacher Potentiale gestatten würde; indes treten dann die störenden magne- 
tischen Lookaleinflüsse in so starker Weise hervor, dafs die Arbeit unbequem und un- 
sicher wird. Bei etwa 12“ Schwingungsdauer konnte noch beobachtet werden. 

Die Brauchbarkeit der entwickelten Formel wurde durch zahlreiche Beobachtungen 
bestätigt. Dieselben konnten unter Benutzung der Batterie von 1200 Elementen (rot. 
ı000 Volt) leicht in ähnlicher Weise wie die früheren derart angestellt werden, 
dafs irgend eine belicbige Zahl der Elemente bei irgend einer Schwingungsdauer sowie 
irgend eine andere Anzahl bei einer anderen Schwingungsdauer an die Quadranten ge- 
legt und die Ablesungen beobachtet wurden; eins der benutzten Potentiale wurde dann 
als unbekannt betrachtet und nach der Formel berechnet. Es hätte sich dann die an- 
sewendete Zahl der Elemente ergeben müssen. Indes sind hierbei von vornherein kleine 
Abweichungen zu erwarten, da erstens die clektromotorische Kraft der einzelnen Elemente 
nicht gerade vollkommen gleich sein wird und diese zweitens von einer Versuchsreihe 
zur anderen, namentlich wegen der schon mehrfach erwähnten Polarisation durch teil- 
weise Entladung bei unvollkommener Isolation, nicht ganz konstant bleibt. In der That 
zeigen die Beobachtungen derartige Abweichungen, die unter besonders ungünstigen 
Umständen 2 bis 3 Prozent betragen können, meist aber ı Prozent nicht erreichen. Die 
Schwingungszeiten wurden durch einen Taschenchronographen, welcher Fünftel-Sekunden 
zu markieren gestattet und dessen Gang zu wicderholten Malen durch Vergleich mit einer 


20 


A. VOLLER, Messung hoher Potentiale, 


Normal-Uhr kontrolliert wurde, bestimmt; je nach der Schwingungsdauer wurden zur Fest- 
stellung derselben 2 bis 3mal 50 bis 200 Schwingungen benutzt; die einzelnen Messungen 
zeigten fast ausnahmslos eine schr gute Übereinstimmung. 

Im nachstehenden teile ich einige Beobachtungen mit, gebe jedoch der Kürze 


wegen nur das Mittel aus den in der Regel 


gemachten 5—7 Ablesungen, wie aus den 


Zeitmessungen. Als Potentialcinheit ist hier der Bequemlichkeit wegen die der elektro- 
motorischen Kraft eines Wassercelementes (V == O,s32 Volt) entsprechende genommen. 


V. Prüfung der Formel Vı 








=v tVs, 
t s 














a) V = 120; t = 3Į9“;s = 119,0 Sktl. 
Vı = 1200; tı = 0,08“; Sı = 124,0, 
- AA 
3,91 ; 124,0 
Vi = 120. X WM — 1204. 
0,308 119,0 
Differenz zwischen Rechnung und Beobachtung = + 4 = + 0,33 Jo. 
b) V = 300; t = Osm“; s = 12, Sktl. 
Vı = 1200; ti -= Opss Sı = 122,, > 
0,530 V/ 122,3 
Vı = 300 - = 1234. 
0,399 12,8 
Differenz zwischen Rechnung und Beobachtung = + 34 = + 2,86 Jo. 
c) V = 1200; t = 0,9%, S = 122, Sktl. 
Vı == 900; ti == O,530°‘ ; S1 =:— 118,9, » 
0,399 ]/ 118,5 
Vı = 1200 . --— V —- = 880. 
0,530 ° 122,8 
Differenz zwischen Rechnung und Beobachtung = — II = — 1,32 'o. 
A d) V = 150, t = 39%; s = 1860 Sktl. 
Vı = 1200; ti = O;153''; Sı = 163,1, >» 
90 163,1. 
Vı = 150. 3: N ETS 
0,153 186,0 


Differenz zwischen Rechnung und Beobachtung 


+ IO + 0, Oo. 


A. VOLLER, Messung hoher Potentiale. 2I 


eV m o eo ee 46 Skt, 
ťa 1200, tı = Ows; Sı = 431, > 
ER 
j ss 1431 
Vi -= 150. Zu en 1197. 
O,662 40,6 
Differenz zwischen Rechnung und Beobachtung = — 3 = — 0,25 "/o. 











f) V = 60; t = 931“; s = 20» Sktl. 
Vı = 1200; t = 0,685, S = 43,5, >»? 
‚37 „8 
Vı — 6o. 2 I a 1191. 
O,685 20,8 
Differenz zwischen Rechnung und Beobachtung = — 9 = — 0,15 Jo. 


Die Differenzen zwischen Rechnung und Beobachtung lassen bei dem Zdelmann- 
schen Instrumente, wie man sieht, keine bestimmte Tendenz erkennen, da ihr Vorzeichen 
sowohl positiv wie negativ sein kann. 

Die Versuche zeigen somit eine sehr befriedigende Bestätigung der Formel, 
wenigstens bis zu Spannungen von 1000 Volt. Eine Prüfung mit noch höheren Poten- 
tialen hätte die Herstellung weiterer Ladungsbatterien erfordert, die mit überflüssig schien, 
da (so lange nicht gröfsere Isolationsverluste eintreten) kein Grund vorhanden ist, anzu- 
nehmen, dafs bei Anwendung höherer Potentiale und entsprechend gröfserer magnetischer 
Direktionskräfte die Formel einer Korrektion bedürfe. 


Nachdem die obigen Resultate an einem Zdelmannschen Elektrometer, welches in 
der beschriebenen Weise armiert war, erhalten worden waren, liefs ich unter Benutzung 
der gemachten Erfahrungen ein lediglich für die beabsichtigten Messungen hoher Potentiale 
bestimmtes Instrument in der Werkstelle von H. Schwencke hierselbst anfertigen. Es 
wurde dabei beabsichtigt, erstens die Magncetarmatur in bequemer Weise mit dem Instru- 
mente selbst zu verbinden, zweitens die magnetische Direktionskraft in höherem Mafse 
zu steigern, als dies bei der bisherigen Einrichtung möglich war und drittens ein möglichst 
grofses Isolationsvermögen des Instrumentes zu sichern. Ich gebe im nachstehenden eine 
Beschreibung des so entstandenen Apparates. 


Beschreibung des neuen Quadrant-Elektrometers für hohe Spannungen. 


Das in Fig. 5 seiner äufseren Erscheinung nach und in den Fig. 6 und 7 in 
seinen konstruktiven Details abgebildete Instrument ist ein Elektrometer, dessen Cylinder- 
quadranten (q) ähnlich wie in dem Edelmannschen Instrumente die beträchtliche Länge 
von 13 cm bei einem inneren Durchmesser von 6,2 cm und einem äufseren Durchmesser 


22 A. VOLLER, Messung hoher Potentiale. 


von 7 cm haben. Die Quadranten gehören zu einem aus weichem Messingblech ge- 
bogenen und zur Beseitigung aller inneren Spannungen im Kohlenfeuer vorsichtig aus- 
geglühten, aufs Sorgfältigste ausgcedrehten, polierten und vergoldeten Cylinder; sie sind an 
ihrem unteren Ende mit Flanschen auf einer Hartgummiplatte (a) befestigt und werden 
ebenso oben durch einen sie innen und aufsen umfassenden Hartgummiring (b) in voll- 
kommen cylindrischer Lage erhalten. Alle Ränder der Quadranten wurden vor dem Ver- 
golden mit dem Polierstahl sorgfältig abgerundet und geglättet, um die Zerstreuung der 
Ladungen möglichst zu erschweren; in derselben Absicht wurden zur Befestigung der 
Quadranten auf der Hartgummiunterlage versenkte Schrauben verwendet, die von der 
Unterseite der Platte her eingeschraubt wurden, ohne die dem Innern des Instrumentes 
zugewendete Fläche der Flanschen zu durchbohren. Die Schrauben wurden nach dem 
Festschrauben mit Chatterton-Masse vergossen und sorgfältig abgeglättet. Der Abstand 
je zweier benachbarter Quadranten von einander beträgt 0,5 cm. Die Quadranten sind 
ihrerseits in einem Abstande von nur 0,2 cm von der cylindrischen Glaswand (g) des 
Elektrometers umgeben; diese letztere ist vermittelst einer sie aufsen umschliefsenden 
Messingfassung auf der Hartgummibasıs der Quadranten festseschraubt und wird ober- 
halb durch eine mit einer zentralen Öffnung verschenen Messingplatte in ähnlicher Weise 
geschlossen. Die Zuführung der Ladungen erfolgt vermittelst zweier in den oberen Rand 
der Quadranten eingeschraubten, den Hartgummiring durchsetzenden Kupferdrähte von 
2 cm Länge, welche ihrerseits die Messingdeckplatte in zwei Durchbohrungen durch- 
setzen; zum Abschlufs des Innenraumes und Isolierung der Kupferdrähte von der 
Deckplatte dienen zwei genau passende durchbohrte Hartgummistöpsel, welche von 
oben her über die freien Enden der Kupferdrähte übergeschoben werden. In diese 
freien Enden der Kupferdrähte sind Schraubengewinde eingeschnitten, welche zum Auf- 
schrauben schmaler cylindrischer Hartgumminäpfchen (k) mit kupfernem Boden dienen: 
diese Näpfchen werden mit Quecksilber gefüllt, in welches die isolierten Zuleitungs- 
drähte, die am Ende auf einer kleinen Strecke von der Umhüllung befreit und amal- 
gamiert sind, eingesenkt werden. Auf diese Weise sind alle Klemmschrauben bei der 
Zuleitung der Ladung mit ihren die Zerstreuung so sehr befördernden scharfen Kanten 
und Gewindegängen vollständig vermieden; die äufsere Luft tritt nur an der schmalen 
Quecksilberoberfläche mit den zu ladenden Teilen des Instrumentes in Berührung. — 
Die Verbindung je zweier Quadranten untereinander wird im Innern des Instrumentes 
durch leicht abnehmbare, dünne, isolierte Kupferdrahtspiralen bewirkt, dieselben werden 
durch feine Schräubchen mit abgerundeten Köpfen, welche den die Quadranten oben 
umfassenden Hartgummiring durchsetzen und in den oberen Rand derselben eingeschraubt 
sind, gehalten. 

Die Nadel (n) des Elektrometers hat die Gestalt der bekannten Zdelmannschen, 
ist jedoch aus einem vergoldeten Messingbügel von 12,2 cm Länge, 5,6 cm Durchmesser 
und 1,2 cm Breite hergestellt. Dieselbe hängt an einem den Spiegel tragenden Schild- 
pattstäbchen (s), welches seinerseits an einem Bündel von Kokonfäden hängt, welches im 
Torsionskopfe in gewöhnlicher Weise befestigt wird. Die Zentrierung des das Faden- 


A. VOLLER, Messung hoher Potentiale. 23 


bündel enthaltenden Glasrohres durch 3 Stellschrauben erfolgt jedoch nicht in der ge- 
wöhnlichen Weise im Torsionskopfe, sondern am unteren Ende der Röhre bei c, wo die- 
selbe auf der zentralen Öffnung des Spiegelgehäuses der Deckplatte aufsitzt, nicht aber, 
wie gewöhnlich, auf- oder eingeschraubt ist. Es gestattet diese Abänderung eine sehr 
sichere zentrale Befestigung der Torsionsröhre. — Der untere Querstab der rahmen- 
förmigen Elekrometernadel trägt in der bekannten Weise einen Platinstab, der am unteren 
Ende 4 senkrecht zu einander stehende Platinflügel (d) trägt, welche in ein von unten 
her an die Bodenplatte anzuschraubendes cylindrisches Schwefelsäuregefäfs (e) eintauchen 
und so die Nadelschwingungen dämpfen; die Schwefelsäure hält zugleich das Innere des 
Elektrometers, welches somit nach aufsen hin völlig abgeschlossen ist, trocken. Die 
Verbindung der Nadel mit der Erde, welche bei den Arbeiten mit dem Instrumente nic- 
mals unterbrochen wird, erfolgt durch Vermittelung eines an der Innenwand des Schwefel- 
säuregrefäfses bis zur Fassung desselben laufenden Platinstreifchens (f) und einer aufsen 
an der Fassung befindlichen Klemmschraube, in welche die Erdleitung eingeschaltet 
wird. — Das ganze Instrument steht auf einer konisch abgedrehten Messingplatte, welche 
behufs bequemer Einstellung in einem mit 3 Schraubenfüfsen verschenen entsprechend 
gedrehten Alhidadentische drehbar ist; das Eigengewicht des Instrumentes erhält dasselbe 
ohne weitere Klemmung in seiner jedesmaligen Lage. 

Die magnetische Armierung des Flektrometers ist aus Fig. 6 und 7 zu erkennen. 
Die Längsseiten des Nadelrahmens tragen auf der Innenseite je einen Magnetstab von 
11,5 cm Länge, 1,2 cm Breite und 0,05 cm Dicke, denen im Falle des Bedürfnisses noch 
bis zu je 6 Hilfsmagnete von 0,03 cm Dicke hinzugefügt werden können. Das Gewicht 
der Nadel beträgt einschliefslich der beiden Magnete 90,68 gr. 

Die Nadelmagnete werden durch kleine Stellschrauben in senkrechter Lage ge- 
halten, sie stehen so, dafs sie einander ihre entgegengesetzten Pole zuwenden. Aufser- 
halb des das Hlcektrometer einschliefsenden Glascylinders trägt die Messingplatte, ver- 
mittelst deren das Instrument in seinem kreisförmigen Träger drehbar ruht, an zwei 
diametral einander gegenüberstehenden Stellen, und zwar symmetrisch zu den Quadranten, 
zwei in geschlitzten Schraublöchern tangential etwas verstellbare prismatische Schlitten- 
führungen (h). In diesen Führungen sind die Bodenplatten (i) der Träger zweier äufserer 
Magnete radial verschiebbar; diese Magnete sind, behufs Erreichung eines hohen und 
gleichförmig verteilten Magnetismus, aus 24 einzelnen Lamellen von 2 cm Breite, 11,5 cm 
Länge und 0,1 cm Dicke hergestellt. Die Magnete sind zum Zwecke einer scharfen Ein- 
stellung der Nadel in die symmetrische Ruhelage auch noch um eine horizontale Axe 
drehbar, stehen jedoch im allgemeinen den inneren Nadelmagneten parallel senkrecht, so 
zwar, dafs sie dem nächststehenden derselben mit entgegengesetztem Pole gegenüber- 
stehen, einander selbst also auch entgegengesetzte Pole zuwenden. Bei dieser Anordnung 
erreicht die Direktionskraft ihren gröfsten Wert, der nun durch Fortschieben der Magnete 
in ihren Führungen von der Glascylinderwand ab sehr bedeutend herabgemindert werden 
kann. Eine weitere Schwächung kann noch durch Auflegen von passenden Platten aus 
weichem Eisen von 1—4 mm Dicke erreicht werden. 


