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ABHANDLUNGEN
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KÖNIGLICHEN GESELLSCHAFT DER WISSENSCHAFTEN
ZU GÖTTINGEN.
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ZWÖLFTER BAND
VON DEN JAHREN 1864 BIS 1866.
MIT EINER TAFEL.
GÖTTINGEN,
IN DER DIETERICH8CHB» BUCHHANDLUNG.
1866.
Vorrede.
Der vorliegende zwölfte Band der Schriften der Königlichen
Gesellschaft der Wissenschaften zu Göttingen enthält die Ab-
handlungen, welche von ihren Mitgliedern und Assessoren in
den Jahren 1864 und 1865 und in der ersten Hälfte von 1866
in den Sitzungen der Societät theils vorgelesen, theils derselben
vorgelegt worden sind. Auszüge daraus, so wie die kleineren
der Societät mitgetheilten Abhandlungen, sind in den „Nachrich-
ten von der K. Gesellschaft der Wissenschaften und der G.-A.-
Universität" veröffentlicht worden.
Das jährlich unter den drei ältesten Mitgliedern der drei
Classen wechselnde Directorium der Societät verwalteten wie
bisher die Herren Marx, Weber und Ewald.
Von ihren ordentlichen Mitgliedern verlor die Socie-
tät in diesem Zeitraum durch den Tod:
Rudolph Wagner, gestorben am 13. Mai 1864 im 59. Le-
bensjahre. Er war seit 1843 Mitglied in der physikalischen Classe.
Bernhard Riemann, gestorben am 20. Juli 1866 im 40.
Jahre, seit 1856 Assessor, seit 1859 Mitglied der mathemati-
schen Classe.
Von den Ehren-Mitgliedern:
Wilh. Friedr. Rheingraf und Fürst zu Salm - Horstmar in
ab
IV VORREDE.
Coesfeld, gestorben am 27. März 1865, 66 Jahre alt, seit 1857
Ehrenmitglied.
Andreas von Baumgartner in Wien, gestorben am 30. Juli
1865 im 72. Jahre, seit 1854 Ehrenmitglied.
Von den auswärtigen Mitgliedern und Correspon-
denten:
C. M. Marx in Braunschweig , gest. am 6. December 1864
im 70. Jahre, seit 1837 Mitglied der phys. Classe.
H. Rose in Berlin, gest. am 27. Januar 1864 im 69. Jahre,
seit 1856 Mitglied der phys. Classe.
G. Forchhammer in Kopenhagen, gest. am 14. December
1865 im 72. Jahre, seit 1857 Mitglied der phys. Classe.
W. Hooker in Kew bei London, gest. am 12. August 1865,
im 80. Jahre, seit 1859 Mitglied der phys. Classe.
J. F. Encke in Berlin, gest. 26. August 1865 im 74. Jahre,
seit 1830 Mitglied der math. Classe.
F. C. W. Stnwe in St. Petersburg, gest. am 23. November
1864 im 72. Jahre, seit 1835 Mitgl. der math. Classe.
J. Plana in Turin, gest. am 20. Januar 1864 im 83. Jahre,
seit 1837 Mitglied der math. Classe.
Chr. L. Gerling in Marburg, gest. am 16. Januar 1864 im
76. Jahre, seit 1830 Corresp., seit 1861 Mitglied der math. Classe.
C. B. Hase in Paris, gest. am 21. März 1864 im 84. Jahre,
seit 1837 Mitglied der hist.-phil. Classe.
J. M. Lappenberg in Hamburg, gest. am 28. November 1865
im 72. Jahre, seit 1837 Correspondent , seit 1851 Mitglied der
hist.-phil. Classe.
C. Cavetoni in Modena, gest. am 26. November 1865 im
70. Jahre, seit 1854 Mitglied der hist-phil. Classe.
\
VORREDE. V
C. Bergmann in Rostock, gest. am 30. April 1865 im 51.
Jahre, seit 1859 Correspondent der phys. Classe.
W. Vrolik in Amsterdam, gest. am 22. December 1863 im
62. Jahre, seit 1861 Correspondent der phys. Classe.
A. Th. Kupffer in St. Petersburg, gest* am 4. Juni 1865
im 66. Jahre, seit 1810 Correspondent der math. Classe.
H. F. E. Lenz in St. Petersburg, gest. am 10. Februar 1865
im 61. Jahre, seit 1864 Correspondent der math. Classe.
W. St. Karadchitsch in Wien, gest. am 7. Februar 1864 im
77. Jahre, seit 1825 Correspondent der hist.-phil. Classe.
F. J. Wolf in Wien, gest. am 18. Februar 1866 im 70. Jahre,
seit 1841 Correspondent der hist.-phil. Classe.
W. Cureton in London, gest. am 17. Juni 1864 im 56. Jahre,
seit 1860 Correspondent der hist.-phil. Classe.
Von den Assessoren verliessen die Herren G. Schmidt und
L. Meyer Göttingen, indem ersterer einem Rufe nach Hannover,
letzterer einem Rufe nach Dorpat folgte.
Zum hiesigen ordentlichen Mitgliede für die historisch-
philologische Classe wurde erwählt und vom K. Universitäts-Cu-
ratorium bestätigt:
Herr Theodor Benfey.
Zu auswärtigen Mitgliedern wurden erwählt und vom
K. Curatorium bestätigt
in der physikalischen Classe:
die Herren Carl Theodor von Siebold in München, Corresp. seit 1850.
Michel Eugdne Chevreul in Paris.
Joseph Dalton Hooker zu Kew bei London.
VI VORREDE.
In der mathematischen Classe:
die Herren Heinrich Wilhelm Dove in Berlin , Corresp. seit 1859.
August Ferdinand Möbitts in Leipzig, Corresp* seit 1846.
Johann Christian Poggendorff in Berlin, Corresp. seit 1854.
William Thomson in Glasgow, Corresp. seit 1859.
Ferdinand Reich in Freiberg.
Heinrich Buff in Giessen, Corresp. seit 1842.
Carl fVeierstrass in Berlin, Corresp. seit 1856.
Enrico Betti in Pisa.
In der historisch - philologischen Classe:
die Herren Samuel Birch in London.
Friedrich Diez in Bonn.
Zu Correspondenten für die physikalische Classe wur-
den ernannt:
die Herren Johann Friedrich August Breithaupt in Freiberg.
Bernhard von Cotta in Freiberg.
Friedrich Adolph Römer in Clausthal.
Alvaro Reynoso in Havanna.
Ftii' die mathematische Classe:
die Herren Carl Wilhelm Borchhardt in Berlin.
Arthur Cayley in Cambridge.
August Clebsch in Giessen.
Andreas von Ettings hausen in Wien.
Wilhelm Gott lieb Flanke l in Leipzig.
Moritz Hermann von Jacobi in Petersburg.
Philipp Gustav Jolly in München.
CaTl Hermann Knoblauch in Halle.
Carl Neumann in Basel.
Julius Plücker in Bonn.
VORREDE. «VII
Georg Gabriel Stokes in Cambridge.
Jaines Joseph Sylvester in Woolwich.
Heinrich Eduard Heine in Halle.
Für die historisch - philologische Ciasse:
die Herren Theodor Nöldeke in Kiel, Assessor seit 1860.
Hermann Bonitz in Wien.
Jacob Burckhardl in Basel.
Ludwig Häuser in Heidelberg. .
Adolph Kirchhoff in Berlin.
Leo Meyer in Dorpat, Assessor seit 1861.
Matthias de Vries in Leiden.
Wilhelm Wattenbach in Heidelberg.
Jean de Witte in Paris.
Die in dem Zeitraum von 1864 bis August 1866 in den Sitzun-
gen der K. Societät theils vorgetragenen, theils vorgelegten Ab-
handlungen und kleineren Mittheilungen sind folgende:
1864.
Am 2. Januar. Grisebach, über die von Fendler in Venezuela gesammel-
ten Bromeliaceen. (Nachrichten Seite 1.)
. Derselbe , über die Welwitschia.
Wicke, über die Krystalle in der Welwitschia.
Listing, über einen terrestrischenSonnenhalos. (Nachr. S. 22.)
Wähler, Verzeichniss der Meteoriten in der Univ. -Samm-
lung. (Nachr. S. 30.)
Am 6. Februar. Stern, über die Eigenschaften der negativen periodischen
Ketten brüche , welche die Quadratwurzel aus einer gan-
zen positiven Zahl darstellen. (Bd. XII.)
Waitz, über die Quellen des ersten Theils der Annales
Fuldenses. (Nachr. S. 55.)
■■i
Vm * VORREDE.
Marmi (vorgelegt durch Meissner), über die Wirkung des
Digitalins auf die Herzthätigkeit bei Thieren. (Nachr. S. 35.)
Beilstein, über die Reduction der Nitrokörper durch Zinn
und Salzsäure. (Nachr. S. 41.)
Fittig, über einige Derivate des Phenyls. (Nachr. S. 43.)
Am 5. März. R. Wagner, über Schädel aus alten Gräbern. (Nachr. S.87.)
Keferstein, über die geographische Verbreitung von Pro-
sobronchien. (Nachr. S. 103.)
von Seebach, über Orophocrinus, ein neues Crinoideenge-
schlecht. (Nachr, S. 110.)
Hübner (durch Wöhler), über Acroleln, Valeriansäurecya-
nid , Cyanessigsäurebromid und Bromessigsäurecyanid.
(Nachr. S. 111.)
Am 7. Mai. Henle, über die äussere Körnerschichte der Retina.
(Nachr. S. 119.)
Klinkerflies, über einen neuen einspiegeligen Heliostaten.
(Nachr. S. 125.)
Derselbe, über die Berechnung vqn Fixstern-Oertern (Nachr.
S. 128.)
Ewald, über die grosse Karthagische Inschrift und an-
dere neu entdeckte Phönizische Inschriften. (Bd. XII u.
Nachr. S. 179.)
Curtius, 9 über Delphische Inschriften. (Nachr. S. 135.)
Beilstein, üb. Amidozimmtsäure u. CarbostyryL (Nachr. S. 181.)
Marmi, (durch Meissner), über ein neues giftiges Glycosid
der Radix Hellebori nigri. (Nachr. S. 130.)
Am 11. Juni. Sauppe, die Epitaphia in der späteren Zeit Athens. (Nachr.
S. 199.)
Wöhler, über das Färbende im Smaragd. (Nachr. S. 223.)
Fittig, über die Synthese von Kohlenwasserstoffen und
die Umwandlung des Acetons in Allyten. (Nachr. S. 225.)
Am 9. Juli. Klinkerfues, über einen von Steinheil construirten einspie-
geligen Heliostaten. (Nachr. S. 248.)
1
• j
VORREDE. K
Derselbe, über einen von ihm bearbeiteten Fixstern -Ca-
talog. (Nachr. S. 250.)
Kef er stein, über den feinern Bau der Augen der Lungen-
schnecken. (Nachr. S. 237.)
Am 6. August. Wicke, über das allgemeine Vorkommen des Kupfers im
Boden und in den Pflanzen (Nachr. S. 269).
Derselbe, über Wurzel - Verwachsungen bei Kleepflanzen
und ihre Folgen. (Nachr. S. 275.)
Wöhler, Bemerkungen über den neusten Meteorstein-Fall
(bei Orgueil). (Nachr. S. 277.)
Beilstein, über die sogenannte Salylsäure. (Nachr. S. 282.) :"j
Am 5. Novemb. Herde, weitere Beiträge zur Anatomie der Retina. (Nachr.
S. 305.)
Curtius, zwei attische Inschriften. (Nachr. S. 341.)
Beilstein, über die isomeren Chlorbenzogsäuren. (Nachr.
S. 326.)
Husemann xi.Marmi (durch Wöhler), über die wirksamen Be-
stand theile von Helleborus niger u. H. viridis. (Nachr. S. 330.)
Dieselben, über das Lycein. (Nachr. S. 337.)
Am 19. Novemb. Sartorius ton Waltershausen, über das Vorkommen des Rhi-
noceros tichorinus bei Northeim. (Nachr. S. 345.)
Beilstein, über einige Derivate der Brenzschleimsäure.
(Nachr. S. 348.)
Fittig, über isomere und homologe Verbindungen. (Nachr.
S. 352.)
Am 3. Decemb. Feier des Stiftungstags der K. Societät und Jahresbericht.
(Nachr. S. 361.)
Grisebach, über die geographische Verbreitung der Pflan-
zen Westindiens. (Bd. Xu.)
1865.
Am 7. Januar. Curtius, attische Studien. II. (Bd. Xu.)
Klinker fues, über den Lichtwechsel der Veränderlichen.
(Nachr. S. 1.)
b
X VORREDE.
Kef erstem, über die geographische Verbreitung der Pul-
monaten. (Nachr. S. 9.)
WShler, die Meteoriten in der U.-Sammlung. [Nachr. S. 19.)
Am 4. Februar. Meissner, Ober das Entstehen der Berasteinsäure im thie-
rischen Stoffwechsel. (Nachr. S. 41.)
Waitz, über die Eavennatischen Annalen als Hauptquelle
für die Geschichte des Odovakar. (Nachr. S. 81.)
FitHg, über das Dicblorglycid und dessen Umwandlung
in Allylen. {Nachr. S. 61.)
Derselbe, über einige Derivate des Dibenzyls. (Nachr. S. 64.)
Pape (durch Weber), über -das Verwitterungs - Ellipsoid
wasserhaltiger Krystalle. (Nachr. S. 68.)
Am 4. März. Grisebach, Diagnosen neuer Euphorbiaceen aus C'uba. (Nachr.
vS. 161.)
Meissner, weitere Bemerkungen über das Entstehen der
Berneteinsaure im thierischen Stoffwechsel. (Nachr. S. 182.)
von Steinheil (auswärt. Mitgl.) , die Bedingungen der Er-
zeugung richtiger dioptrischer Bilder durch Linsensysteme
von beträchtlicher Oeffnung. (Nachr. S. 131.)
Klinkerfaes, über den Einfluss der Bewegung der Licht-
quelle und eines brechenden Mediums auf die Kich-
tung des gebrochenen Strahls. (Nachr. S. 157.) Nach-
trag S. 210.
Keferstein, Beiträge zur anatomischen und systematischen
Kenntniss der Sipunculiden. (Nachr. S. 189.)
Krause (durch Henle) . zur Neurologie der obern Extre-
mität. (Nachr. S. 155.)
Geutkcr (durch Wühler) , über die ( >xydationsstufen des
Siliciums. (Nachr. S. 143.)
Am 19. April, von Steinkeil, Nachtrag über die Erzeugung richtiger diop-
trischer Bilder. (Nachr. S. 211.)
Leuckart (Corresp,). über die Fortpflanzung der viviparen
Cecidomyienlarven. (Nachr. S. 215.)
\
VORREDE.
XI
Derselbe, helminthologische Experimental-Untersuchungen.
4te Reihe. (Nachr. S. 219.)
Am 6. Mai. Sauppe, Sophokleische Inschriften. (Nachr. S. 244.)
Wüstenfeld, der Reisende Jdcüt als Schriftsteller und Ge-
lehrter. (Nachr. S. 333.)
Am 1. Juli. Listing u. v. Steinheil, üb. d. menschliche Auge. (Nachr. S. 257.)
Beilstein, über die Amidodracylsäure und AmidobenzoS-
säure. (Nachr. S. 262.)
Am 5. August. Wendland (durch Grisebach), über die neue Palmengat-
tung Gaussia. (Nachr. S. 327,)
Th. Husemann (durch Grisebach), über Semina Wrightiae
antidysentericae, ein neues Narcoticum. (Nachr. S. 329.)
Ehlers (durch Henle), über die Bildung der Borsten und
Ruderfortsätze bei den Borstenwürmern. (Nachr. S. 335.)
Marmi (durch Meissner), über die physiologische Wirkung
des Hellebor6in und Helleborin. (Nachr. S. 342.)
Listing u. v. Steinheil, über eine Doppellinse neuer Con-
struction. (Nachr. S. 348.)
Wicke, über das Vorkommen von Kupfer im Thierorga-
nismus. (Nachr. S. 349.)
Hampe (durch Wicke), über den Harnstoff als Pflanzen-
Nahrungsmittel. (Nachr. S. 352.)
Kef er stein, Beiträge zur Anatomie des Nautilus pompilius.
(Nachr. S. 356.)
Klinkerfiies, Weiteres über den Einfluss der Bewegung
der Lichtquelle auf die Brechung des Strahls. (Nachr. S. 376.)
Fittig, über Amidovaleriansäure , über die Kohlenwasser-
stoffe der Benzolreihe, über Zersetzung des Di- und Te-
trachlorglycids durch Natrium. (Nachr. S. 385.)
Schubring (durch Curtius), Topographie der Stadt Selinus.
Am 4. Novemb. Sauppe, eine Inschrift aus Gytheion. (Nachr. S. 461.)
Beilstein, über die Umwandlung des Xylols in Toluylsäure
und Terephtalsäure. (Nachr. S.453.)
b2
xn
VORREDE.
Am 2. Decemb. Feier des Stiftungstages und Jahresbericht. (Nachr. S. 481.)
Ewald, über die Armenische Uebersetzung des vierten
Ezrabuchs. (Nachr. S. 504.)
Waitz, zum Andenken an Lappenberg. (Nachr. S. 496.)
v. Seeback, über den Vulcan Izalco und den Bau der Cen-
tralamerik. Vulcane im Allgemeinen. (Nachr. S. 521.)
Beilstein, Chlortoluol u. Chlorbenzyl nicht identisch. (N. 516.)
1866.
Am 6. Januar. Sartorius von Waltershausen, über den Silberkies, eine neue
Mineralspecies. (Nachr. S. 1).
Klinker/ues , Weiteres Über den Einfluss der Bewegung
der Lichtquelle auf die Geschwindigkeit derselben und
die Brechbarkeit eines Strahls. (Nachr. S. 33.)
Herrn. Wicke (durch Boedeker) Über das Corydalin. (Nachr.
S. 1).
Am 3. Februar. Waitz, über die Quellen zur Geschichte der Begründung
der Normannischen Herrschaft in Frankreich. (Nachr. S. 69.)
Sartorius v. Waltershausen, Nachträgliches über den Silber-
kies. (Nachr. S. 66.)
Mecznikow (durch Heule), zur vergleichenden Histologie
der Niere. (Nachr. S. 61.)
Fittig, über die Valerolactinsäure. (Nachr. S. 63.)
Am 3. M&rz. Benfey, Auszug aus der im Bd. XII. gedruckten Abhand-
lung über die Aufgabe des Platonischen Dialogs: Kraty-
los. (Nachr. S. 113.)
Sauppe, zur kyprischen Monatskunde. (Nachr. S. 129.)
Enneper, Bemerkungen über Curven doppelter Krümmung
(Nachr. S. 134.)
Am 18. April, von Seebach, I. Bericht Über die vulkanischen Neubildun-
gen bei Santorin. (Nachr. S. 149.)
Am 5. Mai. WShler, über ein neues Mineral vonBorneo. Nachr. S. 155.)
Sartorius von Waltershausen, über die Krystallform dessel-
ben. (Nachr. S. 160.)
VORREDE. XIII
Husemann u. Marmi (durch Henle), über die Resorption
des Phosphors. (Nachr. S. 164.)
Krause, über die Nerven-Endigung in der Clitoris. (Nachr
S. 169.)
Am 2. Juni. Listing, über die Farben des Spectrums. (Nach. S. 171.)
Ewald, über die Haupteigen thümlichkeit der Käfir-Spra-
chen. (Nachr. S. 175.)
Benfey, zweite Abhandlung über die Aufgabe des Platoni-
schen Dialogs: Kratylos. (Bd. XII.)
Wicke, über den Phosphorit aus dem Eisenerz bei Peine.
(Nachr. S. 211.)
Keferstein, über einige amerikanische Sipunculiden. (Nachr.
S. 215.)
von Seebach, über den Vulcan von Santorin und die Erup-
tion von 1866. (Bd. XIII.)
Beilstein, über Para-Nitrotoluylsäure. (Nachr. S. 190.)
Fittig, über Kohlenwasserstoffe. (Nachr. S. 194.)
Preuss (durch Boedeker), über das Fumarin. (Nachr. S. 207.)
Am 7. Juli. von Seebach, die Zoantharia perforata der palaeozoischen
Periode. (Nachr. S. 235).
Enneper, über die cyclischen Flächen. (Nachr. S. 243.
Am 4. August. Waitz, über Gotfrieds von Viterbo Gesta Friderici I.
(Nachr. S. 279.)
von Seebach, über die diluviale Säugethierfauna des obe-
ren Leinethals und über einen neuen Beweis für das Al-
ter des Menschengeschlechts. (Nachr. S. 293.)
Klinkerßies, über den neuen Veränderlichen bei e Coro-
nae Borealis. (Nachr. S. 267.)
Enneper, über ein Problem der Photometrie. (Nachr. S. 270.)
XIV VORREDE.
Die für den November 1865 von der historisch - philologi-
schen Classc gestellte Preisfrage: eine ausführliche Ge-
schichte der Stadt Damascus, hat keinen Bearbeiter ge-
funden.
Für die nächsten Jahre werden von der K. Societät folgende
Preisaufgaben gestellt:
Für den November 1866 von der physikalischen Classe.
von Neuem aufgegeben:
Quum eximiis Gl. Hofmeister investigationibuB Selaginellae gcnesis satis cog-
nita sit, Lycopodü vero natura« explorandae botanici kucusque frustra operam
navaverint, desiderat R. S. ut germinatione accurate observata novis experi-
mentis iconibusque microscopicis illustretur, quaenam sit Lycopodü sporarum
functio et cuinamCiyptogamorum vascularium farailiae hoc genus vera affinitate
jungatur.
,.Da durch Hofmeister's ausgezeichnete Untersuchung die Entwicklungsgeschichte
der Selaginellen zur Genüge bekannt, eine genauere Kenntniss des Wesens der
Lgcopodien aber bis jetzt von den Botanikern vergebens erstrebt ist, so wünscht
die K. S. , dass nach sorgfältiger Beobachtung des Keimens durch die Mitthei-
lung neuer Versuche und mikroskopischer Abbildungen die Bedeutung der Sporen
von Lycopodium nachgewiesen und ausgeführt werde, mit welcher Familie der
kryptogamischen Gefässpflanzcn diese Gattung wirklich verwandt ist".
Für den November 1867 von der mathematischen Classe:
Pbaenomenis polarisationis oscilktiones particularum aetbei-eariim in lumiiie
transmisso transversales esse sumere cogimur. Utrum vero in radio rcctili-
neariter polarisato viae harum escilktionum contineantur in piano polarisationis
an in piano oscillationis ad illud perpendiculari , ne nunc quideni theoria accu-
rate definivit, ac quanquain pcrniulti experimentis illud ad liquidum perducere
conati sunt, etiaro nunc quod certum sit desideratur. Optat igitur Societas Re-
gia, ut novis experimentis via quam maxime fieri potest direeta institutis dis-
cernatur, utrum in radio polarisato angulus inter plana vibrationis et polarisa-
tionis nullus sit an 90 graduum.
„Die Folarisations-Erscheinuugen machen die Annahme transversaler Schwin-
gungen der Aethertheitchcn wiüircnd der Fortpflanzung des Lichts nothwendig.
Die Frage aber, ob in einem geradlinig polarisirten Lichtstrahl die Bahnen die-
ser Schwingungen in der Polarisalionsebene liegen oder in einer dazu senkrechten
VORREDE. XV
Schwingungsebene, ist von Seiten der Theorie zur Zeit noch unerledigt geblieben,
und trotz der vielfachen Bemühungen, auf dem Wege des Versuchs eine Beant-
wortung herbeizuführen, steht eine endgültige Entscheidung noch immer zu er-
warten. Die K. Societät wünscht daher die Anstellung neuer Versuchte, geeignet
auf möglichst directe Weise zu entscheiden , ob in einem polarisirten Lichtstrahl
der Winkel zwischen der Vibrationsebene und der Polarisationsebene Null oder
90° sei".
Für den November 1868 von der historisch -philologi-
schen Classe:
Qui literas antiquas tractant, res Graecorum et Romanorum duobus discipli-
narum singularum ordinibus seorsum explicare solent. Quae separatio quanquam
necessaria est, tarnen quanta eadem incommoda habeat, facile est ad intelligen-
dum; quae enim communia sint in utriusque cultura populi, quominus perspi-
ciamus, impedit, quae ab altero instituta sunt, cum quibus alterius vel inventis
vel institutis necessaria quadam et perpetua causarum officientia cohaereant, ne
intelligamus, graviter obstat, denique quae in historia rerum coniuncta sunt,
seiungit. Quare omnia ea, quibus res utriusque populi inter se cohaerent, accu-
rate inquiri haud levis videtur momenti esse. Quod cum Graeciae et Italiae
incolas prknitus inter se cognatos fuisse linguarum historiae scrutatores lucu-
lenter docuerint atque ex altera parte, quomodo cultura Graecorum et Roma-
norum initio Scipionum temporibus facto Caesarum aetate prorsus denique in
unum coaluerit, accuratissime homines docti explicaverint, Societas regia litera-
rum et gratum et fructuosum futurum esse existimat, quaenam vestigia rerum
graecarum prioribus populi romani aetatibus appareant, studiose indagari et, -
quibus potissimum temporibus inde a regum aetate singula huius efficientiae ge-
nera ostendantur, a quibus ea regionibus et urbibus (Cumis, Sicilia, Massalia,
Athenis, Gorintho) profecta sint, denique quae ita praesertim in sermone, arti-
bus, literis, institutis publicis conformandis effecta sint, quantum quidem fieri
potest, explicari. Quae quaestiones quanquam uno impetu absolvi non poterunt,
tarnen ad historiam veteris culturae rectius et plenius intelligendam multum
videntur conferre posse. Societas igitur regia postulat, ut explicetur:
quam vim res graecae in sermone, artibus, literis, institutis publicis Roma-
norum conformandis atque excolendis ante macedonicorum tempora bellorum
habuerint.
„Die klassische Philologie ist gewohnt das griechische und das römische Alter-
thum in zwei gesonderteti Reihen von Disciplinen zu behandeln. Diese Tren-
nung ist nothwetidig, aber sie hat auch ihre unverkennbaren Nachtiieüe; denn sie
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XVI
VORREDE.
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erschwert den Ueberblick über das Gemeinsame in der Kultur der Griechen und
Römer, lässt die Kontinuität der Entwicklung nicht erkennen und zerreisst das
geschichtlich Zusammengehörige. Es ist daher wichtig die Berührungspunkte
und Wechselbeziehungen in der Entwicklung beider Völker ins Auge zu fassen.
Nachdem mm sprachgeschichtliche Untersuchungen über die ursprüngliche Ver-
wandtschaft derselben neues Licht verbreitet haben (die gräko-italische Epoche)
und auf der andern Seite die Verschmelzung der griechischen und römisclien
Cultur, wie sie in der Zeit der Scipionen begonnen und unter den Cäsaren sich
vollendet hat (Jiellenischc Epoche) , mit Erfolg durchforscht und dargestellt wor-
den ist, so scheint es der K. Ges. d. Wiss. eine anziehende und lohnende Auf-
gabe zu sein, den Spuren griechischer Einwirkung, tvclche sich in den früheren
Perioden der römischen Geschichte zeigen, sorgfältig nachzugehn und, so weit es
möglich ist, die verschiedenen Epochen dieser Eimcirkung, von der Königszeit
an, ihre verschiedenen Ausgangspunkte (Kumä, Sicilicn, Massalia, Athen, Ko-
rinth), und die Ergebnisse derselben, namentlich auf dem Gebiete der Sprache,
der Ktoist, der Literatur, und des öffentlichen Hechts zu ermitteln. Wenn auch
ditsc Untersuchung sich nicht sogleich zu einem Abschluss führen lässt, so ver-
spricht sie doch sehr erhebliche Ausbeute für die Geschichte der alten Kultur.
In diesem Sinne stellt die K. Ges. d. Wiss. die Aufgabe:
Darstellung der hellenischen Einflüsse, welche sich in der Sprache, der Kunst,
der Literatur und dem öffentlichen Hechte der Römer vor der Zeit der ma-
kedonischen Kriege erkennen lassen".
Die Concurrenzsehriften müssen vor Ablauf des Septembers
der bestimmten Jahre an die K. Gesellschaft der Wissenschaften
portofrei eingesandt sein, begleitet von einem versiegelten Zettel,
welcher den Namen und Wohnort des Verfassers enthält und mit
dem Motto auf dem Titel der Schrift versehen ist.
Der für jede dieser Aufgaben ausgesetzte Preis betragt fünf-
zig Dukaten.
*
Der am 14. März d. J. über den zweiten Verwaltungszeit-
raum der Wedekindschen Freistiftung für deutsche Geschichte»
von dem Director der Stiftung, Herrn Professor Waitz. abge-
stattete Bericht ist in Nro. 10 der „Nachrichten" S. 141 abgedruckt.
VORREDE. XVH
Seit der Ausgabe des im elften Bande dieser Abhandlungen
angekündigten zweiten Bandes von Gauss Werken ist der Druck
des dritten Bandes, der die zur allgemeinen Analysis gehörigen
Arbeiten, ebenso auch der Druck des vierten Bandes, der die Ar-
beiten von Gauss über Wahrscheinlichkeits-Eechnung , über Geo-
metrie und Geodäsie enthält, so weit vorgeschritten, dass beide
Bände noch im Laufe dieses Jahres erscheinen werden.
Göttingen im August 1866.
F. Wohler.
■
Verzeichnis der Mitglieder
der
Königl. Gesellschaft der Wissenschaften zu Göttingen
im Anglist 1866.
Ehren -Mitglieder.
Prinz Maximilian von Neuwied, seit 1826.
Herzog de Luynes in Paris, seit 1853.
Peter Merian in Basel, seit 1862.
Ordentliche Mitglieder.
Physikalische Ciasse.
C. F. H. Marx, seit 1833.
Fr. Wo hier, seit 1837. Beständiger Secretair seit 1860.
F. Gottl. Bartling, seit 1843.
A. Grisebach, seit 1851.
F. G. J. Henle, seit 1853.
W. Sartorius von Waltershausen, seit 1856.
G. Meissner, seit 1861.
Mathematische (Hasse.
W. E. Weber, seit 1831.
G. C. J. Ulrich, seit 1845.
J. B. Listing, seit 1861.
M. Stern, seit 1862.
£. Schering, seit 1862. (Zuvor Assessor seit 1660).
Historiach -philologische Claase.
H. Ewald, seit 1833.
H. Ritter, seit 1840.
C. Hoeck, seit 1841.
G. Waitz, seit 1849.
W. Havemann, seit 1850. (Zuvor Assessor, seit 1841.)
E. Curtins, seit 1856.
VERZEICHNISS D. MITGLIEDER D. KÖNIGL. GESELLSCH. D. WISSENSCH. XIX
H. F. Wüstenfeld, seit 1856. (Zuvor Assessor, seit 1841.)
H. Sauppe, seit 1857.
J. E. Wappäus, seit 1860. (Zuvor Assessor, seit 1851.)
Th. Benfey, seit 1864.
Assessoren.
Physikalische Classe.
E. F. G. Herbst, seit 1835.
C. Boedeker, seit 1857.
W. Wicke, seit 1859.
W. Keferstein, seit 1861.
F. Beil stein, seit 1864.
R. Fittig, seit 1864.
C. von Seebach, seit 1864.
W. Krause, seit 1865.
E. Ehlers, seit 1865.
Mathematische Classe.
E. F. W. Klinkerfues, seit 1855.
A. Enneper, seit 1865.
Auswärtige Mitglieder.
Physikalische 'Classe.
Sir James Clark in London, seit 1837.
Carl Ernst von Baer in St. Petersburg, seit 1851.
Jean Baptiste Dumas in Paris, seit 1851. (Zuvor Correspondent, seit 1849.)
Christian Gottfried Ehrenberg in Berlin, seit 1851.
Carl Friedrich von Martins in München, seit 1851.
Justus Freiherr von Liebig in München, seit 1851. (Zuvor Corresp., seit 1840.)
Ernst Heinrich Weber in Leipzig, seit 1851.
Carl Friedrich Theodor Krause in Hannover, seit 1852.
Wilhelm von Haidinger in Wien, seit 1853.
Carl Friedrich Naumann in Leipzig, seit 1853.
Robert Bunsen in Heidelberg, seit 1855.
Elie de Beaumont in Paris, seit 1855.
Gustav Rose in Berlin, seit 1856.
Gustav Magnus in Berlin, seit 1857.
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VERZEICHNIS DER MITGLIEDER
Louis Agassiz in Boston, seit 1859.
Pierre Marie Flourens in Paris, seit 1859.
Sir Richard Owen in London, seit 1859.
Adolph Brongniart in Paris, seit 1860.
August Wilh. Hof mann in Berlin, seit 1860.
H. Milne Edwards in Paris, seit 1861.
Hennann Kopp in Giessen, seit 1863. (Zuvor Corresp. seit 1855.)
Carl Theodor von Siebold in München, seit 1864. (Zuvor Corresp., seit 1850.)
Michel Eugene Chevreul in Paris, seit 1865.
Joseph Dalton Hook er zu Kew bei London, seit 1865.
Mathematische Classe.
Sir David Brewster in Edinburgh, seit 1826.
Mich. Faraday in London, seit 1835.
Sir John Herschel in Collingwood, seit 1840. (Zuvor Corresp., seit 1815.)
U. J. Leverrier in Paris, seit 1846.
P. A. Hansen in Gotha, seit 1849.
George Biddel Air y in Greenwich, seit 1851..
Charles Wheatstone in London, seit 1854.
Joseph Liouville in Paris, seit 1856.
E. Kummer in Berlin, seit 1856. (Zuvor Corresp., seit 1851.)
F. E. Neumann in Königsberg, seit 1856.
Henri Victor Regnault in Paris, seit 1859.
William Hallows Miller in Cambridge, seit 1859.
Edward Sabine in London, seit 1862. (Zuvor Corresp., seit 1823.)
C. A. von Steinheil in München, seit 1862. (Zuvor Corresp. seit 1837.)
Christoph Hansteen in Christiania, seit 1862. (Zuvor Corresp. seit 1840.)
Richard Dedekind in Braunschweig, seit 1862. (Zuvor Corresp. seit 1859.)
Aug. Robert Kirchhoff in Heidelberg, seit 1862.
Heinrich Wilhelm Dove in Berlin, seit 1864. (Zuvor Corresp. seit 1849.)
August Ferdinand Möbius in Leipzig, seit 1864. (Zuvor Corresp. seit 1846.)
Johann Christian Poggendorff in Berlin, seit 1864. (Zuvor Corresp. seit 1854.)
William Thomson in Glasgow, seit 1864. (Zuvor Corresp. seit 1859.)
Ferdinand Reich in Freiberg, seit 1864.
Heinrich Buff in Giessen, seit 1865. (Zuvor Corresp. seit 1842.)
Carl Weierstrass in Berlin, seit 1865. (Zuvor Corresp. seit 1856.
Enrico Betti in Pisa, seit 1865.
DER KÖNIGLICHEN GESELLSCHAFT DER WISSENSCHAFTEN. XXI
Historisch-philologische Classe.
Fr. Gottl. Welcker in Bonn, seit 1819. (Zuvor hies. ord. Mitglied, seit 1817.)
A. Boeckh in Berlin, seit 1830.
Im. Bekker in Berlin, seit 1835.
Ed. Gerhard in Berlin, seit 1835.
G. H. Pertz in Berlin, seit 1837.
Frangois Guizot in Paris, seit 1841.
Christian August Brandis in Bonn, seit 1851
Victor Cousin in Paris, seit 1851.
Leopold Ranke in Berlin, seit 1851.
Justus Olshausen in Berlin, seit 1853.
Franz Bopp in Berlin, seit 1854.
Christian Lassen in Bonn, seit 1860. (Zuvor Correspondent, seit 1850.)
Georg Friedr. Schömann in Greifswald, seit 1860. (Zuvor Corresp. seit 1850.)
Gottfried Beruh ardy in Halle, seit 1860. (Zuvor Correspondent, seit 1854.)
Friedrich Ritschi in Bonn, seit 1860. (Zuvor Correspondent, 1854.)
Wilhelm Wackernagel in Basel, seit 1860. (Zuvor Correspondent, seit 1855.)
August Meineke in Berlin, seit 1860.
Georg Gottfried Gervinus in Heidelberg, seit 1862.
Adolph Trendelenburg in Berlin, seit 1861.
Georg Ludwig von Maurer in München, seit 1863. Zuvor Corresp., seit 1835.)
Samuel Birch in London, seit 1864.
Friedrich Diez in Bonn, seit 1864.
Correspondenten.
Physikalische Classe.
August von Vogel in München, seit 1816.
W. Lawrence in London, seit 1835.
E. Eichwald in St. Petersburg, seit 1841.
Robert Willis in London, seit. 1844.
De Medici Spada in Rom, seit 1847.
Hermann Stannius in Rostock, seit 1850.
Theodor Schwann in Lüttich, seit 1853.
Theod. Ludw. Wilhelm Bise hoff in München, seit 1853.
Theodor Scheerer in Freiberg, seit 1853.
Wilhelm Duncker in Marburg, seit 1853.
G. A. Carl Städeler in Zürich, seit 1853. (Zuvor Assessor, seit 1851.)
(
XXH VERZEICHNßS DER MITGLIEDER
Anton Schrötter in Wien, seit 1856.
J. Pelouze in Paris, seit 1856.
Henri Sainte Ciaire Deville in Paris, seit 1856.
Axel Erdmann in Stockholm, seit 1857.
L. Zeuschner in Warschau, seit 1857.
Heinrich Helmholtz in Heidelberg, seit 1859.
Johannes Hyrtl in Wien, seit 1859.
Nicolai von Kokscharow in St. Petersburg, seit 1851).
Rudolph Leuckart in Giessen, seit 1859.
Eduard Weber in Leipzig, seit 1860.
Alfred Wilh. Volkmann in Halle, seit 1860.
F. H. Bidder in Dorpat, seit 1860.
Carl Schmidt in Dorpat, seit 1860.
F. G. Donders in Utrecht, seit 1860.
J. van der Hoeven in Leyden, seit 1860.
Joh. Jap. Sm. Stenstrup in Kopenhagen, seit 1860.
Hermann von Meyer in Frankfurt a. M. , seit 1860.
Bernhard Studer in Bern, seit 1860.
Heinrich Limpricht in Greifswald, seit 1860. (Zuvor Assessor, seit 1857.)
Ernst Brücke in Wien, seit 1861.
Emil du Bois Reymond in Berlin, seit 1861.
Alexander Braun in Berlin, seit 1861.
Franz von Eobell in München, seit 1861.
Carl Ludwig in Leipzig, seit 1861.
Hugo von Mohl in Tübingen, seit 1861.
Christian Friedrich Schönbein in Basel, seit 1861.
Archangelo Scacchi in Neapel, seit 1861.
Quintino Sella in Turin, seit 1861.
Thomas H. Huxley in London, seit 1862.
Albert Kölliker in Würzburg, seit 1862.
Ferdinand Römer in Breslau, seit 1862.
Charles Upham Shepard in Amherst, V. St., seit 1862.
Adolph Strecker in Tübingen, seit 1862.
Heinrich Credner in Hannover, seit 1863.
Alexander Ecker in Freiburg, seit 1863.
Joh. Friedr. August Breithaupt in Freiberg, seit 1864.
Bernhard von Cotta in Freiberg, seit 1864.
DER KÖNIGLICHEN GESELLSCHAFT DER WISSENSCHAFTEN. XXHI
Friedrich Adolph Römer in Clansthal, seit 1864.
Alvaro Reynoso in Havanna, seit 1865.
Mathematische Classe.
A. Quetelet in Brüssel, seit 1837.
Humphrey Lloyd in Dublin, seit 1843.
F. G. A. Argelander in Bonn, seit 1846.
C. A. F. Peters in Altona, seit 1851.
John. Couch Adams in Cambridge, seit 1851.
Thomas Clausen in Dorpat, seit 1854. »
Ludwig Seidel in München, seit 1854.
Georg Rosenhai n in Königsberg, seit 1856.
Otto Hesse in Heidelberg, seit 1856.
Peter Riess in Berlin, seit 1856.
John. Tyndall in London, seit 1859.
Charles Hermite in Paris, seit 1861.
Leopold Kroneker in Berlin, seit 1861.
Julius Schmidt in Athen, seit 1862.
Carl Wilhelm Borchardt in Berlin, seit 1864.
Arthur Cayley in Cambridge, seit 1864.
August Clebsch in Giessen, seit 1864.
Andreas von Ettingshausen in Wien, seit 1864.
Wilhelm Gottlieb Hankel in Leipzig, seit 1864.
Moritz Hermann von Jacobi in Petersburg, seit 1864.
Philipp Gustav Jolly in München, seit 1864.
Carl Hermann Knoblauch in Halle, seit 1864
Carl Neumann in Basel, seit 1864.
Julius Plücker in Bonn, seit 1864.
Georg Gabriel Stokes in Cambridge, seit 1864
James Joseph Sylvester in Woolwich, seit 1864.
Heinrich Eduard Heine in Halle, seit 1865.
Historisch-philologische Classe.
J. Jac. Champollion Figeac in Fontainebleau, seit 1812.
Freiherr C. L. von Lützcw in Schwerin, seit 1835.
A. Huber in Wernigerode, seit 1837. f
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XXIV VERZEICHNISS DER MITGLIEDER
F. E. G. Roulez in Gont, seit 1841.
Rudolph Roth in Tübingen, seit 1853.
Adolph Friedr. Heinr. Schaumann in Hannover, seit 1853.
Friedrich Tuch in Leipzig, seit 1853.
August Dillmann in Kiel, seit 1857.
J. G. Droysen in Berlin, seit 1857.
Moritz Haupt in Berlin, seit 1857.
Wilh. Henzen in Rom, seit 1857.
Carl Hegel in Erlangen, seit 1857.
G. C. F. Lisch in Schwerin, seit 1857.
Otto Jahn in Bonn, seit 1857.
Theodor Mommsen in Berlin, seit 1857.
A. B. Rangabe in Athen, seit 1857.
C. F. von Stalin in Stuttgart, seit 1857.
B. von- Dorn in St. Petersburg, seit 1859.
L. P. Gachard in Brüssel, seit 1859.
Johann Gildemeister in Bonn, seit 1859.
Th. G. von Karajan in Wien, seit 1859.
Franz Palacky in Prag, seit 1859.
Theodor Bergk in Halle, seit 1860.
Carl Bötticher in Berlin, seit 1860.
Richard Lepsius in Berlin, seit 1860.
Georg Gurtius in Leipzig, seit 1860.
K. Lehrs in Königsberg, seit 1860.
Giovanni Batista de Rossi in Rom, seit 1860.
Leonhard Spengel in München, seit 1860.
Heinrich Ludolf Ähren s in Hannover, seit 1861.
Ludwig C. Bethmann in Wolfenbüttel, seit 1861.
Carl Ludwig Grotefend in Hannover, seit 1861.
Ernst Jul. Georg von dem Knesebeck in München, seit 1861.
Max Müller in Oxford, seit 1861.
Arnold Schäfer in Greifswald, seit 1861.
Friedr. Ferdin. Carlson in Stockholm, seit 1863.
Wilhelm Giesebrecht in München, seit 1863.
Martin Hai}g in Poona, Indien, seit 1863.
Ludwig Lange in Giessen, seit 1863.
Heinrich von Sybel in Bonn, seit 1863.
Theodor Nöldeke in Kiel, seit 1864. (Zuvor Assessor, seit 1860.)
DER KÖNIGLICHEN GESELLSCHAFT DER WISSENSCHAFTEN. XXV
Hermann Bonitz in Wien, seit 1865.
Jacob Burckhardt in Basel, seit 1865.
Ludwig Häuser in Heidelberg, seit 1865.
Adolph Kirchhoff in Berlin, seit 1865.
Leo Meyer in Dorpat. seit 1865. (Zuvor Assessor, seit 1861.)
Matthias de Vries in Leiden, seit 1865.
Wilhelm Wattenbach in Heidelberg, seit 1865.
Jean de Witte in Paris, seit 1865.
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Inhalt.
Vorrede. Seite III
Verzeichniss der Mitglieder der Königl. Gesellschaft der Wissen-
schaften zu Göttingen im August 1866. XVIII
Abhandlungen der physikalischen Classe.
A. Grisebach, die geographische Verbreitung der Pflanzen West-
indiens. 3
Abhandlungen der mathematischen Classe.
M. A. Stern, über die Eigenschaften der periodischen negativen
Kettenbrüche, welche die Quadratwurzel aus einer
ganzen positiven Zahl darstellen. 3
Abhandlungen der historisch-philologischen Classe.
G. Waitz, über eine sächsische Kaiserchronik und ihre Ablei-
tungen. 3
H. Ewald, Abhandlung über die grosse Karthagische und an-
dere neuentdeckte Phönikische Inschriften. 63
E. Curtius, attische Studien. 119
Th. Benfey % über die Aufgabe des platonischen Dialogs : Kratylos. 189
ABHANDLUNGEN
DER
PHYSIKALISCHEN CLASSE
DER
KÖNIGLICHEN GESELLSCHAFT DER WISSENSCHAFTEN
ZV GÖTTINGEN.
ZWÖLFTER BAND.
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Die geographische Verbreitung der Pflanzen Westindiens.
Von
A. G-risebach.
Vorgetragen in der Sitzung der Königl. Gesellschaft der Wissenschaften vom 8. December 1864.
JNach der vollendeten Herausgabe meiner Flora der britischen Inseln
Westindiens l ) habe ich es für meine Aufgabe gehalten , was aus dieser
Arbeit für die Geographie der Pflanzen sich ergeben hat, in einer abge-
sonderten Abhandlung nicht bloss zusammenzustellen, sondern unter dem
Gesichtspunkte der Schöpfungscentren zu bearbeiten. Aus manchen Un-
tersuchungen hatte ich die Ueberzeugung geschöpft, dass die Gesetze,
welche in Bezug auf den räumlichen Ursprung der Organismen bisher
nur von kleinen oceanischen Archipelen abgeleitet waren, auf der gan-
zen Erde dieselbe Gültigkeit haben und auf den Kontinenten nur durch
den erleichterten Austausch der Erzeugnisse zahlreicher Bildungscentren
verdunkelt sind. Ein Archipel von der Grösse Westindiens, ungleich
nach seinen Bestandtheilen gegliedert und dem amerikanischen Kontinent
sich beiderseits anlehnend, konnte als ein Uebergangsgebiet zwischen In-
seln und Kontinenten gelten, und versprach daher weiterführende Auf-
schlüsse über die Frage, ob die organischen Schöpfungen überall von ein-
zelnen Oertlichkeiten ausgegangen sind.
Während der langjährigen Dauer meiner systematischen Untersu-
chungen über die westindische Vegetation habe ich die Lösung dieser
Aufgabe stets im Auge gehabt und daher alle vorhandenen Nachrichten,
namentlich die nicht publicirten Dokumente der Sammler, sowohl von
1) Flora of the British West Indian islands. London, 1859—64.
A2
4 A. GRISEBAC H,
den Inseln als vom Kontinent möglichst vollständig zu benutzen gestrebt,
um die Verbreitungsgrenzen der Arten festzustellen. Auf diese Unter-
suchung der geographischen Areale, welche die verglichenen Gewächse
bewohnen, habe ich aber auch den Zweck der vorliegenden Abhandlung
eingeschränkt, da eine umfassendere Bearbeitung der Vegetationsnormen
Westindiens von vorn herein ausgeschlossen war. Weder die Literatur,
noch die den Pflanzen hinzugefügten Angaben der Reisenden geben uns
ein hinreichend deutliches und gegliedertes Bild von der Vegetation die-
ses tropischen Gebiets ; die Untersuchungen über die Anordnung der Ge-
wächse zu Formationen, über ihre vertikale Vertheilung, über den Ein-
fluss des Bodens und Klima's können bis jetzt von einem entfernten
Standpunkte aus nicht unternommen werden. So blieb mir nur übrig,
die horizontale Verbreitung der Arten vergleichend zu bearbeiten und
aus der Gestalt ihrer Areale Schlüsse auf den Ursprungsort ihrer Bil-
dung und auf die Kräfte abzuleiten, welche ihre Wanderung bewirkt und
ihren heutigen Verbreitungsbezirk umgrenzt haben. Diese Methode ist
ganz unabhängig von den Hypothesen über den Ursprung der Arten
selbst: man kann die Frage, wie sie entstanden sind, als ungelöst und
sogar auf dem jetzigen Standpunkt der Naturforschung als unlösbar an-
sehen r und doch von dem Orte, wo sie sich bildeten, eine sichere Er-
kenntniss erlangen, wenn sie auf eine enge Räumlichkeit beschränkt
blieben, oder wenn die Wege ihrer Wanderungen nachgewiesen werden
können.
Hätte sich der zu bearbeitende Stoff nur auf die Flora des briti-
schen Westindiens und auf die früher mitgetheilte Uebersicht der Ve-
getation der Karaiben beschränkt, so würde die Absicht, ein grösseres Ge-
biet der tropischen Zone zu behandeln nicht erreicht sein. Allein die
fortgesetzte Thätigkeit C. Wright's in Cuba, dessen frühere Sammlung
ich bereits bearbeitet hatte l ) , machte es möglich, die grösste Insel der
Antillen in den Plan der Arbeit aufzunehmen. Dieselbe umfasst daher
ganz Westindien von den Bahama's und Cuba bis Trinidad mit alleiniger
1) PI. Wrigfatianae e Cuba orientali, in Memoirs of Amer. Acad. P. 1. 1860. P. 2. 1862.
DIE GEOGRAPHISCHE VERBREITUNG DER PFLANZEN WESTINDIENS. 5
Ausnahme von Haiti und Portorico : diese Inseln bilden ein Verbindungs-
glied zwischen den beiden westlicher gelegenen grossen Antillen und
den Karaiben, mussten aber aus Mangel an Hülfsmitteln ausgeschlossen
werden. Der handschriftliche Katalog, den ich zu Grunde lege, enthält
gegen 4400 Phanerogamen und etwa 400 Gefasskryptogamen : die neuen,
darin aufgenommenen Ouba-Pflanzen beabsichtige ich nächstens zu publi-
ciren. Ich schätze die Zahl der bekannten Gefasspflanzen des Gebiets
auf nicht höher als 5000 Arten, wiewohl ich aus jenem Verzeichnisse
diejenigen ausgeschlossen habe, die mir zweifelhaft geblieben waren.
Zwei der grössten Familien habe ich in meinen geographischen Ver-
gleichungen meist ganz unberücksichtigt gelassen , die Farne , weil die
Verbreitung der durch Sporen sich fortpflanzenden Gewächse mit der der
Phanerogamen nicht wohl zusammengefasst werden kann und in weit hö-
herem Grade auf athmosphärischen Bewegungen zu beruhen scheint, und
sodann auch die Orchideen, deren Areale, da viele Sammler in tropi-
schen Ländern sie vernachlässigt haben, nicht hinlänglich bekannt sind.
Bei der Feststellung der Arealgrenzen habe ich übrigens ausser den Samm-
lungen auch die Literatur benutzt: es lässt sich jedoch, da die Doku-
mente in der Flora des britischen Westindiens erwähnt sind, im einzel-
nen Falle erkennen, ob die Angaben auf Autopsie oder fremder Autori-
tät beruhen.
I. Areale der nicht endemischen Pflanzen Westindiens.
1. Exotische Pflanzen. (156 Arten, welche nach der Art ihres Vor-
kommens als eingeführt bezeichnet worden sind). Hiezu gehören Kul-
turgewächse die auf verlassenen Plantagen sich erhalten und fortpflanzen,
sowie die auf bebauten Boden beschränkten Pflanzen, welche mit jenen,
zum Theil erst in neuerer Zeit, nach Westindien gelangt sind. Es ist
überflüssig, näher auf diese Gewächse einzugehen , da sie in der westin-
dischen Flora nach den Angaben der Sammler durch die für solche Fälle
übliche Bezeichnung (*) von den einheimischen Pflanzen unterschieden
worden sind. Von manchen ist es ungewiss, ob sie sich auf die Dauer
6 A. GRISEBACH,
erhalten und in eine der folgenden Kategorieen übergehen. Der soge-
nannte amerikanische Muskatnussbaum (Monodora myristica) , der jedoch
erst von Afrika nach Amerika verpflanzt worden war, scheint zum Bei-
spiel in Jamaika wieder verloren gegangen zu sein und überhaupt in
Amerika nicht mehr vorzukommen. Solche Arten hingegen, die, wie
Ranunculus repens, eigentümliche klimatische Varietäten erzeugt haben, '
zeigen hiedurch die Fähigkeit, sich einen selbständigen Platz in der west-
indischen Gebirgsvegetation zu erobern und ihn in der Zukunft festzu-
halten.
2. Ubiquüäre Pflanzen. Von den durch mehr als 80 Breitegrade
und den ganzen Umfang der Meridiane Verbreiteten Gefasspflanzen kom-
men 34 Arten in Westindien vor, welche grösstenteils in dem entspre-
chenden Verzeichnisse A. de Candolle's 1 ) erwähnt werden. Sie sind
sämmtlich entweder Wasser- und Sumpf- oder Litoral-Pflanzen , deren
Verbreitungsweise durch Zugvögel und Strömungen als möglich nachge-
wiesen ist, oder Begleiter der Kulturfelder, die den Kolonisationen über
die Erdkugel gefolgt sind. Ihre Unabhängigkeit von klimatischen Ein-
flüssen zeigt sich nur bei zwei Cruciferen gemindert (Cardamine hirsuta
und Senebiera pinnatifida) , welche in Jamaika nach Macfadyen auf die
Gebirge der Insel beschränkt sein sollen. Nur in wenigen Fällen ist
durch die Form des Verbreitungsbezirks eine Andeutuug der ursprüng-
lichen Heimath gegeben, namentlich bei Dichondra repens, die in der
südlichen gemässigten Zone allgemein vorkommt und die nördliche nur
in einzelnen Meridianen erreicht.
/. PL hydrophilae 2 ).
Ceratophyllum demersum £. 62° — 44°.
Nashutram officinale R. Br. 58° —42°.
— palustre DC. 71° —40°.
Suaeda fruticosa Forsk. 55° —23°.
Drosera longifoKa L. 71° —23°
Isnardia palustris L. 54° — 34°.
Callitricbe verna L. 71° —52°.
Samolus Valerandi L. 60° —34°
— maritima Dum. 62° —45°. |Ruppia maritima L. 59° —40°.
1) Geogr. botan. p. 564.
2) Die erste Ziffer bedeutet nördliche, die zweite südliche Breite.
DIE GEOGRAPHISCHE VERBREITUNG DER PFLANZEN WESTINDIENS.
Potainogeton natans L. 68° — 40°. |Lemna trisulca L 67° —40°.
— fluitans Rth. 56° —40°.
Lemna minor. 67° — 40° L.
Typha angustifolia L. 67° -40°.
2. PL agreste8 etc.
Cardamine hirsuta L. 64° — ?*). Datura Stramonium L. 60° —40°.
Senebiera pinnatifida DC. 55° —35°. — Tatula L. 50° —40°.
Oxalis corniculata L. 57 9 —35°. Dichondra repens Forst 40° —48°.
Lythrum Hyssopifolia L. 54° —40°. Verbena officinalis L. 57° —40°.
Erigeron canadensis L. 67° - 34°. Eragrostis pilosa P. B. 51° —34°.
Senecio vulgaris L. 71° —52°. l — poaeoides P.B. 52° —34°.
Sonchus oleraceus L. 67° 45°. jPanicum crusgalli L. 57° — 34°.
— asper Vill. 67° —40°. ;Setaria glauca P. B. 56° —40°.
Plantago major L. 67° —40°. lAndropogon Ischaemum L. 52° — 34°.
Solanum nigrum L. 61° —40°. I
3. Transoceaniscke Areale. (252 Arten). Die erste Zusammenstel-
lung von Gewächsen, welche die tropischen Meere auf ihrer Wanderung
überschritten haben, ist bekanntlich in der Abhandlung R. Brown's über
die Congo-Pflanzen enthalten und neuerlich von A. de Candolle beträcht-
lich vervollständigt worden. Allein ihre Anzahl wächst im Verhältnis«
ausgedehnterer Vergleichungen , und in der westindischen Flora allein
sind bereits mehr als doppelt so viel transoceanische Arten nachgewie-
sen, wie in den Verzeichnissen de Candolle's. In manchen Fällen, na-
mentlich bei der Verbreitung nach den nördlichen Küsten Australiens,
die damals von der Kolonisation noch ganz unberührt waren, hat R.
Brown die Einwanderung auf natürliche, ohne Zuthun des Menschen wir-
kende Ursachen zurückgeführt. Seine Ansicht, dass hiebei die oceani-
schen Strömungen durch die Hinüberfährurig des Samens zu gleicharti-
gen Klimaten besonders thätig sind, erhielt durch die Versuche Darwin's
und Anderer über die Keimfähigkeitsdauer im Meerwasser schwimmen-
der Früchte eine neue Stütze. Was aber den Zusammenhang betrifft,
1; Die Identität von C. hirsuta der südlichen gemässigten Zone ist bestritten:
vergl. Bemerkungen über Pflanzensammlungen Philippi's und Lechler's S. 5.
27. (Bd. 6. dies. Abh.), und J. Hooker Fl. Tasman. p. 20.
8 A. GRISEBACH,
den R. Brown zwischen der Organisation des Samens und den transoce-
anischen Wanderungen zu finden glaubte, so lässt sich seine Meinung
nicht mehr festhalten , oder vielmehr die Mittel , welche die Dauer der
Keimfähigkeit erhöhen, erscheinen mannigfaltiger, und die Art, wie sie
wirken, ist nicht überall erkennbar. Es ist zwar •richtig, dass die al-
bumenfreien Familien mit entwickeltem Keim, wie die Leguminosen,
Malvaceen und Convolvulaceen , zahlreichere Beispiele von transoceani-
scher Verbreitung enthalten, aber Suaeda, Pisonia, Scaevola, Solanum
u. a. besitzen ein ausgebildetes Albumen gleich den meisten Monokoty-
ledonen. Man könnte vielleicht behaupten , dass entweder der ent-
wickelte Keim die Wanderung begünstige, oder in anderen Fällen das
Starkemehl des Albumens, welches leichter als die Fette der Zersetzung
widersteht, aber auch hiemit würde die Verbreitung von Scaevola und
Solanum nicht erklärt sein. Ein bemerkenswerthes Beispiel von der
Erhaltung der Keimkraft oelreicher Samen ist Hippomane Mancinella, wel-
che nach Andersson auf den Galapagos vorkommt, wohin dieselbe nur
durch das Meer, verpflanzt sein kann, da, wie J. Hooker gezeigt hat,
die einzige Verknüpfung dieses Archipels mit der Flora Panama's und
Westindiens auf einer oceanischen Strömung beruht: übrigens fehlt je-
ner Euphorbiaceenbaum in den nachfolgenden Verzeichnissen, gleich den
übrigen Pflanzen, deren Wanderung nur bis zu verhältnissmässig nahen
Inselgruppen oder Küsten reicht. In den meisten Fällen, wo eine Ver-
breitung nach den Galapagos stattgefunden hat, ist dieselbe durch das
Vorkommen auf dem Isthmus von Panama vermittelt: die wenigen Arten,
wo zwischenliegende Standorte bis jetzt nicht bekannt sind, habe ich am
Schluss der Uebersicht transoceanischer Areale zusammengestellt und
darauf die ebenfalls geringe Zahl von sporadisch vertheilten Pflanzen fol-
gen lassen, welche Westindien und der nördlichen gemässigten Zone zu-
gleich angehören. Unter diesen letzteren hat die Ansiedelung einiger
europaeischer Unkräuter und Wasserpflanzen nichts Auffallendes , das
Vorkommen von zwei westindischen Holzgewächsen auf den Bermudas
lässt sich durch den Golfstrom erklären, und die Verbreitung einer süd-
amerikanischen Liliacee bis zum Cap der guten Hoffnung wird, falls die
N
DIE GEOGRAPHISCHE VERBREITUNG DER PFLANZEN WESTINDIENS. 9
Identität der Art sich bestätigt, ebenfalls an die analogen transoceani-
schen Wanderungen innerhalb der Tropen sjch anschliessen. Das merk-
würdigste und wiewohl es sich dabei um eine schwimmende Pflanze des
süssen Wassers handelt, bis jetzt unaufgeklärte Beispiel intermittirender
Verbreitungsweise ist Brasenia peltata, zu deren, von J. Hooker nach-
gewiesenen Fundorten, nun durch Wright's Entdeckung auch das westli-
che Cuba hinzuzufügen war.
Die meisten transoceanischen Pflanzen Westindiens begleiten die
Kulturfelder und Plantagen, und auch unter den übrigen sind manche
Holzgewächse und Lianen enthalten, die mit der Kolonisation oder dem
Negerverkehr der Inseln in Beziehung stehen. Da aber diejenigen Ar-
ten, bei denen eine Mitwirkung des Menschen auf ihre Verbreitung un-
denkbar ist oder nur durch so seltene Zufälligkeiten herbeigeführt sein
könnte, dass die Allgemeinheit ihres Vorkommens dabei unerklärt bliebe,
fast ohne Ausnahme entweder am Meeresufer wachsen oder Wasser- una
Sumpfpflanzen sind, und also in beiden Fällen ihren Samen die Strö-
mungen des Oceans oder der Flüsse zu Gebote stehen, so lässt sich ihre
Verbreitung auf bestimmte Ausgangspunkte oder Schöpfungscentren zu-
rückführen. Auch bei den im Allgemeinen durch den menschlichen Ver-
kehr absichtlich oder zufallig übersiedelten Gewächsen ist in gewissen
Fällen nach dem Vorgange R. Brown's die Verpflanzung durch natür-
liche Ursachen nachzuweisen , namentlich bei Arten , welche auf den
nicht kolonisirten und unbewohnten Inseln des Gallapago%- Archipels an-
getroffen sind (z. B. Mollugo nudicaulis, Sida spinosa u. a., Cassia occiden-
taüs, Solanum verbascifolium, Ipomoea pentaphylla, Commelyna cayennensis
u. 8. w.). Die Meeresströmungen sind nun wohl das einzige Mittel,
durch welches eine Uebertragung vpn Kontinent zu Kontinent über den
atlantischen oder stillen Ocean hinüber möglich ist. Auf so grosse Ent-
fernungen könnte der Wind vielleicht Sporen, aber nicht Körper vom
Gewicht eines phanerogamischen Samens schwebend erhalten: auch weht
der Passat nirgends über eine grössere Meeresbreite von einem tropischen
Kontinent zum andern, ausgenommen von Australien nach Java. Procella-
rien, Vögel, die das atlantische Meer kreuzen, ernähren sich von Seethieren :
Phy$. ChMMe. XII. B
10 A. 6RISEBACH.
wie sollten sie Samen von Landpflanzen beherbergen? Nehmen wir dem-
nach an, dass alle transoceanischen Pflanzen Westindiens entweder durch
die Kolonisation oder durch Meeresströmungen angesiedelt sind, so würde
es nahe liegen, die letzteren als ursprünglich nicht amerikanisch anzu-
sehen, weil die allgemeine Bewegung des Meers innerhalb der Tropen
nach Westen gerichtet ist und keine Strömung von Amerika auf gera-
dem Wege zu anderen tropischen Kontinentalküsten hinüberführt. In-
dessen lehrt eine genauere Untersuchung, dass die grossen Aequatorial-
strömungen beider Meere an der Wanderung von Iitoralpflanzen
grösstenteils unbetheiligt sind, die atlantische nicht, weil sie durch den
Guinea -Strom von den Küsten des tropischen Afrika's geschieden wird,
und ebenso wenig die pacifische, welche, ehe sie Asien erreicht hat, sich
verliert und in Gegenströme auflöst. Die den beiden Küsten des atlan-
tischen Meers gemeinsamen Pflanzenform^n werden daher nur durch die
Verzweigungen des Golfstroms verknüpft, der, die Sargassosee umkrei-
send, der Küste Afrika's schwimmende Körper zufahren kann , die von
den westindischen Inseln abstammen. Hierdurch wird die amerikanische
Heimath leicht erklärlich, auf die man bei mehreren dieser Gewächse,
z. B. Drepanocarpus lunatus, Hecastophyllum Brownii , Paullinia pinnata,
aus anderen Gründen schliessen musste. Aber man muss erstaunen
über die Dauer der Keimkraft eines Samens, wenn man bedenkt, wie
sehr der Abstand von Afrika und Amerika durch die Bewegung im
Golfstrome veigrössert wird , oder wenn man sich die Länge des Weges
vergegenwärtigt, den eine den drei Kontinenten gemeinsame Litoralpflanze,
wie Paritium tiliaceum , zurüklegen muss , um aus dem indischen Meere
durch den Capstrom an die atlantischen Küsten verpflanzt zu werden.
Dennoch giebt es eine Reihe pflanzengeographischer Thatsachen, welche
in solchen Betrachtungen eine gemeinschaftliche Erklärung finden: die
Beschränkung gewisser Pflanzen auf die beiden atlantischen Tropenkü-
sten ohne Theilnahme Asiens, das Vorkommen der in beiden Indien
wachsenden auch in Afrika, die Verknüpfung der pacifischen Archipele
mit Asien durch die aequatoriale Gegenströmung mit Ausschluss der
Gallapagos, die von derselben nicht erreicht werden, endlich das Fehlen
DIE GEOGRAPHISCHE VERBREITUNG DER PFLANZEN WESTINDIENS. 11
amerikanischer Forcen auf den meisten Südseeinseln, welche nur mit
dem abweichenden Klima Peru's durch Meeresströme in Verbindung
stehen. Die einzige Schwierigkeit bei dem Versuche, die Verbreitung
der tropischen Litoralpflanzen aus der Richtung der oceanischen Strö-
mungen zu erklären, bietet die Westküste Cen tralamerika's : allein die
geringe Breite döfc Isthmus lässt hier den verschiedensten Vehikeln der
Wanderung freien Spielraum, und die Möglichkeit einer ehemaligen
Senkung desselben unter den Spiegel des Meers braucht nicht einmal
herbeigezogen zu werden.
Bei einigen transoceanischen Holzgewächsen und Lianen, die weder
auf die Küsten beschränkt noch durch die Kolonisation verbreitet sind,
kann die Verpflanzung durch Meeresströmungen davon abgeleitet werden,
dass dieselben in den Ufer Waldungen der Flüsse vorzugsweise häufig vor-
kommen, deren Gewässer die Früchte aufnehmen und weiterführen kön-
nen. Dahin gehören von Bäumen Andira inermis ; von holzigen Lianen :
Cissampelos Fareira, Faullinia pinnata, Entada scandens, Abrus precato-
rius, Dioclea reflexa, Mucuna urens und pruriens, von nicht holzigen Lia-
nen mehrere Ipomoeen. Nur wenige Fälle transoceanischer Wanderung
bleiben bis jetzt unerklärt, vielleicht weil wir von den Standorten nicht
hinlänglich unterrichtet sind : Lonchocarpus sericeus, ein Baum an beiden
atlantischen Küsten, der in Jamaika auf felsigem Boden wächst; Pepe-
romia reflexa, ein Epiphyt der Wälder in allen tropischen Meridianen und
bis zum Cap verbreitet; drei Gramineen, Panicum- Arten , von denen P.
pallens ebenfalls im Schatten des Waldes vorkommt, aber auch von Rieh.
Schomburgk auf feuchten Weideplätzen angegeben wird, während P.
prostratum und molle als Savanengräser gelten, das letztere übrigens
auch wegen seines Futterwerthes in Kolonieen, wo es nicht einheimisch
war, absichtlich eingeführt worden ist.
Die Mehrzahl der transoceanischen Gewächse, welche mit den Kul-
turpflanzen unabsichtlich verbreitet sind, besteht zwar, wie auf den Ae-
ckern der gemässigten Zone, aus vergänglichen, einjährigen und vielsami-
gen Produktionen, aber, wie unter den Tropen häufig auch die weiche
Axe verholzt und in der gleichmässigen Temperatur des Jahrs der Ge-
B2
12 A. GRISEBACH,
gensatz ein- und mehrjährigen Wachsthums verschwindet, so giebt es in
dieser Reihe auch wirkliche Sträucher, welche die Baumkulturen der
Plantagen begleiten oder sich, wenn diese verlassen werden, massenhaft
ausbreiten. Hierzu möchte auch die eigen thümliche Form von Citrus
Aurantium (var. spinosissima Mey.) gehören, welche man in Westindien
und Süd- Amerika als ein einheimisches Gewächs bezeichnet hat. Ist v.
Humboldts Meinung l ) begründet, dass dieser Strauch schon vor der Zeit
der Europaeer daselbst vorhanden gewesen sei, so würde in dessen Vor-
kommen eine ausgezeichnete Stütze für die Annahme von vorhistori-
schen Verbindungen zwischen den Küsten Völkern der Südsee liegen, in-
dem in diesem Falle der asiatische Ursprung klar und die Uebertragung
durch natürliche Ursachen höchst unwahrscheinlich ist. Denn einestheils
hat sich die specifische Eigenthümlichkeit der amerikanischen Form, die
Meyer und Macfadyen behauptet hatten 2 ) , nach umfassenderen Verglei-
chungen nicht bestätigt, andern theils giebt es bekanntlich keine zweite
in Amerika einheimische Aurantiacee und keine Thatsache liegt vor,
welche auf die Möglichkeit von transoceanischem Transport durch na-
türliche Mittel bei Gliedern dieser ostindischen Pflanzengruppe hindeutet.
Von den tropischen Pflanzen habe ich diejenigen Arten nicht ab-
gesondert, die auch in die wärmeren Gegenden der gemässigten Zone
eintreten, wenn nach ihrer Gesammtverbreitung oder nach dem Typus
ihrer Organisation der Ausgangspunkt ihrer Verbreitung innerhalb der
Wendekreise anzunehmen war. Bei diesen habe ich die Polargrenzen,
so weit sie bekannt sind, angeführt; in allen Fällen, wo das Vorkommen
ausserhalb der Wendekreise nicht nachgewiesen ist, fehlt dieser Werth.
Namentlich bei einjährigen Gewächsen, die wegen der Kürze ihrer Ve-
getationszeit auch jenseits der Tropen die Sommerwärme finden, welcher
sie bedürfen , ist hier freilich nur eine willkührliche Grenze gegen die
Reihe der ubiquitären Pflanzen möglich: die Isothermen von 12° R.,
welche etwa 80 Breitegrade einschliessen , sind im Allgemeinen als die
1) Humboldt, Ess. pol. Cuba, 1. p. 68.
2) Veg. der Karaiben p. 34. (nach Meyer's Flora esseq. und Macfadyen's FJ. of
JamaicaX
/
DIE GEOGRAPHISCHE VERBREITUNG DER PFLANZEN WESTINDIENS. 13
äussersten Linien festgehalten, bis zu denen sich gewisse Pflanzen der
tropischen Zone ausgebreitet haben. Es zeigt sich hier das eigentüm-
liche Verhältniss , dass ein Theil der Arten vorzugsweise in die nördli-
che, ein anderer in die südliche gemässigte Zone vordringt. Dies steht
wahrscheinlich in manchen Fällen mit dem ursprünglichen Ausgangs-
punkte der Wanderung in Verbindung und tritt noch auffallender bei
den auf Amerika eingeschränkten Gewächsen hervor, bei denen ich diese
Erscheinung naher erörtern werde.
A. Tropische Areale 1 ).
/. PL lit orales.
Anona palustris L.
Se8uvium Portulacastnun L. 38° - 48°.
Suriana maritima L.
Paritium tiliaceum Juss. 23° - 34°.
Thespesia populnea CorrT 23° — 34°.
Dodonaea viscosa L.
— Burmanniana DC. 30° —40°.
— angustifolia Sw. 28° —34°.
Tributes cistoides L. 30° —23°.
Drepanocarpus lunatus Mey.
Hecastophyllum Brownei Pers.
Sophora tomentosa L.
Guilandina Bonducella L. 30° —23°.
Rhizophora Mangle L. 30° —23°.
Laguncularia racemosa 6.
Conocarpus erectus L. 25* - 23°.
Scaevola Plumieri L. 25° —34°.
Enicostema litoraleBl. (Slevogtia occ. etor.
sec. Kl.).
Argyreja tiliifolia Wight.
Ipomoea pes caprae Sw.
— asarifolia R. S.
Heliotropium curassavicum L. 45° —45°.
Avicennia nitida Jacq.
— tomentosa Jacq. 25° —40°.
Sporobolus litoralis Kth. 45° —23°.
Chloris petraea Thunb. 32° —34°.
Stenotaphrium americanum Schrk. 32° — 35°.
Kyllinga aphylla Kth.
Remirea maritima Aubl. 23° — 30°.
Scirpns obtusifolius V. 23° —34°.
— ferrugineus L. 23° —35°.
2. PL ripariae et hydrophilae, sylvalicae etc.
Cissampelos Pareira L. 28° —23°.
Paullinia pinnata L.
Peperomia reflexa Kth. 28° —34°.
Abras precatorius L. 23° —34°.
Dioclea reflexa J. Hook.
Mucuna pruriens DG.
Mucuna urens DC.
Lonchocarpus sericeus Kth.
Andira inermis Kth.
Entada scandens Benth.
Neptunia oleracea Lour. 30° — 23°.
Ammannia latifolia L. 42° -23°.
1) Die erste Ziffer bedeutet nördliche, die zweite südliche Breite.
14
A. GRISEBACH.
Jussiaea repens L. 40° — 40.°
— acuminata Sw.
— suffruticosa L. 36° —23°.
Hjrdrocotyle asiatica L. 35° —40°.
— natans Cyr. 40° —23°.
Geophüa reniformis Don.
Centunculus pentandras RBr.
Herpestiß Monnieria Kth. 40° —40°.
Leersia faexandra Sw. 37 9 — 34°.
Vetiveria arundinacea Gr.
Cyperus polystachyus Rottb. 41° — 34°.
— mucronatus Rottb. 36° —23°.
9
— compresßuß L. 40° — 23°.
— aristatus Rottb. 23° —84°.
— Haspan L. 35° —34°.
Cyperus articulatus L.30 —34.
— rotundus L. 45° —40°.
— esculentus L. 45° — 34°.
— distans L. 23° —34°.
— elatus L.
— ligularis L. 23° —34°.
Kyllinga trioeps Rottb.
— monocephala Rottb.
— punüla Mich. 40° —34°.
— brevifolia Rottb.
Abildgaardia monostachya V. 23°
Scirpua capitatus L. 30° —23°.
— capillaris L. 40° —23°.
Fuirena umbellata Rottb.
Rhynchospora surinamensis Ns.
-34<
3. PL agresle*) inlroductae etc.
(Holzge wachse kursiv gedruckt, meist durch Kultur verbreitet, alle übrigen kraut-
artig oder Gräser).
Argemone mexicana L. 40° — 40°.
Sinapis brassicata L.
Oleome pentaphylla L.
Polygala paniculata L. 23° —35°.
Phyllanthus Niruri L. 23° —34°.
Euphorbia prostrata Ait. 30° —23°.
— pilulifera L. 35° —30°.
— hypericifolia L. 46° —40°.
Drymaria cordata W.
Mollugo nudicaulis Lam.
Portulaca oleracea L. 53° — 34°.
Chenopodium ambrosioides L. 49° » 40°.
Celosia argentea L.
Achyranthes aspera L. 40° —34°.
Cyathula prostrata Bl. 30° —23°.
Philoxerus vermiculatus R. Br. 33° —23°.
Alternanthera sessilis R. Br. 40° —40°.
— ficoidea R. Br. 23° —40°.
Amarantus spinosus L. 40° —23°.
— paniculatus L.
Euxolus caudatus Moq. 23° — 35°.
Boerhavia paniculata Rieh. 30° — 23°.
Pisonia aculeata L.
Malvastrum tricuspidatum As. Gr. 32° —23°.
— spicatum Gr. 32° —23°.
Sida carpinifolia L. 32° —23°.
— spinosa L. 41° —35°.
— rhombifolia L. 40° -36°.
— urens L. 23° —28°.
— cordifoliä L. 23° —34°.
— linifolia Cav.
Abutilon periplocifolium G. Don.
— indicum G. Don.
Malachra capitata L.
Urena lobata L.
— ßinuata L.
DIE GEOGRAPHISCHE VERBREITUNG DER PFLANZEN WESTINDIENS. 18
Guasuma tomentota Kth. 30° —0°.
Waltheria americana L. 30 —23°.
Corchorus acutangulus Lam.'
•
Triumfetta Lappula L.
— semitriloba L.
— rhomboidea Jacq.
Cohbrina asiatica Brongn.
Sauvagesia erecta L.
Cardiospermum Halicacabum L. 35° — 34°.
— microcarpum Kth. 23° — 34°.
Melia sempervirens L. 30° — 23°.
Carapa guianensis Aubl.
Citrus Aurantium L. var.
Fleurya aestuans Gaudich.
Polygonum glabrum W. 32° —35°.
Crotalaria lotifolia L.
— incana L.
— striata DC.
Indigofera subulata V.
— viscosa L.
— Anü L. 34° -23°.
Tephrosia apollinea DC. 30° —20°.
— leptostachya DC.
Sesbania aegyptiaca Pers. 30° —23°.
— aculeata Pers.
Aeschynomene sensitiva Sw.
Zornia diphylla Pers. 35° —30°.
Desmodium triflorum DC.
— incanum DC.
— spirale DC. 35° —23°.
Stylosanthes procumbens Sw.
Rhynchosia minima DC.
Clitoria Ternatea L.
Centrosema virginianum Benth. 40° — 30°.
Teramnus labialis Spr. 23° —34°.
Galactia filiformis Benth. 30° —23°.
Pachyrrhizus angulatus Rieh.
Vigna vexillata Benth.
Phaseolus lunatus L.
— adenanthus Mey. 23° —35°.
— semierectus L.
Canavalia obtuBifolia DC. 23° —30°.
— gladiata DC. 23° —35°.
Caetalpinia pulcherrima Sw.
Cassia bicapsularis L. 34° — 23 9 .
— alata L.
— tomentosa L. 30° —34°.
— . occidentalis L. 30° —40°.
— glauca Lam.
— obtusifolia L. 40° —23°.
— Absns L.
Dialium nitidum G. P.
Desmanthus virgatus W. 30° — 35°.
Mimosa pudica L.
— osperata L. 30° —23°.
Leucaena glauca Benth.
Acacia Farnesiana W. 30° —30°.
Chrysobalanus Icaco L.
Quisqualis ebracteata P. B.
Hernandia sonora L.
Momordica Charantia L.
Luffa acutangula Ser. 30° —23°.
Lagenaria vulgaris Ser. 30° — 23°.
Helosciadium leptophyllum DC. 32°
Ximenia americana L. 80° — 35°.
Oldenlandia corymbosa L.
herbacea DC.
Sparganophorus Vaillantii G.
Vernonia cinerea Less.
Elephantopus scaber L. 30° —28°.
Ageratum conyzoides L. 34° — 30°.
Xanthium macrocarpum DC. 46° —35°.
Eclipta alba Hassk. 40° —30°.
Bidens leucanthus W. 84° — 34 9 .
— bipinnatus L. 50° —35°.
Emilia sonchifolia DC.
0°.
16
A. GRISEBACH,
Brachyrhamphus^intybaceus DC.
Pongatium indicum Lam. 30° —23°.
Vinca rosea L. 30° —23°.
Scoparia dolcis L. 25° —23°.
Capraria biflora L.
Vandellia diffusa L.
— crustacea Benth.
Schwenkia americana L.
Datura Metel L. 40° -23°.
Physalis peruviana L. 38° —34°.
— minima L.
— angulata L. 40° —23°.
Capsicum frutescens L.
— baccatum L.
Solanum nodiflorum Jacq.
— verbascifolium L.
— torvum Sw. 34° —23°.
— virgatum Lam. 30° —23°.
latifolium Poir.
Blechum Brownei Juss.
Ipomoea bona nox L.
— tuberosa L.
— dissecta Pursh. 40° —23°.
— pentaphylla Jacq.
— digitata L.
— Jalapa Pursh. 36° —23°.
— pulchella Rth.
— Carolina L.
— umbellata Mey.
— Quamoclit L. 30° —23°.
— coccinea L. 40° —34°.
— Nu Rth. 40° —23°.
Convolvulus ovalifolius V.
Evolvulus alsinoides L.
Heliotropium indicum L. 40° — 35°.
Hyptis spicigeta Lan>.
— capitata Jacq.
— brevipes Poit.
— atrorubens Poit.
suaveolens Poit.
— pectinata Poit. 23° —35°.
Leucas martinicensis R. Br. 23° —34°.
Leonotiß nepetifolia R. Br.
Lippia nodiflora Rieh. 40° —35°.
Gommelyna cayennensis Rieh. 36° —23°.
Eragrostis bahiensis Sehr. 30° —30°.
— ciliaris Lk. 30° —34°.
Sporobolus virginicus Kth. 40° — 34°.
— indicus R. Br. 33° —34°.
Leptochloa mucronata Kth. 40° —23°.
Chloris barbata Sw.
Dactyloctenium aegyptiacum W. 40° — 34°.
Eleusine indica G. 45° — 36°.
Paspalum conjugatum Bg. 30° — 34°.
Digitaria marginata Lk. 40° — 40°.
— setigera Rth. 23° —34°.
Panicum paspaloides Pers. 30° —23°.
— colonum L. 40° -23°.
— prostratum Lam. 30° —34°.
— molle Sw. 23° —34°.
— pallens Sw. 23° —36°.
Cenchrus tribuloides L. 45° —23°.
— echinatus L.
Lappago aliena Spr. 30° — 34°.
Manisuris granularis Sw. 35° — 23°.
Sorghum halepense Pers. 45° — 34°.
Evolrolus linifolius L.
B. Unvermittelte Verbindung zwischen Westindien und den Gallapagos.
Passiflora lineariloba J. Hook. Jamaika — Dominica.
Microcoecia repens J. Hook. Cuba.
Gyperus ochraceus V. Cuba — Trinidad.
DIE GEOGRAPHISCHE VERBREITUNG DER PFLANZEN WESTINDIENS. 17
C. Verbreitung westindischer Pflanzen zu den Bermudas.
Elaeodendron xylocarpum DC. S. Thomas.
Rhachicallis rupestris DC. Bahamas — Jamaika.
D. Transoceanische Verbindung Westindiens mit den gemässigten Zonen.
a. PL aquaticae.
Brasenia peltata Pursh. Canada — Cuba; Bhotan, Khasia, trop. Australien.
Potomageton plantaginea Ducr. Westeuropa; Jamaika.
•Najas major All. Europa, Asien, Sandwich -Inseln, Antigua.
— flexilis Rostk. Nordeuropa ; Canada — Mexiko ; Haiti, Guadeloupe.
b. PI. agrariae.
Abutilon crispum G. Don. Venezuela — Neumexico ; Ostindien.
Phytolacca decandra L. Nordamerika — Cuba; Sandwich -Inseln, China; Azoren,
canarische Inseln, Mediterrangebiet (eingeführt).
Rumex obtusifolius L. Nördliche gemässigte Zone — Cuba; Brasilien.
Juncus tenuis W. Nordamerika — Uruguay; Westeuropa.
c. Crinum giganteum Andr. Brasilien, Jamaika, Westafrika — Cap.
4. Areale, die beide tropische Zonen Amerikas umfassen.
Die geographischen Verbreitungsbezirke der Pflanzen sind unter den
Tropen, ebenso wie in der nördlichen gemässigten Zone, in zahlreichen
Fällen bei Weitem grösser, als man früher geglaubt hat. Je mehr die
Sammlungen aus den entlegene Standorte verbindenden Zwischenländern
verglichen werden, desto häufiger zeigen sich die Areale nach innen
zusammenhängend, nach aussen abgeschlossen, wie das Gesetz der Schö-
pfungscentren fordert. In der südlichen gemässigten Zone dagegen, wo
die Hauptgebiete von geringerem Umfang und in westöstlicher Richtung
durch weite Meere oder wüste Ebenen l ) getrennt sind , zeigen sich auch
die Areale verhältnissmässig am kleinsten. Unter den westindischen
Gefasspflanzen , soweit sie auf Amerika beschränkt oder höchstens bis
zu benachbarten Archipelen, wie den Gallapagos und Bermudas reichen,
1) Hiedurch erklärt sich wohl am einfachsten der Gegensatz der Ost- und West-
gliederung des südlichen Australiens, den Dr. Hooker besprochen hat (Tas-
man. Fl. Introduct. p. 54)*
Phys. Classe. XII. " C
18 A. GRISEBACH,
bewohnt nach meinen Untersuchungen ungefähr der sechste Theil den
ganzen Raum des tropischen Gebiets, und hierunter findet sich wieder
eine Anzahl, welche über die Wendekreise und den Bereich der tropi-
schen Jahrszeiten hinaus in die wärmeren Gegenden der gemässigten
Zonen eindringen. In dem letzteren Falle betrachte ich nämlich nicht
die Wendekreise selbst als die Polargrenzen der tropischen Vegetation,
sondern die gebogenen Linien, welche das klimatische Gebiet tropischer
Regenzeiten einschliessen , von denen die eigenthümliche Physiognomie
ihrer Natur, die Mischung der Baumarten in den Wäldern, der Reich-
thum ihrer Parasiten und Epiphyten , die Mannichfaltigkeit ihrer Lianen,
in den Savanen die Aufnahme von grösseren Holzgewächsen abhängt.
In dem nachfolgenden Verzeichnisse, wo die Polargrenzen, wie vorhin
nur bei den in nicht tropische Klimate eindringenden Pflanzen angege-
ben sind, ist daher keine Rücksicht darauf genommen, ob z. B. eine
Art in Brasilien nur bis zur Breite von Rio oder von Porto Alegre beob-
achtet worden ist: denn hier reichen tropisches Klima und tropische
Formationen bis über den 30sten Grad südlicher Breite, wogegen an der
mexikanischen Ostküste der Wendekreis als Polargrenze tropischer Natur
gelten kann. Ein ähnlicher, aber weit merkwürdigerer Unterschied tritt
in Westindien selbst hervor, wenn wir die Vegetation ^er Bahama's mit
dem gegenüberliegenden Festlande von Florida vergleichen : jene ist
tropisch, dieses besitzt nur vereinzelte tropische Bestandteile. Die Insel
New Providence, wo wahrscheinlich Swainson's Bahama - Pflanzen haupt-
sächlich gesammelt worden sind, wird von dem 25sten Parallelkreise
geschnitten: etwas südlicher, jedoch noch unter demselben Breitegrade,
liegt der dem Südende von Florida benachbarte kleine Archipel von Key
West, von dessen Vegetation man einige Kunde hat. Die Flora der
Bahama's ist nur ein Glied der westindischen: die grosse Mehrzahl der
Pflanzen wächst auch in Cuba und auf anderen Antillen, bis hieher
reichen westindische Arten von Anonaceen (Anona), Malpighiaceen (Byr-
sonima, Malpighia, Stigmaphyllon , Triopteris), Meliaceen (Swietenia Ma-
hagoni), Laurineen (Nectandra sanguinea), Cycadeen (Zamia) und epiphy-
tische Orchideen (Epidendrum). Der Vegetationscharakter von Florida
DIE GEOGRAPHISCHE VERBREITUNG DER PFLANZEN WESTINDIENS, 19
hingegen ist im Allgemeinen mit dem von Georgien und Carolina über-
einstimmend; die Vertreter tropischer Familien, welche in den südlichen
Staaten vorkommen , haben sich in Westindien nicht wiedergefunden (mit
Ausnahme von Sabal Palmetto, einer Palme, die vielleicht durch den
Verkehr übergesiedelt ist); von westindischen Holzgewächsen kommen
nur wenige in Florida und Key West vor (in Florida 2 Coccoloba-Arten,
Pithecolobium unguis cati, Guettarda elliptica, Psychotria lanceolata, M yr-
sine laeta , Jacquinia armillaris , Tournefortia gnaphalodes ; in Key West
Guajacum sanctum, Schaefferia'frutescens, Passiflora angustifölia , Exo-
stemma caribaeum, Erithalis fruticosa. Beurreria tomentosa). Wenn die
nördlichsten Bahama's, die über den 27sten Parallelkreis hinausreichen,
botanisch untersucht sein werden , ist mit Wahrscheinlichkeit zu erwarten,
dass der Unterschied von der kaum 14 g. Meilen entfernten Küste des
Kontinents noch auffallender horvortritt. Auch hier habe ich die Grenze
der eigentlich tropischen Vegetation als eine zwischen Florida einerseits,
Cuba und den Bahama's andererseits verlaufende Linie aufgefasst, die
daher vom Wendekreise bis zum 28sten Breitegrade nach Osten aufwärts
steigen würde, aber klimatische Ursachen scheinen hier nicht vorzuliegen.
Zwar werden auch den Bahama's tropische Jahrszeiten zugeschrieben 1 ),
aber während des Sommers, vom März bis zum September, herrscht hier
der Passat , der auf diesen niedrigen Inseln und in dieser Breite Nieder-
schläge tropischen Charakters nicht zu gestatten scheint. Ihr trockenes
Klima ist offenbar vielen tropischen, auf stärkere Befeuchtung angewie-
senen Gewächsen weniger günstig, als das des benachbarten Kontinents
mit seinen intensiven Sommerregen 2 ), wenn auch durch die oceanische
Lage die Temperaturunterschiede vermindert werden und dadurclv die
Aufnahme gewisser Pflanzen wiederum begünstigt ist. Noch weniger
lässt sich der Gegensatz beider Vegetationsgebiete aus Bodenverhältnissen
erklären : denn wie die Küste von Florida durch Korallenbänke umsäumt
wird, so ist auch der weite Archipel der Bahama's nichts weiter als ein
1) Schöpf, Reise. 2. 8.477. 483.
2) Blodget, Mineraiogy of the United States, p. 328.
C2
20 . A. GRISEBACH,
grosses Bauwerk von Korallenkalk. Wie kommt es nun, dass die west-
indische Pflanzenschöpfung sich dieses Archipels bemächtigt hat und der
ebenso nahe gelegenen und gleichgebauten Keys von Florida nicht?
Selbst die wenigen gemeinsamen Gewächse sind grossentheils auch an
den Kontinentalküsten des mexikanischen Meerbusens nachgewiesen und
können also ebensowohl von dort, als von Cuba, zu den Key's gelangt
sein. Die Ursache ist offenbar, dass die Bahamas mit den grossen An-
tillen durch» zahllose Inseln und Untiefen verbunden sind , Florida hin-
gegen mit seinen Key's von diesem Gebiete durch den Golfstrom getrennt
wird, der hier eng zusammengepresst am stärksten sich entwickelt und
die Früchte der Küstenpflanzen nicht von Ufer zu Ufer gelangen lässt,
sondern in das atlantische Meer hinaustreibt: ein Beweis, dass nicht
immer die Meeresströmungen Florengebiete verknüpfen , sondern dass sie
auch zur Erhaltung der Grenzen ursprünglich gesonderter Schöpfungen
beitragen können.
Vergleicht man die Organisation der durch das ganze Tropengebiet
Amerika's verbreiteten Gewächse, so geben sich manche Andeutungen
von dem höheren Grade ihrer Wanderungsfahigkeit zu erkennen. Die
Zahl der Holzgewächse ist geringer, als bei den endemischen Arten:
dieselbe beträgt ungefähr den vierten Theil der Gesammtzahl, und dabei
ist noch zu erinnern, dass unter den Bäumen etwa die Hälfte wegen
ihrer Produkte auch durch die Kultur verbreitet Worden ist. Ferner
• finden sich unter den artenreichsten Familien wiederum diejenigen, bei
denen die Lebensdauer des Keims gross ist 1 ). Endlich ist die Arten-
zahl im Verhältniss zu den Gattungen viel kleiner, als bei den ende-
mischen Pflanzen Westindiens, indem in vielen Fällen einzelne Arten
1) Leguminosen mit 55 Arten (7e der Gesammtzahl westindischer Formen dieser
Familie), Convolvulaceen 22 (7*)* Solaneen 15 (//*)> Malvaceen 12 (V?),
Gramineen 71 (7s), Cyperaceen 45 (7»); &Q übrigen Familien mit mehr als
12 Arten sind: Synanthereen 39 (77), Rubiaceen 18 (7is), Euphorbiaceen 17
(7") » Urticeen 16 (7e), Piperaceen 16 (7±), Melastomaceen 16 (7s), Boragi-
neen 13 (7s).
DIE GEOGRAPHISCHE VERBREITUNG DER PFLANZEN WESTINDIENS. 21
einer Gattung weithin sich ausbreiteten, während die übrigen lokal
blieben *).
Unter den amerikanischen Tropenpflanzen , welche die Grenzen des
tropischen Klimas überschreiten, finden sich nur wenige Holzgewächse:
die grosse Mehrzahl besteht auch hier wiederum aus Produktionen des
kultivirten Bodens, und auch diese sind im Allgemeinen nicht so weit
als die transoceanischen in die gemässigten Zonen vorgedrungen, sondern
finden ihre Polargrenzen oft schon in den südlichsten Staaten Nord-
amerika^, auf den Bermudas oder im Süden in Uruguay. Diese Er-
scheinung beruht offenbar auf der rascheren Abnahme der Wärme in Nord-
amerika im Verhältnisse zu Europa , sowie auf dem Einflüsse der Pampas
von Buenos Ayres. Alle diese Gewächse stelle ich in einem besonderen
Verzeichnisse zusammen, um die weit auffallendere Eigentümlichkeit
deutlicher zu machen, welche sich aus ihrer Verbreitung ergiebt Sie
zerfallen nämlich in drei Klassen, je nachdem sie in beiden Richtungen
die Tropen überschreiten, oder nur in einer der beiden gemässigten
Zonen nachgewiesen sind. Diesen Unterschied, der wohl in manchen
Fällen nur auf unvollständiger Kenntniss des Areals beruht, aber zwei-
fellos in anderen wesentlich ist , glaube ich nicht auf Einflüsse des Kli-
ma f s oder des Bodens beziehen zu können. Stellen wir zwei Gewächse
zusammen, von denen das eine in Florida, das andere in Uruguay an-
getroffen wird, während das erstere zugleich bis zum südlichen Brasilien,
das andere bis zu den grossen Antillen sich verbreitet hat, -so scheint
es durchaus an klimatischen Thatsachen zu fehlen, welche diesen Gegen-
satz veranlassen konnten. Die Wärme von Uruguay entspricht der der
südlichen Staaten Nordamerika^. Von den Niederschlägen Uruguay r s
bemerkt Darwin, dass viele und starke Regengüsse während des Winters
fallen, dass aber auch der Sommer nicht übermässig trocken sei: auch
hierin liegt wohl kein hinlänglicher Erklärungsgrund. In beiden Gebie-
ten endlich ist der Boden mannigfaltig und fruchtbar. In einigen Fällen
sind es vikariirende Arten von ähnlicher Organisation, welche diese ent-
, - - ■ ■ ■ ■ ■ T
1) Ausnahmen von dieser Regel ergeben sich bei Peperomia, Solanum, Ipomoea,
Tournefortia , Panicum und bei den Oyperaceen.
22
A. GRISEBACH,
gegenge$etzte Verbreitungsweise zeigen (z. B. Cuphea viscosissima und
hyssopifolia , Myrsine laeta und floribunda , Lantana odorata und Camara) :
man darf hier also wohl vermuthen, dass in der Natur dieser Pflanzen
kein Hinderniss ihrer Wanderung in beiden Richtungen liege. Aus
diesen Verhältnissen wage ich den Schluss zu ziehen, dass die Ursache
der verschiedenen Form ihrer Areale auf der verschiedenen Lage der
Ausgangspunkte ihre} Verbreitung beruhe, dass die Schöpfungscentren,
auf die sie ursprünglich beschrankt waren, in dem einen Falle diesseits,
im anderen jenseits des Aequators zu suchen sind, und dass sie daher,
gleichmässig nach Süden und Norden fortschreitend, in derselben Zeit
entweder den nördlichen oder den südlichen Wendekreis früher erreicht
haben. Vielleicht stiessen sie auch auf ihrer Wanderung auf mechanische
oder physiologische Hindernisse, sei es dass sie in nördlicher Richtung
den Floridastrom oder von Mexico aus die Prairien nicht überschreiten
konnten, oder dass in den Urwäldern und Savanen Brasiliens ein 'zu
kräftiges Pflanzenleben ihnen entgegentrat, welches sie in bestimmten
Richtungen nicht zu verdrängen vermochten.
a. Pflanzen, welche, auf Amerika beschränkt, von den Tropen aus die
Grenzen des tropischen Klima 9 s entweder in beiden Richtungen oder nord-
wärts (B) oder südwärts (A) überschritten haben.
(Holzgewächse cursiv.)
B. Petiveria alliacea L. 34°.
Chenopodium anthelmintliicum L. 42°
—35°.
B. Salicornia ambigua Mich. 42°.
Iresine celosioides L. 40° —35°.
A. Alternanthera polygonoides R. Br. 35°.
— Achyrantha R. Br. 36° — 35° l ).
A. Amarantus tristis L. 33°.
Boerhavia viscosa Lag. 30° - 33°.
B. Anoda hastata Cav. 36°.
Modiola caroliniana G. Don. 40° —40°.
1) Diese Art ist auf den canarischen Inseln und in Spanien eingeführt.
B.
Nymphaea ampla DG. 30°.
B.
Croton glandulosus L. 34°.
B.
Euphorbia maculata L. 40°.
B.
— heterophylla L. 40°.
B.
Arenaria diffusa £11. 36°.
B.
Mollugo verticillata L. 50°.
A.
Talinum patens W. 35°.
B.
Portulaca pilosa L. 35°.
B.
Trianthema monogynum L. 35°.
A.
Phytolacca octandra L. 35°.
B.
Rivina laevis L. 30°. |
DIE GEOGRAPHISCHE VERBREITUNG DER PFLANZEN WESTINDIENS. 28
A. Buettneria scabra L. 34°.
B. Melochia pyramidata L? 30°.
B. Triumfetta althaeoides Lam. 33°.
A. Salix Humboldtiana W. 35°.
A. Oxalis Martiana Zucc. 35°.
A. Urera caracasana Gaud. 35°.
Boehmeria cylindrica W. 45 — 35°.
Polygonum acre Kth. 40° —40°.
A. — acuminatum Kth. 40°.
B. -r~ Mei8snerianum Cham. Schi. 30°.
B. Goccoloba uvifera Jacq. 30°.
Desmodium uncinatum DC. 30° — 34°.
B. Rhynchosia reticulata DG. 30°.
Vigna luteola Benth. 30° —35°.
Porkinsoma aculeaia L. 35° —34°.
A. Cassia multyuga Rieh. 27°.
A. — patellaria DC. 34°.
B. Desmanthus depressus Kth. 30°.
A. Acacia macracantha Humb. 35°.
B. Cuphea viscosissima Jacq. 42°.
A. — hyssopifofia Kth. 34°.
B. Ammannia humilis Kth. 42°.
B. Cucumis Anguria L. 25°.
B. Passiflora incarnata L. 40°.
B. Hydrocotyle umbellata L. 42°.
— ranuneuloides L. 42° — 40°.
B. Hamelia patens Jacq. 25°.
Chiococca racemosa Jacq. 33° — 30°.
A. Diodia rigida Cham. Sw. 30.
A. Borrera rerticillata Mey. 34°.
B. Valeriana scandens L. 30°.
A. Erigeron bonariensis L. 35°.
A. Acantho8permum xanthioides DC. 35°.
Parthenium Hysterophorus L. 30° — 40°.
B. Ambrosia artemisifolia L. 45°.
B. Zinnia multiflora L. 36°.
B. Borrichia arborescens DC. 33°.
B. Bidens Coreopsidis DC. 30°.
A. Flaveria Contrajerva Pers. 34°.
B. Pectis prostrata Car. 80°.
A. Porophyllum ruderale Cass. 35°.
A. Galinsoga parviflora Cav. 34° ; (B*. —53°).
Gnaphalium albescens Sw. 42° — 34°.
— americanumMill. 30° —55°.
Erechthites hicraeifolia Pers. 42° —35°.
Leria nutans DC. 30* -34°.
Planfago virginica L. 45° — 40°.
A. Plumbago scandens L. 30°.
B. Utricularia subulata L. 45°.
B. Myrsine laeta A. DC. 30°.
A. — floribunda R. Br. 34°.
B. Jacqninia armiUaris L. 30°.
Vallesia glabra Cav. 25° —27°.
B. Buddleja americana L. 30°.
B. Buchnera elongata Sw. 30°.
B. Herpestis chamaedryoides Kth. 30°.
B. Micranthemum orbiculatum Nutt. 36°.
B. Physalis pubescens L. 40°.
B. — Linkiana Ns. 36°.
B. Solanum mammosum L. 36°.
A. Teeoma stans Juss. 27°.
Elytraria tridentata V. 30° - 35°.
B. Ruellia tuberosa L. 30°.
B. Jacquemontia tamnifolia Gr. 36°.
A. Evolvulus sericeus Sw. 34°.
B. Cuscuta umbellata Kth. 34°.
B. — obtusiflora Kth. 30°.
— indecora Chois. 40° —40°.
Cordia cylindrifiachya R. S. 27° 34°.
Heliotropium inundatum Sw. 30° — 34°.
parviflorum L. 25°.
Hyptis spicata Poit. 30° —35°.
— verticillata Jacq. 34°.
B. Micromeria Brownei Benth. 30°.
B. Salvia coccinea L. 33°.
Teucrium cubense L. 30° —35°.
B. -
A.
24
A. GRISEBACfl.
A. Teucrium inflatum Sw. 35°.
Lippia gemmata Kth. 30° —35°.
A. Lantana Camara L. 35°.
B. Pistia occidentaüs Bl. 30°.
Eragrostis reptans Ns. 45° — 35°.
B. — conferta Tr. 36°.
Aristida stricta Mich. 36° —34°.
A. Milium lanatum RS. 34°.
B. Oryza latifolia Desv. 36°.
B. Pharus latifolius L. 30°.
B. Leptochloa virgata P. B. 30°.
B. Chloris polydactyla Sw. 30°.
Paspalum comprÄssum Ns. 86° —35°.
— distidmm L. 40° —35°.
B. — setaceum Mich. 42°.
B. — plicattiium Mich. 40°.
A. — Yirgatum L. 34°.
B. Digitaria filiformis Mühl. 43°.
Eriochloa punctata Harn. 35° — 35°.
B. Panicum fuscum Sw. 30°.
B. — cyanescens Ns. 30°.
A. Setaria onurus Gr. 34°.
B. Tripsacum monostachyum W. 42°.
A. Tricholaena insularis Gr. 40*.
Andropogon saccharoides Sw. 36° — 35°.
A. — condensatus Kth. 34°.
Cyperus vegetus W. 36° —34«.
B. — Luzulae Rottb. 36«.
B. Scirpus plantagineus L. 30°.
B. — autumualis L. 43°.
B. — spadiceus L. 42°.
B. — brizoides Sm. 42°.
B. Hemicarpha subsquarrosa Ns. 40°.
B. Rhynchospora Vahliana Gr. 36*.
B. Scleria hirtella Sw. 30°.
Allium 8triatum Jacq. 36° — 34*.
Heteranthera reniformis P. B.42 —35°.
A. Eichhornia azurefe Kth. 35*.
B. Pontederia cordata L. 45°.
Tillandsia recurvata L. 36° —35°.
— usneoides L. 40° —34».
B. Burmannia capitata Mart. 36°.
b. Pflanzen, welche durch das ganze Tropengebiet Amerika 9 * (von den Antillen
und Mexico bis Peru und Südbrasilien) verbreitet sind, ohne dessen klimatische
Grenzen oder die grossen Oceane zu überschreiten.
(Holzgewächse cursiv gedruckt.) /
Clematis dioeca L.
Tetracera eolubilis L.
Davilla rugosa Poir.
Xylopia grendiflora St. Hil.
Byperbaena domingensis Benth.
Chondodendron tamoides Mrs.
Nymphaea Rudgeana Mey.
Gabomba piauhyensis Gardn.
Oleome polygama L.
— pungens W.
Tovaria pendula R. S. (Gebirgö von Peru
bis Jamaika).
Crataeva Tapia L.
Capparis cynophallophora L.
Bixa Orellana L.
Trilix crucis Gr.
Xylosma nitidum As. Gr.
Casearia sylvestris Sw.
— stipularis Vent.
— ramiflora V.
— parcifolia W.
Lacistema myricoides Sw.
DIE GEOGRAPHISCHE VERBREITUNG DER PFLANZEN WESTINDIENS 25
Corynostylis Hybmntkus Mart.
Polygala longicaulis Itth.
— angustifolia Kth.
Bieronyma alchomeoides Allem.
Cicca antiüana Juss.
Phyllanthus Conami Sw.
Jatropha gossypifolia L.
— Curcas L.
Cnidoscolus napaeifolius Pohl.
Croton urticifolius Lam.
— hirtus Lam.
— lobatus L.
Caperonia castaneifolitf St. Hil.
* — palustris St. Hil.
Tragia Dolubiiis L.
Microstachys corniculata Juss.
Hura crepitans L.
Talinum trianguläre W.
Glinus Cambes8edesii Ezl.
Phytolacca icosandra L.
Microtea debilis Sw.
Rivina octandra L.
Anredera scandens Moq.
Atriplex cristatum Kth.
Celosia virgata Jacq.
Chami8soa altissima Kth.
Gomphrena decumbens Jacq.
Mogiphanes Jacquini Sehr.
— straminea Mart.
tfesine elatior Rieh.
— aurata Dtr.
Scleropus amarantoides Schrad.
Boerhavia scandens L.
Pisania inermis Jacq.
— obtusata Sw.
Sida glomerata Car.
— supina l'Her.
— nervosa DC.
Phys. Classe. XII.
Sida paniculata L.
Bastardia yiscosa Kth.
Pavonia typhalaeoides Kth.
— spinifex Cav.
— microphylla Cäsar, (vielleicht in
Westindien nur eingeführt).
— racemosa Sw.
Hibiscus bifurcatus Cav.
Pachira aquatica Aubl.
Guamma ulmifolia Lam.
Melochia tomentosa L.
— serrata Benth.
— hirsuta Cay.
— lupuHna Sw.
Corchorus hirtus L.
Apeiba Tibourbou Aubl.
Gouania tomentosa Jacq.
Clusia rosea L.
Moronobea coccinea Aubl.
Mammea americana L.
Rheedia lateriflora L.
Calopkyllum Calaba Jacq.
Vismia ferruginea Kth.
Erythroxylwn otxUum Car.
Byrsomma verbaseifolia Kth.
— crassifolia Kth.
— spicata Rieh.
Bunchosia glandulosa Rieh.
Sügmaphyllum coneohulifohmn Juss.
— ciliatum Juss.
Schmidelia occideniaHs Sw.
Oxalis Barrelieri Jacq.
— sepium St. BEI.
Brunellia comocladifolia Kth.
Clethra tinifolia Sw. '
Celäs aculeata Sw.
Sponia micrantha Decs.
Ficus Radula W.
D
26
Cecropia obtusa Trec.
— palmata W.
Maclura tinctoria Don.
— Xanthoxylon Endl.
Vrera baccifera Gaud.
Pilea microphylla Liebm.
— pubescens Liebm.
— hyalina Fzl.
Boehmeria caudata Sw.
Phenax vrlicifolius Wedd.
— vulgaris Wedd.
Polygonum spectabile Mart.
— hispidum Kth.
Mühlenbeckia tamnifolia Msn.
Peperomia nummularifolia Kth.
— pellucida Kth.
— acuminata Miq.
— dendrophila Schi.
— repens Kth.
— distachva Dtr.
fr
obtusifolia Dtr.
— galioides Kth.
— septemnervis R. P.
Pothomorphe urabellata Miq.
Enckea Amalago Gr.
Schilleria caudata Kth.
Arlanlhe adunca Miq.
— tcabra Miq.
— tuberculata Miq.
— geniculata Miq.
Anacardium occidentale L.
Crotalaria stipularis Desv.
— pterocaula Dcsv.
Tephrosia toxicaria Pers.
— cinerea Pers.
— brevipes Benth.
Sesbania exasperata Kth.
Aeschynomene americana L.
A. GRISEBACH,
Aeschvnomene braailiana DC.
Desmodium barbatum Benth.
adscendens DG.
— cajanifolium DC.
— axillare DC
— scorpiurus Desr.
_ molle DC.
. St vlosanthes viscosa Sw.
Rhynchosia phaseoloides DC.
^litoria glycinoides DC.
cajanifolia Benth.
.Ccntrosenia Plumieri Benth.
— pubescetis Benth.
— hastatum Benth.
Teramnus uncinatus Sw.
Rtenolobium coeruleum Benth.
Phaseolus ovatus Benth.
Mucuna altissinia DC.
Erythrina Coraltodendron L.
— reluiina W.
Cassia bacillaris L.
— ciminea L.
— laerigata W.
— hirsuta L.
— sericea Sw.
— diphylla L.
■ — rotundifolia Pers.
— scrpens L.
! — glandulosa L.
— flexosa L.
■Stcartzia grandißora \Y.
Bauhinia microphylla Vog.
jNeptunia plena Benth.
puboscens Benth.
Mimosa polydactyla Humb.
Schrankia brachycarpa Benth.
Piptadenia peregrina Benth.
Acacia punimlata W.
DIE GEOGRAPHISCHE VERBREITUNG DER PFLANZEN WESTINDIENS. 27
Acacia sarmentosa Desv.
Calliandra Saman Gr.
Hirtella racemosa Lam.
— triandra Sw.
/Vwittf pleuradema Gr.
— sphaerocärpa Sw.
Myrcia splendens DG.
— divaricata DC.
Eugenia ligustrina W.
— uniflora L.
Psidium Guava Radd.
Clidemia hirta Don.
— spicata DC.
— rw&ra Mart.
Diplochita Fothergilla DC.
— serrulata DC.
Uiconia argyrophylla DC.
— holosericea DC.
— prasina DC.
— racemosa DC.
Chaenopleura ferruginea Cv.
— longifoha Gr.
Cremanium rubens DC.
Arthrostemma glomeratum Naad.
— ladanoides DC.
*-- lanceolatum Gr.
Nepsera aquatica Nand.
Heimia salicifolia Lk.
Ju88iaea sedoides Eth.
— variabilis Mey.
— palustris Mey.
— . angustifolia L.
— hirta V.
Oenothera rosea Ait. *
Persea gratissima G.
Nectandra sanguinea Rottb.
— leucantha Ns.
— mofiif Ns.
Oreodaphne LeucoxyUm Ns.
Cassyta americana L.
Triano8permum racemoeum Gr.
Passiflora laurifolia L.
' - quadraogulari« L.
— stipulata Anbl.
— foetida L.
Turnera ulmifolia L.
Piriqueta cistoides Gr.
Aristolochia trilobata L.
Cereus flagelliformis Mill.
Opuntia Ficus indica Mill.
Begonia scandens Sw.
Sciadophyllum capitatum Gr.
Eryngium foetidum L.
Loranthus americanus Jacq.
— acicularius Mart.
Phoradendron flacens Gr.
Viburnum glabratum Eth. (Gebirge von Peru
bis Jamaika).
Potoqueria laHfolia R. S.
Govzalea spicata Pers.
Coccocypselum nummalarifolium Ch. Schi.
Coutarea speciosa Aubl.
Warszewiczia coccinea El.
Spigelia Anthelmia L.
— spartioides Ch. SchL
Guettarda scabra Lam.
Psychotria hirsuta Sw.
CephaSlis tomentosa W.
Diodia sarmentosa Sw.
Spermacoce tenuior L.
Borrera parviflora Mey.
Richardsonia scabra L.
Vernonia tricholepis DC.
Elephantopus molüs Eth.
— anguatdfolius Sw.
Distreptas spicatus Cass.
D2
28
A. GRISEBACH,
Rolandra argentea Rottb.
Ageratum muticum Gr.
Brickellia diffusa As. Gr.
Hebeclinium macrophyllum DC.
Eupatorium conyzoides V.
— paniculatum Sehr. .
Mikania gonoclada DC.
— orinocensis Kth.
Elvira biflora DC.
Clibadium asperum DC.
Ogiera ruderalis Gr.
Wedelia carnosa Rieb.
Wulffia stenoglossa DC.
Cosmos ßulfureus Cav.
Spilantheß uliginosa Sw.
— urens Jacq.
Synedrella nodiflora G.
Chrysanthellum procumbens Rieh.
Gnaphalium domingense Lam.
Leria albicans DC.
Centropogon surinamensis Presl.
Lobelia Cliffortiana L.
Utricularia montana Jacq. (Gebirge
Peru bis Montserrat).
— aniethystina St. Hil.
pusilla V.
— obtusa Sw.
— foliosa L.
Polypompholix laciniata Benj.
Conomorphe peruviana A. DC.
Ardisia acuminata W.
Chrysophyllum Cainito L.
Lucuma Rivicoa G.
Linociera compaeta R. Br.
Allamanda cathartica L.
Tkecetiä neriifolia Juss.
Rauwolfia ternifoha Kth.
Erhites subsagittata R. P.
Echiles biflora Jacq.
Asclepias curassavica L.
Coutoubea densiflora Mart.
Schultesia stenophylla Mart
— heterophylla Miq.
Lisianthus uliginosus Gr.
Voyria uniflora Lam.
Limnanthemum Humboldtianum Gr.
Gerardia hispidula Mart.
Alectra brasiliensis Benth.
Stemodia maritima L.
— durantifolia Sw.
— parviflora Ait
Herpestis repens Cham. Schi.
— reflexa Benth.
Solandra grandiflora L.
Dalura suaveolens Humb.
Lycopersicum Humboldtii Dun.
Solanum triste Jacq.
— Radula V.
asperum V.
— haeanense Jacq.
von - Juripeba Rieh.
— jamaicense Sw.
— aculeatissimum Jacq.
Cestrum vespertinum L.
— macrophyllum Vent.
Cretcentia Cujete L.
Tecoma heplaphylla Mart.
Bignonia rufinervis Hoffim.
Amphüophium paniculatum Kth.
Tanaecium Jaroba Sw.
Ruellia geminiflora Kth.
Lepidagathis alopecuroidea R. Br.
Dianthera seeunda Gr.
— pectoralis Murr.
— . comata L.
JJusticia carthagenensis Jacq.
DIE GEOGRAPHISCHE VERBREITUNG DER PFLANZEN WESTINDIENS. 29
Ipomoea quinquefolia Gr.
— fastigiata Swt.
— setosa Lindl. (vielleicht in West-
indien nur eingeführt).
— acetosifoHa R. S.
— martinicensis Mey.
— hederifolia L.
— cissoides Gr.
— acuminata R. S.
— cathartica Poir.
Convolvulus pent^nthus Jacq.
— micranthuB R. S.
— nodifloni8 Desr.
Evolvulus villosus R. P.
— mucronatus Sw.
— nummulariu8 L.
Dichondra sericea Sw.
Cuscuta americana L.
Hydrolea spinosa L.
Wigandia nrens Kth.
Cordia Gerascanthus Jacq.
— uhnifolia Juss.
Toumefortia hirsutissima L.
— anguttiflora R. P.
bicolor Sw.
— volubilis L.
— ferrugmea Lam.
— tomentö9a Mill.
Heliotropium filiforme Kth.
— parciflorum Gr.
Ocimum micranthum W.
Marsypianthes hyptoides Mart.
Hyptis recurvata Poit.
— uliginosa St. Hil.
— lantanifolia Poir.
— polystachya Kth.
Salvia occidentalis Sw.
Scutellaria purpurascens Sw.
Priva echinata Juss.
Stachytarpha cayennensis V.
— jamaicensis V.
Lippia reptans Kth.
Laniana stricta Sw.
Radula Sw.
— trifolia L.
Durania Phoniert Jacq.
Petrea volubilis Jacq.
Aegiphila macropkylla Kth.
Echinodorus cotdifolins Gr.
— guianensis Gr.
Limnocharis Plumieri Rieh.
Anthurium violaceun» Seh.
Syngonium auritum Seh.
Acontias helleborifolius Seh.
Arisaema atrovirens Seh.
Pistia obeordata Schi.
Euterpe oleracea Mart.
Acrocomia sclerocarpa Mart.
Gampelia Zanonia Rieh.
Tradescantia geniculata Jacq.
Callisia repens L.
— umbellulata Lam.
Commelyna elegans Kth.
Mayaca fluviatilis Aubl.
Eriocaulon melanocephalnm Kth.
Tonnina fluviatilis Aubl.
Pariana sylvestris Ns.
Arundo occidentalis Sieb.
— saccharoides Gr.
Orthoclada laxa P. B.
Sporobolus purpurascens Harn.
Luziola peruviana Juse.
Olyra latifolia L.
Pharu6 glaber Kth.
Ghloris radiata Sw.
Paspalum pusillum Vent.
30
A. GRISEBACH,
Paspalum decumbens Sw.
— di88ectum L.
— fimbriatum Kth.
— paniculatum L.
— densum Poir.
Orthopogon loliaceus Spr.
— ßetarius Spr.
Panicum spectabile Ns.
— 8ulcatum Aubl.
— oryzoides Sw.
— stenodes Gr.
— laxum Sw.
— potamium Tr.
— distichum L«n.
•
— fronde8cens Hey.
— elephantipes Ns.
— - alti88imum Hey.
— divaricatuni L.
— lanatum Sw.
— glutinofeum Sw.
— rugulosum Tr.
— trichanthum Ns.
— brevifolium L.
Hymenachne Hyurus P. B.
— fluviatilis Ns.
Setaria vulpiseta R. S.
— setosa P. B.
Pennisetum setosum Rieh.
Genchrus myosuroides Kth.
Anthephora elegans Schteb.
Andropogon seeundus W.
— tener Kth.
— saccharoides Sw.
— brevifoliuß Sw.
— fastigiatus Sw.
Anatherum domingense R. S.
— bicorne P. B.
Eriochrysis cayennensis P. B.
Imperata caudata Tr.
Gyperus aurantiacus Kth.
— laxus Lam.
— surinamen8i8 Rottb.
— sphacelatus Rottb.
densiflonis Mey.
— flexuo8U8 V.
— Meyenianu8 Kth.
— Muti8Ü Gr.
— flavomariscus Gr.
Scirpus retroflexus Poir.
— capillaceus Gr.
— oereatus Gr.
— maculo8us V.
— nodulo8U8 Rth
— constrictus Gr.
— mutatus L.
— amentaceus Gr.
— juneoides W.
Cladium occidentale Sehr.
Rhynchospora cephalotes V.
— comata Lk.
— gracilis V.
barbata Kth.
— globosa R. S.
— cyperoides Mart.
— polyphylla V.
— 8permodon Gr.
— exaltata Kth.
— filifbrmis V.
— Humboldtiana Gr.
Scleria pratensis Lindl.
— melaleuca Rchb.
— microcarpa Ns.
— mitis Sw.
— latifolia Sw.
-— flagellum Berg.
— bracteata Cav.
DIE GEOGRAPHICHE VERBREITUNG DER PFLANZEN WESTINDIENS. 31
Fourcroya cubensis Haw.
— gigantea Vent.
Alstroemeria edulis Tuss.
Amarylli8 carinata Spr.
Hypoxis decumbens L.
— scorzonerifolia Lam.
Smilax papyracea Poir.
— hacanensis Jacq.
Dioscorea lutea L.
Rajania hastata L.
Xipbidium floribundum Sw.
Eichhornia tricolor Seub.
Aechmea nudicaulis Gr.
Tilland8ia bulbosa Hook.
Tillandsia platynema Gr.
— pulchella Hook. .
Guzmannia tricolor R. P.
Heliconia Bihai L.
— pulverulenta Lindl.
- psittacorum L.
Renealmia racemosa Robc.
Costus spicatus Sw.
— spiralis Rose.
Calatbea Myrosma Lindl.
Ischno8iphon Arouma Körn.
Maranta arundinacea L.
— gibba Sm.
Burmannia bicolor Mart.
5. Cisaequatoriale Areale des tropischen Amerikas.
Versucht man die Pflanzen, welche Westindien und den zunächst
gelegenen Landschaften des tropischen Kontinents gemeinschaftlich an-
gehören, geographisch zu ordnen, oder diejenigen zusammenzustellen, de-
ren Verbreitungsbezirk demselben Typus folgt, so lassen sich bis jetzt
zwar einige Hauptverhältnisse unterscheiden , aber bei vielen Arten , de-
,ren Areal zum Theil unvollständig bekannt sein mag, ist eine abschlies-
sende Beurtheilung noch nicht möglich. Ich unterlasse daher die voll-
ständige Mittheilung der Verzeichnisse, die ich nach den vorhandenen
Angaben und meinen eigenen Vergleichungen entworfen habe, und be-
schränke mich darauf, die mit Sicherheit nachzuweisenden Arealformen
zu erläutern, ohne auf die zweifelhaften Fälle einzugehen. So bleibt es
bei zahlreichen Pflanzen, die auf den Antillen und in Venezuela oder
Neu-Granada vorkommen, ungewiss, ob sie auf die Nordküste Südameri-
ka^ beschränkt sind oder tiefer in den Kontinent eindringen; aber auch
wenn die Verbreitung bis zum Aequator nachgewiesen ist, wird sich ohne
Zweifel künftig in manchen Fällen das Areal grösser zeigen, als nach
den gegenwärtig vorliegenden Thatsachen. Es braucht indessen kaum er-
innert zu werden, dass in diesem Sinne die hier mitgetheilten Verzeich-
nisse um so weniger als abgeschlossen und sicher festgestellt gelten kön-
32 A. GRISEBACH,
nen, je enger die Areale werden, auf die sie sich beziehen, während wir
doch in der Zahl der angeführten Beispiele einen Massstab für die Rich-
tigkeit der aufgestellten Kategorieen erhalten, indem, wenn einige Ar-
ten in der Folge fortfallen, andere von gleichartigem Areal an ihre
■
Stelle treten werden.
Die erste Reihe wird durch diejenigen Pflanzen gebildet, deren Ver-
breitung von Westindien bis zur Aequatorialzone Amerika's nachgewiesen
ist. Mehr als die Hälfte derselben reicht nordwärts bis Cuba und be-
wohnt den ganzen Raum der nördlichen Tropenzone längs der östlichen
Küsten des Kontinents, ohne in der Regel die Anden zu überschreiten.
Es entsteht die Frage, weshalb sie, in solchem Grade wanderungsfahig,
auf das diesseitige Gebiet des Aequators in Brasilien, beschränkt sind.
Für die Sicherheit der Thatsache spricht, dass in einigen Fällen, wie bei
den Malpighiaceen , alle vorhandenen brasilianischen Sammlungen dieses
negative Ergebniss geliefert haben, überall aber wenigstens Gardner's
Pflanzen verglichen worden sind, die eine so reiche Uebersicht der Flora
jenseits des Aequators gewähren. Mögen daher einzelne Arten künftig
als der vorigen Reihe angeljörig sich erweisen, für die meisten muss es
eine physische Ursache geben, welche sie hindert, in die südliche Tro-
penzone einzudringen. Von klimatischen Linien solcher Art, wie wir sie
in der nördlichen gemässigten Zone finden, wo sie, ganze Kontinente
gliedernd, die Vegetation bald in östliche und westliche, bald in südliche
und nördliche Gebiete scheiden, kann im tropischen Amerika überhaupt
nicht die Rede sein: denn hier, wo die klimatischen Vegetationsgrenzen
in der Ebene auf den Regenzeiten beruhen und Mangel an Wärme kein
Hinderniss der Verbreitung ist, sind die Areale von übereinstimmendem
Charakter der Feuchtigkeit unregelmässig über beide Zonen vertheilt,
wie schon aus der Anordnung der Urwälder und Savanen, dem Aus-
druck ihrer höchsten Gegensätze, hervorgeht. In den östlichen Land-
schaften Südamerika s , in Venezuela und Guiana , ebenso wie jenseits
des Aequators in dem grössten Theile Brasiliens folgen die Urwälder den
Küsten und Flusslinieu, während der innere Raum der Wasserscheiden
durch weite Savanen bezeichnet ist. In Westindien sind die klimati-
DIE GEOGRAPHISCHE VERBREITUNG DER PFLANZEN WESTINDIENS. 83
sehen Verhältnisse mannigfaltiger, und, obgleich die Inseln sämmtlich in
der Fassatzone liegen , wechseln . nach dem Niveau , nach der Richtung
und Gestaltung ihrer Gebirge , Dauer , Continuität und Intensität der
Niederschläge in hohem Grade. Die Solstitialregenzeit vermindert sich
auf den grossen Antillen in Folge der höheren Breite und kommt auf
den östlichen Karaiben wegen ihrer Kleinheit und Gebiigslosigkeit nicht
su voller Entwickelung. Auf ihren westlichen, vulkanischen Nachbaren
und an der gebirgigen Nordküste von Trinidad verlängert sich hingegen
die Dauer der nassen Jahreszeit. Unabhängig vom Stande der Sonne
entladet ' der Passatwind , wo er an den quervorliegenden Höhenzügen
von Cuba, Haiti und Jamaika aufwärts weht, auch in anderen Jahres-
teiten reichliche Niederschläge, die an der trockeneren Südküste der
letztgenannten Insel, oder, wie man sich ausgedrückt hat, im Wind-
schatten ihrer Hochgebirge fehlen 1 ). Westindien besitzt daher, wenn es
gleich nirgends cjie volle Waldenergie äquatorialer Regenzeiten entfaltet,
hievon abgesehen die ganze Fülle klimatischer Gliederungen auf einem
engen Räume vereinigt. Bleiben wir bei der dem Kontinent am nächsten
hegenden Insel, bei Trinidad, stehen, so leben sowohl die Bäume an
der Küste, als die Savanenpflanzen des Inneren unter gleichen klimati-
schen Bedingungen, wie die Vegetation von Venezuela und Guiana, die
denn auch in der That die wanderungsfähigen Arten jener Formationen
vollständig in sich aufnimmt. Weshalb aber finden so viele derselben
sich nicht in den Savanen und Uferwäldern 'jenseits des Amazonenstroms
wieder, wo die äusseren Lebensbedingungen dieselben sind, wie in Guiana,
und der geographische Abstand nicht grösser ist, als von Trinidad bis
Cayenne ? Diese Frage weist auf ein mechanisches Hinderniss , und dieses
erkennen wir in dem breiten Urwaldsgürtel, der die Aequatorialland-
Schäften Brasiliens erfüllt und den Stromlauf des Amazonas in ganz
anderm Umfange als seine Nebenflüsse umspannt. Dieser Urwald enthält
eine grosse Anzahl endemischer Bestand theile , welche, durch Nieder-
schläge in allen Monaten des Jahrs und durch die Ueberschwemmungen
1) Joam. of bot&ny. 2. p. 276.
Phys. Hasse. XII. E
84 A. GRISTEBACH,
des Stroms befeuchtet, eine vegetative Kraft besitzen, die nirgends in
Amerika ihres Gleichen hat, und deren weithin zusammenhängendes
Dickicht den meisten Gewächsen der seitlich anliegenden Gebiete un-
durchdringlich und unüberschreitbar gegenübersteht.
Untersucht man, in welcher Richtung die durch die nördliche Tro-
penzone Amerika's verbreiteten Gewächse gewandert sind, so lässt sich
in vielen Fällen nachweisen, dass der Ausgangspunkt auf dem südlichen
Kontinent und nicht auf den Antillen lag; oft ist der Typus der Flora
von Guiana in ihnen ausgeprägt. Es fehlen dagegen die artenreichsten
Gattungen Westindiens entweder ganz (z. B. Phyllanthus , Pilea , Clidemia,
Rondeletia), oder sind, wenn Südamerika ebenfalls eine grössere Reihe
von Formen besitzt, durch einzelne, gemeinsame Arten vertreten (z. B.
Croton, Eugenia, Passiflora, Psychotria, Eupatorium, Ipomoea). Ueber-
haupt sind die für die Flora Westindiens charakteristischen Gattungen
auch fast immer in Bezug auf sämmtliche , daselbst vorkommenden Arten
endemisch (z. B. Calyptranthes , Mouriria, Calycogonium , Exostemma,
Stenostomum, Critonia, Salmea, Leianthus, Brunfelsia, Conradia, Pen-
tarhaphia, Thrinax, Rajania): fast die einzige bemerkenswerthe Ausnahme
würde die Gattung Malpighia sein, wenn nicht feststände, dass die in
Guiana vorkommenden Arten wegen ihrer essbaren Früchte von den
Antillen dahin eingeführt worden sind. Es ist aus den Untersuchungen
über die Flora der Galapagos, sowie auch von den canarischen Inseln
und anderen Archipelen bekannt, dass ihre nicht endemischen Bestand-
teile von den benachbarten Kontinenten entlehnt sind, während eine
Wanderung in entgegengesetzter Richtung nicht stattgefunden und eben
deshalb der Charakter abgesonderter und durch zahlreiche, eigentüm-
liche Produkte ausgezeichneter Schöpfungscentren sich erhalten hat
Diese Erscheinung wiederholt sich in einem noch weit grösseren Ver-
hältniss auch in Westindien, wiewohl hier, wie sogleich gezeigt werden
wird, auch Fälle der Verbreitung von den Inseln zum Kontinent vor-
kommen. Man kann die Ursache des überwiegenden Kontinentaleinflusses,
wie es von J. Hooker für die Galapagos geschehen ist, auch hier in der
Richtung der Meeresströmungen erblicken. Denn der Guiana bespülende
DIE GEOGRAPHISCHE VERBREITUNG DER PFLANZEN WESTINDIENS. 35
Theil des grossen Aequaterialstroms geht von dort längs der Nordküste
Südamerika^ nach dem Isthmus und Yukatan und trifft auf seinem Wege
gleich Anfangs die karaibischen Inseln. Auch werden die schwimmen*
den Früchte von Manicaria, einer in Guiana einheimischen Palme, häufig
an der Küste von Barbadoes nicht allein, sondern nach Sloane auch in
Jamaika angetrieben. Demnach muss jene Strömung, wiewohl sie im
Allgemeinen der Ostküste des Kontinents folgt und Cuba erst als Golf-
strom erreicht, nachdem sie den mexikanischen Meerbusen umkreist hat,
doch auch die Südküste Jamaika's berühren. Indessen giebt es noch
eine andere, allgemeinere Beziehung, welche den entschiedenen und
dauernden Endemismus von Inseln, sowie die erleichterte Aufnahme von
kontinentalen Gewächsen erklärlich macht. Sowie die Masse der erzeug-
ten Samen eine der Veranstaltungen ist, um die Wanderungsfakigkeit
einer Pflanze zu erhöhen, so muss auch die grössere Anzahl schon vor-
handener, ihre Samen ausstreuender Individuen ihre weitere, gleichsam
geometrisch wachsende Ausbreitung auf dem Erdboden befördern. Unter
übrigens gleichen Verhältnissen wird also ein Baum, der in Wäldern
auftritt, weil unzählige Keime desselben in jedem Jahre erzeugt werden,
leichter in neue Gebiete vordringen, als ein anderer, von 'dem, wie von
der Dracaena Orotava's, überhaupt nur wenige Individuen vorhanden
sind: weil der terrestrische Raum, der seinen Schöpfungspunkt umgab,
von Anfang an insular begrenzt war. Oder ' weil die Wanderung auf
dem Festlande so viel leichter stattfinden kann, als über das Meer, so
konnte eine kräftige, kontinentale Art sich eines grossen Raums be-
mächtigen und hiedurch auch die Chance, die Schranke des Meers zu
überschreiten, sich erhöhen, während das endemische Erzeugniss einer
Insel um so weniger sich vervielfältigte, je kleiner das Areal dieser
Insel war. So ist also der Flächeninhalt der Archipele ein bedeutendes
Moment, die organischen Erzeugnisse zurückzuhalten. Ebenso erklärt*
sich sowohl aus diesem Verhältnisse , wie aus dem Charakter der Meeres-
strömungen die Vertheilung der Pflanzen Guiana's auf den verschiedenen
Inselgruppen Westindiens, ihre allmälige Abnahme in nördlicher Rich-
tung bei wachsendem, geographischen Abstände. Je kleiner die Inseln
E2
86 A. GBISEBACH,
sind, desto weniger endemische Pflanzen besitzen sie. Auf den grosse*
Antillen wachsen verhältnismässig weniger südamerikanische Gewächse,
theils weil der Meereeweg länger ist, theils weil die Anzahl der Au-
tochthonen ungleich grösser, die mit ihrer Individuekizahl zunehmende
Kraft, ihren Boden gegen fremde Einwanderung fcu behaupten, hier
einen grosseren Widerstand leisten konnte. In dem nachfolgenden Ver-
zeichnisse sind die Polargrenaen der Guiana- Pflanzen , soweit sie bis jetzt
bekannt sind, angegeben.
Auf der anderen Seite läset sich indessen aus den Arealen und aus
den Affinitäten der nicht endemischen Pflanzen Westindiens folgern, das«
eine gewisse Anzahl derselben nicht von dem Kontinent, sondern von
den Inseln ursprünglich ausgegangen und also in umgekehrter Richtung
gewandert ist. Wenn eine grössere Gattung oder innig verbundene Arten-
reihe nur westindische Formen enthält bis auf eine einzelne Art, welche
den Inseln und dem Kontinent gemeinsam ist: so bildet die letztere
hier ein fremdartiges, dort ein dem Typus der Erzeugnisse entsprechen-
des Glied, und, da die nahe liegenden Schöpfungscentren eines Archipels
durch Analogie ihrer organischen Bildungen verbunden sind, so ist in
solchen Fällen* die Wanderung von den Inseln zum Kontinent um so
sicherer anzunehmen, je weiter die endemischen Typen des Kontinente
von jener Art durch ihren Bau abweichen. Tupa ist eine Lobeliaceen-
gattung, von- der bereits 12 durch einen besonderen Bau bezeichnete,
westindische Arten beschrieben sind, während die übrigen Peru und
Chile bewohnen : T. persicifolia ist nun die einzige Art der ersten Reihe,
welche auch in Guatemala gefunden wird und stimmt in ihrem Baue mit
den übrigen westindischen Arten überein. Aehnlich verhält es sich mit
der Rubiaceengattung Rondeletia, von welcher mir 32 westindische Äxten
vorgekommen sind und nur R. odorata sich von Cuba nach Mexico ver-
breitet haben soll.
Eine besondere Reihe nicht endemischer Pflanzen Westindiens ist
bis jetzt nur an der Nordküste Südamerikas, in Venezuela und Neu-
Granada oder bis zum Isthmus von Panama beobachtet. Für diese Ge~
wachse gelten dieselben Bemerkungen, wie für die aus Guiana einge~
DIE GEOGRAPHISCHE VERBREITDKG DER PFLANZEN WESTINDIENS. 3T
wanderten, und, da ihre abgesonderte Zusammenstellung jetzt noch zu
vielen 1 Zweifeln über die wirklichen Südgrenzen der einzelnen Arten
fahren würde, halte ich es nicht für zeitgemäss, ihren Typus näher
festzustellen.
Eine geringe Anzahl von cisäquatoriftlen Tropenpflanzen überschreitet
den nördlichen Wendekreis und schliefst sich der analogen Reihe (4v'ti.)
an, deren Areale einen grösseren Raum von gleichem klimatischen
Typus einnehmen. Hier theile ich daher das Verzeichnis« vollständig
mit, ütn das frühere zu erganzen.
Endlich giebt es noch zwei Meine Reihen von eigentümlicher Ver-
breitung, die, so gering die Anzahl der Arten ist, doch mit Sicherheit
besondere Wanderungslinien erkennen lassen. Die eine weist auf einen
Zusammenhang der botanischen Erzeugnisse der Anden Südamerikas mit
denen der Gebirge von Jamaika und Cuba, die andere Linie verbindet
Westindien mit Panama und setzt sich längs des stillen Meeres südlich
bis Guayaquil, also ebenfalls in der Richtung der Anden, fort. in
beiden Fällen wird der Aequator nur wenig überschritten , in dem
erstehen von manchen Gebirgspflanzen Venezuelas , die ich hier unerörtert.
lasse, nicht erreicht: dagegen scheint zwischen dem nördlichen Anden-,
System Mexiko's und den Antillen eine unmittelbare Verbindung nicht
zu bestehen. Da die Niveau's der meisten westindischen Pflanzen nicht
hinl&Hglich bekannt sind, so haben sich beide Reihen nicht trennen
lassen: etwas vergrössert wird ihre Zahl durch einige von den Antillen
bis Peru verbreitete Arten, die in das vorhergehende Verzeichniss (4. b.)
aufgenommen und deren Gebirgsverbreitung dort erwähnt ist Die Er-
scheinung selbst ist offenbar aus klimatischen Analogieen zu erklären
und ein neues Beispiel der atmosphärischen Verbindungswege, welche
Skandinavien mit den Alpen, oder Abyssinien mit den Cameroonbetgen
verknüpfen. Insofern aber die einzigen Mittel der Bewegung zwischen
entlegenen Gebirgen, soweit man darüber bis jetzt urtheilen kann, die
atmosphärischen Strömungen, welche leichte Samen bewegen, oder die
Zugvögel sind, die sie beherbergen: so verdient es angeführt zu werden».,
dass der nördliche Passat wohl eine Verbindung zwischen Westindien
38
A. GRISEBACH,
und den südamerikanischen Anden diesseits des Aequators, nicht aber
mit Mexiko bewirken kann, sowie dass die Aequatorialzone eine Grenze
bildet, welche Zugvögel nicht leicht zu überschreiten scheinen.
a. Pflanzen, welche von der Aequatorialzone bis zu den Antillen tick
verbreiten. (Die nördlichste Insel, wo die Art gesammelt wurde, ist
hinzugefügt. )
Curatella americana L. — Cuba.
Doliocarpus semidentatus Gk. — Cuba.
Anona montana Macf. — Jamaika.
— - sericea Dun. — Jamaika.
— squamosa L. — Cuba.
— mucosa Jacq. — Guadeloupe.
Xylopia glabra L. — Jamaika.
Guatteria Ouregou Dun. -— S. Thomas.
Myristica surinamensis Sol. — S. Vincent.
Oleome speciosa Kth. — Jamaika.
— Houstoni R. Br. — Cuba.
— aculeata. L. — Martinique.
Crataeva gynandra L. — Jamaika.
Gapparis jamaicensis Jacq. — Cuba.
-t- frondosa Jacq. — Cuba.
Caeearia serrulata Sw. — Jamaika.
— hiwuta Sw. — Cuba.
Guidonia spinescens Gr. — Cuba.
Polygala gaKoides Poir. — Cuba.
Securidaca erecta L. — S. Thomas.
Jatropha multifida L. — S. Kitts.
Croton chamaedryfolius Lam. — Jamaika.
Sapium aucuparium Jacq. — Guadeloupe. ITetrapteris inaequalis Cav. — Jamaika.
|Eriodendron anfractuosum DC. — Cuba.
Melochia melissifolia Benth. — Cuba.
Corchorus aestuans L. — Jamaika.
Muntingia Calabura L. — Jamaika.
Sloanea Massoni Sw. — Dominica.
— sinemariensis Aubl. — S. Kitts.
Gouania domingensis L. — Cuba.
Cissus sicyoides L. — Cuba.
Gomphia guianensis Rieh. — Jamaika.
Erythroxylum squamatum V. — Cuba?
iByrsonima cinerea DC. — Cuba.
iBunchosia nitida DC. — Cuba.
— Lindeniana Juss. — Jamaika.
Malpighia glabra L. — Cuba.
— punieifolia L. — Cuba.
Brachypteris borealis Juss. — Cuba.
Stigmaphyllon fulgens Juss. — S. Vinoent.
— puberum Juss. — Cuba.
— pei iplocifolium Juss. — Cuba.
Heteropteris platyptera DC. — Dominica.
Triopteris ovata Cav. — Jamaika '(nach
Schomburgk in Guiana kultmrt).
Omphalea triandra L. — Jamaika.
— diandra L. — Cuba.
Euphorbia cotinifolia L. — Barbadoes.
Abutilon spicatura Kth. — Cuba.
— peduneulare Kth. — Jamaika.
Malachra radiata L. — Cuba.
Hibiscus sororius L. — Cuba.
jMascagnia Simsiana Gr. — Jamaika.
jHiraea Swartziana Juss. — Grenada.
— chrysophylla Juss. — S. Lucia.
PauUinia sphaerocarpa Rieh. — Dominica.
Cupania glabra Sw. — Cuba.
Ratonia domingensis DC. — Haiti.
Melicocca bijuga L. — Cuba.
DIE GEOGRAPHISCHE VERBREITUNG DER PFLANZEN WESTINDIENS. 39
Simaba orinocensis Kth. — S. Vincent.
Hippocratea ovata Lam. — Guba.
— malpighifolia Rudg. — Guba.
— *comosa Sw. — Haiti.
Ficus pertusa L. — Guba.
Coccoloba pubescens L. — Antigua.
Pothomorphe peltata Miq. — Cuba.
Artanthe Bredemeyeri Miq. — Antigua.
— macrophylla Gr.— Jamaika.
Icica heptaphylla Aubl. — Cuba.
— heterophylla DC. — Guadeloupe.
Spondias lutea L. — Cuba.
— purpurea L. — Cuba.
Myrica microcarpa Benth. — Cuba.
Indigofera pascuorum Benth. — Cuba.
Eriosema violaceum E. Mey. — Cuba.
— crinitum E. Mey. — Cuba.
Clitoria arborescens Ait. — S. Vincent.
Teramnus volubilis Sw. — Jamaika.
Lonchocarpus latifolius Kth. — Cuba.
Pterocarpus Draco L. — Jamaika.
— Rohrii V. — S. Vincent.
Machaerium robinifolium Vog.. — S.Vincent.
Hecastophyllum Monetaria DC. — Haiti.
Diplotropis brachypetala Tul. — - S. Vincent.
Haematoxylon campechianum L. — Cuba.
CassiÄ grandis L. — Cuba.
— Iigu8trina L. — Cuba.
— chrysotricha Coli. — Cuba.
— spectabilis DC. — Jamaika.
— bispida Coli. — Cuba.
Hymenaea Courbaril L. — Cuba.
Schnella splendens Benth. — Guadeloupe.
Crudya spicata W. — Jamaika.
.Pentaclethra filamentosa Benth.— S.Vinoent.
Entada polystachya DG. — Dominica;
Acacia parvifolia W. — Jamaika.
Calliandra purpurea Benth. — S. Kitts.
Inga ingoides W. — Jamaika.
Connarus guianensis Lamb. — S. Vinoeht.
Chrysobalanu8 pellocarpus Mey. — Jamaika*
Hirtella paniculata Sw. — S. Vincent.
Myrcia leptoclada DO. — Haiti.
— ferruginea DC. — Cuba.
Eugenia coffeifolia DC. — Dominica.
— floribunda Wert. — Cuba.
Pimenta Pimento Gr. — Jamaika.
Tschudya ibaguensis Gr. — Cuba.
— lanata Gr. — S. Vincent.
Tetrazygia cörnifolia Gr. *- Martinique.
Miconia impetiolaris Don. — Cuba.
— laevigata DC. — Cuba.
— lacera Naud. — Martinique. . ■
Eurychaenia punctata Gr. — Jamaika.
Chaetogastra strigosa DC. — S. Kitts.
Spennera pellucida DC. — Martinique.
Acisanthera recurva Gr. — Jamaika.
Hypobrichia Spruceana Benth. — Cuba.
Combretum Jacquini Gr. — Jamaika.
Bucida capitata V. — Cuba.
Passiflora biflora Lam. — Dominica.
— serrata L. — Dominica.
Rhipsalis Cassyta G. — Cuba.
Weinmannia pinnata L. — Cuba.
• _
Panax Morototoni Aubl.— Cuba.
Loranthuß occidentalis L. — Jamaika.
Phoradendron rubrum Gr. — Cuba.
— trinervium Gr. — Jamaika.
Genipa americana L. — Cuba.
— Caruto Kth. — Cuba.
Randia Moussaendae DC. — S. Vincent.
— armata DC. — S. Lucia.
Amajoua fagifolia Desf. — Cuba.
Alibertia edulis Rieh. — Cuba.
Isertia coccinea V. — S. Vincent.
— Haenkeana DC. — Cuba.
40
A. G BISE BACH,
Sipanea pratensis Aubl. — * Dominion.
Manettia coccinefet S*. -— Guba.
-Gfcettarda argefttea.Lam. — Jamaika.
— odorata Lam. r Guba.
Chiococca nitida Bentfa. — Cuba.
ftalanea maörophylla Bartl. — S. Vincent.
Ixora ferrea Btenth. -*- Cuba.
Faramea odoratissima DC.-*- Cuba.
Psychotria: uliginosa Sw» — Cuba.
— Mapouria R. S. — Dominica»
— . horizontalis Sw. — Antigua.
— crassa Benth» — Cuba.
Palicourea crocea ,DC. -~. Cuba.
— didymocarpa Gr. — Cuba.
Cephaehs musgrea Sw. — Cuba.
**. axillaris ßw. — S. Kitts.
Spermaooce aspera AubL — Cuba.
Eupatorium odoratum L. — Jamaika.
Mikania trinitaria DG. — Cuba.
Verbesina alsffca L. -~ Cuba.
Spilanthea eocasperata Jacq. — S, Vincent
Egletes doiningensis Cass. —• Cuba,
Neurolaena lobata R. Br. - Cuba..
Chrysopbyllum glabrum Jacq. — Cuba. *
Sapota Achras MilL — Cuba. • :
Mimusops globpsa G. — Jamaika.
Styrax glaber Sw. — S. Vincent.
Forsteronia corymbosa Mey. — Cuba.
Sarcostemma Brownei Mey. — Cuba.
Voyria pallida Gk. ■— Cuba.
Herpestis sessiliflora Benth. — Cuba.
Angelonia salicarifolia BonpL — Guba.
BrowaUia demissa Xi. — Haiti.
Solanum SeafortUanum Andr. — Jamaika.
— caUicarpifpUmn Kth. — * Cuba.
— igneum L. — S. Kitte.
-+ inclußum Gr. — Cuba.
Schlegelia parasitica Mrs. — Cuba.
Tecoma Leucoxylon Hart. — Cuba.
Bignonia aequinoctialis L. — Cuba.
— laurifolia V. — Guadeloupe.
Pithecocteniuxn Aubletii Splitg. — Cuba.
Adenocalymna alliacea Mrs. — Haiti.
Stemonacanthus maoropbyllus Ns. — Ouba.
Aphelandra pectinata Ns. — S. Vincent
Pachystaehys coocinea Ns. — Cuba»
Besleria lutea L. — Jamaika.
Alloplectus cristatus Mart. — Cuba.
Columnea soandens L. — Cuba.
Ipomoea tuba Don» — Cuba. ».
— pterodes Chois. — Guba.
— demerariana Chois. — S. Kitts. '
Cordia Sebestena Jacq. — Bahama's.
— dasycepbala Kth. — Antigua.
Tournefortia laurifolia Vent. — Cuba.
Stachytarpha mutabilis V. — Cuba.
— orubica V. — Cuba.
Lippia micromera Schau. — Cuba.
— stoechadifolia Kth. — Cuba.
Lantana crocea Jacq. — Bahama's.
Citharexylon quadrangulare Jacq.'— Cuba.
-**- lucidum Cham. Seht ■*- Cuba.
Aegiphila martinicensis L. — Cuba.
^- elata Sw. — Cuba.
Clerodendron aculeatum Gr. -— Cuba»
Vitex divaricata Sw. — Cuba.
Sagittaria acutifolia L. — Cuba.
— laneifolia L. — Cuba.
Anthurium lanceolatum Kth. — Jamaika.
— pentaphyllum Endl. — S. Lucih.
Monsters pertusa Gr. — Antigua.
Dieffenbachia Seguine Schtt. — Jamaika.
Montrichardia arborescens Schtt — GuadeL
Philodendron hederaceum Schtt. — Cuba.*
Pistia commutata Schi. — Cuba.
GeoQom/i vaga Gr. W. — Dominica.
DIE GEOGRAPHISCHE VERBREITUNG «DER PFLANZEN WESTINDIENS. 41
Acrocomia lasiospatha Mart. — Cuba.
Tradescantia elongata Mey. — S. Vincent.
Paspalum caespitosum Fl. — Cuba.
Orthopogonhirtellus R. Br. — Cnba.
Panicum martinicense Gr. — Cuba.
Cyperus odoratus L. — Cuba.
— Ehrenbergii Kth. — Cuba.
— giganteus V. — Cuba.
Kyllinga filiformis Sw. — Cuba.
Rhynchosposa florida Dtr. — Cuba.
— micrantha V. — Cuba.
— pura Gr. — Antigua.
— Persooniana Gr. — Cuba.
Scleria tenella Kth. — Cuba.
Pancratium caribaeum L. — Cuba.
Crinum erubescens Ait. — Cuba.
Amaryllis equestris Ait. — Jamaika.
— rosea Spr. — Cuba.
Calodracon Sieben PI. — S. Kitts.
Dioscorea cayennensis Lam. — Jamaika.
Nidularium Karatas Lern. — Cuba.
Bromelia Pinguin L. — ~ Cuba.
ChevaUiera lingulata Gr. — Antigua.
Aechmea aquilega Gr. — Cuba.
Pitoairnia angustifolia Ait. — S.. Groix.
Tillandsia flexuosa Sw. — Cuba.
— foliosa Gr. — S. Vincent.
Caraguata lingulata Lindl. — Cuba.
Catopsis nitida Gr. — Cuba.
Heliconia hirsuta L. — S. Vincent.
Costus glabratus Sw. — Haiti.
— cylindricus Jacq. — Martinique.
Canna Lamberti Lindl. — Dominica.
— coccinea Ait. — Jamaika.
— glauca L. — Jamaika.
Calathea Allouya Lindl. — Haiti.
Thalia geniculata L. — Cuba.
Ptychomeria tenella Benth. — Cuba.
b. Pflanzen, welche von der Aequatoriahone und den Antillen aus die
Grenzen des tropischen Klimas überschreiten.
Euphorbia buxifolia Lam. Venezuela und Honduras — Florida und Bermudas (See*
Strand).
Batis maritima L. Venezuela — Florida (Seestrand).
Celosia nitida V. Ecuador — Texas, Californien.
Amblogyne polygonoides Raf. Guiana — Florida, Neumexiko.
Boerhavia erecta L. Westindien, Mexico — Georgia.
— hirsuta W. Guiana — Texas.
Corchorus siliquosus L. Neu-Granada — Texas.
Tribulus maximus L. Panama — Texas, Californien.
Schaefferia frutescens Jacq. Neu-Graqpda — Key West.
Polygonum segetum Kth. Neu-Granada — Texas.
Crotalaria pumila Ort. Venezuela — Texas.
Desmodium tortuosum DC. Neu-Granada — Florida.
Cassia biflora L. Venezuela — Florida.
Pithecolobium unguis cati Benth. Venezuela — Florida.
Phys. Classe. XII. F
42 A. GRISEBACH,
Jussiaea decurrens DC. Aequator — Georgia.
Exo8temma caribaeum B. S. Guiana — Key West.
ErithaJis fruticosa L. Trinidad, Honduras — Key West.
Mitreola petiolata T. Gr. Venezuela Virginia.
Pluchea purpurascens DC. Venezuela — Key West.
Cosmos caudatus Kth. Ecuador — Key West.
Eustoma exaltatum Gr. Venezuela — Arkansas.
Polypremum procumbens L. Neu -Granada — Virginia.
Craniolaria annua L. Venezuela — Neu -Mexiko.
Ipomoea purpurea Lam. Venezuela — Nordamerika (eingeführt).
Lantana odorata L. Trinidad, Honduras, Galapagos — Bermudas.
Streptogyne crinita P.B. Guiana — Carolina.
Uniola paniculata L. Ecuador — Südstaaten.
Hymenachne striata Gr. Guiana — Südstaaten.
Heteranthera limosa V. Venezuela — Südstaaten.
Apteria setacea Nutt. Aequator — Alabama.
c. Pflanzen, welche von Ecuador längs des stillen Meeres bis zum Isthmus
oder auf den Andesketten bis Venezuela verbreitet, auf den Antillen
wiederkehren.
(Die Gebirgspflanzen sind durch Cursivschrift bezeichnet).
(Tovaria pendula R. P. s. oben).
Gaya occidentalis Gr. — Cuba.
Brossaea anastomosans Gr. — Guadeloupe *).
Acacia tortuosa W. — Haiti.
Calliandra portoricensis Benth. — Cuba (und Mexiko).
Rourea glabra Kth. — - Cuba.
Viburnum villosum Sw. — Jamaika.
( — glabralum Kth. s. oben).
Palicourea alpina DC. — Cuba (und Mexiko).
1) Der Verbreitung dieser Ericee analog kann auch die von Sphyrospermum
majus Gr. betrachtet werden, welches auf den Anden Peru's und den Gebirgen
Trinidad's vorkommt. Aehnlich verhalten sich auch zwei Umbelliferen Trinidad^,
Spananthe paniculata Jacq. und Arracacha esculenta DC, welche in Neu -Granada
und Peru einheimisch sind: doch ward die letztere vielleicht durch den Anbau ver-
breitet.
DIE GEOGRAPHISCHE VERBREITUNG DER PFLANZEN WESTINDIENS. 43
Adenostemma Swartzii Cäss. — Cuba.
Melanthera deltoidea Rieh. — Cuba.
(Utricularia montana Jacq. 8. oben).
Rauwolfia Lamarckii A. DC. — Cuba.
Saivia hispanica L. — Jamaika (und Mexiko).
Pänicum alsinoides Gr. — Jamaika.
■
jamaicensis Pers. — Jamaika (und Mexiko).
6. Südamerikanische Areale, welche Trinidad, nicht aber die übrigen Inseln
Westindiens umfassen.
Trinidad liegt Venezuela so nahe und den Ausflüssen des Orinoco
so unmittelbar gegenüber, dass schon deshalb die Vegetation dieser Insel
mit der des Festlandes in einem weit höheren Grade, als mit den An-
tillen übereinstimmen muss. Dazu kommt die grössere Wärme und
Feuchtigkeit des Klimas, eine Folge der südlicheren Lage, und der Ge-
biigsgliederung an der dem Passatwinde zugewendeten, waldigen Nord-
küste. In der That zeigt sich die Eigenthümlichkeit Trinidad's vor-
zugsweise durch die Abwesenheit vieler Antillenpflanzen ausgedrückt,
während die Mannigfaltigkeit südamerikanischer Formen weniger auffallend
hervortritt, was aber vielleicht nur daher rührt, dass die Insel nicht so
vollständig botanisch erforscht ist, wie die meisten Antillen. Schon jetzt
ist man indessen berechtigt, Trinidad von Westindien nach seiner
Pflanzenproduktion zu trennen und als ein Glied des Festlandes zu
betrachten. Die eingewanderten und nicht auf den Antillen beobach-
teten Pflanzen stammen grösstenteils aus Guiana und Venezuela, eine
andere Reihe ist brasilianisch , und ^alle diese Gewächse erreichen hier
entweder ihre Nordgrenze oder sind, der Küste des Kontinents folgend,
bis zum Isthmus von Panama verbreitet. Man erkennt auf den ersten
Blick, dass diese Wanderungen genau der grossen atlantischen Strömung
entsprechen, welche b^i Cap Roques die brasilianische Küste zu be-
spülen anfängt, als Guiana- Strom Trinidad erreicht und sich im karaibi-
schen Meere längs des Kontinents bis zum Isthmus fortsetzt. Bei einigen
Arten, die auch in Südbrasilien vorkommen, kann die Verbreitung eben-
falls, als von Cap Roques ausgehend, auf die beiden Arme dieser Strö-
F2
44 A. GRISEBACH,
mung bezogen werden, welche den beiden Küsten Brasiliens entlang
fliessen. Die den Antillen zugewendeten Gliederungen der Mosquito-
Küste und Yucatan's, welche das karaibische Meer vom mexikanischen
Golf absondern und die Küstenströmung zu grossen Ausweichungen von
ihrer Bahn nöthigen, sind anscheinend die Ursache, weshalb die Flora
von Centralamerika , die so zahlreiche Formen mit Südamerika und Wert-
indien gemein hat, weit seltener Wanderungen in nördlicher Richtung
erkennen lässt. Der Isthmus wäre demnach nicht bloss, weil die De-
pression der Anden die Vermischung der Organismen im Inneren ge-
hindert hat, eine Grenze grosser Schöpfungsgebiete, sondern auch in
Bezug auf die Erzeugnisse der Ostküsten, welche ausserdem noch durch
das trockene Klima Yucatan's gesondert werden.
Der Gegensatz Trinidads gegen die Antillen geht mit hinreichender
Deutlichkeit schon daraus hervor, dass eine Reihe von Grattungen des
Festlandes, welche in Westindien nicht einheimisch sind, sich bis nach
Trinidad verbreiten. Statt daher das Verzeichniss der Arten mitzutheilen,
begnüge ich mich, das Areal der Gattungen, welche in diese Kategorie
fallen, soweit es mir bekannt geworden, anzugeben, woraus sich der
Typus der an die Küsten gebundenen Wanderung erkennen lässt, die,
ohne den weiteren Seeweg zu den Antillen zuzulassen , gleichsam Schritt
für Schritt der atlantischen Strömung gefolgt und von verschiedenen
Ausgangspunkten aus zu geringeren oder grösseren Entfernungen allmSlig
fortgeschritten zu sein scheint.
Pflanzen aus südamerikanischen Gattungen, welche auf Trinidad, aber nicht
auf den Antillen vorkommen.
Mollinedia laurina TuL Brasilien (23° S. Br.) — Trinidad.
Steriphoma elliptica Spr. Trinidad — Cumana. /
Alsodeia flavescens Spr. Guiana — Trinidad.
Bredemeyera lucida (Catocoma Benth.). Para — Trinidad.
Mabea Taquari Aubl. Aequator — Trinidad.
— occidentalis Benth. Bahia — Panama.
Reissekia smilacina Endl. Brasilien — Trinidad.
Ruyschia Souroubea W. Guiana — Trinidad.
DIE GEOGRAPHISCHE VERBREITUNG DER PFLANZEN WESTINDIENS 46
Norantea guianensis Aubl. Aequator — Trinidad.
Salacia scandens Gr. Guiana — Panama.
Chailletia pedunculata DG. Guiana — Trinidad.
Muellera moniliformis L. Guiana — Trinidad.
Mora excelsa Benth. Guiana — Trinidad.
Parinari campestre Aubl. Guiana — Trinidad.
Gouepia guianensis Aubl. Guiana — Trinidad.
Gomollia veronicifolia Benth. Guiana — Trinidad.
Dodecas maritimus Gr. Guiana — Trinidad.
Cacoucia coccinea Aubl. Guiana — Panama.
Roupala montana Aubl. Brasilien — Isthmus.
Schoenobiblus daphnoides Mart. Zucc. Aequator — Venezuela.
Tacsonia sanguinea DG. Guiana — Trinidad.
Ryania speciosa V. Guiana — Venezuela.
Helosis guianensis Rieh. Brasilien — Trinidad.
Gordiera triflora Rieh. Guiana — Trinidad.
Bertiera guianensis Aubl. Aequator — Venezuela.
Nauclea aculeata Lam. Guiana — Venezuela.
Ronabea latifolia Aubl. Guiana — Venezuela.
Perama hirsuta Aubl. Brasilien — Venezuela.
Emmeorrhiza brasiliensis Pohl. Südbrasilien (28° S. Br.) — Venezuela.
Gentratherum muticum Less. Guiana — Venezuela.
Cybianthus euspidatus Miq. Trinidad — Venezuela.
Weigeltia myrianthos A. DC. Brasilien — Trinidad.
Clavija ornata Don. Brasilien — Venezuela.
Pouteria guianensis Aubl. Guiana — Trinidad.
Condylocarpum intermedium J. Müll. Brasilien — Trinidad.
Beyrichia scutellarioides Benth. Brasilien — Venezuela.
Conobea aquatiea Aubl. Guiana — Venezuela.
Macfadyena uncinata A. DC. Guiana — Panama.
— corymbosa Gr. Aequator — Panama.
Mendoncia squamuligera Ns. Guiana — Trinidad.
Isoloma hirsutum Decs. Venezuela, Trinidad.
Amasonia ereota L. Brasilien — Venezuela.
Spathiphyllum cannifolium Sehtt. Brasilien — Trinidad.
Rapatea paludosa Aubl. Brasilien — Trinidad.
Thrasya hirsuta Ns. Brasilien — Trinidad.
Diplasia karatifolia Rieh. Brasilien — Trinidad.
►
46 A. GRISEBACH,
Becquerelia cymosa Brongn. Brasilien — Trinidad.
Pteroscleria longifolia Gr. Guiana — Trinidad.
Calyptrocarya angustifolia Ns. Aequator — Trinidad.
Lagenocarpu8 tremulus Ns. Guiana - Trinidad.
Macrochordium melananthum Beer. Guiana — Trinidad.
Anderweitige Beispiele der Verbreitung von Trinidad -Pflanzen über Neu-
Granada und bis zum Isthmus.
Clematis caripensis Kth. Brasilien — Isthmus.
Citrosma guianensis Tul. Brasilien (23° S. Br.j — Panama.
Artanthe coruscans Miq. Trinidad — Neu -Granada.
Schnella excisa Gr. Trinidad — Panama.
Pithecolobium oblongum Aubl. Trinidad — Panama.
Rourea frutescens AubL Guiana — Panama.
Tschudya spondylantha Gr. Aequatorialzone — Nicaragua.
Cremanium trinitatis Gr. Guiana — Panama.
Phoradendron quadrangulare Gr. Trinidad — Neu -Granada.
Palicourea parviflora Benth. Trinidad — Veraguas.
Wedelia caracasana DC. Venezuela — Veraguas.
Ardisia decipiens A. DG. Trinidad — Panama.
Odontadenia speciosa Benth. Aequator — Costarica.
Marsdenia maculata Hook. Venezuela — Panama.
Lisianthus alatus Aubl. Guiana — Nicaragua.
Buchnera longifolia Kth. Venezuela — Neu -Granada.
Bignonia mollis V. Guiana — Panama.
Smilax surinamensis Miq. Guiana — Panama.
7. Areale, welche Mexiko und Westindien verbinden.
Von mexikanischen Formen , die nach Westindien eingewandert sind,
kennt man ungleich weniger Arten, als von südamerikanischen: offenbar
ist die Verbindung durch den Seeweg schwieriger, dann ist aber auch
das Areal des Heimathlandes bei der Abwesenheit grosser Flüsse auf das
östliche Littoral des Meerbusens und auf Yucatan eingeschränkt und
daher ein weniger ergiebiges Schöpfungsgebiet, als der reich gegliederte
südliche Kontinent. Wiederum aber tritt bei der Ansiedelung mexikani-
scher Pflanzen der Einfluss der Meeresströmungen auf das deutlichste
hervor, indem die Mehrzahl derselben auf Cuba beschränkt ist, welche
DIE GEOGRAPHISCHE VERBREITUNG DER PFLANZEN WESTINDIENS. 47
Insel allein durch den die mexikanische Küste bespülenden Golfstrom in
der Umgegend von Havanna berührt wird: nur einige wenige folgen,
das tropische Gebiet überschreitend, der Küste über Texas und Louisiana.
Was die Ausgangspunkte der Wanderung betrifft, so sind die meisten
Arten auf dem Kontinent nur an der Ostküste Mexiko's beobachtet;
mehrere lassen sich bis Yucatan verfolgen, und andere reichen südwärts
bis zum Isthmus, wo die Produkte beider Hemisphären zusammentreffen.
Auch hier wird es genügen, die Verbreitung derjenigen Grattungen an*
zuführen, die keine anderweitige westindische Arten enthalten, und, wie
im vorigen Fall, einige charakteristische Beispiele von grösserem Areal
hinzuzufügen.
Von diesen letzteren Arten, welche demnach, vom Isthmus längs
. der mexikanischen Ostküste verbreitet, durch den Golfstrom nach West-
indien geführt zu sein scheinen, hat sich indessen eine andere Reihe
nicht absondern lassen, die bisher in Mexiko noch nicht nachgewiesen,
dem Isthmus und den Antillen gemeinsam ist. Es ist nämlich denkbar,
dass dieselben zum Theil künftig auch in Mexiko entdeckt worden, wäh-
rend aus der Arealform anderer sich mit Sicherheit schliessen lässt , dass
die Wanderung auf unmittelbaren Verbindungswegen beruht. Dies geht
nämlich daraus hervor, dass es Pflanzen giebt, welche, ohne in nörd-
licher Richtung bis Cuba oder überhaupt nur zu den grossen Antillen
verbreitet zu sein, auf die karaibischen Inseln und den Isthmus sich
beschränken. Vielleicht wird sich ihre Zahl auch dadurch noch in der
Folge verringern, dass neue Standorte an der Küste von Venezuela be-
kannt werden, so dass sie dann einer der früheren Kategorien (5.) an-
heimfallen würden. Immerhin ist jedoch zu erwarten, dass auch unmit-
telbare Verbindungen durch den von Westindien gegen die Küste von
Panama wehenden Passatwind oder durch Vogelflug stattfinden : denn ein
Seeweg durch Meeresströmungen scheint in einigen Fällen nicht ange-
nommen werden zu können , indem zwar von den Karaiben und Jamaika
die atlantische Strömung zu dem Isthmus hinüberfluthet , die übrigen
grossen Antillen hingegen in keiner solchen unmittelbaren Verbindung
mit dem südwestlich gelegenen Theile des Kontinents stehen. Hier ist
48 A. GRISEBACH,
also die Untersuchung bis jetzt nicht abgeschlossen: es bleibt übrig, die
Areale sicherer in ihrem vollen Umfange festzustellen, und dann wird es
vielleicht möglich sein, aus der systematischen Stellung jeder einzelnen
Art neue Gründe .zur Entscheidung der Frage herbeizuziehen, ob die-
selbe ihre ursprüngliche Heimath in Westindien oder auf dem Kontinent
hatte, ob sie von dort durch atmosphärische Mittel herübergeführt, oder
von hieraus zu den Inseln verbreitet ward. So weit das Areal gegen-
wärtig bekannt ist , habe ich in den angefahrten Beispielen das hypo-
thetische Schöpfungscentrum durch die gewählte Reihenfolge der Fund-
orte anzudeuten versucht
a. Mexikanische Gattungen, welche nach Westindien verbreitet sind.
Berberis fraxinifblia Hook. Mexiko — Cuba.
Stegnosperma halimifolium Benth. Guatemala — Guba. (Tropische Südspitze Cali-
forniens).
Cryptocarpus globosus Kth. Mexiko — Guba.
Boldoa ovatifolia Cav. Mexiko — Cuba.
Malvaviscus arboreus Cav. Mexiko — Bahama's und Jamaika.
— pleurogonus DC. Mexiko — Cuba.
Belotia grewiifolia Rieh. Mexiko — Guba.
Galphimia glauoa Cav. Mexiko — Guba.
Portesia ovata Cav. Veraguas — Haiti
— glabra Gr. Mexiko — Guba.
Swietenia Mahagoni L. Honduras — Bahama's und Jamaika.
Cedrela odorata L. Tucatan — Antigua.
Castilloa elliptica Cav. Mexiko — Cuba.
Antigonum leptopus H. A. Mexiko — Cuba.
Dalea mutabilis W. Mexiko — Cuba.
Mentzelia aspera L. Panama — Haiti. (Galapagos).
Declieuxia mexicana DC. Mexiko — Cuba.
Margaris nudiflora DC. Mexiko — Cuba.
Crusea rubra Cham. Schi. Mexiko — Cuba.
Lagascea mollis Cav. Mexiko — Cuba.
Conyza obtusa DC. Mexiko — Cuba.
Ximenesia encelioides Cav. Mexiko — Cuba.
Lebetinia cancellata Cav. Mexiko — Cuba.
DIE GEOGRAPHISCHE VERBREITUNG DER PFLANZEN WESTINDIENS. 49
Samoluß ebracteatus Kth. Mexiko — Cuba.
Russelia sarmentosa Jacq. Panama — Cuba. x
Achimenes coccinea Pers. Panama — Jamaika.
Martynia diandra Glox. Mexiko — Antigua.
Attalea Cohune Mart. Honduras — Jamaika.
Agave americana L. Mexiko — Dominica.
— spicata Cav. Mexiko — Cuba.
b. Verbreitung vom Isthmus twch Westindien oder in umgekehrter Richtung.
Lühea platypetala Rieh. Panama; Cuba.
Cleyera theoides PI. Cuba — Guadeloupe; Veraguas.
Heteropteris Lindeniana Juss. S. Vincent; Yucatan.
Meliosma vernicosum PI. Dominica; Costarica.
Alvaradoa amorphoides Liebm. Nicaragua, Mexiko; Cuba.
Acacia villosa W. Panama, Mexiko ; Cuba, Jamaika.
— Berteriana Balb. Jamaika; Panama.
Eugenia Lambertiana DC. Guadeloupe — S. Vincent; Panama.
Bucida Buceras L. Cuba — Guadeloupe; Panama.
Phoradendron latifolium Gr. Panama; Cuba, Jamaika.
Psychotria marginata Sw. Jamaika; Panama (M. Wagner I).
— longicollis Benth. Costarica; Cuba.
— pubescens Sw. Panama, Mexiko; Cuba, Jamaika.
Diodia prostrata Sw. Panama, Mexiko; Jamaika.
Baccharis nervosa DC. Guadeloupe — Trinidad; Costarica.
Verbesina gigantea Jacq. Jamaika — Dominica; Panama.
Pectis Swartziana Less. Haiti, Jamaika; Panama.
Tupa persieifolia A. DC. Guadeloupe, Dominica; Guatemala (Gebirgspflanze).
Myrsine coriacea R. Br. Cuba — Dominica; Panama.
Ardisia coriacea Sw. Jamaica; Panama.
Diospyros tetrasperma Sw. Panama; Cuba, Jamaika.
Echite8 paludosa V. Bahama's — Jamaika; Panama.
Solanum fuscatum L. Antigua; Yucatan.
Tecoma pentaphylla DC. Cuba — S. Lucia; Panama
Blechum angustifolium R. Br. Karaiben; Panama.
Tussacia pulchella Rchb. Cuba — Trinidad; Panama.
Ipomoea sidifolia Chois. Panama. Mexiko; Cuba, Haiti, Jamaika.
— jamaicensis Don. Panama; Cuba, Jamaika.
Cordia globosa Kth. Panama. Mexiko; Cuba — Martinique.
Phys. Classe. XU. G
50 A. GRISEBACH,
Ehretia tinifolia L. Yucatan, Mexiko; Cuba — S. Bartheiemi.
Beureria grandiflora Gr. Guatemala; Cuba.
Lantana involucrata L. Bahama's — Guadeloupe; Panama.
Pinus occidentalis Sw. Costarica; Cuba, Haiti.
Arundinella martinicensis Tr. Cuba — Martinique; Panataa.
Dioscorea pilosiuscula Berter. Panama, Mexiko; Jamaika, Haiti.
c. Verbreitung von Mexiko nach Westindien längs der nördlichen Golfküste.
Froelichia interrupta Moq. Mexiko, Texas, Florida; Jamaika.
Guettarda elliptica Sw. Mexiko, Florida; Cuba, Jamaika.
Eupatorium ivifolium L. Nordmexiko, Louisiana; Cuba — Guadeloupe.
— ageratifolium DC. Nordmexiko, Texas; Cuba, Haiti, Bahama's.
Forestiera porulosa Poir. Mexiko, Texas, Florida; Cuba, Jamaika.
Nicotiana repanda W. Mexiko, Texas; Cuba.
Ipomoea commutata R. S. Mexiko , Louisiana , Carolina ; Cuba.
Nama jamaicensis L. Mexiko, Texas; Cuba — Antigua.
Leersia monandra Sw. Mexiko, Texas; Cuba, Jamaika.
Pancratium carolinianum L. Mexiko, Südstaaten; Jamaika.
8. Areale, welche Nordamerika und Westindien verbinden.
Bei den Nordamerika und Westindien gemeinsamen Pflanzen lässt
sich fast in allen Fällen theils aus der Form ihres Areals, theils aus
ihrer systematischen Stellung erkennen , in welcher Richtung sie sich
verbreitet haben. Ich habe daher die nordamerikanischen und westindi-
schen Typen abgesondert zusammenzustellen versucht, und bemerke,
dass die Mehrzahl der ersteren auf Cuba beschränkt ist , sowie umgekehrt
die letzteren meist nur in die südlichsten Staaten eingedrungen sind,
also sich gerade so verhalten, wie die Tropenpflanzen überhaupt (vergl.
4. a. und 5. b.). In anderen Fällen, wo das Areal nach beiden Rich-
tungen ausgedehnter ist, oder wo sich dasselbe auf Florida und Cuba
beschränkt, gewährt die Verbreitung der Gattung, die Verwandtschaft
mit endemischen Arten, in der Regel einen Anhaltspunkt. So betrachte
ich Ulicium parviflorum als einen nordamerikanischen, nach Cuba über-
siedelten Typus, weil die südlichen Staaten noch eine zweite, endemische
Art dieser Gattung besitzen, hingegen Euphorbia trichotoma als vom
DIE GEOGRAPHISCHE VERBREITUNG DER PFLANZEN WESTINDIENS. 51
Seestrande Cuba's nach Florida verbreitet, indem die nächstverwandten
Formen tropisch sind.
Ueber die Mittel und Wege, welche nordamerikanische Gewächse
zu den Antillen geführt haben, lässt sich fast dasselbe nachweisen,
was sich für die transoceanischen Wanderungen ergab (3. und 4. a,).
DiG Meeresströmungen sind hier jedoch ohne besondere Bedeutung, da
der Golfstrom nur Louisiana mit Cuba in Verbindung setzt, am Mis-
sissippi aber manche Arten fehlen, die Cuba mit Florida und anderen
Staaten an der atlantischen Küste gemein hat. Allein die meisten
dieser Pflanzen sind entweder Begleiter des Kulturbodens oder wachsen
auf sumpfingem Boden, und im Wasser, und die Holzgewächse, gering
an Zahl, wie sie sind, gehören grösstenteils zu den häufigsten und am
weitesten verbreiteten Erzeugnissen Nordamerikas, so dass man. in Er-
mangelung aller näheren Angaben über ihr Vorkommen in Cuba, in
Zweifel gerathen müss, ob sie nicht vielleicht nach dieser Insel eingeführt
worden sind. Indessen giebt es auch einige Gewächse des Waldbodens,
von denen dies nicht angenommen werden kann : namentlich ist die
Wiederkehr mehrerer Hypericineen auf Cuba merkwürdig, welche früher
nur von dem dürren Boden der Nadelholz wäl der (pine barrens) in den
Südstaaten bekannt waren, und vielleicht Begleiter der in Cuba beob-
achteten Coniferen Nordamerika^ sein mögen. Ob diese und andere
Formen unter den Tropen in Gebirgsregionen hinaufrücken, darüber
fehlt bis jetzt von den Sammlern jede nähere Auskunft.
Das zweite Verzeichniss , welches die nach Nordamerika verbreiteten
westindischen Pflanzen enthält, hat eigentlich nur die Bedeutung, zur
Ergänzung der früher charakterisirten , tropischen Areale (3. 4 a. 5 b. 7 c.)
zu dienen, auf welche ich hier nur zu verweisen habe, da die Unter-
scheidung dieser Kategorieen eine willkührliche nach Breitegraden und
der Typus der Wanderungen der nämliche ist oder doch zuletzt in glei-
chen Richtungen zusammentrifft.
A. Nordamerikanische Pflanzen , welche in Westindien vorkommen.
a. PL hydrophilae.
Dlicium parviflorum Rieh. Georgia — Cuba.
G2
52 A. GRISEBACB,
Nymphaea odorata DC. Ganada — Cuba.
Nuphar advena Ait. Canada — Cuba.
Nelumbium luteum W. Ontario — Jamaika.
Acnida cannabina L. Michigan — Trinidad.
Isnardia microcarpa Poir. Süd -Carolina ->- Jamaika..
Oldenlandia glomerata Mich. New- York — Cuba.
Hedyotis coerulea Hook. Canada — Cuba.
Cephalanthus occidentalis L. Canada — Cuba.
Aster cameus Ns. Massachusets — Cuba.
Pluchea bifrons DC. Süd -Carolina — Cuba.
Utricularia cornuta Mich. Canada — Cuba.
— purpurea Walt. Massachusets — Cuba.
Buchnera ämericana L. New -York — Cuba.
Herpestis rotundifolia Pursh. Illinois — Cuba.
Hemianthus micranthemoides Nutt. Carolina — Cuba. «
Potamogeton hybrida Mich. Massachusets — Cuba. ,
— pauciflora Pursh. Nordamerika — Cuba. (Sandwich -Inseln).
Cyperus acuminatus Torr. Illinois — Jamaika.
Scirpus melanocarpus Gr. Carolina — Cuba.
— validus V. Nordamerika — Jamaika; Mexiko.
Rhynchospora setacea Y. Carolina — Cuba.
— <Ü8tans V. Südstaaten — Haiti.
— stellata Gr. New -Jersey — Martinique.
Scleria gracilis £11. Carolina — Cuba.
Juncus repens Mich. Carolina — Cuba.
b. PI. litorales.
Cakile aequalis DC. Südstaaten (?) — S. Vincent
Aster linifolius L. Massachusets — Cuba.
Baccharis halimifolia L. Maryland — Cuba.
Gnaphalium purpureum L. Maine — Cuba.
Seutera maritima Rchb. Süd -Carolina, Texas — BahamaV
Leptochloa fascicularis As. Gr. Rhode -Island — Cuba.
Fuirena squarrosa Mich. Massachusets — Cuba.
c. PI. agrariae etc.
Lepidium virginicum L. Nordamerika — Trinidad.
Polygala verticillata L. Canada — Cuba.
Desmodium glabellum DC. Carolina — Cuba.
— ciliare DC. Massachusets — Cuba.
DIE GEOGRAPHISCHE VERBREITUNG DER PFLANZEN WESTINDIENS. 53
Cassia nictitans L. Massacbusets — Guadeloupe.
Ambrosia psilostachya DC. Illinois — Jamaika.
Melanthera hastata Rieh. Carolina — Cuba.
Verbena urtieifolia L. Canada Jamaika.
d. PL sylvaticae, cariae. (Die Holzgewächse sind cursiv gedruckt).
Claytonia perfoliata Don. Rocky -Mountains, Mexiko — Cuba.
Ampelopsis quinquefolia Rieh. Canada — Cuba.
Hypericum galioides Lam. Carolina — Cuba.
— fasciculatum Lam. Carolina — Cuba.
Ascyrum crux Andreae L. New -Jersey — Cuba.
— hyperieoides L. Texas — Jamaika. (Bermudas).
Oxalis violacea L. Canada — Cuba.
Rhu* Capailina h< Canada — Cuba.
Juglans cinerea L. Canada — Cuba.
Myrica carolinensis Ell. Carolina — Cuba.
Eupatorium foeniculaceum W. Virginia — Cuba.
— coronopifolium W. Carolina — Cuba.
Sabbatia gracilis Salisb. Südstaaten — Cuba.
Callicarpa americana L. Virginia — Cuba.
Juniperus virginiana L. Canada — Cuba.
Commelyna angustifolia Mich. Pennsylvania — Cuba»
Aristida purpurascens Mich. Massachusets — Jamaika.
Panicum virgatum L. Nordamerika — Cuba.
— dichotomum L. Nordamerika — Jamaika.
Andropogon scoparius Mich. Carolina — Cuba.
Sabal Palmctto Lodd. Carolina Cuba.
Yucca aloifoHa L. Südstaaten — Antigua.
Smilax pseudochina L. New -Jersey — Cuba.
Sisyrinchium Bermudiana L. Canada — Cuba. (Bermudab).
B. Westindische Pflanzen, welche die Nordgrenze des tropischen Klimans
überschreiten.
Euphorbia trichotoma Kth. Cuba — Florida. (Seestrand \
Abutilon permolle G. Don. Cuba, Bahama's — Florida.
Ayenia pusilla L. Antigua — Neumexiko, Kalifornien.
Guajacum sanetum L. Portorico, Haiti, Bahama's — Key West.
Fagara lentiseifolia W. Trinidad — Florida 1 , Texas.
54 A. GRISEBACH,
Simaruba glauca Kth. Jamaika — Florida.
Gastela erecta Turp. Antigua — Texas.
Myginda Rhacoma Sw. Jamaika - Florida. (Seestrand).
Coccoloba floridana Msn. Cuba — Florida.
Passiflora angustifolia Sw. Jamaika — Key West.
Randia aculeata L. Dominica — Key West.
Psychotria lanceolata Nutt. Trinidad — Florida.
Ernodea litoralis Sw. Guadeloupe — Florida. (Seestrand).
Ambrosia crithmifolia DC. Cuba, Bahama's — Florida. (Seestrand }.
Flaveria linearis Lag. Cuba — Florida.
Pectis linifolia Less. S. Thomas — Key West.
Asclepias nivea L. S. Thomas — Louisiana.
Beureria tomentosa Jacq. Jamaika, Cuba, Bahama's; Key West.
Tournefortia gnaphalodes R. Br. Barbadoes — Bahama's ; Florida. (Seestrand).
Anatherum macrurum Gr. Antigua — Südstaaten.
Crinum floridanum Fräs. Jamaika; Florida- Key's.
IL Areale der endemischen Pflanzen.
•
Zu den wichtigsten Ergebnissen der bisherigen Untersuchungen über
den Endemismus oceanischer Archipele gehören die Beschränkung der
Schöpfungscentren auf die einzelnen Inseln, die im Verhaltniss zu den
eingewanderten Pflanzen vergrösserte Artenzahl in den Gattungen, welche
mit der räumlichen Absonderung verwandter Formen in Verbindung
steht, und das Auftreten endemischer Grattungen, die oft nur eine oder
wenige Arten enthalten (Monotypen). In dieser Reihenfolge ist nun
auch der Endemismus der westindischen Vegetation zu beleuchten. So-
fern dieselben Gesetze für eine Insel von der Grösse Cuba's sich gültig
zeigen, scheint die Begründung des Satzes, dass sie nicht bloss auf die
Schöpfungscentren von Archipelen , sondern auch auf die der Kontinente,
also auf die Schöpfungscentren überhaupt sich beziehen , nicht mehr fern
zu liegen, und derselbe wird sich ohne Zweifel auch aus den schärfer
gesonderten Florengebieten der südlichen gemässigten Zone ableiten,
lassen.
DIE GEOGRAPHISCHE VERBREITUNG DER PFLANZEN WESTINDIENS. 55
Vertheüung der endemischen Arten Westindiens auf die einseinen Inseln.
Mehr als 2000 Pflanzen Westindiens, also beinahe die Hälfte aller
verglichenen Arten, sind, soweit bis jetzt unsere Kenntniss reicht, dem
Gebiete eigentümlich. Eine so grosse Verhältnisszahl endemischer Ge-
wächse wird wohl nur selten auf oceanischen Archipelen erreicht: doch
nähert sie sich dem Endemismus der Galapagos, und wird in Neuseeland
und Madagaskar ohne Zweifel weit übertroffen.
Fast zwei Drittel der eigentümlich westindischen Pflanzen sind bis
jetzt nur auf einer einzigen Insel beobachtet worden. Allein die Ver-
theüung ist im höchsten Grade ungleich, und, um das Verhältniss rich-
tiger zu würdigen, ist zunächst die Grösse der Inseln, alfe der wichtigste
Faktor der Ergiebigkeit organischer Schöpfungen, in Betracht zu ziehen.
Das Gesammtareal Westindiens beträgt nach den neuesten Schätzungen *)
beinahe 4600 g. Quadratmeilen, wovon etwa 4040 auf die grossen An-
tillen, 290 auf die Bahama's, 150 auf sämmtliche Karaiben und 100 auf
Trinidad fallen. Von den grossen Antillen interessiren uns hier nur
Cuba mit 2120 und Jamaika mit 275 Quadratmeilen.
Die Vertheilfing der auf eine einzige Insel beschränkten Arten er-
giebt sich aus folgender Uebersicht :
Cuba 849
Arten.
Martinique 2 Arten.
Jamaika 275
)>
4
Guadeloupe 1 Art.
Trinidad 83
»
S. Lucia 1 »
Dominica 29
h
Antigua 1 »
S. Vincent 12
»
Barbadoes 1 »
Montserrat 2
»
Bahama's (Providence u. Turk-Islands)
Grenada 2
))
18 Arten.
Wenn man berücksichtigt, dass einige westindische Inseln nicht so
vollständig wie andere erforscht sind, so scheinen diese Ziffern im All-
gemeinen für eine ziemlich gleichmässige Vertheüung der Schöpfungs-
1) American Almanac for 1858. Die Angaben sind daselbst in engl. Quadrat-
meilen angesetzt, und hier nach dem approximativen Verhältniss von 20:1
in abgerundeten Ziffern auf geographische reducirt.
56 A. GRISEBACH.
centren zu sprechen. Wird Jamaika, eine der am besten bekannten
Inseln, zu Grunde gelegt, wo auf die Quadratmeile je eine endemische
Art fallt, so entfernt sich Trinidad *ron diesem Verhältniss nicht bedeu-
tend, und die noch wenig untersuchten Bahama's, die bis jetzt weniger
Eigenthümliches dargeboten haben, dürften in der Folge noch neue,
endemische Arten liefern. Nur die Karaiben, von denen 51 auf eine
einzige Insel beschränkte Arten bei einem Areal von 150 Quadratmeilen
bekannt geworden sind, würden in dieser Beziehung abweichen, um so
mehr als hier die einzelnen Schöpfungscentren, durch das Meer von
einander abgesondert, die Organismen nicht so leicht unter einander
austauschen können , als auf einer längeren , durch Flüsse gegliederten
Küstenlinie.
Bei einer genaueren Vergleichung der einzelnen Inseln und, wenn
wir Cuba mit Jamaika zusammenstellen, zeigen sich indessen noch ent-
schiedenere Gegensätze in der erzeugenden Kraft, welche dieses insulare
Gebiet belebt hat. Zu den am vollständigsten untersuchten karaibischen
Inseln gehören namentlich Guadeloupe, Dominica und Antigua. In
meiner früheren Arbeit über die Karaiben hatte ich mehrere neue Arten
aus Guadeloupe beschrieben, die ich später auch von anderen Insekt
erhalten habe: es blieben nur vier Arten übrig, von denen ich aber
drei, da sie nach Vorkommen und Verwandtschaft schwerlich auf die
Insel beschränkt sind, unberücksichtigt lasse, und somit halte ich jetzt
das auf dem Gipfel des Vulkans Soufriere schon von Swartz entdeckte,
in der Perrottet'schen Sammlung von mir untersuchte Cremanium coria-
ceum (Melastoma Sw.) fär das einzige , sicher bekannte l ) , endemische
Erzeugniss der Insel Guadeloupe. Diese ist nun aber die grösste aller
Karaiben: ihr Areal beträgt mehr als 26 Quadratmeilen, nach älteren
Angaben mehr als 30. Durch ihre Verbindung mit Grandeterre vereinigt
sie die Fruchtbarkeit vulkanischen Waldgebirgs mit dem dürren Tertiär-
kalk der niedrigen, östlichen Inselreihe und besitzt in Folge dieser man-
1) Zwei «andere Melastomaceen hat Nalidin vom gleichen Standorte , jedoch nach
unvollständigem Material benannt.
, DIE GEOGRAPHISCHE VERBREITUNG DER PFLANZEN WESTINDIENS. 57
nigfaltigen Bodengestaltung dfcn grössten Pflanzenreichtbum unter allen
Kamben 1 ). Kaum halb so gross ist Dominica (14 Qbadratmeilen) , und
dennoch haben hier die Forschungen Dr. Imray's bereits 29 eigenthüih-
Hbhe Arten geliefert, eine bei Weitem grössere Zahl, als irgend eine
andere karaibische Insel, mehr als die Hälfte aller in diesem Archipel
auf ein Einziges Centrum eingeschränkten Arten. Mögen manche der-
selben ' in der Folge auch noch ■ anderswo aufgefunden werden , dieser
grosse Gegensatz in der Ergiebigkeit eigentümlicher Schöpfungen kann
kein zufälliger sein, da durch Duähassaingta und Perrottet's Sammlungen
•rasere Kenntniss von Guadeloupe vollständiger geworden ist, als von
Dominica. Diese Insel liegt in geringem Abstände zwischen Guadeloupe
und Martinique, die bis jetzt nur mit je einer und je zwei endemischen
Arten vertreten sind ; die physische Beschaffenheit , durch eine vulkanische
Gebirgsmasse und feuchtes Klima bezeichnet, bietet keinen Erklärungs-
grund, der natürliche Austausch der Organismen konnte in beiden Rich-
tungen gleichmässig stattfinden. Wie können wir also umhin anzuneh-
men, dass Dominica die grössere Eigentümlichkeit dem geologischen
Schöpfangsakte selbst verdankt, oder dass die hier entstandenen Orga-
nismen Verriger befähigt waren, sich jenseits des Meeres anzusiedeln?
'Wir finden ähnliche Erscheinungen in Europa, wenn wir 'die zahlreichen
endeibischen Pflanzen Corsikfc's mit der so wenig eigentümlichen Vege-
tation Sardiniens, oder auf dem Kontinente selbst die Pyrenaeen mit
der Sierra Morena vergleichen.. Wie wir Inseln ohne eigene Schöpfiings-
centren kennen, so ist auch die erzeugende Kraft der produktiven Punkte
der Erdoberfläche nicht überall gleich intensiv gewesen.
Die übrigen , vulkanischen Karaiben zeigen ähnliche Verschieden-
heiten, wie Dominica und Guadeloupe, sind aber nicht gleichmässig be-
kannt: Die' nicht vulkanische Insel Antigua hingegen, von der wir eine
sehr vollständige Sammlung dem verstorbenen Wullschlaegel verdanken,
bietet zu de* Fragö Anlass , ob auf den Tertiärkalken der östlichen
Kamben Oberhaupt Sohöpfungsoentten anzunehmen sind, odir ob sie
* -* * ■ • - ■ • i . *
v 1) Vegetation der Karaibeh S. 6.
Phys. Classe. XII. H
58 A. GRISEBACH,
' nur eingewanderte Pflanzen besitzen. Von allen diesen Inaein sind
gegenwärtig nur 2 Arten bekannt, welche nicht auch in anderen Theilec
Westindiens beobachtet wären: von Antigua eine Graminee (Bouteloua
elatior) und von Barbadoes eine holzige Boraginee (Cordia tremula). Mit
grosser Wahrscheinlichkeit ist zu erwarten, dass diese Pflanzen auch
anderswo vorkommen, da die meisten Gräser grosse Areale bewohnen,
und die Boraginee Arten gleicher Gattung auf anderen Inseln nahe ver-
wandt ist. Auch wenn wir das Gebiet des Tertiärkalks als ein Ganzes
zusammenfassen, ist kein weiteres Beispiel des Endemismus in dessen
Bereich bekannt, während f&r die vulkanischen Karaiben zu den auf
eine einzelne Insel beschränkten Arten noch gegen 50 mehreren < der-
selben gemeinsame, endemische Formen hinzuzurechnen sind. Sodann
ist auch in Antigua die Artenzahl in den Gattungen geringfügig. Hier
scheint also der Fall vorzuliegen, dass die Schöpfungscentren an ein
bestimmtes geognostisches Substrat gebunden sind, dass, als die Östlichen
Karaiben gebildet wurden, die Kraft, neue Pflanzen zu erzeugen, in
diesen Gegenden der Erde erloschen oder latent war, und dass ihre
Pflanzendecke ihnen von auswärts, zunächst von den Nachbarinseln zu-
geführt wurde. Es wäre von Wichtigkeit, diese Hypothese auch vom
geologischen Gesichtspunkte aus zu prüfen und zu untersuchen, ob die
vulkanischen Karaiben froher aus dem Meere gehoben sind, als der
Tertiärkalk. Jedenfalls hat sich nun dauernd eine scharfe Vegetations*-
grenze zwischen beiden Inselreihen herausgebildet: die Gewächse des
feuchten Waldgebirges konnten sich nicht in dem trockeneren Klima
und auf dem dürren, wenig über den Meeresspiegel hervortretenden
Boden des Tertiärkalks ansiedeln, sondern nur Pflanzen bestimmter Stand-
orte und solche, die, gegen äussere Agentien gleichgültig, sich leicht
des fremden Bodens bemächtigten. Die Flora der östlichen Karaiben ist
daher verhältnissmässig arm. gegen ihre westlichen Nachbaren.
Ungleiche Ergiebigkeit der Schöpfungscentren darf endlich auch aus
der Vergleichung von Jamaika und Guba mit einer gewissen Wahrschein-
lichkeit abgeleitet werden. Cuba, dessen Areal fast achtmal so gross
ist, wie das von Jamaika, hat bis jetzt wenig mehr als die dreifache
DIE GEOGRAPHISCHE VERBREITUNG DER PFLANZEN WESTINDIENS. 59
Zahl eigentümlicher Pflanzen geliefert. So gewiss es nun auch ist, dass
Jamaika weit genauer erforscht ist, und dass die meisten endemischen
Gewächse Cuba's erst durch die unerwartet formenreichen, jedoch nur
von einzelnen Gegenden der Insel herrührenden Sammlungen der neueren
Zeit, durch Ramon de la Sagra, linden und besonders durch G. Wright
bekannt geworden sind, so kann man doch nicht wohl annehmen, dass
gegenwärtig noch eine so grosse Menge von Arten unbekannt sein sollte,
wie vorhanden sein müsste, um die Verhältnisszahl Jamaika's zu errei-
chen. Freilich wächst auch mit der Grösse des Areals , wie oben gezeigt
wurde, die Leichtigkeit des Austausches, und es werden daher von
denjenigen Pflanzen, welche über mehrere Inseln oder über ganz West-
indien verbreitet sind, eine ungleich grössere Zahl von Guba ausgegangen
sein, als von anderen Orten und in anderen Richtungen. Cuba ist den
anderen Inseln gegenüber gleichsam ein kleiner Kontinent, dessen Areal
beinahe halb so gross ist wie das aller übrigen zusammengenommen.
Allein selbst wenn man annehmen wollte, dass alle mehreren Inseln
gemeinsame, endemischen Pflanzen Westindien's von hier aus verbreitet
Wären, würde man fBr die Schöpfungscentren Cuba's bei Weitem nicht
das Verhältniss einer Art auf die Quadratmeile, wie in Jamaika, erreicht
sehen. Ich halte es daher für wahrscheinlich, dass Cuba an Ergiebigkeit
der" Pflanzenschöpfungen Jamaika nachsteht. Auch würde efr, dies als
sicher vorausgesetzt , leicht sein , den Grund aus der physischen .Beschaf-
fenheit und plastischen Gestaltung beider Inseln abzuleiten. Jamaika
hat ausgedehntere und höhere Gebirge , eine complicirte Gliederung in
Bezug auf Thalbildungen, Gipfel- und Kaihmgestaltungen , steile oder
sanftere Böschungswinkel; es besitzt eine mannigfaltige, geognostische
Constitution, und vor Allem sind hier die durch den Einfluss der west-
östlich streichenden Bergkette bedingten, klimatischen Gegensätze der
feuchten Nordgehftnge und der trockeneren, durch Cacteen charakterisirten
Südküste fftr die Anordnung der Pflanzen von entscheidendem Einflüsse.
Ciiba iöt' gleichtaiässiger gebaut und die Hochgebirge sind auf engen
Bäumen zusammengedrängt Alle diese Verhältnitte wüken zusammen,
die Pflanzen Jamaika's in ihre* Verbreitung zu» beschränken, und, wenn
H2
60 A. GBISEBACH,
die Schöpfungscentren unter dem allgemeinsten. Gesetze der organische*!
Natur, dem Gesetze der Adaptation stehen, so war ihnen hier ein wei-
terer Spielraum zu ihren Bildungen gegeben, als in Cuba.
Wendet man sich, von den Erzeugnissen einzelner Inseln zu den-
jenigen , welche innerhalb des Gebietes Aber einen grösseren Baum sich
ausgebreitet haben, so zeigt sich die Gestalt der Areale grösstentheila
nur durch die geographischen Entfernungen geregelt, und. ob Strömun-
gen oder andere Hfilfsmittel die Wanderungen unterstützt haben, ist
nicht mit Sicherheit festzustellen. . Dagegen lässt sich die grössere Hälfte
der Areale nach Polhöhe und Bodengestaltung zu fünf klimatischen
Gruppen ordnen, die bei der Untersuchung der Pflanzenformationen aich>
ohne Zweifel auch durch den allgemeinen Charakter der Vegetation
rechtfertigen würden. Die kleinere Hälfte umfasst diejenigen Pflanzen
Westindiens, die durch den grössten Theil des Gebiets, also von den.
grossen Antillen oder den Bahamas bis zu den Karaiben oder Trinidad
verbreitet sind (294 Arten).
1. Die erste Gruppe wird durch die Bahama's-und Turk- Insekt
gebildet; sie erstreckt sich vom 28s ten bis zum 21sten Breitengrade, ist
gebirgslos und hat trocknes Passatklima mit kurzer Regenzeit. . Maflb
kennt bis jetzt nur Pflanzen einzelne]; Inseln.
2. Die vier grossen Antillen, vom Wendekreise bis zum 18te&
Breitengrade; reichend, haben sÄmmtlich ausgedehnte Ketten. von Hoch-
und Mittelgebirgen, Regenzeiten vor und nach dem Soramersolstitium
und zeigen ausserdem örtliche Verschiedenheiten in den Feuchtigkeiten
Verhältnissen, indem die Niederschläge bald mit ungleicher Intensität
fallen, bald über fast, alle Monate des Jahrs in wechselnder Fropartion
vertheilt sind oder auf kürzere Zeiträume sich einschränken. Diese
Gruppe lieferte unter den verglichenen Pflanzenformen 307 gemeinsame*
oder doch wenigstens . auf ewei Inseln nachgewiesene Arten, von denen
32 bis auf die Bahaina's sioh verbreitet haben. : -
i . 3. Die v westlichen* » vulkanischen Karaiben , von S. Kitts; (179 N. B.)
bift> Grenada .(12°,N..BL) reichend, sind Kegelberge mit Kxatereiu siwn
Theil von beträchtlicher Höhe (aber 6000 'ansteigend). Ihr Klima i«t
DIE GEOGRAPHISCHE VERBREITUNG DER PFLANZEN WESTINDIENS. 61
dem der grossen Antillen ähnlich , von denen sie aber durch eine nicht
unbeträchtliche Meeresbreite und zwischenliegende Inseln der folgenden
Gruppe getrennt sind. Sie haben 104 , auf mehrere Inseln verbreitete
Arten geliefert, von denen 21 auch die folgende Gruppe, 32 Trinidad
erreichen.
4. Die östlichen oder äusseren gebirgslosen Karaibe» umfassen die
Inselreihe von S. Thomas (19° N. B.) bis Tabago (12° N. B.). Die physi-
schen Verhältnisse sind denen der Bahama's ähnlich, mit denen sie
weniger als mit den übrigen- Gruppen geographisch verbunden sind.
Gemeinsame Pflanzen haben sie nicht geliefert, die nicht kuch auf den»
mueren Karaiberi- vorkämen: aber ihre Vegetation ward auch durch die
Kultur des Bodens bedeutend beeinträchtigt.
. . ■ 5. Das letzte Glied bildet Trinidad , wo Niederschläge auch ausser-
halb der Rege ii zeit in allen Monaten vorkommen, jedoch Savanen, ge-
schützt durcih die zu 3100' sich erhebenden Gebirgszüge, wie in Guiana;
dem feuchten Waldgebiet sich einordnen. Von Cura£ao und anderen
gebirgslosen Inseln an (der Nordküste von Venezuela liegen keine bota-
nische Sammlungen vor.
Die Gesammtzahl der auf einer Mehrzahl von westindischen Inseln
nachgewiesenen, endemischen Gewächse betrug demnach kaum mehr als
700 Arten, während 1274 nur auf einer einzigen Insel gesammelt waren.
• ■ ■
fteichtku^ der Gattungen, an endemischen Arten. >
Wenn in einer formenreichen Gattung die verschiedenen Arten,
welche sie zusammensetzen , ftbetf ■ nahe gelegene Inseln oder Gebirgs-
gipfel sich vertheilen, also durch das Mder oder durch nicht leicht über-
schreitbare Thälör von einander geschieden sind, so werden sie in ihrer
Absonderung verharren und auf die Dauer den Ort, wo sie entstanden
sind, erkennen lassen. Dies ist das Verhältniss, welches J. Hooke£
zuerst fflr die. artenreichen Gattungen der Galapagog nachgewiesen hat 1 ).
SiAd dagegen. die i grossen Gattungen kontinentalen Ursprungs, so das* sich
1) I&rii. tfhuteact. 20. p. 163 u. f. ' !
62 A. GRISEBACH,
die Arten leichter ausbreiten können und jede einzelne doch ihre eigen-
tümlichen Kräfte besitzt, physische und physiologische Hindernisse auf
ihrer Wanderung zu überwinden , i werden die schwächer ausgestatteten
auf einem engen Baume zurückbleiben, während die gleichsam mit den
stärksten Waffen gerüsteten, die wuchernden, die massenhaft sich fort-
pflanzenden, die von Klima und Boden unabhängigsten weiter und Weiter
ihren Wohnort ausdehnen , ja einige zuletzt auch das Meer über-
schreiten mögen. So empfangen die Inseln aus der Ferne nur einzelne
Vertreter aus den Gattungen des Kontinents. Man kann daher auf einem
oceanischen Archipel die endemischen von den nicht endemischen Pflan-
zen oft schon dadurch unterscheiden, dass die Artenzahl in der Gattung
höher ist. ■
Bei den westindischen Pflanzen hat sich dieser Unterschied ebenfalls
nachweisen lassen: da derselbe aber durch die endemischen Monotypen
und andere Einflüsse verdunkelt wird, ist eine weitere Erläuterung er-
forderlich.
Ich beschränke meine Darstellung auf die Dikotyledonen , da zwei
der grössten monokotyledonischen Familien, die Gräser und Cyperaceen,
wegen ihrer erleichterten Wanderungsföhigkeit und der UbiquitBt der
Hauptgattungen zur Vergleichung mit den ersteren nicht geeignet sind.
Die Verhältnisszahlen der verglichenen dikotyledönischen Gattungen 4bd
Arten sind folgende:
Gesammtzahl der Gattungen = 1030, wovon 278 do"wöiil endemische
/ als nicht endemische Arten enthalten.
Endemische Arten = 1789, in 540 Gattungen.
Nicht endemische Arten = 1866, in 768 Gattungen.
Das STerhältniss der Arten zu den Gattungen ist demnach bei den
endemischen Dikotyledonen Westindiens 8, 3:1, der nicht endemischen
2, 4 : L Dieser Unterschied aber würde weit erheblicher werden, wenn
statt des arithmetischen Mittels eine mehr in die besonderen Verbrei-
tungsgesetze .eindringende Berechnungsweise gewählt und namentlich der
Einfluss folgender Thatsachen in Betracht gezogen würde.
1. Es giebt unter den Westindien eigentümlichen Pflanzen eine
DIE GEOGRAPHISCHE VERBREITUNG DER PFLANZEN WESTINDIENS. 68
Menge von Gattungen, deren Artenzahl sehr weit über das arithmetische
Mittel hinausreicht. Die grösste Anzahl endemischer Arten fand sich in
folgenden Gattungen: von Croton und Rondeletia habe ich je 81, von
Pilea, Psychotria und Eupatorium je 30, von Eugenia 29, von Clidemia
24, von Phyüanthus und Ipomoea je 23 Arten kennen gelernt, welche
big jetzt nur auf den westindischen Inseln beobachtet sind. Unter den
nicht berücksichtigten Orchideen steigt diese Ziffer bei Epidiendrum auf
37 , bei Pleurothallis auf 32. Von Gattungen , deren endemische Arten,
unter einander durch ihren Bau näher verbunden , als typisch fftr West-
indien zu betrachten sind, hatten Calyptranthes 13, Calycogonium 13,
Exostemma 11, Stenostomum 12, Tupa 11, Conradia 12 dem Gebiete
eigentümliche Arten: die mit Conradia verwandte Gesneriaceengattung
Pentarhaphia mit 9 Arten ist sogar , wie Calycogonium , ' durchgreifend
endefnisch.
2. Zahlreiche Grattungen des kontinentalen Amerika's zählen ein-
zelne endemische Arten in Westindien. Von manchen ist es wahrschein-
lich, dass sie künftig auch auf dem Kontinent nachgewiesen werden,
wodurch sich das Verhältniss der endemischen Arten und Gattungen in
Wertindien ändern würde.
3. Endlich wird der durchschnittliche Quotient der endemischen
Arten und Gattungen durch die Monotypen, d. h. die Gattungen mit
einzelnen oder wenigen Arten herabgedrückt, von denen mir unter den
Dikotyledonen allein 61, die nur eine einzige Art zählen, bekannt ge-
worden sind. Diese Erscheinung ist eine Eigentümlichkeit der Schö-
pfungscentren , die abgesondert untersucht zu werden verdient, und dem
Artenreichthum anderer Gattungen gerade entgegengesetzt. Zieht man
jene 61 Monotypen von den übrigen Grattungen mit endemischen Arten
ab , so steigt das Verhältniss der Artenanzahl in den letzteren auf 3, 7 : 1.
Die Unterscheidung der Monotypen von den Gattungen mit zahl-
reichen endemischen Arten ist keine willkührliche , sie bezeichnet nicht
bloss die Grenzwerthe der Mannigfaltigkeit eines Typus, sondern sie
bezieht sich auf das geographische Areal der Gattungstypen selbst.
Denn die endemischen Gattungen Westindiens sind überwiegend mono-
64 A. GRISEBACH.
l
typisch oder arm an Arten , während die artenreichen Gattungen dem
Gebiete fast ohnä Ausnahme nicht eigenthümlich angehören, sondern in
der Regel auf den Kontinenten ebenfalls durch mannigfaltige Formen
vertreten wer de h. Dies geht daraus hervor, dass von den 94 endemi-
schen Gattungen Westindiens, folgende Reihe nach der Artenzahl gebildet
wird: 61 Gattungen enthalten 1,21G.2, 2G.3, 5G.4, 3G 5, 1G.9
und 1 G. 13 endemische Arten. * Die Zahl der endemischen Gattungen
mit mehr als 2 Arten ist daher verhäUnissmääsig unbedeutend; während
die oben aufgezählten artenreichsten Grattungen mit Ausnahme von zweien
ftüch kontinental sind.
Wichtiger' noch ist die systematische Stellung der itionotypischen
Gattungen. Wenn auch die Absonderung von anderen Typen bei man-
chen derselben nur eine Folge der Bearbeitungsform ihrer Familien ist.
und daher einem Wechsel subjectiver Ansichten unterworfen sein* mag,
so zeichnen sich dagegen viele Monotypen durch einen so eigentümlichen
Bau aus , dass sie in jedem Pflanzensystem unverändert ihren Platz finden
müssen, ja dass nicht ihre Selbständigkeit, sondern ihre Stellung zu
anderen grösseren Gruppen Zweifel und Schwierigkeiten hervorruft Unter
ihnen nämlich finden sich die eigentümlichsten Organisationen Weif-
indiens , : die entweder in keine der im System aufgestellten Gattungs-
reihen, welche man natürliche Fatfrilien nennt, sich ohnö Zwang ein-
reihen lassen, oder die zwischen zwei solchen Gruppen Verbindungsglieder
bilden, ap dass die Grenzlinie derselben dadurch vollständig verwischt
werden kann. Die endemischen Gattungen Westindiens v deren Ein-
reihung in das System solchen Bedenken unterliegt oder verschiedenartig
beurtheilt wird , sind namentlich folgende :
Lunania wird gewöhnlich zu den Flacourtianeen gerechnet, Während
Bentham und J. Hooker sie für eine Gattung der Samydeen erklären,
die ich wegen mehrfacher Verbindungsglieder mit den ersteren vereinigt
habe.
Carpodiptera ist von mir als Bombacee aufgefasst, von den genann-
ten Botanikern aber wegen ihrer Verwandtschaft mit Berrya zu dem
Tiliaceen gefeogen. . <
DIE GEOGRAPHISCHE VEEBREITÜNG DER PFLANZEN WESTINDIENS. 65
Canella grenzt auf der einen Seite an die Guttiferen, auf der an-
deren an die Violaceen und Bixineen.
Hypelate wird von Bentham und J. Hooker fttr ein zweifelhaftes
Glied der Sapindaceen gehalten.
Peltostigma erscheint denselben ebenfalls als ein ungewisser Typus
unter den Rutaceen.
Purdiaea ist eine Cyrillee, hat also eine anomale Stellung neben
den Ericeen.
Picrodendron weicht durch sehr bedeutende Eigentümlichkeiten des
Baues von den Juglandeen ab.
Olisbea ist eine Mouriria nahe stehende Gattung, also ein Verbin-
dungsglied zwischen den Myrtaceen und Melastomaceen.
Mildea ist eine noch unbeschriebene Gattung aus Cuba, die ich
vorläufig als eine anomale Piperacee auffasse.
Theophrasta ist ein deutliches Verbindungsglied zwischen den Sapo-
teen und Myrsineen.
Goetzea Wydl. (Espadaea Eich.) ist eine anomale Solanee.
Bellonia ist eine Gesneriacee mit dem Antherenbau von Solanum,
verknüpft also zwei Familien, die sich übrigens verhältnissmässig fern
stehen«
Unter den auf dem Kontinente verbreiteten Af onotypen finden sich
ebenfalls ausgezeichnete Beispiele anomalen Baues: so Alvaradoa, ein
Verbindungsglied der Simarubeen und Sapindaceen, Folypremum, der
Scrophnlarineen und Gentianeen, Batis, deren Verwandtschaft mit den
Chenopodeen von gewichtigen Stimmen bestritten wird.
Wenn auch in einigen dieser Fälle eine tiefere Einsicht in den Bau
die systematischen Bedenken einst hinwegräumen wird, so ist es von
anderen und namentlich den Verbindungsgliedern zwischen grossen, natür-
lichen Familien ebenso unzweifelhaft, dass die Schwierigkeit mit zuneh-
mender Sachkenntnis nicht abnehmen, sondern wachsen wird, da Bei-
spiele von solchen Mittelstellungen nicht bloss hier, sondern auf allen
SchOpfungsgebieten der Erde von Jahr zu Jahr zahlreicher geworden sind.
Indessen scheinen doch die grossen Antillen eine besonders reichhaltige
Phys. Clane. XII. I
66 A. GRISEBACH,
Fundgrube von Zwitterbildungen zwischen natürlichen Gattungsreihen
darzubieten.
In gegenwärtiger Zeit kann man, wiewohl abgeneigt, den Boden
der Thatsachen zu verlassen, doch nicht leicht <]U ese Verhältnisse des
Endemismus fiberdenken, ohne sich daran zu erinnern, wie die räthsel-
hafte Verschiedenheit des Baues polymorpher und monotypischer Grattun-
gen aus der Theorie Darwin's von der Entstehungsweise der Organismen
abgeleitet werden könnte. Die ersteren würden dem gegenwärtigen Bil-
dungstypus der organischen Natur entsprechen und daher in einem Sy-
stem , welches vorzugsweise auf deren Formenreihen gegründet ward,
sich mit Leichtigkeit einordnen : diese Gattungen wären ferner noch jetzt
oder seit nicht zu langer Zeit in der Spaltung ihrer Erzeugnisse begriffen
und deshalb verhältnismässig reich an Arten. Die Monotypen hingegen
konnten als Ueberreste einer längst vergangenen Schöpfung betrachtet
werden , die sich nicht mehr zur Mannigfaltigkeit der Form zu verviel-
fältigen vermöchten; sie enthielten daher einzelne oder wenige Arten,
die in grossen Zeiträumen ihren Platz im Reich des Lebendigen behauptet
hätten; sie wären, sofern sie zwischen übrigens getrennten Gattungs-
reihen Verbindungsglieder darstellen , Denkmale einer Periode , in welcher
die heutigen Pflanzenfamilien noch nicht bestanden, sondern Gruppen,
aus denen diese erst durch Spaltung ihres Typus hervorgegangen wären,
gerade wie man eine Mittelstellung der Sigillarien zwischen den Farnen
und Coniferen wenigstens aus den Meinungen der Naturforscher über
diese Gruppe ableiten könnte. Solche Ansichten möchte ich indessen
auch nicht einmal vermutungsweise aussprechen , ohne hinzuzufügen,
was meiner Meinung nach dabei unzulässig sein würde. Die unbekann-
ten Hülfemittel, welche die Natur besass, die erste, vom Darwinismus
nicht berührte Erzeugung der Organismen auf dem unorganischen Erdball
zu bewirken , können auch späterhin in den Schöpfungscentren thätig
gewesen sein. Die Möglichkeit, das«, was einmal geschah, sich auch
wiederholen konnte, ist nicht zu bestreiten, obwohl ohne Zweifel viele
Thatsachen für einen genetischen Zusammenhang der verschiedenartigen
Organismen sprechen , wie im vorliegenden Fall die von Stur für Astrantia
DIE GEOGRAPHISCHE VERBREITUNG DER PFLANZEN WESTINDIENS. 67
nachgewiesene Erscheinung, dass in den polymorphen Grattungen nicht
selten das Areal einer Art die Areale mehrerer endemischer Arten in
sich einschliesst. Allein der ansprechende Gedanke, dass die Natur,
nicht begnügt, in alter Weise sich zu erhalten, im Laufe der Genera-
tionen, wie der menschliche Geist, erhöhter Thätigkeit zustrebe, kann
sich auf mannigfaltige Weise, nicht bloss durch stetige Wandelungs-
processe, auf welche ihn Darwin einschränkt, verwirklichen. Dass die
Metamorphose der organischen Natur durch Variation erfolgt sei, diesem
Grundgedanken seiner Hypothese stehen Schwierigkeiten entgegen, die
mir unüberwindlich scheinen, namentlich die Thatsache, dass in den
wenigen Fällen, wo die Palaeontologie aus dem vollen Zeitumfang einer
geologischen Periode, wie in den Bernsteininsekten, die Reihenfolge un-
zähliger Generationen zur Verfügung hat, keine Uebergänge der Arten
haben nachgewiesen werden können, sondern jede gesondert dasteht,
wie in den räumlichen Gebieten der gegenwärtigen Schöpfung, sodann
die Betrachtung, dass jedes Individuum in seiner Gestaltung vollkommen
ist, eine stetige Verbindungsreihe von zwei verschiedenen Gestaltungen
aber mindere Grade der Vollkommenheit umfassen müsste. Ein Orga-
nismus ist mit einem Kunstwerk oder einer Maschine zu vergleichen,
und , um ein von Asa Gray gebrauchtes Bild anzuwenden , verhalten sich
die Arten einer Gattung, wie die Muster eines Geruthes, von denen
man nur diejenigen anfertigt, die einem besonderen Zweck oder Ge-
schmack dienen können , nicht aber jede beliebige Gestalt , welche weniger
gut zu gebrauchen wäre. Hybridität erzeugt Mittelformen ohne dauernden
Bestand: die geologische Reihe der Pflanzenschöpfungen hat sich in
umgekehrter Ordnung aus weniger zahlreichen und unbestimmteren Typen
zu der Mannigfaltigkeit des heutigen Systems erst in den letzten Perio-
den gegliedert. Bestand hiebei wirklich ein genetischer Zusammenhang
zwischen den früheren und späteren Schöpfungen, so hatte die Natur
ganz andere Kräfte zur Verfügung, wie diejenigen sind, welche stetige
Seihen von Variationen erzeugen. Den letzteren wirkt immer eine aus-
gleichende Kraft in der Zeugung entgegen, welche die Art auf ihren
ursprünglichen Typus zurückzufahren strebt. Dagegen zeigen uns Er-
12
68 A. GRISEBACH,
scheinungen, wie die Metamorphose der Insekten oder kryptogamischer
Pflanzen, der Generationswechsel anderer Organismen, dass, wie der
Schmetterlingsflügel, die Axe des Farns an Larven und Vorgebilden
räthselhaft aus wachsen, so überhaupt aus einer Gestalt unvermittelt
eine andere sehr verschiedenartige hervorgehen kann. Je mehr die
Thatsache sich verallgemeinert, dass unter den Filzen die einzelnen
Entwickelungsstufen ebensowohl sich vervielfältigen und abgesonderte*
Lebenskreise darstellen, wie sie sich zu anderen ebenfalls fortpflanzungs-
fähigen Gestalten erheben, desto mehr wird die Vorstellung an Bedeu-
tung gewinnen, dass die Genesis der organischen Natur sich nicht bloss
in vergänglichen Variationen gefallt, sondern uns einen Schauplatz der
Thätigkeit von unerschöpfter Tiefe verbirgt. Die Kräfte der organischen
Natur, durch veränderten Plan der Entwickelung den Zwecken des
Lebens zu dienen, sind nicht nach unserer Kenntniss der Thatsachen
zu bemessen, und die Hoffnung, neue Quellen der Metamorphose zu
entdecken, scheint mir durch Darwin's Methode, geologische und geo-
graphische Ergebnisse unter grosse Gesichtspunkte zu stellen , neu belebt
zu sein. Ob sie trügerisch sei oder zu unerwartetem Fortschritt fShrt,
kann erst die Zukunft lehren: jetzt ist es ebenso denkbar, dass die
Monotypen einzelne, die polymorphen Gattungen zahlreiche Arten ent-
halten, weil die ersteren einem einzigen, die letzteren jedem beliebigen
Schöpfungscentrum angepasst sind, als dass ein genetisches Verhältniss
der Arten dabei wirksam gewesen sei. Die Anhänger des Darwinismus
haben oft geäussert , dass die Entstehung der Arten ohne Generation ein
Wunder oder ein unmittelbarer Eingriff des Schöpfers in die Gesetze
der Natur sein würde: aber Wege, die wir nicht kennen, sind deshalb
nicht wunderbarer als die, von denen wir Kunde haben.
Charakter der endemischen Pflanzen Westindiens.
Die phanerogamischen Gewächse Westindiens vertheilen sich in 152
Familien, indem ausser den in der Flora der britischen Inseln verzeich-
neten in Cuba auch die Berberideen, Podostemeen, Halorageen und
Valerianeen vertreten sind. Endemische Formen finden sich indessen
DIE GEOGRAPHISCHE VERBREITUNG DER PFLANZEN WESTINDIENS. 69
nur in 118 Familien, und die übrigen enthalten meist nur einzelne oder
wenige Arten. "
Wie überall gehört die grossere Hälfte der Vegetation nur zu etwa
12 Familien und nach deren Artenreichthum lässt sich schon eine allge-
meine Charakteristik Westindiens und zum Theil auch der klimatischen
Gliederungen innerhalb des Gebiets gewinnen. Es fragt sich, ob man
zur Vergleichung die Listen sämmtlicher oder nur der endemischen Arten
benutzen soll: doch ist dies von geringerer Bedeutung, als es scheinen
könnte, da die hieraus sich ergebenden Unterschiede in der Reihenfolge
der artenreichsten Familien nicht sehr erheblich sind und auf die ver-
schiedene Wanderungsfähigkeit derselben sich beziehen. Dies zeigt sich
am deutlichsten bei den Farnen, die ich deshalb, wie bisher, unberück-
sichtigt lasse: diese Familie ist nämlich in Westindien die artenreichste
von allen, sie enthält gegen 8 Procent aller Gefässpflanzen , aber an
endemischen Bestandteilen ist sie so arm, dass sie in der Reihe der
Familien, wenn man nur deren endemische Arten berücksichtigt, erst
den dreizehnten Platz mit etwa 2 Procent einnehmen würde.
Im Allgemeinen ergiebt die Vergleichung der in den verschiedenen
tropischen Floren vorherrschenden Familien einen hohen Grad der Ueber-
einstimmung l ) , der sich wohl verringern würde , wenn man die in allen
Kontinenten sich wiederholenden Gegensätze der Wald- und Savannen-
Gebiete oder die Gebirgsregionen abgesondert zusammenstellen könnte.
Die bedeutendsten Verschiedenheiten, in denen der amerikanische Cha-
rakter Westindiens ausgedrückt erscheint, bestehen den beiden tropischen
Kontinenten der alten Welt gegenüber in der Zunahme der Melastoma-
ceen und der Solaneen, abgesehen davon, dass die Cacteen und Brome-
liaceen, wenn auch minder zahlreich, doch eigenthümlich amerikanisch
sind. Auch ist die Mannigfaltigkeit der Palmen, von denen in West-
indien bereits 43 Arten nachgewiesen sind, eine bekannte Eigentüm-
lichkeit Amerikas und Asiens im Gegensatze zu Afrika.
Zur Vergleichung Westindiens mit den kontinentalen Gebieten des
1) J. Hooker, Fl. of Tasmania. Introd. p. XL.
70 A. GRISEBACH,
tropischen Amerikas benutze ich das reichhaltige Verzeichniss von Guiana-
Pflanzen bei Rieh. Schomburgk 1 ) , welches etwa 3250 Phanerogamen auf-
zählt. Hieraus ergiebt sich als charakteristisch fttr Westindien die Zu-
nahme der Synanthereen , Euphorbiaceen und Urticeen in der Richtung
vom Aequator gegen den nördlichen Wendekreis , während die Rubiaceen
und Leguminosen abzunehmen scheinen. Auf dieses letztere- Verhältnis«
möchte ich indessen kein besonderes Gewicht legen, da die Leguminosen
auch in Westindien die grösste phanerogamische Familie bilden und die
Rubiaceen in der Reihe der endemischen Gewächse den ersten Platz
behaupten.
Um die klimatischen Gliederungen Westindiens, so weit dieses aus-
fahrbar erschien» zu berücksichtigen, habe ich zuerst die endemischen
Pflanzen Cuba's mit denen des ganzen Gebiets verglichen , wobei sich fttr
diese Insel eine Zunahme der Euphorbiaceen und Acanthaceen, eine
Abnahme der Orchideen, Urticeen und Gesneriaceen herausstellte.: Sodann
wurde die Flora der Karaiben benutzt, wie sie in meiner früheren Arbeit
zusammengestellt ist, und ohne die endemischen Bestandteile abzuson-
dern, ergab sich bei der Vergleichung mit dem Gesammtkatalog der
westindischen Pflanzen für die kleinen Antillen eine Abnahme der Orchi-
deen , ■ Euphorbiaceen und Rubiaceen • eine Zunahme der Convol vulaeeen,
Boragineen und Verbenaceen. Endlich zeigte die Reihe derjenigen Pflan-
zten, welche Trinidad vor den übrigen Inseln voraus hat, die entschie-
densten Eigentümlichkeiten und unterstützte aufs Neue die Ansicht,
dass diese Insel als ein Uebergangsglied zur Flora des Kontinents . zu
betrachten ist. Die Analogie mit Guiana ergiebt sich aus der ver-
mehrten Anzahl von Leguminosen und Malpighiaceen, wird ferner unter
den kleineren Familien durch die Dilleniaceen und Chrysobalaneen be-
stätigt , besonders aber durch eine sehr entschiedene Abnahme der Synan-
thereen und Euphorbiaceen, welche beide in Cuba ihr Maximum erreichen.
Ausser diesen Verhältnissen ist Trinidad auch dadurch ausgezeichnet,
dass hier die verhältnismässig grösste Anzahl von MeLastpxpaceen vor-
1) Rieh. Schomburgk, Reisen in britisch Guiana. Th. 3.
DDE GEOGRAPHISCHE VERBREITUNG DER PFLANZEN WESTINDIENS. 71
kommt, was nicht mit dem Charakter von Guiana, aber vielleicht mit
dem von Venezuela zusammenstimmt. Dass die Insel auch die grösste
Menge von Orchideen geliefert hat, ist muthmasslich nur eine Folge der
Sorgfalt, welche Dr. Bradford der Beobachtung dieser Gewächse gewidmet
hatte, die auf den übrigen Inseln nicht so reichlich gesammelt sind.
72
A. GRISEBACH,
Uebersicht der grössten Familien nach Pro
Von allen verglichenen Pflanzen
Ton den endemischen Pflanzen
Von den endemischen Pflanzen
Westindiens enthalten:
Westindiens betragen:
Cuba's betragen:
•
Leguminosen
7—8 Proc.
Rubiaceen 8 — 9 Proc.
Rubiaceen 8 — 9 Proc.
Orchideen
6 — 7
»
Orchideen 8
»
Euphorbiaceen 8 »
Rubiaceen
6 — 7
»
Synanthereen 7 — 8
»
Synanthereen fast 8 »
Synanthereen
6
»
Euphorbiaceen 7
»
Orchideen 6 »
Euphorbiaceen
4—5
»
Melastomaceen 5
»
Leguminosen 5 »
Gramineen
4 — 5
»
Leguminosen fast 5
»
Melastomaceen 4 — 5 »
Melastomaceen
3 — 4
»
Myrtaceen fast 4
»
Myrtaceen 3 — 4 »
Cyperaceen
3 — 4
»
Urticeen über 3
»
Cyperaceen 3 »
Urticeen über
2
»
Gramineen fast 3
»
Gramineen 2—3 »
Myrtaceen über
2
»
Cyperaceen 2 — 3
»
Urticeen über 2 »
Solaneen
2
»
Apocyneen über 2
»
Apocyneen fast 2 »
Convolvulaceen
2
»
Gesneriaceen über 2
»
Acanthaceen fast 2 »
Das Verhaltniss der Monokotyledonen zu den Dikotyledonen , nach
ihrer Gesammtzahl fand ich ziemlich nahe wie 1:4: es ist also höher als
das gewöhnliche (1:5), aber mit dem für Westafrika und andere Tro-
penländer von R. Brown angegebenen l ) übereinstimmend, eine Bestätigung
der Meinung A. de Candolle's 2 ) , dass ein feuchtes Klima die Mannig-
faltigkeit der Monokotyledonen begünstige. In der Reihe der endemi-
schen Pflanzen Westindiens ist die Verhältnisszahl der Monokotyledonen
etwas geringer und würde noch niedriger ausfallen, wenn nicht die engen
Areale der epiphytischen Orchideen die grossen Verbreitungsbezirke der
Gräser und Cyperaceen einigermassen ausglichen.
Die Mannigfaltigkeit der Holzgewächse, Lianen und Epiphyten
wünschte ich als zur Charakteristik einer tropischen Flora gehörig eben-
falls durch Zahlenwerthe näher zu bestimmen. Indessen Hessen sich
die Schwierigkeiten nicht vollständig beseitigen, welche theils aus dem
schwankenden Begriffe dieser Wachsthumsformen , theils aus der Unvoll-
1) R. Brown, Congo, p, 423.
2) Geogr. bot. p. 1188.
DIE GEOGRAPHISCHE VERBREITUNG DER PFLANZEN WESTINDIENS. 73
centen der Gesammtsumme der Phanerogamen.
Von allen verglichenen Pflanzen Von den auf Trinidad beschränk-
In der Flora des
britischen
der Karaiben enthalten
•
•
ten Pflanzen enthalten
•
•
Gniana enthalten:
Leguminosen 9 Proc.
Orchideen
11 Proc.
Leguminosen
12 Proc.
Synanthereen 6
»
Leguminosen
10
»
Orchideen
7 »
Rubiaceen 5 — 6
»
Melastomaceen
7
»
Rubiaceen
5 »
Gramineen 5
»
Rubiaceen
6
»
Melastomaceen
4 »
Cyperaceen S — 4
»
Gramineen
5
»
Cyperaceen
4 »
Euphorbiaceen 8 — 4
»
Synanthereen
8—4
»
Gramineen
3 »
Melastomaceen über 8
»
Malpighiaceen
2 — 8
»
Synanthereen
3 »
Convohrulaceen 3
»
Apocyneen
2 — 3
»
Euphorbiaceen
2
—3 »
Boragineen fast 3
»
Myrtaceen
2—3
»
Apocyneen
2
-3 »
Myrtaceen fast 3
»
Cyperaceen
2 — 3
»
Malpighiaceen
2
— 3 »
Orchideen 2 — 3
»
Euphorbiaceen
2-3
»
Myrtaceen
2 '
Verbenaceen 2 — 3
»
Urticeen
2
»
Piperaceen
2 »
ständigkeit der gesammelten Angaben entsprangen. Bäume und Sträucher
können nicht gesondert werden, weil viele Arten in beiden Gestalten
auftreten: allein auch die Grenze zwischen Stauden, die in der heissen
Zone so häufig verholzen, und eigentlichen Sträuchern ist eine unbe-
stimmte. Bei den Epiphyten, die, wenn sie nicht parasitisch sind, auch
auf anderem Substrat gedeihen , ist es ebenfalls unmöglich , eine schärfere
Unterscheidung durchzufahren. Ich bin daher bei diesen Versuchen nur
zu Schätzungen gelangt, die ich indessen mittheile, weil sie einen neuen
Beweis für die geringere Wanderungsfahigkeit der Holzgewächse liefern.
Indem ich die Bäume und Sträücher zusammenfasste und die suf-
frutescirenden Stauden ausschloss, erhielt ich für die Holzgewächse
Westindiens ein angenähertes Verhältniss zu der Gesammtsumme der
Phanerogamen wie 1 : 3 (33 Procent). Dagegen ergaben die endemischen
Gewächse für sich* allein betrachtet eine weit grössere Mannigfaltigkeit
von Holzgewächsen, nämlich das Verhältniss von 1:2 (50 Procent aller
endemischen Phanerogamen).
Die Lianen schätze ich auf 8 Procent, und hier zeigten die ende-
Phys. Classe. XII. E
74
A. GRISEBACH,
mischen Formen keine so erhebliche Verschiedenheit, indem ihre Ver-
hältnisszahl zwischen 6 und 7 Procent liegt.
... ....... IT ... . . —
Um einen angenäherten Werth für die Epiphyten zu erhalten, habe
ich die Loranthaceen , Aroideen, Bromeliaceen , die Orchideen (mit Aus-
schluss der terrestrischen) und die in ihren Standorten noch- wonige r
bestimmte Familie der Piperaceen zusammengestellt und aus dieser Reihe
das Verhältniss von 9 Procent, f&r die endemischen von 10 Procent er-
halten.
Es würde nun endlich zur vollständigeren, systematischen Charak-
teristik der westindischen Flora gehören, die endemischen Formen nach
ihrer Vertheilung in Gattungen und Familien zusammenzustellen. Indem
ich aber in dieser Beziehung theils auf die Flora der britisch- Westindi-
schen Inseln, theils auf den zur Herausgabe vorbereiteten Katalog der
Cuba- Pflanzen verweisen kann, begnüge ich mich hier, die wichtigeren
Gattungen anzuführen, welche durch die Anzahl oder Bedeutung ihrer
Arten für den Charakter der Flora am bezeichnendsten sind. Die ende-
mischen Gattungen, bind sämmtlich genannt und durch Cursivschrift her-
vorgehoben, nur bei den Orchideen habe ich sie aus dem oben
führten Grunde weggelassen.
Charakteristische Gattungen Westindiens mit Angabe der Zahl ihrer
endemischen Arten.
Magnoliaceen.
Anonaceen.
Monimieen.
Menispermeen.
Capparideen.
Bixineen
Talauma
Anona
Oxandra
Citrosma,
Hyperbaena
Apabuta ined.
Capparis
Morisonia
Laetia
Lunania
Xylosma
Tkiodia
(1.)
Bixineen
Valentmia
(20
(5.)
Casearia
(6.)
(20
Samyda
(30
HO
Violaceen
Hybanthns
UO
(2.)
Polygaleen
Polygala
(50
(1)
#
Badiera
(20
(*0
Phlebotaema
UO
(10
Euphorbiaceen.
Tricera
(4.)
(50
Hieronyma
(10
(30
Savia
(40
(30
»
Drypetes
(40
dO 1
Cicca
(8.)
: »
DIE GEOGRAPHISCHE VERBREITUNG DER PFLANZEN WESTINDIENS. 75
Euphorbiaceen.
Phyllanthus .
(23.)
Rhamneen.
Colubrina
<30
•
Jatropha
(8.)
Temstroemiaceen,
, Freotera
(30
CrotQB
(31.)
Laplacea
(40
Aoidocroton
(1.)
Ochoaceen.
Gompbia
(90
/ ■
Metlenia
(1.)
Guttiferen.
Quiina
(20
Argjjthamnia
(20
Closia
(50
Dftaxis
(1.)
•
Rheedia
(20
■
Alchomea
(1-)
Canellaceen.
CamtUa
(10
■
Adelia
(3.)
, •
Cinaamodendron
(10
r «
Lasiocroton
PO
Marcgraaviaceen*
Marcgraavia
(2.)
Leueocroton
(2.)
Ruyschia
(10
■
Bernardia
(3.)
Hypericineen.
Marila
(2.)
Aoaljpha
(13.)
■ ■
Hypericum
(3.)
Plpkenetia
(1.)
Erythrozyten.
Erytbroxylum
(6.)
PlaUjgyne
(1.)
Malpighiaceea. ...
Byrsonima
(60
t
Sapipm
(3.)
. :
ßpachea
(3.)
Dilta
(1.)
-
Malpighia
(70
Bonania
(1-)
■
Eadeophytvm
(10
Omphalea
(1.)
•
Stigmaphyllon
(9.)
-
. Excoecaria
(10.)
i
Triopteris
(2.)
Pera
■ . * •
(2.)
Sapindaceen.
Serjania
(5.)
• k
Dalechampia
(2.)
■ T
M
Paullinia
(3.)
*
Pedüanthus
(2.)
Capania
(30
■
Euphorbia
(9.)
Ratonia
(20
Caryophylleen.
Cypselea
(1.)
Schmidelia
(20
Amarantaceen.
Lithophila
(!•)
•
Thotünia
(40
Woebleria
(M
■
Bjfpelate
(20
Malvaceen.
Abutilon
(5.) ■•■
Heliosma
(10
PaTQnia
(5.)
Meliaceen.
Goarea
(3.)
•
Hibiscus
(8.).
Rutaceen.
Rarenia
dO
> ■
Paritium
(1.)
Pilocarpus
(20
Bombaceen.
Pacbira
(1.)
•
Esenbeckia
(3.)
Carpodiptera
(1.)
Pctiottigma
(10
Sterculiaceen.
Sterculia
(10
. •
Tobinia
(60
Buettneriaceen.
Ayenia
(10
Fagara
(40
Tiliaceen.
Sloanea
(3.)
■
Zanthoxylom
(60
Rhamneen.
Condalia
(40
Simaruba
(10
Sarcomphaku
(10
8pathelia
K2
(2.)
76
A.
GRISEBAOH,
Rntaceen.
Picraena
(1)
Leguminosen.
Barbieria
PO
AlTomdos
W
CorpteUa
(1)
Ericeen.
Cletbra
(3.)
Betelia
(2.)
Lyonia
(».)
Bry&
(1)
Thibaudia
HO
Gnaetocalyz
PO
Maria
HO'
Galactia
(6.)
Vaccinium
(5.)
Andira
(2-)
CyriDeen.
Pw&aea
HO
Btkaimia ined.
PO
Celaetrineen.
Maytenus
HO
Ormosia
(1.)
Myginda
(«•)
Myrospennnm
p.)
Schaafferia
HO
Foeppigta
PO
Hidueen.
Hex
(»■)
Caewlpinia
(2-)
Urticeen.
Ampalocera
(10
Lebidibia
(20
Ftcos
(11.)
Peltophorum
13.)
Pßeadolraedia
HO
Caaaia
(»0
Tropiris
(10
Ateleia
PO
Dontenia
[60
Swartzia
uo
Urera
(50
Browuoa
(10
Pilea
(30.)
Cupana
(2)
GfrvtaaUa
HO
Moria
(10
Bonsselia
(«0
Copaifera
PO
Polygoncen.
Cocooloba
("0
Betavia
PO
Piparaceen.
Feperomia
(19)
Ifimosa
(*0
Artanthe
(40
Acacia
(50
Ottonia
(80
Calliandra
(I2.J
Vitdta med.
HO
Inga
(20
CbJorantheen.
Hedyosmum
(20
Conaaraceen.
Connaras
(20
Terebinthaceen.
Barsera
(20
Clirj-Bobalaneen.
Hirtella
(9.)
Hedwigia
HO
Licania
(20
Dacryodes
(1)
Rosaceen.
Rabns
(20
Amyris
PO
Myrtaceen.
Calyptranthes
(13.)
Diu»
(3.)
Eugenia
(290
Comocladia
(5.)
AnlacocarpUB
(20
Juglandecn.
Ptorodendron
(10
Anamomis
(20
Amentacceu.
Quercns
PO
Pimenta
PO
Leguminosen.
Dalea
HO
Paidium
(6.)
Saunen
(20
GriOM
(10
Gliricidia
(20
Lecythis
PO
DIE GEOGRAPHISCHE VERBREITUNG DER PFLANZEN WESTDTOD3NS. 77
-Myrtaceen.
Honriria
ei
Cucurbitaceen.
Fenfflea
(10
Oktbea
Po
Pasaifloreen.
Passiflora
(18.)
Melastomaceen.
Calycogonium
(18.)
Turneraceen.
Tribohms
[10
Loreya
(1)
Homalineen.
Homalium
(10
Henrietten
(3-)
Aristolocbiacecn.
Aristolochia
(3.)
Clidemia
(M.)
Cocteen.
Cerens
(8.)
Heterotricfaum
(2-)
Opuntia
(30
Conostegia
(6.)
Saxifrageen.
Wemmannia
(10
Tetrazygia
(3.)
Begoniaceen.
Begouia
(16.)
Miconia
PO
Araliaceen.
Hedera
(3.)
Pachyanthu»
[5.)
Sciadophyllum
(20
Pleurochaenia
(*•)
Umbelliferen.
ÄMdadium ined.
(1.)
Cremanium
[5.)
Balanophoreeo.
Pkt/Üocnryne
HO
Catachaenia
IM
Olacineen.
Heistoria
HO
Octoplewra
HO
Schoepfia
(2.)
Blakea
PO
Mappia
(20
Charianthus
N
Loranthaceen.
Loranthua
(80
Meriania
PO
Phoradendron
(8.)
Grafienrieda
(20
Arceutbobium
PO
Chaetogaatra
(60
Rubiaceen.
Genipa
(30
Lytirarieen.
Cnphea
(90
Catatbaea
(»0
Omoria
130
Posoqueria
(1)
AntktryUum
(1)
SpbiuctanthuB
(20
Diphisodon
(1)
Alibertia
HO
Onagrarieen.
Justiaea
(«0
Schradera
(30
Combretaceen.
Combretmn
(SO
Hamelia
(3)
Tbymelaeen.
Daphnopais
(30
Hoömannia
(3.)
Lagttta
(10
Kaerocnemum
(2.)
Lmodendron
w
Chimari-his
HO
Laurineen.
Pboebe
<«•)
Jjtostemma
(11.)
Acrodiclidium
(50
Porttandia
(5-1
Nectandra
(«0
Ferdinandea
(20
Aydendron
1*0
Hfllia
(2.)
Hernandia
(10
Arachnothrix
HO
Garryaccen.
Fadyenia
(1)
Rondeletia
(31.)
Cucurbitaceen.
Triceratia
HO
Lucya
(10
Sechium
(10
Guettarda
CO
CiOfumcyt
(10
Stenostomum
(12.)
A. CKISEBAOII,
RubiaceeD. CUtme
(*0
Synanthereen.
Anasiraphia
(20.
Pkialanthtu
CO
Lobeliaccen.
Siphocampylus
W
Seohuanthtu
(2-1
Tupa
[11.)
Stntwpßa
CO
Plumbagineen.
Staue«
[1-1
Erithalis
(3.)
Lentibularicen.
Pinguicula
(3.)
Peychotria
(80.)
MjTBineen.
Wallenia
(3.)
Pkytltmeria inec
.(2.)
Ardiaia
(7-)
Machaonia
(8-1
Jacqoinia
(2.)
Borrera
(8)
Theophratta
(I-)
Mitracai-pum
(3.)
Sapoteen.
Sapota
(3.)
Synftathereen. OHganthet
PO
Sideroxylon
(2.)
Vernonia
(12.)
Dipholis
(3.)
Monantheman
(10
Bumelia
(6.)
Phania
(8.)
Lucuma
(40
Eupatorinm
(30.)
Styraceen.
Styrax
(10
Critonia
(ä.)
Symplocos
(60
MiVnnin
(10.)
Ebenaceen.
Maereightia
(20
Beptanthus ined.
(20
Oleineen.
Haenianthut
(20
Erigeron
CO
Linociera
(30
Solidago
HO
ForeBÜera
(20
Baccüaris
(50
Apocyncen.
Strychnos
(20
Lacknorrkiia
PO
- Banwolfia
(60
SacMna ined.
PO
Tabernaemontana (4.)
Hhoäogeron inec
PO
Cameraria
(30
Lantcmopsis
(10
AnechiteM
(10
Pimllona
(10
Flumieria
(5.)
Clibadium
1*0 •
Forsteronia
(30
Wedelia
(«0
Kehlten
(1*0
Chaenocephalus
HO
OdontadeDia
(30
Sahnet
(»0
Aeclcpiadecn.
Astepbanus
(3L)
Isocarpha
12.)
Metastelma
CO
Pectis
(50
Amphistelma
(50
Calea
(10
Tgtodonlia ined
(10
Tetracanlhus
CO
Enslenia
(10
Lelcmüea ined.
(10
PoüHlla ined.
(20
Senecio
(8.)
Gonolobos
(8.)
Liabnm
(30
Fischeria
(30
Leria
CO
Marsdenia
[6.)
ME GEOGRAPHISCHE VERBREITUNG DER PFLANZEN WESTINDIENS. 79
Asclepiadeen.
Metitkpis ined.
(10
Verbanaceen.
Citharexylum
(5.)
Gentianeea.
Goeppertia
HO
Callicarpa
(40
Zonanihu*
co
Clerodendron
(3.)
Leiftnthus
(*■)
Amasonia
CO
Voyria
14-)
Cornutia
(2-1
Scrophularineen.
Emeopa ined.
CO
Petitiü
(20
Heniiantlnis
14-)
Vit«
(3.)
Amphiolanthm ined. (2.)
Myoporineen.
Bontia
(I)
Scrophularia
HO
Coniferen.
Joniperus
CO
Solanoen.
Brunfelaia
(90
Pinne
(3.)
Sobndra
(2.)
Podocatpus
(20
Solanum
(14.)
Cycadeen.
Zamia
(6.)
Cestrum
(7.)
Najadeon.
Thalassia
CO
Goctxa
(10
Aroideen.
Antimrinm
(8.)
Bignoniaceen.
Schlegelia
(3.)
Pandaneen.
Carludovica
(20
Jacaranda
(20
Palmen.
Gopernicia
(30
Catalpa
(30
Thrinax
(8.)
Tecoma
(120
Trithrinax
CO
Tanaecium
(20
Mauritia
HO
Acanthaceen,
Stenandrium
(4.)
Hyospathe
(10
Dianthera
(80
Jeesenia
CO
Anthaoanthua
CO
Oreodoxa
(20
Gesnerittceen.
Bellonia
HO
Calyptronoma
(1.)
Rytidophyllum
(40
Bactris
CO
Pentarkaphia
(9.)
Astrocaiyum
CO
Ducharlrea
(1.]'
Maximiliana
(1.)
Vaupellia
(1.)
Xyrideen.
Xyris
(5.)
Conradia
(12.)
Bestiaceen.
Paepalantbua
CO
Columnea
(6.)
Eriocaulon
(3.)
Convolvulacecn.
Ipomoea
123.)
Gramineen.
Arthrostylidium
(40
Hydroieaceen.
Hydrolea
HO
Chusquea
(1.)
Boragineen.
Cordia
[16.)
Platonia
(IJ
Beureria
CO
Eragrostis
(3.)
liochefortia
(2.)
Reynaudia
(1.)
Tournefortia
(9.)
Zeugites
CO
Heliotropium
«■]
Paspalum
(40
Labiaten.
Hyptis
(0.)
Panicum
(14.)
Salvia
(40
Triscenia
(1-)
80 A.GBISEBACH, DIE GEOGR. VERBEEIT. DER PFLANZEN WE8TINDIENS.
Cyperaceen.
Cyperus
(11.)
Bromeliaceen.
Tillandsia
in.)
Scirpus
(8.)
Scitamineen.
Renealmia
(5.)
tlachaerina
(1.)
Orchideen.
Pleurothallis
(32.)
Rhynchospora
(19.)
Lepanthes
(9).
Scleria
(3.)
; k Epidendrum
(37.)
Carex
(2.)
Oncidium
(8.)
Smilaceen.
Smilax
(5.)
Cramchis
(5.)
Dioscoreen.
Rajania
(5.)
Spiranthes
(6.)
Irideen.
Cipura
(1.)
Habenaria
(7.)
TJebersicht der verglichenen Areale.
I. Nicht endemische Pflanzen:
1. Exotische, eingeführte Pflanzen.
2. Ubiquitäre Pflanzen.
3. Transozeanische Areale.
A. Tropische Areale.
f B. Westindien und Galapagos.
C. » und Bermudas.
D. » und gemässigte Zonen.
4. Areale, die beide tropische Zonen Amerika's umfassen,
a. die Grenzen des tropischen Klima's überschreitend;
b. innerhalb der Wendekreise.
5. Cisäquatoriales Südamerika und Westindien,
a. Guiana und Venezuela bis zu den Antillen,
b. die Grenzen des tropischen Klima's überschreitend;
c. westliches Gebiet Südamerika^ und Westindien.
6. Südamerika und Trinidad.
7. Mittelamerika und Westindien.
a. Mexiko und Westindien.
b. Isthmus und Westindien. '
c. Mexiko, Südstaaten und Westindien.
8. Nordamerika und Westindien.
A. Von Nordamerika nach Westindien.
B. Von Westindien nach Nordamerika.
Nicht endemische Orchideen
IL Endemische Pflanzen :
1. einer einzigen Insel,
2. den grossen Antillen gemeinsam,
3. den Karaiben oder diesen und Trinidad gemeinsam,
4. ganz Westindien gemeinsam.
Endemische Orchideen
p. m.
p. m.
156.
34.
259.
3.
2.
9.
139.
501.
525.
30.
15.
240.
p. m. 95.
35.
10.
64.
21.
2131.
115.
2246.
1276.
307.
104.
294.
174.
2156.
4401.
ABHANDLUNGEN-
DER
MATHEMATISCHEN CLASSE
DER
KÖNIGLICHEN GESELLSCHAFT DER WISSENSCHAFTEN
ZU GÖTTINGEN.
ZWÖLFTER BAND.
Mattem Clane. XII.
Ueber die Eigenschaften der periodischen negativen
Kettenbrüche, welche die Quadratwurzel aus einer
ganzen positiven Zahl darstellen.
Von
M. A. Stern.
Der Königl. Gesellschaft der Wissenschaften vorgelegt am 7. Februar 1864.
1.
Im Folgenden werden nur zweierlei Grattungen von Kettenbrüchen
betrachtet, solche bei welchen die sämmtlichen Theilzähler = 1 und
die Theilnenner ganze positive Zahlen sind, und solche bei welchen die
sämmtlichen Theilzähler = — 1 und die Theilnenner ganze positive
Zahlen sind, die jedoch grösser als die Einheit seyn müssen. Um diese
beiden Gattungen durch einen kurzen Ausdruck von einander zu unter-
scheiden, werde ich die ersteren positive, die zweiten negative
Kettenbrüche nennen. Zur Bezeichnung eines positiven Kettenbruches
brauche ich ausschliesslich das Schema
a-f 1
«i + l
a 2 +
+ 1
«„ +
statt dessen auch
(a, öi, a% . . . a m ...)
gesetzt werden soll. Zähler und Nenner des Näherungswerthes
(a , fli , . . . ö m )
bezeichne ich, wie sonst, durch a, a m und a if a m
A2
4 M. A. STERN,
Zar Bezeichnung eines negativen Kettenbruches brauche ich ausschliess-
lich das Schema
b — 1
6,-1
— 1
b m -
oder auch
[b, bi, &2- •• b m •••]
und bezeichne Zähler und Nenner des Näherungswerthes
[6, b t ... b m ]
durch A, b m und & lt b m
Die Verwandlung von ]/"-4, wo A eine ganze positive Zahl bedeutet,
in einen positiven periodischen Kettenbruch ist aus den Elementen be-
kannt. Die Entwickelung der Eigenschaften dieses Kettenbruches ist
der Gegenstand mannigfacher Untersuchungen gewesen, welche ich als
bekannt voraussetze. Dagegen scheint man bis jetzt der Verwandlung
von \/A in einen negativen Kettenbruch noch wenig Aufmerksamkeit
geschenkt zu haben , obgleich dieser Kettenbruch , wie ich im Folgenden
zu zeigen hoffe , mancherlei eigentümliche Eigenschaften besitzt , welche
nicht ohne Interesse sind.
2.
Der Weg, welchen zuerst Lagrange eingeschlagen hat, um die
Periodicität des positiven Kettenbruches, welcher J/04 ausdrückt, zu
finden, kommt bekanntlich auf Folgendes zurück. Man nehme an, es
sey A zwischen a 2 und (a + l) 2 enthalten , dann hat man
VA = a + \_
fl 2 +
5.
ÜBER DIE EIGENSCHAFTEN DER PERIOD. NEGATIVEN KETTENBRÜCHE. 5
wo a, ai,02..a m ganze positive Zahlen sind und der vollständige
Quotient * M in die Form
gebracht werden kann, so dass I m und D m ganze positive Zahlen sind.
In der Folge werde ich, zur Abkürzung, I m den Zähler und D m den
Nenner des vollständigen Quotienten *» nennen. Man weiss auch dass
D m = + (a, dl — A.ai, ajf*
wo das obere oder untere Zeichen zu nehmen ist, je nachdem der Theil-
nenner a m eine gerade oder ungerade Stelle in der Reihe a , a x , . . . o»
einnimmt.
Bezeichnet a*+i die grösste in z* enthaltene ganze positive Zahl,
so ist demnach — = — - = a«+i H . Nun kann man wieder
««+i = D 2 setzen, so dass /m+i und D«+i ganze positive Zah-
len sind, und indem man diese Werthe statt s«+i in die vorhergehende
Gleichung setzt, zerfällt dieselbe in zwei, nemlich
1) Im + Im + l = Oii+lD M
2) A = a w +iZ) lll / -l +i + Z) l(l D 1Ä+ i — /„/*+!
Aus der Verbindung dieser zwei Gleichungen folgt
3} A = r m+1 -\-D m D m+ i
hieraus erhält man
& + , — r m+i = D m+1 [D m — D Ä+8 )
und mit Rücksicht auf Gleich. 1)
4) Z)* + i = Om + 2 (/m+1 — /•+«) + Z>«
Die Gleichung 3) zeigt, dass / m +i<j/4, also höchstens / M ^i =a,
und da ö*+i mindestens =1 ist, so folgt aus Gleich. 1) dass D m hoch-
stens = 2a. Dieselben Grenzen gelten bezüglich für jedes / und jedes
D; da nun aber in dem unendlichen Kettenbruche unzählig viel voll-
ständige Quotienten vorkommen, .so müssen nach einer endlichen Reihe
von Werthen, die der vollständige Quotient annehmen kann, dieselben
fitammengehörenden / und Z), die schon einmal vorkamen, wieder vor-
6 M. A. STERN,
kommen, und von da an muss der Kettenbruch periodisch seyn. Später
hat man diesen Satz aus der Theorie der quadratischen Formen abgeleitet,
welche Beweisführung nur in der Einkleidung von der Lagrange'schen ver-
schieden ist.
3.
Versucht man den Lagrange'schen Gedankengang auf den negativen
Bruch, welcher \fA ausdrückt, anzuwenden, so erhält man Folgendes.
Da \fA zwischen a und ö+l liegen soll, so setze man a-\-l = b und
1/04 = 6 — jT-, es ist also 6>2 und «o>l- Setzt man u = bi — £-, so
dass bi die nächst grössere ganze Zahl zu 1*0 bedeutet , so ist 6 L > 2 und
?#! > 1 . Fährt man auf diese Weise fort , so findet man
YA = b - 1_
61—I
1
u m
so dass fr, 61 , b 2 ... b m ganze positive Zahlen bedeuten , die sämmtlich
>2 sind und u m > 1. Denkt man sich 01 unbegrenzt wachsend, so
erhält man den unendlichen negativen Kettenbruch, welcher J/04 aus-
drückt. Bei einem Kettenbruche von dieser Form nehmen , wie bekannt,
die Zähler und Nenner der aufeinander folgenden Näherungswerthe
immer zu und sind alle positiv, während die Näherungswerthe selbst
immer abnehmen und immer grosser als yA bleiben.
Nun ist
1/01 = " m ' b * bm ~~ b ' bm ~ 1 1 also u — V A -*-*i, '■■*i^-i + M«-M»-i
a -i i K^ + «m
Setzt man diesen Ausdruck = — — — , so soll wieder i m der Zähler,
dm der Nenner des vollständigen Quotienten u m heissen, und es ist
im = b, b m . 6, b m - 1 — A.bi,b m .bi, b m -i
d m = b,bm — A . bi , 6i
Da i-jT>l /i *' 80 * 8t auc ^ ^ *i> yl.61, 6i, d. h. dm ist positiv. Da
ÜBER DIE EIGENSCHAFTEN DER PERIOD. NEGATIVEN KETTENBRÜCHE. 7
b , b m _ j , b m b , b m — i
ferner auch — b > 1/04 , also j^j^ * j^ r > -^ . so ist auch i m
positiv, mithin sind i m und d m ganze positive Zahlen.
1 ^+»m+l
Setzt man u m = 6 m +i — — und ««,-li = — -j-— — , so dass
™m -I» 1 m "P l
mithin auch 4»+i und dm+i ganze positive Zahlen sind, so findet man
hieraus
5) $ m + im+i — b m +\d m
6) A = i m + t — d m d m + \
und aus diesen Gleichungen ergiebt sich .
7) cfc»+2 = 6* + * (•» + » — *» + i) + ü*
ebenso wie die Gleichung 4) aus 1) und 3) ''abgeleitet wurde.
Die Gleichung 5) entspricht der Gleichung 1) und stimmt in der
Form vollkommen mit derselben überein; die Gleichung 6) entspricht
der Gleichung 3), unterscheidet sich aber von ihr durch das Zeichen
des Produktes der Nenner der zwei aufeinander folgenden vollständigen
Quotienten, welches dort positiv hier negativ ist. In Folge dieses Um-
standes kann man daher aus der Gleichung 6) nur eine untere Grenze
fttr im+i ableiten, sie, zeigt nemlich dass im + 1 > J/i4 also mindestens
= a + 1 = b ist , eine obere Grenze kann aber daraus nicht , wie dies
bei der Gleichung 3) der Fall war, abgeleitet werden. Damit fallt aber
auch die Möglichkeit weg, in ähnlicher Weise, wie es Lagrange bei
dem positiven Kettenbruche, welcher ]/A ausdrückt, gethan hat, zu
zeigen, dass auch der entsprechende negative Kettenbruch periodisch
ist Indessen findet diese fundamentale Eigenschaft wirklich statt und
kann auf folgendem Wege nachgewiesen werden.
- ( >*
4.
Wenn a, 1} a 2 . . . und er, « l5 « 2 • • ganze positive Zahlen sind, so
kann bekanntlich die Gleichung
«+ 1_ = er + 1
«i + l «i+l
«2 + «2 +
i
8 M. A. STERN,
nicht statt finden , wenn nicht a = a, ai = ^ u. 8. w. Ebenso kann
die Gleichung
b—l_ =ß— J_
b 1 -l ß x -l
b 2 — /J 2 —
• ■
nicht statt finden , wenn 6, bi , b% . . . und ß, ßi, ß 2 . . . ganze positive
Zahlen bedeuten, die sämmtlich >2 sind, sobald nicht b = ß, b x =ßi
u.s.w. ist. Hat man also
(a, «i, «2 • • • •) = [^» ^i» ^2 ]
so muss es möglich seyn, unmittelbar aus dem gegebenen positiven
Kettenbruche, den gleichwerthigen negativen abzuleiten.
Es ist zunächst von selbst klar, dass b — a-\-l ist; die folgenden
Theilnenner des negativen Kettenbruches ergeben sich aber aus einer
sehr einfachen Betrachtung. Man setze
(ö, «i, <*2 . • •) = ""H_l
t
R
dann hat man die
i Gleichung
a + 1
= a + 1-
-1
Ol
+ 1
R
2-
-1
1+1
«i-2 +
1
R
deren
Richtigkeit
die unmittelbare Reduction ergiebt.
Es
ist also auch
1+1
= 2-
- 1
ai
-2+1
R
2-
-1
1 + 1
a, — 4 + 1
R
Verwandelt man nun wieder 1 + 1 t nach demselben Gesetze
0l _ 4 +j_
R
und föhrt so fort , so sieht man , dass sich nach k Operationen ein Ket-
tenbruch ergiebt, welcher mit
ÜBER DIE EIGENSCHAFTEN DEB FERIOD. NEGATIVEN KETTENBRÜCHE. 9
— 1
1 + 1
a x - 2k + _1_
R
schliesst, während, auf das Anfangsglied 0+1 folgend, 2k — 1 Theil-
nenner vorausgehen , welche sämmtlich = 2 sind , und deren entspre-
chende Theilzähler sämmtlich = — 1 sind.