24 A. VOLLER, Messung höher Potentiale. 


Das beschriebene Instrument entsprach den gehegten Erwartungen. Der Umfang 
der zulässigen Messungen wurde bedeutend erweitert, da die gewählte Konstruktion ein 
starkes, in weiten Grenzen veränderliches und innerhalb der vorkommenden Ablenkungen 
homogenes magnetisches Feld lieferte. Auch zeigten eine gröfsere Zahl von Versuchs- 
reihen die Anwendbarkeit der entwickelten Formel selbst dann noch, wenn Ablenkungs- 
winkel bis zu 5° benutzt wurden; ebenso für den Fall, dafs statt eines Quadrantenpaares 
nur ein einziger Quadrant geladen wurde. Die Versuche ergaben im übrigen bei dem 
neuen Instrumente durchgehends einen mit der Stärke des Potentials wachsenden und 
für die stärksten zur Verfügung stehenden Ladungen unter Umständen namentlich bei 
feuchter Luft bis zu 1—3 °/o anwachsenden Fehler von stets negativem Zeichen, d. h. die 
von dem Instrumente gemessene Potentialhöhe war um so viel geringer als die aus der 
Zahl der angewandten Elemente berechnete. Der Grund dieser Abweichung liegt, wie 
leicht zu erkennen ist, nicht in dem Instrumente als solchem, sondern darin, dafs das 
Quadrantenpotential infolge der nicht vollkommenen Isolierung resp. der dadurch herbei- 
geführten Polarisation thatsächlich geringer ist, als nach der Anzahl der Elemente ange- 
nommen wird. Von der Empfindlichkeit der zur Ladung benutzten Zink-Wasser-Kupfer- 
elemente gegen Polarisationsvorgänge kann man sich leicht überzeugen. Ein nur einen 
Moment dauernder kurzer Schlufs der Batterie vermag z. B. die elektromotorische Kraft 
derselben für die nächste Minute um 10, selbst 20°/o herabzudrücken. Jede durch nicht 
vollkommene Isolation der Batteriepole resp. der mit ihnen verbundenen Elektrometer- 
teile bewirkte teilweise Entladung der Batterie mufs somit eine der Intensität des ent- 
stehenden Stromes entsprechende. Polarisation der Elemente zur Folge haben, sodafs 
also das gemessene Potential thatsächlich kleiner ist als das aus der Elementenzahl unter 
der Annahme einer wirklich offenen Kette berechnete. 

Ich teile in folgendem noch einige mit dem neuen Instrumente angestellte 
Messungen mit, aus denen sich das Gesagte ergiebt. Die mitgeteilten Zahlen beziehen 
sich auf gewöhnliche Zimmertemperatur. 


VI. Messungen ohne Änderung der Schwingungsdauer. 




















a) Entfernung der Skala vom Spiegel 3,5 m. t = 1,983“. 
Quadrantenladung | 300 | 600 | 900 | 1200 El. 
12,4 48,0 105,0 187,0 
12,6 49,4 106,4 190,0 
S = 12.4 48,8 107,0 188,5 
12,6 48,6 107,0 187,6 
12,5 48,8 108,0 188,5 
Mittel | 125 | 48s | 1067 | 188,5 Sktl. 
berechnetes Potential 304 — 887 riĝo El. 
Differenz | + 1,33 %/o | — 1,4 fo | — 1,66 %/o 











A. VOLLER, Messung hoher Potentiale, 


bi Skalenabstand wie vorher. 














25 








t = 2,080“. 
Quadrantladung | 300 | 600 | 900 | 1200 EI. 
12,9 53,0 11755 | 208,4 
14,3 54,5 I19,0 207,0 
S = 13.2 53,4 I 19,0 213,0 
14,0 540 | 118,5 206,0 
13,0 536 117,0 215,0 
Mittel 136 | 538s | 1184 |209, Sktl. 
berechn. Pot. | 302 | — | 890 1184 El. 
i | | 
Differenz | + Oss Yo I— 1,11 fo | — 1,33 %/o 
c) Skalenabstand 1,2 m. 
Nur ein Quadrant geladen; t = 1,839“. 
Quadrantladung | 600- | 900 | 1200 El. 
5,3 | 12,0 21,4 
| 6.0 Ä 13,0 2 3,4 
S == ae 6 r2% 21,6 
| 5.6 Ä 13,0 | 21,4 
| 5,9 | 124 | 23,0 
Mittel | 57 | 126 | 22, Sktl. 
berechnetes Pot. ! — | 892 | 1185 El. 
Differenz \— O;ss o — 1,25 %/o 


VII. Messungen mit Änderung der Schwingungsdauer. 


Zur Messung des Potentials von 1200 Elementen bei starkem magnetischem Felde 


wurden einige der in Tab. VI angegebenen 
resp. gröfserer Schwingungsdauer benutzt. 





a) V = 600 El. Vı = 1200 El. 
t = Iis" u == 0a" 
S S= 49,8 sı = 18,2 
š [953 f 18,2 
AUS Vı = 600. .-- | —, 
O,613 48,8 


folgt als berechnetes Potential Vı 1187 EI.; 


— 13 El. oder — 1,0s ’o. 


Beobachtungen bei schwächerem Felde 


der scheinbare Fehler beträgt also 


26 A. VOLLER, Messung hoher Potentiale. 





b) V = 300 El. Vı = 1200 El. 
t = 2,080‘ ti = 0,556“ 
S = I}3,6 Sı = 15,3. 
Aus Vi = 300. an / 15» 
O,556 I 3,6 
folgt Vı = 1190 El. 
Der scheinbare Fehler beträgt also — 10 El. oder — 0,3 °/o. 


Die Mitteilung dieser wenigen Messungen, deren auch mit dem neuen Instrumente 
bereits eine gröfsere Zahl ausgeführt wurden, mögen genügen; das Resultat war im 
wesentlichen immer das gleiche. 

Hinsichtlich des möglichen Umfanges der an dem jetzt ausgeführten Instrumente 
zulässigen Messungen bemerke ich, dafs bei Benutzung nur eines Quadranten und bei 
maximaler Wirkung der Magnete diejenige Ladung, welche eine Ablenkung von ı Skalen- 
teil bei 1,5 m Abstand des Spiegels von der Skala bewirkt, etwa 650 Volt beträgt, so 
dafs bei Benutzung einer Skala von beiderseits 250 Skalenteilen, welche, wie besondere 
Beobachtungen gezeigt haben, noch durchaus zulässig ist, Potentialdifferenzen bis zu 
10000 Volt gemessen werden könnten. In Wirklichkeit jedoch kann das hergestellte 
Exemplar des Instrumentes seiner kleinen Dimensionen wegen nicht so weit benutzt 
werden, da die so hohen Potentialen zukommende Funkenschlagweite den Abstand der 
geladenen Quadranten und ihrer Zuleitungen von den übrigen zur Erde abgeleiteten 
Elektrometerteilen übersteigt, so dafs zwischen denselben Funkenentladungen auftreten. 
Die zulässige Potentialgrenze, innerhalb deren das angefertigte erste Instrument Messungen 
gestattet, beträgt aus diesem Grunde nur etwa 5000 Volt. Für die im Anfange dieser 
Mitteilungen besprochenen Zwecke reicht dies in manchen Fällen noch nicht aus, so 
dafs die Herstellung eines für beträchtlich gröfsere Spannungen bestimmten Instrumentes 
in Angriff genommen wurde, über das ich s. Z. nähere Mitteilungen zu machen mir 


vorbehalte. 


Hamburg, physikalisches Staats-Laboratorium, im September 1837. 

















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18. 6. 


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Fig. 7. 





F 





Die Schwankungen 


IM 


Ghlor-Gehalte und Härtegrad 


des Eilbwassers 


bei Hamburg. 
Ein Beitrag zum Studium 


der 


Flufswässer und ıhrer Verunreinigungen. 


Von 


Dr. F. Wibel. 


nn — 


Die Schwankungen ım Chlor-Gehalte und Härtegrad des 
Elbwassers ber Hamburg. 
Ein Beitrag zum Studium der Flufswässer und ihrer Verunreinigungen. 


Von 
Dr. F. Wibel. 


Schon die älteren Analysen des Elbwassers haben ein eigentümlich starkes 
Schwanken im Chlor-Gehalte gegenüber demjenigen an Kalk und Magnesia, bez. dem 
Härtegrade, offenbart. Erneute Beobachtungen im Anfang dieses Jahres legten den 
Wunsch nahe, diese Erscheinung einmal einer gründlicheren Prüfung zu unterziehen, sie 
wenn möglich in ihren Ursachen festzustellen oder doch jedenfalls gegen falsche Schlufs- 
folgerungen zu sichern, zu "denen dieselbe so mannigfachen Anlafs bietet. Jene bisherigen 
Bestimmungen, auf welche später noch wiederholt zurückverwiesen werden mufs, sind in 
einfacher Zusammenstellung folgende: 


Teile 
In 100000 Tln. Elbwasser geschöpft Kalk + Magnesia 
waren enthalten nach am Chlor = Härte 

2) Ge DECO 3.2. a E I. Juni 1852 2,39 4,39 
b) Æ. Reichardt... onn 22.2... Novbr. 1870 2,97 7:43 
One ll ao ie ee 15. Sept. 1871 5,93 6,26 
dy A "Gelber. 0.5 we En re 19. Juli 1875 3,55 5,19 
c) E E E E ee 31. Aug. 1875 5,46 6,07 
P Co Erdman od nee Herbst 1875 4,31 6,50 
g) Untersuchungen im Chemisch. Staats- 

laboratorium ........ 3. Dez. 1875 2,03 4,54 
h) » » » Anf. März 1887 9,94 9,35 
i) » » » 14. April 1887 4,26 — 


Lassen diese Zahlen schon bei flüchtigem Überblicke die grofsen Schwankungen 
im Chlor-Gehalte (2,03—9,94), die erheblichen, aber lange nicht so bedeutenden und mit 
jenen nicht konkordanten im Härtegrad (4,39—9,35) erkennen und einer Erklärung be- 


4 Pr. F. WIBEL, Chlor-Gehalt und Hlärtegrad des Elbwassers. 


dürftix erscheinen, so mufste durch die Beobachtung h) noch die weitere interessante 
Frage geweckt werden, ob etwa die Beschaffenheit des Flbwassers überhaupt sich gegen 
früher nachweisbar oder vermutlich geandert habe. 

Dafs bei einem so gewaltigen Strome wie die Elbe der chemische Charakter ein 
wechselnder sein wird und sein mufs, ist von vornherein klar; denn nicht nur die natur- 
gemäfs sehr verschiedene Zusammensetzung der auf einem so langen Stromlauf sich ver- 
einieenden Oberwässer, sondern auch der Wasserstand an sich d. h. die Konzentration 
wird sich qualitativ wie quantitativ geltend machen. Hiezu tritt als ein weiteres kompli- 
zierendes Moment der bei Hamburg noch so wirksame Flutstrom, welcher durch seine 
Rückstauung eine Durchmisc$kung des Unterwassers mit dem Oberwasser herbeiführt, die 
in ihren verschiedenen Stadien und bei dem keineswegs gleichmäfsigen, vielmehr in 
Schlieren sich vollziehenden Verlaufe begreiflicherweise cine verschiedenartige Konstitution 
einzelner geschöpfter Wasserproben zu erklären geeignet ist, zumal wenn man dabei noch 
an die durch die Kanalisation Hamburg-Altonas in die Elbe geleiteten Abflüsse des 
grofsen Städte-Komplexes denkt, ‚welche ja gerade bei jener Rückstauung eine Ver- 
anderung des Wassers bewirken müssen, von welcher eben nur fraglich bleibt, ob sie 
überhaupt bemerkbar wird. 

Gegenüber dem geringen bisher vorliegenden Beobachtungsmateriale konnte diese 
Fülle möglicher Erklärungen vollauf genügen, um die an demselben zur Erscheinung 
kommenden auffälligen Schwankungen schlechtwcg entweder als selbstverständlich oder 
aber als jeder näheren Begründung und Deutung unzugänglich zu bezeichnen. Will man 
jedoch diesen teils bequemen, teils pessimistischen Standpunkt nicht einnehmen, will man 
vielmehr dennoch den Versuch machen, die cine oder andere Erklärung als die mafs- 
scbende nachzuweisen, — und hiezu drängt nicht allein ein wissenschaftliches, sondern 
auch besonders ein eminent praktisches Interesse, welches die stets wieder auftauchende 
Frage über die Verunreinigungen der Flüsse und ıhre Ursachen geweckt hat, — dann 
mufs vor allen Dingen ein möglichst grofses Beobachtungsmaterial in planmäfsig ge- 
leiteter Auswahl und Untersuchung zur Verfügung stehen, um aus der grofsen Zahl mög- 
licher Faktoren die thatsächlich wirksamen zur Erkenntnis kommen zu lassen. 

Diese allererste Grundlage zy schaffen und die sich hieraus bereits ergebenden 
Gesichtspunkte darzulegen, ist die Aufgabe der vorliegenden Untersuchung. 

Eine durch langere Zeit regelmäfsiz fortgesetzte Prüfung erscheint dabei als 
wichtigste Forderung, weil nur dadurch der genaue Verlauf der Schwankungen klar- 
gestellt zu werden vermag. Es ist deshalb die Untersuchung auf einen Zeitraum von 
4 Monaten, Mai—August 1887, ausgedehnt worden. Schon mit Rücksicht auf die 
schwierige Beschaffung richtiger Wasserproben und auf den Mangel genügender, hierfür 
verwendbarer Hülfskräfte mufste darauf verzichtet werden, diese Proben dem freien Elb- 
strom zu entnehmen, sondern es mufste statt dessen die städtische Wasserleitung selbst 
dienen, welche ja auch bis jetzt thatsächlich Elbwasser in vnwerändertem Zustande liefert. 
Um aber dasjenige Wasser zur Untersuchung zu bringen, welches dem jeweiligen Inhalte 
des Leitungsstranges entspricht, so wurden die Proben nicht aus dem Rescrvoirkasten, 


Dr. F. WIBEL, Chlor-Gehalt und Härtegrad des Elbwassers. 5 


sondern unmittelbar aus dem Hauptrohre der Laboratoriumsleitung, und zwar erst nach 
längerem Durchlaufen, geschöpft. Behufs Entscheidung der sich hier einschaltenden 
Vörfrage, ob und in wie weit diese Proben dem jedesmaligen Wasser des freien Elb- 
stromes entsprachen, sind alsdann während des Juli-Monats vergleichende Prüfungen mit 
den direkt aus letzterem entnommenen Proben ausgeführt, und haben dieselben, wie vor- 
weg zur Abwehr vorschneller Einwände erwähnt werden mag, zu dem beachtenswerten 
Ergebnisse geführt, dafs das in der Laboratoriumsleitung vorhandene Wasser fast voll- 
kommen mit dem gleichzeitig in der freien Elbe vorhandenen übereinstimmt. Da aber 
die Untersuchung des letzteren auch noch nach andern Richtungen von Wichtigkeit war, 
so wurde die Probeentnahme nach folgenden ganz besondern Gesichtspunkten vollzogen. 
Zunächst fand dieselbe, wenn irgend möglich, täglich zweimal, nämlich annähernd bei 
ticfster Ebbe (kurz vor Eintritt der Flut) und bei höchster Flut (kurz vor Eintritt der 
Ebbe) statt”) und zwar jedesmal an zwei, aber stets an denselben Punkten, nämlich un- 
mittelbar an der Einflufsöffnung des jetzigen Dükerrohres der Stadtwasserkunst auf der 
Kalten-Hofe und aus der Oberfläche der Stromesmitte auf der Fähre bei Entenwärder, 
so dafs im günstigsten Falle 4 Proben zur Analyse gelangten. In Verfolg wieder anderer 
Gesichtspunkte wurden die Proben im Laboratorium absichtlich nicht zu den, den Ebbe- 
und Flut-Tiden vermutlich entsprechenden, sondern hiervon unabhängig zu ganz be- 
liebigen, aber stets gleichen Tageszeiten, nämlich ca. 8'!/; Uhr vormittags und ca. 
4!/2 Uhr nachmittags gezogen. Sie veranschaulichen also die Beschaffenheit des Elb- 
wassers in allen möglichen, während der 4 Monate sich abspieienden Phasen der Wasser- 
bewegung (Flut und Ebbe). 