Ist also oi eine gerade Zahl und = 2h , so erhält man nach h
Operationen einen Kettenbruch, bei welchem puf das Anfangsglied die
Anzahl 2h — 1 oder a x — 1 Theilnenner, die sämmtlich = 2 sind, folgen,
worauf als Schluss des Kettenbruches der Ausdruck t = folgt.
1 -f- 1 I"T" **
+ 1^
R
Ist dagegen a L ungerade und = 2h + 1 f so hat man nach h Ope-
rationen einen Kettenbruch, bei welchem auf das Anfangsglied die An-
zahl 2h — 1 = fli — 2 Theilnenner =t 2 folgen , worauf der Ketten-
bruch mit
— 1
1 + 1
1 + 1
R
schliesst. Setzt man aber statt dieses letzteren Ausdrucks den gleich-
werthigen — 1 so ist dann wieder der Kettenbruch a -f- 1
2 — 1 "öT+1
1+Ä R
in einen anderen verwandelt, in welchem auf das Anfangsglied + 1,
wie im vorhergehenden Falle , a\ — 1 Theilnenner , welche = 2 sind,
folgen, worauf der Kettenbruch mit , p schliesst
,1-f-Ä
Indem man nun Ä = a2 + 1 setzt, kann man wieder 1 + Ä
R l
in einen Kettenbruch mit nur negativen Theilzählern verwandeln, wel-
Mathem. Cime. XII. B
10 M. A. STERN,
eher mit a% -j- 2 beginnt , worauf nach der vorhergehenden Regel 03 — 1
Theilnenner = 2 folgen , und dann ., , P1 den Schluss bildet. Ebenso
verwandelt man dann wieder 1 -f- R l in einen negativen Kettenbruch,
welcher mit »4 + 2 beginnt , worauf «5 — 1 Theilnenner = 2 folgen
u. s. w.
Es ergiebt sich demnach hieraus folgende einfache Regel zur Ver-
wandlung eines Kettenbruches von der Form (0 , a\ , 02 • • •) *& einen
gleichwerthigen Kettenb^uch von der Form [6, 61 , 62 . . .]. Man bilde
nemlich aus der Reihe
• • • •
8) 0, fl lf 02, «3> ö 4
die Reihe
9) + 1, «i — 1. «2 + 2, a 3 — 1, «4 + 2»
so dass allgemein, um die leztere Reihe zu bilden, jedes Glied 0* aus
der Reihe 8), sobald Ä>0, um eine Einheit vermindert, oder um zwei
Einheiten vermehrt wird, je nachdem k ungerade oder gerade ist,
d. h. , insofern als das erste Glied der Reihe 8) betrachtet wird , je
nachdem 0* in einer geraden oder ungeraden Stelle steht. Nach
Anleitung der Reihe 9) bilde man nun einen negativen Kettenbruch auf
folgende Weise. Man beginne mit dem Theilnenner 0-j-l, lasse hierauf
öi — 1 Theilnenner = 2 folgen , setze als nächsten Theilnenner a 2 + 2,
lasse hierauf 03 — 1 Theilnenner =2 folgen, setze als nächsten Theil-
nenner 04 -f- 2 und fahre so fort , so erhält man den gesuchten Ketten-
bruch [b , bi , 62 • • *] 1 vorausgesetzt , dass der Kettenbruch (0 , 01 , 02 . . .)
unendlich ist. Ist dagegen dieser letztere Kettenbruch endlich, so
so sind zwei Fälle zu unterscheiden. Ist nemlich die Anzahl der Theil-
nenner gerade, so dass etwa der letzte Theilnenner =02*4.1 ist, so
bleibt die Regel dieselbe wie bei dem unendlichen Kettenbruche, ist
dagegen die Anzahl der Theilnenner ungerade und der letzte Theilnenner
etwa —a%n+t, so muss man, während alles Uebrige wie früher bleibt,
statt dieses Theilnenners in dem negativen Kettenbruche nicht 02*+ 2 + 2
sondern ö2»+i + 1 setzen. Dies ergiebt sich unmittelbar aus dem Obi-
gen. Wäre nemlich 0*n+i nicht der letzte Theilnenner, so hätte man
ÜBER DIE EIGENSCHAFTEN DER PERIOD. NEGATIVEN KETTENBRÜCHE. 11
statt desselben a%n+i — 1 Theilneimer =2 zusetzen, worauf der Ketten-
bruch mit schlösse. Bricht daher der positive Kettenbruch mit
0»»+i ab, so mu8s . B = O t d. h Ä = oo gesetzt werden. Die Regel
bleibt also dieselbe, wie wenn der positive Kettenbruch unendlich wäre.
Folgt aber in dem positiven Kettenbruche auf «2n + i noch ein Theil-
1
nenner a% n + % , so dass man R = a% n + % + d~ setzen kann , also
— i — — = = =- , so muss man f wenn a$ n 4. % der letzte
}+ R «,, + ,+ 1 + ^
Theilnenner ist , R\ = oo setzen , folglich schliesst der negative Ketten-
bruch mit a* n + j-j-1.
Auf diese Weise findet man z. B.
1 + 1_ = 2 — 1^
3 +JL 2 ~ _L
3 2 — 1_
4
1 +_1_ = 2 — _1
8+l_ 2— !_
8-f-T 2—_l_
2 5— J^
2
Im Allgemeinen entspringt also aus jedem Theilnenner des positiven
Kettenbruches ein oder mehr als . ein Theilnenner des negativen. Eine
Ausnahme bildet nur der Fall , wenn in dem positiven Kettenbruche ein
Theilnenner oj = 1 vorkommt, welcher in einer geraden Stelle steht.
Diesem würde in der Reihe 9) das Glied a* — 1 = entsprechen, was
also so viel heisst, dass dasselbe gar nicht vorhanden ist In diesem
Falle folgt alsdann in dem negativen Kettenbruche auf den Theilnenner
Oi_i+2 unmittelbar, der, Theilnenner a«^.i-f~2. In der That ist
a +1_ = a -f- 1 — 1
1+JL_ Ä + l
R
B2
12 M. A. STERN,
Für die unendlichen Kettenbrüche kann man die obige Regel in
der Kürze symbolisch so ausdrücken, dass man sagt, es ist
(o, a x , a 2 , a 3 , a 4 — ) = [a-f-1, «i — 1, «2 + 2, o 3 — 1, a 4 + 2, ...]
indem man statt der Symbole <*i — 1 , 05 — 1 u. s. w. so viel Theilnenner
= 2 setzt, als Einheiten darin enthalten sind. Auch ist, sobald o* in
einer geraden Stelle steht
(a, Oi , «2 • • • öS) = [o + 1 . «l—l» «2 + 2 , . . . a'k — 1]
5.
Aus diesen Betrachtungen ergeben sich noch einige weitere For-
meln, von welchen ich später Gebrauch machen werde. Wenn man
nemlich nach der obigen Regel aus dem Kettenbruche (a, a x , a*_i, a*)
den Kettenbruch [6, 61, — b n -ub H ] gebildet hat und es bedeutet s eine
ganze positive Zahl, welche nicht grösser als a* ist, so hat man auch,
wenn a* in einer geradeji Stelle steht,
(o, «i, . . . ak — s) = [6, 61, . . . b n - g )
Aus dem Theilnenner a* des Kettenbruches (a, a x . . . a*) entspringen
nemlich die letzten a* — 1 Theilnenner des Kettenbruches [6, 61... 6*],
d. h. die Theilnenner b n - ak + 2, • • • • 6«-i) &n> welche daher sämmtlich
= 2 sind; streicht man die letzten,* Theilnenner 6»-i+i, . .. 6„_i, 6«,
so bleiben die a* — s — 1 Theilnenner 6«- ÖÄ -f2 6»-!. Nun ergeben
sich aber, nach obiger Regel, aus dem Gliede o* — s des Kettenbruches
(a, ai , . . . an — 9) , da a* — s nacji der Voraussetzung in gerader Stelle
steht, in dem gleichwerthigen negativen Kettenbruche a* — s — 1 Theil-
nenner, welche =2 sind und also mit den Theilnenhern b n - ak + i...b n - g
übereinstimmen. Als specieller Fall folgt hieraus: wenn
(a, a x ... ak-u <*k) = [b, b x ... 6 n .i, b n ]
und es steht an in gerader Stelle, so ist auch
(a, a\ ... öft-i, ak — 1) = [6, 61 . . . b»-\]
mithin
(ajk— 1) a, a*-i -f- a, a*-* = 6, 6 n -i
(a k — 1) a x , a*-i + ai, a*«* = 6 X , 6 n _i
\,
ÜBER DIE EIGENSCHAFTEN DER PERIOD. NEGATIVEN KETTENBRÜCHE. 13
oder
«i,«a— «i f a*-i= 61,6».!
und da a, 0* = fr, 6*; ai, a* = 6 1$ 6* so ist auch
61, ä» — 61,6«- 1 = Ox,ajk-i
6.
Es ist nun, nach dem Vorhergehenden, leicht die fundamentalen
Eigenschaften des negativen Kettenbruches, welcher J/4. ausdrückt , zu
finden, wenn man die des positiven gleichwertigen Kettenbruches als
bekannt voraussetzt. Sei nemlich
yA = (a, Äx» °2 • • •) = [fr> frit ^2 • • •]
Nun weiss man, dass (0, a lf 02 •• ein periodischer Kettenbruch ist,
dergestalt, dass auf a die Glieder
Hl, Ö2 • • • °2» °i» 2a
folgen, welche sich in. derselben Ordnung unendlich oft wiederholen.
Diese Glieder sollen die positive Periode heissen. Es wird sich
zeigen , dass auch der Kette^bruch [b, bi , 62 • • •] periodisch ist , so dass
auf b die Glieder
b\, 62 • • • ^2» ^i> 26
folgen, welche sich in derselben Ordnung unendlich oft wiederholen,
diese Glieder werde ich die negative Periode nennen. Bei der posi-
tiven Periode unterscheidet man zwei FfiUe. Entweder hat sie kein
Mittelglied, so dass ihr das Schema
«i, ü2 . . . a», o» . . . «2, «1» 2a
zukommt, oder sie hat ein Mittelglied g so dass ihr das Schema
ai, «2 . . . a m , g, a m , ... «2» Ol» 2a
zukommt.
Hat die positive Periode ein Mittelglied, so ist die Anzahl ihrer
Glieder eine gerade. Die sich in umgekehrter Ordnung wiederholenden
Glieder 01 , a 2 • • • 4» stehen beide mal zugleich in einer geraden oder in
14 M. A. STERN,
einer ungeraden Stelle; aus irgend einem dieser Glieder an ergeben sich
also beide mal in dem negativen Kettenbruche entweder <u — 1 Theil-
nenner = 2 oder ein Theilnenner a\ + 2. Das Glied 2a , welches die
erste Periode schliesst, steht in einer ungeraden Stelle und es tritt also
an dessen Stelle in dem negativen Kettenbruche das Glied 2a + 2. Es
sind nun folgende Falle zu unterscheiden :
« . • • • •
1) Steht g in einer ungeraden Stelle, so entspricht demselben
in dem negativen Kettenbruche der Theilnenner g + 2. Der negative
Kettenbruch ist also ebenfalls periodisch und zwar hat seine Periode
die Form
ai — 1, «2+2, .... a m — 1, gr+2, a m — 1, ... a 2 + 2, a x — 1, 2o + 2
wenn die Symbole «i — 1 . . . a m — 1 wieder die Bedeutung haben , dass
man statt jedes derselben so oft den Theilnenner 2 zu setzen hat , als
darin Einheiten enthalten sind. In diesem Falle hat mithin der negative
Kettenbruch ein Mittelglied g + 2 und die Periode schliesst mit 2a -f- 2.
2) Steht g in einer geraden Stelle und ist zugleich eine gerade
Zahl , so treten an dessen Stelle in dem negativen Kettenbruche g — 1
(also eine ungerade Zahl) Theilnenner =2. Die negative Periode wird
dann durch
ai — 1, a 2 + 2, ... a w + 2, 0—1, fl m + 2, ... o 2 + 2, a x — 1, 2a+2
symbolisch dargestellt; sie hat also wieder ein Mittelglied, welches nun
der mittlere in dem Symbol k — 1 enthaltene Theilnenner ist und schliesst
wieder mit 2a +2.
Ist dagegen g eine ungerade Zahl, so bleibt die symbolische Form
der negativen Periode dieselbe, sie hat aber nun kein Mittelglied, da
g — 1 eine gerade Zahl ist.
3) Hat die positive Periode kein Mittelglied , so wird der negative
Kettenbruch wieder periodisch seyn und ein Mittelglied = 2 haben,
seine Periode bildet sich aber nun aus zwei Perioden des positiven Ket-
tenbruches. In diesem Falle steht nemlich das Schlussglied 2a der
ersten positiven Periode in einer geraden Stelle, es sind also statt
desselben in dem negativen Kettenbruche 2a — 1 Theilnenner =2 zu
i
ÜBER DIE EIGENSCHAFTEN DER PERIOD. NEGATIVEN KETTENBRÜCHE. 15
setzen, der mittlere derselben ist da» Mittelglied der negativen Periode;
das Glied 2a dagegen, welches die zweite positive Periode schliesst,
steht in einer ungeraden Stelle und es ist daher statt dessen in der
negativen Periode 2a + 2 zu setzen, womit dieselbe schliesst.
Hierin sind also folgende Resultate enthalten:
Der negative Kettenbruch, welcher \fA ausdrückt, ist wie der
positive, ein periodischer, auch hier folgen auf das Anfangsglied (a-f-1)
eine Anzahl Glieder, die sich, mit oder ohne Mittelglied, in umgekehrter
Ordnung wiederholen, das Schlussglied (2a + 2) ist auch hier das Dop-
pelte des Anfangsgliedes.
Die negative Periode hat nur und immer dann kein Mittelglied,
wenn die positive Periode ein ungerades in gerader Stelle stehendes
Mittelglied hat.
Da bei dem positiven Kettenbruche kein dem Schlussgliede voran-
gehendes Glied der Periode grosser als das Anfangsglied a seyn kann,
so kann bei dem negativen Kettenbruche keines dieser Glieder grösser
als a -f- 2 seyn , d. h. es kann keines derselben das Anfangsglied a + 1
der negativen Periode um mehr als eine Einheit übertreffen. Es folgt
hieraus dass bei dem negativen, ebenso wie bei dem positiven, Ketten-
bruche kein Glied der Periode so gross als das Schlussglied seyn kann.
7.
Sowie man , nach dem Vorhergehenden , aus den bekannten Theil-
nennern des positiven periodischen Kettenbruches, die Theilnenner des
gleichwerthigen negativen ableiten kann, ebenso kann man auch aus
den bekannten Zählern und Nennern der vollständigen Quotienten des
positiven Kettenbruches die Zähler und Nenner der vollständigen Quo-
tienten des negativen ableiten und auf diesem Wege für die letzteren eine
obere Grenze finden (vgl. §. 3).
In dem Kettenbruche (a, Oi . . . a*) stehe a* in einer geraden Stelle
und es sei
(a, a x , . . . a*) = [b, b l% . . . b n ]
(
i
16 M. A. STERN,
so kann man auch setzen (§. 2 und 3)
YA = a -+- 1 =
«2
+ 1
6—1
b x -l
6 2 -
•
*
•
■ 1
•
— 1
6.-1
Alsdann ist
D h dn
a, ai — A.a\ % a{ = D*
b, bn — A.bx, b n = dn
und da a, a* = 6, 6* und a lf a* = 6 1} Ä ft so ist
12) 4. = Da
Da nun k der Voraussetzung gemäss ungerade ist, so heisst dies:
die Zahlen aus der Reihe D Q> D Xi D 2 . . . welche einen ungeraden Index
haben , kommen auch in der Reihe do, d x , d^ . . . vor. Es ist ferner , da
ak in gerader Stelle steht (§. 2)
/* = A.*i % a*.ai, o»-i — <*, (*k* (*> <*a-i
und zugleich (§. 3)
«* = 6, b n . 6, 6*-! — A.bi, b m . 6i, 6 n -i
Hieraus folgt
h + Dk = a y a k (er, a k — a, oa-i) — A.a x% an (a lt a* — a if «a-i)
Setzt man in diesem Ausdrucke 6, 6 n statt a. tu und 6 iv 6* statt
a lt ha und berücksichtigt die Formeln 10) so ergiebt sich unmittelbar
13) •„ = h + Dk
Nun ist ak+i die grösste ganze in *- — =~— enthaltene Zahl, b n +i
Dk
die nächst grössere ganze Zahl zu " * , oder, wie ich im Folgenden
sagen werde, es gehört h und Da zu oa+i*) und in und d» zu A„+i;
*) Zu oi gehören /o und Do; da a aus " ."*" entspringt, so kann man sagen
zu o gehören /-i und Z>-i indem man J-i = und ß-i = 1 setzt.
ÜBER DIE EIGENSCHAFTEN DER PERIOD. NEGATIVEN KETTENBRÜCHE. 17
zugleich ist b n +i = a*+i + 2. Sei ferner 6,4-1 der Theilnenner des
negativen Kettenbruches, welcher aus aj-fs entspringt, so dass b s +\ =
0A+3 + 2; dann gehören h+2 und Dk+* zu öa+«3 und t, und d, zu
6#+i. Nach den Formeln 12) und 13) findet man in und d n aus h und
D* und ebenso t s und rf f aus h+2 und Da +2« Die Aufgabe aus den
Zählern und Nennern der positiven vollständigen Quotienten die Zähler
und Nenner der negativen vollständigen Quotienten zu finden, ist also
gelöst, sobald man noch nachweisen kann, wie man mit Hülfe von
Ik+i und Dk+i, welche zu ak+* gehören, die Zähler und Nenner der
vollständigen Quotienten finden kann , welche zu den a\ -j- 2 — 1 Theil-
nennern = 2 des negativen Kettenbruches , die aus a* + 2 entspringen
(wenn nicht a*-|-2 = l) gehören, d.h. zu 6 Ä + 2 , *»4-s b n + a . Es
sind demnach i n +i und <k+i> #,» + 2 und flk + 2 *» + «*• un d
<k + «. . zu bestimmen. Zugleich ist nach der Formel 12) und 13)
14) +
Aus (Form. 5)
i n+1 = b n +idn — in = (a k +i + 2)D k -(h + D k )
und (Form. 1)
ak+iDk = /a + /ä+i
folgt aber
15) i n +i = h+i + Dk
ferner ist (Form. 6) ^
16) ^ =^4 = ih + D^-A = Dh + 2h _ Dk _ t
und (Form. 7)
rfn+i = 6»+i (*n+i — »*) + dii-l
oder da 6 n +i = «ik + i + 2, ^»^. t — in = /a+i — /*
dn +1 = o* + i(/* + t-/*) + 2/* +1 + /)*-/)*.!
also da (Form. 4)
D*+i = a*+i (/* — /*+ i) + Ä-i
17) dn +1 = 2/ A+ i + £f A -jD A+ i
Mathem. Glosse. XII. C
<
18 M. A. STERN,
Hierdurch sind zunächst « n +i und rf n +i bestimmt. Um nun noch
in +2 und d n +2 u. 8. w. zu finden, bemerke man Folgendes. Die zweiten
Differenzen der zwei Reihen
• • •
*»+ 1 '» + 2 • • • • *n + <*£ i 2
v dn rfn+1 ^ n + a k+2
sind constant und gleich. Wenn nemlich drei aufeinander folgende
Theilnenner 6 r , 6 r +i, ^r+2 sämmtlich =2 sind, so folgt aus 5) ■
, _ >r-l + t> . 3 _ fr+tr+l . - _ *r+l+l r + 2
4r-i g ' * ~~ 2 ' + 2
und aus Formel 7)
d r +l = 2(f r +i — «r) + ^-l
Setzt man in der letzten Gleichung statt d r +i und d^i die vorher-
gehenden Werthe, so erhält man
oder
*r+l + «r+2 = 4(fr+i — «r) + «r-i+^
Statt dieser Gleichung kann man aber schreiben
18) »r + 2 — *r + l — («r+1 — *r) = *r + 1 — «r — («r — »r-l)
d. h. unter der Voraussetzung, dass 6 r , 6 r +i, 6 r +2 sämmtlich =2 sind,
sind die zweiten Differenzen der Reihe
•r-l, ir, «r+1, *r+2
einander gleich. Da nun in der That
Än+2, 6»+3 • • • bn + a k , 2
sämmtlich = 2 seyn sollen , so gibt die Voraussetzung von r = n -f- 2 bis
r = ii-}-a*+2 — 2 einschliesslich , d. h. die zweiten Differenzen der Reihe
19) »»+1, in + 2 *n + a k t 2
sind alle gleich. Aus ir-i + »r = 2dr_i folgt aber auch
%r — fr-l = 2(dr-i lr-l)
ebenso
ir+l — ir = 2 (fit *V)
mithin
(«V+l — f r ) — (fr-lr-l) = 2(dr — *-i) -2«, — fr-l)
i
ÜBER DIE EIGENSCHAFTEN DER PERIOD. NEGATIVEN KETTENBRÜCHE. 19
und da
2(4 — 4-l) = dr— (4- 2
so ist
(4+1 — i r ) — {ir — 4-l) = *— 4r-l— (rfr-1— rf r . 2 )
mithin sind die zweiten Differenzen in der Reihe
20) «4, dn+i d » + «* +2
ebenfalls constant und den zweiten Differenzen der Reihe 19) gleich.
Der Werth dieser constanten Grösse ist aber leicht zu finden. Denn aus
<4 +2 = 2{i m+% — i m + 1 ) + d m = 4(c4+i — 4+0 + 4.
folgt
dn+2 — 2dn +l + d n = 2d n + t + 2d n — 4t n + x
also, wenn man die Werthe von <4+i, <4, 4+i aus den Formeln 17)>
12) und 15) einsetzt,
{dn+2 — <4+l) — {dn+l—dn) = — 2D k +i
welches die gesuchte Constante ist.
Aus 4+2 — 4+1 = 2 («4+i— 4+0 foigt ebenso
4+2 — 4+i = 2(/*+i — Dk+i)
Man findet daher die aufeinander folgenden Glieder der Reihe 19) durch
die Formel
21) 4+i + * = ö* + /*+i + 2(/a+i — D k+1 )x — x{x — l)D k+1
= D k + h+i + {2I k+1 — D k+1 )x-D k+1 a?
indem man für x die Werthe 0, 1 . . . au + 2 — 1 setzt.
Da ferner
«4+i — d n = 2/a+i — Dk+i
so werden die auf einander folgenden Glieder der Reihe 20) durch die
Formel
22) d n+x = D k +(2I k+1 —D k+1 )x— > x{x—l)D k+1 ^D k +2I k+l x—D k+l a?
dargestellt, indem man für x alle Werthe von a? = bis x = ak+% setzt,
so dass also das • welches zu einem bestimmten x gehört und das d
welches zugleich zu x + 1 gehört , Zähler und Nennfer desselben voll-
ständigen Quotienten sind. Der Werth x = a*+ 2 — 1 in 21) substituirt
giebt übereinstimmend mit 14) wenn man die Formel 1) und 4) berück-
C2
t
t
20 M. A. STERN,
sichtigt *n+a k , = /*+2-^--D*+2 und ebenso giebt die Substitution von
x = ak+% in 22) wieder dn+ a . Q = Dk + *.
8.
Für das Folgende benutze ich eine einfache aber, soviel ich weiss,
noch nicht bemerkte Eigenschaft des positiven periodischen Ketten-
bruches welcher \fA ausdrückt.
Bezeichnet wie bisher a\ die grösste ganze in — — =p^ — ~ enthaltene
Zahl, so ist mithin (a*+ l)Z>A-i>a + A-i» ßetzt man hier statt a k D^i
seinen Werth /*_i + /*, so erhält man /*.i + /A+D*.i>a+/*-i, mithin
23) /* + Dk- t > a
Hat die Periode des Kettenbruches ein Mittelglied, welches aus
dem vollständigen Quotienten ^ n ~— entspringt, so ist, wie bekannt,
Im+l = Im; /m+2 = /m-l U.S.W. Und Zugleich D m +t = D m -i, D m + 2 =Dm-2
u. s. w. Nun ist nach 23)
Im+r+l + D m + r > «
also da / m + r +i = I mmmr und D m + r = A»- r auch
/ m -r + D m - r > a
und wenn m — r = k gesetzt wird , also k < m
h + D h > a
Ferner ist nach 23) •
also auch
es ist mithin für jeden Werth von k
h + D k >a*).
Hat die Periode kein Mittelglied oder, wie man auch sagen kann,
zwei Mittelglieder, und sind i- — * *"* i- — HLJ? die zwei vollstän-
*) Auszunehmen ist nur der Fall wenn *=*= — 1, wo D-i = l, /-i=0 (vgl. §.7
Anmerk.).
ÜBER DDE EIGENSCHAFTEN DER PERIOD. NEGATIVEN KETTENBRÜCHE. 21
digen Quotienten, welche zum ersten und zweiten Mittelgliede gehören,
so ist bekanntlich / m + l = / w _i, / m + 2 = /«1-2 u. s. w. und D m -i = Z) m ,
D m +i = -D»-2 u.s.w.
Man hat also wieder / m + r +-Dm+r-i>o und mithin /m- r + A*-r > «.
Ebenso folgt aus /»- r + #m-r-i >« auch / m + r + D m + r>a. Mithin
hat man för jeden positiven periodischen Kettenbruch den Satz: die
Summe des Zählers und Nenners eines vollständigen Quotienten ist immer
grösser als die grösste .in J/04 enthaltene ganze Zahl.
9.
Da h+i-\-Dk+i>a und /* + * höchstens =a ist (§.2) also jeden-
falls ijk + i +Z) Ä + 1 >/ Ä + 2 so ist auch nach Formel 1)
oder
24) 2& +1 >(«+,-!) D* + i
Andererseits ist, insofern a*+ 2 die grösste ganze in — — =^ — — ent-
halten e Zahl bedeutet , (a* + 2 + 1) Dk + 1 > + /* + 1 also jedenfalls
25) 2/ 4+1 <(a A+2 +l)^+i
Hieraus ergiebt sich unmittelbar folgender Satz:
Wenn an+* eine ungerade Zahl ist, so werden die Glieder der
Reihe 21) bis zum g * + * -|-lten einschliesslich, d.h. bis x= *"*"*~
zunehmen und von da abnehmen. Denn die ersten Differenzen sind
2Ihi-2D H i, 2/* + 1 — 2.2Da + i. 2ä + i — 3.2D*+i....
Oh -4- 2 . 1
Nach 24) und 25) ist aber 2/*+i ^-5 2/)* + ! positiv und
2/ Ä + 1 -^±|±i2Z) A + 1 negativ.
Ist «a + 2 eine gerade Zahl, so werden die Glieder jedenfalls bis
zum ** 2 ten einschliesslich wachsen und vom * 2 + 2ten an abneh-
men. Denn aus 24) folgt umsomehr 2/^ 1 >(ai+8 — 2)Dk + i also ist
22 M. A. STERN,
2/* + 1 — (— 1) 2Dk + 1 positiv. Andererseits folgt aus 25) , dass
2/44.1 — (- < j" 2 4- 1) 2Z>ä + 1 negativ ist. Dagegen kann das -~^- -(- 1 te
J 2
Glied, sowohl zur wachsenden als zur abnehmenden Reihe gehören. Ist
0Jk+2-D*+i = 2/*+!, was nur und immer statt findet, wenn /*+i = /a+2
so wird das — - ^p? -{- 1 te Glied dem ** 1 e n Gliede gleich sey n , und
beide werden also den Maximalwerth ausdrücken.
Aehnlich verhält es sich bei der Reihe 22), Hier sind die ersten
Differenzen
2/a+i — Dk+i> 2I k +i — 3D k +i u.s.w.
Ist nun o*-f2 eine gerade Zahl, so werden die Glieder der Reihe
22) bis zum J~ 2 + 1 ten einschliesslich zunehmen , die folgenden ab-
nehmen , da 2/( + 1 — Dk + 1 kleiner als ** 8 . 2D* 4. 1 und grösser als
(*+2-l)2D k+1 ist.
Ist (*k+ 2 ungerade, so wird das — * 2 ' te Glied zur wachsenden
oder abnehmenden Reihe gehören können, während die vorhergehenden
Glieder jedenfalls wachsen, die folgenden abnehmen. Ist 2/* + 1 — -Djk+i
= (<tt+2 — l)-D* + i, also /*+i = /jk+2, so ist das *"*"* te Glied dem
g *"^ 2 ten gleich und beide die gross ten.
10.
Aus dem Vorhergehenden leitet man nun leicht eine obere Grenze
für die Zähler und Nenner der vollständigen Quotienten des negativen
periodischen Bruches ab, und zwar ergiebt sich, dass beide niemals
grösser als A seyn können.
Man schreibe statt der Formel 22)
26) dn = Dh Dk + X ~*~ 2/ * + 3 Dk + iX ~ D%k + lx2
Dk + i
ÜBER DIE EIGENSCHAFTEN DER PERIOD. NEGATIVEN KETTENBRÜCHE. 23
Ist nun a*-f2 gerade, so wird, nach dem Vorhergehenden, das Glied
der Reihe 22) , welches zu x = — i-? gehört , das grösste seyn. Der
Werth desselben ist aber
D k D k+l + h +1 D k+l «*+, - f»*'/** 1 )'
Nun ist D k D k +i =A — /J +1 ; o 4+8 A+i = /*+i + /*+«, also
ist dieser Werth =
D h+1
Dieser Werth ist mithin immer kleiner als A , ausgenommen wenn
D4+1 = 1, in welchem Falle, wie bekannt, h+i = h+ 2, so dass als-
dann das grösste Glied der Reihe 22) den Werth A hat. Dieser Fall
wird aber immer und nur dann eintreten , wenn die Periode des positiven
Kettenbruches kein Mittelglied hat. Dann steht nemlich das Schluss-
glied 2a dieser Periode in einer ungeraden Stelle , setzt man dasselbe
= »*+«» so ist «a+2 eine gerade Zahl und zugleich Da+i = 1. Dies
ist aber auch der einzige Fall in welchem der Nenner eines vollständi-
gen Quotienten des negativen Kettenbruches den Werth A erreicht.
Ist nemlich ak+2 ungerade, so ist im günstigsten Falle at= q •
zu setzen. Macht man nun dieselben Substitutionen, wie im Vorher-
gehenden, so verwandelt sich die Formel 26) in
/ n+i — **+2V
+ h+1 -°J±lD k+1 -*±l
Dk+i ' T 2
oder, wegen a*+ 8 D*+i = * +1 ~£ * +2 , in
\ 2 ) . h+i—h+i _J>k+i
A+i "*" 2 4
24 M. A. STERN,
Nun ist dieser Ausdruck jedenfalls kleiner als -- 1- -2±J also um
so mehr kleiner als — 1- ^-. Da aber ak+% ungerade ist, so kann
&k+i 2
Dk+ 1 nicht = 1 seyn , ist vielmehr im günstigsten Falle = 2 , der
A \/A
grösste Werth in der Reihe 22) ist mithin kleiner als — + *-=- und
uno8omehr kleiner als A.
Schreibt man statt der Formel 21)
27) tm+l+ g—
und ist fljk+2 gerade, so ist, wie oben gezeigt wurde, der günstigste Fall
der, wenn man noch x = -^p setzen kann, so dass 2Ik+i > ak+*Dk+i
ist. Macht man wieder die obigen Substitutionen, so geht die Formel
27) nach gehöriger Reduktion in
A — ( &+* — 6+i \ 2
V 2 / ijk+l — ijk+2
Da+i 2
über. Ist D*-f-i = 1, also /* + i = h+2, so ist dieser Werth =-A, zu-
gleich ist dann, wie oben bemerkt wurde, das * + 2 te Glied dem
a *+* ■+- lten Gliede gleich, also sind beide = A.
Ist Da+i> 1 also im günstigsten Falle =2, so ist jedenfalls der
A XfA
Maximalwerth kleiner als -^ -f- y -^- , mithin kleiner als A
Ist aft-t-s noch immer gerade und efhält man den grössten Werth
in der Reihe 21), wenn man x = ak+* — 1 sezt, so geht in Folge dieser
Substitution die Formel 27) in
A — ( 6+i— 6+r v 2
•Uk + l *
ÜBER DIE EIGENSCHAFTEN DER PERIOD. NEGATIVEN KETTENBRÜCHE. 2ö
über. In diesem Falle ist aber 2Ik+i <i<*k+2 Dk+i, also der gross te
Werth jedenfalls < A.
Ist ak+2 ungerade, so dass die Formel 27) den grössten Werth
erreicht , wenn man x = * "*"* — - setzt ^ so geht sie dann in
& •••'■•
V 2 ) + D k + 1
über. Da nun Dk+i mindestens = 2 seyn muss, andererseits aber a^+B
mindestens =3 seyn muss und mithin, da J/"^ + /*+ 1 <2J/L4/ auch
Du + 1 <i]/A seyn 'muss, so ist nun der grösste Werth in 27) jedenfalls
kleiner als -=- + - — u ^d um so mehr kleiner als A.
2 4 '
Man sieht demnach, dass im Allgemeinen alle Zähler und Nenner
der vollständigen Quotienten des negativen periodischen Kettenbruches,
welcher \fA ausdrückt, die zu denjenigen Theilnennern der negativen
Periode gehören, welche aus den in gerader Stelle stehenden Theilnen-
nern des positiven Kettenbruches entspringen, kleiner als A sind; nur
in dem besonderen Falle, wenn die positive Periode kein Mittelglied hat
#
(was also, wie bekannt, namentlich dann statt findet, wenn A eine
Primzahl von der Form 4» +- 1 ist) , haben Zähler und Nenner des voll-
ständigen Quotienten, welcher zu dem mittleren der aus dem Schluss-
gliede 2a dieser Periode entspringenden 2a — 1 Theilnenner gehört, d. h.
also welcher zu dem Mittelgliede der negativen Periode gehört, so wie
auch der Zähler des folgenden vollständigen Quotienten, den Werth A*).
l/~A + Ü
*) Jbt , — der vollständige Quotient, welcher zum Mittelgliede der nega-
"1 /" ' A I *
tiven Periode gehört, ■ . — — der unmittelbar vorhergehende und bk die
nächst grössere ganze Zahl zu letzterem, so ist (Form. 6)
dk-idk = t| — Ä
also, wenn ik = A und dk = A, dk-i = A — 1. Da nun ü-i höchstens
= A — 1 ist , so ist nothwendig bk = 2 und mithin , nach Form. 5,
il-i + k = 2(A— 1) also ift-i = A — 2.
Mathem. Glosse. XII. D
26 M. A. STERN,
Was nun den Zähler i n und Nenner d n des vollständigen Quotienten
betrifft, der zu einem Theilnenner der negativen Periode gehört, welcher
aus einem in einer ungeraden Stelle befindlichen Theilnenner des positiven
Kettenbruches entspringt, so ist deren Werth durch die Formeln 12)
und 13) gegeben. Da d n = Dk, so ist mithin dn<^2[/14, also d n <^A
sobald A > 4. Es bleiben also nur noch die Zahlen A = 2, A = S übrig,
bei welchen die unmittelbare Rechnung zeigt, dass hier kein Nenner
dn>A vorkommt. Da ferner i,, = /a + D*, so ist jedenfalls in <[ 3J/04,
also in <1 A sobald A > 9. Es wären also nur noch die Zahlen A =
2, 3, 5, 6, 7, 8 übrig, bei welchen man sich wieder durch unmittelbare
Rechnung überzeugen kann, dass bei denselben kein Zähler i n >A vor-
kommt.
Man findet demnach als schliessliches Resultat, dass die Zähler
und Nenner der vollständigen Quotienten des negativen periodischen
Kettenbruches in der Regel kleiner als A sind, und nur in dem einen
oben erörterten Ausnahmefalle den Werth A haben.
11.
Mit Hülfe des Vorhergehenden lassen sich viele Sätze , die für den
positiven periodischen Kettenbruch bereits ermittelt sind, leicht auf den
negativen übertragen. Ich hebe nur einige hervor von welchen ich noch
Gebrauch machen werde. Der Nenner des vollständigen Quotienten,
welcher zum Schlussgliede 2a -|- 2 der negativen Periode gehört , ist = 1,
der Zähler = a -|- 1. Ist nemlich V "*" tm der vollständige Quotient,
welcher zu dem Schlussgliede gehört, so muss der nächstfolgende voll-
ständige Quotient " t*»+i ^d^ dem er8 ten " "* * , aus welchem
dm+i d
sich der Theilnenner bi ergibt, gleich seyn. Da nun
ÜBER DIE EIGENSCHAFTEN DER PERIOD. NEGATIVEN KETTENBRÜCHE. 27
soist im+i = i = 6 = ö+1 ; cU+i = rf=6 2 — A; nun ist rf m dm+ i = «m+i — A
also rf w = 1 und daher i m = a-f- 1.
Umgekehrt muss ein vollständiger Quotient, dessen Nenner =1 ist,
zu dem Schlussgliede gehören. Ist nemlich — — der vollständige
Quotient welcher zu b m + 1 gehört und dm=l< so ist 6 m + i = ö-{-l + *m
und da i»+i = 6 m +irf«i — «m auch t m -|.i = a+l=i und d m + 1 = rf da
4.4.+1 = (*+i) 2 -^ = (a+ lf—A.
Man kann ferner beweisen, dass die Gleichung
a* — Atf = dn
wo d n eine ganze positive Zahl bedeutet, sobald d*<Il/^ immer und
nur dann eine Lösung in ganzen Zahlen hat, wenn d» der Nenner eines
vollständigen Quotienten ist, welcher zu einem Theilnenner & Ä +i des
negativen periodischen Kettenbruches [6, 6 lf b 2 - . b n , b H +i . . .] gehört,
welcher = \/A ist , und zwar ist x = b, b H ; g = bi , 6,,. Man hat hierbei
nur die Eigenschaft eines negativen Kettenbruches zu berücksichtigen,
dass bei einem solchen die Näherungswerthe sämmtlich grösser sind als
der ganze Werth und zugleich jeder folgende Näherungswerth kleiner
als der vorhergehende, dagegen Zähler und Nenner eines folgenden
Näherungswerthes bezüglich grösser sind, als Zähler und Nenner eines
vorhergehenden. Soll nun entschieden werden, ob ein Ausdruck — ein
Näherungswerth eines negativen Kettenbruches, welcher den Werth V~A
hat, ist, so verwandele man — in einen negativen Kettenbrucb , welcher
y
[A, 6 lf b 2 . .'. b H ) sey, also x = b, b n : y = 6i,6». Den unmittelbar vorher-
#o _i_ i t f
gehenden Näherungswerth [b, b\ , 62 • • • A*-i] nenne man — also x = 6, b {
yo
i/o = bi,b H -x. Nun kann man jedenfalls V~A = " x ° setzen, soll
py ~Vo
x
aber — ein Näherungswerth von A seyn , so muss p > 1 seyn und
X /"
umgekehrt ist p > 1 , so ist — ein Näherungswerth von VA. Da nun
y
D2
r
28 M. A. STERN,
VA = — — " ~ und xqv — xt/o — 1 so ist yA = —, -,
y y py — yo y yipy—yo)
X 1
sobald also p > 1 ist t/~A <? —. — - und umgekehrt. Aus
y v yy—yo)
• I
x*-Af = dn folgt aber - - VA = — *~, also * < ~^—
» ${x-{-yyA) x+yVA y— jto
oder d n (y — yo)<ix-\-y\/ r Ai wenn — ein Näherungswerth von V~A seyn
y
soll. Da nun y — yo positiv und kleiner als y ist, so ist, wenn d n <^ V~A,
dn(y — yo) <C V VA und um so mehr d n (y — y ) <C ^ + y V~A , also ist auch
— ein Näherungswerth von yA. Andererseits ergiebt sich aus der
y
Gleichung d» == A, 6£ — ^4 . A x , 6£ (§. 3) , dass der Gleichung aP — Ay 2 = dn
durch die Werthe x = b y b n und ^=61,6,» wirklich Genfige geleistet
wird, sobald d n uAter den Nenner der vollständigen Quotienten vor-
kommt, welche in der Entwickelung des negativen Kettenbruches er-
scheinen , welcher « \/~A ist.
Es folgt hieraus, dass der erste Nenner d„ = 1 zu der Losung der
Gleichung jt 2 — Ay 2 =^l in den kleinsten ganzen Zahlen fährt; dies ist
aber der Nenner , welcher zum Schlussgliede der ersten Periode gehört,
da kein vorhergehender = 1 seyn kann.
* Auch folgende Eigenschaft kann hier ebenso wie bei den positiven
periodischen Kettenbrüchen bewiesen werden. Wenn die ersten Theil-
nenner 6, b\ , b% . . • 62, b\ , 26 sind , so dass zu dem ersten 61 der voll-
VA + 1
ständige Quotient u. s. w. zu dem zweiten b\ der vollständige
Quotient "*"** gehört , also zu 2b der vollständige Quotient — — ~J ^"*
dk 1
und die Periode hat ein Mittelglied b mi zu welchem der vollständige
V~A -4- 1
Quotient ' m — gehört, so sind die Zähler der vollständigen Quo-
tienten paarweise gleich, nemlich i = t*+i; i t = •*; bei den Nennern
dagegen kömmt ein TVtittelgft&l &-1 Vor, während die tlbrigen Nenner
ÜBER DIE EIGENSCHAFTEN DER PERIOD. NEGATIVEN KETTENBRÜCHE. 31
stehender Theilnenner ergiebt. Wenn aber überhaupt 2 als Nenner
eines vollständigen Quotienten in dem positiven Kettenbruche vorkommt,
so muss dieser zum Mittelgliede gehören*), die Periode des positiven
Kettenbruches muss also ein in ungerader Stelle stehendes Mittelglied
haben, folglich muss auch die Periode des negativen Kettenbruches ein
Mittelglied haben {§. 6). Kein Nenner eines vollständigen Quotienten
des negativen Kettenbruches kann also = 2 seyn, sobald dessen Periode
kein Mittelglied hat. Hat diese Periode ein Mittelglied, so kann unter
den Nennern der vollständigen Quotienten nur ein einziger seyn, welcher
= 2 ist und dieser muss zum Mittelgliede gehören. Jedenfalls muss
dann , wie eben gezeigt wurde , in dem gleichwertigen positiven Ketten-
bruche, der Nenner des vollständigen Quotienten, welcher zum Mittel-
gliede gehört, =2 seyn, und dieses Mittelglied mnss in gerader Stelle
stehen. Seyen nun im positiven Kettenbruche die dem Mittelgliede
vorausgehenden Theilnenner a, tti .. . oj> m _i und — — (a, a t . . .a^m-x). also
p 2 — A(f = 2, mithin sind x=p, y = q die kleinsten Zahlen, welche
die Gleichung aß — Ay 2 = 2 lösen. Dem Mittelgliede im negativen
Kettenbruche werden also die Glieder
(i-f-1, oi — l...azm-1 — l
vorausgehen und es wird ^- = [a-f-l, oi — l..,a^m-i — 1] seyn, also
muss auch, wegen p 2 — Aq z = 2, der zum Mittelgliede gehörende Nennei
in der negativen Periode = 2 seyn. Gäbe es nun noch einen anderen,
also dem zum Mittelgliede gehörenden vorausgehenden , Nenner - = 2 , so
wäre auch die Gleichung p\ — Aq\ — 2 lösbar, so dass ?*<?- J 1 < g
wäre, was nach dem eben Gesagten nicht seyn kann. - •
13.
Setzt man d m = 2, indem man im Uebrigen die Bezeichnung des
*) Man vergleiche meine Abhandlang „Zar Theorie der periodischen Kettenbräche"
in Crelle's Journ. f. d. r. a. angew. Mathem. Bd. 53. p. 43.
30 M. A. STERN,
also 2Ff—f 2 = A oder F = ^ j/ d. h.
_p* + ^ , 1 _ rf + M
2 V 2
31) F - ~2^- und ? ~ (T2^-)
nun ist auch p 2 — u4y 2 = d m mithin
d m = & + Afp - Affrqf
oder
also
32) y = ^ und nach 31)
83) „=!l+4f
Aus 32) und 29) folgt
34) / = §£
Aus p 2 — ^4^ = dU folgt aber , wenn man diese Gleichung mit 2 multi-
plicirt, -j- -~ = 2. Nach Form. 34) ist aber -~ eine ganze Zahl,
dm d m , .. . dm
also auch Y . Da nun p und y keinen gemeinschaftlichen Faktor
dm
haben, so muss 2A durch d m theilbar seyn, mithin wenn A eine Prim-
zahl, muss d m = 2 oder =.A seyn. Ist A eine Primzahl von der Form
4n + 1 , so muss , übereinstimmend mit §. 10 , dm == A seyn , da dann
p 2 — Aq 2 nicht = 2 seyn kann ; ist dagegen A eine Primzahl von der
Form 4« + 3 , so kann nicht p 2 — Aq 2 = A seyn , also muss dann
dm = 2 seyn.
Wenn in dem negativen periodischen Kettenbruche, welcher
= \/~A ist , ein vollständiger Quotient den Nenner d m = 2 hat , also die
Gleichung ar 2 — Ay 2 = 2 lösbar ist, so muss auch, insofern |/"-4>2,
die Zahl 2 unter den Nennern der vollständigen Quotienten des gleich-
werthigen positiven Kettenbruches vorkommen, und zwar dort zu einem
vollständigen Quotienten gehören, aus dem sich ein in ungerader Stelle
ÜBER DIE EIGENSCHAFTEN DER PERIOD. NEGATIVEN KETTENBRÜCHE. 31
stehender Theilnenner ergiebt. Wenn aber überhaupt 2 als Nenner
eines vollständigen Quotienten in dem positiven Kettenbruche vorkommt,
so muss dieser zum Mittelgliede gehören *), die Periode des positiven
Kettenbruches muss also ein in ungerader Stelle stehendes Mittelglied
haben, folglich muss auch die Periode des negativen Kettenbruches ein
Mittelglied haben (§. 6). Kein Nenner eines vollständigen Quotienten
des negativen Kettenbruches kann also = 2 seyn , sobald dessen Periode
kein Mittelglied hat. Hat diese Periode ein Mittelglied, so kann unter
den Nennern der vollständigen Quotienten nur ein einziger seyn, welcher
= 2 ist und dieser muss zum Mittelgliede gehören. Jedenfalls muss
dann , wie eben gezeigt wurde , in dem gleichwertigen positiven Ketten-
bruche, der Nenner des vollständigen Quotienten, welcher zum Mittel-
gliede gehört, =2 seyn, und dieses Mittelglied muss in gerader Stelle
stehen. Seyen nun im positiven Kettenbruche die dem Mittelgliede
vorausgehenden Theilnenner a y ai ... a 2m -i und — = («, a\ . ..ö2«-i)» also
9
jp — Aq 2 = 2, mithin sind x = p, y = q die kleinsten Zahlen, welche
die Gleichung a? — Ay 2 = 2 lösen. Dem Mittelgliede im negativen
Kettenbruche werden also die Glieder
a + 1, ai — l...a2i»-i — 1
vorausgehen und es wird — = [a -\- 1 , a\ — 1 . . . flfem-i — 1] seyn , also
muss auch , wegen p 2 — Aq 2 — 2 , der zum Mittelgliede gehörende Nenner
in der negativen Periode = 2 seyn. Gäbe es nun noch einen anderen,
also dem zum Mittelgliede gehörenden vorausgehenden, Nenner =2, so
wäre auch die Gleichung p\ — Aq \ = 2 lösbar , so dass p l < p , q 1 <iq
wäre, was nach dem eben Gesagten nicht seyn kann.
13.
Setzt man d m = 2 , indem man im Uebrigen die Bezeichnung des
*) Man vergleiche meine Abhandlang „Zar Theorie der periodischen Kettenbrüche"
in Crelle's Journ. f. d. r. u. angew. Mathem. Bd. 53. p. 43.
32 M. A. STERN,
vorhergehenden §. beibehält, so folgt aus 34) dass dann l = p = bq — q l
und mithin nach 28)
bm+iq — 2q = bq — ^i
oder
_ g 1 — 2q
b — 6»+
i
9
d. h.
b ._P±2go
Om + 1 —
9
Da nun 6 m + i die nächst grössere Zahl zu g m ist und i m > V~A,
so ist b m +i mindestens = A f andererseits kann b m +i nicht grösser als
6 + 1 ^V* (§-6)5 * m ersten Falle ist daher q l = 2q , im zweiten
q ps? 2yo — q l also q + q l = 2y .
Hieran knüpfen sich ganz ähnliche Resultate, wie sie Goepel zuerst
bei den positiven periodischen Kettenbrüchen gegeben hat und ich später
in der oben erwähnten Abhandlung weiter ausgeführt habe. Man findet
\/~A "4- iu
nemlich hier folgenden Satz : Wenn d* = 2 und es sind ' ,
1 Ofi-l
i- — lt_ die vollständigen Quotienten, welche bezüglich zu den zwei
du
Theilnennern b u und b u +i gehören, so giebt es immer in der Periode
des negativen Kettenbruches einen Theilnenner b u so beschaffen, dass
entweder du-i = 2du oder du = 2d m -i] im ersten Falle ist A = C U — 2d£,
im zweiten A = £ — 2d£-i.
Man setze b\ % b u = w 1 , 62. A* = » l , 61 f 6*-i = ro , 6 2 , 6„_i = «o,
6, 6. = iV, 6,6«-i=iVo, b u +ub m — u, b u +2,b m =;r, bu+u bm-i = /»o,
6„+2, 6m-i = ^o- Nun ist jp 1 — y 1 j r o = — A. Ist nun erstens 6 M ^.i=;6
also q l = 2y , so ist mithin 9p 1 = 2q\ — 1 , d. h. 2qp l = q l — 2. Da
ferner
q = fim 1 — vm^
35) 9 l= A** 1 — **o
0o — W" 1 — *o«o
so ist also
ÜBER DIE EIGENSCHAFTEN DER PERIOD. NEGATIVEN KETTENBRÜCHE. 33
36) ftn 1 — y» — 2 (f*o ml — ^o^o)
und zugleich /i p — fiv$ = 1. Diesen Gleichungen genügt man, wenn man
37^1 ti = tm -\-€fn 1 ; v = — *to 1 + € 1 iw
2fi = Shq + in 1 ; 2v = — 3n l + «!*<)
und
38) J 2 + ** 1 = 2
setzt.
Nun kann 3 nicht = 1 seyn , denn dann könnte e l höchstens = 1
seyn, da aber m l ^>mo so würde sich aus dem Werthe von v in 37) er-
geben, dass v negativ ist, was nicht seyn kann.
Auch kann 3 nicht = — 1 seyn , denn dann wäre a l = 1. Ware
nun s =■ — 1, i l = — 1, so würde aus 37) folgen, dass fi und /i
negativ , was nicht seyn kann ; wäre aber * = 1 , € l = 1 , so hätte man
fn= m l — tn und v — m l + w » a ^ 8 ° ¥ 3> f 1 » was ebenfalls nicht seyn
kann. Es muss daher 3 = seyn und es sind demnach nur zwei Fälle
möglich , entweder ist e = 2 , i l = 1 oder e = 1 , e l = 2.
Ist € = 2, so folgt aus 37)
39) M =2m 1 ; * = m
und der Werth von q in 35) wird
q — 2< — »J
Ist € = 1 80 folgt
fi = m 1 ; f = 2m
2^o = ni; * = «o
und y = m\ — 2m*
Ist s = 2, so ist - = — , d. h. ^ [bu+u &«+*. • . 4»] = [6«, A«-i - . . *i]
und hieraus folgt, dass je nachdem b u +i gerade oder ungerade ist,
b u = %b u +i oder b u = ${bu+i + 1)*). Da nun 6* mindestens =2 ist,
so ist b u +i mindestens im ersten Falle =4, im zweiten =3.
Ist « = 1, so ist ~ = ö — , also [6n+x, &•+*... 6»] = 4 [*«> ftn-i-^i]
? 25I9Iq
*) Vgl. Crelle's Journ. f. d. Math. Bd. 53. p. 59.
Mathem. Glosse. XIL ^
34 M. A. STERN,
je nachdem b u gerade oder ungerade ist, muss demnach b u + i = -£ oder
b u +t = *T" seyn , und da b u + 1 mindestens = 2 , so muss bu min-
destens im ersten Falle = 4 , im zweiten = 3 seyn.
Alles dies bezieht sich auf die Voraussetzung b m + 1 = b. Ist nun
aber zweitens 6 m +i = 6 + 1, also q-\-q x = 2q , so ist nach Form. 35)
^(wi 1 + n l ) — v{m + n ) = 2 (ju, m l — P m ).
Diese Gleichung erhält man aus 36), indem man m l -\-n l statt n l und
*Ho-f-*o s tatt *o setzt. Man hat daher statt der Gleichungen 37) nun
die folgenden
fi = dm -f- «tu 1 ; v = — «Im 1 + «im
2^ = <J(m + »o) + *( wl + » 1 )' ^ = -^(i» 1 +»H«iK + »o)'
Man beweist nun wieder , vermöge der Gleichung S 2, + es 1 = 2 , dass
<) = und € = 2 , fi 1 = 1 oder € = 1 , e 1 = 2 und dass im ersten Falle
q — 2m\ — m 2 und zugleich b u +i mindestens =3, im zweiten q = m\ — 2m*
und zugleich b u mindestens = 3 ist.
Uebrigens wird bei allem Vorhergehenden vorausgesetzt, dass es
einen dem Mittelgliede vorausgehenden Theilnenner b u giebt, welcher
auf das Anfangsglied der negativen Periode folgt, was also nicht mehr
der Fall ist , wenn , wie bei A = 7 , das Mittelglied , zu welchem der
Nenner 2 gehört, unmittelbar auf das Anfangsglied folgt.
14.
Aus dem Obigen erhellt, dass q immer entweder in der Form
2m\ — m\ oder in der Form m\ — 2m 2 o darstellbar ist. Es lässt sich aber
auch zeigen, dass q weder auf mehr als eine Weise in derselben Form noch
zu gleicher Zeit in beiden Formen darstellbar ist. Denkt man sich
nemlich in der Periode des negativen Kettenbruches noch einen Theil-
nenner bk und setzt b\, 6* = l\; 6i, ftk-i = / , so ist es nicht möglich,
dass q = m\ — 2m\ = V x — 2/S oder q = 2m\ — m* o = 2/* — P oder
q = m\ — 2m 9 = 2/ ! — C oder 9 == 2m \ ~ < = K — 2 C
Man nehme nemlich an , der positive Kettenbruch , welcher = VA
ÜBER DIE EIGENSCHAFTEN DER PERIOD. NEGATIVEN KETTENBRÜCHE. 35
ist, habe die Form (a, a i9 a 2 . ..)• -Ist nun q = tn\ — 2i»*, so muss, wie
oben gezeigt wurde , b u > 2 seyn , dieser Theilnenner muss also aus einem
Theilnenner a* des positiven Kettenbruches entsprungen seyn, welcher in
einer ungeraden Stelle steht , so dass b u = at -f- 2. Alsdann ist (§. 4)
1 ! [b, b x . . . 6«-i] = (ö, a x . . . a*-i)
[6, 6i . . . b u - — 1] = (a, «i . . . a*)
und 6, ftu-i = a, aA-i; 61, b u -i = «i, w-i, ferner a, an der Zähler, o lf 04
der Nenner des reducirten Bruches, welcher den Werth von [b, bi...b u — 1]
ausdrückt. Aus ' ™ = 6 — ?--
61 , b u *i —
Ä--
6*-l + T
folgt aber *!■£ = *, <»A + a, *a-i
also m l = b\,b u = ai,a4 + ai,öA-i, zugleich ist «10 = 61,6!,- 1 = a l9 04-1»
also q = (« t , «4+ a lt a*-i) 2 — 2(ai, a*-i) 2
Wäre nun ausserdem q = /J — 2/£ , so müsste auch bk > 2 und
mithin aus einem in ungerader Stelle stehenden Theilnenner o» des positiven
Kettenbruches entsprungen seyn. Man fände also durch Wiederholung
der vorhergehenden Betrachtung l\ =s a x , o» -f- «i * öi- 1 ; ^> = »i , <*»- 1 und
(«1. «tt+fli. öÄ-1) 2 — 2(ä 1 ,ö A .i) 2 = (ai,ai + öi, Oi-i) 2 — 2(ai,Oi.i) 2
d.h.
40) ai, aX+20!, a*. a lt a^-i — «i, «i-i = «1,0« 4-2«!, a*. a t , a*-i — «i. <tf-i
Diese Gleichung kann aber nicht bestehen , wenn nicht A = • also Ar = c#
1
ist. Ist nemlich nicht A = i\ so sey h die grössere der zwei Zahlen A
und 1. Im günstigsten Falle wäre also i = A — 1 und a lv o t - = a 1 , 04-1;
«1, fli-i = «1, öA-2. Nun ist aber (ai, a*) 2 == (04-01. <U-i + «i> öA-2) 2 ,
also selbst im ungünstigsten Falle, wenn an = 1 noch immer
(»l , ö*) 2 > öi , «2-i + 2a lf ö/k-i . <*! , 0*-* und um so mehr ><*!, n» ? + 2«i, <* . «i, «i-i,
nun ist auch ai, a*.ai, OA-i>ai, ajUi, also kann die Gleichung 40) nicht
bestehen.
E2
36 M. A. STERN,
Ist q = 2m\ — m*, so muss 6«-f-i]>2 seyn, also muss b u +i aus
einem Theilnenner ah+i der positiven Periode entsprungen seyn, welcher
in ungerader Stelle steht. Man hat mithin
[6, bi . . . b u ] = (a, «i . . . ak)
woraus b\, b u = a lv a* folgt, zugleich ist nach Form. 11)
b\, b u — 6i,6„-i = Oi» 0A-.1.
Da nun 2m] — m* = (2m x — m ) 2 — 2 [m\ — m ) 2 so findet man
q = (26i. 6«-6i, 4b.i)* — 2^, 6 M -6i, 6*-i) 2
oder
9 = (ai, «A+ai, ajk.i) 2 — 2(öx, a*-i) 2
Hätte man nun zugleich q = 2/| — /* , so müsste wieder die Glei-
chung 40) statt finden, deren Unmöglichkeit bewiesen worden ist. Auf
dieselbe Weise ergiebt sich auch die UnStatthaftigkeit der zwei noch
übrigen Annahmen in Beziehung auf die Darstellung der Zahl q. Es
folgt mithin , dass q nur in einer der Formen m] — 2m % oder 2m* — m*
und nur in einer Weise darstellbar ist, und man kann mithin, nach
der Beschaffenheit von q , alle Zahlen , deren negative Periode einen zum
Mittelgliede gehörenden vollständigen Quotienten mit dem Nenner 2 hat,
in zwei Klassen theilen. Im Folgenden soll eine solche Zahl zur ersten
oder zweiten Klasse gerechnet werden , je nachdem q = 2m" — m* oder
q = m] — 2m* ist
15.
Wenn q l = 2q und q = 2m\ — m* , so folgt aus der Gleichung
v q 2m\—ml
Da nun « = 2 , so folgt aus 35) und 39)
gi = 2mx»i — m »o
also
2 , _ (2roi »i — m n f — 2
zm % — m
Setzt man, mit Rücksicht auf (#io»i — Wi«o) 2 = *> s^t dessen
2o i _ (2m!»! — m fi ) 2 — 2 {m n x — min ) 2
P 2m] — ml
ÜBER DIE EIGENSCHAFTEN DER PERIOD. NEGATIVEN KETTENBRÜCHE. 37
so folgt hieraus unmittelbar
V = &:-•:
Aus p 2 — Aq 2 = 2 und p =s bq — q l folgt aber
41) A = _ ^^ 9 _ ■*V_-8«f l +V
« « » ■■ »■
Sub8tituirt man hier die eben gefundenen Werthe von , q 1 und 2p 1 und
setzt zugleich 2m* — m* statt q t so erhält man
A ^ 2(fan;-»i) 2 -(fa%-^) 2 _ 2JV^-iV:
9 9
Setzt man nun
2iVm 1 4- N m m Nmp + N mi
9 9
so ist -4 = a£ — 2y 2 . Ferner ist
ml(2W-Nl) -2(mlN*-m\Ni) = N* q
Da nun, wie der Werth.von A zeigt, 2N 2 — 2V^ durch q theilbar ist,
also auch m'iV 2 — m\Nl und zugleich N mi — iVnio = 1, so ist auch
Nm + iVoMi durch q theilbar, mithin y und folglich auch x eine
ganze Zahl.
Ist noch immer q l = 2q , aber y = m) — 2m* , so hat man
2„. = -£=*-
F -i'— 2m!
und da nun « = 1 , so ist q 1 = «i 1 »i — 2ff»o»o und hieraus findet man
2pi = < — 2<.
Substituirt man wieder diese Werthe von q, q 1 , 2p 1 in die Glei-
chung 41), so ergiebt sich
_ JV» — 2N*
Setzt man
_ Nm 1 + 2iV iw . JVq»» 1 + ^«"o
so hat man wieder A = a? — 2j^ und da
m\ (JV* — 2iV' ) — 2 (A/X — 2VX) = iV»?
38 M. A. STERN,
und N 2 — 2N* durch q theilbar ist, so ist auch N m\ -f- Nm durch q
th eilbar, also y und mithin auch x eine ganze Zahl.
Alles dies gilt für die Voraussetzung q l = 2q , woraus q\ — 2 = 2pq l
folgt. Ist q l = 2q — q oder q\ = q l (2q — q) , so folgt , da zugleich
_ 2 = 2 (p 1 ? — qoq 1 ) , q\ — 2 = q (2p* — gl). Der Werth von q\ — 2
stimmt also mit dem früheren fiberein , sobald man 2p l — q l statt 2p l
setzt. Nun behalten q und q l dieselben Werthe wie frfiher und 2p 1 — q l
nimmt denselben Werth an, welchen frfiher 2p l hatte, es bleiben also
auch die Formeln für A dieselben wie frfiher.
16.
Es sind ' — — , — — ** *" die vollständigen Quotienten, welche
bezüglich zu b u und bu+i gehören, auch hat man (§.3)
tu = iViVo — A.m l tn ; d u = N 2 — Am\.
2JV 2 N*
Gehört nun A zur ersten Klasse (§. 14) f so dass mithin A = 5 — 5 2.
*m x — tn o
so ist
i - XN 2N2 -Nl » m (2iVmi + N m ) (Noßt - JVw )
oder tu = ^-^ — 5^?. Ebenso findet man d« = — -5-^ — ^-i..
q q
Vergleicht man dies mit den oben gefundenen Werthen von x und y,
so sieht man, dass
iu = x\ du = y
mithin A = ofi — 2y 2 = £ — 2# und da (Form. 6) ^ = £ — dy-idy, so
muss mithin d*-i = 2d M seyn.
Ebenso findet man , wenn A zur zweiten Klasse gehört ,*, = #,
^J =4 — du-xdu, demnach d«-i = g- = y
und A = il — 2di«i, womit der in §.13 ausgesprochene Satz bewie-
sen ist.
ÜBER DIE EIGENSCHAFTEN DER PERIOD. NEGATIVEN KETTENBRÜCHE. 39
Aus 4-1 + 4 = 6«,<4-i und 4 + 4+ 1 = b u +idu folgt
4-i — 4+i = 6«,<4-i — 6*+it4.
Gehört nun A zur ersten Klasse, so folgt hieraus
4-i — 4+i = (26* — -6*+i)<4.
Es ist aber (§. 13) entweder 6«+i = 26«— 1 oder 6«+i = 26«. Im
ersten Falle ist daher 4-i — 4+i = <4, im zweiten 4-1 = 4+i.
Gehört dagegen A zur zweiten Klasse , so ist entweder 6« = 26«+ 1 — 1
oder b u == 26«+ 1, zugleich ist
4+i — 4-i = (26*+i — 6«) (4-i.
Im ersten Falle ist also 4+i — 4-i = <4-i, im zweiten 4-i = 4+i.
Ist 4-i = 4+i , so wird zugleich i4+i = 2<4-» oder <4- 2 = 2<4+i, je
nachdem A zur ersten oder zur zweiten Klasse gehört. Denn man hat
(Form. 7)
42) i4+i — <4-i = 6«+i (4+i — 4)
43) du — <4-» = 6n(4 — 4-i). v
Nun ist, wenn A zur ersten Klasse gehört, 6«+i = 26« und zugleich
d«_i = 2<4. Man hat daher in diesem Falle
2*4 — 2<4-2 = 6„+i(4 — 4-i).
Addirt man diese Gleichung zu 42), so folgt mithin
<4+i = 2<4-*.
Gehört A zur zweiten Klasse, so dass 6« = 26«+i und zugleich
2<4.i = du, so folgt aus 42)
2i4+i — du = 6«(4+i — 4)
und wenn man diese Gleichung zu 43) addirt, so erhält man (4-2 = 2<4+i.
Mit Rücksicht auf die Beschaffenheit der Zahlen 4-i und 4+i
lisst sich also jede Klasse nochmals in zwei Abtheilungen theilen. Zur
zweiten Abtheilung sollen die Zahlen gerechnet werden, bei welchen
4*1 = 4+1 ist, zur ersten die übrigen.
17.
Unter den Zahlen von 1 bis 1000 gehören
zur ersten Klasse, die Zahlen: 71, 94, 103, 127, 151, 238, 263, 271,
40 M. A. STERN,
311, 343, 386, 391, 431. 478, 503, 542, 622, 631, 647, 679, 718, 734, 862,
863, 866, 911, 919, 926, 958, 967, 974
zur zweiten Klasse, die Zahlen: 7*), 31,46, 158, 191, 199, 206, 239,
302, 334, 367, 382, 383, 446, 463, 479, 487, 511, 526, 599, 607, 686, 706,
719, 748, 751, 766, 802, 823, 878, 887, 983, 991.
Nach dieser Zählung gehören zur ersten Klasse 31 Zahlen und zur
zweiten 33. Es ist also schon hiernach zu vermuthen, dass sich die
Zahlen, unbegrenzt gedacht, gleichmässig unter den beiden Klassen ver-
theilen. Ich habe aber schon früher bemerkt, dass es, wenn man aus
solchen Abzahlungen Schlüsse ziehen will, richtiger ist nur die Stamm-
zahlen zu berücksichtigen **). Thut man dies auch hier, so sind in
der ersten Klasse die Zahlen 238, 503, 866 und in der zweiten die
Zahlen 158, 383, 706, 887, 983 auszuscheiden, so dass in beiden Klassen
28 Zahlen bleiben.
Wenn die Zahlen, von welchen hier die Bede ist, in Beziehung
auf die gleichwertigen positiven Kettenbrüche betrachtet werden,
so zerfallen sie in drei Klassen***). Diese drei Klassen müssen sich
also unter den zwei, zum negativen Ketten brache gehörenden, vertheilen
und in der That findet man in jeder dieser zwei Klassen Zahlen aus
den drei zum positiven Kettenbruche gehörenden Klassen. So z. B.
kommen in der ersten zum negativen Kettenbruche gehörenden Klasse
die Zahlen 71, 94, 311 vor,, von welchen die erste, zweite, dritte, be-
züglich in der dritten, zweiten, ersten, der zum positiven Kettenbruche
gehörenden Klassen enthalten ist.
Die dritte Klasse habe ich a. a. O. auf folgende Weise charakterisirt.
In dem positiven Kettenbruche der zu dieser Klasse gehörenden Zah-
len kommen immer vier auf einander folgende vollständige Quotienten
*) Eigentlich gehört die Zahl 7, wie oben (§. 13) bemerkt worden ist, zu keiner
der beiden Klassen; ich rechne sie zur zweiten, weil die Nenner der beiden
ersten vollständigen Quotienten 1 und 2 sind, also der Bedingung du=2d u -i
genügen.
**) Crelle's Journ. f. d. Math. Bd. 53. p. 69.
***) Ebend. p. 82.
ÜBER DIE EIGENSCHAFTEN DER PERIOD. NEGATIVEN KETTENBRÜCHE. 41
VA+L., VA+U., YA+U VA+L+, T0 a|M welchen Ach
die Theilnenner o*-i, o*> o,+i, a*+t ergeben* so dass a s = a*+i = 2
und A-i+I), =^2/, = /..i+/if u ft-i + A+ii A-i+A, wäh-
rend zugleich /*-i + / 4 = 2D»_i ; / 4 + / 4 + 1 = 2D t . Es ist hieraus leicht
zu schliessen, dass die Zahlen . dieser \Klasse immer in der zweiten
Abtheilung der zum negativen Kettenbruche gehörenden Klassen ent-,
halten sind, und zwar der ersten oder zweiten Klasse, je nachdem a %
in einer geraden oder ungeraden Stelle steht. Im ersten Fälle nemlich
entspringt aus a % in dem negativen Kettenbruche der Theilnenner 2,
während aus dem folgenden a*+i in der negativen Periode der Theil-
nenner 4 entspringt. Im zweiten Falle dagegen entspringt in der nega-
tiven Periode aus a % der Theilnenner 4, aus 0*4-1 der Theilnenner 2.
In der negativen Periode finden sich also im ersten Falle die unmittelbar
auf einander folgenden Theilnenner 2, 4 , im zweiten Falle dagegen 4, 2 ;
jedenfalls soll die erste dieser Zahlen 6«, die zweite b u +i heissen, so dass
entweder bu+i = 2b u oder b u = 2b u +i- Nun sind die vollständigen Quotien-
ten, aus welchen b u und 6 M +i entspringen, bezüglich 7* lt ?" 1 und
ÖM-l
l/~A -4- iu
J— ?. Da aber im ersten Falle a* +1 in einer ungeraden Stelle
du
steht, so ist, nach Form. 12) und 13)
du =sa Dk; iu — /»+ D %
ferner nach 15) und 16) 1 • ■<■
%u+i=L+i+D 9 ; du-i = A + 2/. — D>- t
und da »a-i-f-f« = b u du~i = 2d^-i,' so folgt, wenn man die eben ge-
fundenen Werthe von k und <&-i sübsfiituirt,
fu-i =D.-f3/;-^20,-i
also iu+i — »M-i == i»+i— -3/»-f-2D*-i oder da 2£,.i = /,.i-f-/ 4 (nach
Form. 1)
also da 2/, = /,|i-f /,.i
Mathem. Classe. XII. F
42 M. A. STERN,
Nun ist auch 27, — D»-i = /),, also d^_i -= 2D» = 2rf„, d. h. die
Zahl A gehört zur zweiten Abtheilung der ersten Klasse.
Steht dagegen a» in einer ungeraden Stelle, so ist
du-i = D*-i; i u - t = / 4 .i + D 4 .i; §„=:/, + D..J
und nach Form. 17)
du = 2/, + D,.!— D %
also
t*+i = 6«4.i4i — Im = 2d« — t* = 3/ s -+-D f _i — 2D»
und da 2D, = /. + /,+i
»«+1 = 2/ s — /»+i + /)»-i
also
•m+i — »«-i = 2/, — /*-i — /*+i
d. h.
Da ferner 2/ f — D % = Z)*-i, so ist zugleich
du = 2D,-i = 2(^.1.
* •
Die Zahl A gehört demnach zur zweiten Abtheilung der zweiten
Klasse. Man darf aber diesen Satz nicht umkehren. Es giebt nemlich
Zahlen, bei welchen die Gleichungen t*-i =»m+i und d«-i = 2d* oder
du = 2d«-i statt finden, und welche dennoch nicht in der dritten zum
positiven Kettenbruche gehörenden Klasse enthalten sind. Dies ist z. B.
bei der Zahl 311 der Fall, bei deren negativen Periode die Zähler
f«-i = 21, »„ = 19, in-|.i = 2l mit den entsprechenden Nennern d»-i == 10,
d u = 5 vorkommen , obgleich diese Zahl in der ersten zum positiven
Kettenbruche gehörenden Klasse enthalten ist.
18.
Aus der Gleichung p 2 — Aq 2 = 2 folgt , dass g ungerade ist. Da
nun q = 2m* — m* qdex m\ — 2m* ist , so muss im ersten Falle mo und
im zweiten m\ ungerade seyn. Setzt man 2m m 1 =^, und je nachdem
A in der ersten oder zweiten zum negativen Kettenbruche gehörenden
Klasse enthalten ist , a = 2m\ -f- m* oder a = m* + 2m* , so ergiebt sich
in jedem Falle aus den in §. 14 gefundenen Werthen von x und y die
Gleichung ay - ßx = l.
ÜBER DIE EIGENSCHAFTEN DER PERIOD. NEGATIVEN KETTENBRÜCHE. 43
Da nun ß gerade ist, muss y ungerade seyn und da y = d« oder
<k-i, je nachdem du-i = 2du oder du = 2du~i, so heisst dies: von den
zwei Zahlen d«-i und du muss immer die kleinere ungerade seyn.
Ich lasse noch zur bequemeren Veranschaulichung eine Tafel folgen,
welche für alle Zahlen von 1 bis? 100, die keine Quadratzahlpn sind,
die zugehörigen negativen Kettenbrüche enthält. Die Einrichtung der
Tafel ist der des bekannten Degen'schen Werkes Canon Pellianus
ähnlich, nur ist noch eine Colurane Ipnzugekommen , so dass zu jeder Zahl
drei Columnen gehören; die erste Columne enthält die Theilnenner bis
zum mittleren oder bis zu den beiden mittleren einschliesslich , die zweite
(welche bei Degen nicht vorkommt) die- Zähl» und die dritte die Nenner
der zugehörigen vollständigen Quotienten.
, «• »^* *•*— .
■*.#■* **• ' , t ■ -«* ,.*•'- «-. r -f i ■ » tt*. X IW
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F2
44
M: A. 8TERN,
*2, (2)
0, 2
1,2
2,4
0,2
1, 1
3, 2, (2)
0, 8, 6
1,4,6
! )
83,(2)
0, 3
1,8
3,(3)
0, 3
1,2
8
3, 6
0, 3
1,1
11
**•+
*•
m>
mrmm*
|l95, 2, 3, (2, 2)
0, 5, 7, 8, 10
1, 6, 5, 9, 9
104, 2, 2, (2)
0, 4, 8, 10
1, 6, 9, 10
4, (2, 2)
0,4,6
1,5,5
11
15
«5,2, 2, 2,(2)-
<Vfi, 11, 15, 17
1,8, 13, 16, 17
18
pmmmmm^mf^tmmmmtmmm
91
4,(4)
0, 4
1,2
4,8
0,4
1,1
5, 2, (2)
0, 5, 9
1,7,9
mm
**
5,(2)
0, 5
1,5
5, 3, (2)
0,5,7
1,4,7
5, 4, 2, (2)
0, 5, 7, 11
1, 3, 9, 11
19
4,(2)
|0, 4
1,4
93
5,(5)
0, 5
1,2
134, 3, 3, 2, 2, (2)
0, 4, 5, 7, 11, 13
1, 3, 4, 9, 12, 13
94
5, 10
0, 5
1, 1
Ober die Eigenschaften der period. negativen kettenbrüche. 45
17
«, S, 2, 2, 2,(2)
0, 6, 14, 20, 24, 26
1, 10, 17, 22, 26, 26
6, 2, (2, 2)
0, 6, 12, 14
1, 9, 13, 13
-t
1
7
2, 2, 2, 2, 2,(2)
7, 17, 25, 31, 35, 37
12, 21, 28, 33, 36, 37
2, 2,(2)
7, 16, 19
11, 17, 19
6,2, 2,(4)
0, 6, 10, 8
1,8, 9,4
7
2,(2)
7, 18
10, 13
v«
ih
6,2, 8,4, 2, 2, 2, 2,(2)
0, 6, -8, 7, 9, 17, 83, 27, 29
1, 7, 5, 4y43, 20, «6, 28, 29
7
(2,2)
7, 11
9, 9
6,(2)
0, 6
1,6
r .
• • '
7
2, 4, 2, 2, 2, 2_ 2,. (2>^
7, 9, 11, 21, 29^86, 89, 41
8, 5, 16, 25j.82i 37, 40,. 41.:
t».
■t
31
SS
34
35
6, 8, 2, 2, (7)
0, 6, 9, 11, 7
1, 5, 10, 9, 2
<•»
M2>
0,7 .
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» » . ■
6,<8)
0, 6
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7,3, 2, 2, 3, 2,(2,2)
0, 7, 11, 15, 13,14,20, 22
1, 6, 13, 14, 9, II, 21, 2*
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0, 6
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7, 3, (4)
0,7,8
1,5,4
6,(«)
0,6
1,*
15
6, 12
0, 6.
1, 1
«6
*»
7, 4, (2)
0,7,9
1,4,9
7,5,3, 2,(8)
0, 7, 8, 10, 8
1,3,6, 9,2
46
M. A. STERN,
47
48
50
51
7,
(7)
o,
7
1,
2
7,
14
0.
7
1,
1
8, 2, 2, 2, 2, 2, 2,(2)
0, 8, 20, 30, 38, 44, 48, 60
1, 14, 25, 34, 41, 46, 49, 50
58
59
80
52
53
8, 2, 2, (2, 2)
0, 8, 18, 24, 26
1, 13, 21, 25, 25
8,3, 3, 3, 2, 2, 2, 2, 2, 2,(2)
0,8, 10, 11, 16, 28, 38, 46, 52, 56*58
1,6, 7, 9, 22> 33, 42, 49, 54, 57,58
8, 4, 2, 2, (2, 2)
0, 8, 12, 22, 28, 30
1, 5, 17, 25, 29, 29
8,(4)
0, 8
1,4
61
8, 2, 2, 2, 3, (2)
0, 8, I6j 18} 14, 13
1, 12, 17, 16, 9, 13
62
Itte^Mta
54
55
8, 2, 2, 3, 5, 2, 2, 2, 2, 2, 2,
0, 8, 14, 12, 9, 1 1, 23, 33, 41, 47, 51, 53
1, 11, 13, 7, 4, 17, 28, 37, 44, 49,52, 53
(2)63
8, 2, 3, 2, 2, (2)
0, 8, 12, 15, 23, 27
1, 10, 9, 19, 25, 27
56
8, 2, (4)
0, 8, 10
1,9, 5
8,6, 2, 2, 8, 2, 4,5, 2, 2, 2, 8, 2, 2, 2, 2, 2, 2,(2)
0^,10,l«jl:4,I9,H,*»H,19,21,17,19,31 ) 4M9,66,69,61
1,3,18,16, 9,12,' 5,4,15,20,19,12,26,86,46,62,67,60,61
65
l
08
8, 2
0, 8
1,8
«
i »
8,(8)
0, 8
1,2
8, 16
0, 8
1, 1
9, 2, 2, 2, 2, 2, 2, 2, (2)
0, 9, 23, 35, 45, 53, 59, 63, 65
1, 16, 29, 40, 49, 56, 61, 64, 65
;
57 8, 3, 2, (2)
0, 8, 13, 19
1, 7, 16, 19
68
9, 2, 2, 2, (2)
0, 9, 21, 29, 33
1, 15, 25, 31, 33
9, 2, 2, 2, 2, 4, 3, 2, 2, (2, 2)
0, 9, 19, 23, 21, 13, 11, 16, 26, 32, 34
1, 14, 21, 22, 17, 6, 9, 21, 29, 33, 33
9, 2, (2)
0, 9, 17
1, 13, 17
ÜBER DIE EIGENSCHAFTEN DER PERIOD. NEGATIVEN KETTENBRÜCHE. 47
68
9, 2, 2, 5, (6)
0, 9, 15, 11, 9
1, 12, 13, 4, 3
79
80
9, (9)
0, 9
1, 2
70
9, 2, 3,(2)
0, 9, 13, 14
1, 11, 9, 14
9, 18
0, 9 - :. !■: ."..:
1, 1 .''. ■•-■ .'." .' ': ■
71
9, 2, 4,(9)
0, 9, 11, 9
1, 10, 5, 2
82
10, 2, 2, 2, 2, 2, 2, 2, 2, (2)
0, 10, 26, 40, 52, 62, 70, 76, 80, 82
1, 18, 33, 46, 57, 66, 78, 78, 81, 82
72
9, (2)
0, 9
1, 9
83
10, 2, 2, 2, (2, 2)
0, 10, 24, 34, 40,: 42
1, 17, 29, 37, 41, 41
73
9,3, 2, 2, 2, 2, 7, 3, 2, 2, 2, 2, 2, 2, 2,(2)
0, 9, 15, 23, 25, 21, 11, 10, 17, 31, 43, 53,61,67,71,73
1,8,19,24,23,16, 3, 9,24,37,48,57,64,69,72,73
84
85
86
10, 2, 2, (2)
0, 10,.22, 28
1, 16, 25, 28
74
9,3, 3, 2, 2, 2, 2, 2, 2, 2,(2)
0, 9, 12, 18, 32, 44, 54, 62, 68, 72, 74
1, 7, 10, 25, 38, 49, 58, 65, 70, 73, 74
10, 2, 2, 2, 3, 6, 2, 2, 2, 2, 2, 2, 2, &(B)
0, 10, 20, 22, 16, 11, 18, 29, 48, 65, 65, 78, 79;88, 85
1,15,21,19, 9, 4,21,86,49,60,69,76,81,84,86
75
9,(3)
0, 9
1,6
10, 2, 2, 3, 3, 2, 2, 2, (2)
0, 10, 18, 16, 14, 19, 31, 39, 43
1, 14, 17, 10, 11, 26, 35, 41, 43
76
9, 4, 3, 2, 2, 2,: 2, (6)
0, 9, 11, 16, 24, 26, 22, 12
1, 5, 9, 20, 25, 24, 17, 4
87
10, (2, 2)
0, 10, 16
1, 13, 13
77
9, 5, (2)
0, 9, 11
1, 4, 11
88
89
10, 2, (3, 3)
0, 10, 14, 13
1, 12, 9, 9
78
9,(6)
0, 9
1,3
10, 2, 5, 2, 2, 4, 2, 2, 2, 2, 2, 2, 2, 2,(2)
0,10,12,18,19,15,17,88,47,59,69,77,88,87,89
1,11, 5,16,17, 8,26,40,58,64,73,80,85,88,89
48 M.A. STEEN, ÜBER D. EIGENSCH. D. PERIOD. NEGAT. KETTENBRÜCHE
90
10, (2)
0, 10
1, 10
Ol 10, 3, 2, 2, 2, 2, (3)
0, 10, 17, 27, 31, 29, 21
1, 9, 22, 29, 30, 25, 14
10, 3, 2,(6)
0, 10, 14, 12
1, 8, 13, 4
»3
10, 3, 6, 2,. 2, (2)
0, 10, 11, 13, 25, 31
1, 7, 4, 19, 28, 31
94
95
10, 4, 2, 2, 3, 7, (10)
0, 10, 14, 20, 16, 11, 10
1, 6, 17, 18, 9, 3, 2
96
10, (4)
0; 10
1, *
10, (5)
0, 10
1, 4
97
10, 7, 3, 3, 3, 2, 2, 2, 2, 3, 2, 2, 2, 2, 2, 2, 2, 2, (2)
0, 10, 11, 13, 14, 19, 29, 33, 31, 23, 25, 41, 55, 67, 77, 85, 91, 95, 97
1, 3, 8, 9, 11, 24, 31, 32, 27, 16, 33, 48, 61, 72, 81, 88, 93, 96, 97
98
10, (10)
0, 10
1, 2
99
10, 20
0, 10
1, 1
pL
ABHANDLUNGEN
DER
fflSTORISCH-PfflLOLOGISCHEN CLASSE
DER
KÖNIGLICHEN GESELLSCHAFT DER WISSENSCHAFTEN
ZU GÖTTINGEN.
ZWÖLFTER BAND.
Ulst.-PhUol. Claue. XU.
Ueber
eine sächsische Kaiserchronik und ihre Ableitungen
Von
G. Waitz.
(Der Königl. Gesellschaft der Wissenschaften vorgelegt am 1. Augast und 7. November 1863.)
beit längerer Zeit ist man aufmerksam geworden auf Nachrichten über
die deutschen Könige besonders des lOten und Uten Jahrhunderts, die
bei den älteren Historikern sich nicht finden, aber gleichartig in meh-
reren, namentlich sächsischen Chroniken des 12ten und 13ten Jahrhun-
derts begegnen und auf eine gemeinschaftliche Quelle schliessen lassen.
Sie tragen vielfach einen sagenhaften Charakter an sich, scheinen aber
doch von den verschiedenen Autoren die sie geben nicht unmittelbar aus
dem Munde des Volks geschöpft zu sein: mehrere stimmen auch in den
Worten so unter sich überein, dass ein verwandtschaftliches Verhältnis
nicht verkannt werden kann, ohne dass sich dies aber bisher mit Sicher-
heit bestimmen Hess.
Neuere Untersuchungen und einzelne glückliche Entdeckungen haben
hier wohl weitere Aufklärung gebracht. Doch erledigt ist die Sache
nicht, und gerade was zuletzt dargelegt worden ist, hat sich mir bei
einer näheren Prüfung nicht bewährt, so dass es nothwendig erschien,
genauer auf den Gegenstand einzugehen, das Verhältnis der verschiede-
nen in Betracht kommenden Werke zu bestimmen und der Quelle der
vorliegenden Ableitungen , soweit es möglich war , nachzuspüren. Ich
nehme damit einen Gegenstand auf, der mich schon vor mehr als 25
Jahren beschäftigt hat und dem ich immer eine Ausfährung zu geben
gedachte l ).
1) Vgl. Jahrbücher K. Heinrich I. Erste Bearbeitung S. 158 N. 2.
A2
4 G. WAITZ,
Die Werke auf welche es hauptsächlich ankommt sind der soge-
nannte Annalista Saxo (Monumenta SS. VI), die Annales Palidenses (ebend.
XVI), die Sachsen- oder sogenannte Repgowsche Chronik (herausgegeben
von Massmann, und nach anderer Handschrift von Schöne; als Lünebur-
ger Chronik bei Eccard Corp. hist II) ; eine Weltchronik in einer Königs-
berger Handschrift von Giesebrecht benutzt; Eberhards von Gandersheim
Reimchronik; die Chronica Saxonum, von welcher Henricus de Hervordia
längere Stücke mittheilt. Dazu kommen andere aus diesen abgeleitete
Autoren.
Die Ansicht welche zuletzt von Giesebrecht (Kaisergeschichte I,
3. Aufl. S. 794 ff. ) dargelegt worden ist , geht dahin : in Sachsen oder
Thüringen sei eine Weltchronik geschrieben, die aus verschiedenen
Quellen compiliert, namentlich auch eine Aufzeichnung sagenhafter Art
in sich aufgenommen habe, welche selbst schon dem Anfang des 12ten
Jahrhunderts angehörte und sowohl von dem Ann. Saxo wie den Annales
Palidenses benutzt ward: jene Weltchronik sei, abgesehen von einigen
Abkürzungen, in der Königsberger Handschrift wörtlich abgeschrieben;
aus eben derselben sei die Repgowsche Chronik übersetzt, die um des-
willen selbständigen Werths entbehre. Das Verhältnis wäre:
A (ursprüngliche Aufzeichnung).
Ann. Saxo. Ann. Palid. S. Weltchronik.
Königsberger Repgowsche Chronik.
Weltchronik.
Damit stimmen unter den Neueren Pertz in der Ausgabe der Annales
Palidenses und Schöne in der Ausgabe der Repgowschen Chronik jeden-
falls insofern nicht überein, als sie einen Text der, letzteren (den der
Gothaischen Handschrift, bei Eccard unter dem Namen der Lüneburger
Chronik), wenigstens theilweise , als Bearbeitung oder Uebersetzung der
Annales Palidenses betrachten. Es erheben sich aber gegen jene Auf-
fassung überhaupt die erheblichsten Bedenken.
Da der Annalista Saxo nur einzelne kürzere hier einschlagende Nach-
richten enthält, die zur Vergleichung mit den späteren Werken nur ge-
ÜBER EINE SÄCHSISCHE KAISERCHRONIK UND IHRE ABLEITUNGEN. 5
ringe Anknüpfungspunkte bieten , so ist auszugehen von einer Betrachtung
der Annales Palidenses. Ich habe neben der Ausgabe auch die Hand-
schrift der hiesigen Bibliothek benutzt, welcher Pertz folgte und die allein
das wichtige Werk erhalten hat.
Beruhend auf einer der Recensionen der weitverbreiteten Chronik
des Ekkehard von Aura (dem Text E. , der durch Zusätze aus Sigebert
erweitert ist) , haben diese Annalen aus verschiedenen anderen Quellen,
wieder dem Sigebert wie es scheint, Annalen des Klosters Rosenfeld
u. 8. w. , manches hinzugefügt , namentlich aber auch jene Nachrichten
aufgenommen, die durch ihren sagenhaften Charakter die Aufmerksam-
keit auf sich ziehen und auf einen sächsischen Ursprung hinweisen : sie
begegnen hier ausführlich und in einer Gestalt die wir allen Grund haben
als der ursprünglichen Aufzeichnung nahe stehend zu betrachten. Denn
einmal hat der Verfasser der Annalen überall wo wir ihn mit Ekkehard
oder anderen erhaltenen Quellen vergleichen können ihre Berichte wört-
lich wiedergegeben; und es hat also wenigstens alle Wahrscheinlichkeit,
dass dasselbe auch da geschehen wo eine solche Cortrole unmittelbar
nicht möglich ist. Dann aber zeigt sich in den Stellen die eben auch
der Ann. Saxo hat eine so gut wie wörtliche Uebereinstimmung , während
es hinlänglich bekannt ist, dass dieser Autor seine Gewährsmänner auch
dem Ausdruck nach getreu ausschrieb, an eine Benutzung der Annales
Palidenses selbst bei ihm aber in keiner Weise gedacht werden kann,
er auch schon entschieden um ein Erhebliches früher gesetzt werden muss.
Ein Beispiel wird das Verhältnis deutlich machen.
Ann. Saxo S. 608.
et Mediolanenses subjugans, monetam eis
innovavit, qui numeri usque hodie Ottelini
dicuntur.
(vorher)
Cui iter agenti mulier quedam occurrit,
de raptore suo, quod ei vim intulisset, que-
rimoniam movens. Cui rex ait: 'Revertens
A. Pal. S. 63.
Sic Otto rex Transalpinam peragrans regio-
nem, Mediolani innovavit monetam, qui
numeri adhuc hodie Ottelini dicuntur. . . .
Deinde Mediolanenses rebelies facti, mo-
netam regis inhoneste refutantes, ipsam
rarius evocarunt. Quo cum iter dirigeret,
mulier quedam de raptore suo, quod sibi
vim intulisset, querimoniam movit. Cui
rex ait: 'Revertens ad te, vita comite inju-
6
G. WAITZ,
ad te, vita comite, injuriam tuam meam
reputabo'. Qua dicente, eum oblivioni tra-
diturum, ipse ecclesiam digito demcrastrans,
dixit, hanc fore notam memorie.
Quanto cicius itaque reditus innotuit, ita
quisque cum alio stabili fide concordavit,
ut nichil rex ad judicandum inveniret. In-
tuens autem ecclesiam prefatam memorque
mulieris, hanc sibi presentari et querimo-
niam suam prosequi imperavit. Ula autem,
que statim post accusationem factam rap-
tori suo legitime juncta per ipsum filios
genuerat, modo de ipso nichil querebatur.
Econtra rex affirmat per barbam Ottonis
— quod suum jurasse fuit — , raptorem
prejudicatum de illa sua bipenni sapere de-
bere. Ilico peticionem inplevit non volentis,
benefecit invite, judicavit ingrate.
riam tuam meam reputabo'. Qua dicente,
eum oblivioni traditurum, ipse ecclesiam
digito demonstrans, dixit, hanc fore notam
memorandi. Quid plura? — Postea Medio-
lanenses velut ab inicio subigens, ad hoc eos
coegit, ut, quia monetam ejus in metallis
contemserant , quidquid veteris corii de
bursis vel ocreis habere (-i?) potuit, solum-
modo inpresso numismate, argentum inde ab
ipsis emi paterentur. Quibus sie humiliatis,
denuo in hanc Galliam reflexit iter. In cujus
absentia ubique terrarum eis Alpes pace
turbata, violentie et fraudes publice sub-
intrayerant. Quanto citius itaque reditus
ejus innotuit, ita quisque cum alio stabili
fide concordavit, ut nihil rex ad judican-
dum inveniret. Intuens autem ecclesiam
prefatam, memorque mulieris, hanc sibi
presentari et querimoniam suam prosequi
destinavit. Ula autem, que statim post
accusationem factam raptori suo legitime
juncta per ipsum filios genuerat, modo de
ipso nil nisi bonum asserebat. Econtra
rex affirmabat per barbam Ottonis — quod
suum jurasse fuit — , raptorem prejudica-
tum de illa sua bipenni sapere debere. Ilico
petitionem implevit non volentis. Benefecit
invite, judicavit ingrate.
Der Annalista hat offenbar nur einzelne Stücke einer zusammen-
gehörigen Erzählung aufgenommen, welche die Ann. Palid. vollständig,
wenn auch vertheilt unter mehrere Jahre, geben. Soweit aber die Ueber-
einstimmung reicht, ist sie eine so gut wie wörtliche.
Das hier dargelegte Verhältnis zwischen dem Ann. S. und den A.
Fal. ist übrigens an sich nicht streitig. Es musste nur als völlig un-
zweifelhaft sicher gestellt werden, da es von wesentlicher Bedeutung ist
ÜBER EINE SÄCHSISCHE KAISERCHRONIK UND IHRE ABLEITUNGEN. 7
*
för die Würdigung der von beiden benutzten Werke und die Beurtei-
lung derjenigen Chroniken die als zunächst verwandt erscheinen.
Es handelt sich hier vor allem um die sogenannte Sachsen- oder
Repgowsche Chronik.
So viel die Forschung sich auch in neuerer Zeit mit diesem Werk
beschäftigt hat, doch bleiben über den ursprünglichen Text und damit
über Zeit und Ort der Abfassung bedeutende Zweifel.
Schöne, der zuletzt über das Verhältnis der verschiedenen Texte
gehandelt hat (S. 1 ff. seiner Ausgabe), ist der Meinung, dass hier nur
der Text des Gothaischen Codex (G.) in Betracht komme, und sucht
durch eine Reihe von Beispielen zu zeigen, dass dieser den älteren und
ursprünglichen Text der Chronik eben aus den A. Pal. erweitert habe,
an manchen Stellen auch da wo dieselbe Nachricht nur kürzer und in
etwas anderer Fassung schon vorher gegeben war. Dabei verkennt er aber
nicht, dass in anderen zahlreichen Fällen die Uebereinstimmung der ver-
schiedenen Texte eine so genaue und wörtliche ist, dass diese doch nur
als Handschriften eines und desselben Werkes angesehen werden können.
Der Gedanke, auf den man kommen könnte, dass G. eine von den
andern Handschriften ganz verschiedene Uebersetzung aus A. Pal. ent-
halte, bleibt ihm fern, und wäre in der That auch in keiner Weise
durchzuführen. Aber ebenso wenig bemerkt er auf der andern Seite,
• .
dass nicht blos zwischen G. und A. Pal. eine solche Verwandtschaft be-
steht, sondern vielmehr auch die andern Texte der Chronik eine solche
in ausgedehntem Masse zeigen.
Gerade jene sagenhaften Nachrichten über die sächsische und deut-
sche Geschichte begegnen auch hier. Ich gebe die oben angeführte
Nachricht aus der Geschichte Ottos (nach Schönes Ausgabe S. 32):
, De koninc Otte voir do mit groten her zu Lanbarden inde gewan Meilain, inde
slug da penninge, de heissen Otteline; do de koninc danne quam, si verworpen eme
zu lästere sine münze. De koninc voir ever weder, in dwanc si darzfi, dat si van
aldeme ledere penninge geven inde nemen mflysten. Do quam eyhe trauwe vor in,
inde clade eme over eynen man, de si genoytzoget hadde. De koninc sede: 'Als ig
8
G. WAITZ,
wederkome, so wil ig dir richten'. De vrauwe sprag: 'Here, du vergissis'. De
koninc wisde an eyne kirge mit siner hant inde sprag: 'Dise kirge si din orkönde'.
Später :
Do quam de koninc Otto up deme wege zu der kirgen, de he deme wive
hadde gewist, dat he ir richten wolde umbe de noit; de koninc heis dat wif holen
inde hies si clagen; si sade: 'Here, he is nu min (man) zer e, ig hain bi eme leye
kindere'. Der koninc sprach do: 'Su mer Otten bart — also swor he — , he muys
mine barden smachen'. Also richte he deme wive weder eren wille.
Die Uebereinstimmung ist genau genug, wenn man es auch keine
förmliche Uebersetzung nennen kann. Der Zusammenhang freilich in dem
beide die Erzählung geben ist ein ganz verschiedener. Ann. P. schalten
zwischen die beiden Theile nur ganz kurz aus Ekkehard ein, wie Otto
der Adalheid wegen nach Italien zog, in S. ist es der Zug zur Kaiser-
krönung, und verschiedenes anderes wird dazwischen berichtet.
Ein gleiches Verhältnis zeigt sich auch in solchen Stellen, wo an
eine Benutzung jener älteren den A. Pal. wie dem Ann. S. zu Grunde
liegenden Quelle kaum zu denken ist.
Sachs, (ed. Schöne S. 29).
In den selven ziden quam Godes bloit
in dat cloister zu Ouwe in deme Bodemse.
Dat geschag alsus. De Joden cruzegeden
eyn bilde, unsme heren Jesu Christo zu
spotte; us deme bilde vlois bloit inde was-
ser. De Juden, de dat sagen, de worden
alle Christen. Von deme blöde geschag
zeigen vele.
A. Pal. (923) S. 60.
Sanguis Domini venit in Augiam insulam
ille qui profluxit, cum secundo in imagine
sua a Judeis priora pateretur. Hujus rei
veritas sie se habet. In provincia Sidonis
est civitas opulentissima nomine Beritus,
in qua Salvatoris nostri icona non multo
post passionem ejus ad derisionem ipsius a
quibusdam Judeis ridiculose crueifixa, pro-
duxit sanguinem et aquam ; unde multi eo-
rum in vero Grucifixo credentes baptizati
sunt. Quicumque etiam ex stilla icone
peruneti sunt, a quaeunque detinebantur
infirmitate, Christi virtute sani reddebantur.
Nur der erste Satz in A. Pal. ist aus Ekkehard cod. E. oder Sigebert
entlehnt. Das^Uebrige ein Zusatz, vielleicht aus Sigebert 765 excerpiert:
hier aber in beiden Werken offenbar nicht unabhängig von einander
eingeschaltet.
ÜBER EINE SÄCHSISCHE KAISERCHRONIK UND IHRE ABLEITUNGEN. 9
A. Pal. geben 1027 eine Geschichte von dem König Knud von
Dänemark und England, deren Quelle wenigstens mit Sicherheit nicht
nachgewiesen werden kann. Auch sie kehrt, nur abgekürzt, in S. wieder.
Auch Nachrichten die den A. Pal. wenigstens im Ausdruck ganz
eigentümlich erscheinen finden sich in S.
A. Pal. (1080) S. 70. S. (Schöne S. 43).
Denuo igitur Heinrico regi congressus In den ziden wart eyn ander volcwich
Milsin jnxta fluvium Elsteram , manu trun- tuschen deme koninge Henrige in deine
catus est. koninge Rodolfe zu Milsen up der Elstere,
da wart segelois de koninc Rodolf, eme
wart uyg sine hant afgeslagen.
Noch grösser, auch in den aus den Rosenfelder Annalen abgeschriebenen
Stellen (z. B. 1102 über dies Kloster) und in den nach Pöhlde selbst
gehörigen Nachrichten (selbst ein Zusatz, der wahrscheinlich erst später in
dem Kloster gemacht ist und sich auf Mitglieder desselben bezieht, findet
sich hier wieder, Pertz SS. XVI, S. 86 N.) ist überall die Uebereinstim-
mung von G.
Massmann hat sich über das Verhältnis dieses Textes zu den andern
nicht näher ausgesprochen; er folgt aber im wesentlichen einer Classe
von Handschriften die eine kürzere Fassung haben, und giebt die Ab-
weichungen von G. theils in den Anmerkungen, theils (S. 522 ff.) als
grössere Einschaltungen. Noch bestimmter behaupten Pfeiffer (Unter-
suchungen über die Repegowische Chronik 1854. S. 8) und Schöne (S.
3 — 8), der Text von G. beruhe auf einer ymarbeitung, und sei um
des willen bei der Frage nach dem ursprünglichen Text auszuscheiden.
Der letzte hält ausserdem einen noch wesentlich kürzeren Text als den
der von Massmann vorzugsweise benutzten Bremer Handschrift für den
ursprünglichen , den er aus einem Berliner Codex (Nr. 284) entlehnt (B.).
Schon die Resultate der hier angestellten Vergleichungen müssen
dagegen bedenklich machen. Das ursprüngliche Werk und die spätere
Umarbeitung haben beide dieselbe Quelle benutzt, die sogenannte Um-
arbeitung nur vollständiger und getreuer. An und für sich hat das
gewiss geringe Wahrscheinlichkeit für sich.
Üist.-Philol. Classe. XU. B
10
G. WAITZ,
Vergleicht man weiter die von Schöne gemachten Zusammenstel-
lungen, so weisen diese auf ein ganz anderes Verhältnis hin, als derselbe
annimmt. Der kürzere Text erscheint nirgends als Original , sondern als
Auszug. Bei der entgegengesetzten Annahme müsste man annehmen,
dass der Autor der längeren Erzählung , der meist eben den A. Pal. folgt,
doch aus der kürzeren einzelne Worte und Sätze beibehalten und seiner
Uebersetzung eingeschaltet hat. '
A.Pal. (1119) S.76.
Discendente igftur cesare,
Romani penitentia ducti, Ca-
lixtum deyote revocayenmt,
captivantes Burdinum, qui
confugerat Suderen. Hone
itaque nudum inposuerunt
ex adverso super camelum,
quod animal est despecti-
vum. Sed et pueri veluti de-
mentia vexatum com luto in-
sequentes clamabant: ( Ecce
papa, ecce papa'. Est autem
quedam abbacia que dicitnr
Cavea in montanis, ubi sol
aditum non habet, carcer
domni pape, artus videlicet
locus, unde nullus egredi
possit nisi permissus. In
hanc igitur caveam missus
est Burdinus, et ibi mansit
usque ad tempus Lotharii,
quem in eipedicione in Sici-
liam videre Innocentius per-
misit.
Text O. (nach Schöne).
Do de keiser dannen yor,
de Romere beroyeden, dat
se koren hadden Burdinum,
unde loden to Rome Galix-
tum, unde viengen Burdinum,
de was untvlon to Suders.
Dissen selven satten se uppe
enen camelesel, naket unde
rukkelingen; dit der is ver-
smahet. De kindere, also
se doyendich weren, worpen
ene mit deme höre, unde
deden ime grot ungemac;
se repen: 'Seht, dit is de
paves, dit is de paves\ It is
ene abbedie diu het Cayea,
di is an eneme gebirge, dar
di sunne nimmer tokomen ne
mach, en vil enge jegenode,
dannen neman utkomen ne
mach, men ne lat ene darut;
dat het des payeses carcer. In
de selven hole wart gesant
Burdinus, dar was he inne
wante an de tit Lotharii, den
let ene sehn payes Innocen-
cius , do he de herevard yor
in Siciliam.
Kurzer Text (B.) (Seh. S. 54).
De keiser yoir do van Rome;
de Romere veingen sinen
paves, inda satten in nacht
up eynen esel, inde zogen
in schentlich dürg de strase;
de kindere worpen in alle
mit deme höre. He wart
versant in Caveam, dat is
des payes kerker.
ÜBER EINE SÄCHSISCHE KAISEßCHRONIK UND IHRE ABLEITUNGEN. 11
Welcher Text hier der ursprüngliche ist , kann , glaube ich , keinen
Augenblick zweifelhaft sein. Unmöglich lässt sich annehmen, dass G.
aus B. unter Benutzung von A. Pal. gemacht sei, ebenso wenig dass G. und
B. unabhängig von einander aus A. Pal. geflossen. Die letzten Worte in B.
sind ganz unverständlich, wenn man nicht das Original zu Rathe zieht.
Uebrigens hat, wie früher Lappenberg 1 , neuerdings auch Holtzmann,
in einer Anzeige von Schönes Buch (Heidelb. Jahrb. 1860. H. 3, S. 195 fF.)
sich mit überzeugenden Gründen für das höhere Alter und die Ursprüng-
lichkeit des Textes G. erklärt 2 . Er führt das ergötzliche Beispiel an,
wo alle abgekürzten Texte sagen: De Ungeren verdreven bi den ziden
eren koninc Peter inde satten in in einen oven; G. : satten enen Oven;
aus A. Pal. : Ungarii quendam Ovonem in regem eligentes , Petrum rep-
pulerunt 3 . Auch hat er schon hervorgehoben , wie dieser Text in der
Hauptsache als eine Uebersetzung oder Bearbeitung der A. Pal. ange-
sehen werden müsse.
Ohne darauf Rücksicht zu nehmen , macht Giesebrecht (auch in der
neuen Auflage) eine ganz andere Ansicht geltend.
Das der Repgowschen (Sachsen-) Chronik zu Grunde liegende latei-
nische Original soll nicht in den A. Pal. , sondern vielmehr in der Welt-
chronik einer Königsberger Handschrift 4 erhalten sein : da der Text
dieser mit dem von Schöne als die älteste Gestalt jenes enthaltend an-
gesehenen Berliner Codex zunächst übereinstimmt, so sei damit ein
1) Archiv VI, S. 383 in Beziehung auf die hier beschriebene Bremer Handschrift.
2) Ueber eine Stelle in den späteren Jahren, wo G. offenbar auch den älteren
Text hat , s. Ficker , Ueber die Entstehungszeit des Sachsenspiegels S. 79. —
Dass Berl. Nr. 284 einen abgekürzten Text gebe , nimmt auch Winkelmann,
Friedrich II. S. 18, an, freilich ohne Schönes Arbeit zu kennen.
3) Aehnliche Misverständnisse oder Entstellungen sind Schöne S. 29: 'den schacz
van deme bischdome' (statt 'sat, satz', Besetzung); S. 30 'Meran' statt 'Mer-
hern' (wie nur eine Handschrift), 'Elve' statt 'Elm' u. s. w.
4) Hr. Dr. Arndt in Berlin hat seitdem eine zweite in mancher Beziehung bessere
Handschrift in Danzig aufgefunden. Ich verdanke ihm und Hrn. Prof. W.
Nitzsch in Königsberg die Abschrift der auf E. Heinrich I. bezüglichen Ab-
schnitte.
B2
12 G. WAITZ,
Beleg mehr für die Richtigkeit auch seiner Ausführung gewonnen. Die
zu Grunde liegende ältere Weltchronik soll dann, wie oben bemerkt,
mit den A. Pal. und dem Ann. S. aus derselben Quelle geschöpft haben,
die als eine ältere lateinische Aufzeichnung namentlich jener sagenhaften
Nachrichten gedacht wird.
Bei dieser Annahme fallt es zunächst auf, dass der sprachliche
Ausdruck in A. Pal. und W. (Weltchronik) niemals derselbe ist, dieselben
Dinge immer mit andern Worten erzählt werden. Giesebrecht hat dies
wohl erkannt und selbst hervorgehoben, A. Pal. und Ann. S. hätten ihre
Vorlage wörtlich wiederholt, W. den Ausdruck vielfach in freier Weise
umgestaltet. Es geht aber so weit, dass eigentlich nie dieselben Worte
beibehalten, sondern wie absichtlich immer andere Ausdrücke künstlich
gewählt sein müssten. Man vergleiche nur in der Geschichte Heinrich I.
W.
Rex Hemicus destinavit eo tempore regi
Ungarorum molosum spissum , orbatum
auribus et habentem curtam caudam, ad-
jurans Uugaros, qui censum deferre debe-
bant, ut latrantem suo regi presentarent.
Cesar Henricus 12 milia pugnatorum con-
gregayit; quorum quidam metu mortis ter-
riti derelinquentes ipsum recesserunt usque
A. Pal. S. 62.
Tunc cesar, accersitis Ungarorum nunciis,
canem brevem et spissum, auribus et cauda
decurtatis, per ipsos Ungaros transmisit,
et ut deferrent sacramento constrinxit.
Econtra imperator vires pretemtans, 12
tan tum milia virorum recensuit; qui et ipsi
tandem ad 4 vix milia secum permanse-
runt. |ad 4 milia:
Ich wüsste kein Beispiel aus der historischen Literatur des Mittel-
alters, wo ein solches Verfahren beobachtet wäre. Ich muss es geradezu
für unmöglich erklären , dass so verschiedene Formen der Erzählung aus
einer und derselben Vorlage hervorgegangen sind.
Dazu kommt, dass sich in der Weltchronik nicht blos solche Nach-
richten welche auf jene eigentümliche sächsische Aufzeichnung als
Quelle hinweisen, sondern auch andere, offenbar ganz verschiedenen
Ursprungs finden, vieles was auf Ekkehard zurückgeht, aber auch anderes
was wieder diesem gänzlich fremd ist, wie z. B. die vorher angeführte
Erzählung von dem König Knud. Ja man muss sagen, dass in den
Abschnitten von W. die bisher bekannt geworden sind eben nur solches
\
ÜBER EINE SÄCHSISCHE KAISERCHRONIK UND IHRE ABLEITUNGEN. 18
wiederkehrt, was, nur mit anderen Worten, auch in A. Pal. enthalten ist.
Man kommt auch nicht damit aus anzunehmen, dieselben Quellen hätten
beiden Werken das Material geliefert: es wäre mehr als wunderbar,
wenn zwei Autoren unabhängig von einander so ganz dieselben Nach-
richten compiliert hätten. Was Giesebrecht geltend macht, die Zusam-
menstellung sei mannigfach eine andere, ist wohl richtig, aber von ge-
ringem Belang; das andere aber, dass in W. keine sichere Spur von der
Benutzung der Ann. Rosenfeldenses , die in den A. Pal. ausgeschrieben
sind, sich nachweisen lasse, erklärt sich daraus, dass W. in den be-
treffenden Abschnitten viel kürzer in der Fassung ist als A. Pal. und das
übergeht was aus jenen geflossen ist. Ueberhaupt aber braucht man
nur die bei Giesebrecht abgedruckten Abschnitte über Heinrich II. , Kon-
rad II. und Heinrich HL zu lesen , um sich zu überzeugen , dass hier
eine spätere Arbeit vorliegt, die keinerlei Anspruch machen kann, als
eine im wesentlichen treue Wiedergabe einer im Anfang des 12ten Jahr-
hunderts gemachten Aufzeichnung zu gelten. Auch die Sprache hat
etwas Ungewöhnliches, dem Ausdruck und Styl dieser Zeit Fremdartiges
an sich.
Vor allem wichtig ist aber das Verhältnis zu der Sachsen-Chronik,
oder wie wir nun sagen müssen, der kürzeren Recension derselben. Ist
die Verwandtschaft mit A. Pal. gross, so hier sehr viel grösser: es ent-
sprechen sich in der That Satz für Satz, fast Wort für Wort. Eben
darum meint Giesebrecht hier die Quelle von S. , das lateinische diesem
zu Grunde liegende Original gefunden zu haben. Und hat er Recht, so
sinkt allerdings S. zu einer Arbeit fast ohne allen historischen und lite-
rarischen Werth herab.
Dem gegenüber muss man aber gleich geltend machen, dass S.
durch lebendige Schilderung, durch geschickten und kräftigen Ausdruck
im einzelnen den günstigsten Eindruck macht: es zeigt sich nichts von
Steifheit und Ungelenkigkeit der Sprache, wie sie bei einer blossen
Uebersetzung so leicht sich findet.
Und vergleicht man dann näher S. und W. , so kann freilich kein
Zweifel über den engsten Zusammenhang der beiden Arbeiten obwalten:
U G. WAITZ,
es ist überall dieselbe Erzählung einmal deutsch, das andere Mal latei-
nisch. Aber nicht blos alle Vorzüge sind auf Seiten des deutschen
Textes; auch bestimmte Stellen weisen auf das deutlichste darauf hin,
dass dieser das Original ist. Ich führe diejenige zuerst an, die mir die
vorher schon gehegte Vermuthung zur Gewissheit machte.
A. Pal. (923).
Sangtris Domini venit in
Augiam insnlam.
W.
Eodem tempore pervenit
sanguis Domini in claustrum
Owe in Botensee.
S. (Schöne S. 29).
In den selven ziden quam
Godes bloit in dat cloister
zu Ouwe in deme Bodensee
(M. : to Owe in den Boden-
see).
Wer hier übersetzt hat, kann gewiss keinen Augenblick zweifelhaft sein. —
Ganz unverständlich ist in W. : Item rex mandavit, ut inter fratres senior
expedicionem intraret. Hoc deinceps pro jure habitum est. In S. heisst
es: De koninc geboit do (de koning bot oc, Massm.), dat de eiste broder
in dat her voire; dat se dat herwede nemen, dat wart do recht. Der
Ausdruck in W. : 'ut nonus vir de singulis territoriis in civitates suas
proficiscerentur* ist aus der lateinischen Quelle gar nicht erklärlich,
wahrend es wohl aus dem Deutschen: 'dat de negende man van deme
lande in de stede vore' als Erläuterung werden konnte.
In den von Giesebrecht bekannt gemachten Abschnitten weist eben-
falls manches bestimmt genug auf dies Verhältnis hin. So die offenbar
deutschen Formen ' Hildensem ' und ' Einstete ' (für: 'Eihstete'), die
Wendungen: ' Rudolf us rex misit regnum suum Henrico cesari\ 'in
regem promissus est', die sich als Uebersetzung aus dem Deutschen er-
klären. Ebenso sind die Worte: 'et laycis magnum feodum' in einer
Uebersetzung des 13ten Jahrhunderts begreiflich, während sie in einem
selbständigen Werk aus dem 12ten etwas Auffallendes haben müssten.
Von durchschlagender Bedeutung ist weiter die oben (S. 11) angeführte
Stelle über den König Ovo von Ungern. Wie die früher schon bekannte
lateinische Uebersetzung von S. (bei Mencken) wiedergiebt: in fornacem
retruserunt, sagt diese: Eodem tempore Ungari Fetrum regem suum
repulerunt, ponentes (petentes, unrichtig der Danziger Codex) ipsum in
ÜBER EINE SÄCHSISCHE KAISERCHRONIK UND IHRE ABLEITUNGEN. 15
clibanum. Das Misverständnis des abgekürzten deutschen Textes ist der-
gestalt in beide Uebersetzungen gleichmässig übergegangen. — Und fast
unmittelbar daneben steht das ganz unverständliche 'inter montes Par-
thos', entstanden aus dem deutschen 'in deme Bardengebirge, Barden-
berge\ in S. Uebersetzung des bekannten Ortsnamens Mons Bardonis.
Solchen Stellen gegenüber von einem originalen lateinischen Text zu
sprechen, ist ganz unmöglich.
Giesebrecht hat gleichwohl mit Rücksicht auf andere Stellen sich
dafür erklärt. Was er aber anführt scheint mir in keiner Weise darzu-
thun was er will.
W.
Hie primus duetus superbia carceres et
boga8 et exilium adinvenit.
S. (nach Massmann).
He vant aller erst dor sinen homot ker-
keren unde boien unde helden.
4 Boie' ist ein bekanntes mitteldeutsches Wort, das an dieser Stelle
durchaus nicht aus dem mittellateinischen 'bogae' entstanden zu sein
braucht: vielmehr ist es in der lateinischen Uebersetzung aus dem Deut-
schen beibehalten, während die zu Grunde liegende Stelle der A. Pal.
hat: Iste primus exeogitavit vineula, taureas, fustes, laminas, carceres,
compedes, exilia, metalla.
W.
Arrepto craore suo rursum projeeit, dicens :
'Vicisti Galylee'. Taliter Jesum Christum
appellavit.
S.
Nam sin blot unde warp it up unde rep:
4 Vicisti Galileo'; dat quit : du hevest gesegit
Galilee: also het he Jesum Cristum.
Es kann nicht auffallen, dass eine lateinische Rückübersetzugg des
deutschen Textes den erklärenden Zwischensatz wegliess. Die A. Pal.,
welche auch hier zur Vergleichung nicht fehlen, sagen:
sanguinem de vulnere prorumpentem fertur manu excepisse, eoque in aerem jaetato
dirisse: 'Vicisti Galilee, vicisti \
Der von Giesebrecht zur Vergleichung herangezogene früher von
Menken, später auch von Massmann herausgegebene andere lateinische
Text kommt an sich gar nicht in Betracht. Dass es eben nur eine
Uebersetzung des deutschen sei, ward in den Jahrbüchern Heinrich I.
Erste Bearb. S. 182 N. 1 , bemerkt Massmann hat es später weitläuftig
dargethan — auch der benutzte Text scheint sich nachweisen zu lassen;
16 G. WAITZ,
s. die Beilage — , und jetzt zweifelt niemand daran, während ältere
Forscher auf diese lateinische Fassuhg nicht geringes Gewicht legen zu
müssen glaubten, aber darum überall zu keiner Einsicht in das Ver-
hältnis der verschiedenen Quellen zu einander kamen. Es ist das-
selbe was sich jetzt wiederholt: wir besitzen nun eine zweite, von der
andern durchaus unabhängige (zum Theil wohl abgekürzte) Uebersetzung.
die ebenfalls eine Zeit lang Zweifel über den Zusammenhang der unter
sich verwandten Werke erregt hat. Die neue Bearbeitung jener Jahrbücher
gab den Anlass, auch diese auf ihre wahre Bedeutung zurückzuführen.
Giesebrecht macht noch eine allerdings merkwürdige Stelle geltend.
W.
Hec fragilitas duravit usque ad primum
cesarem Henricum de Saxonia, qui liberavit
Imperium ab hoc tributo et gloriose subli-
mavit, insuper et filius suus Otto impera-
tor usque ad cesarem Henricum, qui re-
pulit patrem suum. Hec omnia plenius in
hoc libro subscribuntur.
S. (Schöne S. 26).
De kranckeit werde bis an den eirsten
keiser Henrige van Sassen, de erwerde sig
den Ungeren inde hogede wal dat rige,
inde äyg sin sdn, keiser Otte, bis an den
keiser Henrich, de sinen vader verdreif,
dat sali man allit vinden nog geschreven in
desen buche.
Derselbe meint, die Worte müssten einem Werke entlehnt sein,
das mit Heinrich V. abschloss, und stammten augenscheinlich aus der-
selben Quelle, welche gerade ebenso weit in der Königsberger Welt-
chronik abgeschrieben ist. Aber die Worte — die übrigens offenbar
auch wieder in dem deutschen Text viel mehr einen originalen Charakter
an sich tragen als in der lateinischen Fassung — enthalten gar nicht
was darin gefunden wird: sie sagen einfach, dass bis zur Verlassung
Heinrich IV. durch seinen Sohn Heinrich V. das Reich durch die Kaiser
erhöhet sei : in jenem Zeitpunkt schien dem Autor , wie auch wohl noch
uns, ein Umschwung in den deutschen Dingen eingetreten zu sein, den
er so hervorhob. Und dem entsprechend schreibt derselbe, wo er
später diese Ereignisse zu berichten hat (Schöne S. 50) : Dese kfir inver-
wan dat rige nummer me, id was offenbair weder Got etc. Die
Bemerkung ist aber S. eigenthümlich , nicht aus A. Pal. herüber ge-
nommen.
Giesebrecht bringt hiermit in Verbindung, dass überhaupt nur bis
ÜBER EINE SÄCHSISCHE KAISERCHRONIK UND IHRE ABLEITUNGEN. 17
Heinrich V. die Weltchronik diesen Charakter zeigt , von da an einfach
der Text des Martinus Polonus folgt. Der Grund, weshalb der Compi-
lator hier zu einer Abschrift des späteren Werkes überging, ist natürlich
nicht zu bestimmen. Da aber in S. nachher wie vorher die Verwandt-
schaft mit A. Pal. fortdauert, auch in der kürzeren Fassung, so ergiebt
sich daraus nur aufs neue, dass diese, und nicht eine ihm zu Grunde
liegende filtere Quelle hier benutzt worden ist 1 .
Kann dergestalt über den Charakter von W. kein Zweifel sein,
so stellt sich jetzt das Verhältnis der hier zunächst untersuchten Werke
wesentlich anders, als zuletzt angenommen ist. Die Weltchronik ist eine
( selbst wohl hie und da noch abgekürzte ) Bearbeitung der kürzeren
Fassung der Sachsenchronik; diese ein Auszug des ausführlichen
Textes, wie er in ^er Gothaer und andern Handschriften vorliegt (Lüne-
burger Chronik); dieser wieder in der Hauptsache aus den Ann. Pali-
denses abgeleitet.
Das Verhältnis, welches hier dargelegt ist, hindert freilich nicht,
dass der Autor der Sachsenchronik mit einer gewissen Freiheit seine
Quelle benutzte, hie und da abkürzte, in andern Fällen auch manches
zufügte und ergänzte.
Solche Abweichungen sind z. B. in der Geschichte K. Heinrich I.
die Angabe über das dem H. Arnulf von Baiern eingeräumte Recht über
die Bischöfe, aus Ekkehard, aber mit dem weiteren Zusatz (Massmann
S. 290): 'Dar van hevet de hertoge van Beieren sinen hof unde bot in
den vorsten an sineme lande'; der Ausdruck 'Dudesch Burgundenland'
(so ist zu lesen) statt 'Suevie provincie pars' für das was Heinrich dem
Rudolf von Burgund als Preis für die heilige Lanze zugestanden haben
soll ; ebenda die weitere Bemerkung , dass dies eben die Lanze sei welche
mit dem Kreuz und der Krone das Reich ehre; dann die Angabe
1) Eine Historia imperatorum bis Heinrich V. in Wien , Hist. prof. 686 , hat mit
diesen Werken überall nichts zu thun; sie ist gedruckt SS. X, S. 136.
Ui*t.-Philol. Classe. XU. C
18 G. WAITZ,
über die Sarracenen : 'de van Affrica hadden gewunnen Siciliam, Calabriam
unde Pulle', die so weder in den A. Pal. noch bei Ekkehard , Sigebert
oder Ann. S. sich findet l ; weiter die Erzählung über Heinrichs Aufent-
halt in Werla beim Einfall der Ungarn , über den Frieden und die nach-
folgenden Einrichtungen, meist wie Ekkehard, aber mit dem eigen-
tümlichen Zusatz über die Verpflichtung des ältesten Sohnes zum Kriegs-
dienst und die Einführung des Heergewätes; ebenso die Eroberung
Brandenburgs, Böhmens und Mährens; die Stiftung Ringelheims durch
die Brüder (wie hier verstanden ist) der Mathilde. Die Bemerkung
dagegen, welche der Erzählung von der Designation Ottos zum Nach-
folger Heinrichs beigefügt ist: 'Dat was torn sineme brodere Hinrike',
kann auf einen in der Ausgabe der A. Pal. übergangenen Zusatz zurück-
geführt werden 2 .
Wären die Abweichungen überall von solcher Bedeutung , so würde
der selbständige Werth der Chronik grösser sein, als er sich jetzt her-
ausstellt. Doch fehlt es auch später nicht an eigenthümlichen Nachrich-
ten, unter denen sich besonders die hervorheben, welche auf nieder-
sächsische Verhältnisse sich beziehen, wie die Stelle (Schöne S. 33), wo
die 'cronica Wilhelmi van deme lande over Elve' citiert ist, die Erzäh-
lung von der Stiftung des neuen Herzogthums Sachsen für Hermann
Billung, und anderes was seine Nachfolger, ihr Besitzthum Lüneburg
und das hier begründete Kloster S. Michaelis betrifft und Eccard den
Anlass gab den von ihm herausgegebenen Text als Chronicon Lunebur-
gicum zu bezeichnen.
Eben dies ist den A. Pal. durchaus fremd, entspricht dagegen im
wesentlichen dem was das Chronicon S. Michaelis Luneburgicum (Wede-
kind, Noten I, S. 405 ff.) enthält.
1) Die lateinischen Formen, welche man schon früher geltend gemacht hat um
ein lateinisches Original wahrscheinlich zu machen, sind übrigens nicht immer
aus A. Pal. : so sagen diese 924 : se heresim Simoniacam de regno suo eradi-
cäturum; G.: dat he Simoniacos alle wolde vorstoten.
2) S. Jahrbücher d» D. Reichs unter K. Heinrich I. Zweite Bearb. S. 178 N. 1.
ÜBEK EINE SÄCHSISCHE KAISERCHRONIK UND IHRE ABLEITUNGEN. 19
Chron. S. Mich.
Hie construxit civitatem Magetheburg et
archiepiscopatum ejusdem urbis. Hie primus
fecit ducatum Saxonie, quod est circa Albiam.
Alio ducatu manente circa Werram fluvium,
quod Widikindus duz Saxonum, qui diu
contra Carolum imperatorem multa prelia
gessit, successoribus suis reliquid, de cujus
genere idem imperator Otto natus fuit.
Idem etiam imperator cum de Ungaris, qui
Teutoniam multis annis expugnaverant,
esset triumphator gloriosus, terram circa
partes Albie inferiores, quarum metropolis
est Hamburg , multis preliis a paganis ad-
quisitam, Hermanno, viro egregio, filio
comitis Billingi, liberaliter commisit, et
eum consilio prineipum in dueatus princi-
patum primus promovit. Iste Hermannus
primus castrum Lüneburg construxit, et
cenobium in honore S. Michahelis, quod
ipse multis prediis et ornamentis ditavit.
S. cod. G. (Schöne S. 33).
De koninc Otto karde do wider to Sas-
sen unde buwede Maideburch up der Elven
stat, unde stichte dar en erzebischopdom
van sime eigene unde oc van des riches
orbore, unde hoged it sere. He ward do mit
den vorsten to rade, dat he dat nidere
lant bi der Elve, dar dat bischopdom inne
lach to Hamborch, makede to enen hertog-
dome, dat dat hertogdom bi der Wesere
dannoch ganz were, dat gewesen hadde
des hertogen Widekindes van Sassen, de
wider der koning Karle so lange orloget
hadde, dat he geervet hadde sinen nakome-
lingen, van des gesiechte koning Otto selve
geboren was. Dat hertogdom unde dat
lant bi der Elve gaf de koning Otte eneme
edelen manne, de was geheten Herman,
de was sone enes edelen mannes greven Bil-
linges, unde hogede ene in deme rike mit
groten vlite. Dese hertoge Herman buwede
do Luneborch unde stichte dar en kloster
uppe an de ere saneti Mychahelis unde gaf
dar in Vorwerke unde hove unde cyrede it
mit vlite mit maneger hande cyrode.
Nur mu88 der Text dem S. folgt hie und da reicher gewesen sein.
Der Satz z.B. (Schöne S. 34): 'De rode keiser Otto gaf in dat selve
kloster enen toln van der sulten, unde stadegede ene mit siner harit-
veste' steht in dem gedruckten nicht; ebenso nicht S. 37: • Mekelenborch
dat silve; nunnen de dar weren de let he Godde to lästeren uneren'.
Dagegen die Ausführung (Schöne S. 55) , wo es heisst : ' Hir wille wi laten
de cronica unde seggen van irme siechte', und dann zusammenhängend
von den Töchtern und Nachkommen des H. Magnus von Sachsen die Rede
ist , findet sich wesentlich so schon in der Quelle. Und mit den Worten :
4 Nu van we wider an de cronica' wird zunächt auch nur ihre Erzählung
wiedergegeben. Aus dem aber was das Chronicon S. Michaelis weiter
C2
20 G. WAITZ,
über Friedrich I. und Heinrich den Löwen bringt, ist mir in der aus-
führlicheren Erzählung von G. keine Entlehnung aufgestossen , sei es,
dass es dort ein späterer Zusalz ist oder der Autor hier andere Quellen
vorzog.
Es ist bisher nicht bekannt, ob diese Stellen sich in allen mit G.
verwandten, zu der ersten Recension von S. gehörigen Handschriften
finden. Eine , die ich näher untersucht , Wolf. Aug. 44, 19 , hat sie , und
wahrscheinlich werden auch die andern sie enthalten. Wäre es nicht
der Fall, so möchte man geneigt sein 1 , sie am ehesten als einen Zusatz
zu dem ursprünglichen Werk zu betrachten , ebenso wie einige Einschal-
tungen der früheren Theile die auf die Kaiserchronik zurückgehen.
Der Text einer Bremer und zweiten Berliner Handschrift (Nr. 129),
die gerade diese Lüneburger Nachrichten weglassen, aber auch sonst be-
deutend abkürzen, hat keinen Anspruch eine solche ursprüngliche Fas-
sung darzustellen. Von ihm gilt in der Hauptsache dasselbe was von
den weiter abgekürzten anderen Handschriften vorher gesagt ist.
Eine vollständige Untersuchung der verschiedenen Texte und ihres
Verhältnisses zu einander so wie eine Entscheidung der immer noch
nicht genügend gelösten Fragen nach der Zeit der Abfassung und dem
Autor liegt ausserhalb der Aufgabe welche diese Abhandlung sich ge-
stellt hat. Doch hat die Benutzung mehrerer bis dahin nicht ausreichend
untersuchter Handschriften aus den Bibliotheken zu Wolfenbüttel und
München dazu geführt, in der Beilage wenigstens einige Beiträge zur
«
genaueren Bestimmung der verschiedenen Itecensionen zu geben. Und
auf die Zeit der ersten Abfassung kommt es auch für diese Untersuchung
wesentlich an.
Die Handschriften 2 geben hierüber nur eine wenig befriedigende
1) Anders Holtzmann a.a.O. S. 198. Es ist aber doch nicht richtig, wenn er sagt,
dass auch im Folgenden im gemeinen Text Lüneburg besonders hervortrete,
und daraus schliesst, dass auch jene Stücke dem ursprünglichen Werk ange-
hört haben möchten. Die Einschaltungen aus der Kaiserchronik sieht auch
er als fremdartig an.
2) Nur auf diese stützt sich Pfeiffer S. 26.
ÜBER EINE SACHSISCHE KAISERCHRONIK UND IHRE ABLEITUNGEN. 21
Auskunft. Gerade die welche den offenbar älteren Text haben gehen
zum Theil weiter als andere denen ein späterer Ursprung beigelegt wer-
den muss (8. die Beilage). Aus ihnen wird man höchstens entnehmen
können, dass das Werk vor dem Tode Friedrich IL entstanden.
Ficker hat neuerdings eine Abfassung vor dem Jahr 1232 wahr-
scheinlich zu machen gesucht (Ueber die Entstehungszeit des Sachsen-
spiegels S. 75 ff), und wenigstens darin hat er gewiss Recht, wenn er
den Text, welcher eine in diesem Jahr geschehene Bestätigung von
Bremen erwähnt, für jünger hält als den abweichenden in G. Aber
seine Auseinandersetzung bezieht sich überhaupt nur auf die späteren
Theile und schliesst eine noch ältere Abfassung des Vorhergehenden
nicht aus. Für eine solche scheint aber mehreres sehr entschieden zu
sprechen.
Ich mache in dieser Beziehung einige Stellen geltend, die schon Pfeiffer
(S. 27) hervorgehoben, aber in ihrer Bedeutung nicht erkannt hat. Von
besonderem Gewicht ist (Massmann S. 348): 4 Van sime (Wilhelms des
Eroberers) siechte sint noch de koninge van Engclant. Darvan hebbet
se noch Normandie'. So konnte nach der Eroberung der Normandie
durch Philipp August im J. 1204 und vollends nach dem Frieden von
1214, der das Land an Frankreich aufgab, unmöglich geschrieben wer-
den. In den auch liier benutzten A. Pal. finden sich die Worte nicht. —
Aehnlich ist die Stelle (Massmann S. 364): 4 De silve vrowe Mcchtild
orlogede weder den keiser Hinrike, se gaf oc ere laut sente Petcre to
Borne weder des keiseres willen: umme dat silve lant stridet noch de
keisere unde de pavese. it is oc vrowen Mcchtilde lant gebeten '. Die
Bemerkung passt nicht wohl nach den Verzichten die Friedrich II. in
den Jahren 1213 — 1221 wiederholt ausgesprochen: selbst für die spä-
teren Zeiten des Kaisers tritt der Streit hierüber nicht wieder bedeu-
tender hervor. — Zweifelhafter ist eine dritte Stelle (Massmann S. 343):
•weder de van Normandie, de sie des landes to Cecilien unde to Pulle
underwunden hadden , also se noch hebbet'. Cohn (De rebus inter Hein-
ricum VI. imp. et Heinricum Leonem actis S. 28) ist der Meinung, die
Worte könnten nicht nach dem Ausgang des Normannischen Königshauses,
22 G. WAITZ,
d.h. 1189 oder allenfalls 1194, geschrieben sein 1 . Doch halte ich es
wenigstens für möglich, dass der Autor auch nach dem Uebergang des
Normannischen Reichs auf die Staufer so sagte, obschon es später,
wo davon die Rede ist, heisst (Massmann S. 444): 'he (Kaiser Heinrich
VI.) vor aver to Pulle weder unde gewan dat unde gewan Sicilie unde
Calabre \
Halten wir uns auch nur an die zwei anderen Stellen, so muss
allerdings eine Abfassung vor der Erhebung Friedrich n. angenommen
werden. Und dem entspricht es, wenn schon im J. 1216 die Benutzung
eines Theils dieser Arbeit wahrscheinlich gemacht werden kann; worauf
nachher zurückzukommen ist 2 .
Hiermit würde freilich in Widerspruch stehen, wenn, wie mehrere
gemeint haben, eine Benutzung des Sachsenspiegels in der Chronik an-
genommen werden müsste. An einer Stelle, wo von der Verurtheilung
Heinrich des Löwen die Rede ist (Massmann S. 427), zeigt sich eine
solche Uebereinstimmung mit Sachsen sp. I, 38, 2 , dass an eine Benutzung
des einen durch den andern kaum zu zweifeln ist 3 ). Wer aber hier
1) Ihm schlie8st sich Winkelmann, Friedrich II. S. 16 (wo durch Druckfehler
1294 steht) an.
2) Ficker ist der Meinung gewesen, dass unter der im Burchard von Ursperg
citierten Chronica Romanorum das hier besprochene Werk zu verstehen (De
Heinrici VI. conatu S. 28). Dagegen hat Cohn (a.a.O. S. 26) bemerkt, dass
gerade die auf jene Quelle zurückgeführte Angabe sich in keiner bekannten
Recension der Sachsenchronik befindet , und die Stelle , wenn nicht eine Inter-
polation, auf anderen Ursprung hinweist. Bestimmte Spuren einer Benutzung
lassen sich auch sonst, so viel ich sehe, nicht nachweisen, man müsste denn
die Worte , die der Truchses Herzog Heinrich des Löwen (Ursperg. ed. a. 1609
S. 296 : quidam officialis) diesem bei der Zusammenkunft mit Kaiser Friedrich
gesagt haben soll, dafür in Anschlag bringen: 'Sinite, domine, ut corona
imperialis veniat vobis ad pedes, quia veniet et ad Caput'. Sachsenchronik
ed. Massmann S. 424: ( Herre, iu is de kröne komen up den vot: se sal iu
wol up dat hovet komen'. Allein die andern Umstände werden verschieden
erzählt.
3) Gegen die abweichende Ansicht Stobbes s. Homeyer 3. Aufl. S. 10 N. — In
ÜBER EINE SÄCHSISCHE KAISERCHRONIK UND IHRE ABLEITUNGEN. 23
den andern ausgeschrieben hat, ist schwer mit Sicherheit zu entscheiden:
lässt sich auch manches dafür sagen, dass es wahrscheinlicher bei dem
Chronisten als dem Verfasser des Rechtsbuches sei (Picker S. 72), so
wird man es doch keineswegs zur vollen Gewissheit erheben können :
denkbarer Weise konnte der letzte aus dem bekannten und berühmten
Fall des sächsischen Herzogs, wie er hier erzählt wird 1 , das entnehmen
was über die Sache überhaupt zu sagen war 2 . Ist aber, wie es möglich,
der Zusammenstellung bei Massmann S. 658 ist der Text des Sachsenspiegels
ungenau gegeben.
1) Cohn a.a.O. S. 27 hat geltend gemacht, dass das Erzählte nicht richtig,
die Söhne Heinrich des Löwen nicht, wie hier berichtet, ihr Eigen verloren;
und meint, der Chronist habe den allgemeinen Satz des Rechtsbuchs falsch
auf diesen Fall angewandt. Allein zu Anfang ward doch das Allode allgemein
genommen und erst später ein Theil zurückgegeben: die Erben haben es nur
nicht nach der Vorschrift des Ssp. aus der Gewalt des Königs gezogen. Da-
bei verkenne ich nicht, dass der ganze Fall Heinrichs nicht $o recht zu der
hier angeführten Röchtsregel passt, und es wohl darnach aussieht, als wenn
diese auf die Erzählung Einfluss gehabt hat. Das war aber möglich auch
wenn Eikes deutscher Text noch nicht vorlag. Es ist auch hervorzuheben,
dass die ganze Erzählung der Chronik von Heinrichs Verurtheilung ungenau ist.
2) Eine andere Stelle, in der Ficker S. 75 eine Einwirkung des Sachsenspiegels
auf die Chronik annimmt, über die Herkunft der Sachsen, lässt das Ver-
hältnis ganz unsicher.
Ssp. HI, 44, 2.
Unse vorderen die her to lande quamen
unde die Doringe verdreven, die hadden in
Allexanders here gewesen, mit erer helpe
hadde he bedvungen al Asiam. Do Ale-
xander starf , do ne dorsten sie sik nicht
to dun in 'me lande durch des landes hat,
unde scepeden mit dren hundert kelen;
die verdorven alle up vier unde veftich.
Der selven quamen achteine to Prutzen
unde besäten dat; tvelve besäten Rujan;
vier unde tvintich quamen her to lande.
Do irer so vele nicht ne was, dat sie den
S. (Massm. S. 69).
(Nach Alexanders Tod).
De sine todelden sich do
unde tovoren in manig lant.
Ir quam en del to Prucen und
en del to Rujan. Van deme
silven here quamen och de Sas-
sen here to lande unde vor-
dreven och de weidigesten Do-
ringe unde leten de armen Sit-
ten, dat se den acker buweden.
Unde buweden och borge in
deme lande to Sassen.
24 G. WAITZ,
Eike selbst der erste Verfasser der Chronik, so konnte auch, wenn er
damals noch nicht den Sachsenspiegel deutsch bearbeitet hatte, sei es
mit Rücksicht auf den lateinischen Text desselben , oder auch unabhängig
von einem solchen, der Bericht über Heinrich leicht dieselbe Fassung
erhalten wie später der Satz in dem deutschen Rechtsbuch. Denn an
einen späteren Zusatz- der Chronik zu denken, ist an sich kein Grund,
obwohl die Fortsetzung, die uns allein vorliegt, natürlich auch mit einer
Erweiterung oder sonstigen Veränderung verbunden sein konnte.
Das Ganze findet sich übrigens in grosser Uebereinstimmung auch
in einer Stelle welche Henricus de Hervordia aus dem Eghardus citiert
(ed. Potthast S. 161). Welches Werk der Autor in den späteren Theilen
unter diesem Namen versteht , ist ungewiss : die einzelnen Fragmente
weisen auf ganz verschiedenen Ursprung hin, und fast sieht es so aus,
als wenn der Name manchmal ganz willkürlich gebraucht worden (Pott-
acker buwen mochten, do sie die Dorin-
schen herren slugen unde vordreven, do
lieten sie die bore sitten ungeslagen, unde
bestadeden in den acker to alsogedaneme
rechte, als in noch die late hebbet; dar
af quamen die late. Von den laten die
sick vorwarchten an irme rechte sint komen
dagewerchten.
Ssp. kann natürlich nicht aus S. sein; aber auch diese schwerlich aus jenem.
Den letzten Satz hat S. selbständig, und in dem andern würde sich ohne
Zweifel eine mehr wörtliche Uebereinstimmung zeigen. Gegen ein andere
Darstellung im Königebuoh haben beide gemeinsam 'Rujan' statt 'Beheim';
in dieser Beziehung kann aber, wenn es nicht auf eine andere Quelle zurück-
geht , ebenso gut S. auf Ssp. eingewirkt, haben als umgekehrt. Merkwürdig
dass der Deutsche Spiegel auch Bechaim hat, und also dies vielleicht ur-
sprünglich im Ssp. stand. Dann gehörte der Fall zu denen die Ficker S. 73
auffuhrt, wo die Chronik auf einige Zusätze zum Ssp. eingewirkt zu haben
scheint. In den A. Pal. findet sich die ganze Nachricht nicht. — Albert
v. Stade, SS. XVI, S. 311, hat den Ssp. benutzt. Eine blosse Abschrift aus
Albert aber ist was ganz überflüssiger Weise neuerdings Sudendorf, Urkun-
denb. III, S. 270, hat abdrucken lassen.
ÜBER EINE SÄCHSISCHE KAISERCHRONIK UND IHRE ABLEITUNGEN. 25
hast S. XIV), oder man hat an ein späteres auf dem Grund des Ekkehard
entstandenes compilatorisches Werk zu denken (vgl. SS. VI, S. 13 N. 40).
Hier ist die Uebereinstimmung mit der Sachsenchronik so gross, dass
man an eine Benutzung, sei es direct, sei es durch Vermittelung eines
andern Autors, nicht zweifeln kann. Allerdings sind einzelne Kölner
Nachrichten eingewebt, die sich dort nicht finden. Aber ich möchte
sie kaum als einen ursprünglichen Bestandtheil dieser Aufzeichnung be-
trachten, die durch die falsche Angabe über den Abzug Herzog Hein-
richs von Mailand und die sagenhafte Erzählung über jene Zusammenkunft
mit Kaiser Friedrich jedenfalls einen etwas späteren Ursprung verräth.
Dies verbietet auch, an eine ältere, dem Heinrich (oder seinem Eghar-
dus) und der Sachsenchronik gemeinsame Quelle zu denken. Und die
Art und Weise wie die Worte über die Verurtheilung hier angeführt
werden lässt in der That nur an eine Ableitung: aus S. denken.
Ssp. I, 38, 2.
Die ok jar unde dach in
des rikes achte sin , die delt
man rechtlos, unde verdelt in
egen unde len, dat len den
herren lectich, dat egen in
die koningliken gewalt.
S. (ed. Massm. S. 427).
In de achte belef he jar
unde dach: darumme wart
eme vordelet echt unde recht,
egene unde len, dat len al
sinen herren ledich, dat
egen in de koningliken walt.
Henricus S. 161.
Ut in vulgari Theutonico
dicitur: yar unde dach, do
wart he vordelet echt unde
recht unde len unde egen,
dat len an sinen herren le-
dich, dat egen in des key-
sers wald.
Dass Eghard übrigens beim Heinrich auch sonst die Sachsenchronik
bedeute, wie man meinen könnte, wird bei Vergleichung der meisten
unter diesem Namen angeführten Stellen nicht bestätigt: nur ein und
das andere Citat würde sich auf diese Weise erklären lassen (z. B. 992,
S. 90). Jene lateinische Weltchronik der Königsberger und Danziger
Handschriften , an die man denken möchte , weil einiges unter Ekkehards
Namen erscheint, das auf den in derselben benutzten Martinus Polonus
zurückgeht , wird es auch nicht sein , da sie nur bis Heinrich V. die nahe
Verwandtschaft mit S. zeigen soll und also auch nicht die besonders in
Betracht kommende Stelle über Heinrich den Löwen haben wird.
Hiernach ist von besonderem Interesse die Frage, ob die gereimte
Vorrede in den Handschriften der Sachsenchronik der ursprünglichen
Hist.-Philol. Classe. XU. D
26 G. WAITZ,
Fassung oder einer späteren Umarbeitung, wie wir sie annehmen müssen,
zuzuschreiben ist. In ihr finden sich die viel besprochenen Worte, auf
die man die Meinung gegründet hat, dass Eike von Repgow selbst der
Verfasser sei (s. besonders Massmann S. 653 ff. Franz Pfeiffer, Germania
I, S. 382 ff. Ficker , Ueber die Entstehungszeit des Sachsenspiegels S. 73.
Schöne S. 15) , während andere (Friedr. Pfeiffer S. 14 ff. Homeyer, Sach-
senspiegel 2. Aufl. S. 4; in der 3. Aufl. S. 11 neigt er der entgegenge-
setzten Annahme zu) darin nur eine Beziehung wieder auf eine Stelle
des Sachsenspiegels sehen. Gehörte die Vorrede schon zur ersten Bear-
beitung, so wäre diese Annahme nicht wohl möglich, da der Sachsen-
spiegel höchst wahrscheinlich später (1224 — 1235) entstanden ist 1 , wäh-
rend Eike, der 1209 — 1233 in Urkunden vorkommt (Homeyer S. 6 ff.) f
sehr wohl auch schon so viel früher als Verfasser einer solchen Chronik
angenommen werden könnte. Dennoch scheint mir die Sache fortwäh-
rend wenigstens zweifelhaft 2 . Ich habe deshalb auch den an sich wenig
angemessenen 5 Namen *Repgowsche Chronik' vermieden und bin bei
der früher üblichen Bezeichnung * Sachsenchronik ' geblieben, da die
Namen welche die Handschriften ergeben: 'Römische' oder 'Der Römer
Chronik' und 'Der Könige Buch' (Pfeiffer S. 28. Massmann S. 658), der
letzte sich nur auf die abgekürzte Form zu beziehen scheint und der
erste in seiner Allgemeinheit leicht missverstanden werden kann. Auch
Sächsische Weltchronik kann man passend sagen.
Dass das Werk in Sachsen geschrieben , darüber kann kein Zweifel
1) Stobbe S. 311. Homeyer S. 13. Die nähere Begrenzung welche dieser mit
Ficker eben nach dem Verhältnis zur Chronik versucht ist unsicher. Um dieses
willen aber auch das Resultat anderer scharfsinniger Combinationen anzu-
fechten, scheint mir bedenklich: es würde sich sonst eine erheblich frühere
Zeit für die Entstehung des Ssp. ergeben.
2) Die längere Stelle unter Constantin, in welcher der Verf. sich als Geistlichen
bezeichnet (Massmann S. 665), kann man jetzt nicht mit Schöne für einen
späteren Zusatz erklären. Zweifelhaft äussern sich auch Wattenbach, Ge-
schichtsquellen S. 421. Stobbe S. 294 N. 7.
3) Man sagt doch nicht: Thietmarsche , Ekkehardsche, Sigebertsche Chronik.
ÜBER EINE SÄCHSISCHE KAISERCHRONIK UND IHRE ABLEITUNGEN. 2fr
sein *. Der Inhalt , auch wenn wir von den andersher entlehnten Lüne-
burger Nachrichten absehen, weist vielfach auf den Norden, auf die
Hamburg -Bremer Diöcese hin. In ihren späteren Theilen, sowohl da
wo noch der ursprüngliche Verfasser anzunehmen ist, unter Heinrich VI.
und Otto, als in dem was als Fortsetzung betrachtet werden muss,
zeichnet die Chronik sich gerade durch genaue Angaben über Ereignisse
dieser Gegend, über die Kämpfe z. B. zwischen den Holsteinschen Grafen
und den Dänischen Königen, aus. Diese in den kürzeren Recensionen
fehlenden, aber auch in der sonst abgekürzten Bremer Handschrift bei-
behaltenen Stellen als spätere Zusätze zu betrachten, ist wenigstens in
der Weise wie es Schöne (S. 6) versteht nicht möglich. In dem Werk
wie wir es kennen sind sie ein ursprünglicher Theil. Nur das wäre
denkbar, dass doch nicht die anzunehmende erste Redaction aus der Zeit
vor Friedrich H. , sondern nur die spätere , aus welcher unsere Texte
alle abgeleitet sind, hier im Norden entstanden, jene anderswo abgefasst
sei. Und da wäre dann vielleicht an den im Südosten heimischen Eike
zu denken. Darauf könnte es hinweisen, dass in unsern Texten neben
jenen nordischen Nachrichten vielfach solche sich finden welche auf die
Heimath Eikes, das Gebiet bei Magdeburg, Bezug haben 2 (Massmann
S. 441. 449. 460; einzelnes fehlt in G., z. B. S. 450 N.).
Dass «man diesen älteren Text in keiner der abgekürzten Hand-
#
Schriften suchen darf, versteht sich nach dem Gesagten von selbst. Bis
dahin hat sich keine Spur desselben gefunden. Aber in anderen Werken
des Mittelalters kann er benutzt sein.
Der jetzt vorliegende Text in seiner frühesten Gestalt wird übri-
gens auch noch der Zeit Friedrich IL angehören. Ueber das was die
Handschriften ergeben s. die Bemerkungen in der Beilage. Beach-
1) Dafür lassen sich auch schon die Worte 'here to lande' in der S. 23 N. 2 an-
geführten Stelle geltend machen, wenn sie auch ebenso im Ssp. wiederkehren.
2) Eine Stelle in G., die man auch für die Autorschaft Eikes geltend gemacht
hat, weil sie den Unterschied von Swaveinen (Nordschwaben) und echten
Schwaben hervorhebt (s. Ficker, Entstehungszeit S. 75), gehört erst dem Jahr
1219 an (Massmann S. 464 N.J.
D2
28 G. WAITZ,
tungswerth ist , worauf neuerdings Winkelmann (Geschichte Friedrich IL
S. 8) hingewiesen , eine Verwandtschaft mit den in diesen Jahren gleich-
zeitigen Annales Colonienses maximi (z.B. 1224. 1232), die sich nur
durch eine Benutzung derselben seitens des Autors des uns vorliegenden
Textes der Chronik wird erklären lassen. Die Verwandtschaft zeigt sich
in Stellen die zum Theil auch den kürzeren Handschriften angehören
(1224), zum Theil aber nur in anderen weiter gehenden Codices sich
finden ( 1232 ) , und ist ein neuer Beleg für die Ursprünglichkeit des
Textes der letzteren. Sie geht nicht über das Jahr 1231 hinaus; da aber
eine und dieselbe Hand die Kölner Annalen bis Ende 1235 geschrieben
hat (SS. XVI, S. 726), so wird doch wahrscheinlich erst nach diesem
Jahr die Benutzung stattgefunden haben. Damit stimmt es überein,
dass der Autor zu diesem Jahr auch schon auf Ereignisse der beiden
folgenden Rücksicht nimmt 1 ).
Da diese Arbeit schon abgeschlossen und dem Druck übergeben
war, erhalte ich die Abhandlung von Prof. Nitzsch, De chronicus Lube-
censibus antiquissimis , die von einer anderen Seite her neue Ansichten
über die Entstehung der Repgowschen Chronik gewinnt. Indem der Verf.
mit Cohn einen älteren Autor bis 1x89 oder 1194 annimmt, also den
auch hier festgestellten Resultaten nahe kommt, fuhrt ihn die Verglei-
chung namentlich mit den Lübecker Chroniken zu , der Annahme , dass
das ältere Werk eine Erweiterung und Fortsetzung in der Zeit Friedrich EL
erhalten habe, wie er meint in Lübeck: eine Ableitung davon, und
zwar ein vollständigerer Text als der in den bekannten Handschriften
erhaltene , liege in der Chronik Detmars , die hier nur als Abschrift der
alten Lübecker Stadtchronik zu betrachten sei, vor.
Ich fage hierüber ein paar Bemerkungen hinzu. Die Verwandtschaft
zwischen Detmar und den bekannten Texten der Sachsenchronik reicht
1) Ficker a.a.O. 78, die Abführung K. Heinrich nach Apulien 1236, und die
Bezeichnung des 1237 gewählten Eonrads als König. Vgl. auch nachher S. 31.
Dagegen scheint freilich die oben S. 21 angeführte Stelle des Textes 0. zu
1219 vor 1232 geschrieben zu sein.
ÜBER EINE SÄCHSISCHE KAISERCHRONIK UND IHRE ABLEITUNGEN. 29
bis 1238. Der letzte übereinstimmende Satz ist der über die Gefangen-
schaft Ottos von Brandenburg (Massmann S. 487. Grautoff I, S. 117).
Das in der Sachsenchronik Folgende über die Vereitelung des angesetz-
ten Reichstags zu Verona (Berne) ist bei Detmar schon vorweg genommen.
Später werden dieselben Ereignisse ganz verschieden erzählt (s. z. B.
Massmann S. 491. Grautoff S. 119 über den Krieg zwischen den Kö-
nigen von England und Prankreich). Die Uebereinstimmung geht aber
weiter als die lateinische Uebersetzung ,. die sich durch Lübecker Nach-
richten von anderen Texten unterscheidet 1 ; diese, wenn auch meist
1) Eigenthümlich ist das Verhältnis von Detmars Text zu dem der Sachsen-
chronik und der lateinischen Uebersetzung 1235 bei der Nachricht von der
Errichtung des Herzogthums Braunschweig -Lüneburg. Jener steht zwischen
beiden :
Lat. Text.
Illic etiam compo-
sitio inter imperato-
rem et dominum Lu-
nenburgenßem ordi-
nata fuit, ita quod
Lunenborch et omnem
proprietatem suam
imperio tradidit et in
continenti imperator
in feodo illo recon-
cessit , Bruneswich
quoque et omnem
dominationem , quam
imperator a filia pa-
trui sui palentini
comparaverat, duca-
tum esse constituit et
cum vexillis coram
principibuß illi por-
rexit.
Sachsenchr. (Massm. S. 485).
Dar wart och vorevenet de
aide hat, de lange gewesen
hadde twischen deme rike
unde deme siechte van Bruns-
wic akus: de keiser kofte
van des hertogen wive van
Beieren unde van erer suster
van Baden dat egen, dat
se angeervet was van ereme
vadere dem hertoge van
Brunswic, unde gaf dat an
dat rike. De hertoge Otto
van Luneborg gaf och al
sin egen in dat rike : dar ut
makede de keiser en her-
tichdom mit willen der vor-
sten unde mit ordelen unde
lech it eme to rechteme lenen
mit vanen unde sime wive
Mechtilde : dar hebbet volge
de dochter also de sone van
sineme siechte.
Detmar.
Dar wart vorevenet de
keiser mit Otten den heren
van Luneborch, also dat de
Otto let deme rike up Lu-
neborch unde al sin eghen,
dat let em de keiser do we-
der; over Brunswic al de
herscap, de de keiser hadde
koft weder sines vedderen
dochter des palansgreven, dat
let he eme darthu, unde
makede daraf en hertoch-
dom, unde let eme dat unde
sineme wive Mechtilde mit
vanen , daran hebbet volghe
de dochtere also de sone
van sineme siechte. Aldus
worden de vorsten twe vore.
venet, de van erer boyder
eldervader tyden unde tu-
schen sie hadden vorvolghet.
30 G. WAITZ,
kürzer als bei Detmar (s. namentlich Massm. S. 483 N. 484 N. verglichen
mit Grautoff S. 112 ff.) , finden sich hier ebenfalls wieder. — An sich
liegt es am nächsten , an eine Benutzung der Sachsenchronik bis zu den
angegebenen Jahren hin durch die Verfasser der Lübecker Chronik zu
denken, während gleichzeitig ein Exemplar jener durch Lübecker Nach-
richten, wie sie reichhaltiger in diese aufgenommen wurden, erweitert
ward. Doch steht der ersteren Annahme namentlich eine der von Nitzsch
angeführten Stellen entgegen, 1217, wo der Text der Sachsenchronik
entschieden das Gepräge eines Auszugs aus dem vollständigeren bei
Detmar an sich trägt 1 . Nach dieser, der einzelne andere sich anreihen,
und so viel ich verglichen, keine bestimmt widerspricht, wäre umge-
kehrt der bei Detmar erhaltene Text Grundlage der Sachsenchronik.
Dabei ist zu bemerken, dass die eine vorher erwähnte Stelle, die auf die
Ann. Colonienses als Quelle hinwies (1232), sich ebenfalls bei Detmar findet,
also die Benutzung jener schon dem älteren Autor angehören muss.
Wenn Nitzsch aber weiter schliesst, dass der hier unserer Sachsen-
chronik zu Grunde liegende ausführlichere Text eben nichts gewesen
sei als die von Detmar benutzte Lübecker Chronik, so erheben sich
dagegen doch manche Bedenken. Dann stände die lateinische Ueber-
setzung diesem näher als alle deutschen Handschriften, da sie einen
Theil der Lübecker Nachrichten hat die dieser fehlen. Aber doch ent-
spräche sie keineswegs wirklich dem älteren Text, da sie in der ange-
führten Stelle 1217 ganz den der jetzt vorhandenen Handschriften wie-
dergiebt (ebenso in einer anderen Stelle die Nitzsch hervorhebt). Sie
hat denselben also doch nur mit einigen Lübecker Nachrichten , kürzeren
als im Original, vermehrt. Der Text der Sachsenchronik müsste aber
nach jener Aufstellung alle Lübecker Nachrichten ausgeschieden haben,
während er doch andere norddeutsche Dinge beibehält, und Nitzsch
selbst hervorhebt, dass an einzelnen Stellen (z.B. 1227) vielmehr sich
1) Die entgegengesetzte Annahme, dass der Text der Lübecker Chronik aus der
Sachsenchronik und den von Nitzsch angeführten Ann. Hamburgenses zusam-
mengesetzt, will ich nicht vertheidigen.
ÜBER EINE SÄCHSISCHE KAISERCHRONIK UND IHRE ABLEITUNGEN. 31
deutlich zu zeigen scheine, wie man in Lübeck zu der mehr allgemein
gehaltenen Darstellung der Sachsenchronik locale städtische Nachrichten
hinzufügte. Das macht jene Annahme wenigstens in hohem Grade un-
wahrscheinlich , und was vorliegt kann uns also nur zu der Vermuthung
führen, dass es entweder einen an einzelnen Stellen ausführlicheren und
etwas anders geordneten Text der Sachsencbronik gab, den man in Lübeck
bei der Stadtchronik benutzte, oder dass diese neben der Sachsenchronik
noch aus einer anderen Quelle schöpfte, die jener auch schon vorge-
legen hatte: wie etwas der Art ja bei Schriftstellern des Mittelalters
nicht ganz ungewöhnlich ist. Eine Entscheidung zwischen beiden Mög-
lichkeiten ist nicht ohne Schwierigkeit; die ganze Untersuchung noch
nicht zum Abschluss gebracht. Zu beachten ist aber, dass, wie die
lateinische Uebersetzung auch der Text der Lübecker Chronik der ab-
gekürzte und veränderte ist (wie in der Bremer Handschrift 1 ): man
vergleiche z. B. Grautoff S. 23 ff. die Geschichte Heinrich V. , S. 95 die
Stelle über den Vertrag des Erzbischofs von Bremen und Herzogs von
Braunschweig. Dasselbe Exemplar kann aber bei beiden nur benutzt
sein, wenn wir die zweite von den angeführten Vermuthungen festhalter.
Dann würde es nur als zufallig erscheinen, dass die Uebersetzung schon
1235 abbricht, während die Chronik die Fortsetzung bis 1233 kennt
War aber auch das Exemplar der Stadtchronik ein anderes, in keinem
Fall kann an eine fftr das ganze Werk ältere und bessere Gestalt ge-
dacht werden. — Man mag vielleicht auch bemerken , dass die weitere
Fortsetzung seit 1239 weniger niedersächsische Nachrichten enthält als die
vorangehenden Jahre, dagegen allerdings einzelne dänische Dinge, den
Tod Waldemar H. , den Streit Erichs und Abels , aber ganz abweichend
von der Erzählung der Lübecker Chroniken , die jene sicher nicht kannten.
Die letzten Erörterungen haben einigermassen von dem abgeführt
worauf es hier zunächst ankam : den Ursprung der Nachrichten zu er-
1) Die eigentümlichen Zusätze von Berl. u. s. w. finden sich nicht.
32 G. WAITZ,
mittein welche in der Sachsenchronik einen eigentümlich sagenhaften
Charakter an sich tragen. Sie gehen, sahen wir, auf die Ann. Palidenses
zurück. Nur diese, nicht ein älteres ihnen zu Grunde liegendes Werk
ist in der Sachsenchronik wiedergegeben. Sie kann also ftlr die nähere
Kenntnis des letzteren nichts austragen.
Dagegen gewährt ihre Vergleichung einiges das für die Beurtheilung
der genannten so wichtigen Annalen nicht ohne Bedeutung ist. Die
Uebereinstimmung geht nur bis zum J. 1173, die letzte gemeinschaft-
liche Nachricht ist die dieses Jahres über den Reichstag zu Goslar 1 .
Eben um diese Zeit ändern überhaupt die A. Pal. ihren Charakter: sie
werden (schon seit dem J. 1170) in ihrer Fassung viel kürzer, in den
Nachrichten dürftiger als vorher. Es hat alle Wahrscheinlichkeit, dass
um diese Zeit ein Schreiber aufgehört, ein anderer die Fortsetzung hin-
zugefügt hat, die dann in den Jahren 1179 — 1181 wieder reichhaltiger
ist. Wenn Pertz dagegen angenommen hat, dass ein und derselbe Autor
schon von der letzten Zeit Lothars an. das Werk gleichzeitig fortgeführt,
so spricht dagegen schon, dass bis zum J. 1163 hin die Ann. Rosen-
feldenses benutzt sind 2 : und auch sonst hat es wenig Wahrscheinlichkeit
für sich 5 . Eine Bemerkung z. J. 1152, die erst 1182 niedergeschrieben
sein kann , hat , wie auch Pertz bemerkt (XVI , S. 86 N.) , S. ebenfalls
gekannt und benutzt; doch folgt daraus nicht, dass sie schon dem ur-
sprünglichen Werk angehörte, oder S. dies auch bis zum Jahr 1182
fortgesetzt vor sich gehabt hat. Weitere Aufschlüsse über die Entste-
hung oder die Quellen der A. Pal. sind hiernach aber allerdings aus S.
nicht zu gewinnen 4 .
1) Dies hat schon Holtzmann S. 197 bemerkt
2) Vgl. Wattenbach S. 412 und über die nur aus den Annalen von Magdeburg
und Stade zu restituierenden späteren Jahre jener Annalen Jaffe, Archiv XI,
S. 864 ff.
3) Die von Wattenbach S. 412 angeführte Stelle über den Tod Konrad IQ. scheint
mir aber nicht so entschieden, wie er meint, *uf fremde Entlehnung hinzu-
weisen.
4) Ganz grundlos ist es, wenn Schöne meint, G. müsse nicht die A. Pal. selbst
ÜBER EINE SÄCHSISCHE KAISERCHRONIK UND IHRE ABLEITUNGEN. 33
Es handelt sich hier überhaupt zunächst nur um die Quelle aus
welcher die A. Pal. eine Anzahl sagenhafter, anderen älteren Darstellun-
gen fremder Erzählungen genommen haben. Um ihren Umfang näher zu
bestimmen, sind wir, soweit nicht die innere Beschaffenheit einzelner
Stellen einen Anhaltspunkt zur Beurtheilung gewährt, wieder auf die
Vergleichung mit dem Ann. Saxo hingewiesen.
Dass nicht der eine Autor das Werk des andern benutzt, wird man,
wie in den früher angefahrten Stellen so auch allgemein, festzuhalten
haben, wenn auch ein paar Mal wohl die Annahme einer Abhängigkeit
der A. Pal. von Ann. S. auf dem ersten Blick nahe zu liegen scheint
(z. B. 1127). Die Verwandtschaft wird doch nur aus Benutzung ge-
meinsamer Quellen zu erklären sein. Aber ihrer kann es mehrere gege-
ben haben, und keineswegs alles was sich gleichartig findet, ohne dass
die gemeinsame Vorlage nachgewiesen werden kann , muss auf denselben
Ursprung zurückgeführt werden. Wie die Benutzung der Annales Hildes-
heimenses und Rosenfeldenses durch beide eine solche Uebereinstimmung
in wesentlichen Theilen herbeigeführt hat, so kann dasselbe auch anderswo
der Fall sein, wo uns die zu Grunde liegenden Aufzeichnungen fehlen.
Namentlich die Zeit Lothars giebt zu solcher Bemerkung Anlass.
Ann. S.
1127. Rex Luderus pentecosten Merse-
burch celebravit; ubi decentissimo multo-
rum principum habito conventu, unicam et
dilectam filiam suam Gertrudem glorioso
Bawarie duci Heinrico cum multa ho-
norificentia in matrimonii honore sociavit.
Eodem anno Karolus comes Flan-
drensis in oratione procumbens in eclesia
a propria milicia perimitur.
1128. Signum quoddam sanguinei coloris
A. Pal.
Rex pentecosten Merseburg celebravit,
ubi unicam et dilectam filiam suam Ger-
truden Heinrico duci Bawariorum in con-
jugio sociavit
Karolus comes in Plandria orans, ut
dicitur, interfectus est.
Signum quoddam sanguinei coloris in
oder wenigstens sie nicht vollständig vor sich gehabt haben, sondern ent-
weder nur den letzten Theil oder ein Werk das wieder diesen zu Grunde
gelegt. Das Argument, dass in G. nicht alles sich finde was der frühere
Theil von A. Pal. enthalte , beweist das in keiner Weise.
UUt.-Phitol. Classe. XII. E
34
G. WAITZ,
in celo visum est 14. Kai. Decembris, et
multociens hoc eodem anno signa talia
visa sunt.
1129. Adelbertus marchio turrim Gun-
derslevo obsedit, a qua per amicos regis
pellitur.
1131. Hex pascha Treveris celebrat, et
pentecosten in civitate Argentina Urbs
Trajectensis tota cum omnibus eclesiis in-
cendio conflagravit.
celo appamit, et multa talia signa ipso
anno visa sunt.
Adelbertus marchio turrim Gunderslevo
obsedit; sed per amicos regis ab ea pul-
8us abscessit.
Rege pascha Treveris celebrante, urbs
Trajectensis tota cum omnibus ecclesiis
ibidem constructis incendio consumta est.
Diese und ähnliche Stellen weisen auf Annalen hin , die schwerlich
mit den Erzählungen etwas zu thun haben, auf welche sich unsere
Aufmerksamkeit zunächt richtet.
Zu diesen gehören ausser den zum Theil oben angefahrten Stellen
in der Geschichte Heinrich I. und Otto I. andere die sich auf Heimich H.
(A. Pal. S. 65) , auf Papst Gregor VH. (S. 69) , Heinrich IV. (S. 70) , die
Anfänge Lothars (S. 77) beziehen, aber auch einzelne zu früheren Jahren
903, 906, 911, vielleicht auch 833 — 836. Dieselben sind in der Aus-
gabe der A. Pal. auch meist schon hervorgehoben wordeh. Das Ver-
hältnis zeigen folgende Beispiele.
Ann. S. A. Pal.
1068. Preter hec omnia ferebat imagi-
nem quandam ad instar digiti, ex Egipto
adlatam, adorare; a quo quociens responsa
querebat, necesse erat homicidium aut in
summo festo adulterium procurare. Infeli-
citer ergo vixit, quia sicut voluit vixit.
1125. ... virum jam inde ab adolescegitia
in belliß experientissimum et in victoriis
frequentissimum. Quocumque enim se ver-
terat, speciali quodam fato quo Cesar
Julius usus vincebat.
Per immoderatam autem carais petulan-
tiam in tantum a Deo fuit alienatus , quod
etiam quandam imaginem ad mensuram
digiti ex Egipto allatam venerabatur; ab
illo quotiens oracula quesivit, necesse ba-
bebat aut christianum immolare aut ma-
ximam fornicationem in summa festivitate
procurare. Infeliciter ergo vixit, quia sicut
voluit vixit.
Hie ab adolescentia in bellis experien-
tissimus et in victoriis frequentissimus,
quocumque se verterat speciali quodam
fato usus victor extitit.
ÜBER EINE SÄCHSISCHE KAISERCHRONIK UND IHRE ABLEITUNGEN. 35
Was bei beiden weiter folgt, geht aus einander; doch möchte man
geneigt sein , wenigstens das in A. Pal. Folgende auf dieselbe Quelle
zurückzuführen :
Ipse quoque inspirante Deo pacem ecclesie requiemque fidelibus confirmare
sollicitus, ubicunqae inventos predones aut sacrilegos sine acceptione persone vel
muneri8 multare non distulit. Jnsticie enim amator et tenax, precessorum snorom
Constantini, Karoli primique Ottonis imitator et heres, temporum suorum usque
in finem seculi in benedictione memoriam reliquit etc.
Ueberhaupt haben A. Pal. offenbar einen reichlicheren Gebrauch von
dieser Quelle gemacht als Ann. S. , der überwiegend anderen mehr authen-
tischen Berichten in seiner Compilation folgte, und mit einer gewissen
Kritik die weniger historischen Erzählungen verwarf. So haben nur
A. Pal. die Geschichte die für Heinrich I. zu dem Beinamen Vogler
Anlass gegeben haben soll, den Ann. S. ohne weitere Begründung auf-
nimmt, und die sagenhafte Darstellung der Ungarnkriege. Andere Stellen
die man mit grosser Wahrscheinlichkeit auf denselben Ursprung zurück-
führen kann, auch ohne dass sie sich beim Ann. S. wiederfinden , sind
935 über die Kosten von Kaiser Otto I. Mahlzeit (vgl. mit Ann. S. 968),
nachher über seine Gerechtigkeit und die als Symbol derselben auige-
hängte 'bipennis judiciaria', 968 über die ihm gewordene Vision, 981
der Kampf Otto II. mit den Saracenen und seinen Tod , 983 über Bruno
und Willigis, 1000 über die Vergiftung Otto HL, 1001, 1004 und
1022 über Heinrich II. und Kunigunde , die ganz fabelhafte Geschichte
von der Wahl Konrad II. und seinem Streit mit einem Herzog Heinrich
von Baiern, 1045 und 1051 über Heinrich HI. , mehreres in der Ge-
schichte Heinrich IV. , namentlich die Erzählung 1092 von dem Versuch
zur Verführung der Gemahlin Agnes, den Ann. S. nach Bruno erzählt,
während hier eine etwas abweichende Darstellung vorliegt; und auch in
dem verlornen, nur aus der Uebersetzung in S. bekannten Theil trägt
ein Theil der Darstellung diesen Charakter an sich. Ebenso darf nachher
wohl noch mehreres, dessen Quelle sich nicht nachweisen lässt, viel-
leicht auch die Geschichte von dem Markgrafen Hermann von Baden,
hierher gerechnet werden,
E2
36 G. WAITZ,
Uebersehen wir die Stellen, welche dergestalt theils aus der Ver-
gleichung mit Ann. S. , theils ihrem Inhalt nach für das ältere Werk in
Anspruch genommen werden dürfen, so geben sie über den Charakter
desselben einen ziemlich bestimmten Aufschluss. Sie beziehen sich fast
alle auf die Person der Könige, geben einzelne Geschichten aus ihrem
Leben, die bald einen sagenhaften, bald einen legendenartigen Charakter
an sich tragen. Der sächsische Ursprung ist nicht zu bezweifeln: die
Könige dieses Stammes, Heinrich und seine Nachkommen und später
Lothar erscheinen überall im günstigsten licht: nur Rühmliches und
Wunderbares wird von ihnen erzählt. Dagegen die Franken , Konrad IL
und namentlich Heinrich IV. , unterliegen einer entschieden feindlichen
und gehässigen Auffassung : gegen den letzten nimmt der Verfasser ganz
denselben Standpunkt ein der sich in dem Buche Brunos ausspricht.
Ob im Anfang von Konrads IH. Regierung einiges was A. Pal. und
Ann. S. gemeinsam haben auf diese Quelle zurückzuführen ist, bleibt
zweifelhaft Ist es der Fall, so hätte die Darstellung hier einen mehr
historischen Charakter angenommen. Sonst wird man annehmen dürfen,
dass sie mit Lothar endete, und die oben angefahrten Worte: usque in
finem seculi in benedictione memoriam reliquit, dürfen auch nicht so
verstanden werden , als wenn der Autor erst erheblich später geschrieben
hätte. Dass dies nicht möglich, zeigt die Benutzung durch den Ann. S. 9
den wir jedenfalls nicht tief in das 12te Jahrhundert hinabsetzen dürfen.
Die Entscheidung darüber, ob sich eine Beziehung auf ein be-
stimmtes sächsisches Stift annehmen lässt, wird zum Theil davon ab-
hängen, inwieweit noch einige andere Stellen für diese Quelle in An-
spruch genommen werden dürfen. Dahin gehört namentlich 817 über
die Stiftung Hildesheims , 1022 über Godehard von Hildesheim und den
mit ihm in Verbindung stehenden Haimerad, 1134 über die Kirche S.
Godehardi und die Wunder des Heiligen, mit dem Zusatz : fama sanctitatis
ejus ad honorem Dei gaudiumque et profectum ecclesie longe lateque,
sicut hactenus cernitur, divulgata est, die auf ein näheres Verhältnis
des Schreibers zu dieser Barche hinweisen. — Die A. Pal. zeigen auch mit
den Ann. Hildesh. , und ebenso der Ann. S. , grosse Uebereinstimmung.
ÜBER EINE SÄCHSISCHE KAISERCHRONIK UND IHRE ABLEITUNGEN. 37
Mitunter sollte man glauben, dass sie ein etwas erweitertes Exemplar
vor sich gehabt; ein Verhältnis das in der Ausgabe nicht deutlich genug
hervortritt 1 . Diese Stellen aber für das Werk welches uns hier beschäftigt
in Anspruch zu nehmen, scheint* mir kaum erlaubt. Eher wären sie
mit jenen andern annalistischen Nachrichten , die in dieser Zeit A. PaL
und Ann. S. gemeinschaftlich haben (s. S. 34), in Verbindung zu bringen,
und ftlr beide ein anderes Exemplar Hildesheimer oder mit den Hildes-
heimern verwandter Annalen anzunehmen. Diesen würden dann auch
wohl einige der kurzen Notizen aus dem 9ten Jahrhundert , die sich mit
Sicherheit auf keine andere Quelle zurückführen lassen , aber auch ein-
zeln Verwandtschaft mit den Ann. Hildesh. zeigen (z. B. 876), angehören.
Zwei Stellen, die man eher dem andern Werk zurechnen kann,
924 und 1052, gedenken Groslars, das in der Hildesheimer Diöcese ge-
legen war.
Ausserdem hat Gandersheim eine besondere Berücksichtigung ge-
funden : die Gründung des Klosters , der Stadt (d. h. wohl der Befesti-
gung) , dann das Verhalten Heinrich I. und seiner Brüder zu dem Stift
werden erwähnt (S. 60. 61). Da das Kloster ebenfalls dem Hildesheimer
Bisthum angehörte, konnte ebensowohl ein Geistlicher im Stift des
Klosters, wie ein Mönch hier des bischöflichen Sitzes und seiner Ver-
hältnisse gedenken. Doch dürfte das besondere Interesse, welches für
das Liudolfingische Haus , das in den nächsten Beziehungen zu Ganders-
heim stand, in den Nachrichten des Buches sich kundgiebt, wohl vor-
zugsweise für dieses sprechen. Dass dann, wenigstens in unsern Aus-
zügen, nicht weiter von dem Kloster und seinen besonderen Verhältnissen,
dem Streit über die Stellung gerade zu Hildesheim und zu Mainz , den
1) So mussten 1137 die Worte: ( in Castro' etc. nicht gross gedruckt, am wenig-
sten in dem 'qui terra marique? die beiden ersten Worte anders als das
Folgende gegeben werden (Ann. Hildesh.: qui terra marique); nachher war
( igne cremata est 9 nicht zu sperren (Ann. H. : igne concremata est). Im J.
1132 sind die Sätze: 'Hex — perierunt' aus den Ann. Hildesh., während der
erste und der letzte, der erste auf den Godehard bezüglich, sich so nur im
Ann. S. wiederfinden.
88 G. WAITZ,
Aebtissinnen u. s. w. die Rede ist , könnte sich daraus erklären , dass es
eben nicht eine Klostergeschichte , sondern eine Art Königs- oder Kaiser-
chronik war mit der wir es hier zu thun haben. Mehr freilich als das
Recht der Vermuthung wird für diese Annahme nicht geltend gemacht
werden können.
Es bleibt übrig zu erörtern , ob noch anderswo als bei den
beiden vorher genannten Autoren sich eine Benutzung des verlornen
Buches nachweisen und dadurch vielleicht ein weiterer Aufschluss über
den Charakter desselben gewinnen lässt. So sehr man aber an sich und
nach der Wiederholung einzelner auf jene Quelle zurückzufahrender
Erzählungen dazu geneigt sein möchte, eine nähere Untersuchung der
verschiedenen Werke die in Betracht kommen können bestätigt im ganzen
die Erwartung nicht.
Zweifelhaft bleibt es beim Gotfried von Viterbo , von dessen Erzäh-
lungen ein Theil auf diesen Ursprung zurückgeht, ohne dass sich jedoch
mit Sicherheit darthun liesse, ob er das ursprüngliche Werk oder die
abgeleiteten Annales Palidenses vor sich hatte. Eine gewisse Wahr-
scheinlichkeit dürfte sich aber vielleicht für die erste Annahme geltend
machen lassen. Naher untersucht hat die Sache Hr. Dr. Ulmann in
seiner Schrift über Gotfried S. 68 ff.
Von der Sachsenchronik war schon die Rede. Sie hat nur die
A. Pal., nicht das ältere Buch gekannt.
Eine Erzählung die auf dies zurückgeht findet sich bei Eberhard von
Gandersheim, einem Autor aus dem Anfang des 13ten Jahrh., der ein älteres
Buch über die Geschichte seines Klosters in deutschen Versen wieder-
gegeben hat. Hier könnte man meinen , auf die unmittelbare Benutzung
eines Werks, das einen Gandersheimer Ursprung zu haben scheint, zu
stossen. Aber doch hat eine solche ohne Zweifel nicht stattgefunden.
Vergleichen wir den betreffenden Abschnitt (Leibniz SS. DI, S. 149)
— es ist die Geschichte von dem Ungarnkriege K. Heinrich I. — mit A. Pal.
und S. , so zeigt sich namentlich an einer Stelle eine nähere Ueber-
einstimmung mit dem letzteren. Wo jene sagen: 'et ut deferrent (den
ÜBER EINE SÄCHSISCHE KAISERCHRONIK UND IHRE ABLEITUNGEN. 39
(Hund) sacramento constrinxit, et sie demum vaeuos ac sinehonore di-
misit\ fügt S. hinzu: 'of he wolde genegen anderen tins, den solde he
winnen mit s werden'. Und dem entsprechend heisst es bei Eberhard
c. 29, v. 37: Unde entbot ome ok, wolde he mer tinses ghewolden,
Den scholde he vor öme mit dem swerde beholden.
Ebenso nennt derselbe mit S. Sachsen, wo A. Pal. von den 'partes
orientis' sprechen. Dagegen findet eine andere Wendung von S. , dass
die Ungarn durch Baiern und Franken gezogen , auch hier keine Berück-
sichtigung. Einiges ist Eberhard eigentümlich : dass Heinrich an der
Ocker gelagert, die Seinen bei dem Angriff auf die Ungarn voll Angst
waren und ihn zum Theil verliessen. Doch wird man dies wohl der
etwas ausmahlenden Feder des Dibhters zurechnen dürfen. Vgl. den
Excurs 14 zu den Jahrb. K. Heinrich I. Zweite Bearbeitung S. 248.
Die Frage ist, welcher Darstellung Eberhard folgte. Weder mit
A. Pal. noch mit S. zeigt sich sonst irgend welche Uebereinstimmung.
Dass der Autor jene gekannt, ist auch wenig wahrscheinlich. Aber
auch an das ältere Werk ist nicht wohl zu denken. Man würde sonst
namentlich eine Benutzung der eigenthümlichen Gandersheimer Nachricht
von dem Verhalten Heinrichs und seiner Brüder gegen das Kloster hier
erwarten. Da S. dieselbe nicht aufgenommen hat, konnte Eberhard sie
nicht kennen, wenn er eben jene benutzte. Auf S. weisen aber auch
die angefahrten Stellen hin. Ist S. , wie wir nicht zweifeln können,
aus A. Pal. entstanden, so konnte Eberhard die eine Wendung nur
aufnehmen, wenn er S. vor sich hatte: wir müssten sonst annehmen,
dass uns in der einzigen Handschrift der A. Pal. ein ungenauer Text
überliefert wäre und ein davon abweichender, den Eberhard in dem
älteren Werk kannte, dem Verfasser von S. vorgelegen hätte; was doch
jedenfalls nur geringe Wahrscheinlichkeit haben kann. Dagegen ist
alles einfach, wenn Eberhard S. benutzte. Dem steht aber, nach dem
was oben ausgeführt ist, auch nicht entgegen, dass Eberhard schon im
J. 1216 sein Buch verfasst hat (c. 17, S. 158) l . Denn auch aus andern
1) Dieser Angabe entspricht es, wenn die letzte Thatsache deren Erwähnung ge-
40 G. WAITZ,
Gründen, sahen wir, ist anzunehmen, dass die erste Abfassung von S.
noch vor dieses Jahr gehören muss.
Auf andere Ableitungen der Sachsenchronik ist hier nicht einzu-
gehen. Friedr. Pfeiffer u. a. haben darüber zur Genüge gehandelt. Ich
bemerke nur, dass die unter dem Titel Sassenchronik 1492 gedruckte
Bilder chronik (Chronicon picturatum, bei Leibniz III) doch nicht sowohl
wie eine nur etwas veränderte Recension des älteren Werks, sondern
vielmehr als eine im wesentlichen selbständige Arbeit, unter Benutzung
jenes , aber mit zahlreichen eigenen Nachrichten , angesehen werden muss.
Ein kürzerer Auszug, mit Hinzufügung hauptsächlich Magdeburger
Nachrichten, ist die sogenannte Weichbildchronik, der in den Hand-
schriften des Weichbilds das (aber auch anderwärts vorkommende) Gedicht
über Eikes Autorschaft, man weiss freilich nicht welchen Buches, voran-
geht: 'Got gebe siner seien rad, der dis buch gerichtet hat, Eyke von
Repchowe* etc. (s. Homeyer, Sachsenspiegel S. 4).
Dagegen ist das Königebuch (Der Künige buoch), das sich in
Handschriften des Schwabenspiegels und zum Theil auch in dem Deut-
schen Spiegel findet (vollständig herausgegeben von Massmann, bei
v. Daniels, Land- und Lehnrechtsbuch I, S. XXI ff.) ohne allen Zusam-
menhang mit dem hier besprochenen Werk, obschon dies manchmal
unter demselben Titel vorkommt (Pfeiffer S. 28). Es ist, wie der Her-
ausgeber zeigt, eine prosaische Auflösung der Kaiserchronik, doch mit
mancherlei Zusätzen, die sich aber weder mit S. noch etwa der älteren
Sächsischen Chronik berühren.
schieht der Freibrief Papst Innocenz HI. v. J. 1208 ist. Freilich heisst es
von der Äbtissin Mathilde S.171: 4 Regerde 28 jar' (f 1224). Allein die Worte
passen nicht in den Vers und sind in Widerspruch mit dem Folgenden, wo
der Autor schreibt:
Wenne God gheve mynen leven vruwen sälighen ende,
By der herschup ek an düssen dichtende wende;
worunter nur Mathilde verstanden sein kann. Jene Worte sind also ein spä-
teres Einschiebsel.
ÜBEK EINE SÄCHSISCHE KAISERCHRONIK UND IHRE ABLEITUNGEN. 41
Von grösserer Wichtigkeit erscheint ein Werk welches unter dem
Namen Chronica Saxonum von Henricus de Hervordia citiert wird und
in ziemlich bedeutenden Fragmenten bei ihm erhalten ist. Nach dem
Titel und nach einem Theil des Inhalts wird man geneigt sein eine
nähere Verwandtschaft mit den bisher besprochenen Darstellungen, sei
es dem Original oder einer der Ableitungen, zu erwarten. Aber eine
nähere Vergleichung bestätigt auch dies nicht.
Das Werk wie es Heinrich kannte muss jedenfalls der Mitte des
13ten Jahrhunderts angehören: die Errichtung des Herzogthums Braun-
schweig und Lüneburg wird schon in einem der früheren Abschnitte
(Henr. c. 79, ed. Potthast S. 74) erwähnt. Die Auszüge die Heinrich
unter Anfahrung der Quelle giebt gehen bis zum Tode Otto IV. (S. 174).
Doch können auch einige spätere Stellen wenigstens mit einer gewissen
Wahrscheinlichkeit auf diese Vorlage zurückgeführt werden; und ihre
Entstehung wird wohl erst in die zweite Hälfte des Jahrhunderts zu
setzen sein.
Schon früher ist darauf hingewiesen (Jahrb. Heinrich I. Erste Bearb.
S. 188), dass zwischen dieser Chronica Saxonum und dem von Mader
und Leibniz (SS. R. Brunsv. H.) bekannt gemachten Chronicon vetus
ducum Brunsvicensium ein naher Zusammenhang besteht. Potthast,
ohne sich ganz bestimmt auszudrücken (Praef. S. XIX). scheint es für
möglich zu halten, dass Heinrich dieses vor sich gehabt und benutzt
habe, während anderes auf Arnold von Lübeck zurückgeführt werden
müsse. Aber eine Vergleichung beider Werke kann keinen Zweifel las-
sen , dass das gedruckte Chronicon nur der Auszug eines grösseren Werkes
ist das dem Heinrich vorlag. Hie und da zeigt sich wohl eine fast
wörtliche Uebereinstimmung. Man vergleiche die Stelle über Heinrich IV.
Chron. Sax. S. 111.
Iste multis preliis Saxones vexavit, ur-
bem Hartisborch et monasterium in ea con-
struxit. Quod Saxones destruxerunt. Victo-
riosus in bellis fuit. Qui et ducem Saxonie
de Lunenborch Magnum nomine et Albertum
marchionem de Ballenstede cepit et integro
Chron. Brunsv.
Iste multis praeliis Saxones vexayit, ur-
bem Hartesborch et monasterium construxit
in ea. Quae Saxones destruxerunt. Victo-
riosus in hello fuit. Qui et ducem Saxoniae
de Luneborch Magnum nomine et Albertum
marchionem de Ballenstede cepit et anno
HisL-Philol. Classe. XII. F
i
42
G. WAITZ,
anno destintrit, ita ut nullus sciret, quid
de ipsis accidisset. Sed tandem regno de-
turbatus, in Leodio moritur, Henricam V.
filiam suum regem derelinquens.
In andern Fällen giebt aber
zug, z. B.
Chron. Sax. S. 156.
De hac quoque styrpe erat episcopus
Constantiensis Conradus, qui canonizatus
in cathalogo sanctorum ascriptos est. Quo
quandoque dum venisset Henricus Leo, pro
vinculo natorali, quo tenebatur consan-
guineo , et pro reverentia devotionis , quam
debuit viro sancto, ipsam Constantiensem
ecclesiam magnis prediis honoravit.
integro detinuit captivatos. Tandem papa
contra ipsum ferente sententiam, de regno
deponitur, et in Leodio moriens filium
Henricum V. successorem regni, qui eidem
patri cum Saxonibus adversatus fuerat,
| dereliquit.
das Chron. Brunsv. nur einen Aus-
Chron. Brunsv. S. 16.
De eadem quoque stirpe fuit in Con-
ßtantia quidam episcopus nomine Conradus,
qui pro sanctitatis suae merito est canoni-
satus. Quo cum quoque (1.: quandoque)
venisset dux Hinricus Leo, pro affectu
naturali et devotione ecclesiam Constan-
tiensem ob s. Conradi reverentiam donis
et praediis magnifice honoravit.
Dieser Auszug fallt mitunter viel kürzer aus, wenn es z. B. von
dem Kampf Heinrich I. gegen die Ungarn heisst : Juxta Wagersleve 50
milia Ungarorum um quatuor millibus in praelio superantur. — Da
gleich zu Anfang gesagt wird: sicut habetur in quibusdam chronicis, so
ist damit ohne Zweifel eben nur das ältere Werk gemeint Einiges ist
aber auch aus diesem hier besser bewahrt als bei Heinrich. Dieser sagt
(S. 174) von Otto IV.: Hie imperator in cronicis Saxonum multipliciter
et in multis commendatur. Ein solches Lob lesen wir eben in dem
Chron. vet. Brunsv., S. 17: Fuit enim corpore robustus — de rege utiliori
provideret* und dürfen dies ohne Zweifel als ein Stück des alten Werks
in Anspruch nehmen. Auch was das Chron. Brunsv. zu der bei Henricus
c. 85 , S. 103 , mitgetheilten Stelle mehr hat , werden wir dahin rechnen
dürfen. Dagegen fehlt in dem Auszug wieder anderes was Heinrich auf-
bewahrt hat, und auch die längere Stelle c. 90, S. 156, für welche die
Chronica als Quelle genannt wird, die aber im wesentlichen auf Arnold
von Lübeck zurückgeführt werden kann, ist gewiss als ein Theii der-
selben anzusehen. Es hindert nichts anzunehmen , dass der Autor dieser
ÜBERFEINE SÄCHSISCHE KAISERCHRONIK UND IHRE ABLEITUNGEN. 43
den Arnold benutzte: wäre derselbe Heinrich selbst zu Händen ge-
wesen, würde dieser sicher noch einen ganz andern Gebrauch von dem
Buch gemacht haben, wie er es bei Helmold gethan. Anderes wo
Heinrich seine Quelle nicht nennt ergiebt sich aus der Vergleichung mit
dem Chron. Brunsv. als aus jener geflossen; z. B. S. 100 über den Swickerus,
S. 146 über Heinrich V., wogegen umgekehrt 1114 S. 141 die Angabe
über den sanctus Thegoduthe wohl von dem Vorhergehenden getrennt
und auf andern Ursprung zurückgeführt werden muss, und ebenso 913,
S. 72, von Ludolf, qui sedem principatus sui habuit in Capenbergh et
fuit de sanguine Widekindi regis Augarorum, wohl nicht wie das Vor-
hergehende aus der Chronica Saxonum ist. — Das Chron. Brunsv. schliesst
mit einer Nachricht aus dem J. 1288, deutet aber, wie schon Leibniz
(nur nicht ganz richtig) bemerkt hat, an einer andern an, dass es etwas
früher, vor dem Tode Erich Glippings von Dänemark (d. i. 1286), aber
nach 1272 , der Thronbesteigung Eduard I. von England , geschrieben.
Ob sich dies auf das zu Grunde liegende Original oder auf den jetzt
vorhandenen Text bezieht, ist freilich nicht ganz deutlich: doch hindert
nichts jenes anzunehmen. Und dann können auch einige spätere Stellen
bei Heinrich auf diese Quelle zurückgeführt werden , namentlich S. 198
über die Erwerbung Asseburgs durch die Herzoge von Braunschweig
1258, was auch das Chron. Brunsv. kurz und vielleicht nur durch einen
Fehler mit dem J. 1262 erwähnt. Dagegen filr die Nachricht über die
Ereignisse in der Stadt Braunschweig 1294 wird ein anderer Ursprung
anzunehmen sein.
Immer aber erscheint die von Heinrich so genannte Chronica Saxo-
num als eine auch schon wesentlich Braunschweigsche Chronik. Die
Geschichte dieser Stadt, der älteren Grafen wie der späteren Herzoge
findet vorzugsweise Berücksichtigung. Mit den Werken die uns bisher
beschäftigten, der deutschen Sachsenchronik oder den ihr unmittelbar
oder mittelbar zu Grunde liegenden älteren Darstellungen, zeigt sich nur
eine sehr geringe Verwandtschaft.
Dass die Chronica Saxonum und die sogenannte Repgowsche Chronik
nichts mit einander zu thun haben, ist schon von Potthast ganz mit
F2
44 G. WAITZ,
Recht bemerkt (S. XIX) l . Ebenso wenig weist irgend etwas auf eine
Benutzung der A. Pal. hin. Aber auch, was man am ersten geneigt
sein möchte hier zu suchen, eine Ableitung aus der älteren, in den
Auszügen der A. Pal. und des Ann. S. erhaltenen sächsischen Kaiser-
chronik, lässt sich nicht wahrscheinlich machen.
Nur in der Geschichte Heinrich I. findet eine allerdings merkwür-
dige Uebereinstimmung statt. Auch die Chronica Saxonum giebt eine
Relation von dem Ungarn kriege , die in den Hauptzügen an die durch
die A. Pal. überlieferte sich anschliesst, aber in einigen Einzelheiten
abweicht: statt Jechaburch wird die von den Ungarn belagerte Feste
Lychen genannt; die in der Schlacht entkommen, werden in Sümpfen
erstickt, und bei der Gelegenheit die palus in Wagghersleve , que dividit
nemora Elmonem et Huyonem, genannt, also wohl dieselbe Gegend
bezeichnet welche auch schon der andere Bericht hat , aber die Localität
näher angegeben und eine Tradition über den Sumpf hinzugefügt. Auch
der Beiname 'dinkelere' und 'auceps' findet sich, wenn auch ohne Aus-
führung über den Anlass, ebenso die Nachricht, dass Heinrich die Königs-
krone sich nicht (das Chron. Brunsv. hat aus dem 'numquam' ein 'raro'
gemacht) aufsetzen Hess, ohne Angabe des Grundes, den die andere
Ueberlieferung anzugeben weiss. Mit dieser gemeinsam wird die Grün-
dung Goslars auf Heinrich zurückgeführt, aber auch der Entdeckung
der Metalle im Rammeisberg gedacht. Wird daneben von der Stiftung
Quedlinburgs gesprochen, so weiss der Verfasser hierüber Näheres hin-
zuzufügen: dagegen übergeht er Gandersheim und die Stiftungen der
Mathilde, die in dem andern Bericht in demselben Zusammenhang vor-
kommen, ganz. Ihm eigentümlich (vorher in den Ann. Magdeburg.
1) Dagegen kann ich nicht beistimmen, wenn er auch jede Kunde der (Repgow-
schen) Sachsenchronik dem Heinrich abspricht, S. XIX. Eine Stelle, die schon
Friedr. Pfeiffer S. 64 angeführt hat und von der oben S. 25 die Rede war,
über die Verurtheilung Heinrich des Löwen, ed. Potthast S. 161, stimmt so
mit der hier eigenthümlichen Darstellung jener überein, dass dieselbe sicher
als Quelle anzusehen ist, und nur darüber kann ein Zweifel bleiben, ob
Heinrich sie unmittelbar oder durch weitere Vermittelung benutzte.
ÜBER EINE SÄCHSISCHE KAISEßCHRONIK UND IHRE ABLEITUNGEN. 45
919, SS. XVI, S. 142), aber falsch, ist die Angabe über Heinrichs Mutter.
Der ganze Abschnitt trägt, trotz der angegebenen Uebereinstimmung,
doch einen solchen Charakter , dass man ihn nicht auf die in den A. Pal.
benutzte Aufzeichnung wird zurückführen können. ,
Und sonst zeigt sich nirgends auch nur die mindeste Verwandtschaft
mit dem was hier als Ableitung aus jener älteren Sächsischen Chronik
angesehen werden darf: nichts von den sagenhaften Geschichten über
die Ottonen , die Wahl Konrad II. , Gregor VII. kehrt hier wieder , wäh-
rend anderer seits die der Chronica Saxonum eigene Auffassung und Be-
zeichnung mancher Verhältnisse , wie die Beziehung der Mathilde , Hein-
rich I. Gemahlin, und ihrer Familie auf Ringeheim, die Geschichten
von dem Ursprung und den Uebertragungen sächsischer Bisthümer , die
Braunschweiger Nachrichten, sowohl den A. Pal. wie dem Ann. S. gänz-
lich fremd sind, offenbar auch in der älteren Chronik nicht gestanden
haben können. Die beiden Werke berühren sich in der That nur an
der einen angegebenen Stelle. Und die Uebereinstimmung ist dann
nicht wie bei Eberhard von Gandersheim der Art, dass man unter den
verschiedenen Relationen eine mit irgend welcher Wahrscheinlichkeit als
benutzt angeben könnte, auch nicht die des Eberhard selbst. Vielmehr
scheint der Autor hier in der Geschichte Heinrichs, wenn nicht die
mündliche Tradition oder ein altes Lied, so doch eine selbständige
neben der Aufzeichnung in der älteren Sächsischen Chronik stehende
Ueberlieferung benutzt zu haben. Spuren einer solchen, wenn auch in
weiterer Entstellung und Verwirrung , finden sich auch in andern Denk-
mälern, namentlich dem was in den Miracula S. Mariae de Bredelar
erhalten ist , daraus von Massmann , Kaiserchronik III. bekannt gemacht ;
s. Jahrb. Heinrich I. , Excurs 14. Zweite Bearb. S. 251.
Dass diese Chronica Saxonum auch von anderen Autoren benuzt
sei, hat an sich alle Wahrscheinlichkeit. Doch lässt es sich kaum in
einem einzelnen Fall mit Sicherheit nachweisen.
Vielleicht am ersten anzunehmen ist es bei der Braunschweigschen
Reimchronik. Leibniz (SS. II. Praef. S. 4. N. II) hat schon auf eine
Verwandtschaft mit dem Chronicon vetus Brunsv. aufmerksam gemacht.
46 G. WAITZ,
Diese tritt aber auch sonst an zahlreichen Stellen hervor; der Autor
citiert selbst mehrmals 'de scrifft van Brunswik' (c. 8, v. 72), 'van
Brunswik der forsten scrifft' (c. 20, v. 77). Das Meiste findet sich dann
auch entsprechend in dem Auszug des angeführten Chronicon Brunsv. Es
ist aber wenigstens möglich, dass das ältere Werk selbst dem Dichter
zu Gebote stand. In der Stelle wo er von dem Kampf Heinrich I.
gegen die Ungarn spricht, den auch er an den Elm setzt, heisst es
(Leibniz III, S. 18):
Alse men an vil buchen fint ,
Beide to Düde unn to Latine.
Der Autor scheint hier also verschiedene Darstellungen dieser Geschichte
vor sich gehabt zu haben: und unter der lateinischen kann dann am
ehesten die der Chronica Saxonum verstanden werden ; wogegen das Chro-
nicon Brunsv. nur eine ganz kurze Erwähnung der Schlacht hat (s. S. 42),
auf die jene Anführung kaum gehen wird. Dass der Reimchronist
ausserdem die deutsche Sachsenchronik kannte und vielfach benutzte, ist
schon von andern bemerkt und nachgewiesen worden (Pfeiffer S. 65):
er citiert sie (Leibniz SS. DI, S. 3. 25. 29) unter dem Namen der 'Rome-
schen kroneken'. Ebenso hat die dem Eberhard von Gandersheim zu
Grunde liegende ältere Gandersheimer Chronik ihm manches dargeboten,
wie namentlich die Angabe über den Vater des Herzogs Liudolf von
Sachsen Bruno, die nur auf dieser Ueberlieferung beruht (s. Jahrbücher
Excurs 1, S. 186). Auf andere Quellen späterer Abschnitte, wie die
Stedernburger Chronik (Cohn a. a. O. S. 18 ff.) , ist hier nicht einzugehen.
Wenn das umfangreiche Werk bisher auch nicht vollständig auf seine
Quellen zurückgeführt ist , so ergiebt sich doch so viel , dass kein Grund
ist, neben dem Nachweisbaren noch andere uns unbekannte Nachrichten
als benutzt anzusehen: eine Kenntnis der älteren Sächsischen Kaiser-
chronik tritt nirgends hervor.
In andern Fällen ist auch nicht einmal eine unmittelbare Benutzung
der Chronica Saxonum selbst anzunehmen.
Kprner, der sie oft citiert, hat doch nur den Henricus gekannt,
und wenn er sie auch da anfahrt, wo dieser aus anderen Quellen schöpft,
ÜBER EINE SÄCHSISCHE KAISERCHRONIK UND IHRE ABLEITUNGEN. 47
so entspricht das nur dem Verfahren das ihm überall eigen ist: ganz
willkürlich beliebige Gewährsmänner für die Nachrichten die er aus dem
Henricus ausschreibt zu nennen (s. Archiv VI , S. 762 , Fotthast S. XXVII),
und hat nicht die mindeste Autorität.
Lerbeke in seinem Chronicon Mindense benutzt ebenfalls den Hen-
ricus (Potthast a. a. O.). Wenn es aber an einer Stelle heisst (Leibniz
SS. II, S. 174): Tempore eodem Henricus imperator, quem in Cronica
Saxonum nequam vocant , sibi rebelies vastat (von Heinrich V.) , so weiss
ich das auf keine Stelle bei jenem zurückzufahren, glaube aber nicht,
um des willen eine Benutzung der hier besprochenen Chronik selbst an-
nehmen zu dürfen. Vielmehr scheint die deutsche Sachsenchronik ge-
meint, in der sich der ganz entsprechende Ausdruck findet (ed. Mass-
mann S. 383): Dit was de ovele keiser Hinric (oder in anderen Hand-
schriften : k. H. de ovele). Auf Lerbeke geht wieder ein anderes Chro-
nicon Mindense (Meibom S. 554 ff.) zurück. Oder es hat vielmehr wohl
noch ein reicheres Chronicon von Minden gegeben , das in beiden auszugs-
weise wiederholt ist , selbst aber aus Heinrich von Hervord abgeschrieben
hat. Aus einem solchen ist , wie ich früher bemerkte , auch die Narratio
de fundatione quorundam Saxoniae ecclesiarum (Leibniz SS. I) geflossen,
die man früher sehr mit Unrecht als eine selbständige Arbeit des lOten
Jahrhunderts ansah (s. Nachrichten 1857. S. 63 ff.). Und so erklären sich
einige Berührungen mit der Chronica Saxonum, während an eine Be-
nutzung dieser nicht zu denken ist.
Die Chroniken des späteren Mittelalters, namentlich im nördlichen
Deutschland, gehen, wie aus dem Gesagten erhellt, ein Theil auf die
Chronica Saxonum, ein anderer auf die von uns sogenannte Sachsen-
chronik zurück. Jene ist aber seltener als diese, soviel wir sehen nur
dreimal, vielleicht sogar nur zweimal, direct benutzt Sie ist uns selbst
in ihrer originalen Gestalt nicht erhalten. Dagegen hat die etwas ältere
deutsch abgefasste Sächsische Weltchronik eine weite Verbreitung in
verschiedenen, zum Theil abgekürzten Fassungen und lateinischen Ueber-
48 G. WAITZ,
Setzungen und eine mannigfache Benutzung in Büchern anderer Autoren
erfahren. Beide unter einander sind nicht näher verwandt. Von beiden
zu trennen ist die ältere Sächsische Kaiserchronik, deren Bruchstücke
beim Ann. S. und in den A. Pal. vorliegen. Keins der beiden späteren
Werke hat es selbst benutzt. In der Sachsenchronik liegt eine mittel-
bare Ableitung vor ; wo die Chronica Saxonum sich mit ihrer Erzählung
berührt ist, ein anderweit vermittelter Einfluss der zu Grunde liegenden
mündlichen Ueberlieferung anzunehmen.
Hiernach ergiebt sich von selbst, wie die historische Forschung sich
zu den verschiedenen hier in Betracht kommenden Werken zu ver-
halten hat.
, »
Beilage*
Ueber
die Wolfenbütteler und Münchener Handschriften der
Sachsen chronik.
Die drei Wolfenbütteler Handschriften sind von Massmann sehr
ungenügend beschrieben, von Schöne nach ihrer Stellung zu den andern
nur theilweise richtig bestimmt. Eine nähere Untersuchung war an sich
geboten und hat nicht unerhebliche Resultate fär die Geschichte des
hier enthaltenen Werkes gegeben.
1) Aug. 44, 19 (Massmann X.W 2 , Schöne d 2 ). Auf Papier in Folio
am Ausgang des löten oder Anfang des 16ten Jahrhunderts geschrieben,
von einer sehr deutlichen und sorgfaltigen Hand. Der Codex stellt sich
als werthvolle Abschrift eines älteren Exemplares dax. Dass dies die
Gothaer Handschrift , wie Schöne sagt S. 8 , ist in keiner Weise anzuneh-
men, da, wie schon Massmann bemerkt, weder die Ordnung ganz über-
einstimmt (dagegen ist sie dieselbe in der Strasburger Handschrift), noch
die Lesarten genau zusammentreffen, ausserdem der Schluss wesentlich
abweicht.
So hat, um zunächst von diesem zu sprechen, der Codex einen
Absatz über Herzog Abels Tod 1251. der in G. fehlt» dagegen auch in
der (abgekürzten) Breuer Handschrift steht (Schöne S. 91), und der erst
nach 1251 geschrieben sein kann.
Nachher fehlen umgekehrt die letzten Sätze von Q. ganz : 4 Darna —
grot jamer' (Eccard S. 1412. Schöne S. 92). Es schliesst sich unmittelbar
HisL-Philol.Classe. XU. G
50 G. WAITZ,
an den vorhergehenden Satz : 4 nu were des nicht sie wollen zu aller
herren willenn' das an was auch in Br. folgt: 4 By den zidenn — MCCLX
(geändert MCCXL) in die Margarete', und dann eine Fortsetzung bis in
die Zeit Rudolfs von Habsburg hinab , unterbrochen ( nach dem Tod des
Pabst Clemens) durch chronologische Notizen aus der ältesten Geschichte :
4 In deme dridden jare sluch Herodes ' etc. , die zuletzt in folgende An-
gaben auslaufen (S. 139 1 ):;
Von Goddes geburt over 936 jar wart Ottho der Große keyser,
38 jar. In sineme anderen jare buwede he Maydeburch.
V. G. g. o. 1099 jar gewan hertzog Lodewich das lannt zu Jerusalem
den heyden äff. Dar wart sin bruder Baldewin der erste christene konig.
Jerusalem stundt in der christenen gewalt 88 jar. Do gewan ys Saladin
den christenen .äff.
In deme 1165 (corr. 1115) jare dar wart der stritt zum Welpeßholtze.
V. G. g. o. 1130 jar wart der marggrave Albrecht gewunt unnde
gevangen zu Behemen unnd greve Mile geslagen todt unnd tusent riddere
mit eme der Dudeschen von konig Conrades söhne.
V. G. g. o. 1229 jar wart Jerusalem deme keyser Pridriche wider
gegeven.
V. G. g. o. 1241 jar vorging die sunne in dem achteten tage Mi-
chaelis eynes suntages.
Diese Notizen hängen zum Theil mit der Weichbildschronik zu-
sammen.
Sie finden sich ähnlich in der Strasburger Handschrift (Massmann
S. 600). Hier schliesst sich dann nach Massmanns Beschreibung die
Notiz über die 15 Zeichen vor dem jüngsten Gericht an, die in unserm
Codex erst nach der Geschichte K. Rudolfs folgen. Dagegen soll Str.
schon vorher eine Fortsetzung bis Ludwig d. B. , die lezten Kaiser ganz
kurz, haben: inwieweit diese theilweise mit der hier vorhandenen über-
einstimmt, ist aus der Beschreibung nicht deutlich l . Als unmittel-
1) Massmann giebt das Ende von Str. ganz unpassend nach einer andern abge-
kürzten Wolf. Handschrift an, fügt aber hinzu: die Handschrift fahre fort:
'Do wrak' etc., wie alle dieser Klasse.
ÜBER EINE SACHSISCHE KAISERCHRONIK UND IHRE ABLEITUNGEN. 51
bare Quelle kann jedenfalls Str. ebenso wenig als G. für unsern Codex
gelten l .
So gewinnen auch die einzelnen Abweichungen der Handschrift an
Bedeutung.
Ich vergleiche die Geschichte Friedrich II. (Eccard S. 1401. Schöne
S. 83. Massmann S. 461) 2 .
Es fehlen gleich Anfangs die Worte 'ane werren'; '33' scheint verändert in '32'.
S.463 fehlt 'Albrecht'; es heisst hier: 'legede die keyser eynen hoff 1 . S. 464 'unde
wart na ime en ander Gerart bischop', oder wie die Fassung in Br. anders lautet,
fehlt ganz. Im Folgenden entspricht der Text ganz G., der hier eine abweichende,
offenbar ältere Fassung hat, die hierdurch weitere Beglaubigung empfängt: 'Do
sprachenn etliche lüde, das her ys nicht thun ne mochte an erven loff, etzeliche
lüde, sunder erven loff thun mochte, dar wart eynes urtels umme vraget, da van
men tzu rechte, were her ein Swavei, her mochte yz woll thun. Das ys woll wyslich,
das he nein Swavei ne was, wen ein recht Swaff van alle sinen elternn'. Diese
Stelle ist also in Br. geändert, und aus diesem die spätere Fassung in alle abge-
kürzten Handschriften übergegangen. Nachher steht '1215' statt '1220'; statt
'luden' 'vrunden'; es fehlt nicht blos wie in G. 'beide', sondern der Text lautet:
'die bischop starff darnach schire'; 'Calabre unde alle — binne lagen' fehlt. S. 466
steht 'greve' statt 'marcgreve'; 'vile geslagen mehr'. S. 467 'braken' fehlt; statt
'1223' in G. steht '1218'; 'toheu' etc. ist falsch übersetzt 'zoch hin zu' (wie in
der Bremer Handschrift 4 to hen' steht; s. Massmann N. 24; die weiter abgekürzten
Handschriften lassen das Ganze aus, vielleicht weil sie es nicht verstanden); die
nur aus G. angeführte Stelle findet sich auch hier ganz übereinstimmend. S. 468
fehlt 'quamen se' (wie auch G.); ebenso (aber nur hier) 'van Louenborch ; nach
'Denen' steht 'brachen ihre lovede' (wie G., was aber aus dem Späteren entstanden
und falsche Lesart ist). S. 469 'Alve graeven' fehlt; 'Ocseho'; statt 'Luneborg'
1) Ein paar Lesarten die Massmann aus der Strasburger Handschrift angiebt,
in dem Abschnitt über die Herkunft der Sachsen, stimmen auch nicht mit
Wolf. Diese liest S. 579 'Overker\ und zwar beide Male, nachher 'Metze',
dagegen 'mach' (wie Str.), aber 'köre' (wie G.); S. 582: 'das vorburge',
'nagedelt'; S. 584: 'avelinge', 'vorslape' (wie Str.); S. 588: 'uff loide'; 'no-
tinne'; S. 586: 'och lotende'; S. 587: 'unugorum' oder 'uungorum'; S. 588:
'Saftenn lant'; zuletzt: 'geschreven an diesem buch'.
2) Kleinere Verschiedenheiten der Lesart, die zum Theil schon Massmann her-
vorgehoben, lasse ich zur Seite.
G2
52 G. WAITZ,
steht ( Bnm8ohwich'. S. 470 'koninge — graeven' fehlt; ebenso nachher 'Alve'; statt
'23' steht '18'. S. 471 fehlt 'Hinric'. Die Handschrift hat nichts von den beson-
deren Nachrichten der Codices zu Berlin, Hamburg und Wolfenb. 2, welche Mass-
mann in der Note, Schöne im Text giebt, und die als Zusätze der abgekürzten
Recension erscheinen (auch Bremen etc. haben sie nicht). S. 472 (wo G. , dem ein
Blatt verloren, zur Vergleichung fehlt) steht statt 'stege' 'treppen'; 'die wordenn
nicht men halff gelost; her vorschwor unde vorlovede'. S. 473 statt 'sine truwe
unde ede' nur 'die söhne 9 ; 'weder ene'; 'vorenn over r ; 'unnd slugenn des koninges
vele'; 'des k. 0. br.' fehlt; 'das lannt unnd die stat zu Staden'. S. 474 'stat zu
Brunswich mit des 9 ; 'Oczeho'; 'Do losede greve AUF'; 'van Luneborg' fehlt; ebenso
'Albrecht'. S.475 'herfart over mehr'. S.477 'buwede — Dziaf unde' fehlt; ebenso
'to Jerusalem'. Im Folgenden habe ich nur noch einige grössere Verschiedenheiten
hervorgehoben. S. 480 ' des jungen koniges'; 'Sluckere'; 'egen' fehlt. 8.481 'greve
Seyme' (corr. aus 'Seym*); 'C. von Morsorurch'; 'Seyme' aus Correctur (hier aus
'Seyne'?). S. 482 'unde voren — kraft* und 'unde d. g. v. B.' fehlt S. 484 'Hein-
rich zu hulpte unnd zu huldenn'. S. 485 'in deme velde' fehlt. S. 486 'die van
Meylan mit groseme here\ S. 487 'geitline vrowen'; 'durch das her stredde, die
Langobarderne voren weder ene'. S. 488 'von Poytouwe' fehlt; 'de herevard' fehlt
('vor ihrer gegen'); 'de graeve' fehlt vor 'van Britannia'; 'Bare'; 'Segerite'; 'dar
belef vele lüde dot' fehlt; 'Lubus' fehlt (letzte Zeile; 'waB vore'). 8.489 'Der
bishop van Maydeburch', auch das zweite Mal statt 'Halberstadt'; 'unde sine lüde'
fehlt; ebenso 'grote' vor 'herevart', 'twe' vor 'dustot'; 'Roges'; 'de marcgittve'
fehlt; 'Gondewich'. S. 490 'Irkeßcleve'; 'durch Goddes christlichen geloven, sru w.'
S. 491 'des keisers sone' fehlt; 'Enwe' statt 'Genewe'; 'zu Rome unnd zu Roten-
lewen'. S. 492 '6000 vonme temple unnd die vom spettale' (wie G., was Massm.
weglässt und ebenso Schöne); 'und der cristenen' (wie G.); 'roveden sie den tempel
zu Jerusalem und singen vil cristen volkes'. S. 493 'hertzoge Abele' (wie G.); 'here
manliche an D.'; 'der konig hunger'; 'worpravels'; 'van den Vresen suntlichen in
deme höre' fehlt (die ganze Stelle, wie vorher bemerkt, nicht in G.); 'paveses rade
unnd geböde'; 'Willekine'.
Ein nicht kleiner Theü der Abweichungen beruht, wie leicht er-
hellt, auf Irrthum oder Nachlässigkeit. Andere aber verdienen Beach-
tung, wenn auch nur weil der Codex einen anderen älteren Text darstellt.
Manche Fehler sind offenbar aus Mißverständnis entstanden bei der
Uebertragung des niederdeutschen Originals in einen hochdeutschen
Dialekt, wie er hier vorliegt. Beispiele sind zum Theil schon im Vor-
ÜBER EINE SÄCHSISCHE KAISERCHRONIK UND IHRE ABLEITUNGEN. 53
hergehenden vorgekommen; z.B. das 'toheu' (zerhieb) in 'zoch hin zu'.
Ein anderes ist Massm. S. 494 ' ne wsere des nicht , se wolden don al
der herren wille': 'nu were des nicht, sie wollen zu aller herren willenn' 1 .
Jede Zeile fast giebt den Beleg, dass wir es mit einer solchen Umschrei-
bung in einen andern Dialekt zu thun haben.
Die früheren Theile der Handschrift habe ich nicht genauer mit
den vorliegenden Texten verglichen. So viel ist aber auf den ersten Blick
klar, dass sie unter den gedruckten auch hier überall G. am nächsten
steht, in dem ganzen Tenor der Erzählung wesentlich mit diesem über-
einstimmt , z. B. auch die Lüneburger Sachen vollständig hat. Nur ein-
zelnes fehlt, ob durch Zufall oder weil es dem hier vorliegenden Text
von Hause aus fremd war, ist nicht mit Sicherheit zu ersehen. So die
bekannte merkwürdige Stelle , Massm. S. 523 : Swe so de orloge vorbat
hören wille, de lese cronica Wilhelmi van deme lande over Elve; S. 315
die Worte 'unde wäret noch', die auch die abgekürzten Texte weglassen.
Eine neue kritische Ausgabe der Chronik wird dieser Handschrift
eine besondere Beachtung zu theil werden lassen müssen.
2) Aug. 83, 12. (Mass. XL W* Schöne a 5 ). Papier saec. XV. in 2 Co-
lumnen, 119 Blätter, jetzt verbunden: nach fol. 104 gehören Bl. 13 — 24.
Die Chronik ohne Ueberschrift oder sonstige Bezeichnung. Der Text unter-
scheidet sich von allen anderen durch Hinzufügung von Jahreszahlen nament-
lich auch in den späteren Theilen , wo sie sonst meist fehlen. So heisst es
Massm. S.471: 'Nach Gotez geburt tusent jar czwey hundirt jar in deme
ffinfe unde czwentzigisten jare, da waz groez hinger unnd sterbin \ Dem
voran geht: 'In deme seibin jare wart groz vihe sterbin ubir alle daz
lant von ryndern unde von schofen'. Es folgt aber: 'Dez seibin jarez
slug der grefe Frederich ' etc. Die Stelle bezeichnet zugleich das Ver-
hältnis der Handschrift zu den verschiedenen bekannten Recensionen:
sie hat nicht den ausgeführten Text von G., dem hier auch Brem. treu
bleibt, anderer seits aber auch nicht den Zusatz, den an dieser Stelle
1) VgL aus einem andern Theil, Massm. S. 524: 'Nu ic en hunt bin, ic sal
biten als en hunt': 'nein hunt bin ich, wan ich will bißen als ein hundt'.
54 G. WAITZ,
#
Berl. 1 (Schöne a) mit den ihr nächst verwandten Handschriften giebt,
sondern sie stimmt zu Berl. 2. und denen die sich ihr anschliessen.
Gerade im zunächst Folgenden bietet diese Handschrift manches Eigen-
tümliche. Sie fahrt fort:
slug der greve Frederich von Alzena edir von Ysenburg den bischof Engil-
brechten von Colne tot bynnen guten trüwen, wan he sin man unde sin mag waz,
unde mit yme geßen hatte unlange dez seibin tagez. Darumme wart er vortrebin
unde worden alle syne vestene tzu'brochen. In deme seibin jare wart eyn hof tzu«
Nornberg. Da nam der konig Heynrich dez keyserz Frederichez son dez herczogen
Lupoldez tochter von Osterriche; unde dez seibin herczogen son nam dez lantgrefen
Hermannez tochter von Doryngen. Die hochtzit was tzu* Nornberg *.
Ebenso ist die Fassung des späteren Absatzes verschieden:
y' In deme seibin jare wart der konig von Thenemarken ledig synez gevenknifte
unde syner sone dry c blebin gevangen tzu* gysele mit deme grefen Heynriche von
Tzwern.
Daran aber schliesst sich eine Fortsezung von den bisher bekannten
durchaus verschieden und als deren Heimat sich sofort Thüringen er-
giebt. Sie geht bis zum J. 1351, wo der Codex unvollständig abbricht
Eine v etwas nähere Betrachtung zeigt , dass dieser deutschen Erzählung
die Annales S. Petri Erfordienses (Chronicon Sanpetrinum) zu Grunde
liegen 2 , bis zum J. 1335. Einzelne Zusätze sind jedoch eigenthflm-
1) Abweichend in der Fassung ist im Folgenden: tzu* ruschene unde tzu* loufene
von deme mußhuse eyne stein nedir.
2) Ich gebe einige Beispiele der ziemlich freien Bearbeitung.
1232.
Dez seibin jarez quomen die barfuzen in
die stat , wan sy* hatten eylf jar vor der
stat bi Krämpfen tore gewanet.
Hoc etiam anno minores fratres
infra murosErphordienses coenobium
aedificare coeperunt, dum extra mu-
ros ibidem per 11 annos resedissent.
Hoc anno discordantibus archie-
piscopo Mogontino et Conrado fratre
lantgravii pro monte Heilegenberg
in Hassia sito et bella moventibus,
idem C. 17. Kai. Octobr. civitatem
Fritzlarensem contra multorum opi-
nionem incendio cepit, captivos se-
Dez seibin jarez waz eyn gr&z kryg undir
deme bischofe von Mentze unde hern Con-
raden diz langgrefen brudere umme den
Heiligenberg in deme lande tzu* Heften,
unde begonden vaste tzu* stritene, unde der
selbe Conr^t der entprante die stat tzu*
Fritzlar ane gener dank die dar ynne waren.
ÜBER EINE SACHSISCHE KAISERCHRONIK UND IHRE ABLEITUNGEN. 55
lieh *, und ebenso ist der letzte Theü selbständig entworfen. Das Ganze
erscheint als ein Autographon des Autors, der öfter bei seiner Ueber-
setzung am Ausdruck geändert und verbessert hat.
^^ _ *
Was die Beschaffenheit des Textes der Chronik selbst betrifft, so
schliesst er sich hie und da an Berl. 1 (Schöne a) und Hamb. an. Er
hat einen Theil der diesen eigenthümlichen Nachrichten (Schöne S. 7).
In der Vorrede sind wie hier beide Male 9 Chöre genannt. Massm. S. 408
fehlt 'de borg to' (wie B). S. 410 'mit einander' statt 'in samene' (wie H.). S. 412
'thumprobist; wart der bischof blint unde der thumprobist Eckebrecht 9 . Dagegen
cum abducens episcopum Worma-
ciensem ac Gumbertum ejusdem loci
praepositum et qnosdam canonicos
cum aliis fere 200 militibus. Fri-
dericus itaque de Driwurte ac sui
complices, mptis violenter armarii
ostiis, magnam inde peeuniam, a
civibuß ibi depositam, manibus sa-
crilegis auferentes, libros, calices ac
ecclesiae ornatum cum sanetorum
reliquiis distraxerunt.
Unde vurte mit yme gevangen von dannen
den bischof von Wormiz unde Gumprechten
den probist von Fritzlar unde hern Hein-
richen den probist von Heiligenstat unde
etliche thumheren wol mit czwenhundert
rittern, unde hern (?) Frederich von Dreforte
unde syne gesellen slugen frevelichen die
tor uf an deme gerwehuse an deme thurne
unde namen da vil geldez, daz die bor-
diere hatten gevlochent, unde nomen meße-
buchere unde kelche unde allirleye prepa-
ramente unde trügen daz von dan.
1245.
Cujus castrum, videlicet Kevern-
burg, in quo idem episcopus tene-
batur, brevi tempore postea trans-
acto , justo Dei judicio flamma con-
sumpsit et inhabitabile reddidit.
1) Dahin gehört 1300 bei dem 100jährigen Jubelfest: 'Als nu e han iz geleit die
bebiste ubir funftzig jar'; 1314 die Bemerkung bei der Wahl Ludwigs von
Baiern und Friedrichs von Oesterreich: 'Welchir daz königliche behilde, dez
en weiz ich nicht 9 ; der Schluss 1330: 'und (die gegen einander aufgestellten
Erzbischöfe von Mainz) kregih lange wile mit eyn andir, biz doch her Heynrich
von Verrenberg daz bischtum behilt'. Aus dem früheren Theil z.B. 1241:
c Da irBlugen die heiden tzu e Polan unde tzu« Ungern manig tusent cristen
mensche, wedir die predigete der babist Oregorius daz crutze tzu* eyner
hülfe deme heiligen lande'.
Dornoch czorlichen quam eyn bliez unde
vorbranteEevernberg alzo gar, daz iz lannge
dornoch wüste lag.
56 G. WAITZ,
S. 4M nicht der Zusatz: 'in sime 9. jare'. Eine wesentliche Abweichung ist, dass
nicht wie in BerL 1 und H. ein längerer Abschnitt religiösen Inhalts unter Constantin
fortgelassen ist.
Und häufig geht der Text seinen ganz eigenen Weg: der Ab-
schreiber ist mit grosser Freiheit mit seinem Original umgegangen, wie
gleich der Anfang der verglichenen Stelle zeigt.
Massm. S.408.
In deme 1138. jare van Godes bort Konrad
van Swaven quam an dat rike, de 90. van
Augusto, unde was dar en 14 jar. He
besät de borg to Nurenberg, dar de hertoge
Hinric dat rike Badde behalden, unde wan
it aldar an des hertogen danch.
Handschrift.
Von Gotiz geburt 1100 jar und 30 jar
Conrat von Swabin quam an daz riebe
unde waz dar an 14 jar. Her besaß Nürn-
berg, daz der hertzoge Heinrich deme riche
vorbehilt, unde gewan daz an alle der
herren dank.
Grössere und kleinere Sätze sind ganz weggelassen , S. 412 die Nachfolge der
Päpste Celestinus und Lucius: Eugenius folgt* gleich dem Innocentius; S. 414 meh-
reres vor 'Clerifas'.
Ich vergleiche noch die Jahre Friedrichs H. Ueberall findet sich der kürzere
Text, aber mit eigentümlichen Veränderungen. S. 463 'g&t gemach mit geleite
unde mit spise biz tzu e Ackerz'. Einzelnes ist nachträglich geändert. So stand erst:
'Unde wart der apt Gernant geblant. Unde wart Anehalt vorloren unde tzu e hant
wedir gewunnen'; dies ist geändert: 'Unde de apt Gernant wort geblent. Unde
daz sloz Anehalt wart vorloren ' etc. (übrigens eine der Berl. 1 und den Handschriften
die sich ihr anschliessen eigentümlichen Nachrichten). S. 465 heisst es: ' gewan daz
lant Calabrien und heydenyße lant die darumme lagen, unde vortreip' etc. S. 466 : 'Unde
da vile yn wolkenbrust bie Yssleiben , da von daz volk irtrang unde vil l&te dar ynne\
Zu dem Satz vorher über den Tod Markgraf Diderichs ist am Bande nachge-
tragen: 'unde wart tzu e Erffurte begraben [in] unser frawen monster'. S. 467 in
dem kürzern Text (bei Schöne S. 85): 'fürten über daz hab\
Die Handschrift nimmt 30 eine eigentümliche Mittelstellung ein.
3) Aug. 28, 8 (Massm. IV. W 1 . Schöne b). Auf Pergament, von
einer Hand des 14ten Jahrhunderts, 83 Blätter in 9 Lagen, fcltein Quart.
Ueberschrift : 'Hie hebt sich an die zal der romischen kunige'.
Der Text endet schon (nicht wie Massmann einmal druckt 1247,
oder wie er nachher sagt mit der Schlacht bei Bornhöved 1227, sondern)
mit der Schlacht bei Mölln 1225 und den Worten: 'unde wart grave
Albrecht gevangen unde wart zu Zwerin gevurt zu sinem oheim dem
ÜBER EINE SÄCHSISCHE KAISEBGHRONIK UND IHRE ABLEITUNGEN. 57
künich von Tenemarcken. Also hat dise rede an ende. Amen daz ist war
und offenbar* Qui bene vult fari bene döbet premeditari
Premeditata loqui bene tsonveniunt sa/pienfci'.
Dann einige Schreibübungen von anderer Hand, auf den l l /i Seiten die
leer geblieben waren.
Wie die Handschrift unter allen bekannt gewordenen am frühsten
schliesst, so hat sie auch den kürtesten Text So fehlen Massm. S. 392: 'De
keisere braade ~~ S. 394; — Kalixtus geheteh' (Schöne S. 63. 64); S. 897:
4 De keiser Hinric vor do ' etc. bis «um Ende Heinrich V. (Schöne S. 54—55) ;
S.457: 'Do wart oc de koninginne ~~iSt459 4 vor Aken'; S.460: 'Bi des
keisers Otten -t* Honorius paves 7 ; S. 463: *Do voren se avßr >— S. 466
— Indes darin ne'. Hier liegen offenbar gazrt willkürliche Abkürzungen vor.
Die Lesarten stimmen am meisten mit denen . der von Maissmann
etwas näher verglichenen Handschriften München 55 (Massm. V) und
Aufsess (XIX).
So steht in dem vorher verglichenen Abschnitt über Eonrad III. (Massm.
S. 408 2.) statt 'Nurenberg' 'Merenburch' corrigiert in 'Merenberch', wie M. A.
lesen. Mit diesen fehlt S. 409 ( to Sassen', S. 410 'he quam — mitten Sassen',
und ebenso finden sich die S. 411 verzeichneten Lesarten hier wieder; doch steht
c Winisburch \ In der Geschichte Friedrich II. bemerke ich S. 461: 'Frideriches'
statt 'HinrikesY 8. 462: 'michelen' u. s. w.
Die Verwandtschaft erstreckt sich aber viel weitet. Die Handschrift
Iftnehen Codi Germ. Nh 55, membr. s. XIV, mit der Ueberschrift : Dat
is die krön ick, ist von mir während meines letzten Aufenthalts in
Mönchen etwas näher untersucht. Es zeigte sich alsbald, dass sie alle
dieselben Weglassungen hat wie Wolf. 8 und auch * ebenso wie diese
endet: 'zu sinem ohim dem chtinig von Tennamarcfhen'. Hieran
sWiliesst sich die bei Massmann S. 475 W! 'S. 495 (Schöne S. 92) gedruckte
Fortsetzung unmittelbar an: f. 66 1 : 'In de* zeit starp limocetacius , der
kayser Fridrich uf gesucht het Ivider kayse* Otten' — - — £74: «stat
diu 5 sich im htfldiget von dem reich'.
' Der Text ist ein oberdeutsch umgearbeiteter, niit manchen groben
Misverstfindnissen und Irrthflniern ; ' t. B. ' S. 445 itatt: *&o gewan men
Baruth unde belach Toron : dat belef ungewunnen ' steht : ' Baruth unde
HtiL-Philol. Classe. XII. H
58 G. WAITZ,
Baldach , Thorum belaib ungewunnen'. Die Stelle S. 450 lautet : ' dem
lantgraven ze hilff unde der chunich Otte und die Pehaim füren tu
nach halben enwech. Do ir Ätra'r verriten sich in daz lant, der graf
Otte von Bremen und grafe Ulrich von Witin (nachher: Ulrichen von
Cyten)'. Eine andere Stelle hat Massmann S. 452 Note 2 angeführt.
Nahe verwandt ist auch eine zweite Handschrift in München Cod.
Genn. Nr. 327, chart foL (Massmann N.XVII). Fol. 80 unten steht: 'Iste
über est monasterii Benedicten peuren'. Die Ueberschrift wie Massmann
8. 608 angiebt. Der Text stimmt im ganzen mit dem der beiden vorher-
gehenden Codices: dieselben Auslassungen finden sich, der Schluss ist
wesentlich derselbe , nur mit einer wunderlichen Verderbung der Lesart :
♦czu Sweryn zu* konig Symochen von Denemarken' (Aufsess: symothen,
nach Massmann S. 469 N. für: 4 sinem om'). Auch die angehängte Fort-
setzung ist dieselbe , geht aber weiter wie die welche bei Massmann und
Schöne abgedruckt ist.
Die Lesarten haben an manchen Stellen Verwandtschaft mit denen
der vorigen Handschrift; doch ist diese keines wegs von derselben ab-
hängig, und im ganzen weniger verdorben.
Die .vorher angeführte Stelle heisst: 'dem lantgrafen czu hilf und
auch ir konig. Den entweich der konig Fhilippus czu Erfurt in. Der
konig Otte kam auch dar czu hilf und die Behem und füren vil nahen
halben weg auf den reyn. Da dez koniges fulk Philippi sich hin verriten
hete, der graf Otte von Bremen' etc.
Es heisst hier richtig: 'belag Thorum'. Wo Cod. 55 unter Heinrich VI.
statt 8 Jahr hat (Massm. S. 439): 'acht jar und ein halbes', findet sich
das hier nicht ; ebenso wenig bei Philipp (S. 443) : 'wart kunich', sondern :
wart zu konige erkorn'; bei Otto (S. 453) hat Cod. 55 statt 10 'zwei
jar', dieser: '11 jar', wie Massmann aus Closener anfahrt. Die Zeit
Friedrich IL wird hier angegeben: '33 jar'.
Eigentümlich ist ein Zusatz (S. 462) nach 'edeleman': Do schreib
man nach Gots geburt 1228 jar, und do konig Friderich erweit wart do
schreib man 1215 jar. Der konig Friderich und die forsten worden zu rate etc.
ÜBER EINE SÄCHSISCHE KAISERCHRONIK UND IHRE ABLEITUNGEN. 59
Die hier besprochenen Handschriften sind für die Geschichte des
Textes der Chronik überhaupt nicht ohne Bedeutung. Die erste giebt
ein Beispiel, wie der ausführliche Text nicht blos in G. oder solchen
Handschriften die in allem mit dieser übereinstimmen überliefert ist, son-
dern selbst wieder in verschiedenen , in Einzelheiten unter sich abwei-
chenden Exemplaren vorliegt. Wolf. 2 , obschon mit Berl. 1 und Hamb.
verwandt, hat doch weder alle eigentümlichen Zusätze derselben noch
sonst was diesen Text charakterisiert, stimmt auch nicht am Ende mit
ihnen überein. Die Handschrift ist geeignet allein schon das von Schöne
aufgestellte System als unhaltbar zu erweisen. Wolf. 3 endlich geht
weniger weit und hat einen kürzeren Text, als es wenigstens früher von
anderen bekannt war l , und gleichwohl wird nie daran gedacht werden
können , hier etwa eine ältere Gestalt des Werks zu finden. Dieser Text
giebt also einen Beweis mehr, wie dasselbe wiederholt einer solchen
Umarbeitung unterlag.
Offenbar hat die Sachsenchronik durch ihre Abfassung in der hei-
mischen Sprache im 13ten und den folgenden Jahrhunderten vor andern
TheUnahme und Verbreitung gefunden. Ausführlich, wie das Buch in der
ersten Anlage oder doch in der zuerst in Umlauf gekommenen Gestalt
war, und ausgestattet mit manchen Nachrichten von mehr provincieller
Bedeutung, war es ftlr den gewöhnlichen Gebrauch nicht ganz passend
und gab eine Aufforderung Abkürzungen vorzunehmen. Solcher liegen
mehrere vor. Sie sind, wie die Vergleichung der Texte ergiebt, nicht
unabhängig von einander entstanden , sondern eine aus der andern
hervorgegangen.
Soweit die Handschriften näher untersucht sind, ergeben sich fol-
gende Recensionen.
Den ausführlichen Text haben Goth. , Wolf. 1 , Strasb. , wahrschein-
lich auch Dresd. und Pommersf. , dieser mit einzelnen eigentümlichen
1) Die Angaben bei Masamaan in den Noteü sind wenigstei» theflweise so un-
. bestimmt (s. z. B. 8. 463 N. 1), da» sich ans ihnen kein deutliches Bild ge-
winnen liess.
H2
60 G. WAITZ,
I
Auslassungen, s. Notel; alle enthalten sie die Vorrede und sind ausser-
dem charakterisiert durch die beigefügten Abschnitte über Herkunft der
Sachsen, das Weifische Haus u. s. w. .(ss= Recens. A.). — Kop. 457,
den Schöne anreiht und der in manchen Lesarten übereinstimmt, ist
ohne Vorrede und bedeutend abgekürzt (s* Archiv VII \ S. 654).
Der Recension A. zunächst steht die Gestalt der Brem. Handschrift,
der sich BerL2 (Nr. 129) anschliesst. Abgekürzt ist Wer besonders die
Geschickte Heinrich V. und Lothars. Die Vorrede ist beibehalten
(= Becens. B.). -r— Auch die lateinische Uebersetzung deti Leipziger Hand-
schrift zeigt Verwandtschaft mit diesem Text, hat aber eigentümliche
Auslassungen l und Zusätze. Ihrem Schluss entspricht , nach dem was
ich Archiv V, S. 651 angefahrt, genau Kop. 1978, ohne Vorrede, und
dürfte deshalb hier anzureihen sein. Dafür sprechen auch die ' 9 köre'
in der Vorrede ( *=. Becens» B\ ).
Mehr abgekürzt, mit Weglassung fast aller norddeutschen Nachrich*
ten, aber auch mit eigentümlichen Zusätzen, die auf die Gegend von
Blankenburg und Anhalt hinweisen * (Schöne S. 7) , sind Berl. 1 (Nr. 284),
und Hamb. Wahrscheinlich gehört Wien CXX hierhin* Sie lassen dem
Abschnitt religiösen Inhalts unter ConsUntin fort (= Becens. C).
-t~*-
1) Dahin gehört namentlich ein längerer Abschnitt unter (Jons tantin, der den
Verf. als Geistlichen kundgiebt. Es ist ganz ohne Grund, wenn Schöne
S. 12 sagt, das Verhältnis der Handschriften zu dieser Stelle und den nord-
deutschen Nachrichten beweise, dass beides spätere Zusätze: sonst müssten
die Ableitungen so wunderbar verfahret! sein', dass die eine immer nahm was
die andere ausliess. In Wahrheit hat die Lat. Uebers. nur ausgelassen, was
nicht streng zur historischen Erzählung gehört 1 und was leine ändere deutsche
Abkürzung aus demselben Grund auch fortliess. Dasselbe hat die Handschrift
der Rec. A. Pommersf. gethan (s. Massmann S. 159 N.), jedoch in einer Weise,
dass man sieht, der Schreiber fand die Stelle in seinem Original. L. machte
es mit der Einleitung ebenso.
2) Von denen die Schöne anfuhrt kommen aber nur die erste und zweite in
Betracht. Diese haben B. 1 und H. allen* die forste jetzt auch Wolf. 2.
- Dagegenf die beiden andern finden sich äucli in MiiUbh. 56 und 327, Aufs.,
jetzt auch Wolf. 3 , gehören also einer andern Quelle an. <
ÜBER EWE SÄCHSISCHE KAIßERCHRONIE UND IHRE ABLEITUNGEN. 61
In manchem abweichend ist Wol£ % Er bat den Abschnitt unter
Constantin, lässt dagegen die Vorrede weg. Von den eigentümlichen
Zusätzen von C. findet sieh hier der erste (Schöne S. 7), nicht der letzte
längere , indem eben an •. dieser Stelle die selbständige Fortsetzung anhebt
(= Becens. D.).
{fach bedeutend mehr abgekürzt ist Wolf. 3, München 56. 327.
Aufsess, auch ohne Vorrede (Becens. B.). Nach den Zusammenstellungen
von Schöne S. 11 gehören wahrscheinlich auch eine, dritte Münchener
Handschrift (unrichtig mit der Nummer 570 angegeben), und die in
Frankfurt, Heidelberg, sammt Wien 8692 zu dieser Claase.
Hiernach berichtigt sich die von Schöne 8.; 13 angegebene Ondnung,
die jedenfalls umgekehrt, aber auch im einzelnen hie und da geändert
werden muas.
In Beziehung auf den Schluss stellen . sich diese Becensionen in fol-
gender Weise.
A. — 1250 (G. — grot jamer).
(Wolf. 1. — '1260 die Margarete').
Kop. 457 — 1246 (— 'aeshu&dert riddere'; Massm. S. 4»2).
B. ~ 1260 (s. Margareten dage').
(BerL 2. unvollständig , corhalten).
B*. — 1235 (— 'herren vele'; Massm. S. 485, und: 'Dar wait —
myt vanen').
C. — 1229 (— 'Odacker van Behem'; Massm. S. 479).
D. — 1225 ( — 'Heynriche vosutui^m; entsprechend Massm. S. 472).
E. — 1225 ( — 'koning von Denemarken'; Massm. S. 470).
Die Vergleichung dieser Angaben (über eine Anzahl Handschriften
fehlt eine genauere Nachricht) zeigt wohl, dass wenigstens bei einem
Theil der Codices das Ende einen ziemlich zufalligen Charakter an sich
trägt, und dass sich hieraus allein kaum etwas über die Abfassungszeit
der Chronik selbst oder der verschiedenen Texte ermitteln lässt. C. D.
E. , die im wesentlichen übereinstimmen , müssen auf eine Quelle zurück-
gehen die wenigstens — 1229 fortgesetzt war. B*. und B. zeigen bis auf
den Schluss von B. völlige Uebereinstimmung, und ebenso hat A. hier
62 G. WAITZ, ÜBER EINE SACHS. KAISERCHRONIK UND IHRE ABLEIT.
und weiter dieselbe Fortsetzung wie B. , eine Handschrift sogar — 1260,
die andere wenigstens bis 1250. Wie dies zu erklären , da doch C. ff.
aus B. geflossen sein müssen und ein Theil der hierher gehörigen Hand-
schriften entschieden auf die Zeit vor Friedrich H. Tod zurückgeht (auch
G. hat ihn noch nicht) , dessen Regierungsjahre sie ungenannt lassen , ist
nicht leicht zu sagen. Es bleibt kaum etwas anderes anzunehmen, als
dass B. aus A. abgeleitet ist , ehe der Schluss hinzugefügt war (am wahr-
scheinlichsten da A. bis 1238 ging , bis wohin sich der mit B* nahe ver-
wandte Text in Detmars Lübecker Chronik erstreckt; s. oben S. 31;
wobei es auffallend bleibt, dass B\ wo sie schliesst, 1235 die Errich-
tung des Herzogthums Braunschweig- Lüneburg abweichend berichtet) ,
und dass aus dieser Gestalt die anderen Handschriften hervorgingen, die
willkürlich (wie es bei E. deutlich vorliegt) einiges am Schlüsse fortliessen,
meist dafür andere Fortsetzungen anknüpften; dass dann aber, sei es in
A. oder B. , auch das Werk weitergeführt ward und dieser Anhang aus
der einen Recension in die andere überging (wahrscheinlich aus A. in
den uns allein so erhaltenen Bremer Codex von B.).
Hier bleiben allerdings noch Zweifel übrig , deren Lösung vielleicht
theilweise von der genaueren Vergleichung der noch nicht vollständig
untersuchten Handschriften, namentlich der ersten Klasse, erwartet wer-
den darf.
Abhandlung
über
die grosse Karthagische und andere neuentdeckte
Phönikische inschriften
▼cm
H. Ewald.
Vorgetragen in der sinnig der Konigl. Gesellschaft der Wissenschaften vom 7. Mai 1864.
Zm den zwei großen Phönikischen inschriften von Massilia und von
Sidon, den einzigen der art welche wir bisjezt durch den entdeckungs-
eifer unserer tage aus den trümmerstätten des Alterthumes gerettet em-
pfangen hatten, ist jüngst eine dritte hinzugekommen welche man kurz
die große Karthagische nennen kann, da sie bis jezt die einzige Kartha-
gische von solcher große ist. Sie wurde vor wenigen jähren durch nach-
grabungen auf dem boden des alten Karthago's entdeckt; und wie Herr
Nathan Davis diese seine nachgrabungen auf kosten der Englischen
herrschaft betrieb und seine werthvollen funde dem Britischen Museum
abergab, so ist sie eben jezt mit 89 kleineren welche er ebenda entdeckte
auf befehl der Leiter des Britischen Museum's in einem gewiss sehr zu-
verlässigen abdrucke veröffentlicht x ).
1) Inscriptions in the Phoenician char acter, now deposited in the British Museum,
discovered on the site of Carthage, during researches made by Nathan Davis,
Eeq., at the expense of Her Majesty's government, in the years 1856, 1857
and 1858. Printed by order of the Trustees. 1863. — Mit diesem werke
kann man zwar vergleichen Carthage amd her remaim: being an aocount <rf
the excavations and researches on the site of the Phoeniaian metropolis in
Africa, and other adjacent place«. Conducted under the auspioes of Her
Majesty's government By N. Davis. London, 1861 und Rumed düe$ within
Numidian and Garthaginian territoriee. By N. Davis. London, 1862: aüein
64 H EWALD,
Für diese und so manche ähnliche Veröffentlichung welche die er-
leuchteten Vorsteher diese* Anstalt ermöglicht haben, muss die Wissen-
schaft den edlen bestrebungen ihrer freunde äußerst dankbar seyn. Die
wis^^hff^^MB . ^(K^chfUftg und verwsrtfaiug: d^sar großen ingflhrift
beginnt aber erst jezt; und hat bei ihr wie bei < allen größeren stücken
des uns bis jezt so wenig bekannten Phonikischen schriftthumes noch
immer ihre ungemeinen Schwierigkeiten. Zwar springt bei einer ver-
gleichung mit der Massilischen inachriffr leicht in die äugen dass die
neuentdeckte große Karthagische eine bedeutsame ähnlichkeit mit ihr
hat, und schon demnach ebenso wie jene ein Opfergesez enthalten mußte
welches in stein eingegraben an der Vorderseite eines Tempels öffentlich
aufgestellt war. Allein derselbe erste überblick lehrt auch dass nebep
dem ähnlichen doch auch vieles unähnliche in beiden inschriften ist *nd
auf der Karthagischen nicht weniges une gara neue erscheint. Die
hamptochwierigkeit bei der neuentdeckten liegt aber darin das» sie uns
leider nur tirf «inem äußerst ver stammelten steine erhalten ist. Zwar
besüsen wir die Masailische jezt ebenfalls ihres von oben queer nach
unten zerschlagenen Steines wegein nur etwa zur hälfte: allein die ver-
«feflifamelung ist. bei der Karthagischen noch viel größer. Der stein iet
•aallen seiteoa auf das übelste zertrümmert; und die inscfarift kann
sowohl rechts als links bei der äußersten Verstümmelung des Steines sehr
viele aüge eingebüßt haben. Ob außer ihren elf zeilen unten eine oder
mehere verloren gegangen sind, kann man äußerlich nicht erkennen.
Oben ist zwar in der ersten eine Überschrift deutlich erkennbar: aber
über ctoren ^staschaftHcken werth rede ich lieber j
mtgmu Wir ergreifen aber diese gelegenkeit am
üüzEcke Veröffentlichungen ■• ähnlicher arfc am neueste;
< Insöriptions in the Himyaritic character disoovered chiefly in Southern Arabia,
and mm sa the British MuBäma. lamAöM, printed by erder of the IVustees,
186»; «ad
Faksimiles of two Papyri found in « tomb a* Thebes, with a translation
by 8am*el Birch, änd an aocount of th^ir Discovery by A. Henry Ehind,
E&q. Lob*ob, 1868. (TWiind Papyri).
i i
ÜBER DIE GROSSE KARTHAGISCHE ü. A. PHÖNIKISCHE INSCHRIFTEN. 65
auch diese ist links nicht vollständig erhalten; und rechts hat außer
dieser keine einzige einen richtigen anfang. Sodass es schon mühe
kostet überhaupt nur erst zu begreifen wie breit die inschrift und mit
ihr der stein nach beiden Seiten hin ursprünglich seyn mußte, will man
auch ihre ausdehnung nach unten hin zunächst außer acht lassen. Im
ganzen ist die Verstümmelung der inschrift $6 gross dass wir sehr wenig
zuverlässigeres von ihr verstehen könnten, hätten wir jezt nicht bereits
die beiden anderen großen inschriften in unseren bänden und wären wir
in deren Verständnisse nicht schon auf einen im Ganzen sehr sichern
grund gekommen.
Wo wir nun von einem alten schriftthume heute nur so wenige
und insbesondere so wenige größere mehr oder minder vollständig erhal-
tene stücke besizen wie von den Phönikischen , da kann uns jede neue
entdeckung einer wennauch halb verstümmelten größeren inschrift zugleich
das beste mittel geben um zu erwähren wie weit die entzifferung aller
seiner zerstreuten Überbleibsel bisdahin mehr oder weniger gut gelungen
sei. Das licht einer menge nüzlicher oft entscheidender erläuterungen
kann auf die entzifferung der früheren Schriftstücke zurückfallen, auch
um so manches was früher nur als wahrscheinlich vermuthet werden
konnte entweder zu bestätigen oder zu berichtigen. Umgekehrt muss
das möglich richtigste verständniss der neugefundenen inschrift nun desto
leichter werden, je sicherer schon sehr vieles in den früher erklärten
wiedererkannt ist. Ich muss deshalb an dieser stelle bemerken dass die
richtigkeit sowohl meines allgemeinen Verfahrens bei der entzifferung
der Phönikischen Schriftstücke als der meisten dadurch gewonnenen ein-
zelnen ergebnisse durch die große Karthagische ganz nach erwartung
aufs beste sich bestätigt findet. Insbesondere hat sich nun die erklärung
der großen Massilischen inschrift welche ich der K. Ges. der WW. im
j. 1848, und die der großen Sidonischen welche ich ihr zu anfange de
j. 1856 vorlegte, auch durch das dritte dieser großen Schriftstücke au
das vollkommenste bewährt; sowie auch abgesehen von dieser neuen V
bestätigung gegen die dort gegebene erklärung jener beiden bis jezt wich-
tigsten Phönikischen inschriften von keiner seite etwas treffendes hat
Uist.-PhiM.Classe. Xll. I
/****
r
66 H. EWALD,
gesagt werden können. Wir werden jedoch bei dem zuvor erwähnten
zustande worin wir diese dritte große inschrift empfangen haben, vor
allem uns nach den besten mittein ihrer möglichst vollständigen und
zuverlässigen Wiederherstellung umsehen müssen, und können dann erst
ihre möglichst richtige erklärung kürzer zusammenfassen. Über ihr alter
welches mit ihrem Verhältnisse zu der Massilischen Schwesterinschrift
näher zusammenhängt, wird erst am Schlüsse weiter zu reden seyn. Ich
kann hier aber überall desto kürzer reden je mehr ich besonders die
oben erwähnte abhandlung über die große Massilische inschrift hier vor-
aussezen darf.
1.
Indem wir nun von der in der ersten zeile enthaltenen Überschrift
zunächst absehen um erst am ende auch ihre Wiederherstellung zu ver-
suchen, bemerken wir
1. Dass die einrichtung der ersten sechs Zeilen auf der Karthagi-
schen eine andere gewesen seyn muss als auf der Massilischen, nämlich
im allgemeinen (um damit zu beginnen) so dass je ein saz von dem
ganzen opfergeseze dort zwei hier aber nur eine lange zeile ausfüllte.
Der beweis dafür kann wohl am kürzesten und überzeugendsten in fol-
gender weise geführt werden. Auf der Massilischen werden nach der
Überschrift welche dort die beiden ersten zeilen fallt in z. 3 — 12 fünf
*
verschiedene arten von opferthieren unterscheiden , und über jede spricht
sich das Gesez hier in Einern langen vielerlei enthaltenden saze aus : diese
fünf thierarten sind 1) stiere, 2) kälber und hirsche; 3) widder und
ziegen, 4) lämmer böckchen und junge hirsche; 5) vögel. Diese an-
reihung ist inderthat so naheliegend und beinahe von selbst so not-
wendig dass man meinen sollte sie müsse sich ebenso auf der Karthagi-
chen wiederholt haben: und was die vier ersten dieser arten betrifft,
o lässt sich das auch sicher genug beweisen. Denn von allen den
namen für die vier ersten arten hat sich zwar jezt nur z. 4 der für die
ziegen (oivn) , und z. 5 der für den jungen hirsch (S*»n n^*) erhalten : aber
da in einer jeden von allen diesen vier zeilen sonst ähnliche redensarten
^
ÜBER DIE GROSSE KARTHAGISCHE U. A. PHÖNIKISCHE INSCHRIFTEN. 67
wiederkehren, so lässt sich daraus sicher genug folgern einmahl dass
z. 2 die stiere und z. 3 die kälber und hirsche genannt waren, und
zweitens dass jede dieser vier Zeilen den ganzen gesezesabschnitt über
eine der vier arten von vierfüßigen thieren zusammenfaßte. So entspre-
chen, abgesehen von besonderen unterschieden bei einzelnen Wörtern,
z. 2 — 5 der Karthagischen inschrift den z. 3 — 10 der Massilischen , und
je eine zeile dort je zweien hier in derselben reihe der vier thierarten.
Hieraus lässt sich zwar noch nicht folgern dass die anreihung des
Stoffes und die entsprechende der zeilen hier und dort gleichmäßig so
fortgehen müsse: vielmehr zeigt sich das gegentheü davon sogleich an
einem sehr merkwürdigen falle. Denn in z. 6 der Karthagischen wird
offenbar bloss von diesen vier thierarten zusammengenommen noch etwas
weiteres bemerkt, und erst z. 7 geht dann die reihe zu den vögeln fort.
Aber da sich späterhin auch aus dem sinne der worte ergeben wird
dass, abgesehen von abweichungen im einzelnen, dennoch im Ganzen
z. 6 der Karthagischen den beiden z. 15 f. der Massilischen und z. 7
dort den beiden z. 11 f. hier entspreche, so stellt sich doch auch in
dieser weise die ähnlichkeit wenigstens insofern wieder her dass je eine
zeile der Karthagischen je zweien der Massilischen gleich ist. Warum
aber in jener die vier arten vierfüßiger thiere (kurz mit dem namen *op>s
vieh zusammengefasst) von den vögeln durch einen zwischensaz abge-
sondert werden, wird unten aus dem gesammten sinne des gesezeswerkes
sich ergeben.
2. Allein so gewiss dieses alles ist, so würde man sich doch sehr
irren wenn man meinte danach Hessen sich nun wenigstens bei diesen
sechs zeilen die vielen theils rechts theils links verlorenen buchstaben
leicht wieder herstellen wenn man nur hinzunähme was die Massilische
inschrift mehr habe. Denn abgesehen von kleineren oder theüweisen
Veränderungen des einen und des anderen wortgefüges müssen zwische
beiden noch zwei andere durchgreifende große unterschiede gewesen seyn!
Einmahl bringt die Massilische die bestimmung des fSr jede der thier-
arten den priestern zu bezahlenden geldes immer erst nach der angäbe
der thierart und der bei jeder der fftnf thierarten möglichen opferart ;
12
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r
68 H. EWALD,
dass die Karthagische aber darin wenigstens bei den vier ersten thier-
arten eine ganz andere Wortfügung einhielt, erhellet deutlich genug aus
z 4 und z. 5 wo die bestimmung des geldes an dieser stelle fehlt. Nun
aber ist undenkbar dass sie überhaupt fehlen konnte; auch tritt sie bei
den vögeln z. 7 wirklich an dieser stelle ein. Ist dieses alles aber so,
so wird man nicht irren wenn man annimmt dass sie bei diesen vier
großen hauptarten von thieren vielmehr ganz vorne stand und danach
die gesammte anweisung der worte in jedem der vier ersten gesezes-
abschnitte sich richtete. Denn dass sie nicht etwa weiter nach hinten
hin ihren plaz haben konnte, ist aus dem sinne der worte welche hinten
stehen müssen leicht zu folgern.
Zweitens bringt die Massilische bei jeder der vier ersten oder viel-
mehr aller fünf 1 ) thierarten nach der bestimmung des den priestern zu
bezahlenden geldes sogleich noch eine besondre bestimmung über die
nach den bei jedem thiere möglichen zwei opferarten zu tragenden ab-
gaben von dem opferfleische selbst. Dass eine solche bestimmung aber
in der Karthagischen hier einen ort gehabt habe, davon fehlt jede spur
und jedes an zeichen. Vielmehr hangen mit dieser auslassung deutlich
genug die Veränderungen in den sonstigen bestimmungen ab welche auf
beiden inschriften das breite ende jeder dieser vier gesezesabschnitte bil-
den: was freilich im einzelnen nur aus dem Verständnisse des richtigen
sinnes d& jeder inschrift eigentümlichen worte völlig einleuchtend wer-
den kann.
Eins ist jedoch hier sogleich im allgemeinen noch etwas näher fest-
zustellen, wenn man einen sicheren sinn des ganzen gesezes und eine
ebenso zuverlässige Wiederherstellung der inschrift wünscht. Wenn näm-
1) es ist mir nämlich bei wiederholter scharfer vergleichung aller umstände jezt
wahrscheinlich geworden dass die z. 11 der Massilischen inschrift links so zu
ergänzen ist: fc nbynb nKtt]ttn pi, nach z. 3 f. 9 f. Das gewicht der fleisch-
abgabe vom vogel brauchte hier ebensowenig bestimmt zu werden wie bei
dem kleumehe z. 9 f. 9 f., weil es aus den angegebenen Verhältnissen schon
deutlich ist. Und dass von den Überbleibseln des vogelopfers nicht weiter die
rede zu seyn braucht, bestätigt sich durch z. 7 der Karthagischen inschrift.
^
ÜBER DIE GROSSE KARTHAGISCHE ü. A. PHÖNIKISCHE INSCHRIFTEN. 69
lieh nach der Karthagischen (wie eben gesagt) eine bestimmung über die
besondere abgäbe vom fleische aller der fünf thierarten welche die Mas-
silische für den altar fordert wegfallen sollte, so mußte offenbar alles
fleisch des thieres für den altar bestimmt werden; und wohl konnten
gewisse stücke des thieres z. b. die fuße als für den altar unwürdig aus*
genommen werden, von einem »übrigen fleische« als dem besizer des
opferthieres anheimfallend konnte aber nicht so wie in der Massilischen
die rede seyn. Wurde aber ffcr den altar mehr gefordert, so dass der
besizer des opferthieres für seinen eignen gebrauch weniger zurück bekam,
so war damals der preis der thiere wohl überhaupt fyöher gestiegen.
Damit stimmt denn auch überein dass das geld für den einzelnen opfer-
vogel in der Massilischen z. 11 zu dreiviertel pfund, in der Karthagischen
z. 7 aber zu einem vollen pfände bestimmt wird. Bei den vier ersten
thierarten ist nun zwar die angäbe des geldes für uns jezt verloren ge-
gangen, weil sie nach dem oben gesagten ganz vorne an der spize jeder
zeile stand, wo der stein überall so arg verstümmelt ist. Allein wir
haben alle Ursache anzunehmen dass das geld in der Karthagischen jenem
einen beispiele entsprechend um etwas erhöhet war: doch lassen wir für
jezt hier die werthe wie sie in der Massilischen stehen.