Hinsichtlich der chemischen Untersuchung sämtlicher Proben mufste von vorne- 
herein auf eine Gesamtanalyse, ja auch auf die Bestimmung einer Reihe sonst noch 
wünschenswerter Bestandteile (Trockenrückstand, oxydierbare organische Substanzen etc.) 
völlig verzichtet werden, weil bei der Beschränktheit in den verfügbaren Hülfskräften sonst 
der viel wichtigere Grundsatz fortlaufender täglicher Prüfungen hätte geopfert werden 
müssen. Es mufste unter diesen Verhältnissen genügen, die zwei relativ leicht und schnell 
auf titrimetrischem Wege ausführbaren Bestimmungen des Chlors und des Härtegrades 
(Kalk 4- Magnesia) zu gewinnen. Und in der That können dieselben auch als die ein- 
fachsten und zuvcrlässigsten Kennzeichen und Anhaltspunkte für jedwede unorganische 
(mineralogische), sci es natürliche, sei es durch Industrie u. dgl. bewirkte, Zufuhr aus 
den Quell- und oberen Stromgebieten gelten, wie andererseits das Chlor zugleich einen 
vortrefflichen Indikator für das Hinzutreten städtischer Effluvien resp. menschlicher und 
tierischer, also organischer Abfallstoffe bietet. 

Die sämtlichen Prüfungen beziehen sich auf das awfzltrierte, übrigens fast durch- 
weg völlig klare Wasser. Die Chlor-Titrierungen sind von Herrn Dr. Loock nach Ziedie- 





+) Ine ersteren Proben entsprechen also dem wirklichen Oberwasser, die letzteren dem vollen Stau- 
wasser. Für die mit den Stromverhältnissen bei Hamburg Nichtvertrauten sei hinzugefügt, dafs unter mittleren 


Normalzuständen die Dauer der Ebbe § Stunden, die der Flut 4 Stunden beträgt. 


6 Dr. F. WIBEL, Chlor-Gehalt und Härtegrad des Ellwassers. 





Elbwasser aus der Wasserleitung 
im Laboratorium (direkt, ohne Reservoir). 


100 000 Teile enthalten 





© nD) (9) 
= £ = 
n! : 1 SS. e oO p 
5| Mai | Chlor ‘2 | Jwi “po 
o Q oO O c 9 
Z AT 27 
‚© D K 
> Vorm. Nachm. > Vorm. ‚Nachm. r 
l 3 | 6,02 | 6,02 2 I | 3,54 3,90 50 
2 4 | 6,02 , 6,02 25 2 3,90 3,90 SI 

31 51565 | 565 | 26| 3 | 3,90 | 3,90 
4 6 | 6,02 | 6,02 27 4 | 3.90 | 3,90 52 
sl 7| 56 | 531 yi s= e3 
ee 28 6 | 3,90 E 54 
9 | 531 | 5,31 29 7 | 390 | 390 55 
7 IO | 4,96 . 4.96 30 S 4:26. > 4,20 56 
8 II 4.96 5,31 31 9 | 4,60 | 4.60 57 

o | 12 | 531 | 531 f 321 10| 479 | 531 
1O | 13 | 5.31 | 4,96 33 | ıı | 531 | 531 58 
IT | 14 | 496 | 496 I 12 — | = 59 
15 — | = 34 | 13 | 543 | 5,65 | 60 
12 | 16 | 496 | 496 f 35 | 14| 545 | 6,02 | 61 





13 17 | 5,31 5,31 36 | 15 5,65 : 6,02 62 
14 18 5,31 5,31 37 16 | 6,02 6,02 63 
19 == — 38 17 | 6,20 6,20 





| | 
15 | 20 | 531 | 531 39 | 18 | 6,38 | 6385 | 64 
16 | 21 | 5.31 | 5,31 19 = — 65 
22 — 1 — 40 | 20 | 6,73 6.73 66 
17 | 2 4,96 | 496 | 41| 21 | 6,73 0,73 67 
IS | 2 4.96 | 4,60 42 32 6,73 6,73 68 
19 | 25 | 4.26 4,26 43 | 2 7.09 7,09 69 
20 | 26 | 3,90 | 3,90 1 44 | 24 | 7,26 7,62 
21 | 27 | 354 | 354 | 45 | 235| 779 | 779 | 70 
22 | 28 | 3,54 , 3,54 26 | — = 71 
| — | — |466| 27 | 779 | 815 2 
30 | — — 47 | 23 | 7,79 7,79 73 
23 | 31 | 354 390 | 48 | 29 | 815 | 7,79 | 74 
| 49 | 30 | 815 | 921 f 75 


hili 


D ooN Avn AUN = 


N O N N 
Wo N 


EN 


— 


Wasserleitung im Laboratorium 


(direkt, ohne Reservoir). 


100 000 Teile enthalten 


Härte 
in deutschen 
Graden 
resp. Kalk 


Vorm. Nachm. 


6,42 


6,44 








Chlor 
Vorm. Nach 
| 
9,21 9,2 
9,21 SS: 
8,85 8.8 
8,85 9,21 
9,21 | 921 
QE F Oa 
9.21 ar 
9.92 TO, 
10,95 10, 
10,98 10,0 
10,02 KOKIN 
10,62 10, 
10,62 10,0 
11,69 12.0. 
12,04 | HA 
11,69 11, 
11,69 | 12,73 
11,69 i 12,04 
12,39 | 12.73 
12,75 12,73 
ee | _— 
13,10 ! 14,7 
14,87, 15: 
14,20 | 13,10 
12,78 ' 12,78 
11,69 11 
11,69 , 11,9 


I 


Freie Elbe. 


ıiikerrohr: Schöpfstelle derWasserkunst an der Kalten-Hofe. 


Mitte des Stromes: Fähre bei Entenwärder. 


dükerrohr 


it ı  TTT TI ooo a aeea ar 


Nachm. | Vm. 





Chlor 
bei tiefster Ebbe 


Mitte d.Strom. 


' Nachm. | Vorm. 


bei höchster Flut 


Dükerrohr 








Nm. 


Mitte d. Strom. 


Vorm. 


Dr. F. WIBEL, Chlor-Gehalt und Härtegrad des Elbwassers. 


Wasserleitung im Laboratorium 


No. der 
Versuchs-Reihe 


Nm. 


1: 
= 


92 
9,21 
E 56 
| 9,92 


ge 84 
ee 85 


86 
87 


88 
89 





(direkt, ohne Reservoir). 


Au- 
gust 


ON An A UO N- 


O O 


UW &® N N NN DNNNNN N ~ m m m m e m w 
= O O ON An AUO N= OO X Ss Sun 2 OU Nm 


Härte 
in deutschen 
Graden 
resp. Kalk 
Vorm. | Nachm. 
6,86 6,72 
8,11 0,44 
6,28 | 6,44 
6,36 | 6,33 
6,36 | 6,44 
6,42 6,28 
6,44 | 6,39 
6,22 6,36 
6,44 | 6,36 
6,56 | 6,42 
6,50 ! 658 
6,58 | 6,50 
6,42 6,50 
6,53 | 6,47 
6,67 | 6,47 
6,56 6,50 
6,53 6,58 
6,47 6,47 
6,53 6,53 
6,44 ‚56 
‚50 6,67 
6,69 6,61 
6,67 6,61 
6,72 6,56 
6,69 6,78 
6,69 6,75 
6,89 6,67 


100000 Teile enthalten 


7 
Chior 
Vorm. | Nachm. 
12,39 | 12,04 
13,10 | 12,39 
12,39 | 12,39 
12,39 | 12,39 
12,39 | 12,04 
12,39 | 12,39 
12,39 | 12.39 
12,78 12,78 
12,78 12,78 
12,78 13,IO 
13,IO | 13,42 
13,42 13,42 
13,42 13,73 
14,20 | 13,73 
13,73 13,42 
14,20 | 13,42 
13,73 | 13,73 
14,20 | 14,20 
14.20 | 14,87 
14,87 15,62 
15,62 | 15,93 
15,62 | 15,93 
15,93 15,93 
15,62 | 16,29 
19,48 | 17,71 
19,84 19,48 
18,42 17,71 


3 Dr. F. WIBEL, Chlor-Gehalt und Härtegrad des Elbwassers. 


Mohr ausgeführt und hat sich dabei niemals ein störender Einflufs der vorhandenen 
organischen Substanzen (durch schwarze, violette oder sonstige Färbung des AgCl-Nieder- 
schlages) gezeigt. Die Härte-Bestimmungen erfolgten durch Herrn Dr. Herde streng nach 
Clark's Methode unter Beachtung aller dafür bekannten Kautelen. 

In die nachstehende Tabelle, zu deren Erläuterung die obigen Vorbemerkungen 
genügen dürften, sind die beiderseits direkt gefundenen und auf 100000 Teile des Elb- 
wassers berechneten Zahlenwerte eingetragen.”) Zur richtigen Würdigung derselben, 
gerade auch bezüglich der späteren Erörterungen, ist indessen wohl zu beachten, dafs 
Abweichungen innerhalb der Zehntel nicht mehr zuverlässige sind, sondern in die un- 
vermeidlichen Versuchsfehlergrenzen fallen, zumal ja bei Analysen unserer Art die obige 
Verrechnungsart eine Multiplikation der gefundenen Werte mit grossen Zahlen (1000 und 
mehr) zur Folge hat. 

Nach diesen Vorbemerkungen sei nun unter stetem Hinweis auf die 


eingefügte Tabelle (Seite 6 und 7) 
an deren Besprechung herangetreten und die Reihe der Schlufsfolgerungen entwickelt, zu 
denen sie meiner Überzeugung nach schon jetzt berechtigt. 

I. Zuvörderst offenbart die Durchsicht der Kolumnen über die CAlor-Gehalte 
eine in der That überraschend grofse Schwankung, welche die aus den früheren, im Ein- 
gange erwähnten, Bestimmungen geschöpften Vermutungen noch weit überragt. Wir finden 
ein Minimum = 3,54 (27. Mai/ı. Juni) gegenüber einem Maximum = 19,84 (30. Aug.), 
also eine Steigerung nahezu auf das Sechsfache. Innerhalb dieser Grenzen zeigt sich nun 
nicht etwa ein wechselvolles Spiel steigender und abnehmender Werte, sondern in höchst 
beachtenswerter Weise ein auffallend ruhiges Bild regelmässigen Ansteigens und Abfallens, 
in welchen aber das Auftreten längerer Stillstandspausen uns verräth, dafs dieser Verlauf 
ebensowenig ein wirklich stetiger ist. Der Gehalt mit 6 Teilen beim Beginn der Unter- 
suchung (3. Mai) senkt sich in geringfügigen Schwankungen langsam auf ein erstes 
Minimum von 3,54—3,90 am 26. Mai, bleibt mit diesen Zahlen bis zum 7. Juni konstant, 
erhebt sich alsdann in ähnlich langsamem Tempo bis auf 8,85—9,21 am 30 Juni, verharrt bei 
diesen Zahlen wieder bis 8. Juli und steigt anfangs in geringem, zuletzt in beschleunigtem 
Grade bis zu einem ersten Maximum von 15,62 am 26. Juli. Von hier aus erscheint ein 


ziemlich rapider Abfall zu einem zweiten Minimum = 11,69 am 29. Juli, worauf aber- 
mals ein allmähliches, nur von kürzeren Stillständen begleitetes und wiederum zuletzt 
beschleunigtes Steigen bis zu dem zweiten Maximum — 19,84 am 30. Aug. erfolgt, nach 


welchem mit einem in ähnlicher Weise relativ schnellen Abfall auf 17,71 die diesmalige 


*) Ich beharre bei dieser, früher allgemeinen Verrechnungsart, obschon in neuerer Zeit bei Wasser- 
analysen eine andere (Milligramm per Liter) vielfach vorgezogen wird, da ich nicht nur keine Vorteile, sondern 
nur Nachteile in dieser Neuerung zu erkennen vermag. Erstens widersteht mir die Inkongruenz der Begriffe 
Milligramm und Liter, während bei dem früheren Modus die Volumteile zu der für ı Volum gültigen Gewichts- 
zahl in einer bestimmten begrifflichen Beziehung stehen. Zweitens aber wird durch die um das zehnfache höheren 
Zahlen, da man doch die ganzen Einheiten als die noch zuverlässigen anzusehen berechtigt ist, eine Genauigkeit 
der Werte affektiert, die ihnen nur in aufsergewöhnlichen Fällen wirklich zugestanden werden kann. 


Dr. F. WIBEL, Chlor-Gehalt und Härtegrad des Elbwassers. 9 


Untersuchung abschliefst. Innerhalb der 4 Monate finden wir also 2 Maxima und 2 
Minima, allein dieselben verteilen sich ganz ungleich und sind ja auch in ihrer absoluten 
Gröfse beträchtlich verschieden. Irgend eine wirkliche Periodicität in den entsprechenden 
Wachstunis-Kurven ausfindig machen zu wollen, bleibt vergebliches Bemühen. 

Die Schwankungen der //ärte resp. des Gehaltes an Kalk und Alagnesia während 
der zwei Beobachtungsmonate (Juli, August) zeigen sich nun in diametralem Gegensatze 
zu dem Chlor als äufserst geringfügige innerhalb der Grenzen 5,73 (Juli 6.) — 8,11 
(August 2.) Und berücksichtigt man, dafs sowohl dieses Maximum wie das zweitbe- 
obachtete von 7,53 (Juli 29.) nur in je einer Bestimmung erscheinen, und dafs die Zu- 
verlässigkeit der betreffenden Methode bekanntlich keine schr befriedigende ist, so wird 
man wohl von dem Zweifel erfüllt werden, ob jene beiden ausnahmsweise hohen Ziffern 
nicht auf geringe Versuchsfehler zurückzuführen seien. Alsdann aber würde sich die 
Härte nur in den engen Grenzen 5,73—6,59 bewegen, innerhalb welcher sich kaum eine 
Regelmäfsigkeit der Bewegung erkennen läfst, es sei denn ein langsames Steigen bis Ende 
Juli/ Anfang August, ein lange dauernder Stillstand der wieder erfolgten geringen Senkung 
und ein Wiedererheben gegen Ende August. So wenig Reiz also diese Beobachtungen 
auch zu bieten scheinen, so sehr wichtig sind dieselben doch. Einmal wird der schneidende 
Kontrast gegenüber den Schwankungen des Chlor-Gehaltes den Versuch einer Erklärung 
gebieterisch fordern, welcher Forderung wir im folgenden um so bereitwilliger entsprechen, 
als dadurch die Deutung der Gesamterscheinung wesentlich erleichtert wird. Sodann 
aber gewinnen jene Daten ein neues Interesse bei dem Vergleiche mit den früheren 
Analysen des Elbwassers (S. 3), denn abgesehen von den aufsergewöhnlich niedrigen 
Zahlen der Bestimmungen a) und g), denen übrigens auch exceptionell niedrige Chlor- 
Werte entsprechen, und von den ebenso unerhältnismäfsig hohen Zahlen von h) zeigen 
sämtliche übrigen Elbwasserproben vom November 1870, 15. September 1871, 19. Juli, 
31. August und Herbst 1875 die Härtewerte 5,19—7,43, meist über 6,0 bis 6,5, also 
Ziffern, welche vollkommen mit den unsrigen übereinstimmen. Sie sind in dieser Beziehung 
um so beweiskräftiger, als die betr. Proben derselben Jahreszeit resp. sogar denselben 
Monaten angehören wie die unsrigen. 

Das Endergebnis dieser Diskussion läfst sich also kurz dahin zusammenfassen: 

Der Chlor-Gehalt des Elbwassers innerhalb der vier Monate schwankte ausser- 
ordentlich stark, im gansen innerhalb der Grensen 3,54— 19,84 Teile; dagegen 
erwies sich der Härtsgrad so gut wie konstant und in seiner absoluten Grösse 
(im Mittel ca. 6,5) mit demjenigen vor 12—17 Fahren völlig übereinstimmend. 

2. Freilich liegt dieser ganzen Erörterung die stillschweigende Voraussetzung zu 
Grunde, dafs die in den Kolumnen verzeichneten Werte auch wirklich dem gleichzeitigen 
Wasser des freien Elbstromes entsprechen, während doch dic Proben dem Wasserlcitungs- 
rohr des Laboratoriums in der Stadt entnommen sind. Allerdings ist schon früher (S. 5) 
die Richtigkeit jener Prämisse betont worden, allein es erübrigt, den Beweis hierfür bei- 
zubringen. Derselbe ergiebt sich aus den gesamten Juli-Beobachtungen mit Evidenz, so- 
fern man die Chlor-Zahlen der Proben aus der Wasserleitung und aus der freien Elbe 


2 


Io Dr. F. WIBEL, Chlor-Gehalt und Härtegrad des Elbwassers. 


für denselben Tag mit einander vergleicht und dabei auf geringfügige Abweichungen in 
den Dezimalen keinen entscheidenden Wert legt (Vergl. S. 8). Sodann hat man zu be- 
rücksichtigen, dafs die Proben aus der freien Elbe selbstverständlichh eben der Tiden 
wegen, zu sehr verschiedenen Stunden vor- und nachmittags geschöpft sind, mithin 
streng genommen nur mit den der Zeit nach später gezogenen Proben der Laboratoriums- 
leitung verglichen werden dürfen.*) So z. B. sind am 5. Juli die Vormittagsprobe aus 
der freien Elbe um ı1'/a Uhr, die erste Nachmittagsprobe um 12'/ı, die beiden andern 
um 4°/ı und 5!/4 Uhr entnommen; es können daher die erste nicht mit der um 8'/» Uhr 
im Laboratorium untersuchten Vormittagsprobe (8,85), die beiden letzten nicht mit der 
Laboratoriumsprobe von 4'/2 Uhr nachmittags identifiziert werden, sondern es sind für 
diese nur die eine Vormittags- und die erste Nachmittagsprobe mit dem Gehalt 9,21 
mafsgebend, woraus sich dann die vollständige Übereinstimmung unter einander heraus- 
stell. Ebenso sind ferner z. B. am 26. Juli die Vormittagsproben aus der Elbe um 8'/» 
und 8°/ Uhr, die Nachmittagsproben um 3!/4 und 31s Uhr gezogen und ihnen ent- 
sprechen überraschend genau die zugehörigen Laboratoriunssproben um 8!⁄2 vormittags 
und 4'/s nachmittags. Vergleicht man in dieser Weise die verschiedenen Beobachtungs- 
reihen, so tritt überall eine so nahe Übereinstimmung der Chlor-Gehalte der beiderseitigen 
Proben hervor, ein dort bemerkbar werdendes Steigen und Fallen macht sich so schnell 
auch hier geltend, dafs es keinem Zweifel unterliegt: 

das Wasser der Laboratoriumslettung entspricht durchaus dem gleichzeitigen 

Wasser des freien Stromes, soweit bei derartigen Verhältnissen ein Syn- 

chronismus überhaupt gefordert werden kann. 

Diese Thatsache ist, abgesehen von ihrer Bedeutung für die Sicherstellung unseres 
Zahlenmateriales und seiner Verwertung für die weiteren Erörterungen nun auch nicht 
ohne praktisches Interesse. Denn sie ist eben nicht anders zu erklären, als dadurch, dafs 
trotz der grofsen Entfernung der städtischen Wasserkunst von der Stadt resp. dem La- 
boratorium und trotz der vorhandenen grofsen Ablagerungsbassins ein aufserordentlich 
schneller Kreislauf in dem gewaltigen Röhrennetze sich abspielt, und sie belehrt uns mit 
chemisch erhaltenen Ziffern, dafs dem Elbwasser in jenen Bassins kaum eine nennens- 
werte Ruhefrist behufs Ablagerung und Klärung gewährt wird. Ganz besonders an- 
schaulich wird dies durch das oben berührte Beispiel vom 26. Juli: das Vormittagswasser 
mit 14,87 Chlor (im freien Strom und Laboratorium) wird durch die ca. 9 Uhr einsetzende 
Ebbe in ein Chlor-reicheres Wasser umgewandelt, welches gegen Ende derselben einen 
Gehalt von 15,96 Chlor aufweist, und schon um 4!/e Uhr zeigt das Laboratoriumswasser 
15,62 Chlor. Bringt man für den Rücklauf des Stauwassers die erforderliche Zeit in 
Rechnung, so dafs das eigentliche Oberwasser etwa um ca. 11 Uhr an das Dükerrohr 
getreten wäre, so hätte sich jener Kreislauf des gerade durch den abnormen Chlor-Gehalt 
so gut charakterisierten Wassers bis zum Laboratorium in 5—6 Stunden vollzogen. 


*) Die Aufnahme der Schöpfzeiten in die Tabelle ist unterblieben, um dieselbe einfacher und über- 


sichtlicher zu erhalten. 


Dr. F. WIBEL, Chlor-Gehalt und Härtegrad des Elbwassers. lI 


3. Wenn nun an dem in seiner Beweiskraft jetzt völlig gesicherten Untersuchungs- 
material schon früher (S. 9) die Konstanz des Härtegrades d. h. des Gchaltes an Kalk + 
Magnesia nachgewiesen wurde, so scheidet damit deren Berücksichtigung vorläufig ganz 
aus dem Kreise unserer weiteren Erörterungen aus, und wir haben uns einstweilen aus- 
schliefslich mit den Schwankungen des Chlor-Gehaltes zu beschäftigen. 

Je auffallender dieser Zwiespalt aber ist, um so mehr drängt sich die Zwischen- 
frage auf, ob nicht etwa der Ursprung desselben auf gans örtlich wirkende Ursachen 
zurückzuführen sei, dergestalt, dafs z. B. in gröfserer oder geringerer Entfernung 
von dem Schöpfrohr Chlor-reiche Zuflüsse beständen, die sich dem Uferrande entlang 
zögen und so dem Leitungswasser sich beimischten, während das eigentliche Stromwasser 
hiervon ganz unberührt bleibe. Zur bündigen Beantwortung dieser Frage sind während 
des Juli Proben nicht nur am Schöpfrohr, sondern zugleich aus der Mitte des Elbstroms 
(s. S. 5) zu den verschiedenen Tiden geschöpft und analysiert worden. Hierbei hat sich, 
wie die Tabelle zeigt, fast ausnahmslos eine völlige oder innerhalb der Versuchsfehler: 
grenzen liegende Übereinstimmung zwischen beiderlei Proben ergeben. Nur in zwei 
Fällen erscheinen etwas gröfsere Differenzen, 6. Juli 9,21—8,15 und 27. Juli 13,10--15,27, 
von denen dahingestellt bleiben mufs, ob sie besonderen Verhältnissen oder Fehlern zu- 
zuschreiben sind. Jedenfalls können sie das Gesamturteil nicht andern, welches dahin lautet: 

Die Chlor-Gehalte der freien Strommitte (Oberfläche) und des in das Schöpf- 
rohr der Wasserkunst eintretenden Wassers stimmen fast völlig überein; cin 
Unterschied des mittleren Stromwassers und des Uferwassers besteht in 
dieser beswhung nicht. 

4. Eben so leicht wie die vorige Zwischenfrage erledigt sich auch eine andere, die 
aber immerhin gewichtig genug ist, um nicht einfach verschwiegen zu werden. Stellt 
sich etwa ein Zusammenhang zwischen den Chlor Schwankungen und den während der 
4 Monate faktisch beobachteten Wasserständen des Elbstromes heraus? Und wären dann 
also jene im wesentlichen nur die naturgemäfsen Folgen der wechselnden Konzentrationen 
im Ober- resp. Unterwasser? 

Schon die einfache Thatsache, dafs von den beiden Wasserbestandteilen Chlor 
und Kalk (+ Magnesia), wie S. 9 erwiesen, nur der eine, das Chlor, sich in starkem 
Wechsel zeigt, der andere dagegen so gut wie konstant bleibt, würde genügen, um jene 
Frage mit einem kurzen endgültigen Nein! zu beantworten, denn offenbar müssen bei 
Konzentrationsveränderungen, die lediglich durch Zutritt oder Mangel an verdünnendeim 
Wasser bewirkt sein sollen, sämtliche Bestandteile in gleichem Grade affıziert werden. 
Da aber jeder direkte Beweis vorzuziehen, so habe ich aus den veröffentlichten Elbwasser- 
ständen bei Hamburg (Neuer Pegel) die entsprechenden Zusammenstellungen gemacht — 
auf deren Wiedergabe im einzelnen hier verzichtet werden kann — und dabei u. a. 
folgende Ergebnisse erhalten: 

I) bei stark wechselnden Wasserständen bleiben sich die Chlor-Zahlen gleich; 
2) den Minimal-Zeiten für Chlor entsprechen keineswegs die Maximal-Wasserstände und 


u 


3) ebensowenig den Maximal-Zeiten für Chlor die Minimal-Wasserstände. 


12 Dr. F. WIBEL, Chlor-Gehalt und Härtegrad des Elbwassers. 


Den nächsten Beleg für die erste Thatsache bietet die lange Periode des ersten 
Minimums vom 27. Mai bis 7. Juni: 

Chlor-Gehalt. Schwankungen der Wasserstände. 

konstant 3,54—3,90 Min. 1 Juni) 3,110 Nele: (31. Mai) 4950| Hoch W. 
Max. (29. Mai) 3 „510 f (28. Mai) 5,450 | 
Noch beweiskräftiger ist die Periode vom 30. Juni bis 8. Juli: 
Chlor-Gehalt. Schwankungen der Wasserstände. 
konstant 885 —9,21 Min. (2. Juli) 2,395 | wW. (4 Juli) nn Hoch W. 
Max. (7. Juli) 3,800 f (6. Juli) 6,2 

Hier entsprechen die Wasserstandsschwankungen für die Be Tage fast den 
äufsersten Grenzen für den ganzen Monat Juli. 

Die zweite Thatsache wird wiederum durch die Minimum-Periode 27. Mai bis 
7. Juni am einfachsten erhärtet; sie hat die niedrigsten überhaupt gefundenen Chlor- 
Zahlen, während ihr mittlerer Wasserstand sehr wenig von den ganzen Monatsmitteln 
abweicht, also keineswegs Maximalzahlen darbietet. 


Niedrig 


Mittler. Wasserstand. Die ganzen Monatsmittel. 

27. Mai bis 7. Juni. Mai. Juni. 
Niedrig W. 3,288 3,216 3,188 
Hoch W.. 5,210 5,195 5,254 


Die dritte Thatsache endlich, dafs die hohen Chlor-Zahlen durchaus nicht mit 


niedrigen Wasserständen zusammen fallen, veranschaulicht nachstehende Zusammenstellung 
schr klar: 














Chlor-Maxima. Entspr. Wasserstände. Monatsmittel. 
26. Juli 15,62 Niedrig W. 2,915 — 3,130 3,005 Juli 
Hoch W. 5,005 — 5,030 50 086 
30. Aug. ı 19,84 Niedrig W. 3,035—3, 060 3,060 Arsis 
Hoch W. 4,910—4,940 5,098 we 


Die Wasserstände an den betr. Tagen weichen kaum von den Monatsmitteln ab. 
Um aber ganz im allgemeinen die Vermutung zurückzuweisen, als ob die merk- 
würdigen Erscheinungen in den Chlor-Schwankungen auf ganz abnormen Wasserstands- 
verhältnissen dieses Jahres beruhten, mag es genügen, die entsprechenden Monatsmittel 
denjenigen aus dem Durchschnitt der letzten 20 Jahre gesrenüberzustellen.*) 
ER ‚1188 ‚216 ‚188 , 3,00 l 060 
Niedrig W.} ` / 3 a Mai >’ l Juni 3905 E Juli 3: pi August 
1867/86 3.174 3,123 | 3,109 3,093 
| 1887 5,195 | 5,254] 5,0 36, 5,098 | 
Mai - Juni uli August 
f 1867/86 5,145 | 5,1471 J 5134| St 5.086 | a 








Hoch W. 





*) Die Kenntnis der Monatsmittel der Elbwasserstände für 1887 und der vorhergehenden 20 Jahre 
(1867/86) ist mir in entgegenkommendster Weise durch das hiesige Bureau für Strom- und Hafenbau zu Teil 


geworden, wofür ich dessen Direktor und Beamten auch an dieser Stelle meinen freundlichen Dank ausspreche. 


Dr. F. WIBEL, Chlor-Gehalt und Härtegrad des Elbwassers. 13 


Nur der Juli-Monat dieses Jahres läfst dessen »aufsergewöhnliche« Trockenheit 
durch eine erhebliche Differenz im Öberwasserstand gegen das 20ojährige Mittel zur 
Wahrnehmung kommen. 

Es wird mithin ohne weiteres als bewiesen anerkannt werden, dafs 

die eigentlichen, hier zur Diskussion stehenden grossen Chlor-Schwankungen 
in keinerlei Zusammenhang mit den Nasserständen der Elbe stehen, also auch 
nicht auf einer wechselnden Konzentration des Stromwassers beruhen. 

5. Ist demnach zweifellos erwiesen, dafs die Chlor-Schwankungen weder durch 
ganz zufällige lokale Ursachen, noch durch den Wechsel der Elbwasserstände bedingt 
sind, so bleibt für ihre nächste Erklärung nur diejenige übrig, dafs sie 

aus grösseren, dic gesamte Wassermasse berihrenden und verändernden Zu- 
flüssen abzuleiten sind, wodurch die Frage nach deren Ursprunge eine erhöhte 
Bedeutung gewinnt. 