3. Damit ist nun die möglichkeit einer hinreichend zuverlässigen
Wiederherstellung der sechs ersten gesezesaussprüche oder abschnitte schon
gegeben; denn was in jeder dieser zeilen links zu ergänzen sei, ist aus
der vergleichung aller dieser zeilen unter sich und dann mit den ent-
sprechenden der Massilischen inschrift wenigstens im Ganzen leicht deut-
lich, obgleich im einzelnen einiges mehr nur nach voller Wahrscheinlich-
keit vermuthet werden kann. Das einzige hier noch etwas dunklere ist
dass in der Massilischen inschrift jede der vier ersten abschnitte mit den
worten rmrr» b*ab schließt , nach der spur aber auf z. 3 in der Karthagi-
schen dahinter noch einige buchstaben folgten. Viele aber können eS
in keiner weise gewesen seyn, theils weil wir nichts wesentliches mehr
vermissen, theils weil sonst die zeile unverhältnismäßig lang geworden
seyn mftftte. Um nämlich auch diese seite der sache etwas näher zu
berühren, so konnte die zeile des Massilischen steines durchschnittlich
r
70 H. EWALD,
bis gegen 75 buchstaben fassen: dies läßt sich dort sicher genug be-
rechnen, obgleich der stein auf der linken seite mehr oder weniger ver-
stümmelt ist. Zählt man dagegen alle buchstaben zusammen welche
auch in der längsten zeile der Karthagischen inschrift den obigen Wie-
derherstellungen zufolge sich zusammendrängten, so muss man die eben-
falls etwa auf 75 — 77 schäzen.
Wie nun auch in dem zulezt erwähnten umstände ein beweis für
die richtigkeit der Wiederherstellung sich darbietet, so liegt ein solcher
endlich nicht minder in der erst hier zu erwähnenden erscheinung dass
sich aus allen den vorigen Verhältnissen auch am leichtesten erklärt wie
gerade die 6te und dann ebenso die 7te zeile nur etwa die hälfte dieser
buchstaben enthalten konnte. Der stein zeigt uns noch dass jede dieser
beiden zeilen schon in der mitte aufhörte, und der nach allen obigen
bemerkungen hier zu erwartende sinn beweist uns ebenso sicher dass
gerade der 5te und ebenso der 6te gesezesabschnitt verhältnißmäßig so
kurz sich fassen liess: beides trifft hier aufs beste zusammen, um den
gesammtbeweis f&r die richtigkeit aller bisherigen annahmen zu vollenden.
4. Weiter aber folgt aus allem was bisher erörtert ist keineswegs
dass von den jezt noch übrigen vier lezten zeilen jede ebenfalls immer
einem gesezesausspruche entsprechen mußte, sodass wir zusammen noch
vier solcher selbständiger abschnitte zu erwarten hätten: denn wir sind
nur vorbereitet zu erwarten dass auch hier die zeile wenn ein abschnitt
in ihrer mitte zu ende wäre wahrscheinlich sich unvollendet schließen
würde, nicht aber dass ein abschnitt nicht auch über mehr als &ne
zeile sich ausdehnen könnte. Vergleichen wir nun dabei die beiden
inschriften, so ist es hier zwar überall weit schwerer zu festen ergeb-
nissen wegen der Wiederherstellung der vorne und hinten schwer ver-
stümmelten zeilen zu gelangen, weil auch die Massilische gerade hier
knks weit ärger verstümmelt als bei den vorigen zeilen und so ihr sinn
/selbst hier weit unsicherer zu erkennen ist. Doch sind wir auch hier
nicht von allen anhaltsfaden entblößt. Denn die worte z. 8 — 10 ent-
sprechen deutlich genug dönen z. 13 — 14 der Massilischen , die der lezten
zeile aber (11) denen der dort lezten z. 17 — 21. Wir erwarten also
^
ÜBER DIE GROSSE KARTHAGISCHE ü. A. PHÖNIKISCHE INSCHRIFTEN. 71
hier nur noch zwei gesezabschnitte f von denen sich aber der erste nun
sogar über drei zeilen erstreckt und damit nicht bloss gegen die bisherige
weise viel länger ist als der entsprechende der Massilischen, sondern
auch eine andre Stellung im Ganzen einnimmt.
Hier drangt sich also vieles auffallende zusammen. Was indessen
die Umstellung zweier gesezabschnitte betrifft, so war eine ganz ähnliche
schon bei dem fünften in der Karthagischen zu erkennen: und wie sie
dort ihren unten zu erläuternden guten grund hatte, so wird sie einen
solchen auch hier haben. Der grund hängt aber, wenn man näher zu-
sieht, mit der ganzen anläge der beiderseitigen inschriften zusammen.
Da nämlich nach d£r gesezesfassung welche der Karthagischen zum gründe
liegt, die abgäbe vom fleische der opferthiere bei der ersten der beiden
opferarten ganz wegfallt, so kann diese ihrerseits bei den sechs ersten
abschnitten sich überhaupt viel kürzer fassen, und hat zulezt nur von
der andern noch etwas besonderes zu sagen, muss aber von dieser an
irgendeiner stelle desto bestimmter reden. Zwar redet auch die Massi-
lische über diese zweite von den beiden opferarten in ihrem 6ten saze
z. 13 f. noch besonders , nachdem sie von ihm beiläufig schon bei allen
vier thierarten geredet hat: so nothwendig scheint es ihr von diesem
für die priester wichtigsten der beiden opferarten bestimmt genug zu
reden und an dieser stelle in einem besondern abschnitte darüber man-
ches nachzuholen was sie bei den vorigen nicht wohl anbringen konnte.
Allein die Karthagische faßt ihrer anläge zufolge alles darauf sich be-
ziehende nun in diesem abschnitte desto genauer und ausführlicher zu-
sammen. Soviel lässt sich im allgemeinen hier zuverlässig genug erken-
nen ; und danach wird es doch auch möglich die hier klaffenden lücken
rechts und links fast mit vollkommner Sicherheit auszufällen, wie dieses
unten versucht werden wird.
Dass endlich die fünf lezten zeilen der Massilischen hier sogar in &n^
zusammengezogen werden , ist nur auf den ersten blick auffallend. Denn(
schon im allgemeinen haben wir vielfach erkannt und es wird später an y
so manchen einzelnheiten noch weiter hervortreten, dass die Massilische
ihrer gesammten anläge nach viel ausführlicher, die Karthagische trozdem
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r
72 H. EWALD,
dass sie nach dem eben gesagten ihren siebenten saz viel weiter ausdehnt
im Ganzen kürzer gefaßt ist. Dazu kommen hier noch zwei besondere
gründe. Denn die Massilische sagt in ihren beiden lezten aussprächen
doch nur wesentlich dasselbe aus, nämlich dass sowohl die opferer ihrer-
seits als die priester an dies gesammte opfergesez gebunden seyn sollten :
das konnte die Karthagische so zusammenziehen dass sie nur das zweite
von beiden als das um gesezlich noch besonders gesagt zu werden wich-
tigste hervorhob. Die Massilische beruft sich dabei aber auch insbeson-
dere auf die beiden Suffeten unter deren befehle dieses ganze opfergesez
gegeben sei: die Karthagische hält es sowohl hier als (wie wir sehen
werden) in der Überschrift für unnöthig die beiden Suffeten mit ihren
beisizern besonders zu nennen; wenigstens haben wir kein anzeichen
dass solche namen einzelner Obrigkeiten hier am ende zu lesen waren.
Aus allen solchen Ursachen konnte die fassung hier weit kürzer seyn :
und nach diesen voraussezungen ist hier alles nöthige rechts und links
ergänzt.
Wir haben dabei aber auch vorausgesezt dass die lezte uns jezt
auf dem steine sichtbare zeile wirklich die lezte war. Zwar ist der stein
auch hier unten sehr arg verstümmelt: doch finden wir weder ein äußer-
lich sichtbares noch ein innerlich zwingendes zeichen dass diese zeile
nicht die lezte war, oder dass wenigstens viel am ende fehle. Höchstens
wären die namen der Suffeten bis in den anfang einer folgenden zeile
ausgedehnt gewesen.
5. Blicken wir aber jezt vom ende zu der Überschrift zurück , so
wird es uns nach alle dem sehr leicht sie zu ergänzen. Gerade die
Massilische welche eine weit längere Überschrift in zwei Zeilen hat, ist
an sehr vielen stellen der ersten zeile äußerst verlezt : unsere dagegen ist
ihrer schon erwiesenen allgemeinen anläge nach überhaupt viel kürzer
gefaßt, und dazu bloss auf der linken seite verstümmelt. So kann denn
Juer einmahl umgekehrt die Karthagische dienen einiges in der Massili-
y sehen besser zu lesen und sicherer zu verstehen. Und da wir aus dem
Obigen jezt die ganze breite der Zeilen der inschrift hinreichend be-
greifen können , so werden wir auch deutlich einsehen dass die Überschrift
^m-^.
ÜBER DIE GROSSE KARTHAGISCHE ü. A. PHÖNIKISCHE INSCHRIFTEN. 73r
etwa nur aus f&nf Worten bestand welche über der mitte der anderen
zeilen standen. Danach ist sie links leicht wiederherzustellen.
Wir geben hier nun vorläufig die inschrift nach ihrer völligen Wie-
derherstellung , wie sich uns diese aus allem vorigen ergibt; und be-
zeichnen alles rechts oder links ergänzte durch die zeichen ].....[.
Zugleich fügen wir die übersezung der ganzen so wiederhergestellten
inschrift hinzu, um diese demnächst mit rücksicht auf alles rein Sprach-
liehe zu erläutern 1 ). • %
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1) des bequemen raumes wegen seien wir auf die folgende seite auch die unten
zu erläuternde dreisfjrfichige Bardische inschrift nach ihren fünf zejlen, indem
wir das Griechische und das Phönikische sogleich mit der worttt^eüung und
dieses hier wie sonst fiberall aus mangel an Phönikischen nur in Hebräischen
buchstaben abdrucken lassen. Kaum bedarf es der erinnerung dass auch auf
der .großen Karthagischen die hier ^gegebene worttheilung nur von mir ist.
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ÜBER DIE GROSSE KARTHAGISCHE ü. A. PHÖNIK1SCHE INSCHRIFTEN. 75
In der übersezung suchen wir zugleich den kurzen scharfen ausdruck
der gesezessprache möglichst wiederzugeben.
Bestimmung der abgaben welche die Sudeten festesten.
(1) Zehn pfund süber für einen stier, sei es gemeines oder lobeopfer: die
haut fällt den prieslern \, das gerippe dem besizer des opfers oder seinem
Stellvertreter zu.
(2) Fünf pf silber für ein kalb oder einen Hirsch, gemeines oder lobeopfer:
die haut den priestern, das gerippe dem besüer des opfers oder seinem
Stellvertreter.
(3) Ein pf. gültiges säber für einen tcidder oder eine stiege, gemeines oder
lobeopfer: die haut der stiegen den priestern, die vorder- und die
Hinterfüße dem besizer des opfers oder seinem Stellvertreter.
(4) Dreiviertel pf. gültiges silber für ein lamm oder ein böckchen oder ein
Hirschkalb) gemeines oder lobeopfer: die haut den prieslern, die vor der-
und Hinterfüße dem besisser .des opfers oder seinem Stellvertreter.
(5) An einer milchspende oder weinspende oder saftspende 1 ) bei irgend einem
opfer von vieh hat der priester keinen antheil.
(6) Für einen vogel vom Heiligthume sei es ein Shißif oder ein Chazut oder
ein Ssüß ein pf. gültiges silber, je für das stück.
(7) Für jedes opfer das als lobeopfer bereuet wird gebühren dem priester
stücke und spenden; und das lobeopfer ist möglich bei jedem thieropfer
hast du es vorher geheiligt oder nicht, bei trocknetn wie bei fettem Oder-
opfer , bei geöltem ...., bei milch 9 beim thier- und speiseopfer,
bei
(8) Kein priester nehme eine abgäbe welche auf dieser platte nicht festbe-
stimmt noch nach der Vorschrift der Suffeten gegeben ist.
Zur leichteren vergleichung fügen wir hier auch eine übersezung
der Massilischen inschrift an, jezt hie und da etwas verbessert.
1) diese bedeutung ist nur gerathen: nn» scheint jedoch mit f^y und 0^0*1
tropfen verwandt.
K2
76 : ff. EWALD,
Artikel der Bestimmung der geldwerthe und der abgaben welche die Suff eleu
baal söhn BodtäniVs sohnes Bod und Chalßibaal söhn Bodeschmm's
sohnes ChalßtbaaVs und ihre genossen festsezten.
(1) Für einen opferbaren stier, sei es ein lob- oder ein gemeines opfer, den
priestern sehn pf. süber, j& für einen; beim gemeinen ist nach der stufe
der opferart die abgäbe vom fleische 300 loth , und beim lobeopfer stücke
und spenden: aber die haut die vorder- und die hinterfüße und das
übrige fleisch gebürt dem besizer des Opfers.
(2) Für ein opferbäres kalb welches kömer hat mit der höhe eines ftngers
und tiefer oder für einen hirsch, sei es ein lobe- oder ein gemeines
opfer, den priestern fünf pf. silber, je für eins; beim gemeinen ist nach
der stufe der opferart die abgäbe vom fleische 150 loth, und beim lobe-
opfer stücke und spenden: aber die haut die vorder- und die hinter-
füße und das übrige fleisch gebärt dem besizer des Opfers.
(3) Für einen opferbaren Widder oder bock, sei es ein lobe- oder ein
gemeines opfer, den priestern ein pf. gültiges silber, je für eins; und
beim lobeopfer ist nach der würde der opferart die abgäbe von stücken
und spenden: aber die haut die hinter- und die vorder fuße und das
übrige fleisch gebürt dem besizer des opfers.
(4) Für ein opferbares lamm oder böckchen oder Mrschkalb, sei es ein hbe-
oder ein gemeines Opfer, den priestern dreiviertel pf. gültigen silbers,
je für eins; und beim lobeopfer ist nach der würde der opferart die
abgäbe von stücken und spenden: aber die haut die hinter- und die
vorderfüße und das übrige fleisch gebürt dem besizer des opfers.
(5) Für einen vogel vom Heiligtimme , sei ein Ssüß das gemeine opfer
oder ein Shißif oder ein Chazut, den priestern dreiviertel pf. gültiges
silber, je für eins; und die abgäbe ist nach der würde der opferart.
(6) Hast du den vogel vorher geweihet, sei es ein trocknes oder ein fettes
opfer , den priestern ün silberpfennig je für einen;
(7) Vom lobeopfer welches bereitet wird von diesen opferarten, gebüren den
priestern stücke und spenden; und das lobeopfer ist möglich auch bei....
geöltem ...., bei milch, und bei jedem opfer das der mensch mit speise
opfern will.
ÜBER DIE GROSSE KARTHAGISCHE ü. A. PHÖNIKISCHE INSCHRIFTEN. 77
(8) Bei jedem thieropf er das von vieh oder von vögeln gebracht wird , sollen
die priester nicht haben ..... irgend eine milchspende noch weinspende
noch saftspende von diesen : aber jeder mensch (soll) von dem was er
opfert (auch genießen).
(9) Der mann aus der Gemeinde 1 ) (ist schuldig) eine abgäbe wegen jedes
opfers nach dem maße geaezt in der Vorschrift der Su/feten; nicht ober
ist er verpflichtet zu einem gelde und einer abgäbe die nicht geseü
noch gegeben sind nach der Vorschrift, welche die Su/feten .... baal söhn
BodtdnU's und Chalßibaal sahn Bodeschmün's und Hure genossen vor-
schrieben.
(10) Jeder priester der eine abgäbe nimmt über das hinaus was auf dieser
Platte, gesett ist 9 wird gestraft: so wie strafe auch treffen wird den
opferer welcher nicht gibt das Vorgeschriebene der abgäbe ....
2.
1. In der Überschrift treffen wir hier sogleich das so acht Phöniki-
sche thatwort n:d aufstellen, welches sich seitdem ich es zuerst nach-
wies 2 ) nun so vielfach bestätigt hat Wir sehen hier dass es ebenso wie
das nu sesen z. 11 (Massil. z. 18. 20) auch gesezgeberisch gebraucht^ wird,
und können jezt die buchstaben üü« in z. 1 der Massiüschen leicht er-
gänzen. — Das vorhergehende wort nnfctw&n die abgaben ist uns schon
aus der Massiüschen bekannt: neu ist hier nur die auffallende bildung
der mehrzahl durch ein doppeltes n. Diese findet sich im Hebräischen
nur erst bei ganz kleinen hinten wie abgeriebenen weiblichen selbst-
wörtern 5 ), häufig aber in Äthiopischen selbstwörtern ; sie konnte jedoch
gerade bei diesem worte im Phönikischen umso leichter eintreffen wenn
das einfache weibliche t — mit dem * als drittem wurzellaute sich aufs
engste verschlungen hatte, «ähnlich wie im Hebräischen nh^n. Da wir
noch kein anderes beispiel einer solchen Verdoppelung des n im Phöni-
, i^ [i — n — ' — — ^— — ^— .
1) so erst bildet sich der rechte gegensaz zum priester im folgenden saze. Über
dies n&STB 8* die Abb. über die Sidonische inschrift s. 36 f.
2) in der Ztschr. für die K. des Morgenl. IV s. 418.
3) s. das LB. §. 186 e.
78 H EWALD,
kischen besizen , so läßt sich über den fall bis jezt weiter nichts sagen. —
Ganz neu erscheint hier das erste wort nsi: ich zweifle jedoch nicht
dass es wie n?a auszusprechen und etwa soviel als eine gesezliche be-
stimmung bedeutet welche (wie ursprünglich jedes öffentliche gesez) durch
gegenseitige Übereinkunft gilt Auf diesen begriff des gegenseitigen
Übereinkommens und gesezlichen geltens führt die wurzel £**; und dass
diese sich sonst nur im Arabischen in einer solchen anwendung erhalten
hat , kann gegen die möglichkeit dieser bedeutung nichts beweisen ; für
dieselbe w. halte ich aber auch die Äthiopische APA» wowon das so
gewöhnliche fl.Ä genösse 1 ). Die ****, welche im jezigen Arabischen
ihrer Urbedeutung nach ganz einzeln dasteht und als eine christliche
Kirche bezeichnend nur mundartig in es eingedrungen seyn kann, be-
deutete ursprünglich gewiss soviel wie awccywytj oder no^aj, geht also
auf dieselbe wurzel und Urbedeutung zurück.
Nun aber erscheint dasselbe wort offenbar auch ganz vorne in der
Massilischen da wo man bisher bso las: die spür des lezten dieser drei
buchstaben führt eher auf ein n; und wenn noch davor die beiden buch-
staben na stehen, so können diese als -»na zu sprechen auch wohl »die
gUeder der bestimm ung der abgaben« bedeuten., mit hinweisung auf die
glieder oder abschnitte aus welchen dies ganze gesez besteht. Dass die
w. na dasselbe bedeuten kann wie die w. na, leidet keinen zweifei: es
erklärt sich aber dann vollkommen wie dieses erste wort in der über-
haupt kürzer gefaßten Karthagischen auch ohne der deutlichkeit zu scha-
den ausgelassen werden mochte. — Die nächsten buchstaben vor jenem
. . . DUft führen in der Massilischen auf dasselbe nnm&&n welches die Kar-
thagische so deutlich gibt: aber noch ein anderes jezt leider ganz un-
kenntlich gewordenes wort muss in ihr mehr gestanden haben, was uns
wiederum bei dem wechselseitigen Verhältnisse beider wenig auffallt.
Da jedoch die Karthagische nach dem oben erläuterten die abgaben mit
dem geldwerthe der opferthiere zusammenfaßte , nicht aber die M assilische :
1) wie der Wechsel von 9 und y auch ins Äthiopische hinüberspiele, ist schon
im LB. §. 586 gezeigt. Zulezt ist dasselbe mit dem Äthiopischen kleinen
worte auch das bekannte u **.
ÜBER DDE GROSSE KARTHAGISCHE ü. A. PHÖNIKISCHE INSCHRIFTEN, 79
so liegt alle Wahrscheinlichkeit vor dass die Überschrift in dieser ur-
sprünglich etwa so lautete »Glieder (Artikel) der bestimmung der geld-
werthe und der abgaben welche feststellten die Suffeten ...... Die
spuren der buchstaben leiten etwa auf die fassung : nnKtoarr n»i pjdd nso na,
wobei die Wiederholung des n*a nicht auffallen kann.
2. Bei den bestimmungen über die vier ersten thierarten ist zu-
nächst merkwürdig dass statt der redensart bba ab» dn wns qk welche
in der Massilischen beständig wiederkehrt , die Karthagische nach z. 4. 5
ebenso beständig immer kürzer aber zugleich etwas anders die worte
gefaßt nansr D« obbs sagt; allein ebenso einleuchtend ist nach z. 5 dass
mit dieser Veränderung noch die andere zusammenhängt das bbs welches
in der Massilischen dieser ganzen redensart immer auch vorangeht völlig
auszulassen. Zweierlei kann ich aber um dies räthsel zu lösen aus der
Abhandlung über die Massilische voraussezen: 1) dass n:m und bba die
zwei hauptarten jedes Opfers sind, jenes das lobeopfer dieses das ge-
meine oder einfache ; und 2) dass bb» eine bloße abkürzung von bb» ob«
ist, wie besonders auch aus z. 11 der Massilischen ins chrift einleuchtet.
Jedes opferthier muss danach immer zunächst bbs abu) oder kürzer ein
bbs seyn: es kann sich aber zu einem n*ix steigern. Die Karthagische
dagegen sezt ihrer ganzen anläge zufolge den ersten dieser beiden in der
Massilischen stets so ausdrücklich hervorgehobenen fälle als selbstver-
ständlich voraus, und läÄt daher vorne das bbs oder bbs ob» ganz aus,
wie besonders auch aus z. 7 vgl. mit z. 11 der Massilischen so deutlich
erhellt. So kann sie auch die ganze redensart bbo ob« Ott rwa dm sei
es ein lobeopfer oder ein gemeines opfer sogleich kürzer in nsna oa obbs
zusammenziehen in ctem sinne das gemeine opfer davon (nämlich von dem
thiere) oder das lobeopfer. Ja man kann hier die weise wie in der Kar-
thagischen alles verkürzt wird , noch augenscheinlicher verfolgen. Denn
in der Massilischen lautet die spräche des gesezes eigentlich so: Für
einen stier gemeinen (opfers), also wie er den bekannten priesterlichen
forderungen gemäss seyn muss 1 ), sei es ein lobeopfer oder ein gemeines
1) wie richtig die voraussezung sei dass demnach das bba auch hinter jedem
80 •..::.) " ' "" H. EWALD,- ;■ ;>
opfer u. s. w. Alle diese worte sind in der Karthagischen so zusammen-
gezogen: Für einen stier, ein gemeines Opfer davon oder ein lobeopfer^
sodass das wort V?s dennoch vorne bleibt und die mix nun bloss zum
Schlüsse' erwähnt oder wie nachgeholt wird. — Sprachlich aber läßt sich
hienach gar nicht verkennen dass das anhängsei ts- an tzabV^ das der
dritten person der einzahl ist: über welche wichtige erscheinutsg im
Phönikischen unten noch weiter zu reden ist. Ist dieses" alles aber so,
so ziehe ich bei dem worte bbs unter den beiden Möglichkeiten welche ich
in. der vorigen Abhandlung erwähnte, jezt die erste vor: danach ist es
ansich wie ein aussagewort (Adjectiv) gebildet , und .kann färsich hinge-
stellt bedeuten das (allgemeine verwandt mit bb aÄ , von einer w. bs
oder *)* einschließen, abrunden (sonst auch umgeben).
Eine andere abweichung zwischen den beiden opfergesezen betrifft
die stücke welche man kurz als die Überbleibsel jedes opferthieres der
vier ersten arten bezeichnen kann. Nach der Massilischen soll die haut
die vorder- und die hinterf&Äe sowie. alles sonst etwa übrige fleisch dem
besizer des opfers gehören« Davoi* weicht die Karthagische ab insofern
sie die haut stets den priestern zuspricht. Dies ist auf jeder der vier
zeilen dieser abschnitte des gesezes am leichtesten zu lesen: undeutlicher
ist dagegen und schwerer festzustellen was sie dem besizer des opfer-
thieres zusprach. Denn von den worten welche am ende der zeilen dies
enthalten müßten , ■' sind jezt auf den beideü ersten dieser vier zeilen nur
die worte tQtrr bwb niam übrig, wozu nach der zweiten noch einige
ändere buchstaben anfangend mit . . . tt hinzukämen: aber das wort man
ist hier neu und ansich für uns heute sehr dunkel ; uüd dazu enthielten
die beiden kzten zeilen dafür wieder eine andere bestimmung, von wel-
cher aber nur auf der dritten zeile die ansich ganz undeutlichen bucht
staben bvttri nach dem leicht verständlichen pi sich gerettet haben.
namen eines thieres dem sprachgebrauche der Massilischen inschrift zufolge
seinen plaz haben könnte, ergibt sich vorzüglich auch aus v. 11, wo %a öVic
nur einmahl aber hier hinter dem ersten namen eines vögfcls steht; und da
bbs hier überhaupt nicht weiter nöthig war, so steht dafür an dieser einen
stelle lieber di©,volle redewaft. , , ...:.,, >
ÜBER DIE GROSSE KARTHAGISCHE ü. A. PHÖNIKISCHE INSCHRIFTEN. 81
Hier erheben sich demnach eine menge schwerer räthsel: und es fragt
sich wieviele davon wir gegenwärtig sicher lösen können.
Nun wird die bei manchen thieren so kostbare haut welche dazu
nie auf den altar selbst gehörte, zwar in manchen gesezen alter Völker
den priestern zugesprochen 1 ): allein wenn sie bei den Phöniken nach
der Massilischen inschrift dem besizer des opfers wie für sein gutes kauf-
geld zugesprochen, nach der Karthagischen aber ihm ebenso bestimmt
abgesprochen wird, so mußte das offenbar mit einer menge verwandter
gesezesaussprüche zusammenhangen, und sezt hier und dort eine ganz
verschiedene bestimmung über aUe die theile des opferthieres voraus.
Es ist daher hier zunächst von bedeutung dass die Karthagische nach
ihrem oben 8. 74 wiederhergestellten wortgefftge ajuch in anderen stücken
dieses inhaltes abweicht. Sie bestimmt nicht ein gewicht von fleisch-
pfunden welches von jedem thiere der vier arten für den altar abzu-
geben sei: hing dieses, wie oben gesagt, mit dem höher gestiegenen
opferwerthe der thiere zusammen, so erklärt sich wie die Karthagische,
wenn sie den geldwerth gerade dieser vier thierarten nicht erhöhen wollte,
wenigstens die haut den priestern zusprechen mochte. Ferner bestimmte
die Massilische die fleischabgabe zwar bei den beiden ersten viel theue-
rern thierarten genau nach den pfunden , forderte sie aber bei den beiden
lezten offenbar weil bei ihnen weniger auf das genaue gewicht ankam
nur »nach der stufe der besonderen würde« worauf ein solches opferthier
im allgemeinen stand. So wird nun auch hier offenbar ein ähnlicher
unterschied gemacht, indem von den beiden ersten thierarten die man,
von den beiden lezten die .... bioan dem besizer zugesprochen wird.
Leztere redensart ist wohl gewiss s6 zu ergänzen dass man csn^om oabttitn
die vorder- und die Hinterfüße herstellt : denn diese erwarten wir hier nach
der Massilischen inschrift : und wenn der vorderf uss atyff.il hiess , so konnte
für oabtzjetri doch auch leicht mehr zusammengezogen «n gesprochen
werden 2 ), sodass hier die Schreibart der Karthagischen nur die voll-
1) s. die Alierthümer des Volkes Israel 8. 351 f. der zweiten ausg. Vgl. auch die
bestimmung M. Sh'qalim 6, 6.
2) wie sogar im Hebräischen einigemahle geschieht , LB. §. 72 c. — Dass die
HisL-Philol Classe. XU. L
82 H. EWALD,
kommnere wäre. Das wort mar. aber kann sehr ähnlich ans rnaayj
w. na» zusammengezogen seyn nnd so das gerippe oder alles was von
dem größeren thiere nach hin wegnähme des opferfleisch es überblieb be-
zeichnen, nicht bloss wie bei den beiden niederen thierarten die vorder-
und die hinterfüße, sondern auch sonst noch manches vom gerippe wel-
ches sich bei so großen thieren verwerthen liess. Wenn das Talmudische
na« 1 ) und das entsprechende Äthiopische AQA ( m *t dem Wechsel von
r und /) leib und glied bedeutet, so konnte ein Phönikisches man seiner
Umbildung gemäss sehr wohl das gliederwerk oder den gesammten leib
in der oben angedeuteten engeren beziehung bedeuten, — Wird daneben
vor diesem man beidemale bloss das einfache ...i find, vor btBKn da-
gegen das stärkere pi wiederholt, so deutet auch dieses zeichen darauf
hin dass hinter diesem mehr als ein einfaches wort folgen sollte. Da-
gegen folgte auf die lezten worte natn b*ab anders als in der Massilischen
inschrift zwar noch einiges, weil auf der zweiten zeile ein dahinter noch
erhaltenes k hierauf hinweist: allein etwas zum ganzen sinne des gesezes
sehr wesentliches konnte darin nicht liegen; wir können annehmen dass
dieser zusaz etwa lautete . . . b Qtt oder seinem Stellvertreter.
Sonst ist in diesen vier ersten abschnitten noch auffallend dass hinter
dem worte m? haut welches sich in allen so einfach wiederholt und in
dieser einfachheit deutlich genug ist, nur bei dem dritten QT*n der ziegen
hinzugefügt wird. Waren vorne widder und ziegen (bock) beide zugleich
genannt, woran wir nicht zweifeln können, so würde in dem besondern
hervorheben der ziegen liegen dass die haut der bocke und schafe den
Priestern eben nicht zufallen solle; und das ließe sich wegen der wolle
sehr gut denken.
vorderfuße in Semitischen sprachen leicht besondere naraen haben , ist auch
aus dem gebrauch des &rS und ß\£ zu schließen; es scheint wenigstens
O 9
sicherer wie in der vorigen Abhandlung hieran als an yJUa lende zu denken.
1) die nähere bedeutung des lati ersieht man besonders klar aus M. Sh'qalim
6,4. 7,3. 8,8 wo ebenfalls vom opfer die rede ist: es bildet immer den
gegensaz zu den bloss zerschnittenen stücken.
ÜBER DIE GROSSE KARTHAGISCHE U. A. PHÖNIKISCHE INSCHRIFTEN. 83
3. Weiter ist nun aber nach der oben erläuterten anläge der
Karthagischen inschrift ganz passend dass sie in ihrem fünften saze z. 6
die rede über diese vier thierarten mit rücksicht auf die dabei gebräuch-
lichen arten von flüssigen spenden mit d6r bemerkung schließt dass der
priester davon nichts haben solle, während ihm von jeder fleischabgabe
die auf den altar kam und zum opferessen zubereitet wurde ein be-
kannter antheil (wahrscheinlich der zehnte) zufiel. Der saz stellt sich
nach den oben erläuterten grundlagen der Wiederherstellung leicht her:
zweifelhaft ist in ihm nur ob qsö von ihm oder von ihnen bedeute, da
die rückbeziehung beide möglichkeiten erlaubt. Für die bildung der
mehrzahl kann man sich auf das wort oa-Dn ihre genossen Massil. z. 19
berufen; man muss aber sagen dass die mehrzahl vom sinne nicht not-
wendig erfordert wird. Jedenfalls darf man hier nicht wie in den
vorigen vier abschnitten asnsb in der mehrzahl lesen, theils weil das
folgende oa dann schwerlich irgendetwas bedeuten könnte, theils weil
die einzahl der priester sowohl hier als bei dem siebenten abschnitte
z. 8 zum sinne sogar besser paßt. Denn hier ist die rede nicht wie
dort von einem gute an geld welches der gesammten priesterschaft zu-
fallen müßte und von ihr verkauft werden kann, sondern von d&n was
der einzelne eben beschäftigte priester verzehren kann. — Sprachlich
aber bestätigt sich nun hier vollkommen die bedeutung des wortes bn
welche ich bei dem entsprechenden abschnitte der Massilischen z. 15
als richtig annahm, obwohl diese annähme damals leicht mehr als ge-
wagt scheinen konnte.
4. Bei den opfervögeln hielt dieses gesez eine ähnliche bemerkung
hinsichtlich der flüssigen spenden offenbar gar nicht mehr für nöthig,
obgleich sie sich in der Massilischen noch findet. Um so kürzer konnte
dieser sechste abschnitt werden, da auch der gewöhnliche antheil des
priesters am fleische dieses opfers als bekannt vorausgesezt werden kann.
Dass die reihe der drei vögel hier umgesezt ist, kann nicht viel be-
deuten; wir wissen jezt wenigstens nicht den grund davon aufzufinden.
Dass aber in beiden gesezeswerken so ausdrücklich hervorgehoben wird
der opferwerth beziehe sich in diesem falle wo es sich von vögeln handelt
L2
84 H. EWALD,
nur auf je einen, davon ist der grund leicht einzusehen: der geldwerth
ist verhältnismäßig sehr hoch. Merkwürdig und sprachlich lehrreich ist
dabei nur dass für die seltene zusammensezung . . . ab je für in der
Karthagischen vielmehr das einfache b* in besug auf . . . angewandt wird :
wir werden aber bei dem folgenden abschnitte weiter sehen wie beliebt
gerade in der Karthagischen auch sonst dieses b* in gleicher bedeutung
ist. Die häufung der kleinen präpositionen selbst ist, wie ich schon
anderswo bemerkte, acht Fhönikisch.
An dieser stelle bemerken wir zuvor dass der ausdruck it qoD wel-
cher nach z. 7 in der Karthagischen ebenso wie in der Massilischen
sich bei allen den drei lezten unter den fünf thierarten fand , doch nicht
wohl fremdes geld bedeuten kann, schon deswegen weil wir jezt sehen
dass er auch in der Karthagischen gleichmäßig lautet. Wir zweifeln
jezt vielmehr nicht dass er dem Hebräischen nsn* R)05> 2 Kön. 12, 5 ent-
sprechend gültiges geld bedeutete; und da es von nn weichen gebildet
auch das flüssige oder wie wir ähnlich sagen könnten das gangbare be-
deuten kann, so ist die möglichkeit eines solchen sinnes nicht abzu-
läugnen, obgleich uns hier wie so oft sonst im Fhönikischen die uner-
wartete Wirklichkeit überrascht. Das mit -w verwandte ; L* drückt übri-
gens das dahingehen oder durch die länder reisen selbst aus. — Dass
der zusaz gültig sich aber bloss bei den drei lezten thierarten fand, er-
klärt sich wenn gerade die kleineren münzen leicht unächt waren.
5. Der sechste abschnitt z. 8 — 10 holt, der obigen Wiederherstel-
lung gemäss, nun erst das in vieler hinsieht so wichtige nach wie es
mit dem lobeopfer als der zweiten opfergattung zu halten sei: da ein
priester dabei noch besonders zu singen hatte, so war es nur billig dass
dieser von allen möglichen opferstoffen noch besonders »stücke und
spenden« empfangen sollte, deren mass zu bestimmen freilich dem be-
lieben des opferers überlassen blieb. Auch zweifeln wir nicht dass der
lezte buchstab auf z. 8 von welchem nur ein kleiner strich oben erhalten
ist ein * war und das wort nbsr begann. Neu ist uns in dem ganzen
abschnitte nur das rnraa nat z. 10 , wonach wie man erst jezt sehen kann
die beiden lezten buchstaben der entsprechenden redensart in z. 1£ der
tJBER DIE GROSSE KARTHAGISCHE ü. A. PHÖNIKISCHE INSCHRIFTEN. 85
Massilischeii herzustellen sind. Die redensart selbst kann nach dem
Hebräischen nichts als ein fleischopfer mit einem getreideopfer bedeuten,
und erscheint hier richtig nur als eine von d£n den bloßen Stoffen nach
sehr vielerlei opferarten. Während die Massilische aber durch den zusaz
»jedes fleisch- und getreideopfer« sich zum Schlüsse der aufzählung dieser
vielen opferarten hinwendet, sezt die Karthagische diese aufzählung viel-
mehr mit dem in beiden an dieser stelle beständig wiederholten doppel-
wörtchen ban und in hinsieht auf .... noch weiter fort : aber leider sind
die bloßen striche die sich dahinter auf dem steine noch erhalten haben,
für uns nicht mehr hinreichend auchnur das nächste wort herzustellen. —
Das z. 9 erwähnte trockene d. i. öllose und das fette opfer fährte die
Massilische ebenso wie die nicht im Tempel gekauften vögel schon in
einem früheren saze z. 12 auf.
Eine gewisse Schwierigkeit bildet hier noch der Wechsel des naa z. 8
mit naD in der entsprechenden z. 13 der Massilischen. Der sinn der
wörtgruppe ab« nao kann zwar, wie ich schon in der vorigen Abhand-
lung zeigte, nicht zweifelhaft seyn: und dazu ist die richtige bedeutung
des wortes jd jezt noch von einer andern seite her völlig bestätigt. Denn
unstreitig ist es dasselbe wort jd welches sich seitdem auf über hundert
kleinen inschriften gefunden hat die ein gelübde an die b*a jd nan nan
Herrin Tänit und an Baal Chamän enthalten und in welchen die Tanit
offenbar bloss deswegen vorangestellt wird weil die gelübde zunächst an
sie gerichtet sind; wie davon unten weiter zu reden seyn wird. Hat
man das nun heute immer so verstehen wollen als bedeutete es das
gesteht ^d BaaPs, so ergriff man offenbar aus reiner Verlegenheit dieses
Hebräische wort. Denn dies würde so gar keinen sinn geben 1 ); und
dazu konnte man aus der Massilischen inschrift bereits hinreichend wis-
sen dass "jd keineswegs nothwendig soviel wie das Hebräische o^d gesieht
sondern vielmehr auch ein ganz ftlr sich bestehendes wort völlig ver-
schiedener bedeutung sei. Ist aber dies ]d soviel als das fach wohin
1) die Phöniken und Kanaanäer nannten wohl einen ort &sov n^oaamov (vgl. die
Geschichte des x>olkes Israel I. s. 437 der dritten ausg.): aber etwas ganz
anderes ist es wenn ein mensch oder eine Göttin so bezeichnet werden sollte.
86 H. EWALD,
etwas gehört oder bei menschen der stand oder die würde die einem
gebürt, so versteht sich dass die herrm Tdnit höchstgöttlicher würde oder
die als Gott geltende Artemis im sinne des Heidenthumes den richtigsten
sinn gibt 1 ). In der gesezessprache unserer beiden inschriften dagegen
bilden alle die arten der vierfüßigen thiere eine Vi oder gattung, ebenso
wie die vögel : jede dieser fünf thierarten aber bildet eine )t>. Bei diesen
Verhältnissen nun kann die Verschiedenheit der Schreibart naa und nao
nur von geringer bedeutung seyn: entweder ist auf der Karthagischen
hier ein bloßer Schreibfehler 2 ) , oder b wechselt hier bloss mundartig mit p.
Auf einer offenbar so wohl geschriebenen inschrift wie unsere Karthagische
ist, möchte man keinen bloßen Schreibfehler vermuthen: allein da das
wort auf ihr wie wir sie haben nicht so auf der Massilischen wiederkehrt,
so ist eine entscheidung darüber schwer zu fällen, für den sinn der
worte selbst auch ganz unnöthig.
1) ganz ähnlich ist dann sowohl an bedeutung als an der kurzen scharfen Wort-
fügung die redensart der Sidonischen inschrift z. 18 die Astarie b« aro höchst-
göttlichen namens oder höchstgötllicher würde, wie ich diese in der Abh. über
die Sid. inschrift s. 45 erläuterte. Man kann aber das b« in solchen fallen
nur etwa durch höchstgöttlich übertragen, weil er offenbar mehr als das ein-
fach göttliche bedeuten soll. — Auf eine ausspräche pon führt die Schreibart
7?c welche sich einmahl auf II der Davis'ischen inschriften findet, vgl. mpnro
HI. nach der ausspräche Ostort für Astarte die acht Phönikisch war, wie man
aus dem eigennamen Bodostor erkennt. Zwar findet sich auf LXXXH der-
selben Sammlung das wort einmahl tco geschrieben welches man nach bloßer
vermuthung leichter den Hebräischen "<:d gleichstellen könnte: allein wie zur
ergänzung dieser falle findet sich auch «mjd in einer von A. Judas heraus-
gegebenen inschrift die ich in den Göttinger Nachrichten 1858 s. 137 ff. erläu-
terte, nur dass ich jezt als aus diesem ganzen zusammenhange einleuchtend
die lesart b*a ttt?D vorziehe. Steht damit pone als die wirkliche ausspräche
des ]& vor b*a fest , so kann man dies doch nicht so deuten als wäre es etwa
die auf Gott hinblickt, da dies (auch wenn ein solches nae möglich wäre) gar
keinen klaren sinn geben würde. Das schließende -e kann vielmehr der vocal
des stat. constr. pl. seyn, da die mehrzahl nach LB. §. 1786 zum sinne paßt.
2) solche gibt man jezt sogar auf den schönsten Griechischen inschriften öffent-
licher geltung als möglich zu.
ÜBER DIE GRÜSSE KARTHAGISCHE U. A. PHÖNIKISCHE INSCHRIFTEN. 87
Das vor dieser wortgruppe erscheinende thatwort oe* könnte in der
hier allein passenden bedeutung machen (sacrum facere) insofern ein be-
denken erregen als wir jezt aus der Sidonischen z. 5 f. 7. 21 wissen dass
es im Phönikischen auch ebenso wie ähnlich im Hebräischen ein be-
schweren bedeuten konnte. Allein der mittelbegriff des mühehabens oder
arbeiten* führt auch auf jene hin, wie bei j-/ und sonst in so vielen
fällen.
Eigentümlich ist auch z. 8 das einfache i? in der bedeutung ist.
in der Massilischen stände in einem solchen wortzusammenhange eher
das imperf. j:r. Allein nach dem schon in der Abhandlung über die
Massilische inschrift erläuterten sprachgeseze könnte es in einem solchen
zusammenhange auch sehr wofil mit dem Väv der folge lauten jjt: und
dass dieses sich endlich auch wohl in das bloße perf. verkürzen konnte,
folgt aus dem sonst 1 ) bemerkten. Immerhin aber zeigt sich dieser
Sprachgebrauch als der Karthagischen eigentümlich, und führt durch
den gegensaz mehr auf eine spätere als auf eine frühere zeit hin.
6. Über die wenigen worte welche im achten abschnitte z. 11 er-
halten sind, ist nach dem oben und in der früheren Abhandlung be-
merkten nichts neues zu sagen.
3.
Dass diese Karthagische inschrift gesezt wurde während mit ganz
Karthago auch das groAe heiligthum noch bestand für welches sie gesezt
wurde, ist selbstverständlich. Die frage ist nur ob wir das alter in
welchem sie vor Karthago's Zerstörung in dem großen opfertempel auf-
gestellt wurde, näher bestimmen können.
Die Fhönikische schritt sieht auf dem steine soweit dieser sich er-
halten hat, mit dem steine selbst ungemein reinlich unverlezt und fast
1) in der Hebr. SL. §. 3466, womit das in der Gr. arab. IL p. 347 bemerkte zu
verbinden ist. In der Mishna ist die kurze scharfe gesezessprache schon ganz
auf diesen stand gekommen: und nichts ist hier mehr zu vergleichen als eben
dieser Mishna'ische Sprachgebrauch.
88 H. EWALD,
wie noch ganz frisch aus: einen solchen eindruck empfangt man wenn
man den in dieser Veröffentlichung gegebenen abdruck beachtet; und
dasselbe versichern alle welche den stein näher betrachteten. Man kann
danach vermufehen die inschrift sei verhSltnißmäßig erst kürzere zeit vor
Karthago's Zerstörung aufgestellt gewesen: doch wäre leicht auch das
gegentheil davon denkbar Wir bedürfen also festerer Zeugnisse zur
näheren erkenntniss des alters dieses denkmals.
Ihrer art nach ist die Phönikische schrift dieses Steines ungemein
zierlich und schön zu nennen; auch sehr gleichmäßig ist sie in ihrer
ganzen haltung. Sie hat nicht die gröberen und die mannichfaltig wech-
selnden züge welche man an der Massilischen und noch mehr -an der
Sidonischen wahrnimmt. Im einzelnen ist sie besonders dadurch eigen-
tümlich dass sie den obern strich des m links nie ausläßt und damit
die ältesten züge dieses buchstaben treuer bewahrt. Ruhezeichen hat
sie zwar gar nicht, obgleich schon die Massilische das : am ende eines
abschnittes wenigstens auf z. 4 deutlich zeigt: allein dagegen bemerkt
man auf ihr beinahe schon einen anfang die buchstaben desselben wortes
etwas näher aneinanderzurücken, wiewohl es noch nicht zur deutlichen
worttrennung kommt. Alles dies zusammen führt wohl auf ein ver-
hältnißmäßig späteres alter hin; und wir werden danach geneigt die
Massilische und noch mehr die Sidonische für ältere Schriftstücke zu
halten. Allein wir besizen bisjezt noch immer viel zu wenig größere
Phönikische inschriften um nach ihnen allein das alter einer einzelnen
sicherer zu erkennen.
Aber inderthat haben wir ja durch die oben gegebenen erörterungen
über das verhältniss der Karthagischen inschrift zur Massilischen rück-
sichtlich des sinnes und der anläge der beiderseitigen gesezeswerke schon
den sichersten grund zu einem urtheile über das alter beider Schriftstücke
erlangt. Wir sahen dass beide gesezeswerke sich wesentlich gleich sind,
sowie gewiss auch die beiderseitigen großen heiligthümer in denen sie
aufgestellt waren der Verehrung derselben gottheiten dienten. Wir er-
kannten aber auch dass das gesezeswerk der Karthagischen erst aus
dem andern sich durch eine Verkürzung hervorbildete. Diese Verkürzung
ÜBER DIE GROSSE KARTHAGISCHE U. A. PHÖNIKISCHE INSCHRIFTEN. 89
durchdringt fast alles. Die Karthagische bringt das ganze gesezeswerk
auf acht abschnitte zurück : die Massilische hat zehn : wir wollen nicht
gerade behaupten dass wir hier eine den Mosaischen Dekalogen gleiche
absichtlich kunstvolle gliederung l ) hätten , denn wir kennen das Phöniki-
sche Alterthum nach dieser seite hin noch bei weitem zu wenig; allein
hier haben wir alle Ursache anzunehmen dass die zehntheilung die ältere
war. Denn ansich zwar wäre es ja wohl ebenso denkbar dass ein kür-
zeres gesezeswerk sich später verlängerte und so auch aus acht abschnitten
sich bis zu zehn ausbildete: allein dann müßten sich die zusäze oder
doch die gründe der Vermehrung der einzelnen ausspräche deutlich er-
kennen lassen , während hier solche nirgends aufzufinden sind. Vielmehr
kommt hinzu dass auch die einzelnen redensarten in der Massilischen
in altertümlicher fülle und anschaulichkeit auftreten, in der Karthagi-
schen aber theils absichtlich verkürzt theils zierlich zusammengezogen
erscheinen. Und damit stimmt überein dass sich uns auch die Phöniki-
sche spräche hier, obgleich noch ganz rein, doch schon als eine etwas
andere und spätere ergeben hat. — Von der andern seite aber haben
wir hier keineswegs eine Verkürzung und Vereinfachung wie spätere buch-
verkürzer und leichtfüßige berichterstatter sie lieben. Wir sahen vielmehr
dass auch im stoffe des Gesezlichen selbst gewisse Veränderungen ein-
geführt wurden, wie das nur möglich ist wenn ein älteres gesez nicht
mehr ganz genügt und neue bedürfhisse zu befriedigen sind. Wir wer«
den uns also denken müssen dass das alte gesezeswerk in einer jüngeren
zeit wirklich auch im Stoffe etwas verändert werden sollte, und dass bei
dieser Umbildung die man für nöthig hielt dann auch beliebt wurde es in
die zierlichere und leichtere spräche der neueren zeit einzukleiden und
es überhaupt möglichst zu vereinfachen. Ehe aber ein Tempelgesez so
zu verändern von den Priestern beschlossen wird , vergeht leicht ein
Jahrhundert oder noch mehr zeit.
1) was alles dazu gehöre, darüber mögen die leser welche es noch nicht wissen
alles in der Geschickte des Volkes Israel U. s. 205 ff. erörterte weiter ver-
gleichen.
Uist.-Philol. Classe. Xll. M
90 H. EWALD, *
So ergibt sich uns aus allen betrachtungen was wir von vorne an
kaum f&r möglich gehalten hätten, dass die Massilische inschrift bei
weitem älter seyn muss als die Karthagische. Könnten wir nun das
genaue alter der einen oder der anderen noch näher bestimmen , so
hätten wir einen sicheren grund zu einer allgemeineren erkenntniss aller
Phönikischen Schriftgeschichte gefunden: allein wir müssen uns hier mit
dem erwähnten sicheren ergebnisse vorläufig begnügen.
Die anderen neuentdeckten inschriften.
Die kleineren Karthagischen.
Alle die 89 kleineren inschriften welche in dem Englischen werke
veröffentlicht sind, gehören zu den weihinschrif ten , und sind ihrem
inhalte und ihrer fassung nach nur von derselben art von welcher in
unseren tagen schon viele ähnliche entziffert sind. Dies erklärt sich
leicht wenn sie alle aus einem altberühmten Tempel in Karthago ab-
stammen , etwa demselben dessen öffentliches opfergesezwerk die vorige
große inschrift enthält. Zwar erscheinen auf den einzelnen dieser 89
inschriften sehr verschiedenartige schriftzüge, welches uns auf die wech-
selnde lange zeit schließen lässt während welcher sie gesezt wurden:
allein alle stammen doch wohl sicher noch aus der zeit vor der Zer-
störung Karthago's. Herr Nathan Davis hat nämlich zwar auch einige
inschriften mit Neupunischer schrift für das Britische Museum einge-
sandt, und wir können es nur bedauern dass diese jezt mit den hier
abgebildeten nicht zugleich veröffentlicht sind. Allein im allgemeinen
wird die annähme nicht täuschen dass die flüchtigere Neupunische schrift
erst nach der Zerstörung Karthago's sich vordrängte um auch auf öffent-
lichen denkmSlern gebraucht zu werden. Nur solche große Umwälzungen
im Volksleben bringen leicht auch in der schrift ähnliche hervor.
Bei weitem die meisten dieser 89 inschriften sind zwar ' nur mehr
oder weniger verstümmelt erhalten : da sie jedoch alle eine sehr gleich-
mäßige fassung haben, so kann man viele dieser lücken leicht ergänzen.
ÜBER DIE GROSSE KARTHAGISCHE U. A. PHÖNIKISCHE INSCHRIFTEN. 91
Und da ich selbst viele von dieser fassung sowohl in alter als in neu-
Punischer schrift früher erklärt habe , so reicht es hin hier einige nach-
trage zu geben zu welchen diese zahlreiche menge neuentdeckter den
anlass gibt. Nach ihrer fassung kommt es auf dreierlei Stoffe hier an :
1. Die beiden aufs engste verbundenen gottheiten denen alle worte
dieser inschriften geweihet sind l ) und die daher in ihnen immer ganz
vorne genannt werden, sind wegen einer besonders schwierigen redensart
die sich immer bei ihnen findet schon oben s. 85 f. erwähnt. Sie sind
einerlei mit der Antih&t oder Nanäa und dein Oman; und ihre geschichte
vom äußersten osten der Alten nach dem äußersten westen zu verfolgen
wäre sehr lehrreich, wenn es uns hier nicht zu weit abführte. Wir
wollen hier nur hervorheben das s man nach dem offenbaren sinne aller
dieser inschriften die beiden gottheiten zwar in der engsten wechselsei-
tigen Verbindung, aber doch die stets vorangesezte Tdnii als die hervor-
ragendere sich denken mtuss. Eine wichtige folge davon wird sich unten
bei den Schlußredensarten zeigen , und uns zu deren sicherem Verständ-
nisse sehr nüzlich seyn.
2. Für das weihen selbst zeigt sich hier inschr. 23 und 83 das
thatwort ew» als mit dem sonst stets gewöhnlichen *na wechselnd. Da
das davon abgeleitete nennwort nwö» wie es auch in der großen Kartha-
gischen inschrift s. 77 sich findet von opfersachen gebraucht wird, so
wird auch das thatwort eine art von weihe bezeichnen können: wie es
sich aber in seinem genaueren sinne von "na unterscheide, ist uns noch-
nicht klar. — Fragen wir was eigentlich in allen diesen 89 inschriften
sowie in den vielen anderen ihnen ähnlichen geweihet werde, so ist es
nur die mehr oder weniger verzierte Tempelinschrift selbst mit den worten
des preises der gottheiten welche sie enthält. Es ist nicht etwa' etwas
besonderes welches der weihende hier den gottheiten übergibt um da-
durch ihren segen zu gewinnen, ein altar oder etwas deigleichen, wie
1) dass die namen und die Stellung der gottheiten je nach der Verschiedenheit
der zeiten und der Tempel wechselte, ißt in der abhandkrog unserer Nach-
richten 1858 8.140 gezeigt.
M2
\
92 H. EWALD,
wir davon sonst bei Phönikischen inschriften beispiele haben *) : er wünscht
bloss seinen namen als den die gottheiten preisenden im Tempel zu ver-
ewigen. Hieraus folgt schon dass er nur ein allgemeines anliegen an
sie hat, sei es dank für eine göttliche rettung die er schon erfahren,
oder eine bitte um abwendung eines gefürchteten Übels 2 ). Er hat ein
solches anliegen zunächst für sich: doch finden sich einige falle anderer
art , wo z. b. ein vater für seinen söhn flehet , etwa weil er an einer
langwierigen krankheit leidet 5 ). Von lezterem falle gibt die inschr. 71
1) wie in den von mir entzifferten Phönikisch-Kyprischen inschriften, s. die Gott.
Nachrichten 1862 s. 460 und 546. Die auf der ersten von diesen gefundenen'
eigennamen von männern tna Bodo und obttaa^ IkunshiUm bestätigen sich
durch dib hier entdeckten inschriften , 20. 85 und 45. — Aber eine inschrift
dieser art mit derselben redensart tu vk ist die unten weiter zu erläuternde
erste Renan'sche.
2) daher die bilder welche sich auf manchen dieser inschriften zeigen, wie bei
den hier veröffentlichten die ausgestreckte hand inschr. 26. 38. 50. 78 f., die
beiden äugen als die der sehenden Gottheit inschr. 29, woraus inschr. 46
seltsamer weise fische gemacht sind.
3) hier ist zum Verständnisse des folgenden nichts unterrichtender als die inschrift
in Graevii inscript. lat. I. p. xcvn: FEBRI DIVAE FEBRI SANGT AE FEBRI
MAGNAE CAMILLA AMATA PRO FILIO MALE AFFECTO. Wir ziehen
auch hieher eine vor kurzem von A. Judas (in dem Annuaire de la socUU
archiol de Constantine 1860—61 pl. I) veröffentlichte aber wie gewöhnlich
weniger gut verstandene inschrift welche so lautet:
tu tdk nana b*ab p*b
baob am jrri» ja sabtoaa^
k K»tt *bt cab*an jm
«an N&9& n»*n nna ttbp n
d. i. »Dem Herrn Baal geweihet von Ikunshillem söhne Bodtan's dem beschäzer
des Baalitten seines hörigen. Er hörte seine stimme gemäss dem Wohlge-
fallen seiner gnädigen fuße.« Ein Patron weihet hier etwas für seinen Clien-
ten: denn man kann nicht zweifeln dass ain und b*an sich verhalten wie
^ und &yA\ die beiden worte «bi cab*an entsprechen aber nach obigem
ganz einem Aramäisch-Hebräischen wortgefüge LB. §. 309 c. Auch das in 3
nach, gemäss ist Aramäisch; rmsm ist von te*n als einerlei mit ta*ö in der
Aramäischen bedeutung; die erwähnung der fuße des Gottes aber in solchen
s
ÜBER DIE GROSSE KARTHAGISCHE U. A. PHÖNIKISCHE INSCHRIFTEN. 93
ein merkwürdiges beispiel. Sie ist auch ihrer gestalt nach eigentümlich.
Sie steht nämlich nicht wie alle die anderen vorne auf den stein ein-
gegraben: der weifte Marmor zeigt sich hier ganz leer, wir haben aber
auch von ihm jezt gewiss nur die rücksei te; die Vorderseite wo wir uns
ein bild kunstvoll eingemeißelt denken müssen, ist zerstört; die inschrift
li^f dagegen ganz unten an den vier kanten herum, hat sich aber jezt
nur an den beiden lezten kanten erhalten, und lautet hier nach richtiger
wortabtheilung so:
KD-on «bp *öion o» b* im* p 'jbiab» n(i3
d. i gewei(het von Baalmüik söhne *Akb6r's wegen seines sohnes
Hüren mögest du seine stimme Um segnend! Diese inschrift ist uns auch
wegen des wortes cm in der bedeutung sein söhn lehrreich: sie bestätigt
dass das nachfügwörtchen sein im Phönikischen nicht bloss k- d.i. ...6
sondern auch voller em lauten konnte , was ich längst behauptete
aber vielfach bezweifelt wurde, während es sich jezt noch immer mehr
bestätigt 1 ). Ganz entsprechend ist , wie ich erst später sah , das ■*» b*
wegen meines sohnes auf der unten zu erwähnenden zweiten Renan sehen
inschrift
3. Wir sind nun durch alles dies genug vorbereitet die schluÄ-
redensarten zu verstehen; und hier besonders sind wir durch die große
menge der hier vorliegenden inschriften in den stand gesezt einen be-
deutenden schritt im Verständnisse aller solcher inschriften weiter zu
machen. Schon manche der früher entdeckten inschriften schließen mit
den worten fio^a abp *ö«d oder kürzer bloss kbp *»«a: und ich habe
bereits 1852 einleuchtend dargethan 2 ) dass sie bedeuten müssen weil er
fallen acht Phönikisch. Bodtdn mag aus Bodtdrtt verkürzt seyn. Die inschrift
ist ihrer fassung nach übrigens Neupunisch: in der Schriftart aber geht sie
gleichsam erst halb in das Neupunische über, wie man diesen Übergang auch
sonst bemerkt.
1) 6. die Erklärung der großen Sidonischen inschrift 8. 17; vgl, auch viüq toi
vloS . . . 'AaxXijmm *cä 'Yyuiq C. J. Gr. IL p. 349. 350. 357. 380.
2) in der Entzifferung der neupunischen Inschriften (Gott. 1852) s. 22 f. Dagegen
fällt das was dort aber das imperf. *p:r gesagt, vonselbst schon durch die
erklärungen weg welche ich in den Nachrichten 1862 s. 460* Tgl. s. 546 gab.
94 H. EWALD,
(der gott) seine (des gelobenden) stimme hörte und ihn segnete , dass also
sowohl 9*av als yia in diesem zusammenhange als per f. zu lesen und 3
öder (wie es im Neupunischen auch geschrieben wird) *s das acht Phö-
nikische wort sei welches dem Hebräischen ** entspreche, aber ganz
anders als dies auszusprechen sei. In diesem falle bringen also die
inschriften den dank für die erhörten gelübde dar, und könnten kurz
dankinschriften heißen. Und von dieser art waren gewiss die meisten:
daher sich die volle redensart allmählig abkürzte, oder auch ganz weg-
gelassen werden konnte , weil ihr sinn sich dennoch leicht verstand.
Unter unsern 89 inschriften haben nun 5. 6. 39. 68. 78. 80 die kürzere;
die längere 49 (wo nur durch ein versehen des Steinschneiders der plaz
für 3 zwischen *..^a leer gelassen ist) und 75, sowie noch einige andere
vrie sofort erhellen wird. Allein bei unsern 89 inschriften ist daneben
noch etwas anderes merkwürdig. Da nämlich hier beständig zwei gott-
*
heiten zusammengereihet werden, so erwartet man die mehrzähl des that-
wortes : davon zeigt sich abet nirgends eine spur. Nun ist zwar auch
die einzahl sehr wohl denkbar; da unter beiden doch die eine und zu-
nächst die erste am meisten hervorgehoben werden kann; und wirklich
wird sich sofort an einem weiteren zeichen offenbaren dass die Tdnit
vorzüglich gemeint wurde. Allein dann erwartet man das weibliche that-
wort, muss also annehmen dass in y&u hinten ein doppeltes aa in 4,
ähnlich in jb*o das -o des weiblichen mit dem nachf&gwörtchen -c
verschmolzen sei. Inderthat ist jedoch diese annähme , obgleich auf den
ersten blick scheinbar schwierig, recht wohl möglich, weil wir wissen
dass gerade im Phönikischen das thatwort im perf. immer bloss auf - a
auslautete (wie tnis sie gelobte) , und, dieser reine laut dann in ihm
leicht noch mehr als im Hebräischen sieb verflüchtigen Hess; die übrigen
Semitischen sprachen weichen ja hier überhaupt gänzlich ab. Der äußere
beweis aber dafür liegt in der vollen redensart «D-nn abp *»«3 welche
sich inschr. 58. 70. 73 in ganz klaren schriftzügen findet, nur dass der
steinmez in der lezteren irrthümlich n für n sezte. Diese redensart
kann nur bedeuten weil sie seine stimme hörte Um segnend, da das lezte
thatwort in einem solchen zusammenhange sehr wohl auch im imperf.
r-
ÜBER DIE GROSSE KARTHAGISCHE U. A. PHÖNIKISCHE INSCHRIFTEN. 95
sich anfügen konnte 1 ): sie zeigt sicher dass die rede nur auf ein weib-
liches wesen gehen kann.
Sehr gut ist aber, wie oben angedeutet, möglich dass jemand auch
wegen der zukunft seine opfer im Tempel brachte und ein sichtbares
andenken an seine im Heiligthume für den besonderen ihm bewußten
zweck dargebrachten gebete und opfer stiften wollte. Dann ist es aber
auch nur billig dass der schluAsaz ganz anders eingekleidet wird: er
lautet dann amsn ttbp wun mögest du seine stimme hören ihn segnend!
inschr. 68. 71. 83, oder vielmehr vorne noch vollständiger n a-in o Herr!
mögest du ..... 66; und bei inschriften, welche näher betrachtet, einen
solchen inhalt haben wie die oben weiter erläuterte 71ste, versteht sich
ein solcher sinn des schluAsazes vonselbst Auch kann es nicht auffallen
dass in ihm der Herr angerufen wird obgleich wir nach obigem die
weibliche Tänit erwarten: denn entweder ist das wort yvi in. solchen
fallen bloss aus nmn abgekürzt, was bei ausrufungen ganz gewöhnlich 2 )
obgleich gerade im Hebräischen ungewöhnlich ist; oder die Phöniken
machten bei solchen ausrufungen überhaupt keinen solchen unterschied.
Jedenfalls ist die göttin zunächst gemeint, weil der gott nach dem ste-
henden sprachgebrauche dieser inschriften als pa adönl angeredet wäre.
— Sonst können wir aus diesen 89 inschriften besonders viele neue
eigennamen kennen lernen : und es erhellet immer mehr dass die Phö-
niken bei den eigennamen der freien männer zwar ähnlich wie die He-
bräer und die Griechen gerne Zusammensetzungen liebten 3 ) , sonst aber
1) nach LB. §.3416. Ganz entsprechend ist w Ictd$ tW^S tn*l*6<* «W* CA. Gr.
H. p. 243. 422. 858. 2) s. Gr. arab. §.350-
3) 8. darüber die SL. §.273 ff. In zusammenseztmgen erscheint hier 49. 56. 61
auch der uns bis dahin nicht nachweisbare gottesname po Sakkän oder
Sanchün, woraus sich auch der name Sanchuniathon erklärt; doch hatte man
(vgl. die Erklärung der großen Sidonischen Inschrift s. 65 f.) schon früher an
eine solche möglichkeit gedacht. — Auch solche manneseigennaxnen wie *rtn
Chatina (Hanno), ma ftwfo, vn*9 Äbdo (über das schließende * 8. die SL.
§. 16 b oder 8. 57) sind gewiss aus zusammengesezten wie «:r6*a (eig. Gnädi-
ger Gott) erst wieder verkürzt; ähnlich wie ]ntt Mutun 56. 63 aus bwana
Mutumbal.
x
96 H. EWALD,
den Stoffen nach ihre eigennamen von den Hebräischen meist sehr ver-
schieden lauteten; wie sich denn jezt immer allseitiger bestätigt dass das
Phönikische als spräche trozdem dass es in manchen eigenheiten dem
Hebräischen besonders nahe stand, doch auch weit genug von ihm sich
sonderte und keineswegs bloss wie eine mundart von ihm betrachtet
werden darf 1 ).
Die Renan'schen inschriften von Umm eTavämld,
und die zweite Sidonische.
Der Professor Ernst Renan in Paris hat von seiner Phönikischen
reise nur drei inschriften heimgebracht: und wir wundern uns vielleicht
dass er bei den ungemeinen hülfsmitteln aller art welche ihm zu geböte
standen, nicht eine größere anzahl von ihnen entdeckte. Allein man
muss bedenken dass die Phönikische bildung in Asien schon seit Alexan-
ders zeit immer mehr der Griechischen wich , während sie in Africa bis
zur Zerstörung Karthago's mächtig fortblfihete und auch nach dieser sich
im kämpfe nicht sowohl mit der in vieler hinsieht ihr nahe verwandten
Griechischen als vielmehr mit der ihr völlig widerstrebenden Römischen
macht und bildung noch lange zu erhalten strebte. Die Phönikisch-
Asiatischen inschriften können also nicht wohl wenigstens in großer an-
zahl bis in so späte Zeiten herabgehen. Dennoch möchte ich nicht be-
zweifeln dass man auf diesem boden noch eine gute ernte halten könnte,
wennnur die örter wo diese vorzüglich zu halten ist erst recht gefunden
sind; und die hohe Wichtigkeit der inschriften je älter sie sind läßt wohl
auch in der nächsten Zukunft die einmahl so kräftig angefangene nach-
suchung nicht ruhen.
Unter diesen drei Renan'schen inschriften ist nur die erste eine
etwas längere von 8 zeilen; die beiden anderen sind kurz und im ganzen
leicht verständlich. Die erste aber ist aus vielen Ursachen eine für uns
ebenso wichtige als schwer verständliche inschrift, die gleich viel neues
1) wie wichtig es für alle geschichte des Alterthumes sei dies wohl zu beachten,
ist so eben noch in der dritten ausg. der Geschichte des Volkes Israel I 8. 549 f.
erörtert.
/*
ÜBER DIE GROSSE KARTHAGISCHE ü. A. PHÖNIKISCHE INSCHRIFTEN. 97
für unsere Wißbegierde wie ftür unsere entzifferungskunst bringt. Renan
selbst der sie mit den beiden anderen gegen ende des j. 1862 in abbil-
dern veröffentlichte, versuchte damals zugleich in einem längeren aufsaze
ihre auslegung; und nachdem inzwischen der bekannte Pariser Gelehrte
Sam. Munk , mitglied der dortigen Akademie der Inschriften und schönen
Wissenschaften (dieser, was man sehr anerkennen muss, troz seiner er-
blindung), so wie der Abb£ Barges Professor an der Sorbonne nach
manchen Seiten hin über diese erst jezt im Louvre öffentlich aufgestellte
inschrift einige abweichende ansichten veröffentlicht haben , kommt Renan
so eben in einem neuen aufsaze auf ihre erklärung zurück 1 ). Allein
diese vielfachen versuche die räthsel der inschrift zu lösen, halten vor
einer genaueren Untersuchung nicht stand; und anstatt ihre unhaltbarkeit
im einzelnen ausführlich zu beweisen, halte ich es auch hier für besser
sogleich das richtige zu erläutern, da was bisjezt untreffendes vorge-
bracht ist daraus leicht beurtheilt werden kann.
Zum voraus bemerke ich nur noch dass Renan zwar ein abbild 2 )
dieser Steininschrift veröffentlicht hat, dieses aber an manchen stellen
nicht sehr deutlich ist. Indessen werden jene drei Pariser Gelehrte die
inschrift wohl überall genau genug eingesehen haben, sodass ich mich
auf ihre beschreibungen verlassen kann, sumahl wo ein richtiger sinn
sich ergibt. Die ersten buchstaben sind durch die beschädigung des
Steines zwar ganz unleserlich geworden, jedoch dem sinne nach leicht
zu ergänzen; und Renan hat sie auch sogleich in seiner ersten abhand-
lung treffend ergänzt.
1. Dass die alten trümmerhaufen in welchen Renan diese inschrift
auffand, von einer Stadt Laodikeia kommen, einer der vielen Laodikeien
welche unter Seleukos I sich diesen neuen namen zulegten oder ihn zu-
gelegt erhielten, beweisen die zwei worte Manitb abca womit die dritte
zeüe beginnt Dieses hat Renan auch von anfang an richtig erkannt.
1) s. über dies alles die Revue de rimtruction publique 1862 Sept. p. 376; be-
sonders das Journal aeiatique 1862 II. p. 865— 380; 1863 II. p. 161 — 195.
517 — 531.
2) im lezten hefte des Journ. as. 1862.
UisL- Philo L Hasse. XII N
98 H. EWALD,
da solche Phönikische buchstaben wie xsisb nur auf ein Laodikeia hin-
weisen können. Auf den ersten blick könnte nur dds zweifelhaft schei-
nen ob man das et von der gruppe ksikV nicht besser zum folgenden
ziehe, da dann das bekannte Phönikische wörtchen nm ißt 1 ) als das
Accusativzeichen sich bilden würde welches auch ganz in diesen Zusam-
menhang paßt Allein die Syrer schrieben den namen einer solchen
Stadt Laodikeia aus guten gründen immer »yt»V und sprachen ihn Lao-
diki\ und sogar die Araber nannten einen solchen ort nicht etwa j<M f
sondern bildeten den namen nach ihrer spräche in neuer weise weiblich
als **&3^Jl um, was sich nur erklärt wenn sie von den Syrern Laodike
hörten 2 ). Das wörtchen ir»« könnte nun zwar nach der eigen thümlichkeit
jener zeit und «jenes ortes auch wohl in m jät verkürzt scheinen, wie
es im Aramäischen lautete: doch ist es auch möglich anzunehmen das
eine m sei an dieser stelle fftr zwei geschrieben, zumahl sich vor diesem
m» in dem steine wirklich ein größerer Zwischenraum findet.
Das erste dieser beiden worte abca ist dagegen zwar ansich heute
für uns so dunkel und zweifelhaft dass wir darauf erst unten weiter
zurückkommen können. Aber desto leichter sind die auf jenes m fol-
genden worte nrrVim n*»r» zu verstehen, da sie nur bedeuten können
dies thor und die thorflügel (oder mit den thorfl.). Die bildung einer mehr-
zahl nhV* von einem nennworte welches wie ich sonst bewies 5 ) in der
Phönikischen einzahl ganz ktirz b? lautet , überrascht uns zwaf auf den
ersten augenblick, da das Hebräische dafür ganz anders ohbi bildet 4 ):
allein diese bildung hat ihre möglichkeit und ihr gesez 5 ). Soviel erhellet
1) so mußs man dies wörtchen aussprechen, wie aus LB. §.1056 vgl. §. 264 a
erhellet; man sollte doch aber auch in solchen dingen endlich allgemein zu
der noth wendigen genauigkeit und richtigkeit kommen.
2) was die Araber ihren lauten zufolge als Laodiki hörten. Im Arabischen hört
man nun zwar vorne nur noch ein ä: aber die Phöniken müssen, wie ihre
Schreibart -ab beweist, vorne noch ganz ursprünglich zwei laute läo- oder läa
d. i. zwei sylben gesprochen haben.
3) Vgl. das oben s. 83 gesagte.
4) s. LB §. 186 c.
5) es ist nämlich dieselbe bildung welche man in dem Aramäischen mm« väler
ÜBER DIE GROSSE KARTHAGISCHE ü. A. PHÖNIKISCHE INSCHRIFTEN. 99
aber hier für den scheinbar noch dunkeln sinn der inschrift dass wenn
neben dem thore noch besonders die thorflügel erwähnt werden, wir
uns ein sehr hohes prachtvolles thor denken müssen, in welches man
auch wie etwa in das eines palastes häufig einzog; und ohne dies wäre
ja -auch diese ganze • welhinschrift nicht wichtig genug.
2. Der sinn der ganzen' inschrift hängt aber demnächst von den
beiden Worten TOa ?nbs z.4 ab: und hier kann man sich sofort nicht
genug hüten das "haa nur so wie das scheinbar entsprechende Hebräische
'm£s als ick bauete zu fassen. Denn im Phönikischen wird diese erste
person sg. des perf. hinten nie wie im Hebräischen so gut wie aus-
nahmslos 1 ) mit "»geschrieben: entweder war der endlaut in ihm schon
von a« beobachtet, wovon der grund weiter LB. §. 116a. 187 d erörtert ist.
Gerade wenn der stamm den dritten wurzellaut verloren hat, drängt sich bei
der bildung der mehriahl am leichtesten ein n an seine stelle; und so kann
diese bildung hier einen neuen beweis dafür geben dass das Phönikische wirk*
lieh ein hinten so sehr verkürztes bi für den begriff thtir gebrauchte.
1) wie LB. §. 190d weiter erläutert ist. Immerhin ist es jedoch merkwürdig dass
auch das Hebräische hie und da schon einen Übergang zu derselben Verkür-
zung zeigt welche im Phönikischen allein herrscht. Nur eine einzige inschrift
hat sich bis jezt gefunden in welcher ein * - ' erscheint: das ist die erst ganz
neuerdings entdeckte, in dem Römischen Bulletino delT Instituto archeologico
1861 veröffentlichte sechste Athenische inschrift, welche ziemlich leicht zu ver-
stehen aber in ihrer ganzen art sehr merkwürdig ist. Sie ist mit einer Grie-
chischen dem grabmahle eines Asqaloniers eingehauen, welcher wie- die bilder
und düp außerdem noch beigefugten 6 Griechischen dichterteilen schön erläu-
tern, als reicher kaufinftnn zur see von einem' feindlichen Löwen d. i. von
einem höllischen stürme überfallen aber doch wie von guten Engeln verthei-
digt wenigstens vor dem äußersten bewahrt d. i. nicht in der see versunken
sondern in Athen gestorben von einem Sidonischen freunde feierlich begraben
und mit diesem grabmale beehrt wurde. Wenn hier nun unter dem Griechi-
schen das Phönikische steht (ich seze beides sogleich mit der wortabtheilung
hieher); , ■ » .■•,. ,. "fj^v'.' - i;-i ;
ANTWATP02 AQPQJISIOY AZKAL&NXTTHS
JOMIAAÜl JOMANS2 2IJQNI02 ANEQIfKE
■ons Krnoyi p nbaroan »ptt . 'rtnaort u?«
N2
100 H. EWALD,
ebenso wie im Aramäischen hinten ganz abgefallen; oder wenn er viel-
leicht noch gehört wurde, so war er doch tonlos und brauchte deshalb
nach dem eigenthümlichen geseze der Phönikischen Schriftart obwohl das
wort schließend nicht durch einen vocalbuchstab bezeichnet zu werden.
Wir werden also dies * wohl anders zu deuten haben. Das vorige *nba
wäre uns auch abgesehen von dem zweifelhaften sinne dieses hier gleich-
falls schließenden * in seiner bedeutung sehr dunkel, wenn ich es nicht
schon 1862 in einer Kyprischen inschrift als dem nVn der Sidonischen
inschrift gleich und etwa unsern sarg bezeichnend nachgewiesen hätte 1 ).
Allein wollte man es nun mit dem vorigen na zusammen als mein grabhaus
fassen , so würde das zum sinne der ganzen inschrift nicht taugen. Denn
wir wissen jezt genug wie die Phönikischen grabinschriften aller art
etwa lauteten und in welchen redensarten sie sich bewegten: unsre in-
schrift aber kann schon wegen des n*>: id* z. 1 nur eine weihe-, nicht
eine grabinschrift seyn ; aber auch der ganze verlauf ihres inhaltes fahrt,
wie sogleich erhellen wird , nicht entfernt auf eine grabschrift hin. Und
so können wir auf diesem wege unmöglich zum ziele gelangen. Viel-
mehr führen dahin nur folgende zwei beobachtungen.
Nehmen wir den ausgang der ganzen inschrift wie er sich in den
so läutet das leztore »Ick bin Shamma* söhn ' Abdastartf s von Asqalön. —
Aufgerichtet von mir Domßal&h söhne Domchannö's von Sidon«: und es erhellt
leicht wie es, unter treuer beibehaltüng der eigenthümlioben Phönikischen
mschriffcenart , doch sonst dem Griechischen: hinreichend entspricht. Hier
findet sich also zwar vtaaon ich errichtete mit i geschrieben : aber es ist eben
die frage ob diese ausspräche nicht bloss Askalonisck gewesen sei. Denn
auch sonst ist in dieser inschrift einiges eigentümliche : die schriftztige na-
mentlich sind sehr ungewöhnlich; der leite buchstab von teu> ist jedoch wahr-
scheinlich ein t, und ein name wie ?»ti d. i. diener konnte wohl durch ein
Griechisches Antipatros (d. i. der an des väters stelle tritt wie sein diener
und vertheidiger) umschrieben werden. Neu ist uns auch ein Sidonischer gott
on, im Griechischen durch die laute dop wiedergegeben. — Hat aber der
Sidonier die Afckalonische mundärt gewählt , so wissen wir zugleich wie man
damals unter den nachkommen der Philistäer sprach.
1) in den Nachrichten 1862 s. 547.
ÜBER DIE GROSSE KARTHAGISCHE ü. A. PHÖNIKISCHE INSCHRIFTEN. 101
drei lezten zeilen ungewöhnlich großartig darstellt, so finden wir ihn im
allgemeinen leicht verständlich und vollkommen Mar. Der Stifter der
weihinschrift sagt hier das weihegeschenk solle ihm snm ewigen andenke»
und guten namen unter den füBen seines herren des Bahamern werden; und
es ist leicht zu sehen dass -oob (wie statt des zuerst von Renan gefun-
denen *\yrib zu lesen ist) nur ein Wechsel von *i^tb ist Allein höchst
schwierig ist das wort *aaV im anfange dieses ganzen langen schluftsaze*
z. 6 : die lesart ist aber völlig sicher. Aus dieser Schwierigkeit kann
man nicht anders sich retten als dadurch dass mau zugibt das nachfag-
wörtchen für unser sein werde hier durch <*- bezeichnet, während es im
Fhönikischen sonst durch *- gekennzeichnet wird: dann bedeutet ^r>V
ieküni soviel wie das Hebräische ta'pnb dass es sei, was allein in diesem
zusammenhange paasend ist. Nun aber ist. die; annähme dieser möglich-
keit einer verschiedenen Schreibart gar nicht so schwierig als sie vielleicht
auf den ersten augenblick scheint. Denn das Phönikische weicht schon
dadurch von allen: übrigen Semitischen sprachen ab dass es für das wört-
chen sein n- schreibt ; was niemand für möglich hielt ehe man durch
die deutlichsten befweise überführt wurde. Dieses schließende a- ist aber
gewiss -6 zu sprechen, nämlich verkürzt aus -6hu> -4h, wie im Aramäi-
schen beständig fj^ dafür geschrieben wird; woraus wir nur wiederum
sehen dass das Phönikische sich: auch hierin ganz anders als das Hebräi-
sche ans Aramäische abschließt. Lautete aber dies schlußfügwörtchen
einmahl -£* so konnte dafür sicher auch ■» geschrieben werden: dies War
dann eigentlich nur folgerichtiger, weil das « doch nur filr das nicht
mehr als h lautbare ji geschrieben wurde und den laut S darstellte der
anrieh noch näher durch * zu bezeichnen war. Und wirklich findet sich
etwas ähnliches anfangend und sehr zerstreut auch schon im Hebräi-
schen 1 ). Und wenn die Schreibart mit n* sonst herrschend blieb , so
konnte sie doch in d£r gegend und in d£r zeit angewandt werden wo
unsre inschrift abgefaßt wurde. Aber wir werden sehen dass sich nur
so das -<- auch jener beiden oben besprochenen Worte ^roa -*rib& z. 4 ver-
+m
1) s. LB. §. 166 oder s.f>7 der lezten ausg.
102 H. EWALD,
stehen läßt : ist dieses so , so können wir da der fall innerhalb dieser
inschrift dann dreimahl wiederkehrt, bei einem einzelnen dieser f&lle
desto weniger im unsichern bleiben.
Die zweite beobachtung muss sich um jenes schon oben als dunkel
bezeichnete wort Jbt> z. 3 drehen. Wie das wort in diesem seinem zu-
sammenhange steht , muss es eben den theil von Laodiköa bezeichnen
an welchem der Stifter unsres weihgeschenkes sein glänzendes thor bauen
und mit dieser inschrift versehen liess. Man wird also annehmen können
dass es mit dem Wechsel von / und r dem nvgyog ^ entspricht, einem
worte welches gleich dem ähnliches bedeutenden n^a durch soviele alte
sprachen sich hindurchzieht 1 ). Geben wir es als noch am meisten ent-
sprechend durch unser bürg wieder, so können wir die ganze inschrift
schon jezt sicher genug in folgender weise nach ihren einzelnen worten
eintheilen und übersezen:
o^k in* 113 »r ratiD bwV pitb 1'
nnVirn n*« rva bi«b abca 3
zy . ntta tos ^nba na nb»b «a 4*
o*b n« m SIZ • "*» ytvib gzg 5
M2 om *oob '»b •*}& ns 6
ob« b*a "»an* ö*d nrm 7
pw eb*V 8 :'" ■ •-.■ •
»Dem Herrn dem Baalsham&m weihete r Abdelim söhn Muttun^s - Sohnes
'Abdelim's sohnes Baalshamar's an der bürg von Laodik£a dieses thor
mit den thorflügeln ' welches ich zum dienste ihres Mausoleutn's bailete
im jähre 280 des Herrn Milkom dem jähre 143 der Tyrier, damit 1 es
mir zum ewigen andenken und guten namen werde. Er segne mich!«
Die bürg der Stadt war demnach dem großen Phöriikischen gotte
BaalshamÄm geweihet und sein Tempel und bild ragte über ihr hervor.
Aber sie schloss auch ein Todtenhaus in sich, und zu diesem hatte
unser r Abdelim sein glänzendes thor gebauet. Dieses. Mausoleum lag
1) die widmung eines vollen nvqyo<; findet sich im C\ L Gr. II p. 139. Vgl. auch
dort p. 648. •
ÜBER DIE GROSSE KARTHAGISCHE ü. A. PHÖNIKISCHE INSCHRIFTEN. 103
gewiss zu den filßen der bürg: aber indem 'Abdelim seinen bau dem
oben auf ihr hervorragenden gotte weihete, konnte er hoffen dadurch
selbst zu seinen fußen von ihm ewigen rühm und segen zu empfangen.
So erklärt sich auch die ganze fassung der inschrift.
Die wortfögung des ganzen sazes ist eigentlich die als sollte es
heißen »hier sehet was dem Gölte 'Abdelim weihete, nämlich dieses Aar
u.8.w.«, sodass dieses thor im Accusative als Erklärung des 100*. erscheint.
Das ächtPhönikische wort ni^ob z. 4 entspricht vollkommen einem He-
bräischen rnhgb ; und das schlußfügwörtchen in ^nan benttS (was Hebräisch
*pn^^ wäre) geht auf das ihm nächste «fit z. 4 zurück. Auch die ge-
sammte wortftgung der inschrift welche .zunächst leicht «ehr verworren
scheint, ist so vollkommen klar.
3. Man . kann auf diese art die ganze inschrift ihrem wesentlichen
inhalte nach sehr wohl verstehen ohne rücksicht auf die bloss einge-
schaltete Zeitbestimmung: diese ist aber f&r uns noch besonders schwierig,
da sie. die Äste ihrer art ist welche uns wieder vor die äugen tritt und
zwar eine doppelrechnüng gibt aber eine solche von deren zwei hälften
keine uns so leicht deutlich ist. Die zahlen sind (vorausgesezt dass das
erste zeichen nach dem suche wirklich die Hunderte bedeutet) 280 und
143 : jene sollen nach sab» p*., diese nach dem Tyrischen volke be-
rechnet werden. Jene zwei Wörter könnten , wenn sie keinen eigennamen
bezeichnen, soviel als der herr der könige zu bedeuten scheinen: allein
sollte dies (was schon ansich unwahrscheinlich) soviel seyn als könig der
könige und etwa den Persischen könig bezeichnen,* so wissen wir doch
garnicht dass je nach einer • Persischen zeit von Kyros an fortlaufend
gerechnet wurde ; oder sollte es den Syrischen könig als den nachf olger
des Persischen bezeichnen , so würde vielmehr der bekannte name der
Seleukidischen Zeitrechnung zu erwarten seyn. Man könnte beide Wörter
zur noth auch wohl Q3*jo d't« die Herren könige verstehen , alswenn damit
die könige Syriens und Ägyptens zugleich gemeint wären: dies würde
wieder wesentlich auf. die Seleukidische Zeitrechnung hinfahren, aber
neben ihr würde eine besondere Tyrische nicht wohl zu nennen seyn.
Sollte aber die bekannte Tyrische Zeitrechnung gemeint seyn welche erst
104 H. EWALD,
mit dem verfalle des Seleukidiachen reiches und der neuen freiheit von
Tyros beginnt, so würde dazu auch die zahl der Seleukidischen nicht
stimmen. Allein das sicherste ist jedenfalls die beiden worte Dsbtt pet
so zu verstehen wie sie auf der großen Sidonischen inschrift z. 18 er-
scheinen: dann kann der Herr Mäkum als ein Sidonischer gott die Zeit-
rechnung von Sidon bezeichnen wie die Priester sie dort nach der reihe
der Götter bestimmen mochten. Denn das wahrscheinlichste ist doch
dass man in einer der kleineren Phönikischen Städte die jähre nach den
beiden gewöhnlichsten Phönikischen Zeitrechnungen, der Sidonischen als
der alterthümlichen und der Tyrischen , zugleich zählte ; Alexander aber
hatte Sidon wieder neben Tyros iniabhängig gemacht Der name Lao-
dikeia zeigt jedenfalls dass die inschrift erst unter den Seleukiden gesezt
seyn kann: doch fällt sie wohl eben so sicher schon in die frühere und
bessere zeit ihrer herrschaft. Nur soviel lässt sich bisjezt über diese
zwei Zeitbestimmungen sagen : weiter könnte man nur vorgehen wenn
die eine oder die andere sich auf anderen Urkunden finden ließe.
Nur kurz und. zunächst nur wegen ihres lezten wortes erwähnen
wir hier die zweite Renan'sche inschrift, welche lautet:
)vn Va mn . * fbab
und deren sinn im allgemeinen nicht im geringsten dunkel wäre wenn
nicht an der stelle der ersten zeile wo ich hier die ^wei striche sezte
eine Schwierigkeit sich aufthäte. Hier ist etwa für zwei buchstaben
räum : allein statt ihrer erblickt man auf dem abdrucke an erster stelle
nur einen ansich unverständlichen haken <J. Nun drängt sich zwar die
vermuthung dass hier n-inc* zu lesen sei vonselbst auf: allein das wort
ÄMtarte gibt hier doch im zusammenhange keinen sinn , man müßte sonst
annehmen die Astarte werde hier männlich König genannt und dem be-
kannten Oott Ch'mdn gleichgestellt. Da uns aber eine inschrift solcher fas-
sung noch nicht weiter bekannt ist, so muss man hier entweder alles für jezf
im ungewissen lassen, oder vermuthen* dass *nb robnb zu lesen sei: »De
Milkat der Taube (die uralte heiligkeit der taube in Syrien ist bekann
des Gottes Ck'män geweihet von 'Abdeschmün wegen seines söhnest U
ÜBER DIE GROSSE KARTHAGISCHE U. A. PHÖNIKISCHE INSCHRIFTEN. 105
liegt es hier besonders nur an dem lezten worte ^n : dies könnte zwar
bedeuten mein söhn im schnellen Wechsel der rede; doch es leuchtet von
selbst ein dass wenn es nach s. 101 gesprochen sein söhn bedeuten kann,
dies viel besser passt 1 ).
— Indesseh Würde in jüngster zeit auf Sidönischem boden ander-
weitig eine in vieler hinsieht sehr wichtige inschrift gefunden welche
hier am passendsten zu berücksichtigen ist. Diese inschrift ist die erste
und meines wissens einzige welche» nach der im j. 1854 erfolgten ent-
deckung der großen Sidonischen auf jenem boden sich fand: so wenig haben
sich bisjezt die hdfihungen verwirklicht welche man damals nach jenem
ersten glücklichen : funde fassen konnte; und wir wollen wünschen dass
man dort bald mit neuem eifer und glücke das werk der nachforschung
beginne, da die inschriften jenes bodens; wie auch diese zweite obwohl
kleinere Sidonisehe zeigt, an geschichtlicher Wichtigkeit sehr lehrreich
werden können« Sie wturde im jezigenSßaidd uwar von dem dortigen
Englischen Consul gefunden, kam aber bald in den besiz des Comte de
Vogü6 f welcher damals schon lange längs der Syrischen küsten so eifrig
und nicht ohne manche gute erfolge sich mit der erforschung Kandanäi-
scher Alterthümer beschäftigte. Derselbe brachte sie dann nach Paris,
und veröffentlichte sie in einer besondern abhandlüng wo er auch ihre
entzifferung versuchte. Ich habe nun schon neulich bei einer andern
Phönikischen inschrift Veranlassung gehabt 2 ) den ausgezeichneten eifer
zu preisen womit de* Oomte de Vogü6 altö diese erforsehungen verfolgt,
aber auch zu bemerken dass seine erkläruttgen Phönikischer schriftdenk-
male an manchen un Vollkommenheiten leiden , wiewohl siä' immer noch
besser sind als die des Franzosen A. Judas. Dasselbe trifft hier ein:
ich halte es jedoch auch hier nicht fttr nftthig darauf weiter einzugehen,
da die herstell ung einer richtigeren erklärang genügen wird.
Diese inschrift hat sehr große feste zflge, und gehört aügenschein-
1) die bedeutung des ^» kann, übrigens nicht .zweifelhaft seyn ; vgl. das vntQtov
vlov *A<sx\r\mä xaiiyulq «/;^V uncl ähnliches im C. i. Gr. H. oben 8. 83.
2) in den Mfonoires pr<$6enfe6 par divers savants ä l'Acad. deö Inscriptions et
belies lettres T. VI, 1. .! .;
Hist. - PhiloL C/asse. XII. O
106 H. EWALD,
lieh zu den ältesten Phönikischen inschriften welche wir bisjezt besizen.
Ihre Zeilen sind zwar oben und unten sowie auch links durch die be-
schädigung des Steines etwas verlezt, sodass wir bedauern müssen einige
buchstaben entweder garnicht oder nur halb sicher bestimmen zu können :
doch leidet dadurch der sinn im ganzen wenig. Ich lese sie nach der
mir wahrscheinlichen ergänzung dieser buchstaben soweit sie sich geben
lässt und nach der besseren erklärung so:
abab ii n«a b»a mm 1
*jb» mnwn *jbw 2
mnwia pn oan* 3
n« vi« m« om ^b» 4
mn«*b *b rvnatt 5
d. i. »Im monate Mapal im 2ten jähre meiner herrschaft habe ich König
Bod c ashtöret könig der Sidonier und söhn Bod'ashtöretfs königs der Si-
donier den vorplaz dieses heerdes ihr der Astarte errichtet«. «
Ich zweifle nämlich nicht dass das nur in den obersten strichen
der buchstaben noch ein wenig erkennbare erste wort der lezten zeile so
herzustellen sei: es ist dies das acht Phönikische wort wen, welches ich
in der Schreibart «ao 1 » schon 1841 zum ersten male nachwies und das
sich seitdem so viel bestätigt hat. Ebenso ist das ** des folgenden Wortes
*b im steine zwar schwer jedoch eben noch hinreichend zu erkennen:
und dann kann es in der redensart ihr der Astarte womit nach bekannter
Aramäischer weise nur die Astarte etwas stärker hervorgehoben wird,
als 16 zu sprechen wieder nur dds bestätigen was ich bei der vorigen
inschrift s. 101 über dies nachfflgewörtchen bemerkte; auch darf es uns
keine Schwierigkeit machen dass es hier sogar weiblich gebraucht wird,
da wir bisjezt dagegen nichts einwenden können. Wenn diese zwei
worte aber so zu verstehen sind, so ist damit schon der ganze umriss
des sinnes der inschrift gegeben; und dieser sinn ist so einfach und so
klar dass er die bürgschaft seiner richtigkeit in sich selbst trägt. Mitten
im laufe des sazes der inschrift sind nur die beiden worte na pu z. 4
nach sinn und lesart etwas zweifelhaft, was wenig auffallen kann da
sie das zum Tempel gehörende bezeichnen welches der könig hier der
ÜBER DIE GROSSE KARTHAGISCHE ü. A. PHÖNIKISCHE INSCHRIFTEN. 107
Astarte widmet; solche namen von bausachen sind bei einer spräche die
wir kaum erst ans einigen ihrer Überbleibsel mühsam wiedererkennen
müssen, leicht etwas dunkler. Das erstere dieser Wörter nun ist dem
zuge seines zweiten buchstaben nach wahrscheinlicher pu als pu zu
lesen : dann muss jedem der Arabisch versteht dabei das in Arabischen
Schriftstellern häufige wort K&l für die tempelthürsteher einfallen, welche
doch nur von etwas dem vorplaze eines tempels eigentümlichem ihren
so kurzen namen haben' können. Wirklich haben sie nun zwar von dem
tX" (lautwechsel für 3**~)' dem langen vorhänge vor dem tempel den
namen: allein es konnte im Phönikischen wohl auch Überhaupt den
vorplaz eines tempels bedeuten wo ein Altar stand. Auf einen altar
fahrt uns aber das folgende wort wenn wir es n« lesen dieser heerd:
denn dieses dem Lateinischen ata vielleicht nur zufällig gleichlautende
■n« aru fQr heerd fanden wir neuestens in einer Kyprischen inschrift 1 );
und obgleich ein großer Altar auch wohl zwei heerde haben kann wie in
dem dortigen falle, so kann doch ein wort wie heerd auch wohl den
wesentlich in ihm bestehenden feueraltar bezeichnen. Der lezte buchstab
des wortes ist wegen der beschädigung des Steines nur rechts an seiner
spize zu erkennen , ich halte ihn aber für ein r , wozu die noch vor-
stehende spize nach der eigenthümlichkeit dieser schrift gut passt 2 ).
Sollte jedoch der zweite buchstab des ersten wortes ein ^ seyn , so würde
pio mit dem Hebräisch -Aramäischen V"JD zusammenzustellen seyn und
die axe oder den großen ringkreis des Altars bedeuten und als bauaus-
druck vielleicht eine Apsis bezeichnen können. Wir wollen , da das
wort hier zum ersten mahle erscheint, über die eine oder andere mög-
lichkeit jezt nicht bestimmt entscheiden : jedenfalls bezeichnen die worte
■ \
1) s. die Nachrichten 1862 s. 544.
2) wie richtig dies ß$i beweist die große Sidonische inschrift, wo das r denselben
zug hat womit das y rechts beginnt, als wäre y nur ein t mit einem stär-
keren striche links. Im allgemeinen aber. sind die buchstabenzüge gerade auf
den beiden Sidonischen Inschriften sich so gleich dass man schon von einer
Sidonisch-Phönikischen Schriftart reden könnte.
02
108 H EWALD,
den besondern neuen theil des großen Astartetempels in Sidon welchen
dieser könig anbauete und der Astarte mit dieser inschrift weihete.
In der ersten zeile ist der lezte buchstabe des monatsnamens nicht
zu lesen: ich habe daher nur weil mir ein b nach. den spuren der ver-
lezten schriftreihe am leichtesten zu passen schien , den namen als bca
mappal hergestellt; und ed wäre sehr zu /wünschen dass die reihe der
uns schon bekannten Kaaäanäischen monatsnamen durch diesen neuen
sicher vermehrt würde. , Hinten wo der stein sehr gelitten hat , soll nach
de Vogü£'s Versicherung die zahl fünf m u zil lesen seyn: aus dem ab-
drucke des steines sieht man aber nur ein it und einen weiter abstehen-
den strich welcher vpn einem oben zerstörten, p übrig seyn kann. Ver-
gleicht man nun die deutlich ganz ebenso beginnende erste oder große
Sidonische inschrift wie ich sie 1855 erklärte, so erwartet man an dieser
stelle ein *:jtyft meiner Herrschaft, mag ., sich also gerne denken dass
hinten noch die beiden buchstabe n Db standen. Sollte der stein aber
hinter dem dritten striche nur noch für ein V r^ura gehabt haben: so
würden die worte in meinem dritten jähre rml dem genügen unterschiede
in der zahl dennoch denselben sinn geben müssen, da es sich vonselbst
versteht dass hier nicht von den geburts- sondern nur von den herrschafts-
jahren des königs die rede seyn kann. — Übrigens nennt sich unser
könig z. 3 f. nicht ohne Ursache königssohn, ähnlich wie der könig der
großen Sidonischen inschrift, nur viel einf^her; und weil ihm diese
abstammung so schwer wiegt, so erklärt sich daraus auch das wort und
z. 3 1 ): diese abstammung ist ihm der zweite grund für seine würde.
Möchten wir nur , wie wir durch Josephus ein verzeichniss der
Tyrischen könige und ihrer Zeitrechnung besizen, so auch eine ähnliche
geschichtliche Übersicht der Sidonischen könige bald empfangen ! Dann
könnten wir nach dem sicheren gründe solcher inschriften auch die ge-
schichte aller Phönikischen schrift leicht mit höherer gewissheit wieder
erkennen.
i i
1) vgl. Ps. 72, 1.
ÜBER DIE GROSSE KARTHAGISCHE U. A. PHÖNIKISCHE INSCHRIFTEN. 109
Die neuentdeckte Sardische inschrift.
In Sardinien dessen einstige Phönikische bildung uns heute am
deutlichsten schon so viele andere in ihm entdeckte.. Phönikische in-
schhften bezeugen, ist in jüngster zeit eine neu« entdeckt, auch bereits
durch die Gelehrten jener gegendeu, veröffentlicht und zu deuten ver-
sucht 1 ). Wir Übergehen auch hier, diese ganz ungenügenden versuche,
um sofort die richtigere erklärung des sowohl geschichtlich, als sprachlich
sehr eigentümlichen denkmales zu geben- ..■ , .
Diese inschrii't stand, wie ihr Inhalt, lehrt,; am fuße eines ehernen
altares des Sardisch-Phönikiscben Asklepios. Sie ist Lateinisch -Grie-
chisch -Phönikisch, und gewährt ans schon durch diese häufung dreier
sprachen manche besondere yortheile. Vprzügüch erhellet aus dem: sogar
an erster stelle gebrauchten Lateinischen leicht daas : sie .währeoid der
jähre zwischen dem ersten und zweiten Funisphen kriege oder doch nicht
lange zeit später verfasst Heyn muss, weil nach dem ende des zweiten
dieser kriege der gebrauch des Phönikiachen in öffentlichen denkmSlern
Sardiniens wohl bald ganz aufhörte. Ein anderer vortheil dieser inschrift
ist dass sie uns fast ganz unversehrt und gut lesbar . erhalten , vorliegt.
Sie besteht aus fünf langen jedoch ungleichen Zeilen. Die, erste der
beiden Phönikiachen zeüen enthält nicht weniger als 58 Phönikische
schriftzeichen woraus auch erhellet mit welchem rechte oben s. 69 f. der
großen Karthagischen inschrift sehr lange zeilen zugeschrieben wurden.
Wir haben deshalb das bild dieaer inschrift schon oben s. 74 gegeben,
die Phönikiachen schriftzeichen jedoch wie überall in dieser abhandlung
sogleich nach dem richtigen sinne in worte abgetheilt. Die Phönikischen
schriftzüge seibat sind in dieser inschrift ähnlich wie die Griechischen
und nur noch ärger auf eine seltsame weise durch den künstler wie
zerhackt eingegraben, sodass man sich in diese ächte Phönikische Fractux-
schrift erst völlig einlesen muss: hat man indessen dies gethan, so zeigt
sich dass die inschrift übrigens mit Sorgfalt ausgeführt und allem an-
scheine nach ganz fehlerlos ist.
I) in den sobriften der Turiner Akademie der WW. von 1862.
110 H. EWALD,
Der Lateinisch - Griechische theil kann uns nun zwar hier wie in
allen ähnlichen fallen zum sicheren Verständnisse des Phönikischen sehr
nüzlich seyn: allein wir wissen schon durch eine menge früherer beispiele
dass die Alten' wenn sie zwei- öder dreisprachige Inschriften sezten,
dabei nicht so ängstlich genau bloße übersezungen der einen spräche
durch die andere geben wollten. Wenn zumahl eine spräche schon seit
langen zeiten zu vielen tausenden von inschriften angewandt war und
sich dadurch an eine eigentümliche fassung und gestalt der worte gerade
für inschriften gewöhnt hatte, so drückte man den sinn ihrer gewohnheit
gemäss aus; das Phönikische aber hatte seit den frühesten zeiten auch
als ihschriftensprache seine feststehende eigenthümlichkeit. Aber man
ging auch Über die hieraus sich ergebende freiheit noch weiter heraus,
wie hier sogar das Lateinische wenig dem Griechischen entspricht. Und
so werden wir bei dem Phönikischen hier am ende zwar darauf zu sehen
haben wie weit es im ausdrucke des sinnes mit den beiden andern spra-
eben übereinstimtne oder nicht, seine erklärung selbst aber ganz unab-
hängig davon feststellen. Wir erklären es am besten nach den drei
theflen in welche sein langer ski sich passend zerlegen lässt, und kön-
nen dabei vorläufig immer auch das in den andern sprachen entsprechende
berücksichtigen.
1. Die ersten worte Dem Herrn Eshmün M'erröch einen ehernen Altar
100 pfund wiegend sind dem sinne nach am leichtesten deutlich. Der
bekannte Phönikische Eshmiln muss in Sardinien in einer so eigen thüm-
lichen weise und daher auch mit einem so besonderen namen verehrt
seyn dass ihm hier nicht wie sonst der gewöhnliche Griechische name
Askl^pios hinreichend zu entsprechen sondern ihm den Phönikischen
beinamen auch im Griechischen und Lateinischen beizusezen nothwendig
schien. Wir treffen nun diesen beinamen welcher sich als MEHRE oder
MHPPH so seltsam ausnimmt, hier zum ersten male: so könnten wir
ihn sogar leicht für einen bloss Sardischen gott zu halten geneigt wer-
den , wenn nicht die laute 'rtSita schon ihrer Schreibart zufolge zu gut
Semitisch klängen. Auch ist es bei näherer betrachtung doch wohl mög-
lich den namen aus dem Phönikischen zu deuten. Wir können uns das
ÜBER DIE GROSSE KARTHAGISCHE ü. A. PHÖNIKISCHE INSCHRIFTEN. 111
wort als rn«t) denken: dieses könnte nach der vielen spureji zufolge
feineren Phönikischen ausspräche einem mittel worte n^tj (nnDtt) ent-
sprechen und entweder den Lebensverlängerer oder vielmehr allgemeiner
den Heiler bedeuten, jedenfalls also zum begriffe des Askl£pios gut
stimmen. Denn die w. m» konnte Phönikisch in gewissen fallen der
w. *pa entsprechen: und entweder wäre TWffl fann aus er?j; ^1«» ver-
kürzt, oder es wäre unmittelbar von ^n« heüung 1 ) abzuleiten, welches
vorzuziehen scheint. Die bedeutung des namens ist im ganzen klar;
und er lehrt uns zugleich da#s der Phönikische Eshmün doch ursprüng-
lich mehr als der Griechische Asktepio? war.
Ebenso finden wir hier zum ersten male die nob für pfund, ein
wort welches nicht Semitisch aushört und doch der Xizqa und der Ubra
völlig entspricht. Die frage unter welchem volke dieses wort zuerst ge-
braucht sei, müßte mit der anderen sich verbinden woher die uncia ***•}
komme, liegt uns jedoch hier zu ferne. — Das schriftzeichen hinter ntna
soll offenbar wie sonst hundert bezeichnen, erscheint aber hier' ebenso
zerhackt wie die für die Phönikischen buchstaben.
2. In den folgenden Worten was weihetß Kleon der genösse der sah-
sieder ist vor allem das zum ersten male hier vorkommende wort nnban
als von hVtj sah abstammend deutlich; das n für n konnte mundartig
seyn; die stärkere sächliche bildung welche man sich zugleich als die
mehrzahl rinba» denken kann, weist aber auf künstliche salzwerke hin.
Demnach weiden wir in den vorigen buchstaben nma die arbeiter in
solchen zu suchen haben: und wir können nicht bezweifeln dass die
w. am der bedeutung nach unserm sieden nahe genug entsprach. Denn
das a*T v^ gibt den hier verwandten begriff des scfmekens, woran sich
1) dieses Hebräische wort laßt sich mit der w. »ptt long ebenso wohl verbinden
wie im Arabischen (welches diese w. in der ersten bedeutung verloren hat)
das dem sinne nach gleiche Jdb auch ausdrückt was langt d. i. irgendwozu
hinlangt, hinreicht, tauglich und nüzlich ist, sodass Jifclfe geradezu das *«*-
liehe andeutet; vonda ist bis zum begriffe des passenden und heilsamen nicht
weit, und diese bedeutung hat sich in dem selten gebrauchten Arabischen
^t und dem altAramäischen sp-ju erhalten.
119 H. EWALD,
wieder der in dem seltenen yj 1 mid in '(p'l *ao^ liegende begriff des
stärkeren ttieföens anschließt. Bedeutet also ajttq oder ajaij im Phöniki-
schen den eine solche arbert künstlich betreibenden, so konnten die
nnban (^atsa- sehr wohl die arbeiter von salzwerken seyn und ganz den
in der Lateinischen inschrift gebannten xalarü entsprechen. Das zeichen
für t ist insofern etwas zweifelhaft als es in diesen zerhackten zügen
vielleicht ein in darstellen konnte: doch sieht es diesem wie es sonst in
der inschrift oft genug erscheint , nicht genug ähnlich ; und jedenfalls wäre
wie im laute so in der bedeutung des wortes kein großer unterschied.
— Steht aber dies fest, so können die vorigen buchstaben aon 1 * nur den
genossen anzeigen: und da eine w. acn im Phönikischen sehr wohl dem
picn «-ow* entsprechend die festere gleichsam klebende Verbindung aus-
drücken kann, so macht die bedeutung hier ebenso wenig Schwierigkeit
wie die bildung eines beschreibewortes Jon; nach dem acht Phönikischen
Tjba; LB. §. 162 a.
Wir müssen jedoch jezt den j 1 ^»« betrachten, einen sonst nirgends
vorkommenden auch wenig Phönikisch aushörenden mannesnamen, wel-
cher erst aus einem Griechischen Kleon Phönikisch umgelautet aber
offenbar in dieser umlautung unter den Phönikisch redenden in Sardinien
schon viel gebraucht war. Dass die Phöniken auch die Salzsiedereien
früh im Großen betrieben und Sardinien nachdem es Punisch geworden
war ihnen dazu eine der besten gelegen heiten bot , ist bekannt : wir
ersehen aber aus unserer inschrift dass noch damals sogar unter der
Römischen herrschaft auf Sardinien eiue Punisch redende große innung
von salzsiedern sich erhielt. Unser reiche Kleon muss, obwohl allen
anzeichen nach ein geborner Grieche, sich längst in diese innung haben
aufnehmen lassen, und lebte auch in der spräche und sitte ganz wie
ein Punier. Aber obwohl er sich sowohl auf Punisch als auf Lateinisch
nur als einen theilhaber dieser innung bezeichnet, so nennt er sich doch
wenigstens Griechisch vielmehr 6 im woe äXmv und war demnach ent-
weder der erste beamte oder vielmehr der reiche besizer dieser salzwerke
selbst. Allein dass jene innung damals als eine höchst angesehene und
ÜBER DIE GROSSE KARTHAGISCHE ü. A. PHÖNIKISCHE INSCHRIFTEN. 118
sehr selbständige entweder für sich oder in einer größeren Funischen
gemeinde noch bestand, zeigt sich deutlich genug
3. in dem schlufttheile der inschrift nach ihrer Fhönikischen fas-
sung, wo die worte mir d£n sinn zu haben scheinen sich hallend an den
beschlmss der Väter - Suff eten Himükat und Abde$hmün söhne Chamldn's. Das
n von ibtd als der oben erwähnte erste buchstab, der zweiten zeile ist
zwar rechts ganz verstümmelt: allein was von dem buchstaben noch
übrig ist, passt gut zu einem *>; und ^qti in der bedeutung »sich haltend
an eine Vorschrift oder ihr folgend« konnte recht wohl mit folgendem -b
verbunden werden. Das wort -»D^tt kann vergl. mit dem Hebräischen
hd-jh sehr wohl unserm erlasse ähnlich einen öffentlich erlassenen obrig-
keitlichen befehl ausdrücken, und •»D-utb itt» so ganz dem xccrä nQoarayfta l )
des Griechischen theiles entsprechen. Allein während das Griechische
nicht weiter andeutet welche obrigkeit dem reichen Kleon auf sein ge-
such durch einen öffentlichen erlass die erlaubniss ertheilt habe diesen
Altar am Askl£piosheiligthume zu stiften, drückt dieses der Phönikische
theil ganz urkundlich aus durch die erwähnung der beiden damals der
gemeinde vorsizenden Väter - Suffeten , ganz nach Karthagischer weise.
Der dritte buchstab von matt könnte zwar etwas zweifelhaft seyn, sofern
sein rechter strich sehr kurz gelassen ist: allein dasselbe trifft auch so»
fort bei dem n von robnn ein, wenn man es mit den übrigen n ver-
gleicht; Phönikisch aber konnte das wort eäter n*ih*t ähnlich wie 2oia?
lauten. Wenn aber die Suffeten sonst nicht Väter -Suffeten heißen, so
konnte das doch in dieser Sardischen Gemeinde aus besonderen veran-
lassungen sehr wohl möglich seyn.
Vergleichen wir aber zum Schlüsse diese Phönikische fassung mit
ihren beiden Schwestern, der Lateinischen Cleon salariorum societatis soc.
Aescolapio Merre donum dedit Ubens merito merente (für merenti) und der
Griechischen *AöxXi]7iUp Mrj^f} drd&sfux ßw/udr fanjas KJL(a>p S inl xmv
aJLwy xcrcä nffdatay/ia : so kann man zwar jezt leicht übersehen wie
1) vgl. in demselben sinne und ebenso kurz *a%d nQoatar^a xaQunio*ov C. I. Gr.
IL p. 244 ; 360. 429.
Hist. - Philol. Classe. XU. P
114 H. EWALD,
höchst verschieden sie sind troz ihrer höchsten Sinneseinheit: allein es
ergeben sich dabei noch einige wichtige, fbigerungen. ' Die Fhönikische
fassung steht zwar den damaligen Verhältnissen der Römischen weit ge-
mäss am ende, allein sie ist die einfachste und doch bestimmteste, ganz
wie für die Punische gemeinde berechnet ans deren mitte sie sich erhob.
Die vorne stehende Römische hält sich zwar was die bezeichnung des
gebers betrifft ganz an die bescheidenheit der Phönikischen , lautet aber
sonst prahlerisch genug, als wollte sie zu den herrschern der -zeit reden.
Die Griechische fasst besser als die Römische und der Phönikischen in-
soferne entsprechender das wesentliche der Schenkung und ihrer errich-
tung nur kürzer zusammen, bezeichnet aber das amt des schenkers
deutlicher: sie gibt die spräche des schenkers selbst, und wenige moch-
ten dort wie er das Griechische verstehen.
Eine neuentdeckte Kyprische inschrift
veröffentlichte ich selbst zuerst wenigstens mit Hebräischen buchstaben
in unseren Nachrichten vom j. 1862 ^ womit man jedoch die in einem
stücke noch genauere lesart und erklärung vergleichen muss die ich dort
kurze zeit nachher gab 2 ) und deren inhalt auch in dieser größeren ab-
handlung oben s. 107 berücksichtigt ist. Ich ergänze hier nur dass herr
W. S. W. Vaux, einer der oberaufseher des Britischen Museums und
herausgeber des oben erwähnten großen bandes Karthagischer inschriften,
mir etwas später einen abdruck von ihr mit einem kleinen versuche sie
zu erklären und einer Umschreibung in Hebräischen buchstaben zu-
sandte 5 ) welcher ebenfalls 'von einem weiteren buchstaben am ende der
zweiten zeile nicht die geringste spur zeigt. Indessen habe ich schon
oben s. 107 erläutert wie ich sofort nach der genaueren mittheil ung über
die lesart diese stelle betrachtete.
1) s. 467 ff.
2) ebenda 8. 543 — 49. Man findet in beiden aufsäzen auch noch weitere erfor-
schungen.
3) aus den Transactions of the R. Society of Literature vol. VII new series.
ÜBER DIE GROSSE KARTHAGISCHE ü. A. PHÖNIKISCHE INSCHRIFTEN. 115
i
Nachschrift.
Obige abhandlung ist größtenteils schon seit längerer zeit verfaßt: jezt bewegt
mich die vergleichung einiger erst eben gelesener Schriften unserer zeit noch einen
kurzen rückblick auf den allgemeinen zustand zu werfen in welchem die entzifferung
Phönikischer inschriften sich heute findet.
Es kann nicht anders seyn als dass jedes neue Schriftstück welches uns heute
aus einem völlig verlorenen alten weiten schriftthume wieder zugänglich wird, unsre
erkenntniss dieses schriftthumes mehrt, und dass das immer weiter lernen nirgends
so seine nächste anwendung finden muss als hier. Schon durch bloße emsige ver-
gleichung aller der oft so weit zerstreuten einzelnen stücke dieses schriftthumes
welche hier allmälig wieder an den tag kommen, läßt sich manches immer sicherer
und vollständiger wiedererkennen. Kein einziges schriftthum des Alterthumes war
vor dem Griechischen über so viele weit von einander entfernte länder ausgebreitet
als das Phönikische, wie wir dies erst jezt klar genug einsehen können: nachdem
also die aufmerksamkeit der Wissenschaft in unseren tagen einmahl auf dieses feld
stärker hingelenkt ist, mehren sich aus den verschiedensten gegenden her die ent-
deckungen verlorener Phönikischer Schriftstücke; und sind auch die meisten kürzer
und verstümmelter als mau wünschen sollte, so kann doch jedes dieser hunderte
von Stückchen schon durch seine bloße vergleichung mit den anderen für uns seinen
guten tiuzen haben. Findet sich z. b. ein eigenname wie roban 8. 113 welchen die
Römer als Himiico sprachen, so ist heute leicht zu sehen von welcher göttin er aus-
ging und dass er vorne aus 'n$ verkürzt wurde: denn ähnliche eigennamen und
ähnliche Verkürzungen sind jezt schon vielfach genauer nachgewiesen l ) , und dazu
findet man jezt unter den eigennamen der Karthagischen inschriften solche weibliche
die mit -nft beginnen welches nur aus -nn« verkürzt seyn kann. *
Allein die entzifferung des ;Phönikischen hatte von anfang an und hat noch
immer ihre großen Schwierigkeiten, mit denen niemand glücklich ringen kann als
wer vor allem in den verschiedenen Semitischen sprachen und schriftthümern aufs
vollkommenste heimisch ist und wohl begreifen kann was überhaupt sowohl nach
sprachlichen als nach sachlichen gründen möglich oder unmöglich ist. Das schlimmste
ist wenn leute sich hier einmischen wollen denen schon diese erste und noth wen-
digste bürg8chaft für eine glückliche beschäftigung mit dem Phönikischen vollkommen
1) im LB. §.273b. Aach der mannesnamff Vwi l ist aas YtM verkürzt*
P2
116 H. EWALD,
fehlt; leider aber beschäftigen sich solche denen aller beruf und alle geschicklichkeit
abgeht noch immer viel zu viel mit diesen Phönikischen dunkelheiten , und stiften
damit fortwährend einen argen schaden. Denn hinzukommt dass man mit so klei-
nen oder so dunkeln Schriftstücken leicht auf das willkürlichste umspringen und den
lesern alles bieten zu können meint: sowie es auch bei anderen als Phönikischen
inschriften so oft der fall ist dass leute die von einer gründlichen sprach- und
Schriftwissenschaft nichts wissen desto unverantwortlicher mit den oft so kleinen und
meist so völlig dunkeln Schriftstücken auf münzen und anderen denkmälern verfahren
zu können meinen. Ich will nicht umsonst durch meine erste etwas längere abhand-
lung vom j. 1841 in der Zeitschr. für die Kunde des Morgenlandes die sich mit
Phönikischem beschäftigenden zum einhalten des ächten wissenschaftlichen weges
aufgerufen haben: was damals gesagt und bewiesen wurde, war ganz nothwendig zu
sagen, und ist weder damals noch später widerlegt. Gesenius hatte sich wohl mit
der Phönikischen schrift als schrift viel beschäftigt und die denkmäler fleißig ge-
sammelt, war aber im Sprachlichen immer ein stümper geblieben und verstand sogar
auch in Motten schriftsachen noch immer vieles des wichtigsten ganz unrichtig; noch
mehr war dieses dann bei Movers der fall troz seiner unermüdlich reichen Stoff-
sammlungen. Wenn nun noch heute Franzosen wie A. Judas l ) und Engländer wie
der herausgeber der oben erwähnten Karthagischen inschriften *) an solchen unvoll-
kommenheiten kleben bleiben, so kann uns das in Deutschland wenig auffallen:
schwerer dagegen ist es zu ertragen dass sie auch noch mitten in Deutschland an
so manchen stellen wie absichtlich beibehalten und empfohlen werden 8 ). Weiter
darüber zu reden ist nicht dieses ortes, weil hier alle Wissenschaft aufhört 4 ): es
mußte nur kurz darauf hingewiesen werden, um keinen zweifei über solche erschei-
nungen zu lassen. Denn je schwerer einzelne Wissenschaften zu einer höheren Voll-
endung emporstreben, desto wachsamer müssen sie vor dem eindringen aller ver-
kehrten bestrebungen geschüzt werden.
1) vgl? weiter was ziilezt über ihn in den Gttt. Gel. An%. 1863 s. 808 ff. gesagt wurde.
2) ich habe eben deshalb die meinungen dieses herausgeben oben gar nicht naher bemerkt
noch berücksichtigt.
3) wie die abhandlnng von 0. Blau über die große Karthagische inschrift (in der DMGZ. 1862
s. 438 — 47), auf welche ich eben aufmerksam gemacht bin, wohl kaum werth war gedruckt
zu werden. — Auch von Heidenheim' $ Abb. über dieselbe inschrift (in seiner Englisch -
Deutschen th. Zeitschr. IV. 1862) ist nichts weiter zu sagen; vgl. auch noch GitL Gel. An*.
1857 s. 268 — 272.
4) wohl aber gehört eine etwas nähere beurtheüung der Veröffentlichungen des Jüdischen Predi-
gers in Breslau M. A. Levy in die Gel. Am. (wo sie nun 1864 st. 23 schon erschienen ist).
ÜBER DIE GROSSE KARTHAGISCHE A. U. PHÖNIKISCHE INSCHRIFTEN. 117
— Zu einer weiteren nachschrift veranlaßt mich der bei der Hannoverschen
Philologenversammlung vom herbste dieses jahres eingereichte aufeaz Fr. Ritschl's
und Joh. Gildemeister's über die dreisprachige Sardische inschrift. Nach dem
ersten der von mir s. 113 aus dem C. L G. angeführten beispiele l ) ist der ausdruck
*m& nqoqixxYpa allerdings auf einen göttlichen befehl zu beziehen welchen Kleon
nach dem' bekannten heidnischen aberglauben 2 ) in seiner Enkömesis empfangen zu
haben meinte. Steht dieses fest, so muss man sich entschließen die lezten worte
des Phönikischen theiles der inschrift so zu lesen: So ntoa trän Kbp ynw Er (der
gott) härte seine stimme ihn heilend. Im jähre der Suffeten u. s. w. Das wort firtn
ist dann er in auszusprechen, als per f. Qal mit dem Suffixe: diese Wortbildung ist
zwar weit mehr Aramäisch als Hebräisch; aber eine solche erscheinung trifft sehr
richtig mit alle dem überein was ich längst über das verhältniss des Phönikischen
zum Hebräischen lehrte; und ihr entspricht in diesem besondern falle sogar im He-
bräischen selbst fast gänzlich eine mehr mundartige und dichterische abweichung 5 ).
Sazverbindungen aber wie er hörte seine stimme heilte ihn (d. i. ihn heilend) sind
zwar ebenfalls mehr Aramäisch als Hebräisch 4 ): allein auch das ist eher eine
empfehlung dieses Verständnisses der worte. Inderthat liegt die redensart abp 973B
trcn wodurch sich auch der sinn der folgenden worte bestimmt, nach der bekannten
weise der Phönikischen dankinschriften so nahe dass sie sich von selbst ergibt sobald
man den oben erwähnten Griechischen ausdruck richtig bezieht. Die doppelte lücke
welche die inschrift im Phönikischen hier hat, darf das richtige verständniss ebenso
wenig aufhaltet? wie die in gerade dieser inschrift auffallende gestalt des u> in dem
worte nroa im jähre ..... *
Gegen die oben s. 112 angenommene bedeutung eines Wortes wie stne läßt sich
nur das 6ine sagen dass um den begriff von sahsiedern zu geben es hinreichen würde
ihm nbfc anzufügen, nicht aber ein wort der längeren und bestimmteren bildung
nhbn» hier ebenso leicht passend wäre. Wollte man jedoch. von der anderen Seite
annehmen worte wie nnböM iök könnten dem Griechischen ausdrucke i inl woV
äXtov ganz entsprechen, so würde dies dem Semitischen sprachgebrauche widerstre-
ben. Kann nämlich dieser Griechische ausdruck nichts als den aufseher der sahwerke
bedeuten, so müßte der im Semitischen nicht durch 'öa idk sondern nothwendig
1) dass die beiden andern dort erwähnten von anderer art seien, habe ich an jener stelle bereits
deutlich genug zu verstehen gegeben; warum sie aber dort angeführt wurden ist ebenso
leicht deutlich.
2) vgl. über diesen die AlUrtkümer s. 298 ff.
3) nach dem LB. §.2525.
4) LB. §. 286 b. 349«.
118 H. EWALD, ÜBER DIE GROSSE KARTHAG. ü. A. PHÖNIK. INSCHRIFTEN.
durch '» bs v» bezeichnet seyn '). Die Phönikische redensart der oder die an den
salmoerken (d. i. die theilnehmer an ihnen) kann demnach nicht eine wörtliche über-
sezung der Griechischen bezeichnung Kleon's seyn, sondern nur den Lateinischen
Worten scUarii soc. entsprechen. Hieraus folgt aber weiter dass das vorige oyjn*!
in einem solchen zusammenhange kaum etwas anderes aussagen kann als ihr nämlich
der theilnehmer an den saliwerken genösse, was bei uns fast nichts anderes ist als
der genösse der theilnehmer an den salztcerken, nach einer Wortverbindung welche
wiederum mehr Aramäisch als Hebräisch ist 2 ) , die sich uns aber nach dem oben
bemerkten dadurch leicht um desto mehr empfehlen kann. Sollte nun die abkürzung
s. hinter soc. wirklich nur servus bedeuten können, so müßte man bei dem Phöniki-
schen aom einen ähnlichen sinn suchen: allein ich vermisse den beweis warum es
hinter soc. (d. i. sociorum oder societatis) nicht sodalis bedeuten könne. Kleon konnte
als aufseher über diese salzwerke ein reicher sklave der gesellschaft, er konnte aber
auch ein gesellschaftstheilnehmer seyn; und lezteres ist die sache geschichtlich be-
trachtet auch ansich viel wahrscheinlicher.
Ich habe längst gezeigt 3 ) dass die Phöniken die bildung solcher gesellschaften
zum besseren betriebe der gewerbe und des handeis liebten; und schon der gebrauch
des Phönikischen in unserer inschrift beweist dass bei diesen Sardischen salzwerken
am nächsten nur Phöniken beschäftigt waren. Auch der heilgott dem der dank der
inschrift gilt, war deutlich ein Phönikischer. So erhebt sich vonselbst die frage ob
nicht auch Kleon troz seines Griechischen namens ein Punier von geburt und bil-
dung war; und wir würden daran garnicht zweifeln wenn Griechische spräche in
Sardinien geblühet hätte upd wir auch sonst viele Griechische inschriften von dort
besäßen. Da beides nicht der fall ist, so wird man den Griechischen theil der in-
schrift immer am wahrscheinlichsten davon ableiten dass Kleon selbst ein Grieche war.
1) man darf sich nicht darauf berufen dam btta and andre thafwörter des herrschens mit -3
sich verbinden können: diese Verbindung hat einen andern grund.
2) vgl. LB. §. 309 c
S) schon 1836 in der erklärong von Ijob 40, 30.
Attische Studien
von
Ernst Curtius.
IL
Der Kerameikos und die Geschichte der Agora von Athen«
Der Königl. Gesellschaft der Wissenschaften vorgelegt am 7. Januar 1865.
In demselben Maße t wie sich das staatliche Leben der Griechen in der
Stadt vereinigte, musste auch der städtische Mittelpunkt der Brennpunkt
des öffentlichen Lebens werden. Darum ist die grosse Bedeutung des
Stadtmarkts ein Kennzeichen des Griechenthums. Auf dem Markte der
Stadt stellt sich der Staat dar 1 ). Daher wird im Anfange von Sopho-
kles Elektra der lykeische Markt statt Argos genannt 2 ). Die markt-
schirmenden Gottheiten (dyoQäg intaxonoi) sind zugleich die Staatsgötter
(die &tol noXiovxoi Aesch. Sieben 271); Ausweisung vom Markte (Meier
de bon. damn. 103, 183) kommt der Landesverweisung gleich und die
im Auslande lebenden Hellenen sehnen sich vor Allem nach den Markt-
versammlungen der Heimath (Iph. T. 1096). Der Markt ist der Platz
des ernsten Geschäfts wie des Müssiggangs; er ist die Bildungsschule des
Mannes zum Handeln und Reden (Od. 4, 818). Seine Einrichtung ist
der Maßstab des öffentlichen Wohlstandes (Herod. 3, 57); er vereinigt
am Herde der Stadt die ehrwürdigsten Altare und Heiligthflmer , die
1) Duncker Gesch. des Alt. 3 a , 608.
2) Was Kolster in seinen sophokl. Studien S. 157 hier von 'Hintergedanken des
Dichters' zu erkennen glaubt, halte ich für unbegründet.
120 ERNST CURTIUS
Graber der Heroen, heilige Bäume, die Erinnerungen der Geschichte,
die Denkmäler ausgezeichneter Mitbürger; er ist der Sitz der The-
mis, deren Zucht da« menschliche Treiben ordnet {onov rä wvw tbunffdoxeto
xal rä SueaatfjQia iylyrero* f\ yäg Giftig inontfjs tdir ixx/trjoiwr Schol. Od.
IX, 112). Auf ihm findet die Stimmung der Gemeinde ihren Ausdruck, die
Festfreude so wie die Landestrauer (Herod. VI. 64) ; nach der Bewegung des
Markts bestimmte der Grieche die Tageszeiten und schon die vielen
Ausdrücke, mit denen seine Sprache den Marktplatz bezeichnet, so wie
die vielen davon hergeleiteten Personen- und Ortsnamen könnten allein
genügen, die Bedeutung desselben für das Leben der Griechen zu bezeu-
gen 1 ). Durch ihre Marktversammlungen unterschieden sich die Griechen
von den zerstreut wohnenden Barbaren, und dieselben Märkte waren
es, in denen von der einen Seite eine Schwäche des Volks, von der an-
dern seine Stärke gesehen wurde. Kyros begründete seine Geringschä-
tzung der Hellenen dadurch, dass sie Marktleute wären (Herod. I, 153),
während bei ihnen selbst das Sprichwort ging : 'auf dem Markte werden
wir stark sein* 2 ).