Eine solche Frage läfst sich für unsere hamburgischen Verhältnisse sofort in 
zwei scharf getrennte Unterfragen zerlegen, nämlich ob sie durch das Oberwasser oder 
aber durch das zurückgestaute Unterwasser bewirkt werden. Das letztere setzt sich aus 
dem Oberwasser und den unterhalb des Schöpfrohrs etwa hinzugetretenen Zuflüssen zu- 
sammen, und da dasselbe ceteris paribus zwei mal per Tag 4 Stunden aufläuft, dann 
aber noch während eines entsprechenden Bruchteils der beginnenden Ebbe rückwärts 
wieder die Schöpfstelle passiert, so müfste, falls in ihm die Ursachen der Chlor-Schwan- 
kungen lägen, eine zwei mal per Tag erscheinende, mit Flut und Ebbe also in Zusammen- 
hang stehende Periode derselben sich offenbaren. Gehen dieselben jedoch ausschliefslich 
von dem Oberwasser aus, so wird, da dasselbe durch die Rückstauung an sich ja nicht 
geändert wird, eine gänzliche Unabhängigkeit von den täglichen Flut- und Ebbe- 
Bewegungen sich zeigen müssen. Einer Erörterung weitergehender Komplikationen be- 
darf es hier nicht; denn ein einfacher Blick auf die Tabelle genügt, um sofort klar zu 
machen, dafs von ciner solchen täglichen Periode nicht die geringste Andeutung vorliegt, 
sondern dafs das ganz regelmafsige, über Wochen sich erstreckende Steigen und Fallen 
der Chlor-Gehalte unwidersprechlich die völlige Unabhängigkeit von Flut und Ebbe dar- 
thut, zumal ja die untersuchten Proben allen verschiedenen Phasen dieser Bewegung 
während 4 Monaten entsprechen (S. 5). Damit aber nicht genug, steht uns auch hier 
wieder ein ganz direkter Beweis zur Verfügung in den Juli-Proben aus der freien Elbe. 
Vergleicht man die an demselben Tage bei tiefster Ebbe (reinstes Oberwasser) und bei höch- 
ster Flut (volles Stau- resp. Unterwasser) geschöpften Proben, so gewahrt man meistens 
eine völlige Gleichheit oder, wenn diese fehlt, ein erstes Anwachsen resp. Fallen des 
Chlor-Gehaltes im Oberwasser, welches sich dann weiter fühlbar macht. Nimmt man 
hinzu, dafs gerade auch die Maximal-Zahl (15,96) nur im Oberwasser (26. Juli) erschien 
und dafs in den sonstigen Laboratoriumsproben dieses Monats ausschliefslich dieselben 
Zahlenwerte wie in den andern, vor allem aber kein einziger höherer auftraten, so wird 
jene Unabhängigkeit schlagend erhärtet und damit endgültig bewiesen sein, dafs 

die Chlor-Schwankungen des Elbwassers in keinerlei Desichung zu Flut und 


14 Dr. F. WIBEL, Chlor-Gehalt und Härtegrad des Ellwassers. 


l:bbe stehen, dass sie vielmehr einzig und allein von der wechselnden Be- 
schaffenhvit des Oberwassers abhängen. 

6. Somit werden auch die fraglichen, das Chlor liefernden Zuflüsse ausschliefslich 
oberelbische sein müssen! 

Bei diesem scheinbar harmlosen Rückschlusse müssen wir doch noch einen 
Augenblick verharren, da derselbe von crheblicher praktischer Wichtigkeit ist. Ehe 
nämlich eine eingehende Untersuchung über die Chlor-Schwankungen unseres Leitungs- 
wassers vorlag, gab es für dieselben cine Erklärung, deren verführerischem Charakter 
man sich nicht verschliefsen konnte. Sie beruhte auf der bekannten Thatsache, dafs sich 
die Effluvien Hamburg-Altonas in die Elbe crgiefsen und dafs in denselben selbst- 
verständlich grofse Mengen Chlor enthalten sind. Aber auch der Wechsel im Chlor- 
Gehalt konnte für Einzelfälle leidlich darin seine Erklärung finden, dafs die fraglichen 
Sielthüren bei Fluteintritt sich schlicfsen, also kein stetiger, sondern ein intermittierender 
Zuflufs erfolgt, der sich bei Rückstauung bis zur Schöpfstelle auf der Kalten-Hofe in 
sehr verschiedener Weise und Stärke geltend machen würde. Jetzt freilich stellt sich die 
Beurteilung ganz anders dar; die viermonatlichen Beobachtungen haben absolute Unab- 
hängigkeit von der Rückstauung (nur diese kommit hier in Betracht) dargethan, sie haben 
erwiesen, dafs in den Monaten Mai—Augrust die aus allen denkbaren Flut-Phasen stam- 
menden Laboratoriumsproben eine mit diesen zusammenhängende Steigerung des Chlor- 
Gehaltes nicht offenbaren, ja, sie haben direkt gezeigt, dafs die gröfste Chlor-Zahl im 
reinsten ÖOberwasser gefunden worden ist. Erwägt man ferner, einen wie feinen 
Indikator für städtische Abwässer gerade das Chlor darstellt und wie leicht dasselbe 
chemisch genau zu bestimmen ist, so wird man umsomehr den aus unsern Betrachtungen 
sich ergebenden bemerkenswerten Schlufsfolgerungen beistimmen: 

Die Chlor-Schreankungen im Elbwasser haben nichts mit den in die Elbe sich 
ergiessenden Kanalwässern Hamburg-Altonas zu thun. 

Weder im offenen Strom, noch an der Schöpfstelle (Kalte-Hofe) noch in 
dem sum Konsum gelangenden Wasser lässt sich eine durch jene Kanali- 
sation eingetretene Veränderung chemisch erkennbar nachweisen. 

Wenn diese Unbemerkbarkeit trotz der oft in grofsen Zahlen vorgeführten Massen 
jener Abfallstoffe zweifelsohne auf der aufserordentlichen Verdünnung beruht, welche bis 
jetzt noch die gewaltige Wassermenge des Stromes bewerkstelligt, so erscheint anderer- 
seits auch die bisherige Lage der Schöpfstelle gegen eine zu befürchtende Verunreinigung 
durch jene Effluvien hinreichend gesichert. Ob eine mikroskopische Untersuchung zu 
anderen oder den gleichen Resultaten fuhren würde, sowie die Frage, ob und welche 
Tragweite den s. Z. ausgeführten Schwimmmerversuchen gegenüber unseren Ergebnissen 
beizumessen ist — dies mag hier unbesprochen bleiben. * 

*) Diese letztere Frage berühre ich nur deshalb hier, weil jene Versuche eigentlich den einzigen greif- 
baren Anhaltspunkt für die von AZ. Simmonds in seiner Abhandlung über »die Typhusepidemie in Hamburg im 
Jahre 1855« (Deutsche Viertelj. f. öffentl. Gesundh. Bd, I8 (1880), p. 537 fi. spez. 542) betonte »Möglichkeit« 
des Hineingelangens von Typhuskeimen aus eden Sielwässern in das Trinkwasser Hamburgs bilden. Ohne die 


Dr. F. WIBEL, Chlor-Gehalt und Härtegrad des Ellwassers, 15 


7. Die Chlor-Schwankungen sind lediglich Folge einer verschiedenen Beschaffenheit 
des Oberwassers. Wodurch aber ist denn wieder diese Verschiedenheit bedingt? Entweder 
erfolgen stetige chlorreiche Zuflüsse aus irgend einem oder mehreren Nebenflufsgebieten 
mit salzführenden Gebirgen (Saale etc.), welche den »normalen« Chlor-Gehalt des hiesigen 
Elbwassers relativ hoch gestalten würden, und es wird derselbe nur durch die Chlor- 
armut des ursprünglichen Wassers oder der späteren natürlichen Zuflüsse entsprechend 
herabgedrückt, und bcegreiflicher Weise in sehr wechselndem Grade je nach den wesentlich 
auch von den atmosphärischen Niederschlägen abhängenden Quantitäten dieser verdünnen- 
den Medien. Oder aber die »normale« Chlor-Zahl des hiesigen Elbwasscrs liegt relativ 
niedrig und die Steigerung derselben beruht auf sehr Chlorreichen und daher aller Wahr- 
scheinlichkeit nach nicht natürlichen Zuflüssen, wobei das Schwanken der Zahlen teils 
auf die Intermittenz dieser Zuflüsse teils auf die nicht weniger unregelmässigen Quantitäten 
jener Chlorarmen Gewässer zurückgeführt werden könnte. Das bisherige Beobachtungs- 
material gestattet noch kein Urteil über den »normalen« Chlor-Gehalt unseres hiesigen 
I:lbwassers (bei Rothenburgsort), sofern wir darunter die während des gröfseren Teiles des 
Jahres auftretenden Werte verstehen wollen. Immerhin aber scheinen mir die beiden 
Thatsachen, dafs sich die Chlor-Gehalte so sehr schwankend zeigen, während der Härte- 
grad so auffallend konstant bleibt, und dafs jene mit den Wasserständen d. h. also der 
(Giesammt-Wassermasse des Stromes keinerlei Zusammenhang erkennen lassen, durchaus 
gegen die erstere Erklärung zu sprechen. Bei einem natürlichen Ursprunge aus Salz- 
führenden Gebirgsschichten dürfte wohl ein gleichzeitiges Schwanken speciell des Kalkes 
und der Magnesia (aus den Gypsen, Dolomiten, Kalksteinen etc.) mit Recht erwartet 
werden, oder wenn hier ein einmal konstantes Verhältnis vorläge, welches nur durch die 
wechselnden Mengen indifferenter Zuflüsse alteriert würde, so müfste sich dann doch wohl 
eine Abhängigkeit von den absoluten Wasserständen darbieten. Mit einem Ursprunge 
aus nicht natürlichen Zuflüssen (Salinen, Fabriken etc.) würden aber jene beiden Thatsachen 
recht wohl vereinbar sein. Die ungehcure Ausdehnung des oberen Stromgebietes unserer 
Elbe, die mangelnde Kenntnis der Zusammensetzung ihres Wassers an den verschiedenen 
Punkten ihres Laufes legt mir sclbstverständlich den Verzicht auf diese Betrachtung hier 
noch weiter zu führen. Allein es darf immerhin schon jetzt hervorgehoben werden, dafs 

die grössere Wahrscheinlichkeit dafür spricht, die Chlor-Schwankungen unseres 
Llbwassers seien durch nicht natürliche chlorreiche Zuflüsse in dem oberen 
Stromlaufe hervorgerufen. 

8. Nicht minder unentschieden fällt endlich die Beantwortung der letzten Frage 


_ ee > pen 


Richtigkeit dieser Versuche anfechten, also ohne bestreiten zu wollen, dafs das rückstauende Flutwasser faktisch 
bis zur Höhe des jetzigen Dükerrohrs aufsteigt, so beweisen eben unsere chemischen Zahlen, dafs es dort in 
einem Zustande aufserordentlichster Verdünnung anlangt, die so weit geht, eine Steigerung des Chlor-Gehaltes voll- 
kommen zu verdecken. Und wenn damit natürlich jene »Möglichkeit« nicht völlig ausgeschlossen wird, so dürfte 
sie doch auf ein sehr geringes Mafs von Wahrscheinlichkeit herabgedrückt erscheinen. Will man sich Befürch- 
tungen dieser Art hingeben, so dünkt es mir deshalb recht zweifelhaft, ob man nicht die im Oberwasser von 


oben herabkommenden Keime mehr zu fürchten hat, als die aus den Sielen Hamburgs aufsteigenden! 


16 Dr. F. WIBEL, Chlor-Gehalt und Härtegrad des Elbwassers. 


aus, welche sich uns aufdrängt, nämlich der allgemeinen Frage, ob sich vielleicht die Be- 
schaffenheit des Elbwassers im Verlaufe der letzten Jahrzehnte überhaupt geändert habe. 
Hinsichtlich des Härtegrades ist bereits wiederholt (S. 9, 11 u. a.) auf die beachtenswerte 
Thatsache hingewiesen, dafs er nach den aus denselben Jahreszeiten stammenden Analysen 
heute wie vor ı2 und ı7 Jahren der gleiche geblieben zu sein scheint. Nun dürfen wir 
denselben zweifellos als den Gesamtausdruck für die sämtlichen übrigen Hauptbe- 
standteile des Elbwassers (Calcium- und Magnesium-Karbonat, Calcium-Sulfat) ansehen, und 
kämen demnach zu der Überzeugung, dafs das Elbwasser sich in seinem Hauptcharakter 
unverändert erhalten hat. Das Chlor allerdings erscheint in den älteren Analysen 
zum Teil in so niedrigen Werten 2,03—2,97, wie wir sie in der diesjährigen viermonat- 
lichen Prüfung nicht ein einziges Mal antreffen, und ebensowenig sind früher auch nur in 
einem Falle so hohe Werte gefunden worden, wie sie uns seit Mitte Juni dieses Jahres 
während 2!/s Monate begegnen. Hat also bei der Entnahme der älteren Proben ein zufälliges 
Zusammentreffen nicht gespielt, dann wird man sich auch dem Schlufs nicht entziehen können, 
dafs wirklich eine Veränderung des Elbwassers vor sich gegangen sei, welche zwar seine 
sonstigen Hauptbestandteile nicht betroffen habe, dagegen in einer erheblichen Steigerung 
der Chloride sich offenbare. Diese Folgerung würde — dies läfst sich nicht verkennen 
— mit der übrigen auf diesen Blättern gegebenen Entwickelung in einem merkwürdigen 
und erfreulichen Einklange stehen, insofern sie aufs Neue darauf hinwiese, dafs die aus 
den natürlichen Verhältnissen hervorgegangenen Bestandteile des Wassers (Erdkarbonate 
und Sulfate) ebenso unverändert geblieben seien, wie jene selbst, dafs also die Zunahme 
der andern Gruppe von Hauptbestandteilen (Chloride) auf aufsergewöhnliche »zc/? natürliche 
Ursachen durch die .Entwickelung grosser Industriezweige u. s. w. hindeute. Allein 
andererseits ist die Zahl jener älteren Analysen verhältnismässig sehr klein, um zu so 
weittragenden Folgerungen verwertet zu werden, sie selbst zeigen immerhin schon erhebliche 
Schwankungen im damaligen Chlor-Gehalte und endlich weist auch unser heutiges EIb- 
wasser noch während längerer Zeiträume (1!/» Monate in unseren Untersuchungen) 
dieselben niedrigen Werte (3—6) auf wie früher. Demgegenüber mufs dennoch wieder der 
Zweifel auftauchen, ob hier nicht Zufälligkeiten sich geltend machen, die man nicht ohne 
weiteres unberücksichtigt lassen darf. Man wird sich also bei vorsichtiger Kritik mit 
dem bescheideneren Schlusse begnügen müssen: 
Aus einem Vergleiche der diesjährigen Prüfungen mit den vorhandenen 
älteren Analysen scheint sich zu ergeben, dass das aus der Oberelbe zu uns 
gelangende Elbwasser während der letzten 12—17 Jahre sich im wesent- 
lichen gleich geblieben ist, wohl aber eine Veränderung insofern erlitten hat, 
als im allgemeinen jetzt ein sehr viel höherer Gehalt an Chloriden sur Er- 


scheinung kommt. 