Der Widerspruch, welcher in diesen Aussprüchen liegt, löst sich,
wenn wir die zwiefache Bedeutung des Worts unterscheiden. Die Per-
ser hielten das Kaufen und Verkaufen auf öffentlichem Platze für etwas,
das mit der Würde des freien Manns unverträglich sei und die kriege-
rische^ Tüchtigkeit eines Volks untergraben müsse. Sie pflegten daher
diese Geschäfte gerne Leuten anderen Stamms zu überlassen, namentlich
den Lydern, dem Krämervolke des vordem Asiens, und noch zur Zeit
des Jüngern Kyros waren es Lyder, welche den wandernden Heeresmarkt
1) Als Synonyme von äyoQa erwähne ich nur dyvQig, tlg^, äyoiv, äUa, dhaia,
ttvvodo^dniXhu 9 6&ikoqJ (Ross Inselr. II, 1 10), nkv&tov (Meineke Vind. Strab.
p. 119, 241), xöqo*;, xvxlog, fxaxtttog, InnödQopog (Paus. VI 23), täoy? Mei-
neke Berl. Monat8ber. 1852 S. 576). Ueber öwxog vgl. Ahrens Themis S. 15.
Die zahlreichen Personennamen sind dreifacher Art nach Analogie von
^AyoQdxQizog oder BovXayÖQag oder > Ay<üqioq, ' slyvQQioq, *An*lX&$ u. 8. w.
Gehört unter den Ortsnamen auch das lykische 'AniXkcu hierher?
2) Hesych. slv dyoQij.
ATTISCHE STUDIEN 121
■
der Ferser bildeten (Anab. 1, 6. 6). Lyder und Phönizier haben die Ein-
richtung der Kaufmärkte besonders ausgebildet Wohin sie kamen,
richteten sie ihre Bazare ein , wie es Herodot im Anfange seiner Ge-
schichten von den Phöniziern in Argos meldet, und wir können an den
Küsten Griechenlands eine Reihe solcher Plätze nachweisen, Welche als
Marktplätze der fremden Seefahrer eine bleibende Bedeutung für die
griechische Culturentwickelung gewannen haben. Daher nannte man in
Thessalien die Häfen geradezu Märkte. Hesych. u. d. W. äyopä. So ist
vielleicht Migonion (Pelop. II 323) als Ufcrbazar zu deuten im Gegensätze
zur a/juxxos atioc (Iph. T. 402). Auch die lykische Küsteninsel Enagpra
oder Xenagora (PI in. V §. 131) mag ursprünglich so viel wie Küstenem-
porium bedeuten, wie jetzt Kastellorizon auf Megiste ein solches ist
Ross Kleinasien S. 51.
Aber auch die Perser hatten einen Markt , welchen sie im Gegenr
satze zu dem der semitischen Völker den 'freien Markt' nannten, einen
Platz des öffentlichen Lebens in der Nähe der Staatsgebäude, den Sam-
melort der männlichen Bevölkerung nach ihren verschiedenen Alterstu-
fen (Xen. Cyrop. 1,2).
Merkwürdig ist nun das Velh<en der Griechen in ihrer Markt-
sitte den Völkern des Morgenlandes gegenüber« Sie haben nicht die
SprÖdigkeit der Perser gehabt und nicht auf die Dauer fremden Leuten
den Handel in ihrem Lande überlassen; vielmehr haben sie den Han-
delsgeist der Semiten sich angeeignet und die geschäftliche Betriebsam-
keit ihnen abgelernt, erst, einzelne Stämme * wie die Aegineten (Herod.
0, 80), dann mehr und niehr das ganze Volk, Denn auch in den Staa-
ten, welche Handel und Gewerbe durchaus nicht begünstigten, wie z. JL
in Sparta, galt die persönliche Betheiligung an Kauf und Verkauf #o
wenig für etwas Ehrenrühriges, dass .Fielmehr der Ausschluss vom Markt-
verkehre eine Strafe, eine Minderung der Büjagerehre war. ßiese vor-
urt^üsfreie Lebensansicht war für die ^Griechen die Bedingung ihres na-
tionalen Wohlstandes* die. Grundlage jener allseitigen Culturentwicke-
lung, welche das Volk auszeichnet. Sie wüten auch niemal* Wfc so mäch-
tiges Colonialvolk geworden, wem» sie zu spröde gewesen wären, die Ge-
H i*t. - Philol. Clane. XU. Q
122 ERNST CURTIÜS
brauche und Erfindungen der fremden Handelsvölker sich anzueignen,
mit denen sie sonst sehr wenig Sympathie hatten. Denn das ist nicht
zu verkennen, dass sie von Hause aus dieselbe Abneigung gegen den
Handelserwerb und dieselbe Geringschätzung desselben hatten , wie die
arischen Völker Vordefasiens, und dass sie* dieselbe nie verläugnet haben
(Vgl. Müller Dorier II 27). Mit feinem Gefühle haben sie die Gefahren des
Markts f&r den Staat wie für den Einzelnen zu würdigen gewusst, und
nicht bloss die bäuerliche, altväterliche Weisheit Hesiods warnt vor' dem
Besuche des Markts (W. u. T. 29), sondern auch unter städtischem und ioni-
schem Volke erhielt das Wort äyoQalog eine so üble Bedeutung, dass es
fast dasselbe wie nomjQog war, während man vor dem Bürger unwillkürlich
eine besondere Achtung hatte, der sich wenig auf dem Marktesehen liess.
(Eur. Or. 918 dySgelog ävrjQ SAtydxig vorn xäyoffäg xqatvwv xvxZov. Vgl.
mQiTQi/uua dyogäg, dyvQxal, ortofitiAtew xcttä t?\v äyopäv u. s. w.) Für
die Jugend aber galt es als ein wesentlicher Theil guter Zucht, sich vom
Markte fern zu halten. In Theben bestand eine alte Satzung, nach wel-
cher jeder Bewerber um ein öffentliches Amt nachweisen musste , dass
er zehn Jahre lang kein Marktgeschäft betrieben habe. Denn äntyso&m
äyoffäg bedeutet bei Arist. Pol. p. 1278 offenbar so viel wie änixso&cu
ßccyavacor sq/wv (p. 1321) und die Bestimmung entspricht den Satzungen
neuerer Reichsstädte, nach denen Keiner rathsfahig sein soll, welcher
ein Ladengeschäft betreibt.
Aber nicht bloss die Antipathie der Perser gegen Marktverkehr fin-
den wir bei den Hellenen wieder, sondern auch die Einrichtung, welcher
sich im Gegensatze zu den umwohnenden Krämervölkern die Perser
rühmten. So bestand unter demselben Namen bei den Thessaliern
(Aristot. Pol. 1331a) die iAev&iqa äyopä fy dsi xa&ccQär sfaai xmv i&vtanr
nüvTojv, und dieser Markt findet sich unter verschiedenen Namen und der
herrschenden Verfassung gemäss in verschiedener Form in allen Griechen-
städten; es ist der Platz der Gemeindeversammlung (äyoQä ßovZt}<p6Qog),
der Sammelort der gleichberechtigten Bürger, und dieser Markt ist es,
von dem der homerische Spruch gilt : iv dyoQjj a&ivog Qo/usv. Denn hier
bildet und stärkt sich das Gemeindegefühl; hier zeigen und bewähren «ich
ATTISCHE STUDIEN 123
die Männer, die des Vertrauens würdig sind (vgl. dyogäg äyaA/ua Bergk,
Bei. Com. Att. p. 422 sq.) ; hier ist der Sitz jener atöäiR, welche den
Feigen vom Markte scheucht (Her. I, 37) und jener auch dem Freien
wohlanständigen Ehrfurcht vor den an Ansehen und Erfahrung Voran*
stehenden (6 twv iAev&tywy yoßog Arist. Fol. 1331 b).
Die Griechen haben also bei ihrem gesunden Sinne für politische
Ordnungen beide Gattungen von Märkten tjei sich ausgebildet, den
Kaufmarkt sowohl wie den 'freien Markt'. Beide erschienen ihnen als
unentbehrliche Bestandteile jeder wohleingerichteten Stadt, und Aristo*
teles, welcher aus allen das Gemeindewesen betreffenden Bestrebungen
und Einrichtungen des Volkes das. Resultat gezogen hat, verlangt daher
für die Stadt einen dreifachen öffentlichen Platz : erstens eine Tempel-
höhe von ansehnlich fester Lage, darunter einen nach thessalischef Lan-
dessitte von allen Kaufgeschäften freien Markt (d. i. die obere Agora,
xaSaga wrCwv) und endlich einen Kaufmarkt, bei welchem nur auf die
für den Verkehr zweckmässige Lage Rücksicht zu nehmetr ist (fj dyo^ä
ij nQÖg ras ävayxafog 7r(ta'£€#s, i$ ärayxafa äyogä). Die beiden Sammel-
plätze der Gemeinde sind klar unterschieden, wie zwei verschiedene Or-
gane, das eine für die höher eü, geistigen, das andere für die sinnlichen
Funktionen des Gemeinwesens.
Hier erkennt man den organisirfeüdfcn Geist der Griechen, welcher
sich in ihren städtischen Einrichtungen offenbart und welcher den For-
schungen auf dem Gebiete alter Topographie einen besondern Reiz ver-
leiht. Die Frage nach der Agora ist bei jeder alten Stadt die Kernfrage
und wir können nach der Einrichtung der Agora die verschiedenen Stu-
fen der Stadt- und Landesgeschichte unterscheiden.
Es gab Märkte ohne Städte* Plätze des Waarentausches , wo man
an gewissen Jahrestagen zusammen, kam , wie auf dem Delphion mitten
im Gebirge zwischen Pontus und Adria (Arist. mir. ausc. 104. W. Müller
Corcyr. p. 62). Es gab innerhalb der einzelnen Landschaften gewisse
Centralpunkte, welche zur Vermittelung der verschiedenen Landestheile
dienten. So war ein Landesmarkt von Megara bei Tripodiskos zur Zeit
Strabos (p. 394), und wenn hier, wie wahrscheinlich, schon in altern
Q2
134 ERNST CTJRTIÜS
Zeiten ein bunt bewegter Jahnnarkteort war, «o begreift sich, wanuti ge-
rade hier die Anfänge der Komödie zu Hause waifeto 1 ). Endlich gab es
solche Märkte ohne Stadt an den Grenzen zweier Stadtgebiete. Das wa-
ren die dyOQal tyoftüu, Gfaodoi al nqdg %oig fipoig nmiv äerttyssrivcov, durch
Vertrag geheiligte und üriter den Schutz der beiderseitigen Stadtgotthei-
ten gestellte Freistätten, welche zu friedlichem Verkehre von Nachbarge-
meinden benutzt wurden (Demoeth. 83 §. 37). Ein besonders merkwür-*
diges Beispiel haben wir jetzt daffir in der Ugt} dyoprj zwischen Salswl
kis und Halikarnass (Sauppe Gott Nachr. 1863 S. 318). In Ähnlich«
Weise diente als gemeinsame Dingätätte für die Akarnanen und die
Amphilochier (denn so dürfen wir das xow6v wohl auffassen Thük. 8,
106) Olpai.
Die Märkte waren die Anfangspunkte und Keime der um sie em
wachsenden Städte, daher auch so manche Städte -den Namen Agora
trugen 2 ) ; sie verödeten mit der Stadt und wurden zu Weideplätzen (Die*.
©* VHp. 117 Ddf. Plut. Timol. c. 22), oder auch, die Städte gingöa
unter und die Märkte blieben, wie es mit Aleiston der Fall war, der ho-
merischen Stadt > in deren Nähe Alesiaion sich als Platz eines monatü-^
chen Jahrmarkts erhalten hatte (Strab. 341).
Die Märkte der Städte waren die ältesten Theile derselben (vgL
nuJLaU/KnoQ äyogA Pind. Nem. 3, 14). Ihre Plätze bestimmten «loh ent-
weder durch innere und selbständige Entwicklung der Verkehrsverhilt-
nisse und erwuchsen aus den Gauen (vgl. Rudorff Grom. Instit. S. 240),
oder in Folge äusserer Einwirkung , indem sich der Verkehr nach den
Kostenpunkten zog, welche fremde Kaufleute oder Ansiedler zum Lan-
dungsplatze wählten. So entstanden jene Küstenemporien , von denen
oben die Rede war (S. 121), die hie und da ausserhalb der späteren
Stadtmauer lagen, wie in Chalkis (Böckh. Staatsh. 1, 85). In dea Co-
1) Die von Bursian hier angenommene Verwechslung (Geogr. v. Griech. S. 381)
ist mir sehr unwahrscheinlich. N
2) üeber die Entstehung mittelalterlicher Städten ans Märkten und ihre daramf
beeügliohe Benennung Tgl. Frensdorff Stadt- und Gerichtsv wf. Lübecks S. 19-
ATltSCHE STUDIEN 125
loniälländern pflegte sich das atädtieche Leben ganz nach dem LändungSf*
platze -hinzuziehen und die "dortigen • Städte erwuchsen dnfe den ' Hafen«
platzen und Stapeltotern. Im Mtctt&lande hatten tfeh meistens schön fand-»
einwärts städtische Mittelpunkte gebildet , so das» nur Hafenplätze mm
den Kttstenein£orien erwüchsen, iM r ' »I "
Die aus natürlichen Landesrerhältnißsen erwachsenden Städimftrktt
waren Niederungen (daher descendere in forum) , ronoi xaUoi ± wo dte
Wiege zusammentreffen v siowdycoyoi wig ts cbzb rijs &ak&naq£ xspenopt-
vag xcei roh and rfjs x*d(fW naoiv (Ar; FoL 1381 b) ; daher häufig sum-
pfige Gegenden (O9J East. 6 , 395), auch rttit tiiessend&n Wasser versehen
(Heirod. 6, 101) und zur Anlage von Wasserbässins geeignet (Bitter EU
Asien II 628, 592*).
Um den Markt baut sich die Stadt an, welche sich aus dein um-
liegenden Grauen hier zusammenzieht. Daher kommt der Markt in die
Mitte der Stadt zu liegen (ir ju4acp äyogil < — iSol piQovom nqdg oovxö ■ zd
fiiaw Allst. Vögel 1004). Daher wird der Markt Üen fo/ira* riß n&Zsm$
entgegengesetzt (Thuc. 8, 95). Aber auch am äusseren Blande der
Städte waren Waarenplätze , wo Stadt* und Landgebiet zasommenstiessenv
also den Gränzmärkten analog. So hatte das messenische Thorgebäud*
einen runden Platz in seiner Mitte , auf dessen Bestimmung ich (Pelopl
IL 142) hingewiesen habe; eine Einrichtung, welche sehr an die Benu-
tzung der Thorräume im Morgenlande erinnert (Vgl, J, D> i Jaoobi de
foro in portis. ups. 1714)*
Die centrale Lage der griechischen Märkte wurde überhaupt triebt
mit pedantischer Aengstlichkeit festgehalten, sondern das organisirende
Talent der Griechen zeigte sich darin, dass überall den örtlichen Ver-
hältnissen gemäss die Verkehrsplätze .eingerichtet wurden t so hatte be-
i
■ i
' ' ' , : '• ,...•;. i; /. ■;. . .
1) Die Benutzung der Niederungen zu Kaufplätzen finden wir aufA im Morgen-
lande; wie z. B. in Jerusalem die Einsenkung zwischen Moria, Zion und
Akra, die mit einer Mörserschale verglichen wird (Zeph. 1, 11), der Auf-
enthalt der Kaufleute war und der 'mit Silber Beladenen', und genau in der-
selben Niederung befindet sich auch der heutige Bazar (Robinäön : Neue
Unters. S. 65, Themas Bübber fter Könige. Anhang S. 12). -
L
126 ERNST CURTIÜS
kenntlich I der Peiraieus einen doppelten Markt.; der eine war der See-
etapel i und Hafenmarkt , der andere das Organ für den Verkehr zwi«
sähen Hafenstadt und Binnenland. Der attische Kerameikos war auch
nichts weniger hls das räumliche Gentrum der Stadt, aber er lag für die
wichtigsten Beziehungen der Stadt unübertrefflich gut. Auch nach den
Zeitverhältnissen richtete sich die Marktlage. Denn durch wesentliche
Veränderungen der städtischen Bewohnung wurde ein früher wohlgelege-
ner Marktplatz unpraktisch. So können wir Verlegungen des Marktpla-
tzes in. verschiedenen Städten nachweisen, namentlich solchen t die eine
besonders bewegte Geschichte durchlebt haben, wie Athen und Syrakus.
Den Milesiern weissagte Thaies, däss ein ganz schlechter und verachte-
ter Platz ihres Weichbildes noch einmal ihr Markt werden wArde (Blut.
Solon 12); der attische Kollytos wurde in späterer Zeit das * vornehmste
Stadtquartie*, weil ein Theil desselben Markt wurde. Auch in Amphi-
polis unterschied man einen Altmarkt vom Neumarkte (kqö ttjs pw dyo^
(>äs ovotjs Thukv 5, ll) 1 ). i ■ '
Im Ganzen hielten die Griechetf darauf, dass nicht die ganze Stadt
zum Markte werde und alle Strassen zu Bazaren. Sie beschränkten dem
Verkehr a*if bestimmte Plätze, sie gaben diesen ausserdem eine religiöse
Weihe und eine staatliche Bedeutung, indem sie daselbst als heiligen
Mittelpunkt den ! Staatsherd gründeten und in Verbindung damit dit oft
fentlicheri Gebä&de, namentlich das Prytaneion ; sie machten den Markt
zur Stätte der wichtigsten Funktionen des Staats, " vor Allem der Rechts-
pflege, , tjind ' daHim hat auch die Kunst keine das Gemeindeleben betref-
fende Aufgabe früher in Angriff genommen, als die Ausstattung des
Marktplatzes; Die schön geglätteten Richtersitze (gemol A&oi), der
Schmuck des homerischen Markts, sind die ersten Werke einer öffent-
lichen Kunst der Hellenen, die nicht bloss dem Herrschergeschlechte
dient, und als den schönsten Anblick schildert das homerische Epigramm
(10) die vor dem versammelten Volke auf ihren Richterstühlen sitzenden
;■ . i >
1) Beispiele von provisorischer Marktverlegung (/u*«*<rwjf<n« vfjr äyoq&v %mv
Xorphrw Thnk. 1, 62; 7, 89. ~* Altmarkt in Ortygia: Rh. Mus. XX. 21
ATTISCHE STUDIEN 127
ehrwürdigen Vorsteher der Gemeinde. Es zeigt am Besten, wie die Hel-
lenen mit dem Begriffe der Stadt auch den des Stadtmarkts ethisch auf-
zufassen und ihm dadurch eine ganz andere Bedeutung und Weihe zu ge-
ben wussten als die Völker des Morgenlandes 1 ).
Dieses Gericht auf der Agora vor dem Ringe des Volks ist aber
nicht das ursprüngliche. Denn in ältester Verfassungsperiode , so lange
in der Königsburg der Schwerpunkt des öffentlichen Lebens lag, war ei
vor den Thoren # des Palastes, wo der König seine Bescheide ertheifte, und
diejenigen zusammenrief, welche einen Antheil am Gemeinwesen hatten;
die Vorplätze' des Palastes waren also die ältesten Samtnelorte der Bür-
gerschaft, im IlQid/uoio &#Qfio$p in der Ilias, Tor den Pforten des Pen-
theus (Eurip. Bakchen 315) u. s.w. In Theben und Athen erhielt sich die
Tradition des' alten Burgmarkts und wie die Könige des heroischen
Griechenlands, so richteten auch die Könige Israels (2 Sam. 15, 1) und
die der Germanen (Grimm Rechtsalt 804) an derselben Stelle. Vgl.
Ahrens Themis 2, 18.
Bei dem Sturze des König th ums wird Verwaltung und Gericht in
die untere Stadt verlegt, in die Wohnplätze des Volks, bei dem jetzt die
Staatshoheit ist. Kaufmarkt und Gemeindeplatz treten nun zusammen
und nach altem Sprachgebrauche bezeichnete äyopd auch ixxJLtioto (Hock
Kreta III S. 59). So lange nun eine bestimmte Anzahl edler Geschlech-
ter sich als das Volk betrachtet, wohnen sie um den Marktplatz herum
(evnccTQfdai ot ccvxd rd Satv otxovvxsg) und sehen die Umgebung des
Staatsherds und der Staatsgebäude wie ihr Quartier an , das nur scheu
und vorübergehend von den Männern des Demos besucht wird.
Mit der weiteren Entwickelung des Verfassungslebens hängt das
Bedürfoiss nach einem vom Kaufmarkte getrennten Gemeindeplatze zu-
sammen; für die Versammlung der Bürgerschaft wird ein oberer Platz
1) Im Morgenlpnde dienen die Thor räume auch als Plätze für die Prozesse, so-
wie für die freiwillige Gerichtsbarkeit und für öffentliche Bekanntmachungen.
Winer BiW. Realwörterbuch II 715.
128 ERNST CÜRTIÜS
abgegränzt l ), wie es Aristoteles verbogt; aber die Gerichte bleibe» ma
Markte und ebenso« die öffentlichen Gebäude* Die gaftse bauliche. Ent-
wickelang #es griechischen Markts knüpft sich also an die Agora im en-
geren Sinne, und wie die Kunst der heroischen Zeit dem Sitze des Kfc-
Wgthums dienje, so richtete sich seit Beging der Demokratie die künst-
lerische Ei^dsamkeit darauf, den Sitz des Demos schön, behaglich
und grossartig auszustatten.
Wo diese Erfindungen zu Hause sipd, ist uns nicht überliefert
Aber wir kö^neji mit gutem Grunde die reichen Handelsstädte Ioqiens
als .die Wiege der Demokratie so wie der demokratischen Architektur be-
trauerten. Dort ist ohne Zweifel der Säulenbau zuerst zu prachtvollen
Cqmmun^lbauten (faffita) verwendet und der M,af ktplatz zuerst mty schat-
tigen P&Uengftngen ujngeben worden, Bei den Siphniern sehea wir,
wie ejn splcher Luxus des Gemeindelebens mit einem gewissen Gfad?
de% öffentlichen Wohlstandes einzutreten pflegte (Herod. 3, 57).
Von Ionien wurde diese Kunst in Kimons Ziejit nach Athen vpjr-
pflanzt. Damals entstanden die äyoQcti navdatdaloi (Findar. dithyramb. 1),
die Lagerplätze und Marmorhallen {proaL . änoatdosis, QaiQtoeis, äyoQccvö/uioi
nsgCnccroi C. Insc. Gr. n. 3545), die Wasserkünste und Baumpflanzungen
auf, den Märkten der Städte, welche mit einander wetteiferten, in zweck-
massiger Einrichtung und geschmackvoller Ausstattung derselben ihrep
Kunstsinn zu bethätigen. Chalkis war stolz auf seinen Markt und selbst
kleine Orte, yne Anthedon. konnten sich ihrer Marktanlagen rühmen.
Die Markthallen entstanden als Denkmäler glücklicher Zeiten eine nach
der anderen, und so konnten, die Märkte bei aller Fracht doch im Gan-
zen eine unregelmässige Gestalt haben. Es war eine neue Erfindung,
die ohne Zweifel auch aus Ionien stammte , dass man den Markt ' als
■ , . . * * *
j ■ ■ i » i ■
ein .Ganzes, als eine bauliche Anlage auffasste, die früher getrennten,
von Strassen durchschnittenen und in schiefen Winkeln neben einander
1) Weil es <J*rauf ankommt, dass die Menge, als Bürgerschaft versammelt,
ejjp übersichtliches Ganze biljje (tj nXrjfri>$ /*/} dvatv^eTOt;, dXV aUofi<m>? $ xa*
qtavfQci Dion. Hai. Ant. Rom. 4, 15.
ATTISCHE STUDIEN 429
liegenden Hallen symmetrisch ordente und auf diese Weise einen offnen
Gemeindesaal zu Stande brachte, welcher durch Thore mit den anderen:
Stadttheilen in Verbindung stand 1 ). Dies ist der pswtbqos tqötio^, den
ich in der Areh. Zeitung 1848 S. 295 f. deutlich zu machen gesucht
habe; das ist die Grundform des Forums, welches Vitruv V. 1 beschreibt:
Graeci in quadrato amplissimis et duplicibus porticibus fora constituunü
crebrisque columnis et lapideis aut marmoreiß epistyliis adornant et su-
pra ambulationes in contignationibus faciunt.
Wenn ich nach diesen allgemeinen Bemerkungen zum Stadtmarkte
von Athen übergehe, so bedarf ein Versuch zur topographischen Her-
stellung desselben wohl keiner weiteren Befürwortung. Mir wenigstens
erschien es schon lange als eine dringende Aufgabe, dass man? nachdem
gewisse Vorfragen, wie ich hoffe, erledigt sind, die Markttopographie
nicht, wie es bisher geschehen ist, im Zusammenhange mit der Topo-
graphie der ganzen Stadt behandle, sondern einer besonderen Betrach-
tung unterziehe. Denn die Erfahrungen der letzten Jahre haben deut-
lich genug gezeigt, wie viel Einzelforschung noch nöthig ist, ehe ein Ge-
samtbild der alten Stadt gelingen kann und wie wir nur Schritt für
Schritt auf dem schwierigen Boden der attischen Topographie vorwärts
kommen können. Auf dem Gebiete des Kerameikos stehen für's Erste
keine Nachgrabungen in Aussicht, deren Ergebnisse man abwarten könnte,
und wenn bei dem empfindlichen Mangel an deutlichen Ueberresten des
Alterthums die Wiederherstellung in manchen Einzelheiten auch hypo-
thetisch bleiben muss, so enthält doch jeder ernstliche Versuch dazu
schon die heilsame Nöthigung, alle Punkte des Problems sich klarer zu
machen, das Sichere und Unsichere bestimmter zu unterscheiden und den
1 Ueber Marktthore vgl. Göttlirig de Iticantata 1863 p. 5. Aber Thuk. 4, 111.
ist kein solches Marktthor gemeint. Vgl. Wegebau S. 83 und Vischer in
Jahn's Jahrb. f. Phil. LXXIII. S. 139. Marktthore in Xanthos iRoss Klein-
asien S.47, Kadyanda (Ritter II 957) Korinth (Pelop. II 530), Patrai(I 443) u. s.w.
mst.-Philol. Clnssr. XI L R
130> ERNST CÜRTIÜS
Vorstellungen, welche wir uns unwillkürlich bilden, eine schärfere Fas-
sung zu gejben, wodurch Wahrheit und Irrthum sich deutlicher heraus-
stellen muss. Deshalb habe ist es versucht, den Raum, von welchem
doch jeder PRilologe ein mehr oder minder deutliches Bild im Geiste
tragen muss, in einem ausgeführteren Grundrisse, als es bisher gesche-
hen ist, vorzulegen J ).
Die Herstellung der Agora muss von dem einzig Sicheren, das
uns überliefert ist, ausgehen; das ist die Beschreibung des Pausanias.
Ihr richtiges Verständniss ist die erste Aufgabe, weil nur hier die Grup-
pen der Marktgebäude in ihrem Zusammenhange mit den übrigen Stadt-
quartieren angegeben sind. Dann erst wird es möglich sein, das aus an-
deren Notizen Bekannte einzureihen, um so das skizzenhafte Bild, wel-
ches wir aus Pausanias gewinnen, zu vervollständigen.
Seine Beschreibung der Agora ist ein Theil der Periegese von Athen,
welche in* sechs Abschnitte zerfällt: 1. vom Eingangsthore über den
Markt bis zum Fusse der Burg. 2. Ilissosufer und.Enneakrunos. 3, Fort-
setzung der Marktbeschreibung bis zum Prytaneion. 4. vom Prytaneion
nach dem Olympieion und Stadion. 5. vom Prytaneion zum dionysischen
Theater und Umgebung. 6. die Akropolis, an welche die Grottenheilig-
thümer unterhalb derselben und der Areopag mit seinen Merkwürdig-
keiten angereiht wird 2 ).
Diese Eintheilung der Periegese erscheint im Ganzen zweckmässig
und vernünftig. Die verschiedenen Absätze erklären sich am natürlich-
sten aus dem Wechsel der Ortsführer, dessen Einfluss auf die Gestal-
1) Dankbar gedenke ich dabei der Unterstützung meines Freundes, des Herrn
Oberhofbauraths Strack. Im Einverständnisse mit ihm habe ich den Plan
entworfen und seiner Hand verdanke ich die Zeichnung derselben.
2) Als Anhang folgt c. 28, 8 eine Aufzählung der attiscnen Gerichtshöfe; dies
ist der einzige Theil der Stadtbeschreibung, welcher einen sachlichen Zusam-
menhang hat und offenbar dadurch veranlasst ist, dass P. bei Gelegenheit
des Areopags sich nach den übrigen Gerichtsstätten erkundigt und darüber
eine zusammenhängende Auskunft erhält. Sie lagen z. Th. iv dtpavsT tqg
nofewc und waren schon darum dem Periegeten entgangen, welcher den
Hauptstrassen folgt.
ATTISCHE STUDIEN 131
•
tung des Textes ich bei andrer Gelegenheit nachgewiesen zu haben
glaube (Pelop. II 52, 109). Durch die Abhängigkeit des Pausanias
von der Leitung der Ciceronen lässt sieh manche Seltsamkeit erklären,
welche bei einem Manne, der den Stoff mit Selbständigkeit und Freiheit
beherrschte, unerklärlich wäre. Am seltsamsten bleibt die Enneakrunos-
episode, welche nicht nur an ihrer Stelle jedem vernünftigen Plane wi-
derspricht, sondern auch an sich als ein besonderer Theil der städtischen
Wanderung schwer zu begreifen ist, da eine spätere Tour in dieselben
Gegenden zurückfährt. Auch an eine Verunstaltung des Textes ist nicht
zu denkeg, da ganz deutlich zwei Wanderungen vorliegen. Wenn man
also nicht ganz besonderen Umständen, die ausserhalb aller Combina-
tion liegen, diese Abnormität zuschreiben will, so kommt man auf fol-
gende Vermuthung. Die Punkte nämlich, welche Pausanias bei seiner
ersten üissoswanderung erwähnt, (Odeion, Enneakrunos, die Heiligthü-
mer der Demeter und Kora, sowie der Triptolemostempel und der Tem-
pel der Eukleia) liegen ^lle in der Nähe des itonischen Thors. Da nun
Pausanias zuerst in dies Thor eingetreten ist und dann erst, eines Bes-
seren belehrt, von der Westseite, dem Haupteingange der Stadt, her ei-
nen neuen und richtigeren Anfang seiner städtischen Periegese macht,
so ist es mir nicht unwahrscheinlich , dass er jene Punkte gleich nach
seinem ersten Eintritte besichtigt und verzeichnet hat , so* dass sie eine
besondere Gruppe in seinem Tagebuche bildeten, welche er dann später,
um die Merkwürdigkeiten der innern Stadt nicht auseinander zu reissen,
an einer andern Stelle eingeschaltet hat. Dass er dies nicht geschickter
gemacht hat, kann bei der geringen Kunst und Uebung, welche Pausa-
nias gerade in der Sedaktion seiner attischen Aufzeichnungen erkennen
lässt, nicht Wunder nehmen. Vgl. Lenormant in seinem Aufsatze 'de
la maniere de lire Pausanias' in Bulletin Arch^ol. de l'Athenaeum Fran-
yais. 1855 p. 10: Soit que Texp&rience manquAt ä Pausanias, lorsqu'il
commenfa sa description, soit que le nombre des ouvrages , qui se rap-
portaient ä l'Attique , lui eüt caus£ de Tembarras , ce livre se distingue
-par des omissions consid&ables etc. Auch einen Strabon (vgl. 396)
brachte die Fülle der Merkwürdigkeiten Athens in Verwirrung.
R*
132 ERNST CÜBTIDS
Nachdem wir uns auf diese Weise den befremdenden Umstand zu
erklären gesucht haben, dass zwei Touren des Pausanias in dieselbe His-
80sgegend fahren und die Beschreibung der Agora durch ein ungehöri-
ges Einschiebsel in zwei Hälften getrennt ist, fassen wir dieselbe als ein
Ganzes auf und suchen sie uns im Einzelnen deutlich zu machen.
Pausanias kennt nur die Agora im inneren Kerameikos. In Be-
zug auf ihn herrscht ein doppelter Sprachgebrauch. Im weiteren Sinne
verstand man darunter das ganze Stadtquartier vom Fusse der Akropo-
lis bis an die Westgränze der Stadt, die ganze innere Hälfte des durch
die Ringmauer getheilten Gaues der Kerameer; so in allen Stellen, in
welchen der städtische Kerameikos dem äusseren entgegengestellt wird,
und dort, wo Privatgebäude innerhalb der Stadt als im Kerameikos ge-
legen angefahrt werden. So bei Isaios VI § 20 : § 4r xspce/usixio avvoi-
xla. Im engeren Sinne aber bezeichnet der Name Kerameikos einem bei
den Griechen weit verbreiteten Sprachgebrauche gemäss den wichtigsten
Theil des städtischen Gaues, d. h. den Markt, und in zahlreichen Bei-
spielen, namentlich wo von Aufstellung öffentlicher Denkmäler die Bede
ist , bedeutet ir xega/usixio gerade so viel wie iv äyopd. Zestermann
Basiliken S. 36.
Pausanias bespricht den Kerameikos nur in dem zweiten Sinne,
nicht als Gau oder Stadtviertel, sondern als einen städtischen Platz,
XwqCov. Der Platz ist im Ganzen ein niedrig gelegener; deshalb werden
die östlichen Gebäude als oberhalb des Kerameikos angeführt. Es muss
ferner ein; Platz von ansehnlicher Grösse gewesen sein , da er ihn auf
zwei verschiedenen Wegen in zwei Absätzen beschreibt (was z. B. bei
einem Platze von der Grösse des römischen Forums schon sehr auffei-
lend wäre) , und zwar geht er erst an den äusseren Seiten herum , um
dann das in der Mitte des Platzes Befindliche zu erwähnen. Dass er
aber bei seinem Umgange nicht die Absicht habe, in Aufzählung der
Merkwürdigkeiten vollständig zu sein, giebt er deutlich zu verstehen, in-
dem er in Betreff des inneren Marktraums ausdrücklich sagt, dass er
das nicht Allen in die Augen Fallende und Allbekannte (zä avx eig unam-
rag iniarifiä) hervorhebe. An einer andern Stelle (3, 11, 1) spricht er
ATTISCHE STUDIEN 188
sogar von einer Revision (inarög&w/na), welche er mit teiner Atthis vor-
genommen habe. Daraus geht hervor, dass er bei späterer Durchsicht
seiner Aufzeichnungen nur einen ♦Auszug aus denselben* zu veröffentli-
chen beschlossen habe mit Ausschluss des mi?der Merkwürdigen. Nach
welchen Grundsätzen er aber die Sonderung des Merkwürdigen von dem
minder Merkwürdigen (anoxqivat, rä a^ioXoyi6xcna y imXQao&nu rot pähora
ä£ta juvrjjuris) gemacht und wie er diese Rücksicht mit der anderen ver-
einigt habe, das Allbekannte zu übergehen, darüber finden wir bei dem
Schriftsteller keine Auskunft und es ist wohl vorauszusetzen, dass er da-
bei im Ganzen ziemlich principlos verfahren sei; denn eine rationell^
Ausgleichung dieser beiden Gesichtspunkte ist ja an sich ganz unmöglich.
Für die ganze Schriftstellerei des Feriegeten scheint mir aber das Re-
sultat sich zu ergeben, dass er, als ihn seine liebe zum Alterthume vor
Allem nach Athen hinführte, für litterarische Darstellung noch ganz un-
vorbereitet war, dass er anfangs den ganzen Stoff mit vollen Händen ge-
ben wollte und erst später, als er die Atthis in besonderer Ausgabe ver-
öffentlichte, sich zu einer abkürzenden Redaktion veranlasst sah, wie er
sie sich nachher bei besonders wichtigen Städten zum Gesetze machte.
Wie grossen Nachtheil uns, denen Pausanias die einzige periegetische
Quelle ist, die zweite Hand, welche er an seine Tagebücher legen zu
müssen glaubte, gebracht hat, ist leicht ersichtlich, und bei solchen Plä-
tzen des ALterthums, wie der attische Markt, tritt uns natürlich das. Lü-
ckenhafte der Beschreibung am empfindlichsten entgegen.
Pausanias betritt den Markt, indem er von Westen her die grosse
Hallenstrasse herkommt, welche den Kerameikos im engeren Sinne mit
dem Dipylon verband 1 ). Es war diese Strasse gewissermaßen eine Er-
1) lieber den Eintrit des P. durch das Dipylon vgl. meine Abh. z. Gesch. des
Wegebaus S. 68 (276); Bursian Geogr. v. Gr. I, 278 sträubt sich noch gegea
das Dipylon, obwohl er zugiebt, dass der gewöhnliche Weg vom Peiraieus
durch dasselbe ging, und warum ging denn P. vom itonischen Thore um die
halbe Stadt herum, wenn er nicht dadurch den Vortheil erreichte, die eigent-
liche Stadtwanderung bei dem Hauptthore zu beginnen, der porta velut in
ore urbis posita. maior aliquanto patentiorque quam ceterae (Iiv. 31, 24).
134 ERNST CURTIÜS
Weiterung des Marktplatzes und die Einleitung und Vorbereitung dessel-
ben, indem sich in ihr zu beiden Seiten nur Gegenstände von allge-
mein städtischer Bedeutung fanden und namentlich die Bildnisse ausge-
zeichneter Männer und Frauen rechts und links vor den Säulenhallen
in Erz aufgestellt waren, wie sie sonst die Marktplätze selbst zu schmü-
cken pflegten. Es wird nicht gesagt, dass es nur Athener und Athene-
rinnen gewesen seien; es ist im Gregentheil sehr wahrscheinlich, dass
man namentlich in der perikleischen Zeit hier Bildnisse von Hellenen
aller Gegenden vereinigte, um Athen als den Mittelpunkt griechischer
Bildung zu kennzeichnen, wo jedes Verdienst, das sich auf dem weiten
Gebiete derselben geltend gemacht hatte, seine Anerkennung und Wür-
digung finde. Die Hallen gingen ununterbrochen vom Thore bis zum
Marktplatze; es war also eine Strasse und ohne Zweifel eine der we-
nigen kunstgerecht angelegten, breiten und geraden Strassen von Athen,
wie es schon die Festprozessionen verlangten und wie es namentlich von
den Marktstrassen verlangt wurde. (Vergl. Arist. Vögel 1005 die 8Sol
iqS-at). Sie ging in der flachen Höhlung des Bodens entlang, welche
der von Natur so deutlich vorgezeichnete Ein- und Ausgang der Stadt
ist, und welche zu allen Zeiten, so lange Athen an der Nordseite der
Burg gelegen hat, als westliche Thorstrasse gedient hat, sie fallt also mit
dem unteren Theile der heutigen Hermesstrasse zusammen; wo diese
aber eine östliche Biegung macht, ging die alte Strasse in gerader Linie
südöstlich weiter, bis sie den nördlichen Rand des Marktes erreichte.
Die beiden Strassenseiten waren äusserlich gleichartig, aber wesent-
lich verschieden von einander. Denn die eine Seite hatte einfache Säu-
lengänge , welche nur die Einfassung der Strasse bildeten , die andere
aber Hallen mit anliegenden Gebäuden (fj h(ga twv otouiv fy Si kp<* &etßy
etc.). Der einsilbige Perieget sagt uns nicht, welche von beiden zur
Rechten und welche zur Linken gelegen war. Indessen lässt sich mit
Die Hallenstrasse, welche P. geht, ist die via lata intra portam. Auch das
Pompeion (das aber nicht, wie B. sagt, an der Strasse lag) so wie der De-
metertempel zeugen für das Dipylon. Vgl. Att. Stud. I, 66.
ATTISCHE STUDIEN 135
Wahrscheinlichkeit annehmen, dass die h$Qa rdov oukdp mit den Ugä
&sah> u. 8. w. die linke war. Denn während rechts vom Thore der
Raum durch Felshöhen eingeschränkt ist, breitet sich zur Linken d. i.
gegen Norden eine geräumige Fläche aus, wo für grössere Anlagen Platz
war. Auf dieser Seite also haben wir uns hinter den Säulenhallen die
von Pausanias angefahrten Baulichkeiten zu denken, zunächst dem Thore
einige Heiligthümer, dann das Gymnasion des Hermes, dann einen gros-
sen Bezirk des Dionysos Melpomenos, welcher das berüchtigte Haus des
Polytion einschloss so wie die Weihgeschenke des Eubulides, und endlich
das Gemach, in welchem eine Gruppe von Thonfiguren den Landeskönig
Amphiktyon darstellte, wie er die Götter und namentlich den Diony-
sos bei sich bewirthete. Diesen Gastsal haben wir uns also schon in
der Nähe der Agora zu denken, und es leuchtet ein, wie sehr derselbe
seiner Bedeutung nach dieser Lage entspricht, da am Markte der Herd
der Stadt war, in welche Dionysos von Eleutherai auf dieser Strasse ein-
gewandert sein sollte, und der Altar der zwölf Götter, an welchem auch
die dionysischen Festchöre ihre Gesänge aufführten.
Die Lage des Markts kann im Allgemeinen nicht zweifelhaft sein.
Sie ist schon dadurch bestimmt, dass man vom Kerameikos bei den
Standbildern der Tyrannenmörder zur Burg hinaufging. In dieser Rich-
tung ist nur eine flach gesenkte, muldenförmige Niederung, welche sich
zum Burgaufgange hin erstreckt, eine Niederung, welche im Süden, durch
die ansteigenden Terrassen des . Areopags, im Aasten durch den Höhen-
zug, welcher im Hügel des Theseions ausläuft, im Osten durch das er-
höhte Terrain am Nordfusse der Akropolis ihre natürliche Begränzung
hat. In dieser Niederung haben wir uns den Markt als einen vierecki-
gen Platz zu denken, dessen drei Seiten den Rändern der Niederung
entsprechen, während an der vierten oder nördlichen Seite der natürliche
Zugang war, durch den man von der Dipylonstrasse den Markt betrat
So wie Pausanias den Platz betritt, erblickt er zur Rechten die
Halle des Archon-König mit den Gruppen des Skiron und Kephalos
auf dem Dache. Diese Halle kann nach den Worten des Periegeten
noch an der Nordseite des Platzes gelegen haben, aber auch schon an
136 ERNST CÜRTIDS
der Westseite. Das Letztere ist wahrscheinlicher, besonders deshalb,
wteil Pausanias später die an der entgegengesetzten Marktseite befind-
lichen Gebäude« als oberhalb der Königshalle gelegen bezeichnet. Da-
raus dflrfen wir folgern, dass sie das erste Hauptgebäude an der West-
frante des Markts gewesen sei
In der Nähe der Stoa, also vor der gegen Osten geöffneten Säulen-
halle, und zwar, wie das Folgende lehrt, bei dem südlichen Ende sah
man eine Gruppe von drei Standbildern, welche historisch genau unter
sich zusammenhingen; es waren die um die Wiederherstellung der atti-
schen Selbständigkeit und Seemacht vor Allen verdienten Männer, Konon,
Timotheos und Euagoras, und diese standen wiederum in der Nähe einer ohne
Zweifel kolossalen Statue des Zeus Eleutherios oder Soter, einem Denkmale
der Perserkriege, welchem später Kaiser Hadrian an die Seite gestellt wurde.
An dieser Gruppe vorübergehend waar Pausanias schon vor der
Fronte der zweiten Markthalle angelangt, denn 'hinter den Standbildern'
(P. ist nämlich, um die nach Osten blickenden Statuen von vorne zu se-
hen, auf den innern Marktraum vorgetreten) , also an derselben Markt-
seite war eine Halle mit den Gemälden der zwölf Götter. These Halle,
auch die des Zeus Eleutherios genannt, schloss sich also unmittelbar an
die Königshalle an, und damit stimmt auch die Angabe bei Harpokration :
*toi Gtteü nctQ* dAl^Aag ij ts rov *EJLev&e{>{ov Jidg xctl fj ßaotteiog, ein Aus*
druck, aus welchem mau mit Unrecht gefolgert hat, dass die eine hinter
der anderen gelegen haben müsse oder dass sie gar an verschiedenen
Marktseiten anzusetzen seien, wodurch der Zusammenhang in der Perfe*-
gese des Pausanias gänzlich zerstört werden würde. Er geht ohne Zwei-
fel an derselben Marktseite gegen Süden weiter und nagd bezeichnet
auch hier nichts Anderes als ein einfaches Nebeneinander oder die uir-
mittelbare örtliche Folge (vgl. Ausdrücke wie rwv yxonjitmov rag nctgccZ-
X^JLovg #l0*i? u. A.). Damit ist aber nicht gesagt, dass beide Hallen ge-
nau in einer Flucht gelegen haben; es deutet vielmehr schon das 8mo&tv
darauf hin, dass die Zeushalle etwas weiter zurück lag 1 ).
I) Ais eiai zusammengehöriges Paar von Markthallen werden die Basileios» und
ATTISCHE STUDIEN 187
Nahe bei der Zeushalle, welche gewiss das ansehnlichste und ge-
räumigste Marktgebäude auf dieser Seite war und vor allen der Bürger*
schaft zu einem angenehmen Aufenthalte diente, lag der Tempel des
Apollon Patroos, welcher als Vater der ionischen Geschlechter Ahn und
Schutzherr der Athener und der Hort ihres Staats war. Da die später
genannten Gebäude am Areopag lagen, so ist es wahrscheinlich, dass
der Apollotempel noch in derselben Reihe von Gebäuden stand, welche
den Markt an der Westseite schlössen , so dass seine Fronte mit der
Zeushalle ungefähr in einer Linie lag, und vor seiner Fronte standen,
gegen Morgen blickend, nach dem innern Marktraume vorgerückt, die
beiden Standbilder des Gottes, der Patroos des Leochares und der Alexi-
kakos des Kaiamis.
Mit dieser Anordnung stimmt es, dass Pausanias, nachdem er die
bisherigen Gegenstände mit ausdrücklicher Bezeichnung der Nähe an ein-
ander gereiht hat, nun ohne einen Ausdruck dieser Art zu gebrauchen,
zu einer Gruppe von drei Gebäuden übergeht , welche eng unter einan-
der verbunden nach unzweideutigen Kennzeichen dem Südrande des
Markts angehören. An ihnen entlang gehend kommt P. zur südöstlichen
Ecke des Kerameikos, und so spricht Alles daftlr, dass er nach dem
Apollon Patroos von der westlichen Marktseite auf die Südseite übergeht,
wo sich das Terrain zum Areopag hebt.
Die drei Gebäude führt Pausanias in dieser Folge auf: Metroon,
Buleuterion und Tholos, indem er sie durch ein zweifaches nXrplov zu
einer Gruppe verbindet. Dass sie am Rande einer ansteigenden Gegend
lagen, folgt daraus, dass 'oberhalb' derselben die Standbilder der Heroen
standen, nach welchen die attischen Bürgerstämme benannt waren. Diese
müssen also auf einer den Kerameikos überragenden Terrasse gestanden
die Eleutherios bei Hesychios angeführt nach der Verbesserung von Meur-
sius (Hes. ed. M. Schmidt I p. 362), wenn sich daraus auch über die Lage
nichts Näheres folgern lässt, wtf eben so wenig aus Diog. Laert. VI, 2, 22,
woraus Leake (D. A*. S. 78) a*tf die Nähe von Zeushalle und Pompeion
schliessen wolltet
Bist.- Philo l. C lasse. XU. S
138 ERN8T CURTIDS
haben, und diese Terrasse, welche, wenn auch künstlich aufgemauert,
doch ohne Zweifel auf einer natürlichen Bodenerhebung beruhte 1 ), kann
nach der ganzen Oertlichkeit nur am Abhänge des Areshügels gesucht
werden. Diese Annahme wird: dadurch bestätigt, dass in der Nähe der
Arestempel angefahrt wird, welcher yon der nach demselben Gotte be-
nannten Höhe doch nicht wohl getrennt gedacht werden kann, und end-
lich setzt Pausanias hinzu, nicht weit davon ständen die Statuen des
Harmodios und Aristogeiton. Da diese nun nach anderen Zeugnissen in
der Nähe des Burgaufgangs standen , so folgt aus dem Allen auf eine,
wie mir scheint, zwingende Weise, dass Fausanias vom Apollotempel her
am Areopag entlang gegen Osten bis zum Fusse der Akropolis vorwärts
gegangen ist, und so wird die Anordnung der Gebäude auf der Südseite
des Markts im Allgemeinen ausser Zweifel gestellt.
Die Tyrannenmörder standen nicht in enger Reihe mit anderen
Denkmälern , darum werden sie von Fausanias auch nicht in unmittel-
barer Nähe eines anderen Gebäudes angeführt, und auch Arrian's Aus-
sage 2 ), dass sie ungefähr dem Metroon gegenüber standen, lässt noch ei-
nen geräumigen Zwischenraum voraussetzen. Es war ein hochragender,
weit sichtbarer Standort, den sie einnahmen, eine von andern Aufstellun-
gen absichtlich frei gehaltene Terrasse, welche als Opferstätte des Pole-
marchen und als Tanzplatz für Festchöre diente 3 ) , eine stattliche HQch-
fläche noch innerhalb des Kerameikos und zum Markte gehörig, ungefähr
dort , wo noch heute die Wege sich trennen , welche aus der Unterstadt
rechts zum Areopag, links zur Burg hinaufführen.
1) Man erkennt noch Spuren alter Terrassen am Areopag, wie sie auf dem
Plane angedeutet sind.
2) Anab. 3, 16: xslvtay *A&rjvfi<hv iv KeQapsixtfi al slxovsq, fj avipsv ig nofov,
xazavnxQv pdfaata zov MtjXQWOV.
3) Tim. Lex. Plat. u. oQXfjotQa tdrtog imtpavfe elg nayijyvQH> s Svd-a € AQ[iodiov
xal *AQ«noy8ltovoq elxove<;. Nach dem Vorbilde der Athener hat man auch
auf manchen apderen Stadtmärkten Bilder von tvQowoxxovot aufgestellt, de-
ren Beaufsichtigung den Agoranomen oblag, die die impsleux xAv slxövnv
hatten. Berl. Monatsb. 1863 S. 267. So war es gewiss auch in Athen.
ATTISCHE STUDIEN 139
Rathhaus und Metroon lagen selbst schon auf höherem Grunde.
Dass letzteres auf Felsgrund stand, schliesse ich aus dem Barathron oder
Chasma, welches unter demselben befindlich war (Suidas s. v. BaQa&QOP
und M^tQa/vQTijg) und das wir uns doch als eine Fölskluft pder -spalte
denken müssen ; zugleich kann man aber aus den Worten Arrian's schlies-
sen, dass von der Ostseite des Metroons eine freie Aussicht gegen Osten
war, weil die gegen Westen gerichteten Bildsäulen der Tyrannenmörder
ihm gegenüber standen. Deshalb habe ich es auf dem Plane etwas tie-
fer als das Rathhaus angesetzt. Dieser freien , sonnigen und bequemen
Lage wegen liebte es gewiss auch Diogenes, sich vor dem Metroon zu
lagern, wo er das rege Volksleben vor Augen hatte 1 ). Darüber also lag
die Eponymenterrasse auf einem Absätze des Areopags, und an derselben
Höhe standen in der Richtung nach der Burg die Statuen des Amphiä-
raos und der Eirene, welche ihren Knaben Plutos auf dem Arme trug;
dann die Erzbilder des Lykurgos, des Kallias, des Demosthenes und un-
weit des letztern das Heiligthum des Ares mit einer Gruppe von Stand-
bildern umher.
So war Pausanias bis zur Südostecke der Agora gekommen und da-
mit schliesst der erste Theil seiner Beschreibung derselben, welcher viel-
leicht einem herkömmlichen Pensum der Fremdenführung entspricht.
Fragen wir nun, wo er den Faden wieder aufnimmt, so giebt darüber
Pausanias selbst einen Fingerzeig , indem er Kap. 14 , 6 die Marktseite,
welche er jetzt beschreibt, als die höhere und die Punkte, welche er
zunächst erwähnt, nach der Stoa Basileios bezeichnet. 'Oberhalb des Ke-
rameikos, sagt er, und der Königshalle ist ein Tempel des Hephaistos'.
Wenn wir die Worte inlQ dh top Ksgccjueixöp u. s. w. in dieser
Weise auffassen (und ich wüsste in der That nicht, wie sie anders ver-
standen werden sollten 2 ), so müssen wir daraus schliessen, dass die er-
sten Gebäude, welche jetzt von Pausanias genannt werden , der Hephai-
1) Diog. Laert. VI, 23. Sen. Ep. 90, 14. Als eine Stätte bewegten Volkslebens
kommt der ßoopdg %%$ MtjtQdg t»v 0. auch bei Aesch. c. Tim. § 60 vor.
2) vniQ nach Analogie von 0q4*6$ vtüq %&v 'EXlymovwv olxovvtsg.
S*
140 ERNST CUJRTIUS
stostempel und das benachbarte Heiligthum der Aphrodite Urania, dem
Markte so nahe lagen, dass ma& von ihnen die Königehalle erblicken
konnte (denn an diese knüpft P. an, um seine Leser zu orientiren, und
dies war bei der Fortsetzung der Marktbeschreibung um so passender»
da er bei derselben Halle den Anfang* derselben gemacht hatte); aber
sie lagen nicht unmittelbar am Markte, denn es wird noch ein Weg ge-
macht, um von jenen beiden Heiligthümern zur Markthalle Poikile zu
gelangen (iovoi di ngög rfjp orodr, fjr UoixUtjP dvoftdiovoiv , £<mr c Eg/uijg
X<*Axovg xaAov/ueyog äyoQctiog xal nvAt] nArjafor). Auf diesem Wege kommt
also P. an einem Thore vorüber, und da dies Thor ohne Zweifel am
Bande der Agora gestanden hat, so muss hier auch eine fortlaufende
Begränzung derselben stattgefunden haben; denn feste ogoi gehören zum
Wesen eines griechischen Marktplatzes (vgl. Arist. Ach. 727). AlsGränz-
zeichen dienten aber die Hermen, und da wir nun wissen, dass von der
Poikile und zwar nach Norden hin (wie sich gleich ergeben wird) eine
Hermenreihe ausging, so wird es gewiss in hohem Grade wahrscheinlich,
dass Pausanias durch diese zur Poikile gelangt ist. An dieser Hermen-
strasse stand auch der Hermes Agoraioti, und da derselbe an der inneren
Marktseite stand und Pausanias erat ihn und dann das Thor nennt, so
folgt daraus, dass P. nicht durch das Thor, wie Einige angenommen
haben, den Marktplatz betreten hat; er muss denselben schon vorher
erreicht haben und zwar durch die offene Hermenreihe, welche Durch-
blick und Durchgang gestattete. Nach dieser, wie ich hoffe, einfachen
und einleuchtenden Combination sind also auf meinem Plane die beiden
Tempel des Hephaistos und der Aphrodite der Königshalle gegenüber
hinter den Hermen angesetzt worden und diese Ansetzung wird dadurch
bestätigt, dass in anderen Zeugnissen das Hephaisteion nicht am Markte,
sondern in der Nähe desselben angefahrt wird (tzjLtjoCov tilg dyogäg Harpokr.
und Suidas u. d« W. KoXmvuttag).
Die Poikile bildete den wichtigsten Theil der östlichen Marktseite.
Mit ihr beschliesst Pausanias die Beschreibung der den Markt einfas-
senden Gebäude und geht zu dem inneren Marktraume über, ohne die
vierte d. i. die nördliche Marktseite besonders zu erwähnen. Diese muss
ATTISCHE STUDIEN 141
aber nothweüdig auch ihren Abschluss gehabt haben , da wir uns keine
Agora ohne einö vollständige Umgränzung denken körnten, und diesett
Abschluss bildeten die Hermen. Denn die Hermenreihe nahm nach be-
stimmten Zeugnissen nicht nur bei der Poikile ihren Anfang, sondern
auch bei der Königshalle (dnd vf}g notxUtjg xal rfjg xov BaaAiwg atoäg
eioiv 61 'Eqjucci xaZovfiwot Harp. u. d. W. 'EqjuccI) ; eine Ausdrucksweise,
welche um so passender erscheint, wenn die Hermen nicht in gerader
Linie von einer Halle zur anderen sich erstreckten, sondern, wie es auf
dem Plane angegeben ist* an der nordöstlichen Marktecke einen Win-
kel bildeten, von welchem sich ein Arm der Hermenreihe bis zur Poi-
kile erstreckte. Unter diesen Verhältnissen konnte sehr wohl von einem
doppelten Anfangspunkte die Rede sein.
Die Hauptreihe der Hermen war aber diejenige, welche von der
Königshalle gegen Osten ging ; damit gewinnen wir die vierte Marktseite
und zugleich den Abschluss des Kerameikos im Norden. Wenn uns
also zwei verschiedene Gruppen von Markthallen genannt werden, ein*
mal Eleutherios, Basileios und Poikile, und wiederum Poikile, Hermen-
halle und Basileios (Tzetzes in Cramer. Anecd. IV p. 31), so werden in
der ersten GAippe diejenigen zusammengestellt, welche die gross ten und
ansehnlichsten waren, in der zweiten aber die drei Hallen, welche, mit
ihren Enden zusammenstossend , den nördlichen Theil des Marktplatzes
einfassten. Indessen haben wir uns die 'Hermen' wohl nicht . als eine
eigentliche Markthalle vorzustellen (wenn auch Aeschines g. Ktes* 183
sie so nennt und die 'oroä € E(>fmh/ bei Harpokration auf einer sehr
wahrscheinlichen Emendation Sluiters beruht), sondern als eine offene
Reihe von Hermenbildern, welche in grosser Anzahl und mehrfachen
Reihen neben einander aufgestellt waren.
Dass aber diese Hermen wirklich an der Seite standen, wo die
Hauptstrassb Vom Thore her in den Markt mändete, bezeugt Xenophon
im Hipparchikos 3, 1. Dort ist von den Reitergeschwadern die Rede,
welche : auf dem Markte Athens einen feierlichen Umzug halten, wobei
sie vt)r jedem der dort befindlichen Heiligthümer Halt machen und ihre
Verehrung bezeugen* Dieser Umzug geht von den Hermen aus und
142 ERNST CÜRTIÜS
kehrt dahin zurück. Nach Vollendung dieses religiösen Akts , bei wel-
chem sich die Reiter in feierlich ruhiger Haltung der Bürgerschaft zeig-
ten, soll wiederum von den Hermen ein neuer Ritt von den nach Stam-
men geordneten Geschwadern gemacht werdien , ein schneller Ritt , wel-
cher das am Fusse der Akropolis gelegene Eleusinion zum Ziele hat.
Hieraus geht deutlich hervor, dass man die Hermen als den An-
fang und Hauptzugang des Markts betrachtete, und zweitens, dass dieser
Zugang an der von der Akropolis entfernten und ihr gegenüber liegen-
den Seite befindlich war. Denn es liegt in der Natur der Sache , dass
die Reitergeschwader auf ihrem Ritte nach der Burg erst den ganzen
Platz durchritten und darauf in die Strasse einlenkten, welche vom Ke-
rameikos nach dem Eleusinion führte.
Die Reitergeschwader stellten sich also an demselben Platze auf,
wo Pausanias den Markt betrat. Es war das caput fori , ohne Zweifel
der beste Punkt, um den ganzen Platz zu überblicken. Da hatte man
rechts die Königshalle , links die Poikile, gerade vor sich die reich be-
setzten Terrassen des Areopags, seitwärts davon oberhalb der Tyrannen-
mörder die Propyläen u. s. w. Hier war der beste Standpunkt für die
Zuschauer der Marktfeste ; deshalb wurde auch hier das' Schaugerüste
für Aristagora erbaut, welches die Höhe der Hermen überragte (fxQtov
/LiszewQOTSQOP tiop 'Eq/lkop Athen. 167), damit sie dort, vom Gedränge un-
belästigt, den ganzen Platz am Panathenäenfeste überschaue und selbst
ein Schmuck des Festes sei. In seiner Eigenschaft als Hipparchos er-
richtete Demetrios seiner Geliebten diese Tribüne, deren Errichtung zu-
gleich meine frühere Annahme bestätigt, dass die Hermen nicht als eine
bedeckte Stoa zu denken seien. Als ein Hauptpunkt am Markte und
insbesondere als ein Aufenthalt und Tummelplatz der Reiter werden
die Hermen auch in dem Bruchstücke des Hippotrophos von Mnesima-
chos sehr anschaulich geschildert (Meineke Fr. Com. III 568), und wir
müssen darnach einen geräumigen Platz sowohl ausserhalb der Hermen
als auch zwischen denselben annehmen. Wir dürfen hier überhaupt kei-
nen einzelnen Zugang oder Thorweg annehmen , welcher von der Thor-
strasse auf den Markt führte , sondern eine Reihe von Zugängen , viel-
ATTISCHE STUDIEN 143
leicht zehn nach der Zahl der Bürgerstämme, welche hier, in eben so
viel Geschwadern vertreten, auf den Kerameikos aufritten. Auf jeden
Fall sprechen diese Erwägungen dafär, dass die Hermenreihe sich im
Norden über die ganze Breite des Kerameikos erstreckte, und dadurch
bestätigt sich wiederum die Ansetzung der Basileios an der Westseite,
womit wir die Feriegese des Markts begannen.
Bei der Begränzung, wie wir sie festzustellen gesucht haben, erhal-
ten wir einen Platz, dessen Diagonale (von der Königshalle bis oberhalb
der Orchestra der Tyrannenmörder) ungefähr dieselbe Länge hat, wie die
obere Burgfläche von dem Thore der Propyläen bis zum Ostrande des
Burgfelsens, also etwa 450 Schritt.
Bisher sind wir in der Hauptsache dem Pausanias gefolgt und ha-
ben anderweitige Ueberlieferungen und Thatsachen nur so weit benutzt,
als sie für die Anordnung der von P. angeführten Denkmäler und für
die Ergänzung seiner Beschreibung eine unmittelbare Bedeutung haben.
Von erhaltenen Ueberresten des Alterthums ist keine Rede gewesen, da
bis jetzt noch nichts zu Tage getreten ist, was an und für sich einen
festen Haltpunkt fiär die Topographie^ abgäbe. Man hat freilich auch
auf dem heutigen Boden des Kerameikos Kennzeichen und Spuren des
Alterthums nachweisen wollen. Man hat auf die vielen Kapellen hinge-
wiesen, welche in dieser Gegend noch stehen und früher noch zahlrei-
cher waren; man hat die Legenden zu Hülfe genommen, um zu erwei-
sen, dass die Philipposkirche den Platz bezeichne, wo der Heilige auf
dem Markte der alten Stadt zum Märtyrer geworden sei. Man hat die
Namen der Heiligen, welche im Kerameikos und Umgegend verehrt
werden, benutzt, um theils in ihrer Bedeutung, theils in ihrem Klange
einen Hinweis auf die Gebäude des Alterthums zu erkennen. Es sind
begreiflicher Weise besonders die einheimischen Gelehrten, welche in
Griechenland wie in Italien die Tradition als ein Moment in der topo-
graphischen Wissenschaft geltend machen , und auch Forscher wie Ran-
gab£ verschmähen es nicht, in der Kirche rov XaXxovgCov eine Keminis-
cenz an das Heptachalkon und das Heroon des Chalkodon zu erkennen
und die ayta Hagaoxsv^ mit dem Pompeion, den aytog ßfixöJUeog mit dem
144 ERNST CÜRTIÜS
Poseidon, die daiötxa dnotnoAot mit der Zwölfgötterhalle und sogar den
Sytos *Hltos mit der Basileios in Verbindung zu setzen. Vgl. Aöyog ixyw-
rrjdsis nagä wv xa&tiytj[tov a iU*£. 'Puyxaßij vfi 20 Mcctov 1861. Audi
wäre es ohne Zweifel unbesonnen, hier jeden Zusammenhang lfiugnen zu
wollen Ahd man wird es den neugriechischen Gelehrten Dank wissen,
wenn sie noch sorgfaltiger, als bisher geschehen ist, die örtlichen Tradi-
tionen sammeln. Andererseits ist aber nicht zu verkennen:, dass es sehr
schwierig ist, in Benutzung solcher Traditionen methodisch zu verfahren
und auf sichere Resultate zu kommen , so dass man einstweilen darauf
wird verzichten müssen, den christlichen Ueberlieferungen eine topogra-
phische Beweiskraft einzuräumen.
Etwas Anderes ist es mit den schriftlichen Denkmälern, welche
den Namen ihres ursprünglichen Standorts enthalten und so als topogra-
phische Fingerzeige dienen. Einige dieser Marktinschriften, welche gros-
ses Interesse erregten, sind jetzt nicht aufzufinden und deshalb apokry-
phisch; namentlich solche, welche neben ein Paar gleichgültigen Wör-
tern den Namen einer berühmten Lokalität enthalten, wie die Leoko-
rioninschrift (Pittakis Athenes p. % 78) , die vom Apollon Patroos (Rang.
II 1048) und die vom Metroon (1153 — 56), welche die Lage dieses Ge-
bäudes bei H. Hypapante, der N. W. Ecke der Burg gegenüber, erwei-
sen sollten. Andere sind erhalten und sind besonders für die Lage des
Buleuterion von den neuern Gelehrten einstimmig als ein vollwichtiges
Zeugniss angenommen worden. Vgl. Meier Comm. Epigr. p. 18. K.
Fr. Hermann Gr. Staatsalt. §. 127, 2. Indessen hat man erst in den
letzten Jahren die Beschaffenheit dieser inschriftlichen Fundstätten näher
kennen gelernt. Die Ruinenmasse, welche auch noch auf der dem Pro-
gramm der archäol. Ges. in Athen vom Juli 1861 beigegeben^* Tiafel
Buleuterion genannt wird, ist ein Stück der sogenannten Välerianischen
Mauer, deren Beschaffenheit ich im ersten Hefte dieser Studien beschrie-
ben und deren Lauf in der demselben beigegebenen Karte zuerst Ver-
zeichnet worden ist. W. Vischer ist gleichzeitig mit mir zu der Ueber-
zeugung gekommen , däss sie einer späteren Zeit als der des Valerian
angehöre; er setzt sie sogar erst in die fränkische Zeit. Auf jeden Fall
ATTISCHE STUDIEN 145
ist sie bestimmt gewesen, eine engere Befestigung der Unterstadt herzu-
stellen, und zu ihrer Aufführung ist das Baumaterial der Umgegend in
solcher Weise zusammengerafft, dass die darunter befindlichen Inschrif-
ten für die alte Bedeutung des Platzes , auf dem sie gefunden sind, kein
zuverlässiges Zeugniss ablegen können. Kumanudes hat in dem genann-
ten Programm S. 17 von der Verschleppung der Inschriftsteine gehan-
delt. Andrerseits lässt sich aber auch mit voller Gewissheit behaupten,
dass die Steine nicht aus entlegenen Stadtquartieren, sondern aus der
Nachbarschaft zusammengebracht worden sind, und dafür also liefern sie
einen unumstösslichen Beweis, dass wir uns in der Niederung nordwest-
lich vom Burgaufgange auf dem wirklichen Boden des Kerameikos be-
finden. In dieser Beziehung sind denn auch die Steine, auf denen des
Zeus Eleutherios (Rang. 381 und 478), so wie des Buleuterions (430,
und nach wahrscheinlicher Ergänzung auch 467 und 474) Erwähnung ge-
schieht, und ebfenso die Zeugnisse von einer Aufstellung £v ctyogq auf
Urkunden, die bei der Panagia Pyrgiotissa gefunden sind 1 ), von gross ter
Wichtigkeit.
Indessen hat jene Mauer nicht bloss als Magazin versprengter Al-
terthümer und Fundstätte von Inschriften eine Bedeutung fttr die Topo-
graphie, sondern auch dadurch, dass ihre Richtung sich den natürlichen
Terrainverhältnissen anschliesst und darum auch den alten Gliederungen
des Stadtgebiets, welches sie durchschneidet, zu entsprechen scheint. Da
nun der Ostrand der Agora, wie wir wissen , der höhere war , so ist es
gewiss von vorn herein sehr wahrscheinlich, dass jene Befestigungsmauer
der östlichen Marktgrenze folgte, .und darum haben wir auch die Poikile
in die Linie der sog. Valeriansmauer gelegt. Es sind aber endlich in
derselben auch zusammenhängende Grundmauern eines alten Gebäudes
aufgefunden worden, welche auf dem beigegebenen Plane eingezeichnet
sind und sich an die Nordostecke unserer Agora anschliessen. Die
Grundmauern sind bis jetzt weder vollständig aufgeräumt, noch auch ge-
nau verzeichnet worden. Es kann daher auch nur meine Aufgabe sein,
1) Kumanudes a. a. 0. S. 16. Arch. Ephem. 4104, 57; 4108. 51.
Hiit.-Philot. Cla$se. XII. T
146 ERNST CÜRT1ÜS
für diejenigen, welche den attischen Aufgrabungen der letzten Jahre
nicht genauer gefolgt sind, das Thatsächliche kurz zu erörtern und dann
die Bedeutung dieser Ruinen für die Topographie des Kerameikos in
Erwägung zu ziehen.
Hinter der Kirchenruine der Fanagia Pyrgiotissa wurde bis Anfang
des Jahres 1862 ein Gebäude aufgedeckt, welches sich 110 Meter von
S. O. nach N. W. erstreckt, bestehend aus einer offenen Halle und ei-
ner Rückwand mit 21 Thüren, welche in eben so viel geschlosseile vier-
eckige Räume von c. 5 Meter Tiefe führen. Vor dieser Thttrwand zog
sich in einem Abstände von c. 6 Meter eine Säulenreihe entlang, und
von dieser wiederum, c. 7 M. entfernt, eine zweite, von welcher sich
auf dem theilweise erhaltenen Fussboden Spuren von Säulen erkennen
lassen , welche einen geringeren Durchmesser als die hinteren Säulen ge-
habt haben. An den beiden Schmalseiten ist das Gebäude von Mauern
eingefasst, welche von der Rückwand der Fenstermauer in rechtem Win-
kel vorspringen und die doppelte Säulenhalle mit ihr zu einem Gebäude
verbinden. Die Mauer an der südlichen Schmalseite hatte innerhalb der
inneren Säulenhallen ein breites Thor, innerhalb der äusseren einen
schmalen Zugang und schloss gegen Westen mit einer Ante, welche der
äusseren Säulenstellung entsprach. Unmittelbar vor Ante und Säulen
zogen sich drei Stufen entlang und unterhalb derselben eine sorgfältig
ausgearbeitete Wasserrinne. Auch an dem entgegengesetzten Ende hat
man die Stelle der entsprechenden Schlussante gefunden und Bruchstücke
sowohl eines Architravs von pentelischem Marmor, welcher die äussere
Säulenreihe deckte, wie auch Platten von hymettischem Steine, die zum
Fussboden gehörten.
In diesem Gebäude hat man seit einer Reihe von Jahren das Gym-
nasion des Ftolemaios zu erkennen geglaubt, obwohl schon Kumanudes
in seinem Berichte über die Ausgrabungen mit besonnenem Urteile gel-
tend machte, dass die Beweise für diese Benennung sehr unsicher seien,
und in der That kann weder die Inschrift im Corpus Inscr. Gr. 360,
deren Fundort ungewiss ist., noch der dort gefundene Kopf, in welchem
man Juba II, einen Verwandten des Ftolemaios, zu erkennen glaubte,
ATTISCHE STUDIEN 147
als Beweis gelten. Die nachweislich dort gefundenen Inschriften bezeu-
gen nur die Nähe der Agora, und das ganze langgestreckte Hallenge-
bäude hat gewiss ungleich mehr den Charakter eines Marktgebäudes als
den eines Gymnasiums. Das Ftolemaion muss ein grosser Complex von
Räumlichkeiten gewesen sein , um die Uebungsplätze der Jugend , die
Bibliothek u. s. w. einzuschliessen. Dafür ist aber durchaus kein Raum
vorhanden, da die Begränzung des fraglichen Gebäudes deutlich gegeben
ist und im Röcken ein höheres Terrain beginnt, welches nicht zu dem-
selben gehört haben kann.
Neuerdings ist nun über die Bedeutung dieser Ruine, des einzigen
ansehnlicheren Ueberrestes von Gebäuden des inneren Kerameikos, ein
unerwarteter Aufschluss gewonnen worden. Es ist nämlich nach upserer
Anwesenheit in Athen bei fortgesetzter Aufräumung der Fundamente
eine Inschrift zu Tage gefördert, auf deren Bedeutung für attische To-
pographie schon K. Wachsmuth im Arch. Anzeiger 1863 S. 101 auf-
merksam gemacht hat, die von Pervanoglu im römischen bullettino 1862
S. 120 herausgegebene Architravinschrift, welche dem fraglichen Gebäude
angehört und dasselbe als ein von Attalos und Apollonis errichtetes
Gebäude bezeugt.
Die Halle des Königs Attalos in Athen, welche Athenäus 213' d.
erwähnt, ist ohne Grund und irrig mit der porticus Eumenia identificirt
worden (Meier Pergam. Reich S. 20). Jene lag im Kerameikos , an der
Agora, und zwar in der Gegend, wo sich das Volk vorzugsweise zu ver-
sammeln pflegte , namentlich in der römischen Zeit, als die alten Plätze
der Volksversammlung, Theater sowohl wie Pnyx, verödet waren, wie
dies aus der lehrreichen Rede des Athenion bei Athenäus erhellt (rd
&(atQoy dvsxxAtiokunop, rfjy nvxva a<pr$r\ft$vr\v rov Sjj/uov). Damals wurde
die Agora benutzt, um von Seiten der römischen Behörden amtliche
Mittheilungen an die Bürgerschaft gelangen zu lassen. Zu diesem Zwe-
cke war vor der Attaloshalle eine Tribüne erbaut (ßfifta id nQÖ vfjg 'Ax-
tcc/Lov aroäs tpxodo t ur\fji£vop tois ( Pw/uctfwr oiQcatiyolg Athen. 212 f.). Hie-
her wurde das Volk berufen, und damals, als Athenion angekommen war,
148 ERNST CÜRTIUS
sammelte es sich ungerufen an der gewohnten Stelle {nX^Qt^; fp S Jfep«~
fiatxog — xal avroxXtjTüs slg tty ixxkrfilav twp oxXtw ovrdQO/ufj).
Wie verhielt sich nun die Attaloshalle zu den älteren Anlagen des
Kerameikos? Man hat früher die Ruinen bei der Fyrgiotissa, so lange
nur eine Ecke derselben sichtbar war, wohl für ein Stück der Poikile
gehalten; eine Ansicht, welche namentlich von Göttling und Raoul
Rochette vertreten wurde, aber keine allgemeinere Billigung fand, weil
man die Benennung 'Ptolemaion' für gesichert hielt. Nach Beseitigung
derselben könnte man zu jener Ansicht zurückkehren und in der Atta-
loshalle einen Neubau der Poikile erkennen wollen. Allein die Aufräu-
mung der Ruinen macht diese Annahme unmöglich. Es kann das be-
schriebene Gebäude weder ein Umbau noch ein Vorbau noch ein un-
mittelbarer Anbau der Poikile gewesen sein, von der wir wissen, dass
sie unter ihrem alten Namen und als Gebäude unversehrt bis in das
fünfte Jahrhundert unserer Zeitrechnung fortbestanden hat. Auch ist das
Gebäude viel zu kolossal, als dass dafür innerhalb der alten Agora Raum
zu finden möglich gewesen wäre. Seine Anlage forderte zugleich einen
neuen Platz, welcher sich vor demselben ausbreitete, und dieser Platz
muss eine Art Vorplatz der alten Agora gewesen sein, so dass die Her-
men, welche früher denAbschluss des ganzen Marktes bildeten, nun die
Gränzlinie zwischen dem engeren und dem erweiterten Marktraume wur-
den. Was aber die praktische Bedeutung der Attaloshalle betrifft, so
enthielt sie, so weit man bis jetzt urteilen kann, einen Bazar, eine Reihe
von Magazinen und Verkaufslokalen, nach Art der atoä MvqöticuXis am
Markte von Megalopoüs (Pelop. 2, 287). Am nächsten liegt es, an eine
ctXyiTomoXig zu denken, um so mehr, da Eustathios eine mit Gemälden
geschmückte Prachthalle dieser Art in Athen erwähnt (vgl. Brunn Gesch.
der Künstler II 81). Auch liesse sich vermuthen, dass es dieselbe Halle
sei, welche als juccxqcc atod bei den Alten vorkommt, ein Name, welcher ihr
gewiss vorzugsweise zukam und nicht nothwendig als zweiter Name der
Poikile angesehen zu werden braucht , wie gewöhnlich geschieht (Ross
Theseion S. 46). Doch lässt sich hierüber nichts entscheiden.
So viel aber ist klar, dass der ehrgeizige Attalos sich nicht besser
ATTISCHE STUDIEN 149
als Philhellenen und Philathenäer bewähren konnte , als durch eine
so glänzende Erweiterung der alterthümlichen Agora, indem er, die öst-
liche Marktseite, welche zu Kimons Zeit ihre Anordnung erhalten hatte,
nach Norden fortsetzte. Und es ist in der That merkwürdig, wie Atta-
los in seinen attischen Werken sich vorzugsweise an die Werke jenes
Mannes angeschlossen zu haben scheint. Auf der Burg schmückte er
die kimonische Mauer, vor der Stadt die Akademie , deren Schöpfer Ki-
mon war; auf dem Markte rührten die ersten Luxusbauten von Kimon
her und die Poikile, deren Richtung die Attaloshalle aufnahm, war seine
und seines Schwagers Schöpfung. Dass Pausanias die Attaloshalle, an
welcher er vorbeigegangen sein muss , nicht erwähnt hat, kann um so
weniger befremden, da er ohne Zweifel ungeduldig dem Raum der äl-
teren Agora zueilte, welchen er bei den Hermen betrat.
Was die weitere Umgebung des Markts betrifft, so erwähne ich
nur diejenigen Punkte, welche auf die Topographie desselben von Einfluss
sind; namentlich ist für die Ostseite auch die Gegend, welche hinter
ihm lag, in Betracht zu ziehen. Hier war eine natürliche Erhebung,
der Kolonos, seiner unmittelbaren Nähe wegen der Markthügel genannt.
Er war bei der Poikile (denn Metons Haus war ihr benachbart und zu-
gleich auf dem Kolonos gelegen) ; er erstreckte sich hinter der Makra
Stoa, auf ihm lag das Hephaisteion. Diesen Kolonos erkennen wir also
in der Höhe, auf welcher das wohlerhaltene Thorgebäude der Athena
Archegetis steht. Hier gränzte der Kerameikos an Melite, welches in
grosser Breite die Gegend oberhalb des Markts und die Felshöhen der
südlichen Stadt umfasste; wer sich daher vom offenen Marktraume weg-
schleichen wollte, nagfj/L&s nQÖg MsXttr\v avm (Demosth. g. Konon 1259).
Die natürliche Erhebung des Terrains hinter der Ostseite der Agora be-
stätigt also unsere Begränzung derselben, und mit dieser Anordnung
stimmt auch Ross überein, nur dass er seltsamer Weise Melite von hier
gegen Norden sich ausbreiten lässt, eine Ansicht, welche jetzt hoffentlich
durch hinlängliche Beweise beseitigt ist 1 ).
1) Die Stellen über deq Kolonos siehe in Ross Theseion S. 46, die richtige Er-
150 ERNST CÜRTIUS
Auf dem inneren Räume des Markts nennt Pausanias nur ganz
vereinzelte Gegenstände, die Altäre des Eleos, der Aido, Pheme und
Horme. Hier haben wir keine weitere Anknüpfung als die Thatsache,
dass der Altar des Mitleids in der Nähe des Zwölfgötteraltars gelegen war,
mit dessen Gründung einst die Pisistratiden den neuen Marktplatz inau-
gurirt hatten. Der Altar des Mitleids, dessen Stiftung den Athenern im
Alterthume besondere Ehre eingetragen hat (obwohl er nur ein sinniger
Ausdruck für das Asylrecht des Herdes war), lag inmitten einer Baum-
pflanzung, wie wir Statius glauben dürfen (Theb. 12, 481):
mite nemus circa cultuque insigne verendo,
vittatae laurus et supplicis arbor olivae.
Für diese Anlagen so wie fär die Platanen, welche seit Kimon den
Markt schmückten, konnte der feuchte Grund der Niederung so wie
das Regenwasser, das von den Höhenrändern hier zusammenfloss, nicht
genügen, und es ist nicht unwahrscheinlich, dass der heutige Laufbrun-
nen, rd ßffvodxt genannt, der sich dort befindet, wo die zur Burg und zum
Areopag hinaufführenden Wege sich trennen, mit einer alten Leitung
zusammenhängt, welche den Kerameikos bewässerte. Ausdrücklich er-
wähnt wird daselbst der Laufbrunnen 'bei den Weiden' (Lyk. g. Leokr.
30), unweit des Rathhauses (Thuk. 8, 92) x ). In dieser mannigfach be-
pflanzten Niederung haben wir uns also auch die anderen Marktaltäre
zu denken und namentlich den Zwölfgötteraltar, den eine Fläche umgab,
welche geräumig genug war für die Kreistänze, wie sie hier aufgeführt
wurden. Dazu gehörten auch die dionysischen Chöre, wieXenophon im
Hipparchikos 3, 2 ausdrücklich bezeugt. So werden wir uns doch wohl
auch die Aufführung des Pindarischen Dithyrambos hier vorzustellen ha-
ben. Die ganze Niederung in diesem Theile der Agora war also unge-
klärung des Scholiasten bei F. Dübner zu den Scholia ad Aves V. 997, 27
p. 490. Unter der paxQa atod kann, wie die Terrainskizze zeigt, sehr wohl
die Attaloshalle verstanden sein.
1) Ueber die Schwarzpappeln und Weisspappeln auf der Agora siehe die Stel-
len bei Meier und Schümann Att. Proz. S. 606.
ATTISCHE STUDIEN 151
pflastert; an den Bändern derselben, vor den Hallen, ist aber jedenfalls
ein gepflasterter Boden vorauszusetzen 1 ).
So viel ist gewiss, dass der Zwölfgötteraltar nicht, wie man wegen
seiner Bedeutung als umbilicus urbis anzunehmen geneigt sein möchte,
im Mittelpunkte des Marktplatzes lag, sondern ganz gegen Süden, also
in der Niederung unterhalb des Areopags. Das folgt aus dem klaren
Zeugnisse im Leben der zehn Redner (Westerm. S. 77), das die Statue
des Demosthenes, neben welcher eine der Platanen wuchs (Plut. Dem.
31), in die Nähe des Altars setzt. Er stand also dem Arestempel ge-
genüber, den Staatsgebäuden benachbart, welche das geistige Centrum
der Stadt bezeichneten. Nannte man doch die städtische Curie selbst
o/u<paAög nöAstog (C. Inscr. Gr. I p. 557), und so war in ihrer Nähe auch
der Zwölfgötteraltar, der &vo€ts äcnos 6/ug>aA6g, an seiner Stelle. Auch
das römische miliarium, welches ja eine entsprechende centrale Bedeu-
timg hatte, lag nicht im Mittelpunkte des Forums, sondern am Anfange
desselben, in capite fori, Und der alten Curie benachbart.
Wir müssen überhaupt bei Vergegenwärtigung des attischen Markt-
platzes im Auge behalten, dass derselbe nicht auf einmal fertig war und
dass wir deshalb auch kein durchaus regelmässiges Schema voraussetzen
dürfen. Ohne Zweifei ist der Markt v allmählich erweitert worden , und
diese Erweiterung hat gegen Norden stattgefunden, weil im Süden der
Felsterrassen wegen jede Erweiterung unmöglich war, und ebenso waren
im Osten und Westen natürliche Ränder vorhanden.
Da es nun aber für die Feststellung des Plans der Agora von gros-
ser Wichtigkeit ist zu wissen, wo zur Zeit ihres vollen Ausbaus die
Mitte derselben gewesen sei, so kommt uns hier der Scholiast des Ari-
stophanes (Ritter 297) zu Hülfe, welcher uns bezeugt, dass das Stand-
bild des Hermes Agoraios 4r fiiaji tfj äyoQa aufgestellt gewesen sei.
Ausdrücke dieser Art, wie iv fiioji rfi nöAst und in media urbe, sind häufig
sehr unbestimmt und bezeichnen nichts weniger als die mathematische
1) Die Deutung der Xtd-oi im Dialog Eryxias S. 400 D auf Marktpflasterung
bei Ze8tennann S. 27 ist mehr als zweifelhaft.
152 ERNST CURTIUS
Mitte eines Umkreises, sondern nur den Gegensatz zur Peripherie 1 ).
Hier aber ist es anders. Denn es handelt sich von einem Gegenstande,
welcher neben der Poikile, also am Rande des Marktes, stand und der
Einfassung desselben angehörte. Also hier kann nichts Anderes gemeint
sein als die Mitte der östlichen, durch den Bau des Attalos nach Nor-
den ausgedehnten Langseite und hier muss also neben dem Hermes das
Thor angesetzt werden.
Wie nämlich die vom Dipylon her kommenden Züge durch die
Hermen den Markt betraten, so bedurfte es eines anderen Zugangs, durch
welchen die Festchöre von der Stadt her einziehen und wiederum vom
Markte aus nach den andern Stadttheilen ihren Zug fortsetzen konnten.
Der Hauptzug ging aber von der Agora gegen Osten am Nordfusse der
Burg entlang nach der Tripodenstrasse und durch diese um die Burg
herum nach dem Lenaion. Diese Verbindung des Kerameikos mit der
inneren Stadt herzustellen diente * also das Thor , neben welchem jener
Hermes stand, die sogenannte nvACg, ein Wort, welches hier im Gegen-
satze zum Stadtthore eine Pforte oder einen städtischen Durchgang be-
zeichnet; es muss ein stattliches Gebäude gewesen sein , wie man schon
aus der Bezeichnung nvkvbv schliessen kann und daraus , dass auf der
Höhe desselben ein Denkmal des Siegs der Athener über den macedo-
nischen Feldherrn Pleistarchos aufgerichtet war, welches Pausanias der
Erwähnung werth fand. Das Gebäude hiess entweder bloss 'Pylis\ wie
bei Isaios 6 , 20 (es war also das einzige in seiner Art am Markte) oder
genauer bezeichnet h nvAibv 6 ämxös 2 ). Seit Verbindung des Keramei-
1) Vgl. Archäol. Zeitg. 1843 S. 102.
2) So bei Philochoros fr. 80. Die Bedeutung dieser Benennung ist dunkel.
Liest man mit Leake: dtmnög, so kann man annehmen, dass sich darin die
Erinnerung an eine Zeit erhalten habe , wo hier die Gränze des atnv war
und der Kerameikos noch ein vorstädtischer Bezirk, aus welchem man hier
in die alte city einen Durchgang hatte. Nach dem Absterben des städti-
schen Lebens wäre dann durch die sog. Valeriansmauer die alte Stadtgränze
wieder erneuert und Athen von Neuem auf die engste Umgebung der Burg
beschränkt worden.
ATTISCHE STUDIEN 153
kos mit dem filteren Athen am Fusse der Burg ging hier die Hauptader
des städtischen Verkehrs hindurch, und darum war an diesem Theofe
auch jener Hermes an seiner Stelle, dessen Aufrichtung eine neue Epoche
des attischen Verkehrslebens, die Gründung der Hafenstadt, bezeichnete.
Vielleicht lässt sich ftti die Lage des Marktthors noch eine andere
und genauere Bestimmung gfewinneü. Jener dorische Säulenbau nämlich,
welchen die älteren Topographen das Thor der neuen Agora nannten,
und dem Spätere den falschen Namen eines Tempels oder die wenig-
stens schiefe und unklare Bezeichnung 'Tetrakionion gegeben haben, ist
in der That ein Thor, wie die Nachgft-abungen, über welche Böttioher in
seinem 'Berichte' S. 223 f. genauere Auskunft gegeben hat, ausser Zwei-
fel gestellt haben. Es ist, wie eine unbefangene Betrachtung immer er-
geben inusste, ein Durchgangsthor nlit einem breiten Interkolumniuna
in der Mitte für Reiter und Wagen. Es war aber kein gewöhnliches,
nur ftlr den Verkehr gebautes Thor, sondern der Athena Archegetis ge-
weiht; es stand also in Beziehung zum Cultus der Stadtgöttin und es
kamt keift Zweifel darüber sein, dass die Festzüge zu Ehren der Stadt-
göttin , welche an der Nordseite der Burg entlang gingen , durch jene
Thorhalle ihren Weg nahmen, wie ich es schon in meiner Abhandlung
über den Wegebau bei den Griechen S. 77 (286) zu erweisen suchte. Da
nun gewiss nicht anzunehmen ist, dass bei ihrer Errichtung die alte
Bahn der städtischen Prozessionen wesentlich Verändert worden sei, so
können wir mit gutem Grunde voraussetzen, das jenes Marktthor, des-
sen Lqge wir zu bestimmen suchen, dem nur etwa 120 Meter östlicher
gelegenen Athenathore gegenüber gelegen habe ; eine Annahme , welche
mit den auf anderem Wege ermittelten Thatsachen vollkommen stimmt
und der : auf dem Plane gezeichneten Umgränzung des Kerameikos eine
neue Bestätigung giebt.
Was die Einrichtung des inneren Marktraums betrifft, so war der-
selbe darauf angelegt, grosse Versammlungen aufzunehmen; es war eine
WQvjcwQta , welche trotz der Altäre, Heiligthümer , Standbilder, Bäume
u» a, w- einen freien Baum von ansehnlicher Grösse darbot 1 ). Daher
l) Inmitten des Markts befand sich auch das Leokorion, ein Denkmal auf-
BisL - Philol. C!a$se. XU. U
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154 ERNST CURTIUS
standen auch die Statuen , von denen wir nähere Kunde haben , am
Rande des Platzes vor den Hallen, um den freien Raum möglichst we-
nig zu verengen. Dieser wurde bei feierlichen Anlässen entweder ganz
oder zum grossen Theil in Anspruch genommen. Der- ganze Markt
wurde bei Volksfesten zu einem heiligen Räume, einem Temenos, ge-
macht, und seine Gränzen mussten für die Dauer des Feeftes sorgfältiger
gehütet werden. Um also den Markt als den Schauplatz einer heiligen
Handlung zu bezeichnen, wurde er mit Weihwassergef&ssen umstellt,
und feierliche Satzungen bestimmten, dass Keiner, welcher unreine
Hände hatte oder als schlechter Bürger bekannt war , innerhalb der Fe-
rirrhanterien sich sehen lasse 1 ). Diese Sprenggefitsse denken wir uns
also an den Punkten aufgestellt, wo die städtischen Strassen die Markt-
gränzen berührten, also bei der Hermespforte, am Durchgange bei den
Hermen, an der Strasse, welche bei der Terrasse der Tyrannenmörder
zur Burg hinaufführte, bei den Ausgängen nach dem Areopag zu und
überall, wo zwischen den Hallen Marktzugänge waren.
Andere Abzäunungen erfolgten innerhalb der Agora, Und zwar zu
verschiedenen Zwecken, entweder um die Marktseiten gegen den inneren
opfernder Vaterlandsliebe, ein erhöhter Platz, von dem einst, wie ich tfjit
0. Müller vermuthe, das festlich versammelte Volk entsühnt wurde. Vgl.
Ind. schol. Gott. 1840 p. 7. Ferner befand sich auf dem Markte, und ?\w
im südlichen Theile, der aus Solon's Leben allbekannte Heroldstein, i
tov xijqvxos M^og, von dem Bekanntmachungen erfolgten und der Anfang der
Bathssitzungen verkündet wurde, wie in Born der praeco die Bathshertn vom
Forum in die Curie berief. Vgl. Liv. 8, 38 mit Andöc. de mjtet. §36* Der
andere XUhg iv tjj dyoQ$ war der Schwuraltar, an welchem die nenn
obersten Vorsteher der Gemeinde auf die Verfassung vereidigt wurden. Er
stand im nördlichen Theile des Markts vor der Königshaüe r weil hier ein
Theil der Verfassungsurkunde aufgestellt war. Vgl. Pollux 8 , 86 (verbes-
sert von Bergk Rh. Mus. 1858 S. 453), Schümann Gr. Alt. 2, 263, Böckh
über die Atthis des Philochoros S. 13.
1) y Ev%6q rijc äyoqäg rwv nsQtQQawijQhov nOQevsa&cu, tl&ivtu ctg vd diffMtstf U(fd
Aesch. g. Tim. 21/0 vopo&frijs vd? dfTiqaTstnov — — 'fl?<* twv n*frQqav%^-
ef»r tijg drofäg i&t&rn Ajeech. g, Ktes. 176. Vgl. SchoL.p. 516, ,
ATTISCHE STUDIEN 155
Baum oder diesen gegen aussen abzugrenzen , mit andern Worten : um
die Menge entweder ein- oder auszuschliessen. Das Letztere erfolgte,
wenn die Markthallen dem Publikum verschlossen wurden , damit die
in den öffentlichen Gebäuden stattfindenden Verhandlungen nicht ge-
stört würden. So wurde das Rathhaus vor der zudringlichen Menge ab-
gesperrt, und an der Königshalle sah man bei feierlichen Sitzungen und
namentlich bei Verhandlungen, welche die Mysterien betrafen , ein vor-
gespanntes Seil, das unter Aufsicht von Amtsdienern bis auf fünfzig
Fuss keinen Unberufenen an die Halle herantreten liess (Pollux 8, 123.
141. Dem. g. Aristog. 1, 776).
Versammelte sich aber das Volk zur Ausübung bürgerlicher Rechte,
so musste der Marktraum selbst abgegränzt werden, wie bei den religiö-
sen Handlungen, nur noch viel sorgfältiger, weil hier ungleich mehr dar-
rauf ankam, jeden Unberechtigten fern zu halten. Darum wurde hier
ein ansehnlicher Theil des Markts durch Seile und Bretterschranken ab-
gesperrt (Poll. 8, 20 nBQtaxoip/aartag n rijg dyogäg (i$qoq). Diese Vor-
kehrungen bestanden natürlich nur fär die Dauer der Handlung; indes-
sen waren ohne Zweifel (wie auch vor den Säulenhallen) bleibende Ein-
richtungen vorhanden, um vorkommenden Falls die Abschliessung zu
erleichtern, und darum gab es auch einen bestimmten Theil des Markts,
welcher immer zu diesem Zwecke diente, das sogenannte rngtoxotnofia.
Da nun der südlichere Theil des Markte der geräumigere war, und hier
die städtischen Amtsgebäude lagen, so ist es wahrscheinlich, dass jene
Gemeibdehandlungen dort vor sich gingen, und; diese Annahme wird da-
durch bestätigt, dass des Demosthenes Bildsäule in der Nähe des Peri-
schoinisma stand (Leben der X Redn. 847), d. h. in der Nähe des südli-
chen Randes seines Umkreises. Denn wir erfahren aus der Beschrei-
bung vom Hergange des Ostracismus , » dass die Umzäunung des Platzes
eine ringförmige war (ronog trjs ayogäg mQmefQctyftfroQ &> xvxA<p dQVydx-
rois Plut. Arist. 7),* und es ist wahrscheinlich, dass die Räume, in welche
sich die Bürger vertheilten, fächerförmig um den Mittelpunkt herum la-
gen. Es waten aber Abtheilungen und Eingänge so viele wie Stämme
(dixcc ttaodoi Schol. Arist. Bitter 855), und bei jedem Eingange wurden
U2
* * rf
156 ERNST CÜHTIUS
die Eintretenden als Stammgenossen recognoscirt , ehe sie ihre Stimme
abgaben, <
Hier dringt sich einö Frage auf,« Welche allerdings rtiehr in die
Verfassungsgeschichte als in die Topographie gehört , welche ich aber
um so weniger ganz unberücksichtigt lassen kann , je mehr es mein Be-
streben ist, beide Gebiete mit einander in Verbindung zu setzen. War
der Ostracismus die einzige öffentliche Handlung, welche die Bürger-
schaft als solche auf dem Markte vollzog? Dies ist die gewöhnliche An«
siebt, und demnach müsste seit Abschaffung desselben das Ferischoinisma
auf dem Markte ganz bedeutungslos geworden sein und könnte nur BÜ
eine Antiquität von den Späteren noch erwähnt werden. Indessen be-
zweifle ich sehr, ob jene Ansicht richtig sei; ich glaube vielmehr, dass
das Verfahren beim Ostracismus nicht einzig in seiner Art wau, sondern
dass auch andere öffentliche Handhingen, welche einen ähnlichen Charak-
ter hatten und ähn&übhe Vorkehrungen verlangten, auf dem Markte vor-*
genommen wurden. Das sind aber diejenigen. Handlungen, in welchen'
die nach Stämmen gegliederte Bürgerschaft als Corporation darftbe* ab-
stimmt, wie ein Einzelner sich zu ihrer Gemeinschaft verhalte , ob er
zu ihr gehöre oder nicht, ob er zeitweise oder auf immer zu estfernen
oder! ob Einer nach seiner Entfernung wieder zuzulassen« sei. So Mit
also mit dem Ostracismus auch die Aufnahme eines Neubürgers und die
Wiederaufnahme eines Ausgestossenen (ärijLtog) in dieselbe Kategorie*
Die Bürgerschaft handelt hier nicht als Gesetzgeber und Regent des
Staats, sondern wesentlich als . Genossenschaft , ähnlich wie die Mitglie-
der der einzelnen Gaue bei; de* dsaifrii<pune über die Mitgliedschaft eines
Gaugenossen auf ihrer Agora. abstimmen.
Zu solchen Handlungen eignete sich die Fnyx nicht Auf die Pnyx
waren ja überhaupt die Volksversammlungen nur deshalb verlegt worden*
um durch die vom Rednerplatze aufsteigenden Sitze die Verhandlungen
in der Bürgerschaft zu erleichtern. Wo also nur abgestimmt werden
sollte, behielt man den Platz bei, welcher der ursprünglich^ Sitz der
bürgerlichen Genossenschaft war, und der seiner ebenen Beschaffenheit
wegen für das ganze Geschäft des Abstimniens , für die Einrichtung dev
« •
••• ••• • .
• • « •
ATTISCHE STUDIEN 157
Gehege (saepta) u. 8*. w. angleich passender war, als' ein theaterförmiger
Bergab hang. So kommt es denn, dass sich hier die ursprüngliche Iden-
tität von dyo^d und ixxAijokt erhalten hat./
* Bei: diesen Gemeindehandlungen» wie wir sie dem Markte zueignen*
bedurfte es.' van. Seiten der Beamten nur einer äusserliohen Beaufsichti-
gung, weil hier kein xqtj/ucct&i* statt fand Deshalb konnten hier auch
nach Eukleides die Frytanen ungestört in ihrer Thätigkeit bleiben, um
so mehr da die Abstimmung unmittelbar vor ihrem Amtslokale erfolgte*
Nun werden sich auch, die viel besprochenen ylQQ<* (in der Bede gegen
Neaira. S* 1375) sehr einfach erklären, bei denen doch nach attischem
Sprachgebrauch ein Jeder an die Agora denken muss , und man würde
sich nicht so sehr bemüht haben, die yfQQcc auf der Pnyx m erklären^
wenn man nicht von der, so viel ich sehe, durch nichts begründeten An**
sieht ausgegangen wäre, dass der Ostracismus die einsige Gemeindehand-»
lung gewesen sei, welche auf der Agora vorgenommen worden wäre 1 ).
Ist das Gesagte richtig, so erhält also der Markt des Kerameikos
eine neue Bedeutung fiir das öffentliche Leben, als der herkömmliche
Raum für diejenigen Entscheidungen der Bürgerschaft, wo bei möglichst
vollzähliger Versammlung ohne Debatte heimliche Abstimmung nach
Tribos statt fand und die genaueste Stimmzählung erforderlich war, wie sie
durch die zehn Gehege wesentlich erleichtert war. Das sind die comitia
m
tributa der Athener, welche sie wie die Römer auf dem forum abhielten
(X&fto riß äyoQäg mfftoxowloaPTSs, iv otg ifuXXw cd yvJUd ni(06o9w »#&'
afmig Dion. Hai. Ant. Born. 7, 59). 2 )
Beim Ostracismus trat die Gemeinde zu einer gewissermasten. rich-
terlichen Entscheidung (xftüug) zusammen, und wenn auch die Gerichtshöfe
Athens an verschiedenen Plätzen zerstreut lagen, so blieb doch die Agora
immer der eigentliche Schauplatz des gerichtlichen Lebens, und es wird
1) Vgl. bes. Westennann in den Ber. d. Sachs. Ges. der W. 1850 S. 165. K.
F. Hermann zu Beckers Charikles II. S. 148.
2) Damit soll nicht geläügnet werden, dass auch auf der Ptoyx tributim abge-
stimitft werden konnte. Aber das geschah ganz ausnahmsweise und gewiss
ohne Bretterschranken. Vgl. Schömann de com. p. 127. 209.
158 ERN8T CÜRTIUS
als etwas Absonderliches namhaft gemacht, wenn Jemand, der nahe an
Markte wohnte, sich dennoch weder beim Dikasterion noch beim Buleü-
terion sehen Hess (Lysias 19, 55). Hier muss also ein besonderer Gerichtshof
gemeint sein, und gewiss der grösste, die Heliaia, welche in einer Niede-
rung gelegen war (& xolXw nvl xtf/up Bekker Anecd. p. 253). Die of-
fenen Gerichtshöfe, wie die Heliaia, waren wahrscheinlich theaterförmig
angelegt, so dass man mit Rücksicht auf die ansteigenden Sitzstufen von
einem dvaßatvstr reden konnte, wie dies der von den Dikasterien üb-
liche Ausdruck ist (vgl. Mätzner zu Antiphon S. 261). Vielleicht könnte
man östlich von Buleuterion und Tholos einen Platz für die Heliaia
finden, doch wage ich nicht über diesen und die anderen Gerichtshöfe
weitere Vermuthungen aufzustellen, da nur so viel bekannt ist, dass sie
zum grössten Theile am Markte oder in der Nähe desselben lagen 1 ).
Eine Gruppe derselben lag in der Strasse der Hermoglyphen. '
Wir können uns überhaupt die Agora nicht ohne ihre Umgebung
vorstellen. Diese gehörte mit zu ihr, und nicht nur der Gerichtsverkehr,
sondern das ganze geschäftliche Treiben erstreckte sich nach allen Sei-
ten über die engen Gränzen des Platzes hinaus. Im Süden gehörte
noch ein ansehnlicher Theil des Areopags dazu; denn die Terrasse der
Stammheroen, bei denen der erste Archon sein Amtslokal hatte, war
nicht nur der wohlgelegene Sitz der Marktaufsicht und der Lagerplatz
der Polizeisoldaten, sondern auch die Stätte der öffentlichen Bekanntma-
chungen, und dazu gehörte auch eine Tafel, auf welcher die schweben-
den Prozesse verzeichnet waren, wie wir aus dem daiyfia dixiöv bei Arist.
Ritt. 979 entnehmen können. Vgl. Schömann Opusc. I, 228. Im Osten
war der Kolonos Agoraios , wo die dienstthuende Klasse auf die Arbeit*
1) Der einzige Versuch, welcher, so viel ich weiss, gemacht worden ist, die He-
liaia genau zu bestimmen, rührt von Chr. Petersen her, welcher sie in sei-
ner Abh. über das Zwölfgöttersystem der Gr. und R. 1853 S. 36 an die
Stelle setzt, welche später das Odeion des Herodes eingenommen hat. Da-
durch würde die Heliaia vom Eerameikos getrennt; sonst ist der Platz sehr
glücklich gewählt und die sich immer aufdrängende Frage nach der älteren
Benutzung jenes Lokals wäre dadurch beantwortet.
ATTISCHE STUDIEN 159
geber wartete und also die fua&agpü* ß welche einen wesentlichen Theil
des Marktgeschäfts bildete, ihren Hauptsitz hatte. Die Handwerker alfer
hatten ihren Sitz in den vielen engen Gassen, welche namentlich an der
Westseite den Markt umgaben und gegen den freien Mittelraum des-
selben (tö vnaffytoy) einen auffallenden Gegensatz bildeten. Hier hatte
die bürgerliche Betriebsamkeit , die attische ßavavaia und /wpuwaffo,
ihr Arbeitsfeld. Hier war es, wo Sokrates seine Gespräche anzuknüpfen
liebte und dem Vorübergehenden mit seinem Stocke den engen Weg
sperrte, wie er es mit Xenophon machte (Diogen. Laert. H, 6, 2). Hier
waren die Gassen (atwamoi), welche nach den Handwerkern genannt
wurden, die vorzugsweise in denselben ihr Geschäft hatten, die Gasse
der Hermenbildner, der Kistenmacher oder Schreiner, der Schuster u. s. w.
Hier waren, wie die Werkstätten, so auch die Magazine und Verkaufs-
lokale , hier auch vorzugsweise die Herbergen und Kneipen, die Barbier-
stuben und alle Lokale, in welchen theils Geschäfte abgemacht, theils
die müssigen Stunden verschwatzt wurden. Hier hatten auch die Leute
vom Lande ihre Plätze , wo sie zu treffen waren , wie die Dekeleer bei
dem xovqsIov tö nctQä wig 'Eg/uäs und die Platäer bei dem jfitopds tvpög
(Lysiae 23 § 3 und 6).
' f - ' Es liegt in der Natur der Verhältnisse, dass man zum Kaufen und
Verkaufen diese engen Güssen, welche Schatten gewährten und auch
ganz oder theilweise leicht überspannt werden konnten, vorzog, wie ja
in den Städten des Südens die Bazars zu allen Zeiten eingerichtet ge-
wesen sind. Andere Verkaufsartikel aber wurden auf dem freien Platze
ausgestellt 1 ). Hier wurden vorzugsweise die Dinge feil geboten, die
nicht Handwerksarbeit waren, also namentlich die Nahrungsmittel, welche
von den Landleuten täglich zur Stadt gebracht wurden, aber natürlich
auch alles Andere, was zum täglichen Lebensbedarfe gehörte. Man
hatte hier wie auf einem Jahrmarkte die Uebersicht der Gegenstände,
• i
1) Dies heisst ctg t$v dyoqäv ixyiqsiv Aesch. g. Tim. § 97, h> tfj dyoQq im-
XsVy zum Unterschiede von in* iQrccatfjglov *aMjft9a* Demosth. g. Neaira
S. 1367 § 67.
160 EIOJBT CURTIÜS
weiche man sonst in verschiedenen Gassen aufsuchen anusste , und fcur
Erleichterung dfes Verkehrs waren die Gegenstände des Handels getrennt,
*o* dass Jeder wusste, # wo er Brad, Fische, Gemüse, wo er Gera th, Klei-
de, Sklaven oder die Tische der Geldwechsler zu -suchen habe 1 ). Afcff
dem Markte konnte eine grössere Menge die Waaren umstehen •(tiw-
*mdirm nhQi tä vbvtx Art rfj &yo(>S), wodurch der Absatt befördert vturde.
So bildeten sich unter Aufsicht der Marktpolizei die verschiedenen ring-
Ärtnigen Abtheilungen des Kaufmarkts, die xvxJLoi, und die ausstehende^
HSker hatten ihre Zeltbuden (oxtival, ytyQcc), welche durch Decken und
vorgezogene Felle (nrfjdyunw Gxsnäofiara ix arsQtäg ßvQGtjg) den Ver-
käufer wie die Waare gegen Sonne , Wind und Staub schätzten. Das
waren provisorische Einrichtungen, welche hinweggeräumt wurden, so
wie man des freien Platzes zu anderen Zwecken bedurfte, und dafch
wurden wohl dieselben Bretter und Latten, aus denen die Buden herge-
richtet waren, benutzt, um die Schranken zu bilden, zwischen denen die
Bürgerstämme abstimmten. So erklärt sich der verschiedene Gebrauch
des Worts yiQ^a. Aber auch bei festlichen Aufzügen musste der Mit-
telraum frd gemacht werden. Der tägliche Geschäftsverkehr aber rich-
tete sich nach der Sonne; der Mittag pflegte, wenigsten» su^jSonunjefr-
zeit , dem geschäftigen Drängen ein Ende zu machen (Herod. 3 , 104) ;
'gegen Abend erneuerte es sich, so *dass wir einen Vormittags- und Nacl-
mittagsmarkt unterscheiden können , wenn auch der erstere der Haupt-
markt war.
Nachdem ich den Kerameikoe, so weit genauere Angaben vor-
liegen, zu beschreiben und damit zugleich den gegebenen Grundrisa zu
rechtfertigen versucht habe , bleibt nun noch die Aufgabe übrig , die
Veränderungen, welche mit dem attischen Marktplatze eingetreten sind,
im Zusammenhange zu betrachten und die Geschichte desselben in ein-
fachen Grundlinien zu entwerfen , indem ich mich für die Begründung
auf frühere Erörterungen beziehen kann. Die Annahme, dass^ Athen
trotz der durchgreifenden Veränderung seiner Bewohnung durch alle
1) Eutorga, Sur les trapezites. Paris 1849 p. 23.
ATTISCHE STUDIEN 161
Jahrhunderte einen und denselben Marktplatz gehabt haben sollte, ist
jetzt wohl von den Sachkundigeren aufgegeben worden l )., und es ge-
reicht mir zur besonderen Freude, dass diejenigen -Gelehrten, welche sich
in letzter Zeit am eingehendsten mit diesem Probleme beschäftigt haben,
nicht nur in der Hauptsache beistimmen, sondern auch in der chronolo-
gischen Bestimmung, welche ich ftbr die wichtigste Veränderung der
Stadt Athen und die Hauptepoche ihrer Geschichte zu ermitteln versucht
habe 2 ). So darf ich mit um so besserem Vertrauen an die gewonnenen
Ergebnisse anknüpfen und darauf weiter bauen.
Athen wurde aus umliegenden Gauen zu einer Stadt, als die Akro-
polis der Sitz einer königlichen Herrschaft wurde. Das ist die Periode,
deren Eintritt die einheimische Sage, welcher auch Herodot und Thuky-
dides sich andchliessen , mit dem Namen des Kekrops bezeichnet Da-
mals war die Akropolis die Polis; dort war also der Herd des Staats, die
gemeinsame Opferstätte, der Sitz der Regierung, der Mittelpunkt des öf-
fentlichen Lebens, also auch der Sammelort der Gemeinde. Vor dem
Eingange des Palastes war die älteste Agora und sie ist auch immer die
Agora des kekropisohen Stamms geblieben.
Nachdem aus der Stadt, welche eine der zwölf war, die Hauptstadt
der Landschaft geworden war und sich unterhalb der Burg in der süd-
lichen Niederung eine volkreiche Gemeinde gesammelt hatte, bildete sich
in der Mitte derselben ein neuer Sammelort. Das ist die Agora der the-
seischen Stadt, die &Qxuto mytaQä bei dem Heiligthume der Aphrodite
Pandemos, in der Nachbarschaft' des Dionysosheiligthums , und darum
konnte man von hier den Ükmysischen Aufführungen zuschauen. Hier
waren die txQ$a 9 dq>' t&v S&ewno fb nalatör rotte Jiqmvgov äydSpag, hier
1) Den Unterschied, von Alt- und Neumarkt immer festgehalten zu haben , ist
ein Verdienst von Göttimg ^Gesammelte Abh. 2, 144). Sehr richtig urteilt
auch Redlich 'der Astronom Meton' S. 5.
2) Burtian Geogr. v. Gr. I 280. StaA imPhilol. XIV S. 711. Wieseler de loco,
quo ante theatrum Bacchi lapideum exstructum Athenis acti sint ludi sce-
nici p. 6.
Hi*t.- Philo l. Claue. XII. X
162 ERNST CÜRTIÜS
die berühmte Schwarzpappel i(die myaiQOQ nkrfito* tot* Uqov 1 ). Dies wir
die untere Agora, während der obere Theil derselben abgetrennt und
am Berghange zu einem Sitzuiigsraume der Bürgerschaft d. h. zur Pnyx
eingerichtet wurde* ; A
Dieser blieb, so lange die Republik bestand, derselbe, aber der
Markt wurde verlegt; denn der spätere Markt ist notorisch in einer ganz
anderen Gegend, im Kerameikos. Diese Verlegung kann nur in einer
Periode geschehen sein, welche den Zeiten voranging, von denen uns
eine zusammenhängendere Kunde erhalten ist, in einer Zeit, welche über-
haupt für das städtische Leben eine tief eingreifende Epoche war. Eine
solche war aber in allen Beziehungen die Zeit der Tyrannis , und da
wir zuerst von den Pisistratiden wissen, dass sie auf dem späteren Markte
gebaut haben , und zwar! den Altar der Zwölfgötter v durch welchen der
Stadt ein neues Oentrum gegeben wurde, 1 so ist es gewiss in hohem
Grade wahrscheinlich , dass sie es waren, welche bei ihren grossen Be-
formen im ganzen städtischen Wesen (rfjv n6Aw xaktßg diexoc/UTjoap Thuk.
6, 54), um mit dem alten Athen zu brechen, den Altmarkt, den die al-
ten Geschlechter umwohnten, verliessen und dafür den Gaumarkt des
Kerameikos zum Stadtmarkte von Athen machten. Dieser Platz lag
nicht im Mittelpunkte der Stadt, aber inmitten der gewerbfleissigei Be-
völkerung, welche die Tyrannen zu heben suchten, in der aufblühenden
Neustadt, zum Verkehre mit den wichtigsten Gauen und dem Uferlande
wohl geeignet. Nun wurde die frühere Rückseite der Burg die Vorder-
seite > (Sftnffoo&sr <jq>d rijg dxgomMewg Herod. 8 , 53) , und mit den Wor-
teri ' omG&s iifc noA&ws (Aeäch. g. Tim. § 97) bezeichnete man seitdem
die südliche Gegend, den Hauptsitz der theseischen Stadt,
Der Zwölfgötteraltar lag am südlichen Ende des Kerameikos, wie
wir gesehen haben, und es ist auch an sich durchaus wahrscheinlich,
dass es vorzugsweise' die südliche Niederung des Kerameifcös, der dem
Burgaufgange nächst gelegene Theil, war, welchen die Tyrannen als
Markt einrichteten. . Von hier auf ordneten sie, wie die B^tioijpaiing je-
. •• '.;•.
1) Die betreffenden Stellen sind zuletzt besprochen bei Wieseler. <*. a. 0. S. 4.
ATTISCHE STUDIEN 168
nes Altars zeigt, die Wege nach den verschiedenen Gegenden innerhalb
and ausserhalb der Stadt: den Weg nach dem Dipylon einerseits und
andbrerseits den östlichen Weg am Nordhange der Burg entlang, wo
noch freieres Terrain für neue Anlagen war. Es war der Weg, der
theils nach dem Olympieion hinführte und dem Pythion, theils. nach
dem Dk>nyso8heiligthum , - und da die Pisistratiden es gewesen sind , die
das Heiligthum des olympischen Zeus bauten und den Festplatz am
Altare des pythischen Apollon einrichteten, da sie den Dionysosdienst
vorzugsweise gepflegt und ebenso die panathenäische Feier so wesentlich
erhöht haben, so haben sie auch ohne Zweifel die Feststrassen geordnet,
auf welchen die Prozessionen vom Kerameikos auch in jene Gegenden
zogen, und wir finden Hippias selbst im Kerameikos beschäftigt, durch
persönliche Leitung die neu eingeführten Festlichkeiten einzuüben 1 ). An
den Feststrassen wurde nichts geändert und Athen hat im Wesentlichen
das Strassennetz, wie es durch jene Einrichtungen gegeben war, für alle
Zeiten behalten.
Auch för den Markt blieb das, was damals eingerichtet wurde,
massgebend, hur wurde* es in grösserem Massstabe und mit reicheren
Kunstmitteln fortgeführt. Des Kerameikos Glanz wuchs mit dem Ruhme
der Stadt. Nach den Perserkriegen wurde der Markt bepflanzt und mit
Hallen umgeben, deren Einrichtung ausdrücklich als eine Neuerung der
kimonischen Zeit bezeichnet wird; sie bewirkte eine Umgestaltung des
Markts, ähnlich wie die des römischen Markts nach den macedonischen
Kriegen. Diese Hallen lagen am nördlichen Theile. Von den beiden
an der Westseite ist zwar Aber die Gründungsgeit nichts Näheres be-
kannt; aber die Eleutherioshalle hatte so wie der Koloss des Zeus, der
nach den Perserkriegen aufgestellt wurde (Arist. Panath. I p. 217), ohne
Zweifel seine Beziehung auf die. Freiheitskriege , so gut wie die gegen-
über liegende Poikile und wie die Perserhalle am Markte zu Sparta.
*
■
1) Thuk. 6, 57. — Sollte nicht mit Beziehung auf diese Feststrassen, welche
Athen damals ein ganz neues Ansehen geben mussten, dieM^jtf ti^edp^a
durch die Hofpoeten in den homerischen Text eingeführt worden sein?
X2
164 ERNST GUHT1US
Es wurden auch Schilder tapferer Krieger an der Vorderseite jener Halle
aufgehängt. Noch bestimmter ist uns// verbürgt ,. das« die. Hermenhalle
aus jener Zeit stammt Denn -nach Aeschhtes (gegen Ktesiphön § Ji83)
haben die Athener den Siegern am; §trymon die Ehre er t heilt, dass in
der Hermenhalle drei Hermen aufgestellt werden durften, deren Ja-:
Schriften sich auf jene Siege bezogen s wenn auch weder Kimons noch
eines Aü deren Name darin genannt war. •
Wenn also zu jener Zeit der nördliche. . Theil des Markts eine gläiv
zende Erweiterung und deinen Abschluss erhielt, so ist wahrscheinlich,
dass auch die Hallenstrasse, welche gewisserinassen eine Verlängerung
des Hallenmarkts war, bis zum Dipylon in jener Zeit begonnen . oder - ein-
gerichtet worden ist, um so mehr, da damals auch die vor dem Dipylon
gelegene Gegend besonders gepflegt und ausgeschmückt *tfugde. Die
Ausstattung jener Strasse mit den Standbildern der ausgezeichnetsten
Hellenen entspricht ganz dem Sinne der perikleischen Staatsverwaltung,
und ich glaube, dass bei dieser Gelegenheit Kolotes die weisen Män-
ner Griechenlands in Erz bildete , deren Ehrenbilder > Athen als , einen
Sitz der Philosophie kennzeichneten (Plan. N. Hißt. 34, 87). ,
So war also der Markt im Wesentlichen fertig und aus eignen Mit-
teln und Antrieben haben die Athener denselben nicht mehr verändert,
wenn auch durch Aufstellung von Statuen , von inschriftlichen Denkmä-
lern, und. von Siegeszeichen dafür gesorgt wurde, dass der Markt in sei-
ner Ausstattung gleichsam Schritt hielt mit der Geschichte der Stadt
und ryon allen glänzenderen Ereignissen eine Erinnerung aufzuweisen*
hatte. * ' i ; . ■-, //
Als nun aber dife auswärtigen Fürsten anfingen ihre Ehre, darin, zu
setzen ,'Tdör Afuiterstadt hellenischer Bildung Huldigungen -zu erweisen,,
kam dieser Philhellenismus auch der Agora zu Gute. Denn seit alter.
Zeit konnte man dem. Demos keine willkommnere Aufmerksamkeit er-
weisen, als wenn man ihm seine Agora behaglicher und prachtvoller ein-
richtete*. Da öie nun aber ein in sich abgeschlossenes Ganze war, so
mvussten dje königlichen Wohlthäter in der Nähe derselben Baum zu
schaffen suchen. Attalos fahrte die Ostseite der Agora nach Norden
ATTISCHE STUDIEN 165
weiter und baute am Fusse des Kolonos seine Prachthalle, welche durch
das noch heute sichtbare Thor in die Hermenreihe mündete; gegenüber
aber dürfen wir wohl zwischen Königshalle und Theseion , das Gymna-
sion ansetzen, in welchem Ptolemaios Philadelphos den Athenern ein
Prachtgebäude schenkte < das zugleich ein Mittelpunkt der Jugendbil-
dung und Gelehrsamkeit in Athen, wurde« Der nun gewonnene Baum
wurde mit zur Agora gerechnet, wie dies auch die Ephebeni&schriften
beweisen , welche so massenweise in der Attaloshalle gefunden worden
sind; dass man auch daraus erkennt, wie diese erweiterte Agora zwischen
den Bauten des Attalos und Ptolemaios ein ; Haupteitz der ihrer leibli-
chen und geistigen Bildung beflissenen Jugend in Athen war. In der
Mitte des Platzes stehen die bekannten Schlangenfüssler , kolossale Pfein
lerstatuen, welche einer Art von Stoa angehört haben müssen und also
auch das Vorhandensein eines öffentlichen Platzes hier erweisen.
Das sind die bedeutendsten Thatsachen der hellenistischen Zeit in
Betreff des Kerameikos, die Werke derselben ■ Könige , welche unter die
attischen« Stammheroen aufgenommen und oberhalb des Markts neben
ihnen in Erz aufgestellt wurden. Was die römische Zeit betrifft, so
ist über die damals eingetretenen Veriassungszustände Athens ein sicher
res Urteil nicht möglich ; aber das ist gewiss , dass die Eingriffe der Bö-»:
mer in das J^eben der griechischen Staaten und namentlich Athens auch
für die äussere Geschichte der Stadt von Bedeutung waren. Der Geist
der Ordnung und strafferen Zucht, wie er schon durch flamininus den
Griechen, sich ankündigte, machte sich in ungleich herberer Weise gel-
tend, seit Griechenland unter die Befehle einer römischen Statthalter-
schaft gestellt wurde, und dass damals der scheinbar erhaltenen Autono-,
mie ungeachtet in sehr entschiedener Weise eingeschritten worden sei,
scheint mir am deutlichsten daraus zu folgen , dass Sulla , als er nach
der Eroberung Athens die städtische Verfassung 'ordnete ; : im Wesentli-
chen nichts Anderes verfÄgte, als dass er die strenge Befolgung derjeni-
gen Bestimmungen verlangte, welche nach der Besitznahme Achajas von
den Römern angeordnet worden waren (Appian. bell« Mithr. 39: yö/uovs
i&rjxev anctoiv äy/ov ttöv .nqöo&w avjol^ynö ( PtüfACckov &Qia&£vnov)+ Also
166 Eftffgfl CÜRTIÜS
mfUfcen doch d&tials schon sehr bestimmte Verfassungsnort&en undi «war
solche, Welche dem Geiste sullaniaeher Politik entsprachen, gegeben worden
sein. Jede antidemokratische Gesetzgebung richtete sich aber vorzugs-
weise gegen /(He 'Volksversammlungen in Theatern und theaterähnlichen
Räumen , 'gegen die 'sedentes contibneis Graeeorum' , welche* den Kömern
als das Grundübel der griechischen Kleinstaaten erschienen, und vorzüg-
lich in Athen. Also gehörte die Beseitigung der Pnyx gewiss zu den
ersten Massregeln der römischen Politik. Den Römern lag es nahe,
comitium und forum wieder zusammen zu legen, und dass in der That
eine solche Anordnung getroffen sei, beweist die Errichtung der Tri-
büne vor der Attaloshalle, die oben besprochen worden ist Es war im
Grunde dieselbe Reactionsmassregel , wie die der Dreissig, welche auch
ein neues Bema einrichteten, um die Pnyxsitsmngen zu beseitigen und
die Bürgerschaft zu gewöhnen, sich nur zu dem Zwecke zu versammeln,
um die Anordnungen ihrer vorgesetzten Behörden entgegen zu nehmen,
wie dies in den alten Aristokratien die ganze Bedeutung' 'Aer ' Bthger-
ver Sammlungen war. Ob und • wann die Pnyx definitiv ausser Gebrauch
gesetzt worden - x ist, darüber fehlt Idi'der eine bestimmte Uebeilieferung;
wohl bezeugt aber ist , dass uftter der römischen Herrschaft die beiden
alt&i Lokale der attischen Bürgerversammlungen ganz verlassen wiörden;
damit muaste Überhaupt der südliche Stadttheil mehr und niehr veröden
und das Städtische Leben sich immer mehr auf der Agora concentriren.
Inzwischen hatte man auch auf der Agora nicht 1 aufgeholt feu b&uin 1 ),
und da auch die Umgebung ' derselben durfeh das Ptolemfeioö u. a. Ge^'
bäud* eingeengt worden war, so musste sich das Bedftrfniss nach Er-
Weiterung der für den Marktverkehr bestimmten Plätze ffthlbär inaehen.
■ \
1) Den Marktbauten jeuer Zeit gehört das Theater des Agi^ppa ^ ^Philost*.
Leben d. Soph. S. 247, 23; 251, 25 Kaiser), das vielleicht an die Stelle ei-
nes alten Gerichtshofes getreten ist. Ueber Ägrippa's Verhältniss zu Athen
Vgl. Aren. Zeit. 1854 S. 202. Von Prachtbauten im kerameikos zeugt audff
- » vv die' fron GÖflKng : auf dlePoitüe b&ögene) infet#sc& thöclirift; aaTg^dlifeli-
"■'• sfen t6n K.Kertehfcnäelrini Mtoifa. Müs. 188. 47. * >\ ^ ■-■,»•■
ATTISCHE STUDIEN 167
Diese Erweiterung konnte nur nach Osten hin stattfinden, am Nordpb-
hange der. Burg, wo die breite Feststrasse entlang führte, welche diese
Gegenden schon seit der Tyrannenzeit mit dem Rerameikos verbunden
hatte. Auf dieser Feststrasse stand das Thor der Athena Arqhegetis,
welches zugleich zum ehrenden Andenken an die Freigebigkeit der Fa-
milie Octavians errichtet w t ar und offenbar mit . einem freien Platze in
»Verbindung stand, welchen die Festzüge durch das Thor betraten. Das
neben dem Thore , wie die neusten Ausgrabungen erwiesen haben , am
ursprünglichen Platze erhaltene Dekret über den Oelverkauf (C. Inscr.
Gr. n. 355) bezeugt, dass hier ein Kaufmarkt war, wie auch der neuste
Topograph ein forum olearium hier annimmt. Jenes Thor zeigt uns alqo
nicht nur die Richtung , in welcher einst die Feststrasse ging, sondern
auch diejenige, in welcher zur römischen Zeit neue Marktanlagen ge-
macht wurden, die sich in ähnlicher Weise an . den Kerameikos anschlös-
sen, wie die Kaiserfora an das forum romanum.
Die weitere Richtung dieser neuen Anlagen ist durch ein anderes
wohlerhaltenes und unzweideutiges Denkmal bezeugt; das. ist der acht-
seitige Thurm des Andronikos, ein Gebäude , welches bei seiner Bestim-
mung, als Sonnenuhr, als Wasseruhr und als Windsignal zu dienen, un-
möglich anderswo als auf einem freien Platze des öffentlichen Verkehrs
gestanden haben kann. Die ionischen Säulen , die in dem Keller einos
westlich vom Windethurme gelegenen Hauses stecken 1 ), sind Ueberreste
von Hallen, welche diesen Platz einfassten und ihn zugleich mit dem
anderen Plötze, zu welchem das Thor der Athen* gehörte, in Verbindung
1) Sie sind auf dem Plane des Programms der aroh* Ges. in Athen von 1861
als ötod äypwmg bezeichnet. Drei Säulen stehen im Hause des Dr. Litzi-
kas; man siehj noch den alten Fusshoden mit Wassqrrinnen, ungef. 16 Fuss
unter dem Niveau der heutigen Strasse. Dazu gehören zwei ebenfalls tm-
kannelirte Säulen mit ionischen Kapitellen im Hofe der benachbarten Ka-
serne. Pittakis erzählte von anderen architektonischen Ueberresten, welche
den Ifarkt&nlägen dieser (regend angehört haben müssen, namentlich von
"Karyatiden, die in einem von 1 ihm bezeichneten Hause zu seiner Zeit noch
vorhanden gewesen, aber seitdem gänzlich fntei^gangen ; wären. / <j
168 EKNST CURTIÜS
seteten. Wie die ganze Einrichtung zu denken sei f darüber kann na-
türlich nur ,von ausgedehnteren Nachgrabungein Auskunft erwartet werden.
Einstweilen können 4nr als wahrscheinlich annehmen, dass der Fiats, eu
welchem 'das Athenathor führte, sich von Westen nach Osten Erstreckte,
während der Platz des Windethurms sich von Norden gegen Süden d. h.
gegen den Burgfelsen hin und zwar gerade gegen die Mitte seiner Nord-
sefte erstreckt haben muss. Für diese Richtung des Platzes zeugt die
von der Burg herkommende Wasserleitung, ein Denkmal der augustei-
schen Zeit, welches doch auch eine* freien Platz durchschnitten haben
muss. Die Bogenstellung diente dazu den Verkehr nicht zu kmmeü.
Es lässt sich aber dafür, dass der Platz des Horologiums sich gegen den
Burgfelsen hinanzog, noch ein anderer Beweis anführen. Es lag näm-
lich an der Mitte der Nordseite desselben das Agraulion und demselben
benachbart das Pr^taneion. Ein solches Staatsgebäude lässt sich aber
ohne einen ansehnlichen Vorraum gar nicht denken, und die Wanderumg
des Pausanias bezeugt ja auch deutlich die freie Lage des Gebäudes.
Denn bei dem Prytaneion war ein Mittelpunkt des städtischen Verkehrs.
Hiehei fährte einerseits die Strasse vom Kerameikos und von * "hier ging
wiederum nach der anderen Seite eine doppelte Strasse aus, die >eu*e
nach der Unterstadt und zwar am Serapeion vorüber nach »dem Ofympi-
eion ünii Pythion (das war die alte Feststrasse der dem Zeus und Apollo
gewidmeten Prozessionen) und die andere hart am Burgfelsen entlang
durch das Tripodenquartier zum dionysischen Tempelbezirke, einfe Strasse,
'-deren 'Richtung durch das Lysikratesdenkmal gegeben ist. Wie das Pry-
taneion selbst, so lassen also auch diese hier zusammenlaufenden Haupt-
Strassen auf einen städtischen Platz schliessen, und wir werden wohl
nicht irren , weAn wir -diesen fllr keinen anderen halten als den , wel-
chem das Horologium des Andronikos so wie die Wasserleitung ange-
hörten.
Was nun von Denkmälern dieser Marktanlagen übrig ist, fllhrt uns
ungefähr auf dieselbe Zeit; sie zeugen von einem planmäss^gen Umbaue
der Stadt, welcher in der römischen Zeit d. h. am Ende 4er Republik
und im Anfange des Prinzipats erfolgte, um den Athenern an der Nord-
ATTISCHE STUDIEN 1G9
seite der Akropolis neue städtische Plätze einzurichten. Denn die Was-
serleitung ist eben so wohl wie das Marktthor der Atheha Archegetis
und dem kaiserlichen Hause zu Ehren erbaut *). Auch im zweiten Jahr-
hundert wurde hier fortgearbeitet Denn wenn wir das von Säulenhal-
len umgebene Gebäude in das Auge fassen, welches aus hadrianischer
Zeit stammt und gewöhnlich die Stoa Hadrians genannt wird, das grosse
Viereck von 57 %S2 Fuss, dessen südöstliche Ecke 200 F. vom Markt-
thore der Athena Archegetis entfernt liegt, so sehen wir, dass die West-
fronte desselben genau in einer Linie mit dem Thore liegt, worauf schon
Leake aufmerksam gemacht hat Die Südseite muss also dem Platze,
zu welchem das Thor führte, parallel gelegen haben und &n der Ostseite
des Vierecks finden wir einen Durchgang, welcher in gerader Linie auf
den Platz des Horologiums hinführt. Hier ist unverkennbar eine grosse
Regelmäßigkeit ; ed sind Anlagen des zweiten Jahrhunderts, welche in
Uebereinstimmung mit den früheren gebaut sind und deutlich daraufhin-
weisen, dass sich vom Kerameikos her Leben und Verkehr mehr und
mehr gegen Osten gezogen hat, und zwar die verschiedensten Zweige
des taglichen Verkehrs. Denn auch der Kolonos beim Kerameikos ver-
lor seine frühere Bedeutung , und die Tagelöhner standen jetzt bei dem
Anakeion, also in der Nähe des Prytaneion ^Avaxtiov JtooxovQiov Uqöp,
ov vvp o\ /uio&ofopovyrtg dovloi toräoiv Bekker. Anecd. I, 212).
Damit werden nun auch wohl andere Andeutungen über Verände-
rungen der städtischen Verhältnisse zusammenhängen, namentlich was
Strabon 447 von der attischen Eretria sagt: fj vvv iarir dyoQa. Denn
da kein Grund vorliegt , Eretria auf den Kerameikos zu setzen, wie Ross
will (Theseion S. 41), so führt die einfachste Deutung, der auch O. Mal-
ier wie Leake folgten, darauf, darin den ursprünglichen Namen der Ge-
gend zu erkennen, in welcher sich zu Strabons Zeit die römischen
Marktanlagen ausbreiteten. Mit derselben Veränderung wird dann auch
wohl die erhöhte Bedeutung, welche der Gau Kollytos erhielt, zusam-
menhängen. Kollytos lag vom Kerameikos gegen Osten und wenn es
1) Bötticher im Philol. XXII S. 73. K. Wachsmuth Arch. Ztg. XXI S. 125.
Biit.-Philol Clane. XI L Y
i
170 ERNST CURTIUS
von diesem Gaue heisst, dass er in der Mitte der ganzen Stadt gelegen,
wegen seiner Benutzung als Bazar (dyogag XQ* t€ f) besonders geehrt und
eine Wohnurig daselbst besonders gesucht gewesen sei (Himerios bei
Photios Bibl. Cod. 243 p. 375 b. Bekker. Plut. de exil. > 601 C.) , so
erklärt sich dies am einfachsten aus der ganzen Bewegung, welche der
städtische Verkehr in der römischen Zeit von Westen gegen Osten machte
und die Athener dem alten Boden ihrer Geschichte immer mehr ent-
fremdete; eine Bewegung, welche dadurch ihren Abschluss erreichte,
dass Kaiser Hadrian um das Olympieion ein neues Athen anlegte. Da-
durch rückte die Gegend um den Windethurm herum in den Mittel-
punkt der ganzen Stadt.
Dies sind die einfachen Grundlinien einer der Entwickelung der
städtischen Verhältnisse folgenden Geschichte des attischen Markts, und
wenn ich dabei mehrfach auf die Ansichten derer zurückgekommen bin«
welche mit gesundem Sinne und richtigem Takte die Topographie Athens
begründet haben — ich meine Leake und O. Müller. — , so kann mir
difcs nur zur Genugthuung gereichen und meinen Glauben an die Rieh-*
tigkeit der gewonnenen Ergebnisse erhöhen.
Es bleibt nun zum Schlüsse noch eine Aufgabe übrig, nämlich die.
Gebäude, welche mit der Agora in Verbindung stehen , in das Auge zu
fassen und ihre Schicksale im Zusammenhange mit der Agora zu erfor-
schen. Diese Aufgabe ist noch niemals ernsthaft in Angriff genommen,
und doch ist es klar, dass Veränderungen des Marktplatzes nicht erfol-
gen konnten , ohne auf die Lage der Staatsgebäude einen massgebenden
Einliuss zu üben. Denn wenn die Agora der Mittelpunkt des öffentli-
chen Lebens war, so können auch die religiösen und politischen Einrich-
tungen, welche zu den unentbehrlichen Organen desselben gehören, nicht
fern und abgelegen gewesen sein. Der alte Staat gleicht einem Hause,
an dessen Herde sich die Familienglieder versammeln, und dieser Herd
ist zugleich der Ort, wo der Hausherr seines Amts als Regent und Rich-
ter wartet. Staatsherd und Stadthaus (Prytaueiou) sind also von einan-
ATTISCHE STUDIEN 171
der und beide von der Agora nicht zu trennen l ) , und da sie zusammen
gleichsam das Herz der Stadtgemeinde bilden, so folgt daraus, dass sie
zur Zeit auch nur an einer Stelle der Stadt vorhanden sein können.
Lassen sich also mehrere Gebäude dieser Art nachweisen, so müssen sie
verschiedenen Zeiten angehört haben , und es lässt sich leicht begreifen,
wie nach den verschiedenen Epochen der Verfassungsgeschichte auch die
Staatsgebäude ihre Lage gewechselt haben müssen.
Athen hatte als Kekropsstadt wie jede der zwölf Städte sein Pry-
taneion als penetrale urbis und tzvqös rctfitiov, und dies Prytaneion kann
nur auf der Burg befindlich gewesen sein, wie dies auch von Pollux
9, 40 ausdrücklich bezeugt wird. Beim Heiligthume der Athena. wel-
cher von Anfang bis zu Ende attischer Geschichte jedes Prytaneion ge-
weiht war (tonos tfjg UaXXccdog Uqos Schol. Aristid. p. 48), war der ge-
meinsame Hörd, wo der König als Hüter der heiligen Flamme waltete,
der älteste Prytanis, ßw/udy xqvxvvwv hrlccv x&wös (Aesch. Suppl. 355).
Nach dem Synoikismos war das Prytaneion am Markte und der
Mittelpunkt der theseischen Stadt. Die Prytaneen lagen unmittelbar über
dem Markte; daher heisst die Agora in Siphnos von # dem marmornen
Prytaneion AtvxotpQvs 2 ) ; denn o<pQvg bezeichnet den Rand , welcher die
Niederung (td xolkov) der Marktplätze überragt, und dieser Lage wegen
sagte man auch ävaßaCvtiv «&• ?o npvzctnioy (Athen, p. 450 A). Hier
waren die Erben der Königsmacht d. h. die Eupatriden, die Hüter des
Staatsherds, die Regenten und Gerichtsherrn.
Von den öffentlichen Gebäuden, welche hier gestanden haben, hat
sich in einzelnen zerstreuten Nachrichten eine Ueberlieferung erhalten.
Wir erfahren nämlich, dass es ausser dem jüngeren Amtsgebäude des
Archon König, dem im Kerameikos gelegenen, ein älteres gegeben habe.
1 ) Ein Prytaneion ohne Agora lässt sich vielleicht in Olympia annehmen (Paus.
V, 15, 8), aber hier war auch keine Stadtgemeinde. In Megara (Paus. I
42) bezeichnet das Prytaneion den Anfang des Markts.
2) Orakel bei Herod. 3, 57, falsch gedeutet von Bahr: forum albi marmoris
lapidibus Stratum. Ueber opQvg vgl. Hense 'Poetische Personificatioiv 1 S. 8.
Y2
172 ERNST CÜRTIUS
Dies Basileion war der Sitzungssaal . der vier alten 'Phylenkönige', und
wir können also voraussetzen, dass es in dem Theile der Stadt, welcher
nach Thukydides der älteste gewesen ist, und zwar am Markte gelegen
war. In seiner Nähe war das Bukoleion (Herrn. Griech. Staatsalt. § 138,
14) , welches man gewiss sehr richtig mit den heiligen Ceremonieb des
Pflügens in Zusammenhang gesetzt hat, denen die Buzygen vorstanden
(Petersen Arch. Ztg. 1852 S. 412). Das Pflugfeld der Buzygen lag un-
ter der Burg, und da dasselbe Geschlecht auch der Heilig th um er im Pal-
ladion zu warten hatte, so wird v dasselbe in benachbarter Gegend zu su-
chen sein. Nach der Zusammenstellung mit Ardettos Und Lykeion bei
Plut. Theseus 26 muss das Palladion in der Ilissosgegend gelegen ha-
ben, und die Sage von der Gründung desselben (bei Pollux 8, 118) fahrt
uns in die Gegend des i tonischen Thors, wo die Stadt dem Phaleros am
nächsten war. Wenn nun ausser dem Bukoleion auch das Prytaneion
in unmittelbarer Nähe des älteren Basileion gesetzt wird, so kann darun-
ter nur ein Gebäude der Südstadt, ein Gebäude am Alttnairkte, verstan-
den sein, und auch sein Gedächtniss ist nicht erloschen in Athen. Denn
wenn schon längst erkannt Worden ist, dass im 'Prytaneion' als Gerichts-
stätte sich die Erinnerung an den ältesten und ansehnlichsten aller Ge-
richtshöfe Athens erhalten hat (Müller Dor. 2, 137), woher auch der
Name Prytaneia für Gerichtsgelder stammt (Böckh Staatsh. d. Ath. 1,
240), so wird man mir wohl beistimmen, wenn ich in diesem Prytaneion
das Stadthaus der alten city von Athen so wie in den benachbarten Ge-
bäuden Basileion und Bukoleion die Staatsgebäude am Altmarkte erkenne.
Dieser Gruppe wird auch das nctQaotzuMr angehören, welches Petersen
richtig in die Nähe des Prytaneion gesetzt hat; denn wie zum Stadt-
hause eine Kellerei gehörte, die für die Malzeiten daselbst den besten
Wein lieferte (wie der Rathhauskeller von Thasos nach Athenäos S.
32 A), so werden auch andere Magazine in der Nähe gewesen sein.
Gewiss aber leuchtet ein, dass das Stadthaus von Altathen nicht am ent-
gegengesetzten Abhänge der Burg gelegen haben kann, durch die ganze
Breite des Akropolisfelsens von der Agora getrennt. Nun aber wird auch
auf die Vertheilung der attischen Gerichtshöfe, Wie ich glaube, ein neues
ATTISCHE STUDIEN 173
Licht lallen. Denn es zeigt sich, dass diejenigen Gerichtsstätten von
Athen, wo keine eigentlichen Prozesse geführt, sondern nur gewisse Süh-
nungen nach altem Herkommen vorgenommen wurden, und deshalb die
mit dem heiligen Rechte vertrauten Geschlechter der Eupatriden auch nach
Solon in ihrer Thätigkeit verblieben, weil dieselbe ohne politische Bedeu-
tung war, alle in dem alten Eupatridenquartiere, im Kydathenaion, süd-
lich voll der Burg lagen, nicht nur Palladion und Prytaneion, sondern
auch das Delphinion, welches ohne Zweifel in der Nähe des Pythion
nach der phalerischen Seite hin gelegen war. In diesen Scheingerich-
ten erhielt sich die Schattengrösse der Eupatridenstadt, in deren Schosse
einst die ganze Geschichte der Stadt geruht hatte.
Mit der Verlegung des Markts nach dem Kerameikos wurde der
Herd der Stadt eben dahin verpflanzt, und hier finden wir nun zuerst
eine von Augenzeugen beschriebene und vielfach bezeugte Gruppe von
Staatsgebäuden , unmittelbar am Markte gelegen : Tholos , Buleuterion
und Metroon; auch den Apollotempel können wir dazu rechnen und die
Königshalle; endlich auch die Terrasse der Eponymen, den Platz offizi-
eller Publikationen. Nur Eins fehlt und zwar das Wichtigste — das
Prytaneion. Der Sache nach freilich nicht, denn im Buleuterion tagt
die Begierungsbehörde und in der Tholos sitzen die Prytanen; sie ha-
ben hier am Stadtherde ihren Tisch, aber wenn dies Gebäude deshalb
bei späten Grammatikern auch wohl einmal Prytaneion genannt wird 1 ),
so ist doch vollkommen sicher, dass dies eine leicht erklärliche Unge-
nauigkeit ist und dass es nach offiziellem Sprachgebrauche am Markte
des Kerameikos kein Prytaneion gab.
Die Erklärung dieser auffallenden Thatsache bietet sich leicht dar.
Einmal bestand das Prytaneion am Altmarkte mit seinem Namen fort 2 ),
1) Vgl Meier zu Lykurg S. XCVII, 6. — In Delphi wird Prytaneion und Bu-
leuterion genannt s nach Ulrichs Reisen u. F. 1, 67 ein Gebäude; doch ist
das Prytaneion auch hier wohl dasselbe wie Tholos und dieser kein anderer
als der von Theodorus Phocaeus beschriebene delphische Bau. Vitruv. VII.
Praefatio.
2) io inl nqviavtkp öixaoirJQiov Demosth. g. Aristokr. 645. Poll. 8, 20, genauer
174 EltNST CÜRTIUS
und dann scheute man sich wohl auch ein neues Stadthaus zu errichten,
das durch seine Benennung an die Geschlechterherrschaft erinnerte, mit
welcher man gebrochen hatte. Man baute also neben dem heiligen Herd-
gebäude, der Tholos oder Skias, das Regierungsgebäude, welches aber
kein Herrschaftssitz und Richthaus sein sollte , sondern ein Rathhaus
(Buleuterion). Die ganze Gruppe der attischen Staatsgebäude nannte
man zusammen rä aQxskc (public offices and places of registration nach
Leake) und bezeichnete demnach die Tholos als einen tonog ir rolg äg-
Zttois (Lex. Rhetor. Etym. M.). Des Herdes wegen wird sie gerne als
Haus bezeichnet und dem Herdaltare entsprechend war sie rund, ein ge-
wölbter Ziegelbau (GTQoyyvAotidiiQ ohcog d$' SoTQdxcor ttiqjutvos Hesych.).
Wahrscheinlich waren neben dem Rundbaue die Versammlungs- und
Speisesäle; denn auch in Olympia werden beim Prytaneion die Versamm-
lungsräume und das eigentliche Hestiaheiligthum als zwei verschiedene
Theile des Gebäudes bezeichnet. Paus. 5, 15. Peloponn. II 67.
Merkwürdig und zu weiterem Nachdenken anregend ist das Ver-
hältniss der beiden eigentlichen Staatsgebäude, Tholos und Buleuterion,
zum Metroon. Gerhard hat in seiner Abhandlung über das Metroon
(Berlin 1851) dies Verhältniss zuerst eingehender erwogen, und ihm er-
schien die Verbindung eines phrygischen Cultus mit den wichtigsten
Staatsgebäuden Athens so befremdlich, dass er als ursprüngliche Grund-
lage dieses Cultus einen Dienst der Athena, der mütterlichen Stadtgott-
heit und Stammutter der Erechthiden, annehmen zu müssen glaubte.
Doch scheint mir eine solche Umgestaltung schwer begreiflich. Der
Rheadienst im Kerameikos wird uns zu bestimmt, auch in Inschriften
bezeugt (Philol. Suppl. H, 588. Rhein. Mus. XIX, 301), und wenn uns
einerseits bezeugt wird, dass der phrygische Göttermutterdienst nirgends
in Hellas früheren Eingang gefunden habe als in Athen (siehe Gerhard
a. a. O. S. 19) und andererseits ihr erstes peloponnesisches Heiligthum
(Paus. 3, 22, 4) in die Zeit der Tantaliden hinaufreichte, so ist doch ge-
(weil unter freiem Himmel) als tri iv hq. dixaovrJQiov bei Paus. Vgl. Meier
de Lyc. p. XCVI.
ATTISCHE STUDIEN 175
wiss kein Grund, welcher uns zwingen könnte, mit der Stiftung des
Rheadienstes in Athen bis in die Zeit der Pisistratiden, wie Preller will
(Gr. Myth. II, 512), oder gar mit Gerhard bis nach den Perserkriegen
herabzusteigen. Der Rheadienst gehört gewiss nicht zu den in den spä-
ten Zeiten religiöser Reformen 'eingedrungenen Ausländereien, sondern
zu dem Erbgute religiöser Vorstellungen, welche die Hellenen aus Klein-
asien herüber gebracht haben.
Ist denn die Tholos mit dem Herdfeuer nur zufällig in die Nähe
des Metroon gekommen, welches aus älterer Zeit an der Stelle bestand,
wo man den neuen Mittelpunkt der Stadt errichten wollte? So scheint
es, wenn in der That eine Verbindung zwischen dem Feuer der Hestia
und der Göttermutter den Athenern so ganz unbekannt war, wie Ger-
hard sagt. Allein wfu-um soll denn den Athenern die Sage fremd ge-
wesen sein, welche seit Hesiod gemeinsam hellenisch ist und welche Pin-
dar mit solchem Nachdrucke an die Spitze seines herrlichen Prytaneion-
liedes (Nem. IX) stellt:
Hai € PCag & te nQvravtut XiXoyx^S *Eotta.
Rhea und Hestia sind als Mutter und Tochter eng mit einander
verbunden, und wenn diese als Gründerin des Hauses und Erfinderin des
Hausbaus verehrt wurde, so hatte an diesen Ehren auch die Mutter ih-
ren Antheil, welche durch ihre Mauerkrone auch als eine herdgrün-
dende, menschenvereinigende, stadtbauende Gottheit sich zu erkennen
giebt und also gewiss nicht erst durch späte Allegorie zu einer Stadt-
gottheit geworden ist. So erklärt sich auch, warum man in der peri-
kleischen Zeit, als man die Idee des gemeinsamen Staats bei allen Bür-
gern so lebendig wie möglich machen wollte, gerade diese Göttin in ei-
nem thronenden Bild von Phidias darstellen liess und warum man ihr
Heiligthum in so enger Weise mit dem Staate verband}, dass man es
zum Staatsarchive machte, wie in Rom den Tempel des Saturnus (des
Vaters der Vesta), und das Rathhaus auf dem geweihten Boden gründete
Denn so erscheint es nach den genauen Worten des Suidas u. d. Wi
MqTffayvftTus: wxodofiriaav ßovAtvtrßiov iV ti änuov xöv firfr^ayvQTfjp xai
176 ERNST CÜRTIÜS
neQtyQdrrovTeg adrö xa&t(Qwaar rij /utjTQi rdSv &sdiv. Die Curie stand also
im Bezirke der Göttin und gehörte zum Metroon.
Die Ortelegende ist noch in anderer Beziehung lehrreich. Sie be-
zeugt, dass hier einst ein Felsschlund war, welcher zu Hinrichtungen
benutzt wurde. Solche Plätze waren an den Gränzen der Stadt; wir
können also annehmen, dass auch diese Stätte einmal ausserhalb der
Stadt gelegen war, und da solche alterthümliche Vollziehungen der To-
desstrafe einen nahen Felshang voraussetzen , so ist dieser in den Ab-
hängen des Aresfelsens zu erkennen, welcher sich hinter dem Metroon
erhebt. Auf die ErdscKlflnde am Areopag bezieht sich Eurip. Elektra
V. 1272: ndyov na§ avrbv x<*g/jux dvoovras x&°*6$, und es erhellt, wie
passend gerade als Strafort der Abhang des Areshügels, der Wohnsitz
der Fluchgöttinnen, erscheint. Bei Erweiterung der Stadt ist die Rieht-
statte an die Felsen von Melite verlegt, wo ich ihre Stelle nachgewie-
sen zu haben glaube (Att Studien 1, S. 8).
Wann nun Tholos, Rathhaus und Metroon in der Gruppe, wie wir
sie kennen, erbaut worden sind, darüber lässt sich nichts Bestimmtes
nachweisen. Nur können wir mit Zuversicht die Ansicht abweisen,
welche Lenormant in seinem Aufsätze über die Tholos ausgesprochen
hat 1 ), es sei nämlich erst unter Perikles d?s Feuer des Staatsherds an
den Markt verlegt worden. Wenn Preller (S. 512) die Anlagen der
Tyrannenzeit zuschreibt , so schließet er siph darin meiner Ansicht Ober
die Zeit der Marktverlegung an, und e$ kann in der That nur zweifel-
haft bleiben , ob die Errichtung jener Staatsgebäude mit der Verlegung
des Stadtmarkts unmittelbar verbunden gewesen oder erst später, etwa
in der Zeit des Kleisthenes, eingetreten sei, damals als die Terrasse der
Tyrannenmörder eingerichtet wurde. Uebrigens rafissen in der Nähe
noch andere Staatsgebäude gewesen sein, namentlich das Thesmothesion
und Strategion 2 ). Ersteres scheint der Versammlungsort der neun Ar-
1) Bullet, arch. de l'Athenaeum Francis. Mai 1855 p. 42 , 1.
2) Merkwürdig ist die Erwähnung- eines Thesmotheteion bei Gelegenheit der
Aufnahme des Orestes in Athen bei Plut. Sympos. 1 , 1,2. Vgl. Lobeck
ATTISCHE STUDIEN 177
chonten gewesen zu sein (Schömann Gr. Alt. I 2 , 427) ; denn wenn es von
Nikias heisst (Flut. 5), dass er als Archon sich bis zur Nachtzeit im
Strategion aufzuhalten pflegte, so ist der Ausdruck &qx<op wohl nicht im
engeren Sinne vom Arcbontate zu verstehen, sondern im weiteren Sinne
und hier insbesondere von der Strategie. Seit Perikles war aber dies
Amt das wichtigste aller Staatsämter geworden und dadurch das Strate-
gion der Mittelpunkt der Staatsregierung. Wer hier präsidirte, fahrte
das Ruder des Staats ; daher der Ausdruck xaküv wa inl tö ßitfia xal
rd vtQcmjyioy (Plut. Per. 37).
Aber auch die heiligen Gebäude am Kerameikos hatten' ohne Zwei-
fel ihre staatliche Bedeutung. Aphrodite war auch hier, wie am Alt-
markte, die volkeinigende Gottheit, deren Myrtenkranz die Beamten der
Stadt trugen, wenn sie im öffentlichen Dienste waren. Hephaistos hatte
seinen Tempel inmitten des Volks, das ihn vorzugsweise als seinen
Stammvater ehrte; sein Tempelhaus theilte nach einer echt attischen
Vorstellung Athena, und Beiden war wieder Apollon Patroos, der gegen-
über wohnende, als gemeinsamer Sprössimg zugeeignet (Schömann Op. acad.
1, 824). Das sind mythologische Verbindungen, durch die Sage geheiligt
und durch örtliche Nähe veranschaulicht, welche doch gewiss einen we-
sentlich politischen Inhalt haben, indem sie unter religiöser Form die
Verschmelzung der nach Stand und Herkunft verschiedenen Klassen der
Bevölkerung zu einer Gemeinde darstellen. Dies ist die volkeinigende
Bedeutung der Marktkulte, wie sie seit Gründung der Agora in's Leben
trat und sich in den Gemeindefesten bezeugte, namentlich im Apaturien-
feste, das alle Marktgötter verband. Der Mittelpunkt desselben war einst
Phryoichos S. 519. Hat diese Sage, wie nicht zu zweifeln, eine historische
Grundlage, namentlich in der Familientradition der Demophontiden (Schnei-
dewin in Zeitschr. f. Alterthumsw. 1835 S. 207), so muss man auf ein äl-
teres, am Altmarkte gelegenes, Gebäude dieses Namens schliessen, und da-
rauf führt auch die Bezeichnung bei Plutarch: ßovXevriJQiov dnÖQQftov, avvi-
öqiov aQuftoxQanxov. Dies war also das alte Amthaus oder Buleuterion
der Athener.
Hist.-Phiiol. Classe. Xll. Z
178 ERNST CÜRTIÜS
das alte Prytaneion und dann der Staatsherd in der Tholos. Vgl. August
Mommsen Heortologie S. 305.
»
Folgen . wir nun den Erweiterungen der Agora in der römischen
Zeit, so ist an sich deutlich, dass wenn damals, wie unzweideutige Denk-
mäler und alte Zeugnisse beweisen , eine neue Agora eingerichtet wor-
den ist, dieselbe auch ihr Prytaneion gehabt haben wird, und so kom-
men wir denn zu dem Gebäude, welches uns allein unter diesem Na-
men an einem bestimmten Platze bezeugt ist, d. h. zu dem oberhalb des
Windethurms gelegenen Prytaneion. Dies kann nicht das Prytaneion der
theseischen Stadt gewesen sein, denn es lag an der entgegengesetzten
Burgseite, und es hätte ja, wenn hier das Staatsfeuer der alten Stadt ge-
brannt hätte und von hier die Gründer der ionischen Städte das heilige
Feuer mitgenommen hätten 9 jeder mit Athen nur oberflächlich bekannte
Leser dem Thukydides in Beziehung auf seine Kennzeichen der alten
Wohnplätze im Süden der Burg entgegnen können : der Herd und. hei-
lige Mittelpunkt der alten Stadt war aber an der Nor dseite ! Dies Pry-
taneion kann auch nicht das der solonischen Stadt gewesen sein; denn
an ihrem Markte gab es nur Tholos und Rathhaus, und neben der Tho-
los, wo die Prytanen am Staatsherde opferten und speisten, kann man
unmöglich ein anderes Prytaneion mit einem zweiten Staatsherde ange-
legt haben. Es bleibt also nichts Anderes übrig, als dass das Prytaneion
des Pausanias einer späteren Zeit angehört, der Zeit der römischen Markt-
reformen, in welcher die anderen Prachtbauten zu Ehren der Athena
(denn jedes Prytaneion war, wie wir oben sahen, der Stadtgöttin heilig)
errichtet worden sind. Wenn es häufig vorkommt, dass freigebige Wohl-
thäter das Prytaneion einer Stadt beschenken , so war ein neues Pryta-
neion selbst das glänzendste Geschenk, das einer Stadt gemacht werden
konnte. Es war ein noth wendiges Glied und der unentbehrliche Schluss-
stein der neuen Marktanlagen und bezeichnete besser als irgend ein an-
derer Bau die neue Epoche, welche mit der Herrschaft Roms für Athen
anbrechen und die Athener selbst ihrer alten Geschichte entfremden
sollte. Dieser Bau war aber um so zeitgemäßer, da die Athener kein
der Würde der Stadt entsprechendes Prytaneion hatten, sondern nur das
ATTISCHE STUDIEN 179
uralte Frytaneion, das Gerichtshaus an der Südseite, und das un-
scheinbare Ziegelgebäude der Tholos. Jenes neue Prytaneion erkenne
ich in dem ohcog fityag beim Schol. zu Thuk. II, 15, im Gegensatze zu
dem JiQvraveioy olxCoxog nagä roig *A&rpaioig Schol. Arist. Ritt. 167. Mit
diesen Bezeichnungen kann doch nicht wohl ein und dasselbe Gebäude
gemeint sein.
Nun handelt es sich vorzugsweise um die Speisung im Frytaneion,
einen Gegenstand, welcher auch durch Meier's Forschung nicht vollstän-
dig aufgeklärt worden ist. Ich hebe jetzt nur die Punkte hervor, welche
für die Topographie von Wichtigkeit sind.
Wir müssen zwei Arten von Speisungen unterscheiden, die ehren-
halber am Staatsherde gewährte Malzeit und die Speisung der im Staats-
dienste stehenden Beamten, welche den ganzen Tag über auf dem Po-
sten sein mussten, um das Staatsinteresse wahrzunehmen. Darnach wird
in allen Zeugnissen aus historischer Zeit die Tholos, wo die fungirenden
Prytanen opfern und speisen, von der Speisung im Prytaneion unter-
schieden. War aber diese Trennung von Anfang an? Gewiss nicht.
Sie bestand nicht, so lange der alte Staatsherd der Mittelpunkt der
Stadt war; da wurde der Geehrte, wie einst auf der Burg zur Königs-
tafel, so am Altmarkte zum Male mit den Regenten des Staats geladen.
Denn diese Weise der Auszeichnung war uralt , sie bestand wie Pollux
bezeugt und Demosthenes, so weit das Gedächtniss der Stadt zurück-
reichte. *
Als nun aber der Markt in den Kerameikos verlegt und die Tho-
los beim Metroon gegründet wurde, da trat die doppelte Speisung ein.
Die Beamtentische folgten dem Regierungssitze und vervielfältigten sich
hier, indem für die Senatsausschüsse und für die Archonten besondere
Räume eingerichtet wurden (Tholos und Thesmothesion). Aber die Ti-
sche der Ehrengäste liess man im alten Quartiere, im alten Prytaneion;
dadurch erhielten die Beamten in ihrer sich immer mehrenden Vielge-
schäftigkeit freiere Hand, und es wurde doch eine Sitte, die auf ural-
tem Herkommen der gastfreien Stadt beruhte, ununterbrochen fortge-
setzt, und zwar an dem Herde der Theseusstadt , im Kydathfcnaion , wo
Z2
180 ERNST CÜRTIÜS
alle Traditionen des Alterthums vorzugsweise gepflegt worden. Hier
hatten die Mitglieder alter Geschlechter, namentlich die Priester der
Staatsgottheiten, welche ausser dem Vorsitze bei den Spielen (der uns
durch die neuen Entdeckungen so anschaulich geworden ist) auch dies
Recht besassen, hier die Olympioniken und Andere ihren Sitz. Es war
ein Verein von Bürgern, denen theils durch persönliches Verdienst, theils
durch das ihrer Vorfahren, theils durch amtliche Stellung ein gewisses
Ehrenrecht zustand, welches för das Staatsleben bedeutungslos war, aber
dennoch niemals allen Glanz verlor. Diese Einrichtung wurde mehr-
fach Gegenstand der Gesetzgebung; Solon gab genaue Bestimmungen
über die Art der Speisung, Kephisophon beantragte ein Gesetz über die«
Theilnahme an derselben (vgl. Meier de Lycurg. p. CII); im Ganzen
aber blieb die aus der Königszeit stammende Sitte durch alle Jahrhun-
derte unverändert. Es gab täglich eine zwiefache, vom Staate gedeckte,
Tafel und eine zwiefache Tafelrunde. Die Einen speisten am alten
Staatsherde, die Anderen am neuen.
In der römischen Zeit wurden beide Speisungen, die ursprünglich
eins waren, von Neuem mit einander verschmolzen. Nun hatten auch
die bürgerlichen Aemter mit der Unabhängigkeit des Staats ihre eigent-
liche Bedeutung verloren. Ausserdem wurde die Zahl der Ehrengäste
der Stadt, der astoixoi, immer grösser (schon Aeschines g. Ktes. p. 567
klagt über die Zunahme derselben) ; auch die Zahl der Priester nahm zu,
indem man neue Dienste einführte, ohne die alten eingehen zu lassen.
Aus der römischen Zeit haben wir die amtlichen Listen derer, welche im
Prytaneion speisen; da sind die Prytanen und die Ehrengäste, nament-
lich die Mysterienpriester, und eine grosse Zahl von Beamten vereinigt,
welche nun* zusammen die Honoratioren des kaiserlichen Athens bilden.
Einige dieser Inschriften sind nachweislich am Horologium des Androni-
kos ausgegraben (Boss Demen S. 17), und es leidet keinen Zweifel, dass
sie sich auf das Prytaneion beziehen, welches Fausanias als den Aus-
gangspunkt der wichtigsten Strassen an der Nordseite der Burg bezeich-
net. Es war ein frei gelegenes Gebäude oberhalb der römischen Agora,
ungefähr ift der Linie der heutigen Aeolosstrasse. Dies neue Stadthaus
ATTISCHE STUDIEN 181
war ein Prachtbau mit Speisesälen, ein grosses Hestiatorion , vielleicht
auch nach Art der palatia zur Aufnahme forstlicher und amtlicher Per-
sonen eingerichtet Die Aufsicht über das Gebäude fährte ein besonderer
Beamter: o inifiAAtpriis nQvmretov (C. Inscr. Gr. n. 575).
Als man dies neue Prytaneion einrichtete, setzte man zugleich den
Dienst der Hestia daselbst ein, ohne welchen kein Prytaneion zu den-
ken ist, und stellte neben der Hestia die Eirene auf, um die Römer-
herrschaft als eine neue Zeit des Friedensglücks ftlr Athen zu bezeich-
nen. Man brachte aber auch aus den altern Stadttheilen Kunstwerke
und Denkmäler anderer Art in das Stadthaus, welches nun als der Mit-
telpunkt der Geschichte Athens gelten und dessen Halle eine Ruhmes-
halle der Athener sein sollte. Eine Anzahl von Ehrenbildern war da-
selbst aufgestellt, von denen nur einzelne namhaft gemacht werden;
so das Bild des Pankratiasten Autolykos 1 ), das des Olympiodoros (Paus.
1, 26, 3), die Statuen des Miltiades und Themistokles , welche indessen
hier so willkürlich behandelt waren, dass man ihnen falsche Namen bei-
geschrieben hatte 2 ) ; endlich das Erzbild des Demochares , welcher , mit
dem Schwerte angethan, der Erste war in der Reihe von Standbildern,,
welche rechts vom Eingange zu dem Heiligthume der Hestia aufgestellt
waren (tfaiovroov nQÖs rfjr korke? ds&cf S nQvSms). Von dieser Bildsäule
ist nun auch ausdrücklich bezeugt, dass sie von ihrem früheren Stand-
orte (wahrscheinlich in der Nähe des Demosthenes) nach dem Pryta-
neion versetzt worden sei (elg xb nQwavelov fiezexofifoxhj Leben der X
Redner S. 79 Westermann).
Das Merkwürdigste aber von Allem, was im Prytaneion zu sehen
war, waren die ehrwürdigen Ueberreste der solonischen Gesetzestafeln,
und auch von diesen ist ausdrücklich bezeugt, dass sie erst in späterer
Zeit nach dem Prytaneion gebracht worden sind; denn Pollux (8, 128)
sagt: av&w [o% re xvQßeig xccl ot ägoysg) eis td ngwareiov xal xtp äyoQcw
1) Vgl. 0. Jahn Arch. Beitr. S. 44.
2). Paus. 1, 18, 3. Ueber diese Statuen werden wir nun anders urteilen müs-
sen, als Stark in der Arch. Zeitg. 1859 S. 78.
182 ERNST CÜRTIÜS
fiersxo/utodyöav. Freilich hat Pollux hier seine Quelle ungenau benutzt,
in so fern er die mittlere Station auf dem Wege , den die Gesetztafeln
durch die Stadt machten , übergeht oder die zweite und dritte mit ein-
ander vermischt. Ihn ergänzen aber die genauen Angaben trefflicher
Gewährsmänner. Denn Harpokration (u. d. W. xvgßeig) und Photios p.
109, 19 wissen aus Aristoteles, dass die Kyrbeis in der Königshalle auf-
gestellt waren; ausserdem nannte Anaximenes (bei Harpokr. S xdrw&e*
pöfios) das Buleuterion als Ort der Aufstellung 1 ). Es waren also die
Gesetzestafeln in den Staatsgebäuden am Kerameikos vertheilt, und die
das heilige Recht betreffenden Gesetze werden vorzugsweise in der Halle,
die Axones im Buleuterion zu finden gewesen sein. Diese Einrichtung
stammte von Ephialtes her, der durch die Entfernung der Tafeln von
der Burg einen wesentlichen Fortschritt der demokratischen Entwicke-
lung im Staate bezeichnete (Griech. Gesch. 2, 137). Das Prytaneion
war also der dritte Platz , wo sie bei einer neuen Wendung der Ge-
schichte Athens aufgestellt wurden und sich lange erhielten (Harp. v.
ägwss: duxooi£ortcu &v tip ngtrcareüp), wenn auch nur in dürftigen Ueber-
resten, wie Plutarch (Solon 25) bezeugt
In der Nahe dieses Prytaneions wird als ein Schmuck desselben
auch das berühmte Bild der Agathe Tyche gestanden haben (Ael. Var.
H. IX 39), von welchem Gerhard im Philologus 1849 S. 380 gehandelt
hat Die Identification derselben mit dem aus Lykurg angeführten äya-
&rjg wxw row's bei Harpokr. ist freilich nichts weniger als sicher ; aber
mit vollem Rechte hat Gerhard a. a. O. zuerst darauf hingewiesen, dass
die Lage des attischen Prytaneion, so entfernt von den Staatsgebäuden
des Kerameikos, etwas sehr Befremdliches habe, und es ist nur zu ver-
wundern, dass man diesen Gesichtspunkt seitdem ganz unbeachtet gelas-
1) Andocides lässt ein Solonisches Gesetz 'von der Säule vor dem Rathhause'
verlesen (1, 97). Hier müssen wir also von den Originalurkunden, deren
Ueberreste in Jenem aufbewahrt wurden, die revidirten Gesetze unterschei-
den, welche draussen auf Steintafeln standen. Vgl. Fr. Franke N. J,en. Litt.
Zeit. 1844 S. 734.
ATTISCHE STUDIEN 183
sen hat. Man hat aber im Ganzen die Topographie Athens so ausser-
lieh behandelt, dass man sich solcher Widersprüche und Schwierigkei-
ten nicht bewusst geworden ist und sich die Probleme gar nicht ge-
stellt hat , welche hier zu lösen sind. Die Lösung ist aber nur mög-
lich, wenn man das Leben der Stadt in seiner geschichtlichen Bewegung
auffasst. Wenn der Schwerpunkt desselben im Laufe der Zeit wesenfc-
lieh verrückt wird, so kann auch der Markt nicht derselbe bleiben.
Dem Markte folgt der Stadtherd, dem Stadtherde das Prytaneion. Drei-
mal sind die Athener im eignen Hause umgezogen ; aber die alten Quar-
tiere sind nicht leer gelassen, die alten Herdflammen nicht erloschen,
sondern man hat, wie bei einer Colonieengründung , die neuen Feuer an
den alten entzündet. Als das Prytaneion der Nordseite Mittelpunkt des
römischen Athens wurde, bestand das alte der theseischen Stadt noch
fort, und Pausanias nennt am Ende seiner städtischen Wanderung den
Gerichtshof Prytaneion als ein ganz besonderes Lokal , welches , wie ich
oben erwiesen zu haben glaube , mit den beiden anderen Ephetenhöfen,
mit Delphinion und Palladion, in der alten Patricierstadt, dem Asty von
Athen, gelegen war 1 ). Das alterthümliche Haus, wo über Holz und
Eisenstücke , die einen Menschen beschädigt hatten , feierliches Gericht
gehalten und Thiere zur Entfernung aus dem Stadtgebiete verurteilt wur-
den, hatte nichts als den Namen gemein mit jenem Prytaneion, dem
Prachtbaue an der durch kaiserliche Munificenz ausgestatteten Agora,
dem Ausgangspunkte der belebtesten Strassen an der Gränze des Tripo-
denquartiers, wo die Verbindung war zwischen Kerameikos, Olympieion
und Lenaion. Dieser glücklichen Lage wegen brauchte auch in der
vierten und letzten Epoche der attischen Stadtgeschichte, als Hadrian
1) Das Wort ätnv hat eine zwiefache Bedeutung; es bedeutet Altstadt und
Oberstadt (im Gegensatze zum Peiraieus). Im erstem Sinne wird es ge-
braucht, wenn damit der Wohnsitz der Eupatriden bezeichnet wird [Ein. ol
adtd td daxv olxovwes), und so gebraucht es auch Plutarch im Theseus 24:
h> noMJtfag dnaa* xowdv ivrav&a nQvxavsXor xa) ßovlcvnJQioy , Srtov vvv
lÖQVia* tö ä&iVj %ffv nofav *A&yva$ nQO(TrjyoQ€V(f€. Von dieser Bedeutung
stammt wohl auch d<miog.
184 ERNST CÜRTIUS
ein neues Athen an der Ostseite schuf, nicht wieder ein neuer Markt
und ein neues Prytaneion gegründet zu werden. Denn durch Hadrian
wurde die Bewegung der Stadt von Westen nach Osten, die mit dem
Eintritte der römischen Zeit begonnen hatte, nur vollendet. Damit war
der Kreislauf städtischer Geschichte geschlossen und die Stadt der Athena
zu der Kallirrhoe zurückgekehrt, welche die Nährerin ihrer ältesten An-
siedler gewesen war.
Nachträge
zum ersten Theile der attischen Studien.
(Abh. der Kön. Ges. der Wiss. Band XI).
Die in der ersten Abhandlung ausgeführte Ansicht, dassPnyx ursprünglich ein
Bergname sei und denselben Berg bezeichne, dessen Gipfel man Museion nannte (nach
jetzt gewöhnlicher Bezeichnung Philopappos) , ist im Litt. Centralbl. 1863 S. 712
bestritten worden, wo der Ref. zu beweisen sucht, dass die Angaben des Kleidemos
bei Plut. Thes. 27 mit meiner Ansicht unvereinbar seien und uns zwingen, Pnyx
und Mu8eion als zwei ganz verschiedene Oertlichkeiten anzusehen. Dies veranlasst
mich, noch einmal auf das Schlachtfeld der Athener und Amazonen zunickzukommen.
Kleidemos dachte sich dieselben übermächtig, im Besitze der halben Stadt, vom
Areopag aus die Burg bedrohend. Ihre Aufstellung zog sich vom Areopag bis zur
Pnyx d. h. nach meiner Ansicht bis zum Fusse des Philopappos, den der rechte
Flügel berührte; eine Auf stelkiug im Halbkreise, welche durchaus passend war, wenn
es galt, die Burg zu belagern und von unten abzuschneiden. Es kam darauf an,
sie zu entsetzen. Dies that Theseus, indem er mit den Seinigen den Philopappos-
gipfel von der Bückseite erstieg und nun mit plötzlichem Schlachtrufe die am Fusse
der Höhe aufgestellten Feinde im Rücken und von der Seite überfiel Dass man
ATTISCHE STUDIEN
185
sich den Angriff so vorstellte, folgt aus der Verknüpfung desselben mit den BofjdQÖ-
(jua. Je näher die Feinde standen, um so wirksamer musste ein solcher Ueberfall
sein. Die Amazonen wurden in die Ebene geworfen und die Athener wollten sie
zum piräischen Thore aus der Stadt hinausdrängen. In der Thorstrasse aber fassten
die Amazonen wieder festen Fuss und drängten ihrerseits den Feind bis an den
Fuss des Areopags zurück , um ihre alten Stellungen wieder einzunehmen. Da er-
folgt ein neuer Zuzug vom Ilissos her (das ist ja die Gegend, in welcher sich die
Alten Aigeus wie Theseus vorzugsweise ansässig dachten), von Ardettos, Palladion
und Lykeion, und dieser Zuzug, welchen wir uns also auch an der Südseite der
Burg entlang kommend denken müssen, entscheidet das Treffen, indem er den rech-
ten Amazonenflügel, welcher die zusammengedrängten Athener zu umringen drohte,
überfiel und so die Niederlage der Landesfeinde herbei führte. Mag man sich diese
mythistorischen Vorgänge in einzelnen Punkten auch anders vorstellen können, auf
keinen Fall vermag ich zu begreifen , wie die Darstellung des Kleidemos beweisen
soll, dass 'die von ihm gemeinte Pnyx eine ziemliche Strecke nördlich vom Museion.
also auf dem gewöhnlich so genannten Hügel oder am Nymphenhügel zu suchen sei'.
Plutarchs Worte am Anfange des Kapitels sprechen eher für das Gegentheil; denn
wenn er sagt, die Amazonen und die auf dem Museion stehenden Theseiden seien
fuql tijv TlvxSxa xal td MovacTov handgemein geworden, so denkt man dabei doch
nicht an zwei von einander entfernte Oertlichkeiten (in diesem Falle erwartet man:
xal neqi 10 MovotTov), sondern an zwei Punkte, welche einer Oertlichkeit angehö-
ren. Die Entfernung des Schlachtfeldes in der Thorstrasse vom Museion erklärt
sich aber dadurch . dass Theseus im Anfange siegreich war ; denn anders konnten
sich doch die Athener den ßofjÖQdfjuog nicht vorstellen.
Eine doppelte Benennung für eine Höhe kann aber nicht befremdlich sein,
wenn die im Bereiche des Markts liegenden Abhänge derselben eine besondere und
eine so hervorragende Bedeutung erhielten, dass sie den eigentlichen Bergnamen
(Llvv%) für sich in Anspruch nahmen, so dass dann der Gipfel, dem erst die mace-
domsche Zeit eine geschichtliche Bedeutung gab , eine besondere Bezeichnung (Mu-
seion) erhielt.
Was die eigentliche Pnyxfrage betrifft, so hat sich eine Reihe con^etenter
Stimmen , welche bis dahin schwankend waren, wenigstens dem negativen Ergebnisse
meiner Abhandlung angeschlossen und sieht in dieser Beziehung die Frage für er-
ledigt an. Darunter sind jetzt auch athenische Gelehrte . wie namentlich Dr. Per-
vanoglu, welcher schon durch die vielen Ausgrabungen, welche er im Gebiete der
alten Felsenstadt vorgenommen hat, mehr als irgend ein Anderer hier zu Hause ist.
Vgl. seinen Aufsatz im Philologus XX S. 529. Er .stimmt mir auch in Betreff des
verhältnissmässig jüngeren Ursprungs der Polygonmauer bei. War nun aber die
Hisi.-Philol. Classe. XII Aa
»
I
"y
Uebersicht des Inhalts.
Allgemeines über die Marktanlagen hellenischer Städte S. 119 — 129.
Pausanias' Topographie von Athen „ 129 — 133.
Der Eingang und die vier Seiten des Markts nach Pausanias . . . „ 133 — 143.
Die Denkmäler des Kerameikos „ 143 — 145.
Die Stoa des Königs Attalos „ 145 — 149.
Kolonos und innerer Marktraum „ 149 — 151.
Hermes Agoraios und Marktthor ,, 151 — 153.
Die Benutzung des Markts zu öffentlichen Handlungen „ 153 — 158.
Umgebung des Markts und Marktverkehr „ 158 — 160.
Geschichte des Markts. Alt- und Neumarkt „ 160 — 165.
Die Marktanlagen der römischen Zeit „ 165 — 170.
Die Staatsgebäude am Altmarkte „ 170 — 173.
Die öffentlichen Gebäude im Kerameikos und am römischen Markte. „ 173— 179.
Geschichte der Speisung im Prytaneion „ 179 — 181.
Die Alterthümer des römischen Prytaneions „ 181 — 184.
Nachträge „ 184—186.
»
«r.
*
^
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i
Ueber
die Aufgabe des platonischen Dialogs: Kratylos.
Von
Theodor Benfey.
Erste Abhandlung.
Vorgetragen in der Sitzung der Königl. Gesellschaft der Wissenschaften vom 3. März 1866.
I.
Uie neuere Sprachwissenschaft ist aus der Philologie und Sprachen-
kunde emporgewachsen. Ihre charakteristische Eigenschaft bildet die
innige Verschmelzung von vier Richtungen : der naturwissenschaftlichen,
philosophischen, geschichtlichen und vergleichenden.
Die naturwissenschaftliche Betrachtung und Erforschung der Sprache
hat schon in ältester Zeit, wenigstens vor der des Buddha, d.h. sicher-
lich wohl vor dem 6ten oder 5ten Jahrh. vor unserer Zeitrechnung, eine
hohe Vollendung in der indischen Grammatik erreicht. Sie fasst die
Sprache wie eine Naturerscheinung, deren Wesen sie durch Zerlegung
in ihre Bestandteile und Erkenntniss der Funktionen derselben zu er-
gründen sucht. Die Sprache ist ihr das Gegebne; von ihr aus sucht sie
die Art und Weise, wie sie ihren Inhalt sich vorstellt und gestaltet,
zu erkennen; von der Sprache aus dringt sie zu dem gedanklichen oder
überhaupt geistigen, psychischen Hintergrund, auf dem sie ruht, aus
dem sie sich gestaltet, abgelöst, verselbstständigt hat. Sie bewegt sich
gewissermassen von aussen nach innen; vermittelst der Körperformen
sucht sie den Geist zu ergründen, der diese geschaffen, gestaltet hat.
Ob dieser schon in den ältesten uns bekannten grammatischen
Werken der Inder eingeschlagene Weg auch gleich zur Zeit der Anfange
der indischen Grammatik betreten ward, oder ihm ein andrer, etwa
eine philosophische Sichtung vorhergegangen war, wie vielleicht nach
dem allgemeinen Entwicklungsgang der Wissenschaften zu vermuthen
w*r
i,
\
190 THEODOR BENFEY,
steht, wird sicli bei der Dunkelheit der indischen Geschichte überhaupt,
insbesondre der ihrer wissenschaftlichen Entwicklung und vor allem
der in ein so hohes Alterthum hinaufragenden Anfange ihrer Grammatik,
weder jetzt noch wahrscheinlich in Zukunft mit Sicherheit entscheiden
lassen. Zu der Zeit, wo die indische Grammatik in die uns bekannte
Geschichte tritt, hat sie im Wesentlichen die ihr erreichbare höchste
Vollendung schon erlangt. Diese pr%t sich in einer fast mustergiltigen
Behandlung der formativen Seite der Sprache aus. Sie ist vorzugsweise
auf das Sanskrit angewendet doch keiuesweges auf dieses beschränkt,
sondern auch — wenn gleich, insofern das Sanskrit stets als Muster
gilt, einseitig — auf verwandte wie das Pali und selbst unverwandte
Sprachen ausgedehnt, wie z. B. die Dravidischen und unzweifelhaft
auch das Tibetische, Ceylonesische und manche hinterindische.
Diese Sprachbehandlung, obgleich ihre hohe Bedeutung schon in
der ersten Hälfte des achtzehnten Jahrhunderts in Europa angedeutet
war l ) , wurde doch erst seit der Einführung des Sanskrits in den Kreis
der europäischen Studien bekannter und ist selbst jetzt noch nicht be-
kannt genug, um nach ihrem wahren Werth geschätzt werden zu können.
Die philosophische Richtung, wenigstens die deren Anfange und
Geschichte wir zu verfolgen vermögen, hat ihren Ursprung in Europa,
bei demjenigen Volke dem, neben den Indern, und in einem bei weitem
höheren Grad als diesen, so weit sich mit geschichtlicher Sicherheit er-
kennen lässt, die Anfange fast aller wahren Wissenschaft verdankt werden.
Diese Richtung bildet einen reinen Gegensatz zu der naturwissen-
schaftlichen. Während die letztere die Sprache an sich und durch sich und
auf diesem Wege den in ihr waltenden besonderen Geist, den Sprach-
geist, zu erkennen sucht, geht jene vom Gedanken, vom Geist, überhaupt
aus und sucht zu ergründen , wie er sich in der Sprache einen lautlichen
Körper bildet, geht also, im Gegensatz zu dieser, die von aussen nach
1) In einem Briefe des Pater Pons, abgedruckt in Lettres edifiantes et curieu-
ses, ecrites des Missions etrangeres, 1743. T. XXVI. p. 219, vgl. Biot,
Journ. d. Sav. 1860 Aoiit, besonderer Abdruck S. 4.
ÜBER DIE AUFGABE DES PLATONISCHEN DIALOGS: KRATYLOS. 191
innen ging, gewissermassen von innen nach aussen. Während diese
ihre Aufmerksamkeit vorwaltend ja fast einzig auf die sorgfaltigste Er-
forschung der sprachlichen Thatsachen und ihres begrifflichen Werthes
richtet, sucht jene zu erklären, warum der Gedanke grade diese Ver-
körperung annimmt, mit einem Worte, wenn diese fragt, was ist die
Sprache, fragt jene, warum ist sie das, wenn diese die Natur der Er-
scheinung zu erforschen sucht, richtet jene ihre Forschung auf die
Gründe derselben. Wenn jene an Tiefe ihres Bestrebens augenschein-
lich diese überragt, so hat diese dafür die Sicherheit einer festen gewisser-
massen handgreiflichen Unterlage voraus ; ebenso die Fähigkeit sich
unabhängig von der philosophischen Richtung zu entwickeln , ja ihre
Aufgabe ganz zu erfüllen, während jene, sobald sie sicher gehen will,
der naturwissenschaftlichen Ergebnisse als Grundlage bedarf.
Die dritte so wie die vierte Richtung, die geschichtliche und ver-
gleichende, sind beide Kinder der neuesten Zeit; die erstere betrachtet
die geschichtliche Entwicklung der Sprache von ihren Anfangen bis zu
der Zeit, bis zu welcher sie sich verfolgen lässt, und sucht, wenn sie
es vermag, ihre Entstehung und Umwandlungen nachzuweisen und zu
erklären ; die andre vergleicht die Sprachen einzeln oder classenweise
nach allen Gesichspunkten , welche für das Verständniss derselben in
Betracht kommen und sucht auf diese Weise eine Einsicht in das Ver-
hältniss derselben zu einander und zur Idee der Sprache überhaupt zu
gewinnen.
Wenn nun gleich unter diesen vier Richtungen seit der Gründung
der neueren Sprachwissenschaft die erste und die beiden letzten am
stärksten in den Vordergrund getreten sind, und sich für die bisherige
Entwicklung dieser jungen Wissenschaft am erspriesslichsten erwiesen
haben, so ist doch jeder Sprachforscher weit davon entfernt die hohe
Bedeutung der zweiten zu verkennen. Wie sie nicht aufgehört hat sich
an den Fortschritten, welche auf diesem Gebiete gemacht sind, in ihrer
Weise zu betheiligen, so darf man der Hoffnung Raum geben, dass sie,
sobald die Unterlagen, deren sie zu mächtigerer Wirksamkeit bedarf, in
noch umfassenderer und festerer Art von ihren drei Schwestern gelegt
»
*
*
r .
192 THEODOR BENFEY,
sein werden, mit erstarkter Kraft, erweitertem Gesichtskreis und ver-
tiefterer Anschauung vielleicht nicht am wenigsten dazu beitragen werde,
uns dem Ziele näher zu bringen, welches nur vermittelst der har-
monisch zusammenwirkenden Thätigkeit dieser vier Schwestern erreicht
zu werden vermag.
Das augenblickliche Zurücktreten der philosophischen Richtung wird
übrigens mehr als aufgewogen durch die Herrschaft, welche sie über
drittehalb Jahrtausende in der europäischen Wissenschaft fast allein und
unumschränkt geübt hat.. Mit den ersten uns genauer bekannten An-
fängen der griechischen Wissenschaft ist auch sie hervorgetreten; unter
ihrem Scepter hat sich die griechische Sprachwissenschaft entwickelt
und an diese schliesst sich — unmittelbar und mittelbar — fast aus-
nahmslos alles, was, bis zum Eintritt des Sanskrits in das Gebiet euro-
päischer Wissenschaft , über Sprache und Sprachen gedacht , gelehrt und
geschrieben ist. Und keineswegs mit Unrecht.
Denn wenn auch die philosophische Richtung des griechischen
Geistes, sein fast unbezähmbares Streben von allein die Gründe zu er-
forschen, alles erklären zu wollen, gepaart mit einer Phantasie, die an
Reichthum von Ideen und Combinationen , an Höhe ihres Flugs, und
Tiefe ihrer Anschauungen in der Geschichte der menschlichen Entwick-
lung bisher unübertroffen dasteht, ihm nicht Geduld genug gönnte zu
der ruhigen, demüthigen und entsagungsvollen Beobachtung, Sichtung
und Analyse, deren es zur richtigen Erkenntnis« von Naturgestaltungen
und Thatsachen bedarf, ihn daher nicht selten zu übereilten Erklärungen
trieb, so giebt für die daraus entstehenden Mängel doch zunächst eine
Fülle der geistreichsten und tiefsten Gedanken Ersatz. Ferner ver-
danken wir ihr vorzugsweise die Anbahnung und weitgehende Ent-
wicklung derjenigen sprachwissenschaftlichen Seite, welche wir unter
dem Namen der Syntax begreifen. Mögen auch manche begünsti-
gende Umstände, welche in der griechischen Sprache selbst liegen, zur
Gewinnung dieses tatsächlichsten Verdienstes der Griechen um die
> Sprachwissenschaft beigetragen haben — wie sich denn ja nicht ver-
kennen lässt, dass auch die grossen Verdienste der Inder um die Ein-
ÜBER DDE AUFGABE DES PLATONISCHEN DIALOGS: KBATYLOS. 193
sieht in den formativen Charakter der Sprachen durch die Eigentümlich-
keiten des Sanskrit nicht wenig unterstützt wurden — so ist es doch
vor allem grade der Aufmerksamkeit zu verdanken , welche die Griechen
auf das Verhältniss des Gedankens zu seinem sprachlichen Ausdruck,
seiner lautlichen Verkörperung richteten. Endlich — und darin dürfen
wir wohl das höchste Verdienst der von den Griechen angebahnten und '
weit entwickelten philosophischen Richtung der Sprachwissenschaft er-
blicken — : sie schärfte den Blick für das generelle, allgemein -mensch-
liche in den Sprachen, während die naturwissenschaftliche Betrachtung
das Augenmerk mehr auf die Besonderheiten in den Sprachclassen und
Sprachen zieht. So ergänzen sich beide Richtungen in einer Weise die
allein zu einer wahren Lösung des Problems der Sprachwissenschaft zu
führen vermag; getrennt bahnt die eine den richtigen Weg zur Gestal-
tung der Specialgrammatiken, die andre zu der der generellen; vereint
leiten sie zur Erkenntniss des allgemeinen Sprachgeistes in all seinen
Besonderungen.
Jede Phase der Entwicklung der griechischen Sprachwissenschaft
verdient demnach die grosste Aufmerksamkeit; um wie viel mehr eines
ihrer bedeutendsten Werke, welches die in ihr herrschend gewordene
Richtung — die Unterordnung der Sprache unter die dialektische Er-
kenntniss — auf das Allerbestimmteste ausprägt, einer andern, sich
mehr der naturwissenschaftlichen näherenden, eine Selbständigkeit der
Sprache anerkennenden, Ansicht kämpfend und, weil schwach vertreten,
siegreich gegenübertritt, und von den ältesten Zeiten bis vor Kurzem
unbestritten den ersten Anfangen europäischer oder vielmehr überhaupt
wahrer Wissenschaft und einem der grössten Männer des griechischen
Alterthums zugeschrieben ward?
IL
Der Dialog Kratylos galt bis vor kurzer Zeit für eine unbestritten
echte Schöpfung Piatos, des Mannes, dem, abgesehn von der indischen
Grammatik, neben Hippocrates die ersten bis zu uns gelangten zusam-
menhängenden Werke wahrer Wissenschaft verdankt werden.
Hxst.-Philol Ciasse. XII. Bb
K
194 THEODOR BENFEY,
Herr Schaarschmidt ist der erste, welcher die Echtheit desselben
bezweifelt und nicht ohne Scharfsinn angefochten hat x ). Auf diese
Frage näher einzugehen, kann nicht meine Absicht sein ; zur Entscheidung
derselben bedarf es einer eindringenden und tiefen Kenntniss der platoni-
schen Philosophie , Sprache , Kunst und Geisteskraft , so wie der Piaton
* vorhergegangenen und gleichzeitigen philosophischen Entwicklungen, auf
welche ich keinen Anspruch machen kann.
Natürlich ist die Bedeutung dieses Dialogs ungleich grosser; wenn
er diese Feuerprobe glücklich übersteht und seine Berechtigung Plato's
Namen fortzuführen siegreich zu behaupten vermag, als wenn er in
diesem Kampfe unterliegen sollte.
Es bleibt ihm dann die Steile an der Spitze der europäischen
Sprachwissenschaft gesichert, welche er bis jetzt unbestritten eingenom-
men hat; er ist dann auch ferner unzweifelhaft das älteste uns erhaltene
Werk, welches auf europäischem Boden eine der bedeutendsten Fragen
dieser Wissenschaft, trotz unverkennbarer Mängel, mit einer Tiefe, in
einem Umfang, mit einer Kunst und einem Erfolg behandelt hat, welche,
zumal wenn man die Zeit seiner Entstehung berücksichtigt, mit Recht
das Staunen und die Bewunderung aller derer geärndtet hat, welche
sich eindringend mit ihm beschäftigt haben.
Von diesem Nimbus wird er natürlich manches einbüssen, wenn
er genöthigt werden sollte, dem Namen zu entsagen, dem er in diesem
Fall vielleicht allein seine Erhaltung durch zwei Jahrtausende verdankt
haben möchte; jedoch keinesweges so viel als man auf den ersten
Anblick glauben möchte und auch das nur in den Augen derjenigen,
welche sich mehr von Namen bestechen und beherrschen lassen, als
einen Gegenstand an und für sich würdigen.
Mag der Dialog von Plato herrühren oder von irgend einem andern,
namenlosen, Schriftsteller, seine Bedeutung für die ganze Entwicklung
der Sprachwissenschaft, das Hineinragen seines Einflusses in alle spätere
ja unmittelbar noch in die heutige Zeit , mit einem Worte : sein innerer
1) Rheinisches Museum für Philologie 1865 XX, 3, 321 — 356.
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£■*
ÜBER DDE AUFGABE DES PLATONISCHEN DIALOGS: KRATYLOS. 195
Werth bleibt auch in letzterem Falle ungeschmälert derselbe und der
ist, so weit mir nach einer zwar . durch und durch erneuerten, dennoch
aber, wie ich gern zugestehe, keinesweges tief eindringenden Kenntniss
der platonischen Werke, scheint, der Art, dass sich Plato desselben
nicht zu schämen brauchte, ja dass er in seinem unverwelklichen Lor-
beerkranze eines der frischesten Blätter bilden würde.
Eine wirkliche Einbusse an Bedeutung würde dieser Dialog nur
dann erleiden, wenn sich zugleich feststellen Hesse, dass er einer viel
jüngeren, wissenschaftlich weiter entwickelten, an Hülfsmitteln der Er-
kenntniss für dieses Gebiet der Wissenschaft reicheren Zeit angehörte.
Dass aber dieses nachzuweisen jemals möglich sein werde, scheint
mir mehr als zweifelhaft, ja völlig unglaublich; im Gegentheil bin ich
überzeugt, dass wenn dieser Dialog auch Piaton selbst abgesprochen
werden möchte — was mir übrigens ebenfalls sehr zweifelhaft scheint —
er doch seiner oder der nächsten Zeit nach ihm verbleiben wird, so
dass er also höchst wahrscheinlich auch in diesem Fall den Ruhm be-
haupten wird, das älteste der uns erhaltenen griechischen Werke auf
dem Gebiete der Sprachwissenschaft zu sein und an der Spitze derjenigen
Richtung derselben zu stehen , welche in ihr die herrschende ward und in
allen sich daran schliessenden bis fast auf die neueste Zeit geblieben ist.
Denn so sehr kann Niemand den Einfluss seiner Zeit verbergen,
dass sich auch keine einzige Spur ihrer Anschauungen in seinem Werke
finden sollte. Diess aber müsste man für den Verfasser des Kratylos
annehmen. Keine Spur Aristotelischer Anschauungen lässt sich bei ihm
erkennen , noch viel weniger ein Einfluss der Stoiker oder gar noch
späterer Zeiten. Sein Gebrauch des Wortes ^fj/ua (vgl. den der Abhand-
lung angehängten Excurs) deutet sogar mit Entschiedenheit auf eine vor-
aristotelische Zeit, so dass, im Fall Herrn Schaarschmidt's Angriff
auf die Echtheit dieses Dialogs sich nicht widerlegen Hesse, der hohe
Werth und das Alter desselben uns die Nöthigung auflegen würde,
als seinen Verfasser einen Mann vorauszusetzen, der mit Piaton gleich-
zeitig diesem an Höhe und Tiefe des Geistes kaum nachzusetzen sein
dürfte, mit einem Worte: einen wahren Doppelgänger desselben.
Bb2
t
t
196 THEODOR BENFEY,
III.
v
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Was die älteren Ansichten über die Aufgabe des Kratylos betrifft,
so ist die in der aus dem Alterthum überlieferten (von Thrasyllus her-
rührender}) Ueberschrift negl dQ&ovrpos opofidrojp • über die Richtigkeit der
Wörter' niedergelegte, wenn gleich nichts weniger als erschöpfend, doch
im Allgemeinen nicht unzutreffend.
In der That bildet die Frage »woher es komme, dass dem Worte
seine bestimmte Bedeutung mit allgemeiner Gültigkeit zukomme «, es
sind diess die Worte, in denen Deuschle, die platonische Sprachphi-
losophie, S. 55, sie richtig präcisirt hat, oder um sie noch klarer hin-
zustellen »woher es komme, dass der Hörende ein Wort in demselben
Sinne versteht, welchen der Sprechende damit verbindet«, »dass ein
Wort die richtige Bezeichnung seines begrifflichen Inhalts ist, Richtig-
keit, dQ&orrjs, hat« den Ausgangspunkt der Untersuchung und diese
dreht sich von Anfang bis zum Ende des Dialogs um die Richtigkeit
der Wörter (vgl. z.B. 383 A; 422 D; 429 E und sonst); allein die Frage
nach den Gründen dieser Richtigkeit erweitert sich rasch zu der, ob in
der wirklichen Sprache eine Richtigkeit in dem von Sokrates geforder-
ten Sinne des Wortes überhaupt anzuerkennen sei.
Der Dialog zerfallt, um diess sogleich im Voraus zu bemerken, in
drei Abschnitte. Der erste (383 A — 390 E) hat einen dreifachen Inhalt.
Zunächst stellt er die Frage hin, welche den Ausgangspunkt des Dialogs
bildet und die entgegengesetzten Gründe, durch welche die beiden Mit-
unterredner die Richtigkeit der Wörter erklären zu können glauben.
Hermogenes, der eine derselben, ist der Ansicht, dass sie auf Vertrag
und Uebereinstimmung , oder vielmehr (als deren äusserster Consequenz)
auf reiner Willkühr beruhe, Kratylos der andre, dass eine eigenthümlich
gefasste Bedingtheit der Wörter durch die Dinge , welche sie ausdrücken,
der Grund sei. Sokrates zeigt dann gegen Hermogenes, dass bei reiner
Willkühr eine Richtigkeit der Wörter nicht möglich, vielmehr eine Be-
dingtheit derselben durch die Natur der durch sie bezeichneten Dinge
anzunehmen sei. Im zweiten Abschnitt (391 A — 427 D) macht er deut-
ÜBER DIE AUFGABE DES PLATONISCHEN DIALOGS : KRATYLOS. 197
lieh, welcher Art diese natürliche Richtigkeit sein müsse. Im dritten
(427 E — 440 C) dass die wirkliche Sprache, auch in der Kratylos'schen
Auffassung, den Forderungen nicht entspreche, welche sie, um richtig
zu sein, erfüllen müsste.
Proclus, indem er sich an die Ueberschrift anschliesst, giebt zu-
nächst als Resultat des Dialogs an on 6 nctQibv didXoyog intötrifxovag
f\fiag Tioiei zrjg tv5v Sro/udrcop dQ&OTtjrog 'der vorliegende Dialog macht
uns der Richtigkeit der Wörter kundig' 1 ). Wenn er damit sagen wollte,
dass wir aus diesem Dialog erfahren, von welchen Forderungen der
Verfasser desselben die Richtigkeit der Wörter abhängig mache, so
würde er einen Theil des Inhalts richtig angegeben haben; allein nach
seiner ganzen Auffassung des Dialogs ist es , wie sich sogleich deutlicher
wird erkennen lassen, unzweifelhaft, dass er meint, wir lernten dadurch
die Richtigkeit der Wörter in der wirklichen Sprache kennen und darin
irrt er sich, wie die Analyse ergeben wird, vollständig.
Richtig erkannte er, dass sich die Frage nach den Gründen der
Richtigkeit der Wörter zu der über die Entstehung der Wörter erwei-
tert, bemerkte aber nicht, dass diese damit keinesweges die Hauptfrage
wird, sondern nur dazu dient, die Frage nach den Gründen der Rich-
tigkeit zu der zu erheben, ob, wie schon bemerkt, in der wirklichen
Sprache eine Richtigkeit in dem von Sokrates geforderten Sinne bestehe.
Mit Recht bemerkt er, dass sich die Frage nach der Entstehung
der Wörter darum drehe, ob sie von Natur {(pvoti) oder durch (will-
kührliche, zufällige 2 )) Beilegung (&£ati) den durch sie bezeichneten Din-
gen zu Theil geworden sind 3 ). Dabei ist jedoch zu beachten , dass
&(o$g in dieser technischen Bedeutung erst der späteren Zeit angehört;
das Wort kömmt zwar auch im Kratylos vor, aber nicht in diesem
technischen, sondern nur in seinem etymologischen Sinn 'Beilegung' 4 ),
so dass es bei der hier herrschenden Auffassung der naturbedingten
1) Ex Prodi Schol. ad Cratyl. Excerpta ed. Boissonade, p. 3. c'.
2) vgl. p. 18, (*ij und Gellius N. A. X, 4.
3) p. 5, *'; 6 , $d\
4) vgl. 397, C. 401, B.
.i
.»
*
198 THEODOR BENFEY,
Bildung der Wörter auch bei dieser Statt findet; diese ist unter den
mannigfachen Weisen wie man sich eine natürliche Entstehung der
Wörter vorstellen kann 1 ), hier so aufgefasst, dass der Wortbildner die
Wörter der Natur der Dinge gemäss bildet und sie diesen beilegt, also
eine &€otg vollzieht.
Indem Proclus die untergeordnete Stellung, welche diese Frage in
diesem Dialog einnimmt, verkennt, räumt er ihr eine so grosse Bedeu-
tung ein, dass er — gleichwie später auch die neueren Erklärer —
glaubt, dass der Dialog nothwendig eine Entscheidung darüber enthalten
müsse und Sokrates eigne Ansicht darüber in einer Vereinigung oder
Vermittelung beider Gegensätze findet: 'Sokrates zeige, dass einige
Wörter (pvaei andre auch 96om, wie zufällig entstanden, seien; die Aus-
drücke, welche ewiges bezeichnen, hätten mehr von einer natürlichen,
die welche vergängliches, von einer zufälligen Entstehung' (xai TQfrog
JEwxgccTTjg , oartg imxQtvag, tdtit-e rä fi\v avttiiv htvai (piaet, rä di xai
Stasi, olov TVXJI ysyovota. Tä (xh> yäg inl toig dXdtoig pakkov tov <pvasi
/usrtxsi, tä Si inl zoig g>&aQWig fi&Xkov tov tvx<xIov 2 ). In der That lässt
sich einiges aus dem 2ten Abschnitt z. B. 397, B, 394, E auf den ersten
Anblick zur Noth so deuten , allein , sobald die Analyse den Charakter
des zweiten Abschnitts so wie die Aufgabe des Dialogs überhaupt fest-
gestellt haben wird, wird man erkennen, dass jede Berechtigung fehlt,
anzunehmen , dass der Verfasser dieses Dialogs die Entwicklung seiner
eignen Ansicht über die Frage, ob die wirkliche Sprache durch Natur
oder Willkühr entstanden sei, als einen irgend wesentlichen Theil seiner
Aufgabe betrachtet habe.
Auch bei den Neueren ist. wie gesagt, ihr Hauptaugenmerk darauf
gerichtet, die Ansicht des Verfassers über diese Frage herauszubringen.
Schleiermacher (S. 10) sieht richtig, dass Sokrates gegen Kratylos (im
3ten Abschnitt) 'die Nothwendigkeit , neben dem natürlichen auch noch
ein willkührliches , nur durch Verabredung verständliches Element anzu-
\
\
1) vgl. darüber ehriges jedoch sehr ungenügende bei Proclus p. 8, *£'.
\ 2) p. 5, *', vgl. weiteres aus diesem §. in der Note 2. p. 200.
ÜBER DIE AUFGABE DES PLATONISCHEN DIALOGS: KBATYLOS. 199
nehmen' geltend mache, erkennt aber nicht, dass diess nur eines der
Momente sei, durch welche er nachweist, dass die wirkliche Sprache
auch in der Kratylos'schen Auffassung den Forderungen der Richtigkeit
nicht entspricht. Weiter findet er dann, dass das 'was' er zu diesem
Zweck 'vorträgt, schwächer erscheint und auch nur als eine Ausrede
dessen, der nicht völlige Rechenschaft zu geben weiss.' Man sollte
meinen, dass ein solcher Verehrer des Plato, welcher keinen Zweifel
hegte, dass der Kratylos von diesem abgefasst sei, bei Niederschreibung
der Worte 'der nicht völlige Rechenschaft zu geben weiss' hätte be-
denklich werden müssen, ob er an Plato die Forderung sich über etwas
zu erklären, worüber er, nach seiner eignen Ansicht, 'keine völlige
Rechenschaft zu geben weiss', mit Recht stellen dürfe, ob es im Plan
der Aufgabe, welche Plato in diesem Dialog verfolgt, wirklich lag, dass
er sich darüber zu erklären gehabt hätte. Ich glaube, ein wahrer Ver-
ehrer des Plato oder überhaupt jeder, welcher bemerkt hat, mit welcher
wahrhaft künstlerischen Weisheit dieser alle seine Werke componirt hat,
muss sich sagen, dass, wenn Plato über etwas keine völlige Rechen-
schaft geben konnte, er es entweder gar nicht, oder so behandelt haben
würde, dass man deutlich erkennt, warum es trotz dem behandelt ist.
Aber anstatt sich zu fragen, ob Plato über diese Frage seine eigne
Ansicht überhaupt habe vorlegen wollen und wenn, warum sie dann so
unvollkommen auftrete, heisst es ohne weiteres, ähnlich wie schon bei
Proclus: 'So viel ist deutlich und jeder Unbefangene muss es sehen,
nur durch die Aufhebung des Gegensatzes zwischen der Meinung des
Kratylos und der des Hermogenes sollte sich Piatons Ansicht von der
Sprache darstellen'. Ich glaube, dass ich, wenn irgend Jemand, den
Dialog mit der grössten Unbefangenheit studirt habe, allein ich kann
nirgend eine Absicht erkennen, die Frage durch eine derartige Ver-
mittlung zu lösen.
Ziemlich ähnlich geht es mit Stallbaum. Er meint: obgleich die
Frage, ob die Wörter durch Natur, oder Willkühr und Gebrauch ent-
standen seien, nicht de industria in diesem Buche behandelt sei, doch
Piatons eigne Ansicht ziemlich deutlich (haud obscuris indiciis) kund
i
200 THEODOR BENFEY,
gegeben sei : Nam ex eo quod Hermogenis sententiam usque ad p, 390 E
ita refutat, ut eam ad Cratyli traducat opinionem, vicissim autem inde
a p. 427 E Cratyli rationem convellit sie, ut eam ad Hermogenis senten-
tiam revocare studeat, non obscure intelligitur , ipsum in ea fuisse sen-
tentia, ut utrique rationi aliquid veri subesse judieaverit l ). Selbst wenn
diese Charakterisirung des Kampfes gegen Hermogenes und Kratylos
richtig wäre — die gegen den letzteren ist es aber in dem Umfange ent-
schieden nicht, da die Willkühr, welche Hermogenes für sämmtliche
Wörter annimmt, hier höchstens für die Zahlwörter angenommen wird —
würde doch anerkannt werden müssen , dass wenn eine Entscheidung
über diese Frage ein wesentlicher Theil der Aufgabe wäre, sie nicht in
eine solche Dunkelheit hätte gehüllt sein dürfen, dass man als Resultat
derselben nichts weiter hinstellen konnte, als utrique aliquid veri sub-
esse; man dürfte dann wohl eine klare Andeutung über das erwarten,
was in jeder von ihr wahr sei, so klar, dass man nicht nöthig hätte,
oder sich gar berechtigt glauben dürfte, darüber so willkührliche Auf-
stellungen zu machen, wie z. B. Proclus im weiteren Verlauf seiner
Scholien 2 ).
Ast erkennt als Piatons Ansicht, dass neben den natürlichen und
wesentlichen Elementen zugleich ein conventionelles walte.
Steinhart 3 ) betrachtet Plato 4 als Vermittler zwischen den beiden
entgegengesetzten Ansichten' liest aber ohne alle und jede Kritik seine
eigne sprachphilosophische Ansicht in den Kratylos hinein und aus ihm
heraus. Es mag diess mit der alle seine Einleitungen belebenden, schö-
nen Begeisterung für die Platonische Philosophie entschuldigt werden,
allein schwer zu begreifen bleibt es, wie ihm und andren, welche alle
1) Piaton. Opp. V, 2, 23.
2) Proclus, p. 5, iß'. Ich habe diese Stelle oben absichtlich ausgelassen, will
sie aber hier nachtragen: "On tot dvopaxa, xal xo (fvaei ß%ovxa tov &6an
IMv4%ei xal tä üiasi ovxa xal tov <pv<J€i ftsxslktjtpev xal diä xovxo xd dvopaxa
ndvxa tptiaei xal ndvxa &£gm xal xä plv (pvaei xd di &£ösi. So geistreich
das klingt, so wenig findet sich eine Spur davon im Kratylos.
3) Uebersetzung v. Platon's Werken II, 551.
ÜBER DIE AUFGABE DES PLATONISCHEN DIALOGS: KRATYLOS. 201
sprachphilosophische Weisheit im Kratylos erblicken, die Einseitigkeit
entgehn konnte, mit welcher gvr&rixTi, Vertrag, und g>vatg, Natur, von
dem Verfasser dieses Dialogs theils in ihren äussersten Consequenzen,
theils mit Momenten begleitet hingestellt werden, welche an und für
sich gar nicht nothwendig in ihnen liegen« Die gvp&TJxi], Vertrag, ist
als individuelle, weder zeitlich, noch räumlich beschränkte Willkühr
gefasst, obgleich beide Beschränkungen dem Verfasser des Dialogs wohl
bekannt sind (vgl. 385 A, wo Sokrates fragt: o ßp &fj xaXüp ng PxamoPj '
xoxri taxiv kxüarw opo/ua; und Hermog. antwortet: "E/ioiye Soxsl; dann
wieder Sokr. : xal iäv töicoTijg xaXfj xal iav nöXtg ; A Wie jemand festsetzt,
etwas zu nennen, ist das auch seine Benennung? Herrn. Ja! Sokr.
Sowohl wenn ein Einzelner als wenn die Stadt es (so) nennt?' ferner
433 E fj ods fi&XXov ae ägtaxet 6 rgonog . . . . dia<piQ€iP Sh ovdlv, iav ri
xig £vp&rjrcUj wotibq pvp gvyxenatj idv ts xal xovpapxtov ini /üb? w pvp
o/uixqöp, /utya xaAsiPj inl dl cp fitya, ouixqöv; 'Oder gefallt dir diese
Weise besser und dass es nichts verschlage , ob Jemand den
Vertrag (in Bezug auf den Gebrauch der Wörter) so vollziehe, wie er
jetzt gilt, oder grade umgekehrt das, was jetzt 'klein' bedeutet, mit
dem Worte 'gross' bezeichnet, 'gross' aber, was 'klein'?). Nimmt man
ihr diese Voraussetzungen, so fallt die ganze Widerlegung des Hermo-
genes zu Boden (vgl. jedoch Analyse IV). Ganz eben so ist g>vaig einzig
vom Standpunkt der ganz speciellen Sprachauffassung des Kratylos be-
kämpft, mit Voraussetzung der heraklitischen Etymologien , der Annahme,
dass die Lautcomplexe , welche nur durch Uebereinkommen zur Bezeich-
nung gewisser Dinge gebraucht werden, nicht aber deren naturbedingte
Benennung (in seinem Sinne) sind, den Namen Wörter gar nicht verdienen,
und dass die Wörter die einzige und beste Quelle für die Erkenntniss
der Dinge sein; nimmt man ihr diese Voraussetzungen weg, so fallt
auch ihre Widerlegung über den Haufen. Wer diess gehörig beachtet, *
wird schwerlich umhin können zu bezweifeln, dass der Verfasser dieses
Dialogs überhaupt so hohe und so allgemeine Fragen zu entscheiden
beabsichtigt habe.
Eine Art Vermittlung zwischen <pvoig und &iaig nimmt auch
üitL-Philol Classe. XII. Cc
^ ■
202 THEODOR BENFEY,
Deuschle l ) für unsern Verfasser in Anspruch , doch nähert er sich fast
ganz der Aufstellung der Uebereinkunft als einzigen Princips; man ver-
gleiche S. 70 wo es heisst: 'Plato fühlt sehr wohl, dass man ja dann
vielleicht überhaupt mit diesem Einem Princip' (dem der Uebereinkunft)
• zufrieden sein könnte; allein die (pvoig ist doch immer das höhere und,
wo es möglich ist, muss das der Vernunft am nächsten stehende die
Herrschaft behaupten 435 C An ihn schliesst sichSusemihl 2 ). Deuschle's
• Entwicklung ist zwar sehr scharfsinnig , beruht aber auf einer unrichtigen
Anwendung der Worte "E&og dl Atywv olt-i xi didg>oQov Atysiv SwS^xijg;
fj aXXo xi Atysig xö t>&og fj Sri tyw, oxav xovxo (p&iyywixcu, dutvoovfuu
ixtlvo, ai äh yiyvv&axstg oxi ixsivo diavooiificu; ov xovxo Atysig; 'Glaubst
du denn, wenn du Gewohnheit sagst, etwas andres zu sagen als Ueber-
einkunft? oder willst du mit Gewohnheit etwas andres sagen, als dass
ich wenn ich diess (Wort) ausspreche, jenes (jenen Begriff) im Sinne
habe, und du verstehst dass ich jenes im Sinne habe? Willst du nicht
das damit sagen'. In dieser Bestimmung sieht Deutschle eine Definition
von tdog 'Gewohnheit', welche als subjective ÖQ^önjg 'Richtigkeit' an
die Stelle der auf die <pvoig basirten objectiven trete. Diess ist aber
eine Täuschung , wie sich aus den Worten erkennen lässt , welche wenige
Zeilen weiter folgen 435 B insidrl di xavxa gvyxwQodjbisp .... avayxaiöv
nov xai %vv§r\xr\v xi xai $&og Izv/ißdAAsöd-ai nqbg dtjAiooip <&v dtaroov/usroi
Atyofisv 'da wir aber dieses zugestehen .... so ist es noth wendig, dass
auch Vertrag und Gewohnheit etwas zur Kundgebung dessen was wir
bei unsern Worten im Sinn haben beitragen'. Man sieht aus dem
'etwas beitragen zum', dass 'das Kundgeben dessen, was man im Sinn
hat', nicht mit $&og und Svydijxfi identisch ist, sondern etwas bezeichne
was neben diesen noch etwas andres umfasst. Es ist, um es mit einem
Worte zu sagen, die Definition von Sg&oxijg 'Gemeinverständlichkeit' im
Allgemeinen; diese war nach der bisherigen Deduction von der Natur
der durch die Wörter bezeichneten Dinge bedingt; Sokrates zeigt nun.
1) Die piaton. Sprachphil. S. 69. 70.
2) Die genet. Entwickel. I. 145. 146. 154.
ÜBER DIE AUFGABE DES PLATONISCHEN DIALOGS: KRATYLOS. 203
' dass man zur Erklärung derselben auch Vertrag oder Gewohnheit an-
nehmen müsse. Dass diese Bedeutung des Wortes dQ&ottis in einem
so späten Theil des Dialogs und nur so nebenher erwähnt wird , erklärt
sich daraus , dass das , was dQd-onjg im Allgemeinen sei , als bekannt vor-
ausgesetzt wird, wie der Anfang des Dialogs zeigt, wo weder Kratylos
noch Hermogenes sie definiren. Ist es doch auch die wörtliche ja etymolo-
gische Bedeutung; og&ÖTijg dvofiärwv bedeutet ja nichts andres als 'der
Zustand der Wörter richtig zu sein', d. h. der anerkannte, gemeinver-
ständliche — vom Hörer in demselben Sinn verstandene, den der Spre-
cher damit verbindet — , lautliche Ausdruck ihres Begriffs. Dass diese
oq&öty\q in der wirklichen Sprache existire, darüber ist kein Streit. Die
Frage ist, worauf sie beruhe, wodurch sie entstanden sei, sich erkläre.
Man wird die Richtigkeit meiner Auffassung noch deutlicher erkennen,
wenn man mir erlaubt, selbst auf die Gefahr hin, mich wiederholen
zu müssen — eine Gefahr, die ich übrigens bei einem so schwierigen
und wie ich glaube, so sehr missverstandenen Werke nicht scheuen zu
dürfen meine — auch die erstre Stelle ins Auge zu fassen.
Kratylos hat, wie schon bemerkt, die Richtigkeit der Wörter einzig
aus ihrer Naturbedingtheit erklärt, die nicht naturbedingten sind ihm
gar keine Wörter (383 B); Sokrates zeigte nun in dem was jener Stelle
vorhergeht (434 C ff.), dass er das Wort oxAtiqötijq , trotz dem, dass
es ein, der früheren Ausführung (427 B) gemäss, seiner Bedeutung wider-
sprechendes X enthält, verstehe. Kratylos erklärt diess aus Gewohnheit
und darauf antwortet Sokrates in der angeführten Stelle etwa folgender-
massen: * Magst du den Grund deines Verständnisses dieses Wortes
durch Gewohnheit oder Vertrag erklären, du verstehst es ganz eben so,
wie du ein Wort verstehst, welches deinem Princip gemäss dq&orris hat:
du verstehst es in demselben Sinn welchen ich damit verbinde, indem
ich es ausspreche; es erfüllt also ganz die Funktion eines richtigen
Wortes; du bist also nicht berechtigt ihm den Namen: Wort ovo/ia zu
verweigern , sondern vielmehr verpflichtet anzuerkennen , dass auch t&og
oder £vv\Hixri nicht bloss <pvoig, selbst in deiner Auffassung der wirk-
lichen Sprache, zur d^d-öxris beitrage'.
Cc2
204 THEODOR BENFEY,
Deuschle erkennt übrigens die Dunkelheit, welche auch so fortfahrt
die Frage nach Piatons Ansicht über die Entstehung der Wörter zu
umhüllen, dadurch an, dass er im Voraus bekennt, dass man auf die
wichtige Frage 'wie wird nun in der konkreten Erscheinung das Ver-
hSltniss der <pvoig und der &iaig, die als t&og und gvv&tjxij bestimmt
war, zu denken sein', eine ganz befriedigende Antwort nicht erwarten
dürfe.
Ich kann Deuschle nicht verlassen, ohne den Leser aufzufordern,
sich ernsthaft die Frage aufzuwerfen, ob es auch nur entfernt wahr-
scheinlich sei, dass die Losung einer Aufgabe, von welcher auch ein so
scharfsinniger und tiefsinniger Mann, wie der leider so jung verstorbene
Deuschle war, nicht zu erkennen verwochte, wie er sie gelöst habe, im
Plane des Verfassers dieses Dialogs habe liegen können?
Steinthal l ) folgt Stallbaum darin , dass er den Gegensatz zwischen
Kratylos und Hermogenes, welchen Proclus durch die, wie bemerkt,
einer späteren Nomenclatur angehörigen termini technici <pvoig und &iatg
ausdrückt , dem sonst bei Plato erscheinenden von yvoig und vöfwg unter-
ordnet. Diese Annahme scheint mir irrig; dass vö/iog im Kratylos kei-
nen Gegensatz zu <pvoig bildet , geht mit Entschiedenheit aus 388 D
hervor. Denn von 388 an beweist Sokrates , dass Richtigkeit der Wörter
nur auf einer naturbedingten Bildung derselben beruhen könne; nichts
destoweniger spricht er dem vöfiog die Ueberlieferung der Wörter zu
und nennt den Wortbildner vo/uo&dijg > eine Benennung, die auch von
Kratylos gutgeheissen wird (429 B), obgleich dieser doch entschieden nur
die Naturbedingtheit der Wörter zulässt; vö t uog, Herkommen, verträgt
sich auch in der That mit Annahme der naturbedingten sowohl als der
willkührlichen Entstehung der Wörter; nach welchem Princip sie auch
gebildet sein mögen, das Herkommen fixirt und überliefert sie von Ge-
schlecht zu Geschlecht. An einer Stelle 384 D braucht Hermogenes zur
Bezeichnung seiner Basis der Richtigkeit zwar auch die Worte vo/mo xctl
ff&sij allein dicht davor sind auch gvv&rjxri xai o/uoAoykc genannt, so
l) Geschichte der Sprachwissenschaft bei den Griechen und Römern S. 72 ff.
^i: . -^
• •
ÜBER DIE AUFGABE DES PLATONISCHEN DIALOGS : KRATYLOS. 205
dass man sieht, dass hier die Momente zusammengefasst sind, ans welchen
sich die Richtigkeit der Wörter auch ohne Annahme einer naturbeding-
ten Entstehung derselben erklären lasse, nämlich als wortbildende: Ver-
trag und Uebereinstimmung (d.h. in letzter Instanz Willkühr, s. weiterhin
die Analyse), als fixirende und (die Bedeutung) bewahrende: Herkom-
men (Gesetz) und Gewohnheit.
Was Piatons eigne Ansicht anbetrifft, so schliesst sich auch Stein-
thal , so viel ich ihn zu verstehen vermag , im Wesentlichen an Deuschle
an. Schon aus der eben erwähnten Verbindung von r6 t uog und vofio-
&£vriQ mit g>voig glaubt er folgern zu dürfen , dass Piaton von Anfang an
anzeige, 'wohinaus er will, auf Auflösung des Gegensatzes' (S. 91). S. 103
folgert er aus 435 A. B (was zu der schon bemerkten Parthie gehört , in
welcher Kratylos gezwungen wird, auch die durch £vv&rixri entstandenen
Wörter als Wörter ovo/ucera anzuerkennen): 'Und so ist überhaupt die
öq&öttiq rov ivofiaxog £w&rjxri' (während nach dieser Stelle gw&rjxri nur
w gvfißüMsTcu) 'und es sind nicht etwa zwei Principe, £&og und <pvoig,
in der Sprache nebeneinander wirksam, sondern bloss jenes' (beiläufig
bemerke ich, dass $&og neben gvr&tjXTi von Sokrates gebraucht wird,
nicht allein). 'So hat sich denn das Ergebniss der Untersuchung
schliesslich ganz umgekehrt und' die Benennungen 'erscheinen nun viel-
mehr durchaus nur vö/mo' (von po/uo als Gegensatz von g>vaig ist weder
hier noch überhaupt im Kratylos die Rede). 'Was ist denn nunPlaton's
Ansicht? Das letztere behaupte ich entschieden' (das wäre &£a$g im
Sinne des Proclus). S. 108 heisst es dann wieder: der Kratylos 'zeigt,
dass man zwar meinen sollte, die Sprache müsse nothwendig und durch-
aus yvmi sein; dass aber bei näherer Untersuchung sich ergibt, sie ist
durchaus nicht <pvosi, wenigstens nicht in dem Sinne, dass die Namen
Wahrheit lehrten' (so! 'durchaus nicht . . . wenigstens nicht'; selbst wenn
man diese Beschränkung abzieht, könnte die Sprache noch in einem sehr
hohen Grade <pvasi sein). 'Nicht bloss dass Gewohnheit und Ueberein-
kunft zur (pvoti hinzutreten (das wäre eine sehr oberflächliche Piatons
unwürdige Aussöhnung der Gegensätze)' [dieser Grund kann vielleicht
gelten , wenn man die Autorschaft Platon's für unbestreitbar hält ; wenn
r
206 THEODOR BENFEY,
aber Schaarschmidt Recht hätte, würde diese Aussöhnung nicht abzu-
weisen sein; im Kratylos selbst scheint übrigens Steinthal nichts ge-
funden zu haben, was sie verböte; sonst hätte er dieses statt des
erwähnten sehr subjectiven und darum nicht entscheidenden Grundes
geltend machen müssen]; 'sondern sie sind allein das wirksame Princip
der Sprache (S. 103); und dennoch ist diese ipiazi [eben 'durchaus nicht
<pvau y \ 'Aber wie? Es kommen hier zwei Punkte in Betracht, beide
im Kratylos nur angedeutet und aus ihm zu erschliessen. Den Schluss
aber , den ich .... subjectiv mache , halte ich dennoch .... für objectiv,
insofern Plato erwartete, wir sollten ihn ziehen'. Es würde mich hier
zu weit führen, wollte ich auch die Entwicklung dieser zwei Punkte
aufnehmen ; ich will nur noch den Schluss hinzufügen S. 109 'Allerdings
hat hier Plato ein zweideutiges Spiel mit drjÄwjbict getrieben , wie mit
luctv&avojLisv äAArj/lcw .... Aber von zwei Fällen einer : entweder Plato
hat dies selbst bemerkt, so ist er absichtlich von der ersten Bedeutung
zu der andern übergesprungen und wollte hiermit dem Leser einen An-
haltspunkt für die Bildung der richtigeren Ansicht gewähren; oder er
ist selbst von der einen Bedeutung zur andern gelangt, so können wir
mit nicht geringerer Wahrscheinlichkeit annehmen, dass das der Punkt
war, von dem aus er selbst zur richtigeren Ansicht gelangt ist'. Und
nun frage ich den Leser: Ist es glaublich, dass wenn der Verfasser
dieses Dialogs die Absicht gehabt hätte, seine eigne Ansicht über (pvaig
oder gvv&rjxTi in der wirklichen Sprache der des Hermogenes und Kratylos
gegenüber auseinanderzusetzen, er diese so dunkel und ungelenk dar-
gestellt hätte, dass der Leser nur durch einen subjectiven Schluss aus
zwei nur angedeuteten Punkten und durch Voraussetzungen , welche , wie
sie hier hingestellt sind, weder für den Verstand noch die Ehre des
Verfassers dieses Dialogs schmeichelhaft sind, man kann nicht sagen
zur Erkenntniss oder zum Verständniss , nein nur zur Ahnung derselben
hätte gelangen können? Uebrigens wird dem Verfasser des Kratylos der
Vorwurf eines zweideutigen Spiels mit drikwfia (435 A) und fxav&dvsiv
&XXr\Xwv (434 E) mit Unrecht gemacht. Diese Stellen gehören eben der
Parthie an, in welcher Kratylos gezwungen wird auch Lautcomplexe als
ÜBER DIE AUFGABE DES PLATONISCHEN DIALOGS : KRATYLOS. 207
Wörter anzuerkennen, die nicht den Forderungen entsprechen, welche
er an ein richtiges Wort macht, weil sie in der wirklichen Sprache
völlig dieselbe Funktion erfüllen, wie die nach ihm richtig gebildeten,
indem sie eben so gut, wie diese, dazu dienen, dass wir von einander
lernen und uns einander etwas kund thun. Die daraus zu ziehende Fol-
gerung ist aber nicht, dass also in einer wahrhaft richtigen Sprache gar
nicht nöthig sei, dass die Wörter auch objectiv ihre Bedeutung aus-
drücken, sondern dass die wirkliche Sprache auch in der Kratylos'schen
Auffassung keine wahrhaft richtige sei.
Ganz im Gegensatz zu den bisher besprochenen Auffassungen sind
Hermann l ) und Dittrich 2 ) der Ansicht , dass der Verfasser dieses Dialogs
die naturbedingte Entstehung (q>vaig) der Wörter annehme.
Uebersehen wir nun, wie die Erklärer dieses Dialogs theils die
Schwierigkeit anerkennen, diese Frage zu entscheiden, theils in Bezug
auf sie zu so verschiedenen Annahmen gelangen, dann werden wir uns
wohl überzeugen müssen, dass eine Lösung derselben gar nicht im Plane
des Verfassers gelegen haben könne und diess ergiebt sich auch, wenn
man die Aufgabe des Dialogs so auffasst, wie ich sie auffassen zu müs-
sen glaube.
Danach zeigt Sokrates zunächst, dass nicht eine willkührlichr Ent-
stehung der Wörter wie Hermogenes sie annimmt, eine Richtigkeit der-
selben, d. h. eine richtige Sprache, ergeben könne, sondern nur eine
naturbedingte; dann stellt er die Forderungen hin, welche die Wörter
erfüllen müssen um richtig zu sein, und deutet zugleich an, dass diese
Forderungen in der wirklichen Sprache nicht erfüllt sind; endlich zeigt
er, dass die wirkliche Sprache auch in der Kratylos'schen Auffassung
keine Richtigkeit habe und lässt deutlich genug erkennen, dass eine
wahrhaft richtige Sprache sich nur vom Standpunkt der Ideenlehre con-
struiren lasse.
Ist diese Auffassung richtig — und ich glaube dass die weiterhin
* .
1) Geschichte und Syst. der piaton. Phil. S. 655. n. 473.
2) Proleg. ad Cratyl. p. 52 ff.
208 THEODOE BENFEY,
folgende Analyse ihre Richtigkeit erweisen wird — , so liegt in der
wirklichen Sprache keine Richtigkeit im wahren Sinne des Wortes, son-
dern höchstens in so fern, als die Erscheinungswelt einen — gewisser-
massen unhewussten — Antheil an den Ideen, Anklänge an dieselben hat 1 ).
Die wirkliche Sprache ist eben nur eine Nothsprache, gewissermassen
nur dem Bedürfniss entsprungen und diesem eben genügend, einer philo-
sophischen Betrachtung gar nicht oder kaum werth; höchstens hat sie
gewissermassen eine Verwandtschaft mit der Sprache wie sie sein müsste
und der Ideenlehre gemäss construirt zu werden vermöchte.
Diese theoretische Verachtung der wirklichen Sprache schliesst natür-
lich nicht aus, dass sich der Verfasser des Dialogs ernsthaft mit ihr
beschäftigt und tiefe Blicke in ihr Wesen gethan hat, grade wie der
Politikos und die Republik auch von tiefen Studien und grosser Kennt-
niss der wirklichen Staaten Zeugniss ablegen. Aber da es dem Verfasser
dieses Dialogs nur darum zu thun ist, die Möglichkeit einer richtigen
Sprache vom Standpunkte der Ideenlehre anzudeuten, keinesweges eine
solche — etwa wie den idealen Staat in der Republik — auszuführen,
so können wir im. Gegensatz dazu auch über die Richtigkeit in der wirk-
lichen Sprache höchstens Andeutungen, keine Ausführungen erwarten.
Ueber diese siehe weiterhin.
Eine schwierige Frage bildet ferner die Stellung und Bedeutung
oder überhaupt das Verhältniss der grossen fast rein etymologischen Ab-
theilung unsres zweiten Abschnitts (p. 391 B — 421 C) zu der Aufgabe
des Dialogs.
Dionysius aus Halicarnass 2 ) scheint die Etymologien, welche sich
darin finden, für durchweg ernsthaft genommen zu haben und lässt sich,
da dieser Theil über die Hälfte des Ganzen beträgt , durch dessen Inhalt
1) Vgl. Hermann Gesch. u. Syst. 491. 651. n.458; Deuschle die piaton. Sprachphil.
65; vgl. auch Timaeus 72 D.
2) de comp. voce. 95.
ÜBER DIE AUFGABE DES PLATONISCHEN DIALOGS : KRATYLOS. 209
bestimmen, Etymologie als die eigentliche Aufgabe des Dialogs zu be-
trachten und ihn mgl frv/uoAoylccg zu nennen.
Wenn ihm auch in neuerer Zeit Niemand eine so weitgreifende
Bedeutung zugeschrieben hat, so war er doch vom grössten Einfluss auf
die Auffassung des Kratylos bei Ast und Stallbaum. Erkennend, dass
der grössere Theil dieser Etymologien ironisch, spöttisch und mit Hohn
behandelt ist, betrachten sie als Haupttendenz des ganzen Dialogs eine
Persiflage der sophistischen Sprachforscher. Dabei haben sie aber un-
beachtet gelassen, dass eigentliche Sophisten in diesem Dialog gar nicht
angegriffen, im Gegentheil ganz unberücksichtigt gelassen und geradezu
ausgeschlossen werden (391 B); ferner, dass eine nicht ganz unbeträcht-
liche Anzahl der aufgestellten Etymologien theils nicht unrichtig ist, wie
z. B. die von Ü/Lovrcoy l ), theils ernsthaft hingestellt und ernsthaft ge-
meint ist oder in der damaligen Zeit sein konnte. So schwer und im
Ganzen unnütz es auch sein mag, diese von den scherzhaft oder ironisch
behandelten, verspotteten, verhöhnten, als lächerlich und verkehrt ge-
kennzeichneten zu scheiden, so wird man sich doch auch schon bei
einer übersichtlichen Betrachtung überzeugen , dass die letzteren nur
eben die Majorität bilden. Man kann schon daraus schliessen, dass
Verspottung, wenn gleich nicht der sophistischen, doch der Etymologie
überhaupt — so unverkennbar auch diese mit bezweckt ist — , doch
weder die Haupttendenz des ganzen Dialogs, noch die einzige dieses
Abschnitts sein kann.
Schleiermacher, welcher die ganze sprachliche Untersuchung, trotz-
dem, dass sie den Dialog von Anfang bis zu Ende füllt — wie wir
gleich sehen werden — , nicht für die Hauptaufgabe desselben gelten
lassen will, räumt diesem etymologischen Abschnitt natürlich noch viel
geringere Wichtigkeit ein. Er fordert zwar auf, Ernst und Scherz in
ihm zu scheiden und giebt dafür einige richtige Kriterien, meint dann,
dass sich bei dieser Scheidung ergeben werde (S. 8) , 4 dass Plato sich
nur das Besondere jener Sprachbehandlung abgesteckt hat, um wer weiss
/
1) vgl. Hermann Gesch. u. Syst. S. 656. n. 474.
Hut.- Philo!. Classic XU.
Dd
210 THEODOR BENFEY,
welche Comödie aufzuführen, alles Allgemeine aber .... ernsthaft zu
nehmen ist ... .\ schliesst aber 'diess muss den .... Leser .... geneigt
machen, jenes .... auf sich beruhen zu lassen, als eine .... Neben-
sache'.
Ich gestehe, dass ich sehr bezweifeln muss, ob irgend Jemand,
am wenigsten, wenn er den Kratylos für eine Schöpfung Piatons hält,
dieses Meisters der Composition , welcher , wie wir aus dem Phädros und
andren Werken desselben ersehen, grade so viel Gewicht auf die Kunst,
eine Aufgabe richtig zu behandeln, legte, berechtigt ist, irgend einen
Theil, zumal einen so umfassenden und in sich abgeschlossenen, als eine
Nebensache, als eine 'wer weiss welche Comödie' anzusehen; im Gegentheil
scheint grade er vor allen verpflichtet, dessen Verhältniss zum Ganzen
und den Grund seiner eigentümlichen Composition, dieser Mischung
von Ernst und Scherz, zu erforschen. Aber auch wer diesen Dialog
dem Plato absprechen sollte, wird es nicht wagen sich dieser Aufgabe
zu entziehen; denn es wird ihm bei tieferer Betrachtung desselben nicht
entgehen , dass er auf das allersorgsamste gegliedert und abgerundet ist,
ja in einer Weise durchgeführt , die den Tadel, welchen einige sich
erlaubt haben gegen ihn auszusprechen (selbst Schleiermacher S. 21),
auch nicht im Entferntesten verdient, ja grade in Beziehung auf seine
Composition, so viel ich nach erneuerter Leetüre des Plato zu erkennen
vermag, zu den übrigen Werken desselben ein würdiges Seitenstück
bildet. Grade die schroffen Uebergänge in dem übrigens ziemlich stief-
mütterlich von den bisherigen Forschern betrachteten dritten Abschnitt,
welche Schleiermacher am angeführten Orte tadelt, scheinen mir der
lebendigste Ausdruck der Aufgabe desselben. In der klimaxartigen
Steigerung, in welcher Sokrates die Beweise gegen Kratylos Auffassung
der wirklichen Sprache vorführt, werden diese immer rascher, kürzer,
schlagender, dessen Auffassung in immer mehr beschleunigtem Lauf ge-
wissermassen zu Tode gehetzt. Doch so wenig ich auch verkenne, wie
einflussreich auch die ästhetische Betrachtung der platonischen Werke
für das richtige Verständniss derselben ist, so habe ich sie doch in dieser
Abhandlung principiell ausgeschlossen, um mich desto strenger an den
ÜBER DDE AUFGABE DES PLATONISCHEN DIALOGS: KRATYLOS. 211
einzigen Zweck derselben, die Erkenntniss der Aufgabe dieses Dialogs,
zu halten.
Aber sowohl vom ästhetischen als diesem Gesichtspunkt aus bin
ich überzeugt, dass mit einer Auseinanderreissung des scherzhaft und
ernsthaft gemeinten, selbst wenn sie gelänge, für die Erkenntniss des
Verhältnisses dieses Abschnitts zum Ganzen wenig oder gar nichts ge-
wonnen wäre. Grade in der Durchdringung dieser Elemente scheint mir
im Gegentheil die charakteristische Eigentümlichkeit desselben zu be-
ruhen und also nicht ohne ernste Absicht von dem Verfasser des Dialogs
gewählt zu sein. Wie konnte er auch den Satz : ' so müsste die Sprache
sein, aber kaum in einem oder dem andern Fall lässt sich annehmen,
dass ein Wort die Forderungen, welche ein richtiges erfüllen müsste,
erfülle, in den allermeisten sieht man vielmehr, dass alle Versuche,
sie mit diesen in Einklang zu bringen, vergeblich oder gar verkehrt und
lächerlich sind', zu anschaulicherem Leben erheben, als durch eben
diese inductive wahrhafte demonstratio ad hominem?
Dennoch haben sich fast alle , welche diesem Dialog ihre Aufmerk-
samkeit zugewendet haben, damit begnügt, diesen Abschnitt als eine
zwecklose Mischung von Scherz und Ernst zu betrachten, und benutzen
daraus nur einzelnes, um Piatons Ansicht über die wirkliche Sprache
zu bestimmen.
Der einzige, der den Grund, warum dieser Dialog eine solche Fülle
von Scherz, Ironie, Spott enthält, zu erklären sucht, ist Steinthal, allein
was er beibringt, scheint mir reine Phantasie, würde auch höchstens den
Scherz im Verhältniss zum ganzen Dialog erklären, keinesweges aber
warum er grade nur in diesem zweiten Abschnitt herrscht, während die
beiden übrigen Abschnitte sich ganz ernsthaft, ja mit einer schroffen
Strenge bewegen, mit einem Worte, es würde, selbst wenn es richtig
wäre, für die Erkenntniss des Verhältnisses dieses Abschnittes zu den
beiden umgebenden, für die Stellung und Bedeutung desselben völlig
unfruchtbar sein. 'Plato', heisst es bei Steinthal (S. 95), 'hätte gar zu
gern eine Wissenschaft der Etymologie gesehen und, da sie noch nicht
da war , selbst gegründet. Aber er fühlte , dass er diess nicht vermochte.
Dd2
212 THEODOR BENFEY,
Von dem Grundriss einer Etymologie, den er im zweiten Theil unsres
Dialogs vorträgt, verwirft er Einiges als falsch, Einiges glaubt er halb,
Anderes glaubt er wirklich; beweisen aber kann er weder die Falschheit
des Einen, noch die Richtigkeit des Anderen; und darum giebt er das
Eine wie das Andere dem Spotte Preis'. In dieser nicht zu befriedi-
genden Sehnsucht nach einer wissenschaftlichen Etymologie, die Plato,
obgleich er von ihrer Unerfüllbarkeit , oder Vorzeitigkeit, überzeugt ge-
wesen sei, gewissermassen nicht habe los werden können, findet Stein-
thal den innersten Trieb des Gesprächs 'der es erzeugt hat und von
Anfang bis zu Ende durchzieht' (S. 80 ff.). Plato musste den Reiz der
Wortdeutung * tiefer als irgend Jemand fühlen' (S. 81). Er durfte sich
sagen: 'Wenn die Benennungen nicht pö/lko, Svp&^xh sein können, wenn
sie also noth wendig yvöu sind, sollte dann nicht das Wesen des Dinges
in seinem Namen ausgedrückt liegen? .... Dieser Gedanke konnte
Piaton natürlich kommen, und war er ihm gekommen, so lag es in
Piatons Natur ihn zu verfolgen. . . . Indem er seine Ansichten scherzhaft
und ernsthaft durchführt, löst er sie auf, führt er sie ad absurdum'
(S. 83). Steinthal meint, 'dass Piaton, mit der Ahnung von einer ety-
mologischen Wissenschaft, aber daran verzweifelnd, dieselbe zu begründen,
auch ohne lebhaftes Bedürfniss nach ihr, weil er besseres wusste, diese
seine Ahnung, indem er den Missbrauch der falschen Etymologie geissei te,
zugleich der Verspottung preis gab. Ist diess aber richtig und steckt
hinter aller Ironie noch ein gewisser Schmerz der Selbstpeinigung: so
wäre in unserm Dialoge hinter der fratzenhaften Karikatur ein Medusen-
Haupt zu sehen , dessen schönes Gesicht mit sanften Zügen den Schmerz
über die es umzischelnden Schlangen verräth' (S. 105).
Es gehört viel Phantasie dazu diese Bilder im Kratylos zu sehen,
fast eben so viel, als Steinhart entwickelt, indem er eine ganze moderne
Sprachphilosophie darin erblickt. Jeder, der mit der Nüchternheit, welche
allein zur richtigen Erkenntniss von Thatsachen führen kann , den Dialog
durchliest, wird sich sagen müssen, dass sich auch keine Zeile darin
findet, die eine Spur von Selbstpeinigung kund gäbe, ein der gegebnen
Beschreibung entsprechendes Medusenhaupt hinter sich bärge, oder eine
ÜBER DIE AUFGABE DES PLATONISCHEN DIALOGS: KRATYLOS. 213
verzweifelnde Sehnsucht nach einer wissenschaftlichen Etymologie ver-
riethe. Der Scherz ist weit entfernt mit selbstpeinigendem Humor ge-
mischt zu sein; er ist vielmehr sprudelnder Uebermuth, vernichtende
Ironie. Wenn der Verfasser desselben eine Sehnsucht, wie sie Steinthal
voraussetzt, gefehlt hätte, so müsste in diesem 'Grundriss der Etymologie 1 ,
wie Steinthal, fast in Uebereinstimmung mit Dionysius, der diesen
Charakter jedoch auf das Ganze ausdehnt, diesen zweiten Abschnitt des
Werkes nennt, doch irgendwo eine gewisse Achtung vor der Etymologie
durchschimmern. Statt dessen wird sie aber mit souverainster Verach-
tung oder wenigstens vollständiger Gleichgültigkeit behandelt, ganz in
Uebereinstimmung mit der wichtigsten Nutzanwendung oder Lehre dieses
Dialogs: 'dass aus der etymologischen Erforschung der Wörter keine
Erkenn tniss zu schöpfen sei', ähnlich, wie im Politikos (261 E) über-
haupt gerathen wird, es mit Wörtern nicht so ernst zu nehmen, und
auch in andern platonischen Schriften davor gewarnt wird sich an
Worte zu halten.
Allein wenngleich mir diese Phantasie so wenig begründet scheint,
dass sie keiner Widerlegung bedarf, so will ich doch nicht verkennen,
dass die feine Beobachtungsgabe , durch welche sich Steinthal auszeichnet,
bisweilen das Richtige trifft; dahin rechne ich die Bemerkung, dass
Plato 4 indem er diese Ansichten scherzhaft oder ernsthaft durchfahrt , sie
auflöst, ad absurdum führt' (S. 83). Allein weder sie noch die übrigen
leiten, wie schon gesagt, zur Erkenn tniss des Grundes, warum grade
hier Scherz und Ernst so gemischt, jener so gehäuft ist, noch weniger
lassen sie uns den Zweck dieses Abschnitts und warum er grade diese
Stelle einnimmt erkennen.
Er macht auf den ersten Anblick in der That den Eindruck einer
Comödie, um Schleiermachers Auffassung ins Gedächtniss zurückzurufen,
eines scherzhaften Intermezzo, eines lustigen, übermüthigen , etymologi-
schen Feuerwerks, welches zwischen den trocknen und kalten Wider-
legungen des Hermogenes und Kratylos aufgeführt, eine belebende, er-
frischende Abwechslung bietet und neben seinem Hauptzweck höchst
wahrscheinlich auch diesem sich von selbst ergebenden untergeordneten
214 THEODOR BENFEY,
dienen sollte. Allein ein Intermezzo darf keinen grössern Raum ein-
nehmen, als das ganze eigentliche Werk, und ein decoratives Element
ist nur dann berechtigt, wenn es naturgemäss aus dem nothwendigen
gleichsam herauswächst. So ist auch von diesem Abschnitt vornweg zu
vermuthen, dass er ein für die Oeconomie des Ganzen nothwendiger
und an seiner richtigen Stelle stehender Theil sei.
Die Analyse wird nun ergeben, dass er, wie er die Mitte des
Dialogs einnimmt, so auch den Kardinaltheil desselben bildet und mit
vollem Recht diese umfängliche Behandlung erhalten hat.
Nachdem Sokrates im ersten Abschnitt dialektisch gezeigt hat, dass
eine Richtigkeit der Benennungen nur Statt finde, wenn diese durch
die Natur ihres begrifflichen Inhalts bedingt sind, zeigt er hier im An-
schluss daran, wie er sich diese Naturbedingtheit derselben vorstelle,
deutet aber schon an, dass sie sich in der wirklichen Sprache nicht
nachweisen, schwerlich anerkennen lasse; mit dieser Andeutung greift
er vor und ein in den dritten Abschnitt, in welchem, wiederum dialek-
tisch, bewiesen wird, dass die wirkliche Sprache auch in der Kratylos-
schen Auffassung die Forderungen nicht erfülle, welche die Wörter, um
richtig zu sein, erfüllen müssten.
Indem nun, wie wir gesehen haben, diejenigen, welche den Zweck
dieses Dialogs zu erforschen suchten, zunächst etwas anderes von ihm
verlangten als in seiner Aufgabe lag — nämlich die eigne Ansicht des
Verfassers über die Frage, ob die Wörter durch Vertrag und Ueberein-
kunft (Willkühr) oder durch Naturbedingtheit entstanden seien — dieses
aber mehr oder weniger dunkel, auf keinen Fall so ausgedrückt fanden,
dass sie darin den Hauptzweck des Dialogs erkennen zu dürfen glaubten,
wendeten sie sich der Meinung zu, dass die Untersuchung über die
Richtigkeit der Wörter, trotz dem, dass sie den ganzen Dialog von
Anfang bis zu Ende füllt, gar nicht seine eigentliche Aufgabe bilde,
sondern zwei oder drei andre Tendenzen ihr bei- oder gar übergeordnet
seien.
ÜBER DIE AUFGABE DES PLATONISCHEN DIALOGS: KRATYLOS. 215
So heisst es zunächst bei Schleiermacher (S. 11): 'Allein je mehr
diese Sache' (ich gestehe, nicht sicher entscheiden zu können, ob er
damit 4 die Art und Weise' der Aufhebung des Gegensatzes zwischen
Naturbedingtheit und vertragsmässiger Entstehung der Wörter meint , die
er, wie wir oben gesehen haben, von dem Verfasser verlangt, oder die
Untersuchung über die Basis der Richtigkeit der Wörter überhaupt) 'nur
angelegt, gar nicht zu Ende gebracht erscheint, um so weniger eignet
sie sich .... dazu , der Gegenstand eines eignen Werkes zu sein , son-
dern eher würde sie nur irgendwo beispielsweise .... angeregt wor-
den sein'.
Die Andeutungen , welche ich über meine Auffassung schon gegeben
habe, und die weiter folgende Analyse werden, wie mir scheint, jeden
Unbefangenen überzeugen, dass diese Prämisse keinesweges richtig ist,
indem vielmehr die eigentliche Aufgabe wirklich erschöpfend behandelt
ist. Wir müssen demnach auch dem aus ihr gefolgerten Schluss seine
Berechtigung versagen. Dieser lautet: 'daher muss nun Grund und
Absicht des Werkes in noch andern Beziehungen gesucht werden', worauf
dann vor allem hervorgehoben wird die sich aus der 'Darstellung der
Natur der Sprache' ergebende Folgerung: 'das Verhältniss der Sprache
zur Erkenntniss sei ein solches , dass erstre auf keine Weise .... als
Quelle der letzteren kann angesehen werden , sondern .... eher die
Sprache nur als ein Product der Erkenntniss .... zu betrachten sei'.
Hier hat Schleiermacher richtig gesehen, dass Erkenntniss als die
Grundlage der Sprache hingestellt wird; nur fehlte er darin, dass er
diese Auffassung nicht in enge Beziehung zu dem eigentlichen Inhalt
des Dialogs, der Untersuchung über die Richtigkeit der Wörter, setzte.
Hätte er diess gethan, dann würde er erkannt haben, dass zunächst
statt Erkenntniss bestimmter zu sagen gewesen wäre: 'richtige Erkennt-
niss' und dass nach dem Verfasser dieses Dialogs nicht jede Sprache
Troduct einer richtigen Erkenntniss sei, sondern nur eine solche, welche
den Anforderungen entsprechen will, von deren Erfüllung nach Sokrates
die Richtigkeit der Wörter abhängt; mit andern Worten, nicht die wirk-
216 THEODOR BENFEY,
liehe, sondern die Sprache, wie sie sein müsste und vermittelst der
Ideenlehre construirt zu werden vermöchte. Dieser Gedanke tritt schon
mit Entschiedenheit im ersten Abschnitt hervor, wo Sokrates eine natür-
liche, auf die Kenntniss des sldog, der <pvaig y ovafo der Dinge gegrün-
dete, Richtigkeit der Wörter verlangt, ferner im zweiten, wo er zeigt,
worin diese Richtigkeit bestehen müsste, nämlich darin, dass die Be-
nennung das Wesen der Dinge lautlich reproducirt oder überhaupt kund-
giebt, und endlich im dritten, wo er nachweist, dass die wirkliche
Sprache auch in der Kratylos'schen' Auffassung keine Richtigkeit der
Wörter haben könne, weil sie nicht aus einer richtigen Erkenntniss her-
vorgegangen sei (vgl. weiterhin IV und VI). Hätte Schleier macher das Ver-
hältniss der richtigen Erkenntniss zur Sprache so gefasst , so würde ihm
auch nicht entgangen sein, dass es nicht eine aus der Darstellung der
Natur sich ergebende Folgerung ist, sondern vielmehr die ganz eigent-
liche Basis dieses Dialogs; die wirkliche Sprache, sowohl im rein empi-
rischen als im Kratylos'schen Sinn, beruht auf keiner richtigen Erkennt-
niss und ist desswegen unfähig die Forderungen, von denen Sokrates
die Richtigkeit der Wörter abhängig macht, zu erfüllen; erst die Ideen-
lehre macht eine richtige Erkenntniss der Dinge möglich, folglich ist
nur auf Grundlage von dieser eine richtige Sprache construirbar.
Auch Stallbaum und Deuschle sehen die Hauptaufgabe des Dialogs
in der Bestimmung des Verhältnisses der Erkenntniss zur Sprache, legen
jedoch nicht das Gewicht auf die Sprache, wie bei Schleiermacher in
Uebereinstimmung mit dem ganzen Inhalt des Dialogs geschieht, sondern
im Gegentheil auf die Erkenntniss, indem sie als das Hauptergebniss der
Untersuchung den Satz hinstellen : dass Erkenntniss nicht aus den Wor-
ten, sondern aus den Dingen selbst zu schöpfen sei. So heisst es bei
Stallbaum (p. 24) : 'Nam illud potius egit' (Plato) 'quam maxime (im
Gegensatz zu der Vermittlung zwischen <pvoig und p6/uog> und der Ver-
spottung der verkehrten Etymologien, welche er schon als Zwecke des
Dialogs hingestellt hatte), ut rerum cognitionem non ex umbris vocabu-
lorum, sed ex ipsa earum vi et natura hauriendam esse doceret; bei
Deuschle (S. 47) wird als Hauptresultat des Kratylos hingestellt 'dass
ÜBER DIE AUFGABE DES PLATONISCHFN DIALOGS: KRATYLOS. 217
die wahre Erkenntniss nicht in der Untersuchung der Sprache, sondern
des Seienden, selber zu suchen sei'.
Diese Auffassung kann sich, soviel ich zu erkennen vermag, nur
auf drei Stellen stützen , nämlich zunächst auf 436 B , wo gezeigt wird,
dass die wirkliche Sprache in der Kratylos'schen Auffassung materiell un-
richtige Wörter enthalte, indem ihre Wörter nur nach der Meinung gebildet
seien, welche die Namengeber von den Dingen hatten, also desswegen
' nicht die Aufgabe einer richtigen Sprache erfüllen, über die Dinge,
welche sie bezeichnen, eine richtige Belehrung zu geben; ferner 438 D —
439 B, wo gezeigt wird, dass wenn die Wörter auch ein noch so gutes
Mittel wären, die Dinge durch sie kennen zu lernen, ihnen doch auf
jeden Fall die Erkenntniss der Dinge durch diese selbst vorzuziehen sei;
endlich 440 D, wo jedoch nur die negative Seite hervorgehoben wird, dass
man sich nicht blossen Worten anvertrauen und nicht glauben solle, aus
ihnen Weisheit schöpfen zu können.
Dass man diesen Stellen eine solche Bedeutung für den ganzen
Dialog zuschreibe, verbietet aber, ganz abgesehen von dem übrigen
Inhalt des Dialogs, welcher eine andre Auffassung bedingt, schon der
Zusammenhang in welchem sie erscheinen.
Die ersten beiden bilden Beweismittel gegen die Bichtigkeit der
Wörter in der wirklichen Sprache, wie diese von Kratylos aufgefasst
wird. Sie haben also nicht mehr Anspruch darauf die Hauptaufgabe
des Dialogs auszudrücken, als das vorhergehende und die folgenden
Beweismittel. In der klimaxartigen Form, in welcher diese Beweise
vorgefahrt werden, nehmen sie weder die höchste noch auch nur eine
besonders über- oder hervorragende Stelle ein; die folgenden sind viel-
mehr noch höhere Gradationen; auch bilden sie nicht den Schluss der
Beweisführung , so dass man etwa sagen könnte , die ganze Untersuchung
spitze sich darin zu. finde ihren Abschluss in ihnen.
Die dritte Stelle nun bildet zwar den Schluss, allein sie schliesst
sich eng an das letzte Beweismittel , von welchem das in ihr Gesagte nur
eine Anwendung ist. In diesem werden, wenn gleich in der fast durch-
weg gewählten hypothetischen und bescheidnen Form, doch, mit Rück-
Hist.-Philol. C lasse. XII. Ee
4
*
218 THEODOR BENFEY,
sieht auf die Verhöhnung der heräklitischen Etymologien " im zweiten
Abschnitt, auf das allerentschiedenste , alle diese Etymologien aus 'Fluss
und Bewegung' in Bausch und Bogen und damit die ganze Hauptgrund-
lage , auf welche Kratylos seine Behauptung der Richtigkeit der Wörter
in der wirklichen Sprache stützt, verworfen. Daran schliesst sich dann
auf das Allernatürlichste die Aufforderung sich der Etymologie überhaupt
nicht anzuvertrauen, am wenigsten aber einer solchen, die, wie die der
Herakliteer, alle Dinge so erscheinen lässt, als ob an ihnen nichts ge-
sundes wäre. Diese Aufforderung hat also keine grössere Bedeutung als
die einer Nutzanwendung, welche, wenn gleich sie nicht der eigentliche
Zweck des Dialogs war, doch sich ungesucht von selbst aus ihm ergab
und gegen philosophische Richtungen , die , wie Kratylos , die Wörter für
das einzige und beste Mittel der Erkenntniss erklärten (436 A) , wohl ver-
diente, besonders hervorgehoben zu werden.
Uebrigens bin ich weit entfernt zu verkennen, dass fast alle Beweis-
mittel in diesem Dialog mit einer Schärfe und Bestimmtheit hingestellt
werden, welche sie fast befähigt, aus ihrem Zusammenhang, gewisser-
massen ihrer untergeordneten Stellung, herauszutreten und sich selbst-
ständig geltend zu machen. Daraus erkläre ich es, dass Hermann (S.
495) gradezu behauptet 'alle jene Ansichten über die Sprache bekämpfe
Piaton nur um der philosophischen Consequenzen willen, die daraus her-
vorgingen' (vgl. auch Susemihl I, 146). Habe ich dem bisher bemerkten
und in der Analyse zu entwickelnden gemäss mit Recht behauptet und
nachzuweisen gesucht, dass der Verfasser des Dialogs die Hauptfrage
über die Richtigkeit der Wörter auch keinen Augenblick aus dem Auge
verliert, so sind alle Erörterungen und Beziehungen z.B. auf Protagoras,
Euthydemos, Heraklit, die eleatischen Ansichten u. s. w. dem Zweck,
den der Verfasser verfolgt , untergeordnet , aber , wie schon bemerkt , mit
einer solchen Bestimmtheit behandelt, dass sich auch unverkennbar er-
giebt, was von ihnen an und für sich zu halten sei. So z. B. dient der
Angriff auf Protagoras (385 E ff.) nur als Mittel die Notwendigkeit einer
objeetiven Richtigkeit der Wörter nachzuweisen, wird aber zugleich so
geführt, dass dadurch die Notwendigkeit einer objeetiven Wahrheit
ÜBER DIE AUFGABE DES PLATONISCHEN DIALOGS: KRATYLOS. 219
überhaupt klar wird. Der Nachweis, dass die heraklitische Philosophie
die Erkenntniss der Dinge unmöglich mache (439 C ff.) , dient zwar hier
nur dazu, festzustellen, dass die wirkliche Sprache auch in der Kra-
tylos'schen Auffassung, die sich wesentlich auf Heraklits philosophisches
Princip stützt , keine Richtigkeit der Wörter habe ; er ist aber so gefülirt,
dass er für eine selbstständige Deduction gelten kann. Diess alles im
Einzelnen durchzuführen würde jedoch eine Kenntniss der alten Philo-
sophie erfordern, welche ich, wie ich gern zugestehe, nicht zu bean-
spruchen vermag.
Allgemein anerkannt ist, dass unser Dialog in einem nahen Ver-
hältniss zur platonischen Ideenlehre steht. Schleiermacher sagt in Bezug
hierauf (S. 17): 4 ausser allem diesen führt der Kratylos auch .... die
wissenschaftlichen Zwecke des Piaton weiter .... Vorzüglich .... ist
hieher zu rechnen. Zuerst die Lehre von dem Verhältniss der Bilder
zu den Urbildern, wobei in der That die Sprache und ihr Verhältniss
zu den Dingen nur als Beispiel zu betrachten ist, wodurch aber Piaton
eigentlich eine Ansicht der Lehre von den Ideen und ihrem Verhältniss
zur erscheinenden Welt zuerst aufgestellt hat'. ...