Chemisch -antiquarische 
Mitteilungen. 


Von 


Dr. F. Wibel. 


1. 
Thonerdehydrophosphat (?Coeruleolactin) als pseudomorphe 
Nachbildung eines Gewebes oder Geflechtes. 


D. 
Raseneisenerz, Eisenschlacke oder oxydiertes Eisen. 


3. 
Analyse einer altmexikanischen Bronze-Axt von Atotonilco. 


Chemisch-antiquarische Mitteilungen. 


Von 
Dr. F. Wibel. 


Von dem Wunsche erfüllt, das chemische Staats-Institut nach Kräften auch ge- 
legentlichen Anforderungen von seiten anderer wissenschaftlicher Anstalten oder Be- 
strebungen unserer Stadt dienstbar zu machen, sowie in Etwas meiner Verpflichtung als 
Mitglied der hiesigen Gruppe der deutschen anthropologischen Gesellschaft gerecht zu 
werden, habe ich stets mit Freuden Veranlassung genommen, chemische Streifzüge auf das 
Gebiet der neueren Altertumskunde resp. Prähistorie auszuführen, zumal mich ein altes 
Liebesverhältnis noch immer an dasselbe knüpft. 

So habe ich es denn besonders meinen verehrten Freunden, Herrn Dr. Rauten- 
berg, dem Vorstande und Leiter unseres prähistorischen Museums, und Herrn Æ. Strebel, 
zu danken, dafs mir von Zeit zu Zeit Fundmaterialien zugetragen wurden, die bei ihrer 
Untersuchung neue Beobachtungen und Aufschlüsse gaben und deren Mitteilung deshalb 
selbst dem wissenschaftlichen Publikum nicht unerwünscht sein kann. Hiezu gehören auch 
die nachstehenden Kleinigkeiten, deren Wert ich dadurch erhöht zu sehen wünschen 
möchte, dafs man ihnen gestattete, als eine bescheidene Widmung der hiesigen anthro- 
pologischen Gesellschaft zur denkwürdigen Festfeier des so eng mit ihr verbundenen 
Naturwissenschaftlichen Vereines angesehen zu werden. 


I. 


Thonerdehydrophosphat (Coeruleolactın) 
als 


pseudomorphe Nachbildung eines Gewebes oder Geflechtes. 


Von Herrn Dr. Rautenberg wurden mir seiner Zeit kleine Fragmente einer grau- 
lich-weifsen erdigen Masse zur Beurteilung überwiesen, welche bei einer Ausgrabung 
unweit des Forsthauses Perlberg bei Friedrichsruhe im Sachsenwald gefunden waren. Sie 
regten schon dadurch eine nähere Prüfung an, dafs an ihnen stellenweise sehr deutlich 
ein Geflecht und Gewebe aus mäfsig dickem Bindfaden erkennbar wurde. Von der 
Fasersubstanz selbst war freilich nichts mehr zu isolieren, da dieselbe völlig verkohlt und 
schwarz, andererseits aber so von jener weifslichen Masse durch- und überzogen erschien, 
dafs man hier eine vollständige Mineralisierung unter lokaler Erhaltung der feinsten 
Strukturformen vor sich hatte. 

Beim Erhitzen der weifsen Masse im Röhrchen entwickelt sich viel Wasser von 
etwas alkalischer Reaktion, ohne organische Destillate (Teere, Öle) zu liefern, während 
empyreumatische Gase nicht erheblich, aber deutlich bemerkbar wurden. Die Masse 
brennt sich schwer weils. 

Selbst in verdünnter Salzsäure bei gelindem Erwärmen ohne Aufbrausen löslich, 
läfst sich die erhaltene, nicht ganz klare gelbliche Lösung auf dem Wasserbade nicht zur 
Trockene 'eindampfen, sondern es bleibt ein zäher plastischer Teig zurück, der sich über 
freiem Feuer unter Abscheidung kohliger Substanz stark aufbläht. 

Die qualitative und quantitative Analyse, welche Herr Dr. R. Rübenkamp unter 
meiner Leitung ausgeführt hat, ergab folgende Zusammensetzung der ursprünglichen, 
grau-weilsen Substanz in lufttrockenem Zustande: 


Dr. F. WIBEL, Chemisch-antiquarische Mitteilungen. 5 





Angewandt: 0,3160 grm. Unter Verrechnung auf 
| Coeruleolactin 3 AleO32Ps2O; + 10aq. 
Sand und abgeschiedene SiOz... ,... 2,21 °/o 
Phosphorsäure POs 2er 25,92 » 25,92 P:O; 
Schwefelsäure SO3..... ... Spuren 
Thonerde AOs...... 27,88 °/o 27,53 AkO; 
mit Spuren von F&O; 
Kalk COs a o at 1,93 » 
Magnesia MgO .... . . Spuren 
Differenz-Glühverlust (Wasser H:O 
4- Organ. Substanz resp. Kohle) und 
Sonstiges (Alkalien) ...... 42,06 "/o 16,53 H:O 
100,00 "/o 69,98 Coeruleolactin 
0,35 AlO; - Rest 
1,93 CaO 


2,21 SiOz und Sand 
25,53 Org. Substz. + Kohle 
+ sonst. Beimengung. 


100,00 

Eine direkte Bestimmung des Glühverlustes ergab 38,71 °/o, wobei jedoch die 
Kohle noch nicht völlig verbrannt erschien und eine Weiterführung des Versuchs durch 
einen Unfall verhindert wurde. , 

Die geringen Mengen zur Verfurung stehenden Materiales gestatteten weder die 
Feststellung des spez. Gewichts der reinen, weifsen Masse, noch eine genauere Prüfung 
über die Menge und Art der vorhandenen organischen Substanzen ‘Kohle, Huminstoffe) 
und gesonderte Wasserbestimmung zur Ausführung zu bringen. Indessen genügen auch 
das obgeschilderte Verhalten des Körpers und die Analyse vollkommen zu einer sach- 
gemäfsen und erschöpfenden Aufklärung. 

Das Verhältnis AlzOs : P2Os entspricht fast genau 3 Mol. : 2 Mol.; aus dem Verhalten 
im Röhrchen ergiebt sich ebenso, dafs aufser Kohle nur schr wenig organische Substanz 
vorhanden, mithin der Glühverlust wesentlich nur auf Rechnung der Kohle und des direkt 
beobachteten Wassers zu setzen ist. Nicht minder klar ist, dafs alle übrigen in obiger 
Analyse erscheinenden Bestandteile unwesentliche Verunreinigungen sind, die für die 
chemische Natur der Original-Substanz selbst irrelevant bleiben. Somit kann es keinem 
Zweifel unterliegen, dafs dieselbe der Hauptsache nach ein Gemenge von Kohle (aus 
der Verrottung der Gewebsfaser herrührend) und einem 'T'honerdehydrophosphat von der 
allgemeinen Form 3 AlOs 2 P2O5 + xaq. darstellt. 

Diese an sich schon interessante Thatsache eröffnet nun zwei weitere, nicht 
weniger beachtenswerte, Gesichtspunkte. 

Zunächst entsteht die Frage nach der genaueren Charakterisierung des Phosphates. 


6 Dr. F. WIBEL, Chemisch-antiquarısche Mitteilungen. 


Von den bekannten Mineralsubstanzen dieser Art können hier wegen des Molekular- 
Verhältnisses AO; : POs = 3:2 nur in Betracht kommen: 
Wavellit = 3 Al»Os 2 P2O5 + 12 ag. 


Kapnict—=.........-+ !oag. 
Planert =.........-+ 1Ioac. 
Coeruleolactin = ..... + Ioag. 


Nun ist an unserm Materiale wegen der nicht ausführbar gewesenen exakten 
Wasserbestimmung ein einfacher Entscheid mittels der Analyse zur Zeit unmöglich. 
Allein da die drei erstgenannten nur als phanero- bis subkrystallinische und fasrige Mine- 
ralien bekannt sind, so wird man der Wahrscheinlichkeit am nächsten kommen, wenn 
man unsere erdige Masse mit dem 1871 von Dr. 7%. Petersen zuerst beschriebenen 
Coeruleolactin von Katzenellnbogen, Nassau, identifiziert, welches »krypto- bis mikrokry- 
stallinisch« gefunden wurde. 

Zwar hat dasselbe nach der Originalabhandlung*) eine Härte = 5 und erscheint 
in kompakten Schnüren und Adern mit stellenweise traubig nierenförmigen Ausbildungen; 
demgegenüber ist aber die ganz verschiedene Bildungsweise im grofsen geochemischen 
Prozesse statt unserer lokalen Entstehung wohl zu berücksichtigen. Ebensowenig kann 
die örtliche Blaufärbung der an sich matten und milchweifsen Grundmasse (daher der 
Name!) von ausschlaggebender Bedeutung sein, da sie, wie auch die Analyse zeigt, 
sicherlich von etwas beigemengtem Kupferphosphat herrührt. Andererseits stimmt so 
vieles im Gesamt-Charakter und Verhalten überein und die Analyse zeigt, abgesehen von 
Spuren anderer Stoffe, so überraschende Ähnlichkeiten mit unserer Substanz in den 
kleinen Mengen Kicselsäure und Kalk, dafs man dem obigen Wahrscheinlichkeitsschlufs 
unbedenklich zustimmen wird. Hiervon ausgehend habe ich der mitgeteilten Analyse 
eine darauf beruhende Verrechnung auf Coeruleolactin gegenübergestellt, woraus sich 
dann als Schlufsresultat für unsere Masse ergiebt, dafs dieselbe aus 25,5 °/o kohligen Sub- 
stanzen und 74,5 °/o unreinen Coeruleolactins besteht. 

Die zweite Besprechung wird durch die berechtigte Frage eingeleitet, wie in 
aller Welt diescs seltsame und spärlich auftretende Thonerdehydrophosphat denn nun an 
das Bindfadengewcbe kommt. Dafs die alten Verfertiger desselben nicht in die Lage 
gekommen sind, dasselbe mit Coeruleolactin zu dichten bez. zu bestreichen, wird jeder 
schon aus jenen mineralogischen Gründen zugcben. Dazu kommt noch der weitere Um- 
stand, dafs die getreue - Pseudomorphosierung des Fadens sowohl die sekundäre Ent- 
stehung des Phosphates als auch den innigen zeitlichen Zusammenhang mit der Ver- 
rottung der Faser bekundet. Mir erscheint hier nur eine Erklärung zulässig und denkbar. 
Das fragliche aus Flechtwerk bestehende Artefakt ist aus irgend welchen Gründen mit 
gewöhnlichem Thon (wasserhalt. Aluminium-Silicat) ausgestrichen (gedichtet) gewesen, 
ein Verfahren, dem wir bei vielen Naturvölkern begegnen. Als nun dasselbe den Toten 
beigegeben worden war, ist allmählich gelöste Knochensubstanz, also wesentlich Kalk- 








*) Th. Petersen, N. Jahrb. f. Min. Jahrg. 1871, pg. 353 ff. 


Dr. F. WIBEL, Chemisch-antiquarische Mitteilungen. 7 


phosphat,*) an den Thon herangetreten, es hat sich ein langsamer Wechselaustausch 
eingeleitet, infolgedessen Thonerdephosphat entstand und Kalksilicat in Lösung fort- 
geführt wurde, während gleichzeitig der Verkohlungsprozefs der Fasersubstanz sich ein- 
leitete und nun an die Stelle der schwindenden organischen Teilchen das neugebildete 
Mineral trat. Sol ich auf Stützpunkte für diese Erklärung hindeuten, so finde ich die- 
selben in sehr sprechender Zeugenschaft in dem Auftreten der kleinen Mengen von 
Kieselsäure einerseits und von Kalk andererseits, sei es nun, dafs man dieselben als letzte 
Überbleibsel des ursprünglichen Thones und des zugeführten Kalkphosphates ansieht, sei 
es, dafs man darin einen Rest der durch die erdige Masse zurückgehaltenen neugebildeten 
Kalksilicat-Lösung erkennt. So gelange ich denn in der That zu der Meinung, in unserem 
Fundstück liege eine recht instruktive hübsche Umwandlungs-Pseudomorphose von Coeruleo- 
lactin nach einem mit Thon imprägnierten Fadengeflechte oder Gewebe vor, deren 
Entstehung man sich deutlich zu veranschaulichen vermag. 

Belehrend dürfte sie vielleicht auch noch insofern sein, als man dann rückwärts 
die Möglichkeit erwägt, ob nicht der natürliche Coeruleolactin mutatis mutandis einem 
ebensolchen Entstehungsprozefs aus der Wechselwirkung von Kalkphosphat auf Aluminium- 
silicate sein Dasein verdankt. Wenn man aus der Z/e/ersenschen Abhandlung die innige 
Beziehung zu Kieselschiefer entnimmt, die Gegenwart von Phosphoritlagern im Kontakt 
mit dem Kieselschiefer der dortigen Gegend erfährt und sich dann wieder der auch im 
natürlichen Coeruleolactin in ganz ähnlicher Weise auftretenden kleinen Mengen Kiesel- 
säure und Kalk erinnert, so dürfte jene Möglichkeit wohl einen nicht zu unterschätzenden 
Grad von Wahrscheinlichkeit gewinnen. Damit wäre auch eine kleine geochemische 
Nebenfrucht aus unseren Betrachtungen entsprossen | 

Umwandlungen ähnlicher Art an prähistorischen Artefakten sind mir nicht be- 
kannt geworden. Dagegen will ich nicht unterlassen, auf die interessante Beobachtung 
von Ölshausen*) ausdrücklich aufmerksam zu machen, dafs unter Umständen Knochen 
aus Gräbern einen Teil ihres Kalkes durch Thonerde ersetzt zeigen. Es hat hier die 
analoge Neubildung eines Thonerdephosphates stattgefunden, allerdings auf einem ent- 
gegengesetzten Wege, insofern die Lösung eines Thonerde-Salzes (Sulfat) an das Kalk- 
phosphat der Knochen herantrat und letzteres unter Fortführung des Kalksulfats in 
Thonerdephosphat pseudomorphosierte. 


*) Dafs dasselbe in den Kohlensäure und andere Salze führenden Gewässern löslich ist, ist all- 
gemein bekannt. 
*) Olskausen, Verhandl. Berlin. Anthrop. Gesellsch. 1884. pg. 516 ff. 


2. Raseneisenerz, Eısenschlacke oder Oxydıertes Eisen. 


Unter manchen anderen mir von Herrn Dr. Aaztenberg zur Prüfung vorgelegten 
Fundgegenständen befand sich auch cin faustgrosses Stück einer bei Dargteheide (Holstein) ge- 
fundenen braunen Eisen-Masse, von welcher ich angeben sollte, ob dieselbe vielleicht eine 
Eisen-Schlacke sei. Das Stück zeigte eine stark blasige Textur, selbst die Zwischenräume der 
Blasen nicht immer ganz dicht und kompakt, in seiner äufseren Form eine traubige, stellen- 
weise schlackig geflossene Glaskopf-Struktur und war dabei so schwer, dafs ich nach meinen 
zahlreichen, gerade in unseren Gegenden so leicht zu machenden Erfahrungen gar nicht 
zweifelte, es mit einer jener Raseneisenerz-Konkretionen zu thun zu haben, welche Laien 
so oft für Schlacken zu halten geneigt sind. Das Erscheinen von Holzkohleneinschlüssen 
in den Blasenräumen konnte einen stichhaltigen Einwand gegen dieses Urteil nicht be- 
gründen, — wenngleich es immerhin beachtenswert war, — und da eine quantitative 
Probe die Gegenwart erheblicher Mengen von Phosphorsäure, dagegen die Abwesenheit 
gröfserer CQJuantitäten von durch Säure zersetzbaren Silicaten und von Sulfiden nachwies, 
so konnte ein Zweifel an der Rasenerz-Natur des Stückes kaum aufkommen. 

Ein diesen Erwägungen ganz fernliegender Gesichtspunkt veranlafste die Wieder- 
aufnahme der Untersuchung. Es lag mir nämlich daran, einmal die meines Erachtens 
bislang zu wenig berücksichtigte, ursprünglich meines Wissens zuerst von C. H. Pfaff 
angeregte Frage experimentell zu prüfen, ob und wie viel Eisenoxydul etwa in den Rasen- 
erzen aufträte, da nach dem ganzen Bildungsprozesse derselben sehr wohl auch partielle 
Reduktionsprodukte erwartet werden können. Sollte derselbe doch nach der Meinung 
mancher Forscher sogar bis zur Entstehung tellurischen Eisens sich steigern! Als nun 
die Permanganat-Probe thatsächlich die Gegenwart oxydierbarer Stoffe in beträchtlicher 
Menge ergab, während nach dem Verhalten im Röhrchen nur sehr wenig an organischer 
Substanz gegenwärtig war, so erschien eine genauere Gesamtanalyse unerläfslich. Die- 
selbe hat alsdann Herr Dr. Loock nach meinen Anweisungen ausgeführt und dabei folgende 
Resultate erhalten: 

Das spezifische Gewicht der ausgesuchten möglichst kompakten Stücke betrug 
bei 17°C. = 2,233. 

Im Röhrchen giebt sich nur wenig Wasser und noch weniger organische Substanz 
zu erkennen und die Behandlung des Pulvers mit Alkalien zeigte die Abwesenheit von 


Dr. F. WIBET, Chemisch-antiquarische Mitteilungen. 9 


Huminsäuren und dergleichen. Das Verhalten gegen Salzsäure resp. Salpetersäure und 
die weiteren qualitativen Proben offenbarten die Anwesenheit von Phosphorsäure und 
geringer Mengen Mangans, dagegen die Abwesenheit von SiO: resp. aufschliefsbaren 
Silikaten, Sulfiden (H:S), SOs3, CO2 und CaO. Die quantitative Analyse, nach den üb- 
lichen Methoden vollzogen, führte zu nachstehenden Zahlen, wobei nur darauf hinzu- 
weisen ist, dafs die mittels Permanganat-Titration bestimmte FeO-Menge um etwas zu hoch 
und die Fe»OÖ;-Zahl entsprechend um etwas zu gering erscheinen dürften, weil ja die 
wenn auch unbedeutenden Mengen organ. Substanz sich bei jener geltend machen. Ebenso 
ist die durch direkte Beftimmung des Wassers (im Chlorkalcium-Rohr) gefundene Zahl 
etwas zu hoch, also die Differenz = Organ. Substanz etwas zu niedrig, weil an jener auch 
die durch die Zersetzung der letzteren gebildete Wassermenge partizipiert. Endlich be- 
darf es der Erwähnung, dafs in der Originalsubstanz 15,33°/o Unlösliches gefunden wurden, 
die fast ausschliefslich aus feinkörnigem Sand mit einer nur sehr geringen Menge un- 
löslich gewordenen F&Os bestanden, und dafs dieses Unlösliche bei nachstehender 
Analyse vorweg in Abzug gebracht ist. 

Raseneisenerz aus der Nähe von 


Fracliche Masse von Zarfwresahl bei Bareteherde € en 
= $ Š Schleswig (2. Variet.) 














REE Analysiert von C. H. Pfaff. |1819]*) 
Spez. Gewicht b. 17° C. = 4,233 Spez. Gewicht v. No. 1. = 4,021. 
Angewandt für die Hauptanalyse 9,716 grm. lufttrocken. Angewandt: 5 grm. lufttrocken. 
Nach Abzug von 15,33 °/o Unlöslichem (Sand). | No. r. ' 
q b No: neu berech-' 
mit FeO FeO = Feverrechnet. a | u Be: No. 2. 
ER ” _ 5 | (5. unten) 
FeO: 77,04 a EEEE P: ' | 
FeO 10,90 Fe=2833 e a AR 71,04| 81,49 | 79,40 
MnO; 0,16 OOo E a 6,00 | 6,88 3,60 
P205 7,78 TID ee er OOA 702 4,18 
H:O (direkt) 2,57 BIST. 2 we er a ar OAOT AO 0,10 
Differenz — 4,12 | 
Organ. Subst. 1,55 BOT 2 ee re O 0) ı © 
100.00 100,00 100° 
SiO2 14,44 11,50 
Al2O; 0,80 | | 4.34 
99,32 | | 103,12 





*) C. /7. Pfaff, Schweigg. Journ. XXVII. (1819) p. 79 M. Eine Nachrechnung der Analyse No. I. nach den 
von faf selbst gegebenen Einzeldaten ergiebt einen Hauptfehler für FeO (72,94 statt 71,04), weshalb auch im 
Original die Summe 101,18 statt der richtigen 99,32 erscheint. Für No. 2, ist eine Neuberechnung wegen der 
fehlenden Einzeldaten nicht möglich; wohl aber ist die Summierung nicht ganz richtig (103,04 statt 103,12). In 
Rammelsberg, Mineralchem. (1860) p. 154 sind nicht nur die Fehler des Originals wiedergegeben, sondern aufser- 
dem auch das Eisen als Fe2O3 angeführt, was nach den Angaben Zaff s absolut unmöglich ist. Auch Z. Senjt, 
Die Humus-, Torf- und Limonitbildungen, Leipzig 1862. p. 174 giebt nur die Aumme/sbersschen Auszüge wieder, 


obschon er auf die Originalabhandlung verweist. 


IO Dr. F. WIBEL, Chemisch-antiquarische Mitteilungen. 


Die Zwischenfrage wegen des Kisenoxydul-Gehaltes der Rasenerze vorläufig nicht 
weiter betonend, da es nicht meine Absicht sein kann, an dieser Stelle die Zusammen- 
setzung und Entstchungsweise dieser viclbehandelten Neubildungen zu erörtern, sei viel- 
mehr die ursprüngliche llauptfragc wieder aufgenommen und dahin erweitert, ob gegen- 
über dem Ausfall dieser genaueren Analyse der dort gegebene Entscheid über die Natur 
der fraglichen Masse aufrecht zu erhalten ist. 

Dafs an eime »Kisenschlackex im gewöhnlichen Sinne (Roh- oder Frischschlacke) 
hier nicht gedacht werden kann, bedarf allerdings keines weiteren Beweises; das Fehlen 
der Silicate, des Kalkes, der Sulfide etc. ist mafsgebend. 

Andererseits zeigen sich aber auch bezüglich ihrer Deutung als Rasencisenerz er- 
hebliche Bedenken, welche durchaus zu einer eingehenden kritischen Erwägung verpflichten. 

Überblickt man nämlich die zahlreichen vorliegenden Analysen von Raseneisenerz 
(Wicsen-, Sumpferz, I.imonit u. s. w.) z. B. in der von Senft a. a. O. gegebenen Zusammen- 
stellung, so müssen an unserer Masse auffallig erscheinen: das hohe spez. Gewicht (4,233 \, 
die geringe Menge Wasser, obschon die Analyse sich auf lufttrockene Substanz bezieht. 
also alles hygroskopische Wasser mitenthält, der sehr niedrige Gehalt an organischen Sub- 
stanzen und das gänzliche Fehlen von Kieselsäure und Huminstoffen. Dennoch aber gibt 
eine nähere Betrachtung derselben Übersicht alsbald den Aufschluss, dafs man jenem all- 
gemeinen Eindruck eine entscheidende Bedeutung beizulegen nicht berechtigt ist. Nicht 
nur findet man Rasenerze, welche, wenn auch nicht an einem und demselben Stücke, so 
doch in verschiedenen Vorkommnissen, den obigen Ausnahmezuständen sich nähern oder 
gar gleichkommen, sondern man trifft sogar solche, welche den vermeintlich charakteri- 
stischsten Bestandteil, die Phosphorsäure, nur in sehr geringen Mengen oder gar nicht 
führen. Kurz es zeigt sich eine so variable Zusammensetzung, dafs man deren Ver- 
wendbarkeit zu einem entscheidenden Richterspruche verneinen mufs. Unter allen mir be- 
kannt gewordenen Rasenerz- Analysen stimmen die schon 1819 von C. H. Pfaff ausge- 
führten von Erzen aus der Nähe von Schleswig alleine, aber auch merkwürdig mit der unsrigen 
überein, sofern wir uns an die schon von ihm wohl unterschiedenen » Abänderungen« No. 
ı und 2 halten, und habe ich es mir deshalb auch nicht versagen können, dieselben der 
obigen Analyse unsrer Masse gegenüberzustellen. Hierzu kommt noch, dafs die Beschreibung 
der äufseren Eigenschaften durch faf, namentlich seiner No. 2, aufserordentlich mit der- 
jenigen unserer fraglichen Masse gleich lautet. Allerdings mufs man zur vollen Erkennt- 
nis der Ähnlichkeit in der chemischen Zusammensctzung sich der ganz anderen analy- 
tischen Methoden und ihrer Fehlerquellen bewufst werden, deren sich Zaf bedient hat. 
Hier seien nur die hervortretendsten, einer Korrektur bedürftig erscheinenden Bestimmungen 
hervorgehoben. Die SiO: ist von ihm aus der mit Alkali im Silbertiegel geschmolzenen 
Masse derartig bestimmt, dafs er cinmal einen in H:O unlöslichen Rückstand (0,034 auf 
5 grm. Originalsubstanz) und zweitens die (nach vorheriger Fällung der AkO; durch Essig- 
säure) mit HC] erhaltene Ausfällung aus der H»O-Lösung (0,688 grm. auf 5grm. Subst.) 
als SiO: charakterisiert fand und mit dem Gesamtgewicht = 0.722 grm. in Rechnung 
brachte. Offenbar fällt hier jede Unterscheidungsmoöglichkeit von Sand und Silicat -Sı O; 


Dr. F. WIBEL, Chemisch-antiquarische Mitteilungen. II 


fort, und da nun gerade Sand überall, speziell auch bei unserer fraglichen Masse, in er- 
heblichem Grade in derartigen Bildungen erscheint, so dürfte es durchaus zulässig sein, 
hier von einer Berücksichtigung dieser Bestandteile abzusehen. In gleicher Weise verliert 
die Zfaffsche Wasserbestimmung bei näherer Erörterung durchaus das erforderliche Ver- 
trauen. Dieselbe ist ausgeführt in einer Retorte mit 10 grm. Substanz durch Bestimmung 
des Glühverlustes, ohne dafs über die Verdrängung der darin enthaltenen Luft irgend 
etwas gesagt wird. Somit mufs also gleichzeitig eine Oxydation des FeO, wenn auch 
nur eine ganz unvollkommene, stattgefunden haben, die mit einer Gewichtszunahme ver- 
bunden den beobachteten Gewichtsverlust nur als Differenz zweier Vorgänge, und daher 
unbrauchbar erscheinen läfst. In der That bieten uns //affs anderweitige Feststellungen 
einen viel besseren Anhalt zur indirekten Bestimmung des Gehaltes an IO resp. von 
organ. Substanz, von welch’ letzterer übrigens //aff nichts beobachtet hat. Er bestimmt 
nämlich die Gewichtszunahme von 2,5 grm. der Masse = 0,110 grm. also entspr. 0,220 
auf 5 grm., und da nun die gefundenen 3,552 grm. FeO 0,395 grm. O erfordern würden, 
so veranschaulicht die Differenz 0,395—0,220 =: 0,175 grm. den H»O-Gehalt in 5 grm. 
Ob und in wieweit die Zahlen für Mn2Os und Alz:Os mehr Vertrauen beanspruchen 
dürfen, mag als weniger wichtig hier unbesprochen bleiben. Soviel aber erhellt deutlich, 
dafs eine nach diesen Gesichtspunkten ausgeführte Neuberechnung der Pfafschen Ana- 
lyse für No. ı die oberwähnte Übereinstimmung mit unserer Masse sofort und so über- 
zeugend in die Augen springen läfst, dafs ich sie der obigen Zusammenstellung eingefügt 
habe und hier auf eine weitere ÄAuseinandersetzung verzichten kann. 

Nun sind aber die /faffschen Erze No. ı und 2 nach der ganzen Beschreibung 
ihres Vorkommens und Auftretens zunächst so wenig als »\Wicsenerz« zu beanstanden, 
dafs man also auch unsere bisherige Deutung der so nahe verwandten Masse als Rasen- 
eisenerz dadurch völlig sichergestellt erachten möchte. 

Immerhin aber liefs mich die merkwürdige Ausnahmestellung unserer Masse 
(nebst den P/afschen No. ı und 2) noch von Zweifeln erfüllt, welche einerseits durch 
den nicht ganz klaren und bündigen Bericht faf s über die Fundverhältnisse seiner 
Stücke, andererseits durch die Eingangs erwähnten Einschlüsse der relativ grofsen Holz- 
kohlenfragmente verstärkt wurden. So entwickelte sich allmählich der Gedanke an die 
Möglichkeit, dafs derartige Massen ja auch aus einer Oxydation von unreinem Spez. 
phosphorhaltigem Roheisen hervorschen könnten, und daher auch diese Eventualität erst 
einer Prüfung zu unterziehen sei. Und diese Prüfung ward mit einem schnellen und aus- 
schlaggebenden Erfolg belohnt! Denn nicht nur zeigte unsere Masse einen deutlich wahr- 
nehmbaren Magnetismus, sondern vor allem auch beim Zerreiben und Abschlämmen zwar 
nicht sehr zahlreiche, aber sehr schöne, weifsliche, metallglänzende, schwerzerreibliche 
magnetische Flitter, die sich als wezallisches Itsen sofort bestimmen liefsen. *) 


*) Dieser Wahrnehmung entsprechend ist oben eine zweite Verrechnung unserer Analyse unter b ein- 
geschaltet, wonach sich ca. S'/2 "/o metallischen Eisens in der Masse befinden, Dafs diese Zahl nicht ganz zu- 


verlässig, bedarf keiner besonderen Bemerkung. 


12 Dr. F. WIBEL, Chemisch antiquarische Mitteilungen. 


Somit erwuchs durch diese Beobachtung mit einem Male eine ganz neue Auf- 
fassung für unsere Masse —- vorausgesetzt, dafs das Auftreten der kleinen Partikeln 
metallischen Eisens keine andere Erklärung zuläfst, als die angedeutete, d. h. als letzter 
nicht oxydierter Rest eines ehemaligen Metallklumpens. Dem ist nun freilich nicht so 
ohne weiteres zuzustimmen; denn wenn auch alle Vermutungen auf meteorischen Ursprung 
gewils vorweg zurückgewiesen werden dürften, so bleiben die bereits in der Litteratur 
mehrfach niedergelegten Beobachtungen sogen. tellurischen Eisens mit um so gröfserem 
Rechte hier ‘diskutabel, als ja dasselbe nach der Ansicht aller Beobachter aus einem 
sekundären Reduktionsprozesse von Eisen Verbindungen hervorgegangen scin soll und 
ein solcher gerade bei Rasencerzen sehr wohl denkbar wäre. Ohne übrigens auf die viel 
umstrittene Frage über die wirkliche Existenz tellurischen Eisens hier weiter eingehen 
zu wollen, mufs ich doch des mit unserer Masse am meisten und ın der That erstaunlich 
übereinstimmenden einzigen derartigen Falles etwas näher gedenken. Es ist dies das 
von F. F. Bahr gefundene und beschriebene Vorkommen »in einem Stücke sogen. ver- 
steinerten Holzes vom Ansehen des Sumpferzes von einer schwimmenden Insel im Ra- 
langer See bei Katharinenholm, Smäland,« wo es sin der noch deutlich organische 
Struktur zeigenden Masse in Form von kleinen Körnern, Blättchen und als Staub, ge- 
mengt mit Eisenoxydhydrat und organischen Teilen» auftrat.*) Stande also dieses Stück 
in dieser Deutung unbestritten da, so würde wohl auch für unsere Masse cine gleiche 
Auffassung (Raseneisenerz mit durch Reduktion gebildetem tellurischen Eisen) endgültig 
festgestellt sein. Allein auch dieses Vorkommen wird von Z.M. Stapff,**) welcher sich 
eingchendst mit der Entstehung der Sceerze beschäftigt und das Zaskrsche Fundstück 
sclbst besichtigt hat, in jener Hinsicht für »fraglich- erklart und von ihm unter Ver- 
weisung auf ähnliche anderweitige Beobachtungen für »wahrscheinlicher« gehalten, dafs 
es »Roheisen ist, das im Hochofen ein Stück Holzkohle durchdrungen und deren Gefüge 
angenommen hat.« 

Mit diesem Hinfalle des einzigen bisher bekannten, wirklich analogen Beispieles 
wird man jetzt wieder zu der anderen Deutung unserer Masse, als der wahrscheinlichsten 
zurückkehren, dafs sie nämlich eine durch lange Lagerung in feuchtem Grunde o.xydierte 
Roheisenmasse, eine sogen, alte Tüttensau, also ein Kunstprodukt, darstellt. Alsdann 
rührt die Phosphorsaure eben von dem Phosphor-Gehalte des Roheisens her und ist zu- 
gleich ein Kennzeichen dafür, dafs die alten Eisenhüttenleute sehr phosphorreiche Eisen- 
erze, höchst wahrscheinlich eben gerade Rascneisenerze, zur Schmelzung verwandten. 
Verrechnet man die obige Analyse nach diesen Gesichtspunkten, so würde unter Ver- 
nachlässigung der sonstigen Beimengungen dieses alte Roheisen eine Konstitution ge- 
habt haben: 


*) 7. F. Bahr, Journ. prakt. Chem. Bd. LIV. (1851) p. 194. G. Bischof, Chem. Geologie III. (1866) 
p. 865. 7. Koth, Allg. u. Chem. Geologie. Bd. I. (1879) p. 602. 
##) 7, M. Stapf, Zeitschr. deutsch. geolog. Ges. XVII. (1866) p. S6 ff. spez. p. 130. 


Dr. F. WIBEL, Chemisch-antiquarische Mitteilungen. 13 





Ursprüngl. Roheisen Roheisen aus Graues Roheisen 
unserer Masse Wiesenerzen aus Wicsenerz zu Helbo 
nach Karsten *) in Helsingland**) 
A ETE 94,8 o/o -— — 
P a Da Max. .. 5.6" 6,37 "/o 
100,0 "/u 


Dafs dieser Phosphor-Gehalt gerade den aus solchen Erzen erschmolzenen Roh- 
eisen-Sorten entspricht, bezeugen die beivcfügten beiden Belege in schönster Weise. 

Auch die speziellen Fundverhältnissce unseres Stückes vereinigen sich mit diesem 
Ergebnisse sehr gut, da dasselbe nicht etwa aus einem Kinzelfunde herrührt, sondern 
einer gröfseren Partie ähnlicher Stücke entnommen ist, die zur Wegeaufbesserung be- 
stimmt am Wegrande aufgestapelt, aber aus kleinen Anhäufungen im Gehölze westlich 
von Hartwzgsahl zusammengetragen war. Bei dem benachbarten Duvenstedt sollen ähn- 
liche kleine Schlackenhügel vorkommen. 

Bevor ich die so nach allen Richtungen der Kritik unterworfene Beweisführung 
abschliefse, bedürfen noch die beiden oben eingehend besprochenen Zfaffschen Rascnerz- 
Varietäten einer abermaligen kurzen Betrachtung. Denn da sie in jeder Hinsicht mit 
unserer Masse eine zweifellos grofse Ähnlichkeit besitzen und andererseits ebenso eine 
Ausnahmestellung unter den bekannten und analysierten Rasenerzen einnehmen, so würden 
dieselben in Verfolg der für unsere Masse gewonnenen Anschauung die Zweifelfrage 
erwecken, ob am Ende auch sie gar nicht wirklich unter jene Erze gehören, sondern 
ebenfalls Kunstprodukte sind. Hierin würde uns eine bisher absichtlich noch nicht her- 
vorgehobene Thatsache zu bestärken voll geeignet sein, /’/aff erwähnt nämlich (a.a. O. 
pg. 85) ausdrücklich, die »starke Wirkung auf die Magnetnadel,« und da seine Analysen 
wie seine Beurteilung die Gegenwart von Eisenoxyd neben Oxydul, also Magneteisen, 
ausschliefsen, so würde dieselbe schlechterdings nur durch die Anwesenheit wezallischen 
Eisens in den Stücken erklärbar sein, dessen Nachweis natürlich faf einfach entging. 
Damit aber wäre ihre Verwandtschaft mit unserer Masse eine noch weit innigere und 
man selbst förmlich gezwungen, jene Frage bejahend zu beantworten und auch sie als 
Kunstprodukte anzusehen. Sollte aber eine erneute Prüfung der Rasenerz-Lagerstätten 
bei Schleswig zu wiederholten Funden der Zfafschen Varietäten No. ı und 2 unter 
solchen Verhältnissen und in solchem Umfange führen, dafs man an deren natürlicher 
Bildung und Charakter als Rasenerz nicht zweifeln kann, und sollte dann zugleich die 
eingehende Analyse an ihnen oder Erzen anderer Lokalitäten den thatsächlichen Gehalt 
an metallischem Eisen feststellen, dann würde zwar unsere ganze Deduktion für unsere 
Masse wieder in nichts zerfallen, aber aus diesem Zerfall ein neues Leben insofern er- 
blühen, als man dann die zweifellosen Beweise für das so interessante Auftreten tellu- 





®) Kammelsberg, Lehrb. chem. Metallurgie. 2. A. (1865) p. HII. 
A Ausprall-Stohmann, Techn. Chemie, 2. A. Bd. II. (1866) p. 237 sub 20. 


14 Dr. F. WIBEL, Chemisch-antiquarische Mitteilungen. 


rischen Eisens in einfachen und zahlreichen Vorkommnissen erlangt hätte. Die Wieder- 
aufnahme jener Prüfung sei daher den Geologen und Chemikern empfohlen! 

Die Ergebnisse der vorstehenden Untersuchungen lassen sich kurz dahin zusammen- 
stellen: 

1) Die mir zur Prüfung vorgelegte, äufserlich einem Raseneisenerze sehr ähnliche 
fragliche Masse ist mit gröfster Wahrscheinlichkeit kein solches und auch keine 
Eisenschlacke, sondern eine oxydierte Hüttensau von phosphorreichem Roheisen. 

2) Sie ist also ein Kunstprodukt und besitzt demnach das antiquarische Interesse, 
einen Fingerzeig fur eine lokale alte Eisengewinnung zu bieten, gerade weil die- 
selbe auf der Verwendung von Rasenerzen der Niederungen beruht. 

3) Es wird demnach in Zukunft die Beurteilung ähnlicher Fundstücke mit äufserster 
Vorsicht zu geschehen haben, um nicht dieser Zeugnisse einer früheren Kultur 
unter der einfachen Maske der Raseneisenerze verlustig zu gehen, und es wird die 
jedesmalige Prüfung der letzteren auf metallisches Eisen (Schlämmprobe) die 
erste Stelle einzunchnten haben. 

4) Auch die von faf untersuchten und als Wiesenerz No. I und 2 beschricbenen 
Stücke aus der Nähe von Schleswig scheinen derartige Kunstprodukte zu sein. 
Sollte dies durch erneute. Untersuchungen widerlegt werden, so würde die ganz 
neue Frage entstehen, ob nicht in den echten Raseneisenerzen das Vorkommen 
metallischen Eisens viel verbreiteter ist, als man bisher geglaubt hat. Damit wäre 
dann die Existenz des »tellurischen« Eisens allen Meinungsverschicdenheiten ent- 
rückt. 


3, Analyse einer altmexıkanıschen Bronze- Axt von 
Atotonilco. 


Aus der bekannten vortrefflichen S/reör/schen Sammlung mexikanischer Alter- 
tümer, welche inzwischen in den Besitz des Museums für Völkerkunde in Berlin über- 
gegangen ist, wurde mir seiner Zeit von dem Besitzer eine Bronze-Axt zur Verfügung 
gestellt, um deren chemische Analyse auszuführen. Ich nahm dieses Anerbieten um so 
freudiger an und mache von deù Ergebnissen der Untersuchung hier um so unbedenk- 
licher Mitteilung, als wir bekanntlich über die Kupfer- resp. Bronze- Artefacte der alten 
mexikanischen Kultur nicht gerade viele zuverlässige Analysen besitzen. 

Das betreffende Stück (alte Katalogsnummer 406) entstammt einem Funde von 
Atotonilco an der Grenze der Staaten Puebla und Veracruz, zeigt die einfachste Form der 
‚Äxte und bietet in seinen äufseren löigenschaften (Farbe, Glanz, Härte) allerdings mehr 
den Kupfer- als den Bronze-Charakter, wiewohl auch ersterer keineswegs entscheidend 
klar hervortritt und weshalb gerade eine Analyse doppelt wünschenswert wurde. 

Als Material dienten Bohrspähne, welche mit einem kleinen Bohrer auf der Dreh- 
bank unter Vermeidung aller Schmiermittel aus der Schmalseite entnommen waren, also 
nicht nur von der Oberflache, sondern auch aus dem Kerne des Stückes herrührten. 

Die Analyse selbst ist nach den von mir gegebenen Gesichtspunkten von Herrn 
Dr. Ad. Engelbrecht, Assistenten am hiesigen Chemischen Staats-Laboratorium, ausgeführt. 
Hinsichtlich der Methode bedarf es nur der Bemerkung, dafs die Originalsubstanz durch 
Maceration mit kalter HNO; zersetzt wurde, — ein Verfahren, welches ich nach vielen 
Erfahrungen dem Arbeiten mit heifser Säure vorziehe —, dafs die so gewonnene rohe 
SnO: durch Auskochen mit HNO; gereinigt, ebenso die Säure Lösung durch Kochen 
auf etwaiges SnO geprüft und endlich alle unlöslich gebliebene SnO» durch das besondere 
Aufschliefsungsverfahren mit Schwefel und kohlensaurem Natron auf seine Reinheit unter- 
sucht wurde. In der That wurden bei letzterem kleine Beimengungen von Antimon, 
Wismuth und Eisen festgestellt, während die nach gewöhnlichen Methoden vollzogene 
Analyse der salpetersauren Lösung gerade von allen diesen Stoffen nichts’und auch kein 
Silber, Zink, Schwefel u. s. w., sondern neben Kupfer nur Blei enthielt. Die Mengen 
des Antimons und Wismuths waren so gering, dafs ersteres nur durch einen geringen 
Beschlag, letzteres nur durch die Schwefel-Jodkalium-Probe auf Kohle zur Erkennung 
kamen und auch diejenigen des Bleis und Eisens entzogen sich einer quantitativen Fest- 
stellung, obschon mit mehr als 2 grm. Material gearbeitet worden war. Die Analyse ge- 
staltet sich in übersichtlicher Zusammenstellung: 


Date Due 


Angewa 
Gefundk 


















geringe Spur 
geringe Spur 


Diese A 
indes mit Rücksi 
Kultur der altme 
andeuten will. 


r Diskussion, welche ich 
hsene Litteratur über die 
rfügbaren Raum nur kurz 
b an Zinn, welcher gegen- 
rakter des Stückes doch 
felfrage entstehen können, 
ıt vielleicht an einen den 


Der erst 
über es immerhi 
schon bemerkbar 
ob hier denn üb— 
Verfertigern sell Kupferroherze gedacht 
werden müsse. 


scheid zu bringe" 


3jeobachtungen einen Ent- 


‚sierungen nicht so garz 


exceptionelle sin e Bronzemeifsel aus dem 


Nationalmuseum was über 2°/o Zinn, also 
genau dieselben 
bestandteile dort 


Der zwe 


len, während als Neben- 


ischem Standpunkte aus 
nicht uninteressaı nbestandteilen. Entweder 


kann dieselbe n—- 


= sprünglichen Erze, sei es 
en | Fe m das thatsächliche Auf- 
treten von Blei, Antimon und Wismuth in einem gewissen, wenn auch nicht absolut ent- 
scheidenden Grade Bedenken erregen würde. Oder aber man hat an dem wahrschein- 
licheren Ursprunge dieser letzteren Nebenbestandteile aus der Verwendung kiesiger Erze 
bei der Metallgewinnung festzuhalten, alsdann mufs sowohl deren äufserst geringe Menge 
als namentlich das gänzliche Fehlen des Schwefels auffallen, welches nur durch eine ganz 
überraschende Entwickelung in der hüttenmännischen Kenntnis jener alten Völkerschaften 


unserem Verständnifse erschlossen zu werden vermöchte. 


Gediegen- Kupfer, 


Auch über diese zweite aus unserer Analyse gezogene Schlufsfolgerung und ihre 
Deutung werden erst die Ergebnisse weiterer umfassender Forschungen Klarheit und Ent- 


scheidung zu beschaffen imstandesein. ar 





5 Rich. Andree, Die Metalle bei den Naturvölkern. Leipz. 1884 p. 150. Wenn hier im Texte gesagt wird, 
sdice Anwesenheit des letzteren Metalles (nämlich Zink) lässt das Alter des Instrumentes zweifelhaft erscheinen,« 
so ist dies durchaus unberechtigt ; denn da es sich ja gemäfs der mitgeteilten quantitativen Analyse nur um 
Spuren von Zink handeln kann, so ist deren Ursprung aus den Roherzen selbstverständlich, nicht aber die An- 
nahme eines absichtlichen Zusatzes statthaft, wodurch allein jener Zweifel erwachsen könnte, š 






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