Susemihl (I. 158) sieht in der Aufstellung und Begründung der
Ideenlehre das eigentliche Gesammtresultat dieses Dialogs : 4 der Dialog',
heisst es an der angeführten Stelle , ' schliesst sonach mit der Aufstelking
der Ideenlehre und ihrer Begründung auf das eleatische Sein. Diess ist
aber nicht als ein über den wesentlichen Zweck desselben hinübergrei-
fender Anhang' (wie Ast und Steinhart meinen), * sondern als das
eigentliche Gesammtresultat zu betrachten'. Wesentlich eben so Steinthal
iß. 109): 'Man kann keinesweges sagen, im Kratylos sei die Sprache
eigentlicher Gegenstand; diess ist nur die Begründung der Ideenlehre
mit Abweisung der falschen Anwendung der Wörter zur Erkenntniss.
So kommt nun Plato auch im Theaetet und Sophisten nur gelegentlich
auf die Sprache, um ihr wahres Verhältniss zur Dialektik darzulegen'.
Wie wenig angemessen dieser Vergleich ist, erkennt jeder, wenn er
Ee2
220 THEODOR BENFEY,
nur den Raum vergleicht, welchen die Betrachtung der Sprache in die-
sen drei Dialogen einnimmt; während dieser in letzteren beiden ganz
unbedeutend ist, handelt der Kratylos von der ersten bis fast zu der
letzten Zeile von Wörtern. Ja ! bis zu Ende ! denn keinesweges schliesst
er mit dem Beweise, 'dass die Dinge vielmehr aus sich selbst, d. h.
aus .... den Ideen erkannt werden p. 439 B', wie es bei Susemihl (S.
158) unmittelbar vor der angeführten Stelle heisst. Es folgen vielmehr
noch zwei Beweise gegen die heraklit - kratyWsche Richtigkeit der wirk-
lichen Sprache, 1. dass das heraklitische Princip weder eine Aussage,
noch eine (richtige) Erkenntniss ermögliche, also auch keine Richtigkeit
der Wörter; 2. dass, wenn das eleatische Princip richtig, die herakliti-
sche Worterklärung, auf welche Kratylos seine Ueberzeugung , dass die
wirkliche Sprache eine richtige sei , stützt , in Bausch und * Bogen zu
verwerfen sei. So wie diese zwei Beweise noch gegen die Kratylos'sche
Richtigkeit zielen, so natürlich auch der ihnen vorhergehende, auf wel-
chen sich die Ansicht, dass die Idcenlehre in diesem Dialog begründet
werde, vorzugsweise stützt. Sein nächster Zweck ist, zu zeigen, dass
die Kratylos'sche Anschauung die Erkenntniss nicht aus ihrer richtigen
Quelle: den Dingen selbst, schöpfe, also auch desshalb keine richtigen
Wörter bilden, keine Richtigkeit der Wörter haben könne.
Ueberhaupt kann ich mich nicht enthalten «u bemerken, dass der-
jenige, welcher in diesem Dialog eine Begründung der Ideenlehre findet,
von dem, was man in der Wissenschaft 'begründen* nennen darf, eine
sehr bescheidene Vorstellung hegen muss; nachträglich bezeichnet sie
übrigens Susemihl selbst (S. 160) 'als eine nur vorläufige'.
Natürlich bin ich weit davon entfernt, zu verkennen, und habe
auch schon angedeutet (S. 216) , dass durch den ganzen Dialog unver-
kennbare, ja starke Beziehungen auf die Ideenlehre hervortreten, so
insbesondre in den schon fast technisch gebrauchten Wörtern sldog, ld£a ß
ovaCa (386D.E; 388C; 389 B. CD; 390A; 423E; 424D; 436E; 439 E),
in dem häufigen Zusatz von avxö y avrö S t-Gti, avrb ixelro o tau (vgl.
Susemihl I. 161) u. s. w. und vor allem gegen das Ende 439 C 'denn
siehe .... was mir oft im Traume vorschwebt. Dürfen wir sagen , dass
ÜBER DIE AUFGABE DES PLATONISCHEN DIALOGS: KRATYLOS. 221
das Schöne und Gute an sich etwas sei und so jedes eine der Dinge,
oder nicht?' 1 ). Allein in allen diesen Beziehungen wage ich weder eine
Begründung, noch auch nur eine Aufstellung der Ideenlehre zu sehen.
Jeder Unbefangene, welcher das erste Gesetz der Hermeneutik im Auge
behält, ein Werk so weit als möglich zunächst aus sich selbst zu er-
klären, kann nur Andeutungen derselben in ihnen erblicken und höch-
stens kann ein Streit darüber entstehn, ob die Ideenlehre als eine eben
erst im Geiste ihres Schöpfers keimende, oder als eine wenigstens im
Wesentlichen schon vollendete vorausgesetzt wird. Ich weiss, wie viel
von der Entscheidung dieser Frage — wenn man die Autorschaft des
Piaton für unsern Dialog gelten lässt — abhängt und, im Bewusstsein
meiner schon eingestandenen keinesweges genügenden Kenntniss der pla-
tonischen Werke und Philosophie , wage ich es nicht , näher auf sie ein-
zugehen, doch darf ich nicht unbemerkt lassen, was dem aufmerksamen
Leser auch ohne diess nicht entgehen würde, dass das Verhältniss,
welches ich zwischen der Untersuchung über die Richtigkeit der Wörter
und der Ideenlehre in diesem Dialog annehme, zwar auch im erstem
Fall bestehen könnte, viel wahrscheinlicher jedoch auf einer schon im
Wesentlichen vollendeten Gestaltung — wenn auch noch nicht literari-
schen Veröffentlichung — derselben beruht. Denn schwerlich kann es
gerechtfertigt erscheinen, auch nur anzudeuten, dass die Ideenlehre in
ihrem Schooss die Construction einer richtigen Sprache trage, wenn sie
selbst erst im Keime existirte. Ich betrachte daher sowohl den eben
angeführten Satz, wonach die Ideenlehre dem Sokrates erst wie im
Traume vorschwebt, als den ihm um wenige Zeilen vorhergehenden,
wo er sagt, 'dass es vielleicht über seine und Kratylos Kräfte gehe,
zu erkennen, auf welche Weise man die Dinge erlernen oder finden
könne' 2 ), nur als bescheidne Wendungen und setze voraus, dass der
Verfasser dieses Dialogs die Ideenlehre schon als wenigstens im Wesent-
1) ax&ibat yaQ . ... o sycoye nolLXdxig dveiQoixxw novsqov tpäpiv n slvai aixo
xuXdv xal äya&dv xal $v bta&tov tcov ovxwv ovxwg, ij pij ;
2) 439 B ovnva fiiv xoiwv xqonov dsX pavvtomv rj svqUsxsw xd ovxa, (mT&v
licroog iazlv iyvoaxivai jj xax* ipe xal a£.
222 THEODOR BENFEY,
liehen vollendet ansieht. Damit stimmt auch Stallbaum überein, in-
dem er sagt : Etenim Heraclitei quum etymologia ita abusi essent,
ut sua ipsorum opinionum commenta exinde confirmarent, faciendum
philosophus judieavit, ut non modo illorum rationem rideret et convel-
leret, sed etiam suam ipsius de ideis doctrinam eorum decretis oppo-
neret .... Quocirca dialogo extremo doctrinam de ideis opinionibus
Heraciiteorum e regione collocavit.
Die in diesen Worten ausgedrückte Ansicht steht in einem so eigeii-
thümlichen fast möchte man sagen verwandten Verhältniss zu der mei-
nigen, dass ich nicht umhin kann, es schon hier hervorzuheben und
kurz zu erörtern, nicht ganz ohne Hoffnung, dass es vielleicht dazu
beitragen wird, den Leser in eine ihr günstige Verfassung zu versetzen.
Ich nehme ganz wie Stallbaum an, dass die Ideenlehre dem, was
in diesem Dialog widerlegt wird , entgegengesetzt ist. Allein ich weiche
darin von ihm ab, dass ich es nicht als die Aufgabe dieses Dialogs
betrachte, die Behauptungen jener Philosophen überhaupt zu widerlegen,
sondern nur deren Ansichten in Bezug auf das, was den eigentlichen
Stoff dieses Dialogs bildet : die Richtigkeit der Wörter in der wirklichen
Sprache. Ist also die Widerlegung jener Philosophen nur auf diesen
Gegenstand beschränkt , so gilt auch dieselbe Beschränkung für die Ideen-
lehre; mit andern Worten: wird nachgewiesen, dass die Kratylos'sche
Auffassung der wirklichen Sprache keine Richtigkeit der Wörter ermög-
liche, so wird im Gegensatz dazu behauptet, dass die Möglichkeit einer
richtigen Sprache in der Ideenlehre gegeben sei, ähnlich wie sie auch
im Gegensatz zu dem unrichtigen wirklichen Staat die Möglichkeit eines
richtigen Staates gewährt. Diese ideale Sprache wird nur angedeutet,
ähnlich wie im Politikos der ideale Staat. Gäbe es unter den platoni-
schen oder für platonisch gehaltenen Schriften auch eine der Republik
analoge Construction einer idealen Sprache, so würde sich der Kratylos
ungefähr dazu verhalten, wie der Politikos zu dieser.
Ob diese Auffassung berechtigt ist, oder nicht, wird sich nur durch
eine Analyse des Dialogs feststellen lassen, welche zu umgehen, so be-
kannt auch dieses Werk ist, ich mir desshalb nicht erlauben darf.
ÜBER DIE AUFGABE DES PLATONISCHEN DIALOGS : KRATYLOS. 223
IV.
Der Dialog beginnt damit, dass Hermogenes dem Sokrates mittheilt,
dass zwischen ihm und dem ebenfalls anwesenden Kratylos ein Streit
über die Richtigkeit der Wörter entstanden sei. Kratylos behaupte , ' die
richtige Benennung für jede Sache sei eine von Natur entstandene x ),
und nicht das sei eine Benennung, womit einige (etwas) lautlich bezeich-
nen, nachdem sie übereingekommen sind, es so zu bezeichnen, indem
sie ein Theilchen ihrer besondern Sprache dabei erklingen lassen , sondern
es gebe eine gewisse Richtigkeit der Benennungen, welche sowohl bei
den Hellenen, als allen Barbaren dieselbe sei' 2 ).
Hiernach scheidet Kratylos den Sprachschatz jeder besonderen
Sprache in zwei Theile, in Lautcomplexe , welche die durch Natur ent-
standene (natürliche) Richtigkeit haben, welche bei allen Völkern die-
selbe sei, und solche die sie nicht haben, sondern durch Uebereinkunft
(o gvv&(fi€Poi xaZeiv xaAcooi, d. i. £w#ij#jj) zum lautlichen Ausdruck
mancher Dinge dienen; nur jene lässt er für Benennungen gelten, die-
sen spricht er diesen Namen ab; vergleiche 429 B, wo Sokrates fragt:
'Also sind alle Benennungen richtig'? und Kratylos antwortet: *Ja! die
welche wirklich Benenunugen sind' 3 ); 436 C, wonach eine ohne Kennt-
niss der Sache gegebene Benennung gar kein Name sein soll 4 ) ; 429 C,
wonach ein nicht in diesem Sinn richtiger Lautcomplex dem dadurch be-
zeichneten Gegenstand nicht allein nicht mit Recht zukomme , sondern gar
nicht zukomme, nur zuzukommen scheine, in Wahrheit aber der Name
von einem andern sei, dessen Natur mit der Benennung übereinstimmt 5 ).
1) oPÖfHxtog ÖQ&ozfjta slvai kxdaxco tmp ovxwv tpvGst nstfvxvlav.
2) xal od vovto elvcu ovopa 8 äv tivsg %vv&i(i6VOi xaksTv xaX&to, ttj$ am&v
(ftovrjg (möqiop im(p&€yy6(A6VOij äXhx uQ&OTtjTd nva %&v dropcirtov TUtpvxivai
xal "Elltjöi xal ßccQßccQOig ttjv avx^v anaütv.
3) ndvxa doa xd dvopata 3q&ü)$ xeTxcu; Koax.*OGa ys dvopaxa etinv,
4) dvayxatov . . . eldoxa xi&etf&ai xbv n&ifAevov xd 6v6(iaxa 9 sl di [jhj .... oW dv */.,
ivopaxa ety.
5) JSoüxq qpßpcv .... xeZG&cu pfr, od pivxoi ÖQ&cog y€; Kqax. Odde xeltiScu
spoiye doxsl . ... dXld doxsXv xela&ai, ehcc* di kxioov xovxo xovvopa, oiirsg
xal ij (pvtftg ij xd ovopa dfjlovöa.
■* ■
224 THEODOR BENFEY,
Es ist schon oben (S. 202) bemerkt, dass dQ&onjg dvojuccTcor 'Richtig-
keit der Wörter' eigentlich den Zustand der Wörter gemeinverständlich zu
sein bezeichnet. Es sind also von diesem Gesichtspunkt aus alle Wörter
richtig, welche so beschaffen sind, dass der Hörer sie in demselben
Sinn versteht, welchen der Sprechende damit verbindet (vgl. 434 E und
435 B oben S. 202) ; es ist diess nur ein Ausdruck , wodurch die in allen
Sprachen erscheinende Thatsache bezeichnet wird, dass die einem be-
stimmten Begriff entsprechenden Lautcomplexe insofern dessen richtiger
Ausdruck sind, als sie denselben Begriff in dem Hörer hervorrufen.
Diese Bedeutung hat Kratylos aufs stärkste beschränkt; unter den in
der wirklichen Sprache zur Bezeichnung eines Gegenstandes dienenden
Lautcomplexen schreibt er nur denen Richtigkeit zu, welche durch die
Natur der Gegenstände , die sie bezeichnen, entstanden (deren natürlicher
naturgemässer Ausdruck) sind; den durch Uebereinkunft entstandenen
verstattet er nicht einmal das Recht für Wörter angesehen werden zu
dürfen. Damit tritt uns sogleich der Gegensatz zu Hermogenes vollständig
gegenüber. Wir haben schon bemerkt und werden gleich sehen, dass
dieser die Richtigkeit der Wörter nur aus Vertrag u. s. w. ^vpdrjxij ab-
leitet, so dass seine Wörter in Kratylos Augen gar nicht einmal Wör-
ter sind.
Hat Kratylos die Richtigkeit nur auf einen Theil der Lautcomplexe
beschränkt, so giebt er ihr die umfassendste Ausdehnung nach einer
andern Seite.
Diese so beschränkte Richtigkeit ist ihm nämlich allen Sprachen
gemeinsam. Beachten wir, dass Hermogenes bei Gegenüberstellung der
eignen Ansicht, wonach die Richtigkeit der Wörter nur auf Vertrag u. s. w.
beruht, sich auf die Verschiedenheit der Benennungen derselben Gegen-
stände in verschiednen hellenischen Städten und bei den Barbaren be-
ruft (385 D.E), so wie dass Sokrates in der Ausführung seiner eignen
Ansicht über das naturgemässe Verhältniss zwischen Wort und Begriff
ausdrücklich hervorhebt, dass auch bei Voraussetzung dieses Verhältnisses
keine Uebereinstimmung der Benennungen bei allen Völkern nothwendig
sei (390 A wo das iär ts ir&äde idv rt aV ßctQßÜQOig und röv rs iv&äde
ÜBER DIE AUFGABE DES PLATONISCHEN DIALOGS : KRATYLOS. 225
xccl xbv iv ßagßaQoig dem xccl "EXXvfit xccl ßccQßaQotg 383 A entspricht),
so i5t diese Bestimmung wohl unbedenklich so zu verstehen, dass Kra-
tylos der von ihm angenommenen Bedingtheit der Wörter durch ihren
begrifflichen Inhalt eine solche Macht einräumt, dass dadurch bei allen
Völkern für dieselben Dinge dieselben Namen hervorgebracht seien. Nur
dadurch scheint sich mir auch seine Scheidung des Sprachinventars in
richtige Wörter und Lautcomplexe , die gar keine Wörter sind, noth-
wendig gemacht zu sein. Denn ein Mann, welcher die haarsträubenden
für heraklitisch gelten sollenden Etymologien billigt, welche im zweiten
Abschnitt vorgebracht werden , nahm gewiss nicht den geringsten An- . '
stand jedes Begriffswort auf ähnliche Weise als naturbedingt nachzu-
weisen, so dass bloss die wenigen Eigennamen übrig geblieben wären,
welche der Natur ihrer Träger nicht entsprechen. Dass derentwegen
aber eine derartige Scheidung des Sprachinventars gemacht sei , ist kaum
auch nur im Entferntesten glaublich. Es scheint vielmehr seine Ansicht
zu sein, dass jedes Sprachinventar in zwei Theile zerfalle, in einen
richtigen, allen Völkern gemeinsamen, und einen jeder Sprache beson-
deren, welcher den Namen ivöficcrcc nicht verdiene. Dass er die Ety-
mologien, welche Sokrates aus dem Griechischen giebt, billigt und diese
dadurch auch als in seinem Sinn richtige anerkennt, entscheidet dagegen
nicht, da diese im Sinn von Sokrates Auffassung der Naturbedingtheit »
gegeben werden, welche Kratylos durch seine Billigung 427 D ff. auch
zu der seinigen gemacht hat.
Uebrigen8 bescheide ich. mich gern auf eine ganz sichere Meinung
darüber vi verzichten, da ich keine Stelle finde, in welcher genauer
angedeutet wäre, wie Kratylos oder die unter seinem Namen angegriffe-
nen Philosophen sich diess Verhältniss im Sprachinventar eigentlich vor-
gestellt haben, wie denn überhaupt sowohl von Kratylos als Hermogenes
Ansicht nicht mehr gesagt wird, als zur Widerlegung derselben noth- -
wendig ist. t
Was jene betrifft, so findet sich zunächst an unsrer Stelle noch
eine nähere Bestimmung derselben, andre ergeben sich theils aus dem
dritten Abschnitt, in welchem Kratylos bekämpft wird, theils mögen sie
Hist- Philo!. Classe. XU. Ff
226 THEODOR BENFEY,
aus der Zustimmung zu erschliessen sein, die er Sokrates Ausführungen
ertheilt. *
Aus unsrer Stelle ersehen wir , dass Kratylos sein Princip der Rich-
tigkeit selbst auf die Eigennamen ausdehnt; auch hier erkennt er nur
solche Eigennamen als richtige an , welche mit dem Charakter der Träger
derselben übereinstimmen.
Da er allen durch Uebereinkunft zur lautlichen Bezeichnung von
Gegenständen verwendeten Lautcomplexen den Charakter Benennungen
(Namen, Wörter) zu sein abspricht, dazu aber vorzugsweise die Eigen-
namen zu gehören scheinen müssen , da die Griechen gewohnt waren,
sie insbesondre bei den Sclaven ganz willkührlich umzugestalten, sie
aber andrerseits * grade am entschiedensten sich als Namen von etwas
kund geben, indem jeder auf seinen Eigennamen hört, so fragt ihn
Hermogenes, augenscheinlich um ihn von der Absurdität dieser Schei-
dung des Sprachinventars in Namen und Nichtnamen zu überzeugen, ob
4 er selbst denn mit Recht den Namen Kratylos habe oder nicht' l ).
Kratylos lässt sich nicht irre machen, sondern antwortet ruhig, 'ja
wohl', indem er, wie sich aus der ganzen weiteren Entwickelung , ins-
besondre dem etymologischen (zweiten) Abschnitt, erkennen lässt, diesen
von XQ&tog 'Kraft* abgeleiteten Namen ganz in Uebereinstimmung mit
sich (d. h. seiner Natur oder auch Lage) findet. Eben so findet er auch
Sokrates Namen richtig, indem er augenscheinlich auch in dessen ety-
mologischer Bedeutung (von oco =. aao 'gesund' und xqätoq) eine Ueber-
einstimmung mit dem Träger erkennt. Als aber Hermogenes auf diese
speciellen Fälle einen allgemeinen Satz bauen will, indem er fragt
* Geburt demnach nicht auch allen übrigen Menschen jedem der Name,
mit welchem wir ihn rufen ' 2 ) ? da antwortet Kratylos ganz maliciös :
'dir wenigstens wahrhaftig nicht der Name Hermogenes und wenn dich
auch alle Menschen so nennen' 3 ). Sokrates erklärt zwar diese Behaup-
1) 383 B avrcS nötsqov KqcttvXoq rij dXij&etq övopd itfav 4j oä.
t 2) ovxovv xal wtg dlkng uv&qainoyq n&aiv, vneq xaXoßpsv ävopcc inatoov, tovt*
söxiv exatixü) Bvofia;
3) ovxovv cot ye . .. Svopa ^Qfwyivtjg , ovdi dp ndvrsg xaXcotov äv&QW*ot.
ÜBER DDE AUFGABE DES PLATONISCHEN DIALOGS: KRATYLOS. 227
tung des Kratylos zuerst für Scherz: 'wenn er sagt, dass du den Namen
Hermogenes nicht in Wahrheit habest, so glaube ich, dass er dich
damit verspottet; denn er meint vielleicht, dass du' [gewissermassen in
Uebereinstimmung mit der etymologischen Bedeutung dieses Namens
'Hermes, dem Gotte des Reichthums, entsprossen'] 'stets nach Schätzen
strebst, aber nie Besitz erlangen kannst' 1 ). Auch Hermogenes nimmt
sie wenigstens halb scherzhaft, indem er 408 B, nachdem Sokrates, auf
seine Bitte, eben um herauszubringen, was Kratylos maliciöse Bemerkung
andeuten wollte, den Namen des Hermes aus seinem Charakter als Gott
der Rede erklärt hat, ausruft 'beim Zeus! danach scheint mir Kratylos
ganz mit Recht zu sagen, dass ich kein Hermogenes bin; denn eine
besondre Redefertigkeit besitze ich wahrhaftig nicht' 2 ). Dass aber diese
Annahme ein integrirender Theil der Kratylos'schen Auffassung der wirk-
liehen Sprache ist, geht schon daraus hervor, dass Sokrates im zweiten
Abschnitt, wo er verdeutlicht, wie er sich die natürliche Richtigkeit der
Wörter vorstelle, zuerst auch an Eigennamen die Uebereinstimmung
ihrer etymologischen Bedeutung mit dem Charakter oder den Zuständen
ihrer Träger nachzuweisen sucht; dann aber insbesondre aus 429 B, wo
Sokrates Kratylos zu überzeugen sucht, dass die wirkliche Sprache auch
nach seiner Auffassung (keinesweges bloss aus richtigen Benennungen und
Lautcomplexen bestehe, die nicht verdienen Benennungen genannt zu
werden, sondern) auch unrichtige Benennungen enthalte; hier kehrt er
zu dem vorliegenden Falle zurück und fragt: 'Sollen wir nun sagen,
dass dieser Hermogenes diesen Namen gar nicht fahre , wenn ihm nichts
von einer Abstammung von Hermes zukommt, oder er führe ihn zwar,
aber nicht mit Recht? 3 )', worauf Kratylos ganz ernsthaft und eifrig ant-
1) 384 C Su di ov (ffjai croi 'EQpoytvij övopa slvai tj dXti&slq, dtfnsQ inomsveo
avrdv oxiÄmsw oUxcu ydQ Itioog ce XQfipaxwv l(fU\ktvov xzijaeoog äno%vy%dv$w
kxdoxou.
2) Nij rov Jia, ei äqa po* doxet KQCttvkog Xiysiv xo ifü pi} eh>at ^Eqpoyiv^'
ovxovv svpri%av6<; y£ slfu Xoyov.
3) *EQ[ioy£ve* tmäs noxsqov pfjöa öropa tovto xetö&cu (fwpev, ei (jhj n av%(p € EQpov
yeviaewg nQOGijxei, tj xslo&a* pir, od pivtoi ÖQ&iSg ye;
Ff2
228 THEODOR BENFEY,
wortet : ' Mich dünkt , er fahrt ihn auch nicht einmal . . . . , sondern
»
scheine ihn nur zu führen, dieser Name gehöre aber einem Andern,
der auch eine Natur hat, welche den Namen verdeutlicht' l ); endlich
auch daraus, dass Hermogenes, wo er seine Ansicht ausführt, dass die
Richtigkeit der Benennungen auf frvtHjxri, Vertrag, beruht, die er als
Willkflhr fasst, die Willkührlichkeit in der Benennung der Sclaven gel-
tend' macht (384 D).
Beachtenswerth ist auch, dass, wo Sokrates seine eigne Ansicht
über die Bedingtheit der Wörter durch ihren begrifflichen Inhalt aus-
führt, er keinesweges die Bedingtheit der Eigennamen durch das Wesen
ihrer Träger in gleicher Weise ablehnt, wie die Identität der richtigen
Benennungen derselben Gegenstände in allen Sprachen. Bei der Ver-
deutlichung seiner Ansicht über die Art dieser Bedingtheit lehnt er es
zwar ausdrücklich ab, sie auch an Eigennamen aufzuzeigen (3Ö7B), in-
dem er bemerkt, 'dass viele derselben nach den Namen von Vorfahren
beigelegt sein und einigen gar nicht zukommen, andre einen Wunsch
ausdrücken' 2 ), wie er denn auch schon 394 E die Möglichkeit des Zu-
falls {tvxv) in Bezug auf Orestes Namen und 395 E den Zufall der
Sage (rvxv rfs- täws) * n Bezug auf den des Tantalus hervorhebt. Allein
diess bezieht sich nur auf die wirkliche Sprache, nicht auf die richtig
sein wollende, fttr die Sokrates seine Forderungen hinstellt; ob nicht
Sokrates in ihr auch eine diesen entsprechende Richtigkeit der Eigen-
namen verlange, wage ich nicht zu entscheiden, da die Andeutungen
über die Sprache, welche sich auf der Basis der Ideenlehre construiren
lasse, weder zu einer Construction derselben genügen, noch auch ge-
nügen sollen. Eine derartige Construction hätte ein eignes Werk erfor-
dert, so gut wie die Construction des idealen Staats.
Eine andere nähere Bestimmung der Kratylos'schen Auffassung der
wirklichen Sprachen finden wir im dritten Abschnitt 435 D , wonach
1) Ovdt xeTa&cu ipoiyt doxel .... dkkd öoxtZv xeta&cu, elvai dl st4qov xovto
rovvofjba, ovneq xal tj (fvatg ij td övopa dqkovacc.
2) noXXa fiiv yuQ crihutv nettat xam nqoyoymv öfjKovvfjUa$j oidiv nQOCqxov Mo*s
.... noXXd dt <5<smQ sd%6p6Voi Ti&evmi . . ,
ÜBER DIE AUFGABE DES PLATONISCHEN DIALOGS : KRATYLOS. 229
•derjenige, welcher die Benennungen kennt, auch die (dadurch bezeich-
neten) Dinge kennt' 1 ). Daraus ergiebt sich dann als , Folgerung , die
zwar schon ihrer Bedeutung wegen hervorgehoben zu werden verdiente,
hier jedoch nur benutzt wird, um zu einem weiteren Beweismittel gegen
die Richtigkeit der wirklichen Sprache in der Kratylos'schen Auffassung
zu dienen , • dass die Wörter das einzige und beste Mittel der Belehrung
über die Dinge seien' 2 ).
Demnach schreibt Kratylos den Dingen auf die Gestaltung ihrer
Benennungen einen so mächtigen Einfluss zu, dass letztere gleichsam
wie tönende Abbilder derselben, oder um einer neuen Erfindung einen
Vergleich zu entlehnen , wie wahre Fhonographien erscheinen , die
strictesten Abbilder derselben (vgl. VI), fast mit ihnen ganz identisch
sind. Die Auffassung erinnert fast an die Naivität der schwäbischen
Köchin in Paris, welche gar nicht begreifen konnte, dass die Franzosen
Bohnen haricots nennen , da sie doch weiter gar nichts seien als Bohnen.
Charakteristisch ist endlich für diese Auffassung der wirklichen
Sprache, dass die richtigen Wörter derselben — die einzigen, die Kra-
tylos als Benennungen gelten lässt — , das heraklitische Princip der
ewigen Veränderung der Dinge wiederspiegeln sollen; vgl. 436 C 'hier
hast du aber den grössten Beweis, dass der Wortbildner die Wahr-
heit nicht verfehlt hat: denn sonst würde nicht alles bei ihm so zusam-
men stimmen; oder hast du nicht während deines Vortrags' (im 2ten
Abschnitt, wo eine Fülle von Wörtern nach diesem heraklitischen Princip
etymologisirt wird) 'selbst erkannt, dass alle Benennungen nach der-
selben Weise und in derselben Richtung gebildet sind' 3 )?
1) og dp uc Spöpaza InUmpah, intoma&cu xai tct nqdyfMjna, vgl. ebendaselbst E,
wo Sokrates diesen Satz wesentlich mit denselben Worten wiederholt . . . dox&g
Xbysw dg dg dp %d <Sv6(juxra eldjj sltiexcu xai tä nQaypata.
2) 435 £ \dw\ksv tig nor' dp eUj 6 TQÖnog oikog Ttjg didaaxaUag twp övxwv ....
xai notsqov &m (jhv xai äXXog, ovtog \Uvxoh ßeXxiwv, fj odd' icuv äXXog 4j
ovtog; novtgcog 6Ui; Kqat. Ovtoog iycoye, od ndvv n slvat äXXoP, tovwv de
xai (aopop xai ßiXuOzov.
3) piyMftov d4 oo* $om %sx(*fJQiOP Su oix i(f<paXtai %qg dXtj&siag ö uMpepog*
k
230 THEODOR BENFEY,
In der Art und Weise, wie die Natur der Dinge in den Wörtern
veranschaulicht ist, stimmt Kratylos mit dem überein, was Sokrates im
2ten Abschnitt ausfahrt. Die Urwörter sind durch die ihrem begriff-
lichen Werth nach ihnen entsprechenden Laute wiedergespiegelt; die
abgeleiteten und zusammengesetzten (oder wie sie der Verfasser nennt:
zusammengehämmerten) von jenen abgeleitet oder aus ihnen zusammen-
gefugt.
Doch zurück zu der Analyse!
Nachdem Hermogenes von der Ansicht des Kratylos so viel als
oben bis (einschliesslich) zu der Stelle über seinen eignen Namen ange-
geben ist, mitgetheilt hat, fügt er hinzu, dass er ihn nicht habe bewegen
können, sich deutlicher auszulassen und ersucht desshalb Sokrates, ent-
weder des Kratylos orakelartigen Ausspruch zu erklären oder ihm seine
eigne Meinung über die Richtigkeit der Benennungen kund zu thun.
Sokrates giebt seine Bereitwilligkeit zu einer gemeinschaftlichen Unter-
suchung zu erkennen. Hermogenes setzt nun seine Ansicht genauer
auseinander. 'Er hat sich oft mit Kratylos und andern (über die Rich-
tigkeit der Wörter) unterhalten, kann sich aber nicht überreden lassen,
dass es eine andre Richtigkeit der Benennung gebe, als Vertrag und
Uebereinstimmung {^w&fpcri xal bfioXoyia)\ d. h. er ist überzeugt, dass
die (als bekannt vorausgesetzte) Richtigkeit der Benennungen nur auf
Vertrag und Uebereinstimmung beruhe. Es ist diess, wie manches andre
in diesem Dialog so kurz ausgedrückt, dass es eine auffallend grosse
Uebung in der Behandlung sprachwissenschaftlicher Fragen bekundet,
wie wir sie denn auch nach den Nachrichten über die sprachwissen-
schaftlichen Betrachtungen der Philosophen, Sophisten, Mythologen und
Exegeten vor und zu Piatons Zeit vorauszusetzen berechtigt sind.
Hermogenes erklärt also die Richtigkeit der Benennungen aus dem-
jenigen Princip, welches nach Kratylos nicht einmal Benennungen zu
gestalten vermag. Dieser würde also dem Hermogenes nach obigem ant-
ov yaQ äv nou ovtaa £i>fjb(pu)vcc r\v adxw anavxa' rj ovx ivevosu; adtog iAymv
co£ ndvta xccrä vavvov xai im xavxöv iyiyvevo %ä dvopaw,
ÜBEB DIE AUFGABE DES PLATONISCHEN DIALOGS: KBATYLOS. 231
worten: Wonach hätte seine Sprache nicht allein keine richtigen, son-
dern gar keine Benennungen', und wie die weitre Entwicklung zeigt,
mit Recht.
Hermogenes fahrt nämlich zur genaueren Bestimmung seiner An-
sicht unmittelbar fort: 'Denn mir scheint, dass jede Benennung, welche
Jemand irgend einem Gegenstand giebt, die richtige sei, und wenn er
dann wieder eine andre an deren Stelle setzt, jene aber nicht mehr ge-
braucht , so ist die spätere um nichts weniger richtig , als die , welche
ihm früher zukam, wie ja auch bei unsern Sclaven, wenn wir ihre
Namen umändern, der spätere eben so richtig ist als der früher von ihm
geführte. Denn Nichts von allem hat einen Namen von Natur, sondern
durch die Anordnung und Gewohnheit derer, die ihn verändert haben
und gebrauchen' l ).
Die Veränderlichkeit der Sclavennamen bildet den Gegensatz zu
Kratylos Behauptung, dass auch in den Eigennamen Naturbedingtheit
herrschen müsse.
Der hier gegebnen näheren Bestimmung gemäss fasst also Hermogenes
gvv&rixri xal ifioXoyCa, Vertrag und Uebereinstimmung , als identisch mit
rein individueller, weder numerisch (vermittelst einer Gemeinde), noch histo-
risch beschränkter Willkühr. So versteht ihn auch Sokrates, indem er fragt
(385 A): 'Wie Jemand etwas zu nennen festsetzt, das ist auch sein Name?'
und Hermogenes antwortet 'So mein ich'. Weiter antwortet er auf Sokrates
Frage 'Einerlei, ob ein Privatmann oder eine Gemeinde?' ebenfalls 'Ja! 1
und nimmt schliesslich das Recht in Anspruch 'Pferd' zu nennen, was
allgemein 'Mensch' heisst und umgekehrt 2 ). In allgemeinerer Fassung
1) 384 D ipoi yaq doxstj o n äv ttg t(p S^tcu öropa, toiko slvcu td Öq&ov.
xal äv avxHg ye hxQOV peta&ijzat, ixstvo di fj^xin xaXm, oddip ittov td
vGkqov öq&äg S%hv tov nqotiqov y wOneq, el toXg oixitatg jji*stg ftetau&ifjH&a,
odölv qvcov tovt* efvcu dq9dv td pstaxed'lv tov nqöxsqov xetfripov ov* yäq
(pvO€* indem m<pvx£pcu Srofia oiöhv otidsvl, äXXä vöfjup xal *fc* twv pt#*-
(Ttccptcov ze xal xaXovvtwv.
2) 8 &v &$ xahtv %%g ixaotov, tovz' $<fuv ixdatto övo^a; 'Eqp. "Epotye doxsZ.
2coxq. Kai iäv Idiwtfjg xakfj xal iäv ndfog; *Eqp. QijpL 2<oxq, . . . iäv iyü
232 THEODOR BENFEY,
wiederholt Hermogenes diese seine Identification 385 D ' Denn ich kenne
keine andre Richtigkeit der Benennung als diese, dass mir verstattet
ist, jeden Gegenstand mit einem andern Namen zu benennen, den ich
ihm beigelegt habe, dir aber mit einem andern, den du' 1 ), und Sokrates
433 E * Oder gefällt dir diese Weise besser , welche Hermogenes vorträgt
und viele andre, dass die Benennungen Uebereinkommen sind und denen
die sich darüber vertragen haben die Dinge, die sie aber vorher kann-
ten, kund thun, und die Richtigkeit der Benennungen Vertrag sei, es
aber nichts verschlage, ob jemand dem Uebereinkommen folge, wie es
jetzt besteht, oder im Gegensatz dazu 'gross' nenne, was jetzt 'klein'
heisst und 'klein' was jetzt 'gross' 2 )?' Da diese Willkühr völlig un-
beschränkt ist , so sind die Benennungen , wenn so entstanden , rein
zufallig, sie bezeichnen die Dinge 'durch das erste beste', durch 'das,
was einem grade in den Mund fallt' (riß imtvxovn 434 A), 'aufs Gerathe-
wohl' (and tov avxofidrov 397 A).
Man hat nun gefragt und bezweifelt , ob der Verfasser des Kratylos
das Recht habe , ^vp&^xtj und b/uoAoyla, Vertrag und Uebereinstimmung,
und gar noch vö/uog und $&og 4 Gesetz und Gewohnheit', die er ja eben-
falls als Basen der Richtigkeit der Wörter hingestellt hat (384 D), mit
Willkühr und Zufall zu identificiren. Man wendet ein, dass Vertrag
und Uebereinstimmung voraussetzen , dass ein Menschencomplex in Bezug
auf etwas übereingekommen ist und übereinstimmt, Gewohnheit, dass das,
xaXä ouovv ttav övxoov, otov o vvv xaXovpev äv&qoanov, idv iyw xovxo Imvov
TiQoaayoQsvco , 8 di vvv Innov, dv&QconoVj sota* dtjpoatq p%v Svopa dv&Qoonog
zw aixm , Idiq de Innog; xai Idiq pev av äv&Q(O7V0q, öfjfMOcriq de Innoq; . . . .
1 Eq(a. "EpiHys doxsl.
1) oi? ydq s%u iywye . . • dvopavoq, dXXtjv dQ&ovqta ij tativrfV, ipo) piv Buqov efvcu
xaistv kxd<fw> Svopa, S i/w iMfAtpr, aoi di hhsQOV, o av <Tv.
2) f t vds paXXöv öfc dQiaxe* 6 TQÖnog, Sv 'EQ(*oy£viis Ifysi xai äXXo* noXXol, ro
%vv&ij[jba%a elvat td dvöpata, xai dtjXo^v rotg %vv&efitvoig, nqoetöoCh d£, %d
TiQdyfjiccra j xai elvai xavzyv oQ&OTVjta dvopavog, gvv&ijxijv, duxy&QGiv dl oddiv,
idv %i nq %vv&ij%a* cJotwo vvv ^vyxeiTtt*, idv ts xai todvavtiov ini [*$v (i vvv
OfjHXQÖv, fkfya xahXv , irü di ol piya, OfuxQÖv.
ÜBER DIE AUFGABE DES PLATONISCHEN DIALOGS: KRATYLOS. 233
worauf diese sich bezieht, schon einen längeren Bestand hat. Benennungen,
die diesen Principien gemäss richtig sind, sind richtig, weil sie in dem
ihnen anhaftenden Sinn Ton diesem Menschencomplex fixirt und bei ihm
zur Gewohnheit geworden sind. Wer einer von ihnen im Widerspruch
mit diesem Menschencomplex und der Gewohnheit eine andre Bedeu-
tung giebt (z.B. durch das Wort 'Pferd 1 einen 'Menschen', durch 'gross 1
'klein 1 und umgekehrt bezeichnet), oder einem Gegenstande überhaupt
einen andern Namen als in diesem Menschencomplex gebräuchlich, ver-
stösst grade gegen das Princip des Vertrags , der Uebereinstimmung und
Gewohnheit und bedient sich von diesem Standpunkt aus eines unrich-
tigen Wortes. Wenn also Hermogenes behauptet, jede Benennung, die
irgend ein Individuum einem Gegenstande gebe, sei dessen richtige, so
scheint diess auf den ersten Anblick im grellsten Widerspruch mit einer
auf diesen Principien beruhenden Richtigkeit zu stehen.
Allein dieser Widerspruch ist nur scheinbar; in Wirklichkeit ist
Hermogenes Anspruch das folgerechte Ergebnis« der alleinigen Annahme
dieser Momente als Basen für die Richtigkeit der Wörter. Denn wenn
diese auf gar keinem weiteren Grunde beruht, als dass die Wörter in
dem Sinne, welchen man damit verbindet, in Folge von Uebereinkunft
und Uebereinstimmung gebraucht werden, wenn speciell die Art ihrer
Entstehung von gar keinem Einfluss auf ihre Richtigkeit ist, man also
zu der Zeit, wo die Uebereinkunft geschlossen ward, jeden Lautcomplex,
welchen man wollte, zum Ausdrucke jeglichen Gegenstandes verwenden
konnte , so ist absolut kein Grund vorhanden , warum diese Berechtigung
nur auf eine Mehrheit von Menschen und auf eine vergangene Zeit
beschränkt sein sollte; besteht doch diese Mehrheit nur aus Individuen,
von denen jedes einzelne unzweifelhaft das Recht hat einen Lautcomplex
vorzuschlagen und abzuwarten, ob ihm die übrigen beistimmen und Ge-
wohnheit ihn fixiren werde; kann nun nicht Hermogenes mit vollem
Recht sagen: hatte früher ein Individuum das Recht, den ersten besten
Lautcomplex zu benutzen, um damit einen Gegenstand zu bezeichnen,
warum sollte ich es nicht auch haben? ich kann ruhig abwarten, ob
meine Gemeindegenossen meiner Wahl beistimmen und die folgenden
Hist.-Phtlol. Classe. XII. Gg
234 THEODOR BENFEY,
Geschlechter sie zur Gewohnheit machen werden. Und ist denn, wenn
wir die Worte • den ersten hesten ' auslassen , die Theorie nicht ganz
richtig? Haben nicht Individuen in den historisch bekannten Zeiten
in die uns genauer bekannten Sprachen neue Wörter in Menge einge-
führt, die Bedeutung von alten verändert u. s. w. , und sind nicht un-
zählige dieser Neuerungen durch Gewohnheit fixirt worden? Ja ist es
nach den Forschungen, welche unsre Zeit über Entstehung der den
Menschen gemeinsamen Institute , Sprache , Religion , Sitte u. s. w. ge-
macht hat, nicht so gut wie gewiss, dass die Schöpfungen allsammt
von Individuen — nicht selten wohl ganz einzelnen — ausgehen und
die bfioXoyCa, durch welche sie fixirt werden, grösstenteils in einem
blossen Annehmen besteht, eine fast rein passive ist? Die Theorie des
Hermogenes unterscheidet sich von der jetzt als richtig anerkannten in
der That nur durch die Worte *den ersten besten', dadurch aber auch
himmelweit. Nicht die ersten besten, sondern nur die durch die Natur
der Sprache bedingten Wörter können, wenigstens im Allgemeinen (diese
Beschränkung füge ich nur wegen einer Besonderheit in den oceanischen
Sprachen hinzu), auf Uebereinstimmung und Gewohnheit rechnen; die
Richtigkeit der Wörter ist einzig <pvosi durch Natur, aber nicht in dem
beschränkten Sinn, wie er uns in der Kratylos'schen Auffassung und
selbst der des Sokrates geboten wird, wo sie ganz von der Natur der
Dinge abhängig gemacht wird, sondern sie beruht eben so sehr auf
dieser als auf der des Menschen.
Es ist grade eines der allergrössten Verdienste des Kratylos, wie
mir scheint, dass die Identität von gw&rjxij, Vertrag, Willkühr und
Zufall, in letzter Instanz mit solcher Sicherheit in ihm erkannt ist.
Indem der Verfasser desselben, wie wir sogleich sehen werden, weiter
nachweist, dass eine richtige Sprache nicht aus Willkühr hervorgehen
könne, hat er damit auch die Entstehung einer solchen durch ^vpd^xtj,
Vertrag (oder wie man es später nannte Steig) widerlegt. Wenn er
trotzdem weiterhin nachweist, dass bei der Kratylos'schen Auffassung der
wirklichen Sprache auch Jw#iJ#i7, und zwar hier ebenfalls im Sinn von
ursprünglicher Willkühr, als ein Element (insbesondre bei den Zahlwör-
. "1 ._*■
ÜBER DIE AUFGABE DES PLATONISCHEN DIALOGS: KRATTLOS. 235
tern) anzuerkennen sei, das zur Richtigkeit der Wörter (im allgemeinen
Sinn, d. h. der Gemeinverständlichkeit, derselben) beitrage, so ist zu
beachten, dass ihm die wirkliche Sprache gar nicht für eine solche gilt,
in welcher die Forderungen erfüllt wären, die er an eine wahrhaft rich-
tige Sprache stellt.
Aber eben wegen dieses Gegensatzes der wirklichen und der idealen
Sprache konnte das grosse Verdienst, welches der Verfasser des Kratylos
sich durch diese Identification der gvv&tjxti mit Willkühr erworben hat,
weder von ihm noch seinen Nachfolgern in seiner ganzen Bedeutung
gewürdigt werden. Diese tritt erst seit der Zeit hervor, wo man weiss,
dass jede Sprache im Ganzen eine richtige ist; und Sokrates Beweis,
dass eine richtige Sprache nicht durch Vertrag entstanden sein könne,
verwandelt sich seitdem in den Satz , dass überhaupt keine Sprache durch
blossen Vertrag u. s. w. entstanden sein ■ könne.
Nachdem beide Ansichten über die Entstehung der Richtigkeit, Sq-
&ÖTT]g, auseinandergesetzt sind, zeigt Sokrates, dass bei der des Hermo-
genes keine Richtigkeit bestehen könne, dass vielmehr die Benennungen,
wenn sie richtig sein sollen, von der Natur der durch sie bezeichneten
Dinge bedingt sein müssen (385 A — 390 E).
Zu diesem Zweck sucht er zu beweisen, dass man eine falsche und
wahre Benennung gebrauchen könne l ) , dass ein Gegenstand weder so
viele Benennungen haben könne, als ihm Jemand beilegt, noch bald
diese bald jene 2 ). Denn, da man weder (mit Euthydemos) sagen dürfe,
dass Allen Alles auf gleiche Weise zugleich und immer zukommt, noch
(mit Protagoras) , dass jedes Ding für Jeden auf eine besondre Weise da
ist, so sei klar, dass die Dinge ein bestimmtes ihnen selbst eignes
t ■
1
1) 385 C "Etfnv ccqcc Svopa tpsvöeg xal dXfj^ig Xiyew. . . . jf
2) 385 D 'Ist also jede Benennung, die irgend Jemand als die eines Gegenstandes
angiebt, diese ihr Name?' . . . 4 Werden ihm auch so viele Namen zukommen,
als Jemand für ihn angiebt und zu der Zeit, wo er sie giebt?' "O äv äqa
Zxaotog <pjj tta övopa slvatj xovxo Sonv kxdowp Srofuz; . . . 77 xal inoaa dv
(pfj ng ixdotto ivopata slvai, xoCavxa ititcu xal t&n bnoxav (prj;
Gg2*
236 THEODOR BENFEY,
Wesen haben l ). Dieser Natur der Dinge gemäss müssen die auf sie
bezüglichen Handlungen vollzogen werden, nicht nach unsrer Meinung
(Vorstellung) 2 ). Das Benennen derselben sei aber eine auf sie bezüg-
liche Handlung 3 ). Daraus wird dann geschlossen: also muss man die
Dinge benennen , wie und womit es ihrer Natur gemäss ist , dass man
sie benenne und dass sie benannt werden, nicht wie wir eben belieben.
So erreichen wir mit der Benennung unsern Zweck, sonst nicht 4 ).
Sokrates geht nun zu den objectiven und subjectiven Bedingungen
über, von welchen das * Benennen und Benannt werden' (jj n£<pvx€ rä
nq&Yfiotxa Svo/ud&tv xal ivofxd&o&ai wie es eben hiess) abhängt, wobei
noch ein Moment gegen Hermogenes Willkührlichkeit hervorgehoben wird.
Der Name ist das Werkzeug des Benennens 5 ). — Mit Namen be-
nennen heisst einander etwas lehren und die Dinge nach ihrer Beschaf-
i
1) 386 D Ovxovv ei fnjta nato ndina itfäv ,dpoUog apa xal äel, §mjts ixdünp idiq
bcaatov wv övtcov ictij dijXov dij ön aiW avx&v odoiav %%ovxd nva ßißatov
ion td nody^axa
2) 387 A Katä %v(v avtwv dqa (fixSiv xal di nQa&tg noavcovrak, od xcnd %rjv
tjiwdqav Sögav.
3) 387 B.C 'Ist nicht also auch das Sprechen eine Handlung? ... Ist nicht das
Benennen ein Theil des Sprechens? ... Ist nicht also auch das Benennen
eine Handlung?' *Aq 9 oiv od xal td Xiytiv pla ng ttSv Tcod^stiv iönv; ....
Oixovv toü Xiysvv pooiov td dvopdfyiv j . . . . Ovxovv xal td dvo/juifav tvqcc£L$
tig ionvi
4) 387 E Oixovv xal övofiaatdov $ nigwxs td nqdypata bvoyM&hV u xal ivofui-
&(f9a$ xal «S, dlX ov% jj dv rjftetg ßovXfj&wfiev ....; xal ovtm p$v äv
nXiov n noiotpev xal ovo(>d£oii*ev , äXXmg di ov;
5) 387 D ff. 'Was man schneiden muss, muss man mit etwas schneiden . . . und
was man boren muss, mit etwas boren . . . und waö man benennen muss, mit
etwas benennen ... Was war das, aber womit man boren muss? Herrn.
Der Borer. ... So kr. Was aber, womit man benennen muss? Herrn. Der
Name. Sokr. ... Also ist auch der Name ein Werkzeug 9 , o ede* %&\kV6*v,
sdst ttS . . . t&pvsiv . . . xal 6 Sde* tQvnqv-, ids* rw tovnqv . . . xal 8 edet . . .
ovopdfav, id& t« dvopd&iv . . . tl di $v ixstvo <S Sds$ iQvnäv; 'Eap. Tqv-
navov. ... Smxo. Ti di d ivopdfav. 'Eop. "Ovopa. 2coxq. . .. öqyavov
aoa ti iött xal td Svopa.
ÜBER DIE AUFGABE DES PLATONISCHFN DIALOGS: KRATYLOS. 237
fenheit unterscheiden l ). — Der Name ist also ein Werkzeug , durch
welches man belehrt und das Wesen (der Dinge), unterscheidet 2 ).
Damit ein Werkzeug gut, seinem Zwecke gemäss, zu gebrauchen
sei, muss es von einem gefertigt sein, der die Kunst, es- zu verfertigen,
versteht 5 ). — Die Benennungen sind das Werk des Gesetzgebers 4 ). —
1) 388 A 'Was für ein Werkzeug war der Schütze? doch dasjenige, womit wir
(das Gewebe) schützen? Herrn. Freilich. So kr. Was thun wir, indem wir
schützen? Wir trennen doch die untereinander gerathenen Fäden der Kette
und des Einschlags. . . . Was thun wir nun, indem wir vermittelst des uns
als Werkzeug dienenden Namens benennen? .... Belehren wir uns nicht
einander über etwas und unterscheiden die Dinge nach ihrer Beschaffenheit?
Herrn. Ganz richtig 9 . Ti fy oqyavov tj xsqxig; o$% (S xsQxltopev} *EQp.
Nai. Scoxq. KsQxlZovrsg <fö ti dqdSfMP; od tfv XQÖxfjv xal todg <xnjfAOt>a$
(Wyxsxvfjt^rovg d*axQiyo[*sy ; .... ÖQydvca dm ztS ovopan dvopd£ovag ti noiov-
p€V; .... y Aq o$v d$dd<fxop£v u äXlqXovg xal tot nqdyfjbata diaxQivoftev. jj S%u;
% Eqi*. Ildyv ?ۥ
2) 388 C ovopa äqa didaaxafoxov ti itiuv oqyavov xal SiaxQinxdv t^g odriag.
3) 388 D 4 Wessen Werkes wird sich der Bohrende gut bedienen können, wenn er
sich des Bohrers bedient? Herrn. Des des Schmieds. So kr. Ist nun Jeder-
mann ein Schmied, oder der der diese Kunst versteht? Herrn. Der diese
Kunst versteht 9 . T«w tivog <fc Sqy^f & tgvnfjt^g xaldSg xtfasim, Stav tm tqv-
ndvco XQV UC$ S 'Eqi*' Tm to€ xaXxicag. 2coxq. *Aq' ovv nag %alxsi)$ y i tijv
%&lßH\v 6%uv; *Eq[*. l O %qv t&jyip $%mv.
4) 388 D 'Wessen Werkes bedient sich der Belehrende, wenn er sich der Be-
nennung bedient? Herrn. Das weiss ich nicht. So kr. Kannst du auch
nicht sagen, wer uns die Benennungen überliefert, deren wir uns bedienen?
Herrn. Ganz und gar nicht. Sokr. Scheint dir nicht das Gesetz' (im wei-
testen Sinn: Herkommen, Sitte, Institut, alles was als ordnendes Element
des menschlichen Lebens überliefert ist) 'sie zu überliefern? Herrn. So
scheint es. Sokr. So wird sich also der Belehrende, wenn er sich einer Be-
nennung bedient, des Werkes des Gesetzgebers bedienen. Herrn. Du hast
Recht'. Tai de tivog $qy<o 6 didatfxakxdg XQijcfeta*, Stav ttS dvopau XQV m >
*Eq[*. Ovdt tovx* jgai. 2uxq. OddS wvro y Sxng ilnetv, tig naQadidcatov
qplv tä dpöfuna otg XQ°>l**&a; ( £<>f». Od d^ta. Smxq. r Aq' ovx* 6 vogAog
doxet aol shfai d naqad$doig adtd; c 2?g/t». w E<nxsv. 2wxq. Nopo&hov äqa
sQytp xQ^GGtai o didaaxaXixög , otav Svopctn XQV™"* EVI*' 4oxh% po*.
*
238 THEODOR BENFEY,
Dieser ist als Inbegriff oder Personification aller derer zu fassen, welche
das , was vd/iog ist , was in staatlicher und socialer Beziehung gesetzlich
oder gebräuchlich ist, gestaltet, eingeführt oder festgesetzt haben, also
auch die überlieferten Benennungen oder Wörter. In letzterer Beziehung
ist er also der Namengeber (gewissermassen der Spracherfinder) und
wird desshalb 424 A övojuacrnxös (doch wohl vielleicht mit Anspielung
auf Demokritos Spo/iaanxov) • der Benennungskundige ' genannt. Dass
er als Vertreter von vielen, denen die Beilegung der Benennungen ver-
dankt wird, zu fassen ist, sieht man daraus, dass statt seiner Menschen
überhaupt als die Namen Beilegenden genannt werden l ) , ferner die
Namengebenden (ol xa ovofxaxa n&£/ueroi) 437 E, die Beilegenden (&(/isvoi
418 A). Insofern die Benennungen einstmals zuerst beigelegt sind, wer-
den die, welche sie zuerst gaben, an die Stelle des vo(io&lTt$ gesetzt,
401 B 'die, welche zuerst die Namen beilegten ' (oi ngiorot rä dvö/uaia
TiStfievoi) 7 ). Insofern die Wörter aus dem Alterthum, theilweis aus
dem höchsten, überliefert sind, treten an die Stelle des vouo&ixrig die
Alten 3 ) und die Uralten 4 ).
1) 401 A 'vorausschickend, dass wir keine Untersuchung über sie (die Götter)
anstellen wollen . . . , sondern über die Menschen , von welcher Vorstellung
geleitet diese ihnen ihre Namen gaben' {nqoemovxeg ... ou nsqi aiwfiv oidev
fjfteTg oxelp6[A€&a . . . dXXd kcqI x&v dv&qoinoav , fjvuvd mm do£av i%ovrs$
ittösvto adxotg xa dvdpard); 401 B 'Die Beilegung der Namen scheint mir
von derartigen Menschen herzurühren 9 (xaxaipalvsral \ko% ij d-foig xwv dvopdvow
fotot/fto? wäv dv&Qoinwv elvcu).
2) Vgl. 397 CD 'die ersten Hellenen scheinen nur Sonne, Mond, Erde, Sterne
und Himmel für Götter gehalten zu haben , und da sie diese stets in Bewegung
sahen, die Götter öeovg (die Laufenden) von $tXv (laufen) benannt zu haben 9
((palvovxai po* ol nQioioi xwv dv&Qoinwv twp neQi rfv 'EXldda xovrovg povovg
. . . &eoi)g ijysZö&a* . . . qhov xal oeXjvtjV xal yr^v xal datga xal ofyavov dvs
ovv atkd OQwvxeg ... dsl Iowa . . . and tavxyg tj}$ (pvasoag xij$ rov &€lv
$€oi)g ai'xovg Inovopdaai).
3) 425 A 'Denn die Alten haben sie so gebildet, wie sie vorliegen' (cvvi&saav
fjbiy yckQ ovxcog, rjmQ oi'yxeixat, ol nalaiol).
4) 41 1B 'Die uralten Menschen, welche die Namen beilegten' (ol ndvv naXawi
dvfrQwmn ol n&tpsvoi xd dvdpaxa).
'». ÜT -.
ÜBER DDE AUFGABE DES PLATONISCHEN DIALOGS : KRATYLOS. 239
Aber nicht Jedermann ist ein Gesetzgeber, sondern nur der, der
diese Kunst versteht l ).
Demnach, schliesst Sokrates, ist es nicht Jedermanns Sache Namen
zu geben , sondern die des Namenkünstlers , das ist aber der Gesetzgeber,
welcher unter den Werkmeistern der seltenste ist 2 ).
So ist denn auch von der subjectiven Seite her Hermogenes Will-
kühr ausgeschlossen.
Was hat nun der Gesetzgeber bei Beilegung der Benennungen ins
Auge zu fassen, oder mit andern Worten, welche Forderung hat er zu
erfüllen, um richtige Benennungen zu bilden?
Wer ein Werkzeug verfertigen will , blickt ( im Geiste ) auf so
etwas, dessen Beschaffenheit der Art ist, dass es dem beabsichtigten
Zweck zu dienen vermag; auf das Bild davon, das er im Geiste trägt,
auf das, was es an sich ist 3 ).
Soll nun ein Werkzeug für verschiedne Gegenstände dienen (z. B.
ein Schütze, xeqxtg, zum Weben verschiedener Stoffe, Leinen, Wolle
u. s. w.), so dass es nicht in völlig gleicher Beschaffenheit dazu ver-
wendet werden kann, so müssen die zu diesen verschiednen Zwecken
gefertigten Werkzeuge zwar allsammt das Bild des Werkzeugs {z. B. des
Schützen) in seiner Allgemeinheit enthalten, in jedes besondere der-
selben muss aber die Beschaffenheit gelegt werden, durch welche es
für seinen besonderen Zweck am meisten geeignet wird, d. h. man muss
1) 388 E NopoösiiiQ di aoi doxsX ti&q «fra* dvijQ ij o vrjv t&x>*p s%w 9 *EQp. *0
vqv rix?*!*.
2) 388 E Ovx äqa navzdg dvdqog .... öpopa $ia9cu itftiv, dXXd wog 3vo[*cctovq-
yov* ovxog d' iativ . ... 6 popo&hygj og dtj mv dijfHOVQydHv onavioitatog iv
dv&Quinoig ytyveta*.
3) 389 A.B z.B. bei der Verfertigung eines Schützen, xsQxlg, stellt er sich im
Geiste dasjenige vor, was das, wozu der Schätze dienen soll, aaszurichten,
xsQxi&iv, vermag; zerbricht diese xeQxlg während der Anfertigung, so blickt
er bei Anfertigung der neuen nicht auf die zerbrochene, sondern auf das
Bild, was er davon im Geiste trägt, td sldog, nach welchem er auch die
zerbrochene gefertigt hatte, auf das, was die xeqxig an und für sich ist,
avtv o i<fn x€Qxtg.
240 THEODOR BENFEY,
die allgemeine Idee mit den für die besonderen Zwecke nöthigen Modi-
ficationen ausführen l ).
Beide Momente, das des richtigen Findens (Erkennens) des Werk-
zeugs' und das der richtigen Ausfährung desselben werden nochmals
389 C hervorgehoben, zugleich aber, weiterleitend, auch auf den Stoff
Rücksicht genommen, aus welchem es verfertigt wird: 4 das für jedes
seiner Natur nach angemessene Werkzeug muss man ausgefunden haben
und dann in dem niederlegen, woraus man das Werk macht (z. B. den
Bohrer in Eisen, den Schützen in Holz), nicht nach eigner Willkühr,
sondern wie es naturgemäss ist' 2 ). So muss auch der Gesetzgeber
(po/io&^trjg in seiner Eigenschaft eines Namengebers) verstehen, die jedem
Gegenstande Kraft seiner Natur zukommende Benennung in die Laute
und Sylben zu legen und alle Namen machen und beilegen , indem er
sein Auge auf das richtet, was ein Name an und für sich ist 3 ).
Hierbei sucht Sokrates zu zeigen, dass die von ihm für die Rich-
tigkeit der Wörter geltend gemachte, sowohl objective als subjective
(von der Natur der durch sie zu bezeichneten Dinge und von der
Einsicht des Namengebers abhängige) Naturbedingtheit derselben doch
keinesweges zu der Folgerung nöthigt, dass bei allen Völkern alle
Benennungen derselben Dinge dieselben sein müssten. 'Wenn nicht
jeder Gesetzgeber (die Namen) in dieselben Sylben legt, so muss man
folgendes beachten : es führt ja auch nicht jeder Schmied dasselbe für
denselben Zweck zu verfertigende Werkzeug in demselben Eisen aus;
aber trotzdem ist das Werkzeug richtig gemacht, solang er nur dieselbe
Idee, wenn auch in ander m Eisen, wiedergiebt, mag es nun einer in
Hellas oder unter den Barbaren machen. Eben so wenig steht ein hel-
1) 389 B raxtfag [sc. xeqxldag] p£v dsJ td tqg xsQxidog s%eiv sldog, ata i* sxdttm
xalliatij nicpvxe, tavtrjv änoätddvcu %rjv yvöiv elg td Sqyov ixutno*.
2) td (pvtfst ixdtitw nsqrvxog ÖQyavov i^evQÖPta dst aTtodovva* slg ixctvo, i% oi
äv notfi td 8Qyov s ov% otov äv adtdg ßovly&jl, all' olov n&pvue.
3) 389 D r Aq' ovv . . . xal %6 ixdcttp g>v<te* mfvxdg övopa %6v yopoA&yi' ixetvov
sig tovg (p&öyyovg xul %ag övllaßdg de% intatuti&a* u&ivatj xak ßl&mnna nqög
adtd ixstvo, o ianv övopa, ndvta td ivopaxa noislv ts xal ti&söfrcu.
a-* l : c
über die aufgäbe des platonischen Dialogs .- kratylos. 241
lenischer oder barbarischer Gesetzgeber, jener diesem oder dieser jenem,
im Geringsten nach, so lang er, in was für Sylben es auch sei, das
Bild (die Idee) der Benennung ausdrückt, die einem jeden Gegenstand
zukommt' x ).
Damit wird Kratylos Eintheilung des Sprachinventars in richtige
Wörter, die bei allen Völkern dieselbe Richtigkeit haben — wie ich es
verstehen zu müssen geglaubt habe, bei allen dieselben sind — und
Lautcomplexe , die keine Wörter sind, unnöthig gemacht; es wird viel-
mehr festgestellt, dass nur das Princip der Richtigkeit bei allen Völkern
dasselbe sei, dass aber jedes Volk seine besondre Sprache haben könne,
diese jedoch durchweg nach diesem Princip gebildet sein müsse, um
richtig zu sein.
Die Richtigkeit der Wörter war von der Einsicht des Gesetzgebers
bedingt. Es ergiebt sich daraus die (erst im dritten Abschnitt hervor-
gehobene) Möglichkeit, dass diese nicht ausreichte, Wörter zu bilden,
die in dem von Sokrates aufgestellten Sinn richtig sind. Wer hat nun
ein Urtheil darüber, ob der Gesetzgeber die Namen der Idee gemäss
gebildet und beigelegt hat? Die Antwort ist folgende: Wer sich eines
Werkzeugs am besten zu bedienen versteht, der kann auch am besten
beurtheilen, ob es seiner Idee gemäss verfertigt ist. In Bezug auf die
Benennungen ist diess der zu fragen und zu antworten Wissende, d. i.
der Dialektiker 2 ). Wie der Zimmermann ein Steuerruder unter Aufsicht
1) 389 E ff. ä cft prj ctg rag avtdg cvXXaßdg incunog b vopod'ivqg fi&fflhv, odääv ds%
tovto äyvoetv oddä yäq slg xov aSzdv trfdtjQOV änag %akxevg li&tjai, %ov aixov
tvexa noHov tö adtd Sqyavov dXX' öfjuog, $wg äv %r\v aix^v Idiav dnodidä,
idv w iv dXXü) OidiJQM, öfuag dQ&o&g £x € * *& ÖQyavov, idv %s ivddds idv ts iv
ßaQßdqoig xtg noifj. . . . 390 A odxovv ovrccg dgicoOHg xdl %ov vopo&izqv xöv xs
iv&dds xai xöv iv xoXg ßagßdQOig, Stog dp xö xov övdfuxxog cldog d/iodtöco xd
KQOöijxov ixdato) iv bnoiccMfovv (SvXhxßaXg, oidlv %elq(a vofw&forjv etvcu xöv
iv&dde fj xov bnovovv äXXd&t;
2) 390 B 'Wer wird nun erkennen können, ob in irgend einem Holze die dem
Schützen entsprechende Idee ausgedrückt ist? Der Zimmermann, der ihn
gemacht hat, oder der Weber, der ihn gebrauchen wird? Herrn. Eher
natürlich der, welcher ihn gebrauchen wird'. Tig ovv 6 yvooadfuvog d
Hist.-Phibl. Classe. XU. Hh
242 THEODOR BENFEY,
des Steuermanns zu verfertigen hat, wenn es gut werden soll, so der
Gesetzgeber den Namen unter Aufsicht eines Dialektikers, wenn er die
Benennungen auf eine angemessene Weise beilegen will l ).
Der Dialektiker, dem hier die Beurtheilung und Aufsicht über das
Werk des Wortbildners zugesprochen wird, ist sicherlich eben so zu
fassen , wie im Sophisten 253 E , als der Sg&dSg xal xa&agdSs <piAoöo<pu>y,
'der richtig und rein Philosophirende \ d. h. der die richtige Erkenntniss
Besitzende und Uebende. Diess ist aber dem Schlüsse gemäss, wo die
auf die eleatische Ontologie basirte Ideenlehre als die einzige zur wahren
Erkenntniss fuhrende Philosophie hervortritt, der Philosoph im Sinn der
Ideenlehre. Die ihm zugesprochene Kritik des Werkes* des rojuo&trrjg
übt Sokrates — gewiss der beste Vertreter derselben — in seinem Namen
gewissermassen im 2ten und 3ten Abschnitt und zeigt, dass der vo/ao-
&€njQ der wirklichen Sprache den Forderungen, welche eine Sprache,
um richtig zu sein, erfüllen müsste, nicht zu entsprechen vermochte,
dass in der wirklichen Sprache, nimmt man sie in rein empirischem Sinn,
eine derartige Richtigkeit sich nicht nachweisen lasse, und nimmt man
sie im Kratylos'schen Sinn, gar nicht existiren könne. So verschlingt
sich dieser erste Abschnitt schon vermittelst des SiaAsxnxög mit den
beiden folgenden.
tö nQOOtjxov etdog xsqxldog iv &noupovv gv'A» x&iai; b notfaag, 6 tixtmv,
% o jßqaopsvoq vcpdvrrjg; € Eq[*. Etxog p$v pälXov .... xov XQ*j<fopwov. 390 C
'Wer könnte aber wohl am besten über das Geschäft des Gesetzgebers die
Aufsicht führen und das Werk desselben beurtheilen . . . ? Doch auch der es
gebrauchen wird. Herrn. Ja! So kr. Ist das nun nicht der, der zu fragen
versteht? Herrn. Ganz und gar. So kr. Und zu antworten? Herrn. Ja.
So kr. Den zu fragen und zu antworten Verstehenden nennst du aber doch den
Dialektiker. Ttg di t<S tov popo&foov iqyw imGrattjteit %' &v xdXhava xal
elqyaöpivov xqlvsks ....; äq 9 oi% ö<rmq XQ^srcu; *Eqp. Nai. JZwxq. y Aq'
ovv ovx & iqeotqv imtfrdfkevog oßtog icniv-, € Eqp. TIdvv ye. 2<axq. 'O dt
aiiog xal änoxqtvea&a* ; l Eqp. Not. 2wxq. Top öS iqmqv xal änoxqlvsGxhu
imotapepov äXXo n <ri) xaXstg $ duxlaxnxov;
1) 390 D Tixtovog p$v äqa iqyov i<nl noiytia* n^ödhov imttoatovvtog xvßeqvtjrov,
et p£Uc» xaXöv efra* vd nfjddJUop NopoMtov 64 y* . . . . imardrfjy s*xov-
tog dtaXcxnxöv ävdqa, st fjb*XXe$ xaXüg dv/ifMita d-yteCxtai.
k
ÜBER DIE AUFGABE DES PLATONISCHEN DIALOGS : KRATYLOS. 243
Als Resultat der bisher geführten Untersuchung stellt Sokrates hin,
dass die Gegenstände , wie Kratylos sage , ihre Namen von Natur haben *),
dass der Name von Natur eine gewisse Richtigkeit habe 2 ) , dass die
Beilegung eines Namens nicht, wie Hermogenes glaube, etwas geringes
sei, auch nicht die Sache unbedeutender Leute oder des ersten besten 3 ),
dass nicht jeder ein Verfertiger von Namen sei, sondern nur derjenige,
welcher den Namen ins Auge fasst, welcher jedem Gegenstand von Natur
zukömmt und es versteht, die Idee desselben [avtov rö slSog) in Laute
und Sylben zu legen 4 ) , dass es nicht Jedermanns Sache , zu verstehen,
irgend einem Gegenstande einen Namen schön (d. h. richtig) beizulegen 5 ),
d. h. dass an eine willkührliche Entstehung richtiger Benennungen (Wörter)
nicht zu denken sei.
Sokrates tritt also Kratylos Meinung bei, jedoch mit der Beschran-
kung, dass trotz dem jedes Volk seine besondre Sprache haben könne.
Nur tpvGhi, nicht £w#if*ß v die in letzter Instanz mit Willkühr identisch
ist , kann eine Sprache entstehen , deren Wörter Richtigkeit haben wollen.
So wird denn auch 397 A im Fall der willkührlichen Entstehung den
Wörtern Richtigkeit geradezu abgesprochen, indem es hier heisst: 'Von
wo sollen wir anfangen zu untersuchen .... damit wir erkennen , ob die
Benennungen selbst uns Zeugniss geben, dass sie keinesweges so aufs
Gerathewohl jedem Gegenstand beigelegt sind, sondern eine gewisse
Richtigkeit haben'? 6 ) vgl. auch 427 D, wo Hermogenes selbst das Wort
1) 390 D Kqaxvlog dXq&tj X&yei Xiywv <pv<fe* xd dvopaxa slvcu toXg TtQdypaöi.
2) 391 A 9>t/'(fc« ti xhva ÖQ&öxifca $%ov sfrat xd övopa.
3) 390 D xtvdvvsvsi aQa... ehcu otf tpavlov , dg <ft) oU*, ij xov Svopaxog d&aig,
oHdä (pavlwv dvdquov oddt xwv lmxv%6vxtav.
4) 390 E xal od ndvxa dtjfiiovQydp dvopdxwv elvcu , dilti povov ixtfvov töv dno-
ßltnovra elg xd xfj (pifast ovopa öv sxdöxw xal dvvd\ksvov aixov xd eldog x$&4va*
€$g xe xd yQdfjbfjbaxa xal xäg avllaßdg.
5) 391 B xal od navxdg dvÖQÖg inUnao&ai xaldSg ccvxd (sc. xd övopa) nQaypan
öxcaovv &4<fd-a*.
6) nodev . ... dQ^cifjLe&a diatixonovvxsg , .... Iva stdßpev et äqa tjfjbZv impaQ-
xvqijOh aixd xd övopaxa pij ndw dno xov avxopdxov ovxoag ixatna xtfcrttot,
dXk' i%sw Xhvd SQ&dxfjxa;
Hh2
i m
244 THEODOR BENFEY,
Richtigkeit nur für die Kratylos'sche Auffassung der Sprache, die natur-
bedingte Entstehung der Wörter, gebraucht, und damit implicite aner-
kennt, dass es der seinigen (der willkührlichen = vertragsmässigen) gar
nicht zukomme: 'Kratylos macht mir vielfach viel zu schaffen . . . .,
indem er zwar sagt, die Wörter hätten Richtigkeit, aber sich nicht
deutlich darüber erklärt, worin diese besteht' l ). Und mit Recht.
Denn wenn , wie er behauptete (384 D) , jeder Lautcomplex , durch wel-
chen man einen Gegenstand benennt, sein richtiger Name ist, dann
fallt jeder Unterschied zwischen richtig und unrichtig weg und man
kann mit demselben Recht sagen, jeder ist unrichtig.
Sonach hat die empirische Bedeutung der (Jß#onjs, welche nichts
als die Thatsache ausspricht, dass der Erfahrung gemäss ein Wort dann
richtig ist, wenn es in dem Sinne verstanden wird, in welchem der Spre-
cher es gebraucht, und so im Anfang des Dialogs vorausgesetzt wird,
wie daraus hervorgeht, dass Hermogenes hier Sg&ottjg eben so sehr für
seine Auffassung in Anspruch nahm (483 D) , als Kratylos fiir die sei-
nige, einer principiellen Platz gemacht: oq&öttjs im principiellen Sinn
ist nur denkbar, wenn die Benennungen der Dinge auf eine objectiv
und subjectiv bedingte Weise entstanden, wenn speciell die Idee der-
selben von einem kundigen Namen verfertiger in Lauten und Sylben aus-
gedrückt ist (390 E). Damit ist aber nicht entschieden, ob diess auch
in der wirklichen Sprache der Fall sei, ob diese Annahme sich als
richtig in ihr nachweisen lasse , ob sie nicht . vielleicht eine in diesem
Sinn richtige Sprache gar nicht sei. Darüber wird uns erst der zweite
und dritte Abschnitt belehren.
1) . . . nokkd yi poi nollccxtg nQaypaux naqi%Bh Kqatvloq .... tpdöxwv p$v elvcu
/k/t.YA<rnmw sfftJ/wi/vvvuiiJ unm/* A iiHwiii skai/f^aj ttrwttsc/* i ^umu
oq&Ötijtcc dvo\kdx<av , i}n$ d' hriiv ovdüv (facpsg Xiywv.
^rfj
Ueber
die Aufgabe des platonischen Dialogs: Kratylos
Von
Theodor Benfey.
Zweite Abhandlung.
Vorgetragen in der Sitzimg der Eönigl. Gesellschaft der Wissenschaften vom 2. Juni 1866.
V.
Der zweite Abschnitt beginnt 390 E und reicht bis 427 D, ist also
bei weitem der längste , indem er weit über die Hälfte , fast zwei Drittel
des ganzen Dialogs umfasst.
Hermogenes weiss auf Sokrates Ausführung nichts zu erwidern , ist
jedoch von dieser dialektischen Beweisführung auch noch nicht über-
zeugt; er fühlt, dass der Satz, 'dass man rö sJdog rov dro/uamg in Laute
und Sylben zu legen habe (390 E)', seine Verständlichkeit erst dadurch
erhalten könne, wenn auch die Art seiner Anwendung aufgezeigt sei,
und bemerkt daher: 'ich glaube, dass ich mich eher so werde über-
zeugen lassen, wenn du mir zeigst, welcher Art die natürliche Richtig*
keit der Benennung sein muss ' 1 ).
Sokrates antwortet, dass wisse er nicht, doch sei er bereit, es mit
ihm gemeinschaftlich zu untersuchen (391 A).
Diese Untersuchung zerfallt in zwei Theile, deren erster, bis 397 A
reichend, eine Art Einleitung bildet. Zuerst (391 B) wird die Frage
aufgeworfen, wo und wie man sich wohl über die Richtigkeit der Be-
nennungen unterrichten könne. Der Unterricht der Sophisten wird ab-
gewiesen (391 B. C). Eher soll man sich bei Homer und den übrigen
Dichtern Rath holen (391 CD). Homer bemerkt einigemal, dass die
Götter dieselben Gegenstände anders benennen, als die Menschen: 'glaubst
du nicht, dass er damit etwas grosses und wunderbares über die Rich-
tigkeit der Benennungen sagt ? Denn es ist doch klar , dass die Götter
1) 391 A ... doxa p<H <&ds &v paXXov mrt&ijaeo&al CO$, «* f*o# det&Hxg, qvnva
246 THEODOR BENFEY,
sie, was Richtigkeit betrifft, mit den Namen benennen, die ihnen von
Natur eigen' (SfjAov yäg dij on diys &sol avtä xaXovai nqdg i^&6tr[ta cctibq
öm (fvoet ovöjuazct) ; es wäre von Wichtigkeit zu wissen , um wie viel die
göttlichen richtiger seien als die menschlichen (vgl. 392 A). Doch bleibt
es bei diesen Andeutungen; es wird kein Versuch gemacht, vermittelst
dieses Unterschieds näher zu bestimmen, worin die Richtigkeit der Be-
nennungen bestehe; denn 'das herauszubringen, gehe wohl sowohl über
Socrates als Hermogenes Kräfte' (392 B).
Beachten wir, dass fast in diesem ganzen Abschnitt der Scherz
eine so hervorragende Rolle spielt, dass er dem Ernst nur eine sehr
geringe Stelle überlässt, so dürfen wir, zumal wenn wir die Einzelheiten
in Betracht ziehen, auch schon diesen Anfang zu dem scherzhaften Theil
rechnen. So ergeben sich z. B. die pathetischen Prädikate : ovx ots$ tovto
asfivop n slvcu; und tpavXov fjysl rd /udfrijua; (392 A) 'Glaubst du nicht,
dass es etwas ehrwürdiges sei?' 'hältst du es für unbedeutend zu er-
kunden?' wenn man sie mit dem zusammen hält, wovon sie prädicirt
werden, nämlich 'ob es richtiger sei, den Fluss in Troja Xanthos oder
Skamandros, den Nachthabicht /aAxfe oder xviiirdig zu nennen', als reine
Ironie. Ist diese Benutzung der Göttersprache oder des Homer über-
haupt zur Bestimmung des Begriffs der Richtigkeit verspottet, so folgt
daraus wohl unbedenklich, dass der Verfasser des Kratylos sie nicht,
selbst nicht zum Scherz, erfunden, sondern schon vorgefunden hat und
der Vollständigkeit — wohl auch des Scherzes wegen, der im ganzen
zweiten Abschnitt vorwaltet — nicht mit Stillschweigen übergehen wollte.
Ob die Herakliteer, gegen die der Dialog vorzugsweise gerichtet ist,
sich auch durch eine derartige Verwerthung des Homer für ihre Unter-
suchung über die Richtigkeit der Wörter im Theaetet den Beisatz Ytytq-
oeiot und hier verdienten Spott erworben haben, oder ob damit nur die
damaligen Kenner und Erklärer dieses Dichters (ol vvv mQ% "Ofitigov dts-
vol . • . • o\ i£riyovfi€PO$ tbv nottivf^v 407 A) ironisirt werden , wage ich
nicht zu entscheiden.
Für leichter erklärt Sokrates die Entscheidung darüber: welchen
Namen von Hektors Sohn Homer für richtiger gehalten habe, ob Ska-
ÜBER DIE AUFGABE DES PLATONISCHEN DIALOGS : KRATYLOS. 247
mandrios oder Astyanax (392 B). Hier ist aber , wie schon Schleier-
macher angemerkt hat, der Scherz unverkennbar. Aus" TgeSsg in Dias
22, 506 schliesst Sokrates, dass nur die Männer ihn Astyanax genannt
hätten, indem er in sophistischer Weise das masculinare Geschlecht des
Volksnamens allein gelten lässt, sich stellt, als wisse er nicht, dass es
das weibliche mit in sich begreife; daraus folgert er dann, dass er bei
den Frauen Skamandrios geheissen habe, natürlich absichtlich II. 6, 402
übersehend, wo grade von Hektor gesagt wird, dass er seinen Sohn
Skamandrios zu nennen pflege, die andern aber Astyanax. Weiter fol-
gert er dann, dass, da die Frauen minder vernünftig seien, als die
Männer, so sei Astyanax der richtigere Name, was er dann durch die
etymologische Bedeutung desselben zu erhärten sucht; und damit glaubt
er dann ' gewissermassen eine Art Spur von Homers Ansicht über die
Richtigkeit der Wörter zu erfassen ' l ) , wo der Scherz deutlich genug
auch in den Worten hervortritt. Auch diese Entwicklung bezieht sich
gewiss auf ähnliche Spitzfindigkeiten, welche bei der Frage übet die
Richtigkeit der Wörter ventilirt sein mögen. Doch giebt sie Veranlas-
sung zu zwei allgemeinen Betrachtungen, die, wie die allgemeinen Sätze
— schon nach Schleiermachers Bemerkung — überhaupt, ernsthaft ge-
meint sind. Die eine hebt hervor, dass es gerecht sei, einen Spross
von derselben Art, wie das von dem er entsprossen, mit demselben
Worte, also nach der Art, zu bezeichnen (das Junge eines Löwen eben-
falls Löwen zu nennen) 393 B. 394 D. Die andre, dass die Identität
der Benennungen einer und derselben Sache nicht von der Identität ihrer
Laute, sondern ihres (durch die Etymologie bestimmbaren) begrifflichen
Inhalts abhänge. 'Es verschlägt nichts \ heisst es 393 D, 'ob es in diesen
oder jenen Sylben dasselbe bedeutet, eben so wenig, ob ein Buchstabe
hinzugekommen oder weggenommen ist, solange nur die Beschaffenheit
des Gegenstandes sich in dem Namen vorherrschend kundgiebt' 2 ).
1) olopevog nvog tStmsQ l%^ovg i<pd7m<f&cu tijg € 0[mjqov do^tjg mqi dyopdtwv oq-
&OT9JTOS 393 B.
2) et dl iv htqaig (fvXXaßatg fj iv kdqcug td aütd <ffjfMxiv€$, oddev nQayfia, odd'
248 THEODOR BENFEY,
Die letztere Betrachtung insbesondre war, wenn es so stricte An-
hänger der naturbedingten Entstehung der Wörter gab, dass sie annah-
men, dass ein und derselbe Gegenstand sich nur in denselben Lauten
kundgeben konnte , zur Widerlegung derselben von keiner ganz geringen
Bedeutung. Aber wenn wir sehen, welche Anwendung, besonders im
zweiten Theil, von der Theorie gemacht wird, dass Buchstaben ohne
Nachtheil für die etymologische Bedeutung eines Worts zugesetzt und
ausgestossen werden können, so möchte man fast glauben, dass sie nur
hingestellt sei, um ein Seitenstück zu Hermogenes Ahnung abzugeben,
dass die Richtigkeit eines Satzes wesentlich von seiner Anwendung be-
dingt sei.
Noch stärker tritt diess in Bezug auf die erste Betrachtung hervor.
Hier wird yivos auf eine ganz sophistische Weise zuerst im Sinne der
naturgemässen Art genommen, wo der Satz ganz richtig ist; dann aber
auch in Bezug auf Stand (der Sohn eines Königs soll auch König heissen
394 A) ; weiter wird dann 394 D ff. im Gegensatz dazu richtig geschlossen,
dass, wenn der Spröss widernatürlicher Weise einer andern Art ange-
höre, er nach dieser zu benennen sei (ein von einem Pferd geworfenes
Rind, Rind), dieses aber, ganz widersinnig, auch auf moralische Be-
schaffenheit ausgedehnt (der Sohn eines Frommen, wenn er ruchlos sei,
dürfe nicht seinen Namen nach seinem Vater erhalten, sondern nach
der Art, der er angehöre, 'nicht @e6<piAos * Grottlieb ' heissen, sondern
was das Gegentheil davon bedeute, wenn die Namen Richtigkeit haben
sollen 9 ) und endlich auf die Eigentümlichkeit des Trägers eines Namens
überhaupt. Dieses Princip wird dann — im Kratylos'schen Sinn — in
mehreren Eigennamen nachzuweisen gesucht, dabei jedoch schon die
Möglichkeit des Zufalls tv/ij (394 E vgl. 395 E) hervorgehoben , wie denn
im zweiten Theil, der systematischen Behandlung der Aufgabe dieses
zweiten Abschnitts, die Richtigkeit der Eigennamen durch Nachweisung
ihrer etymologischen Uebereinstimmung mit der Natur der Träger zu er-
sl TiQOOxsirctl x» yQcifjbpa oid' et dcprJQtitcUj oddiv otidi tovzo, £a>t dv iyxQcrtjjg
f t ij odüla %ov nqdypavog drjJLovfiSvfj iv % « dvöpan. Vgl. 394 B. C.
ÜBER DIE AUFGABE DES PLATONISCHEN DIALOGS: KRATYLOS. 249
härten ganz und gar abgewiesen wird. Wenn sich Sokrates dennoch hier
längere Zeit, als billig ist, bei dem Versuch aufhält, die Eigennamen in
einen derartigen Einklang mit ihren Trägern zu bringen, so geschieht
diess zunächst wohl, um in Nachahmung ähnlicher, wenn auch nicht
von Sophisten herrührender, doch sophistischer Entwicklungen zu zeigen,
wie die, welche Kratylos Ansicht hegten, die Richtigkeit der Eigennamen
zu verdeutlichen suchten; es dient aber auch schon dazu, klar zu ma-
chen, welcher Art die oQ&ovris überhaupt sein solle, nämlich eine Art
Beschreibung der Dinge (bei Eigennamen der mit diesen Benannten),
vermittelst des etymologischen (oder, wie sich weiterhin zeigen wird,
lautlichen) Werths ihres Namens, und anzudeuten, wie gewaltsam, ver-
kehrt und lächerlich die Versuche seien , diese dg&ottig in der wirklichen
Sprache nachzuweisen. Denn dass auch in dieser Einleitung schon der
Scherz vorherrscht, zeigt ausser den schon hervorgehobenen und leicht
noch vermehrbaren Einzelheiten insbesondre der durchweg ironische
Schluss derselben 396 D ff. Trotz dem , dass der scheinbar treffliche
Erfolg der Namendeutungen Sokrates Muth so hoch hebt, da38 er, wie
er sagt, — wenn er nur Hesiods Genealogien im Kopfe hätte — nicht
aufhören würde zu demonstriren , mit wie vollem Recht auch die ent-
fernten Stammväter ihre Namen führen, weiss er doch nicht, woher ihm
die Weisheit , die er eben hat leuchten lassen , angeflogen sei. Er
schiebt die Schuld auf den enthusiastischen Euthyphron, mit dem er
am Morgen lange zusammengewesen sei und der ihm Ohr und Seele
mit seiner wunderlichen Weisheit gefüllt habe (396 D). Auf denselben
Euthyphron beruft sich Sokrates auch mehrfach im Folgenden, insbesondre
in dem zweiten gewissermassen systematischen Theil (399 A; 407 D;
409 D; 428 C), und nach 399 E scheint für diesen und seine Anhänger das
Princip 4 je toller, je besser' gegolten zu haben; denn nachdem hier für
yvxfy 'Seele' die ganz richtige Ableitung von xpvx™ 'hauchen' gegeben
ist, fahrt Sokrates auf einmal, als ob er sich eines besseren besonne,
fort 'doch, bitte, einmal still! ich glaube ich. sehe da etwas, was
den Freunden des Euthyphron viel wahrscheinlicher vorkommen wird.
Denn jenes werden sie, wie mir scheint, verachten und für platt hal-
Hist.-Philol. Classe. XII. Ii
250 THEODOR BENFEY,
ten ' 1 ) , und dann folgt die Erklärung aus yvoig und fyco , wonach yw/ij
eine euphonische Umwandlung von yvoty*! 8ein soll, eine Etymologie,
die augenscheinlich im Geiste von euthyphronischen fabricirt, Anspruch
auf Tiefsinn machen soll, aber einen grosseren auf Wahnsinn hat
Euthyphron ist natürlich identisch mit dem, welchen wir aus dem
nach ihm benannten Dialog kennen, ein Mann, welcher es durch seine
verkehrten Speculationen über religiöse Fragen in seiner Frömmigkeit
so weit gebracht hatte, dass er seinen eignen Vater, noch dazu auf
zweifelhafte Indicien hin, des Mordes anklagte. Wer von dessen Weis-
heit und Enthusiasmus angesteckt ist , kann natürlich nur auf Verkehrt-
heiten gerathen, die vom Wahnsinn nicht fern liegen, und insofern
Sokrates gleich in diesem ersten Theil — der Einleitung — des zweiten
Abschnitts erklärt, dass er seine Versuche, welcher Art die Richtigkeit
der Wörter sein müsse, in der wirklichen Sprache nachzuweisen, unter
dem beherrschenden Einfluss des euthyphronischen Geistes mache, deutet
er schon hinlänglich an, was man von ihnen zu erwarten habe, mit
andern Worten, dass diese Richtigkeit in der wirklichen Sprache nicht
nachweisbar sei.
Doch Sokrates hat sich nun einmal in diesen sündhaften etymologi-
schen Pfad hineintreiben lassen und nach dem Frincip, dass wenn ein-
mal Sünden abzuwaschen sind, ein Paar mehr oder weniger keinen
Unterschied machen, schlägt er, in seiner Ironie fortfahrend, vor 'sich
heute dieser wunderlichen Weisheit weiter zu bedienen und die Erfor-
schung der Benennungen (damit) zu Ende zu führen, morgen aber dafür
Busse zu thun und sich reinigen zu lassen, sobald sie jemand gefunden,
der einen von derartigen Dingen zu reinigen verstehe, sei es nun einer
der Priester oder der Sophisten' 2 ).
1) sl dh ßovleiy i%6 faipa* doxa ydq poi n xa&OQqv m&avari€QOV tovzov toT$
äfjHfl Ei&vcpQOVCf zovtov phv ydq, dg ipol doxet, xaxacpQOvrjöcusv äv xcd ipff-
(fatvw <po(mxdv elvat.
2) 396 D doxet otv /uot XQV P€U ovxtaal ijfidg TWirjacti • td per tfjpeQOV etvat ZQV~
;.;^ii
ÜBER DIE AUFGABE DES PLATONISCHEN DIALOGS: KRATYLOS. 251
Damit wendet er sich nun zu dem zweiten, gewissermassen syste-
matischen, Theil, um zu erforschen, 'ob die Benennungen selbst (d. h.
die wirkliche Sprache, von welcher im ersten Abschnitt — ausser den
drei Eigennamen zu Anfang — gar kein Beispiel angeführt war und im
dritten nur sehr wenige vorkommen) uns Zeugniss dafür ablegen werden,
dass sie keinesweges so aufs Gerathewohl jedem Gegenstand beigelegt
sind, sondern eine gewisse Richtigkeit haben' (397 A). Die Brauchbar-
keit der Eigennamen von Heroen und Menschen für diese Untersuchung
wird jetzt — gegen Kratylos Ansicht und gegen die Praxis im vorigen
Theil — als trügerisch (d. h. ohne sichere Auskunft über das , worin die
Richtigkeit besteht) abgewiesen (397 B, vgl. 394 E, in Bezug auf das
ovdlv ngoGrjxop ivtoio). 'Am wahrscheinlichsten ist, dass wir die richtig
beigelegten' (also auch über das Wesen der Richtigkeit Aufschluss ge-
benden) 'unter den Namen für ewig dauernde und durch die Natur existi-
rende Gegenstände finden' (d.h. einerseits für Götter u. s. w., andrerseits
für Sonne, Mond u. s. w.). 'Denn hier muss die Beilegung der Namen
mit der gross ten Sorgfalt vollzogen sein' l ). Hier wird selbst die Mög-
lichkeit einer göttlichen Entstehung wenigstens von einigen der Namen
berührt, 'vielleicht aber sind einige derselben auch von einer die mensch-
liche Kraft überragenden göttlichen beigelegt ' 2 ) , in welchem Falle sie
natürlich noch mehr Anspruch darauf haben, wahrhaft richtig zu sein
und auch über das Wesen der Richtigkeit Auskunft zu geben. Eine
göttliche Entstehung der Sprache wird — um diess hier sogleich zu be-
merken — auch 416 C, 425 D angedeutet und von Kratylos 438 C, wo
sie aber für die wirkliche Sprache in der Kratylos'schen Auffassung von
Sokrates treffend zurückgewiesen wird.
oati&cu ccvrij (sc. tfj daipovlq <fo<piq) xal rä Xotnä jtsql %mv dvopdmv imöxi-
tpaa&a*, avQiov <T dv xal VfiXv %vvdoxij, dfiodt07TOfi7vrj<föfM&d %s aizfjv xal
xa&aQOVfM&a QsvQÖvuq Seng %ä zo$av%a duvoq xa&aiqeiv, e$z$ vüv Uq4w
ug slts %mv (focpHttoUv.
1) elxdg (fö (juzb&m fjfAäg siqeXv %ä ÖQ&tSg xslfjuvu mqi %d del Svva xal 7t€<pvxota.
ionovddtf&a* yäq ivtav&a pdkoza nqiney x^v üitiiv %wv dvopdtwv.
2) laug d 9 8VHX adwv xal ini i^enniqag dvvdpecog rj %yg %mv dvd-Qoinmv foidy.
Ii 2
252 THEODOR BENFEY,
415 B giebt sich Sokrates den Schein, als ob diese systematische
Behandlung der Wörter eigentlich eine erschöpfende sein sollte und das
Uebergangene gewissermassen nur durch Zufall übergangen sei; er be-
merkt nämlich, dass er deiAta 'Feigheit 1 noch nicht durchgenommen,
sondern übergangen habe; es hätte seine Stelle nach ävigsta 'Tapferkeit'
haben müssen, und fahrt fort: 'aber ich glaube, wir haben auch vieles
andre übergangen' 1 ). Ein gewisses System ist in der Darstellung un-
verkennbar zu Grunde gelegt; es zu erschöpfen, zumal in der hier be-
folgten Weise, wäre natürlich die grösste Thorheit gewesen; was der
Verfasser damit erreichen wollte, hat er mit den gegebnen Beispielen
vollständig erreicht und würde es auch mit noch wenigeren erreicht
haben.
Die Frage, ob die Benennungen eine Richtigkeit haben und worin
diese bestehe, wird in diesem Theile in zwei Unterabtheilungen be-
handelt. Die erste reicht bis 421 C und bespricht die Wörter, welche
vermittelst andrer, auf denen sie beruhen — sei dieses nur eines, wie
yvxri von ipix 03 * °der mehrere, wie in der oben mitgetheilten Erklärung
desselben Wortes aus <pvoig und ^fco — etymologisch erklärt werden (vgL
421 E ff.), also um sie mit einem für das hier eingeschlagne Verfahren
zwar nicht ganz passenden, aber die Eintheilung uns näher bringenden,
erläuternden Ausdruck zu bezeichnen : die ableitbaren (und zwar sowohl
die einfachen als zusammengesetzten). Die zweite reicht bis zu Ende
des zweiten Abschnitts (427 D) und spricht in ähnlicher Allgemeinheit,
wie im ersten und dritten Abschnitt, von denjenigen Wörtern, welche
aus andern nicht erklärt oder überhaupt auf andre nicht zurückgeführt
zu werden vermögen, also in unserm Sinn: den unableitbaren. Diese
bilden in letzter Instanz die Grundlage der ableitbaren und werden von
Sokrates als deren Elemente bezeichnet (421 D). 'Wenn Jemand', heisst
es hier , ' stets nach den Aussagen fragt , welche den Wortsinn (wir wür-
den sagen: den durch die Etymologie erkennbaren begrifflichen Inhalt)
1) ... iv m zjj deiXlct, S ovrn» Sitjl9o[Aev dXX 9 insQtßypev , diov adto (tetä tqv
dvÖQeiav <fx£xpac&ar doxovpev 64 poi xal älXa noXXd vmQßfßfjxtva*.
j*^.
ÜBER DIE AUFGABE DES PLATONISCHEN DIALOGS : KRATYLOS. 253
einer Benennung bilden und wiederum nach denen, welche den Wort-
sinn dieser Aussagen bildeten, und nicht aufhört dieses zu thun, ist es
dann nicht nothwendig, dass der Antwortende zuletzt das Antworten
ablehnen muss 1 )?' Weiter dann 422 A: 'Wann hat nun der sich Los-
sagende ein Recht zur Ablehnung und zum Aufhören? Doch sicherlich,
sobald er zu denjenigen Benennungen gelangt, welche gewissermassen
die Elemente der übrigen, sowohl (etymologischen) Erklärungen als Be-
nennungen sind. Denn wenn es sich so verhält, so wäre es ungerecht,
auch diese noch als aus andern bestehend nachweisen zu sollen. So
z. B. haben wir oben gesagt, dass äycc&op 'das Gute* aus ayatnöv 'das
Bewunderungswerthe' und &oov 'das Eilende' bestehe. Von &oöv könn-
ten wir vielleicht sagen , dass es aus andern und diese wieder aus anderen
bestehen , allein wenn wir auf etwas stossen , was nicht mehr aus andern
Benennungen besteht, dann dürfen wir mit Recht sagen, dass wir schon
bei einem Element sind und nicht mehr nöthig haben, dieses auf andre
Benennungen zurückzuführen' 2 ).
Obgleich ich mich sonst nicht auf den Nachweis der Kunst, welche
sich in der Gliederung und Darstellung dieses Dialogs erkennen lässt,
einlasse, so kann ich doch nicht umhin, darauf aufmerksam zu machen,
wie einsichtsvoll und zweckgemäss hier die natürlich scheinende Ordnung
umgekehrt ist.
Sokrates behandelt zuerst die ableitbaren Wörter, weil nur an ihnen
1) sX ng äsi, di' äv äv Xiyfpwu xd övofia, ixetva iQfoerat xd Qijpata, xal av&ig
av dy' <Sv äv xd Qypaxa Xex&Jjj ixstva mvtfexa*, xal xovxo /lmJ navosxm txohoVj
äq' oix avdyxtf xsXevxdivxa dnsimXv xov dnoxqivdftsvov ;
2) nöxs oiv dneinwv i änayoqevnv dtxaicog navotx* äv; äq* ovx imtddv in*
ixslvoig yivtjxa* xotg dvopatov, a dönsQsl axoh%s%a xdv äXXwv ictl xal Xdycov xal
dvopdxcov; xavxa ydq nov ovxin dixcuov (pavyvat i£ äXXtov dvofidxtov %vyxsi~-
peva, äv ovzcog ixß. otov vvv dij td äya&dv iqtapsv ix xov dyadxov xal ix
xov &oov %vyxsX<f&a$ ß xd d£ &oov Xtiwg <paXpsv av $% hiquv, ixstva dt j$ dXXmv
äXX' idv noxi ye Xdßufisv o odxix* ix xivuv ixtqcov tyyxsixat övopdxooVj
d$xaU$g äv tpatpev inl <Sxoy%slü) xs fjdfj slvai xal oixixh xovxo fjpäg dsTv slq
äXXa 9v6\Mxxa ävatpiq&v.
.■I
254 THEODOR BENFEY,
klar zu machen möglich ist, was er unter der natürlichen Richtigkeit
verstanden wissen will. Die hier dargelegte Ansicht wendet er dann
auf die unableitbaren an und sucht zu zeigen, durch welche Mittel bei
ihnen dieselbe Richtigkeit gewonnen werden könne.
Dieser Gang der Untersuchung macht es uns zugleich möglich, die
erste Abtheilung ohne weitere Rücksicht auf die zweite durchzugehen.
In dieser setzt Sokrates seine Ansicht, worin die Richtigkeit der
Wörter bestehe, durch die etymologische Erklärung folgender Wörter
auseinander, welche ungefähr (denn manches wird gelegentlich mit be-
sprochen) in drei Classen zerfallen, 1. Götter: &boI Götter 397 C, daf/uayy
Dämon 397 E , fywg Heros 398 C , av&Qwnog Mensch 399 C , tpvxn Seele
399 D, ovSfia Körper 400 B, 'Evita Vesta 401 B, c P(a Rhea und Kqovoq
Kronos 402 B, Tr\&vg Tethys 402 D, Iloöudwv Poseidon 402 E, IUovzcor
Pluton 403 A, *Atdtig Hades 403 D, JmityiV Demeter 404 B, "Hqci Hera
404 B , 4>s()(>€<pctTTcc Persephone 404 C , AtioXXwv Apollo 404 E , Movoa
Muse 406 A , Ar\xt& Latona 406 A , "AQTsjuig Artemis 406 B , Jtörvaog Dio-
nysos 406 D (dabei gelegentlich ofoog Wein 406 C) , y A<pQodlvri Aphrodite
406 C, 'Afyyä Athene, IlaXXctg Pallas 406 D , r 'H 9 aiowg Hephästos 407 C,
"A^g Ares 407 C, 'Eg/ufa Mercur 407 C, Il&v Pan 408 B. — 2. Natur-
existenzen: tjXiog Sonne 409 A, osXijpri Mond 409 A, juslg Monat 409 C,
Satga Sterne 409 C, äatQctnfi Blitz 409 C, twq Feuer 409 D, vSwq Wasser
410 A, c% Luft 410 B, al&rjg Aether 410 B, yn Erde 410 B, cJpai
Jahreszeiten 4 IOC, ivictvtög und tfrog Jahr 410 C. — 3. Philosophische,
ethische, psychische und andre Benennungen: g>QÖyriaig Ueberlegung
411 D, yveS/uTi Erkenntniss 411 D, v6r\oig Denken 411 D, oaMpQoovrt] Be-
sonnenheit 411 E, imatfiiifi Wissen 412 A, oövsaig Einsicht 412 A, oo<pCa
Weisheit 412 B, äya&öv das Gute 412 B, dixcuoovvr} Gerechtigkeit 412 C,
äpdQhCa Tapferkeit 413 D, gelegentlich ävrJQ dg^r Mann 414 A, yvvij
Frau 414 A, &rjXv das Weibliche 414 A, »tjXrj Saugwarze 314 A, &äXXa>
Blühen 414 A, r(x pt l Kunst 414 B, fiijxccr^ Kunstgriff 415 A, xaxte
Schlechtigkeit 415 B, dsiXCa Feigheit 415 B, agsttj Tugend 415 C, alaxQör
das Hässliche 416 A, xaXöv das Schöne 416 B, gvjuytyov das Zuträgliche
417 A, xigdog Gewinn 417 B, XvamXow das Vortheilhafte 417 B, ßXct-
-■* j>.
ÜBER DIE AUFGABE DES PLATONISCHEN DIALOGS: KRATYLOS. 255
ßsgöp das Schädliche 417 D, ßXdnrco schaden 417 E, £t}/uiwdes das Nach-
theilige 418 A, gelegentlich ^/u(qcc Tag 418 C und £vyov Joch 418 D,
ijcWij Vergnügen 419 B, Xvnr\ Trauer 419 C, ävla Betrübniss 419 C,
äXy^doip Schmerz 419 C, iSvyrj Qual 419 C, äx^iäv Kummer 419 C,
X(*QÜ Freude 419 E, Tiqxfßis Ergötzen 419 D, teqtivöp das Ergötzliche
419 D, €V<pQOGvvr\ Fröhlichkeit 419 D, im&vfita Begierde 419 D, Sv/uös
Gemüth 419 E, l'/utgos Verlangen 419 E, no&os Sehnsucht 420 A, Üqojs
Liebe 420 A , 86$ a Meinung 420 B , ofqcw Vorstellung 420 B , ßovXf[
Bathschluss 420 C , äßovXtcc Unentschlossenheit 420 C , ixovotop das Frei-
willige 420 D, dpäyxtj Notwendigkeit 420 E, ovo/na Namen 421 A,
dro/uaGTOP das Nennbare 421 A, aXrftsia Wahrheit 421 B, yevdog Lüge
421 B, ov das Seiende und ovata das Wesen 421 B.
An diesen Beispielen* zeigt Sokrates nun , worin die Richtigkeit der
ableitbaren Wörter besteht; vgL 397C: 'Ist es also nicht billig mit den
Göttern &eol zu beginnen und zu untersuchen, in wiefern dieselben mit
eben diesem Namen (&€ol) mit Recht benannt sind?' 1 ); ferner 400 D, wo
Hermogenes auffordert 'zu untersuchen, nach welcher Richtigkeit die
Namen der einzelnen Götter diesen beigelegt seien' 2 ), d.h. welcher Art
diese Richtigkeit sei; ferner 411 A, wo derselbe sagt 'ich möchte gern
erschauen, nach welcher Richtigkeit diese schönen Benennungen bei-
gelegt sind , . . . . wie Ueberlegung yQorriois 1 u. s. w. 5 ).
Diese Richtigkeit besteht nach Sokrates darin, dass die Benennun-
gen vermittelst ihres etymologischen Werthes, d. h. vermittelst des Ele-
ments, von welchem sie abgeleitet, oder vermittelst derer, durch deren
Verbindung sie gebildet sind, das Wesen der Dinge bezeichnen oder
beschreiben, deren lautlicher Ausdruck sie sind. Er selbst fasst das
Resultat der Untersuchung 422 D in den Worten zusammen : • die Rich-
tigkeit der bisher durchgegangenen Benennungen (d. h. der eben aufge-
zählten) wollte der Art sein, dass sie fähig wäre kund zu thun, wie
1) flrjf not% adtd xovxo %d övopa oi &eol dQ&tag ixXijdyöccv;
2) xavä tiva no%i dq&ovqsa ccdtwv (sc. ttSv $€wv) %ä ivi\*am xsItcu;
3) tjö^oag äv &€aoalfif]V taSta %d xaXd dvöpata, ilvt nw& oQ&otqu xsttat, ....
otov <fQovi]Oig etc.
256 THEODOR BENFEY,
jeder (durch sie bezeichnete) Gegenstand beschaffen ist' 1 ); vgl. 428 E
4 die Richtigkeit der Benennung besteht darin, dass sie zeigen wird wie
die Sache ist' 2 ); ferner 423 E; 431 E; 436 E, wo das was sie zeigen
soll, 'das Wesen-' ovaCa genannt wird. Durch diese Charakterisirung
der Dinge vermittelst des etymologischen Werths der Wörter ist die
Richtigkeit der letzteren gewissermassen begründet und gegen das Ende
dieser Nachweisung, wo Sokrates voraussetzen darf, dass seine Ansicht
über das , worin die Richtigkeit bestehe , vollständig klar sei , fragt daher
Hermogenes 416 A, statt das Wort 0Q&(ög oder SQ&öjfjg zu gebrauchen,
in Bezug auf die Wörter xuXop 'das Schöne* und aiaxQÖP 'das Hässliche',
nfi evAoycog tx €i l * n wiefern sie sich wohlbegründet verhalten', d.h. diese
Benennungen vermittelst der Etymologie sich als wohl begründet erwei-
sen. Diesem nfi (vgl. auch die schon angefühlte Stelle 397 C) entspricht
dann in dem Nachweise des etymologischen Inhalts ravTfj 'insofern', 'in
dieser Weise' 417 B.
Die Wörter sind entweder, wie gesagt, von einem Element abge-
leitet, dann heisst es, dass den Dingen ihre Benennung von etwas (and)
gegeben wird (Ünopo/ud&ip > xaAsip), vgl. 397 D: die ersten Hellenen
'haben die Götter (&€ovg) von dieser ihrer Eigen thümlichkeit des Laufens
(dstp) benannt' (and zavrfjg trjg yvoewg ii?s rov &€ip &eoig avroig tnopo/Lueaat);
414 A 'örjAv 'das Weibliche' scheint von &r\Xri 'der Brustwarze' benannt
zu sein' (rö dt &fjAv dnd zrjg d^tiAfjg ti yatvtxai imorofido&ai) ; vgl. 406 A;
419 C, wo zweimal inopofid&ip und einmal xaXtlp (Sdvpq dl dnd rijg
ipdvoswg ri\g Xiinrig xexAtj/u^rj Soixsp); letzteres auch 408 B; 417 A. Xap-
ßdvsiv rö opo/ua dno 419 D; $x BiV T *> opo/ua dno 419 E u. s. w. Die
etwaige Aenderung, welche in' dem abgeleiteten Wort eintritt , wird
durch nagdyeip 'abführen, verändern' ausgedrückt, vgl. 398 D, wo das
Wort iJQcog 'der Heros' von tywg 'Liebe', von welchem es abgeleitet ist,
4 ein wenig abgeführt ist' (a/LaxQÖP naQtjy/u(pop iortp), nämlich insofern es
einen Spiritus asper statt des lenis und ein langes statt des kurzen e
1) u>v ys pvp dtsltilv&apsv %mv dvopdxwv r\ iqd-ot^g TO$ctv%tj ng ißovtevo etpai,
ola dtjXovv otov Sxaötov ititt zoüv övtwv.
2) dvofjbarog . . . 3q&6ttjs i<täv avtfj, rjng ivöet^stat otov iari tö nqäy^a.
•■■ 4
ÜBER DIE AUFGABE DES PLATONISCHEN DIALOGS: KRATYLOS. 257
hat (vgl. 400 C; 407 C; 416 B; 419 D); auch naQaxXCvw (400 B; 'um-
ändern' überhaupt 410 A). Die auf etymologischem Weg gewonnene un-
geänderte Form würde eigentlich die richtige sein; so müsste fislg 'Mo-
nat', welches von fieiova&cu 'abnehmen' abgeleitet wird, eigentlich justtjg
heissen l ).
Ist das Wort aus mehreren Elementen zusammengefügt, die keine
wesentlich scheinende Veränderung erleiden, so wird es als ein fyij/ua
4 eine Aussage', bezeichnet, d. i. eine Verbindung von Benennungen die
eine gewisse Selbstständigkeit hat, vgl. 421 B, wo äArj&sicc 'Wahrheit'
als eine Verbindung von aXr[ &8ta 'göttliches Umherschweifen' gefasst
wird 2 ). Sind sie aber bei der Verbindung verändert, so sind sie zu-
sammengefügt (ovraQ/id&w) ; vgl. 414 A.B, wo &dAAu) 'blühen', wegen des
raschen und plötzlichen Wachsthums von jungen Wesen, von &siv 'lau-
fen' und aAXeo&ai 'springen', abgeleitet wird 3 ). Am häufigsten wird
jedoch der Ausdruck 'zusammenhämmern' ovyxQots'ip gebraucht, vgl. z.B.
416 B, wo aiaxQÖp 'das Hässliche' aus äst faxor top §ovv ('immer den
Fluss, die ewige Bewegung des Heraklit, hemmend') erklärt und als aus
dei<j%oQovv zu alaxQOv zusammengehämmert betrachtet wird 4 ). So ist
ovofia 'Name' abgeleitet von ov 'seiend', 5 'das was' und einer dritten
Person Passivi von fidva 'gesucht wird', gleichsam ein ganzer zusammen-
1) 6 p$v ptlg dnd xov fi€iov<f&cu sXtj äv [lelqg do&u>g xexXrip&vog.
2) 'äXyöeia gleicht ebenfalls den übrigen (d.h. den vorhergehenden, welche alle
nach dem heraklitischen Princip der steten Bewegung (402 A, vgl. 416 A) er-
klärt sind); denn die göttliche Bewegung des Seienden scheint vermittelst
dieser Aussage, dXijd-eiccj als ein göttliches Umherschweifen benannt zu sein'
(iy d' äXij&€$a, xal tovto xoXq äXXoig ioixs [<fvyx€xoorij<f&ai ist von Hermann
mit vollem Recht als Interpolation bezeichnet; ich habe es daher auch un-
übersetzt gelassen]* ty yäq &sla tov övrog <fooä iotxs nooGsiorjavta* tovtw tm
Qtjfiaii, tfi dXfjd'Biq, tag &tla ovcfa äXtj).
3) ... tö xtdXXeiv ttjv avfyv juo» doxsX dnsyxdXßiV vqv t&v viioVj ön %a%s%a xal
i^aupvidia flyvetai* oXoviuo ovv pcptfiyTcu reo övöfiau, owaopotiag dnd tov
ÖeTv xal äXXsa&cu tö ovofta.
4) rw del itfgora töv §ovv tovto tovvopa i&ero deioypoovv vvv di ovyxQOtJjaaptsg
altixQov xaXovtiiv.
Hist.-Phihl. Classe. XU. Kk
258 THEODOR BENFEY,
gehämmerter Satz l ). Die volle unveränderte Gestellt dieser etymologi-
schen Elemente, etwa wie sie in dXij&sia erscheint, würde eigentlich
die richtigste Form des so gebildeten Wortes sein, vgl. 409 B, wo asXrpnrh
mit der volleren Form osAavaCa , als eine Zusammenhämmerung von
oiXag 'Glanz', ivov 4 alt\ v&ov 'neu', äef * immer' betrachtet und gesagt
wird, 'dass sie am richtigsten asXaevovsodsta genannt werden würde,
aber zusammengehämmert asXavaCa genannt werde' 2 ); vgl. 417 E, wo
oq&otcctcc filv &v sXr\; 419 D, wo iv dCxrj.
Vermittelst dieses etymologischen Verfahrens bringt Sokrates heraus,
was der Sinn (der etymologische Werth) einer Benennung (eines Worts)
sei, was es vosl; vgl. 397 E; 402 B; 407 E; 416 A 3 ); was diejenigen,
die diesen Namen gaben, dabei im Sinne hatten, sich dabei dachten,
ebenfalls durch vosiv ausgedrückt (399 D ; 401 D) ; durch diavosia&cu 4 ) ;
welcher Meinung sie in Bezug auf einen zu benennenden Gegenstand
bei der Benennung desselben folgten, ^yritf^cw 5 ). Ferner: was das Wort
vermittelst seines etymologischen Werths über seinen begrifflichen Inhalt
aussagt, Xiyu (398 D; 402 C tovto ye dXtyov avzb Xtyst on u. s. w. , 412 A
GVfinoQsvea&cu yäg Xtyei u. s. w.); was die, welche diesen Namen gaben,
damit über dessen begrifflichen Inhalt aussagen Xiyeiv 398 B. — Ferner,
1) 421 A (dvopa) iotxe toiwv in Xdyov ävdpan Gv%xexQOtfiikiv<p, Xdyovtog du tovt'
icttlv äv, oi tvy%dv€i £ijtiftMXj td övofMf paXXov dl äv av%d yvoitjg iv (S
Xiyofisv td dvofjuxotov iwav&a yäq Gag>t2$ Xiys* tovto slvat dv oi paGfia iötiv.
2) du dl ciXag viov ts xal ivov i%e* äsi, aeXaevovsoaeia [tev dixaidtcct' äv tdSv
övopdttov xaXolto, (rvyxsxQOVfjfj^vov fö asXavaia xixXytai.
3) td i*ev toiwv alo%qdv xal dt\ xatddyXov juo* (palveta* o voet. 'Was der Sinn
von alaxQÖv ist, scheint mir schon ganz klar'.
4) 401 B vi ovv äv uq <pahj dtavoovpevov tdv dvo\hdcavta 'E&dav dvopdaai;
'Was dachte wohl der, welcher die Hestia (so) benannte, mit diesem Namen
auszudrücken?' vgl. 407 B.
5) 401 D 'Diejenigen, welche es (das Seien statt odaia) titöia nannten, die glaub-
ten wohl, wie Heraclit, dass alle Dinge sich bewegen und nichts still stehe',
indem sie es von ti&etv 'stossen' ableiteten (tfco* d* ai woiav, axeödv u at
oiroi xa&' *H(>dxXHtov äv fjyotvto tä dvta livat, ts ndvta xal pivetv ovd&v).
_j- ■ u
ÜBER DIE AUFGABE DES PLATONISCHEN DIALOGS: KRATYLOS. 259
warum ein Gegenstand so genannt ist: dvofid&iv, xaXuv on 1 ); als was
(seinem begrifflichen Inhalt gemäss seiend) er so genannt ist 2 ) ; wovon
er so genannt ist: incwo/Lido&cu äno, d.h. von welcher etymologisch be-
legten begrifflichen Auffassung aus 3 ) ; wonach : xsxJUjo&ca xaxd 404 B ; in
Bezug auf: xsxJlfjo&at ngog 4 ) ; wegen : diu 5 ) ; wodurch : im Dativ (420 B
dö^a . ... rfj dioi&i inwvöfiaarai). — Ferner zeigt der etymologische'
Werth des Namens, was der Gegenstand ist: üvai (398 C; 406 C; 407 D;
409 A. C; 411 D fj <pQÖvri<HQ* (föQcig ydg &ra xal §ov potjaig u. s.w. 412 A;
413 A. E); was der Name sein will, d.h. durch seinen etymologischen
Werth als Wesen des Gegenstandes angeben will: ßovXezai hlvai 414 A.B.
In demselben Sinn erscheint häufiger ßovAercu allein 401 C; 402 C; 410B;
415 A. — Der Name giebt kraft seines etymologischen Werths das Wesen
des Gegenstandes kund: SrjAol o ßovJLercu 417 B und dr\Xoi allein 405 A;
411 D (^ yroi/nj ... dt]Xoi yorijg oxfyiv xal poi/u^atr); 415 C; 417 A.
Der Name benennt (vermittelst seines etymologischen Werthes) eine
Kraft, Eigenschaft (inovofidtsi dvvafiw) seines begrifflichen Inhalts 417 B,
oder ist danach benannt 419 E; 420 A. — Der Name zeigt durch seinen
etymologischen Werth an: /urivvsi, was sein begrifflicher Inhalt ist 404 D;
412 A; 412 E, oder der Namengeber zeigt es durch den des Namens an,
fitivvhi 411 E. — Der Name bezeichnet (oder wohl nur: deutet an) durch
seinen etymologischen Werth, was er sein will: or\fxaivH S ßovAsrai (vgl.
1) vgl. 402 E 'Der Name des Poseidon scheint mir von dem, welcher ihn zuerst
so nannte, gegeben zu sein, weil 9 (Avopdtr&cu .... du; 410 B i dl dy dr\q . . . .
ö%h atysi .... dtjQ xdxkyTcu; jj Su u. s. w.
2) 402 E dvöfiace floaeidowa dg noGideepov Svra; vgl. 406 B Xcaog di äqst^g
IcxoQa %i\v $edv (sc. "A^xspiv) ixdksGev 6 xalicag* %d%a d' dv xal dg tdv
aQOtov fHötjGaayg tov dvdqog iv yvvcuxi.
3) 404 B, o m Aidr\g «... noXXov deX dnö tov deidovg InwopdöSah , dXXd nolv
päXXov dnö tov ndvta td xaXd dsl eldivai, 406 A.
4) 406 A soixsv (sc. Arj&co) ovv nQÖg td pij tqa%i tov y&ovg dkl* tjp€QÖv u xal
XsXov sieuj&ai xexXyti&ai.
5) 406 B "jiQTSfug öS td dQtsfteg yaivsta* .... dtd trjv vqg naq&eviag im&vplav.
406 C *A<pQodkij . ... dut t$v ix tov dipqov yivstov. 406 D d»' S xsltat 'wes-
wegen er (der Name) beigelegt ist'; 420 B.
Kk2
260 THEODOR BENFEY,
oben von ßovXhtai) 410B; sonst ati/uatrsi allein mit dem was bezeichnet
werden soll 412 B 1 ); 413 E; 414 B; 415 A. — Er ist ein Zeichen (eine
Andeutung) von ... Gti/ietor slvcu 415 A, vgl. 427 C. — Der Name ist
(vermittelst seines etymologischen Werthes) eine Nachbildung seines be-
grifflichen Inhalts: dmixd&w 414 A (&dAAw ' blühen ' bildet durch seine
Zusammensetzung aus &6m 'laufen 7 und akXoficu 'springen' einerseits die
Raschheit, andrerseits die Plötzlichkeit des Wachsens nach); 419 C («;£-
xhjdwp 'Kummer' bildet durch seine Ableitung von &x&og die Schwere einer
Last nach), 419 D; 420 D.E 2 ). — Die Benennungen ahmen durch ihren
etymologischen Werth den begrifflichen Inhalt nach: jut/uelo&cu 414 A. —
Sie scheinen Abbilder von irgend etwas : (fatverai ämixdo/uara 420 C (ßovJLtj
von ßoJLfj). — Sie gleichen: ffoixs 419 C 5 ); 420 C 7iQoo(oixe+).
Die gewissermassen technischen Ausdrücke, durch welche der be-
griffliche Inhalt eines Wortes charakterisirt wird, von vo&v ('der Sinn
sein') bis toixbv 'gleichen', treten ungefähr in der Folge ein, in welcher
ich sie angeführt habe, so jedoch, dass die zuerst angeführten auch
zwischen den später auftretenden gebraucht werden. Ob in Bezug auf
alle eine gewisse Absichtlichkeit herrscht, wage ich nicht zu behaupten.
Denn eine wesentlichere Differenz in der etymologischen Erklärung tritt
nur bei dvvauiv inovofid&w und amixd&w und den folgenden ein, indem
dort der Name aus einer (gewissermassen charakteristischen) Eigenschaft,
hier durch einen Vergleich erklärt wird. Doch lässt sich auf keinen
1) Gocfla (fOQäg iyaTmädm (ttifjuxlvet 'Weisheit aoyla [abgeleitet von csfim 'sich
heftig bewegen' und knacpri ( Betastung'] bezeichnet der Bewegung theilhaftig
werden' eine der heraklitischen Etymologien.
2) wo ävayxaXov, erklärt aus dvä äyxog und Uvea, . . . änsixaotcu rij xerrä tcc
äyxij noqeict, oder wie es einige Zeilen weiter heisst, ixk^S-f} . . . tfj d*ä rov
äyxovg ä7ttixa<f$ev noQslq.
3) odvvf} de and zjjq ivtfvtecog x^g Xvnqg xsxXfßiAvq io$x€V 'das Wort ddvvf} 'Qual'
[von dvvto 'anziehen' abgeleitet] sieht aus als ob es von svdvaig *y? Ivmjg
'Anziehen des Schmerzes' benannt wäre'.
4) ovrfihg 'Vorstellung' mit olaig 'Bewegung' etymologisch identificirt , okhv ...
tijg ipvxijg inl td nqäy^a . . . dfjlxntGji nqodobxev ' sieht aus als ob es eine
Bewegung der Seele zu dem Gegenstande kund gäbe'.
ÜBER DIE AUFGABE DES PLATONISCHEN DIALOGS: KRATYLOS. 261
Fall verkennen, dass in den zuerst gebrauchten roslv, fyslo&cu, ktysiv,
ovofxdtziv , xaküv, ritvm, ßovfoo&cu, 8r[Xovv eine grössere (in slvai sogar
eine viel grössere) Identification des begrifflichen Inhalts mit dem ety-
mologischen Werth ausgedrückt wird, als in den folgenden, insbesondre
in firpvsw, orj/uccCrew, orj/utlor sfocu, oder gar änsixd&w, /ui/luig&cu, sotxtr.
Der Grund der Stellung der zweiten Reihe , nämlich , dass sie nicht
die erste bildet, giebt sich in der unmittelbar anschliessenden zweiten
Unterabtheilung dieses Abschnitts zu erkennen, und ist wieder ein
Beispiel der sorgsamen Gliederung, welche in diesem Dialog herrscht. —
Die daselbst zu gebende .Erklärung der Richtigkeit in den Urwörtern
(den unabgeleiteten) beruht nämlich wesentlich darauf, dass die Wörter
eine Nachahmung ihres begrifflichen Inhalts sind, daher die letzten
Bezeichnungen der etymologischen Richtigkeit durch arj/uslor slvai, arj-
fialvuVy änstxd&w, /ui/lisIo&cu den Uebergang dazu bilden. Auf ähnliche
Weise erklärt sich wohl auch die Stellung der ersten Reihe aus dem
ihr vorhergehenden Abschnitt. Hier war behauptet, dass die Wörter,
um richtig zu sein, das Wesen ihres begrifflichen Inhalts, enthalten müs-
sen. Daran schliessen sich natürlich die Bezeichnungen am besten, in
welchen der etymologische Werth der Wörter mit dem begrifflichen iden-
tificirt wird.
Wenn die Benennung in der an den angeführten Beispielen auf-
gewiesenen Art vermittelst ihres etymologischen Werths mit ihrem be-
grifflichen Inhalt- übereinstimmt, so heisst es von ihr: sie ist richtig:
Sq&w sxsip 413 A; Sq&wq xaMo&cu 398 C; 401 C; 404 D; 405 C; 410 C;
412 D; oq^vüh dvo(id&o9(u 399 C; Sq&c5q TE&rjpat 406 E; ÖQ&oTcnra xa-
Xeio&cu 405 C; dixatos xaMo9cu 409 B; schön: xatög tyw 400 A; 401 D;
xäAAiGta xsia&cu 404 E; wahr: dAr\&wg dvo/uti&o&ai 400 B; hat guten
Grund: $x u ^oyov 401 C; hat Angemessenheit: fau rb sixög 408 B; vgl.
410 C; tixözwg xkio&ai 409 E; vgl. sixörcog rvyxdveir 399 D.
Uebersehen wir die Etymologien im Ganzen, so tritt uns sogleich
entgegen, dass einige derselben unzweifelhaft sicher sind, wie z. B. die
von IlkovTwv 403 A und tfwxfj 399 D; andre sind der Art, dass sie dem
Verfasser dieses Dialogs für sicher oder wenigstens mehr oder minder
r.
.i
262 THEODOB BENFEY,
wahrscheinlich gelten konnten, wie etwa &sot 397 C, dat/iw» 397 E, awjua
400 B , 'AnöUwv 404 E.
Beachten wir nun, dass in dem vorigen Abschnitt von Sokrates
dialektisch erwiesen ist, dass eine Sprache, um richtig zu sein, eine
natürliche Richtigkeit haben müsse, in diesem aber erläutert werden soll,
welcher Art diese natürliche Richtigkeit sei , so dürfen wir die sichern
und wahrscheinlichen Etymologien aus der wirklichen Sprache einerseits
als ein Mittel betrachten, Sokrates Ansicht über das, worin diese Rich-
tigkeit bestehe, zu verdeutlichen, verständlich zu machen, andrerseits
aber auch sie als eine im Allgemeinen richtige zu belegen. Wir kön-
nen also sagen, dass Sokrates die volle Ueberzeugung hegt, dass in
einer Sprache , wenn sie eine richtige sein will , die Wörter durch ihren
etymologischen Werth ihren begrifflichen kund geben müssen; dass es
ihm also mit dieser Ansicht, welche diesen ganzen Abschnitt in der ent-
schiedensten Weise durchdringt, vollster Ernst ist. Und dafür spricht
auch die wesentliche Richtigkeit derselben , die jeder implicite anerkennt,
der auch nur ein einziges Wort etymologisch erklärt. Natürlich ist das
Verhältniss zwischen Wort und Ding nicht, wie hier geschieht, so eng
zu beschränken , dass das Wort durch seinen etymologischen Werth
nothwendig die Idee oder die Beschaffenheit der durch dasselbe bezeich-
neten Sache kund thun müsse, sondern anzuerkennen, dass die Sprache
in der Bedingtheit der Wörter durch ihren begrifflichen Inhalt sich auf
nichts weniger als enge . Gränzen beschränke , dass ihr die naturgemässe
Verbindung von Wort und Sache schon hinlänglich bestimmt zu sein
scheine, wenn ein charakteristisches Merkmal in der Benennung hervor-
tritt, z. B. bei 'Hase' (etymologisch: der 'Springende') seine Sprung-
fertigkeit, in der Draisine (eigentlich 'der vom Hm von Drais erfundene
Wagen') der Name des Erfinders. Ueberhaupt wird Niemanden ent-
gehn, dass, so nahe auch dieser Dialog durch die Annahme, dass das
Wort die Idee, das Wesen der Dinge ausdrücke, sie bezeichne, nach-
ahme, die Meinung darstelle, welche die Namengeber über sie gehabt
haben und ähnliches, an die Erkenntniss eines Mediums zwischen Ding
und Wort anstreife, durch welche letzteres, die lautliche Bezeichnung
tj i
ÜBER DIE AUFGABE DES PLATONISCHEN DIALOGS: KRATYLOS. 263
des Natur- und Geistes - Lebens , erst ermöglicht wird, dennoch der
Hauptmangel desselben eben darin liegt, dass dieses Bindeglied — die
Vorstellung von den Dingen und ihre sprachliche Besonderheit, der ei-
gentliche Kern der Sprachentwicklung — nicht hinlänglich zum Bewusst-
sein gebracht ist, sondern das Verhfiltniss zwischen Ding und Wort noch
zu sehr als ein unmittelbares gefasst ist. Doch wir wollen keine Kritik
dieses Dialogs geben, sondern kehren zu unsrer Aufgabe zurück.
Sind auch einige der in diesem Abschnitt gegebnen Etymologien
sicher oder als sicher hingestellt , so ist deren Zahl doch auf jeden Fall
eine sehr geringe. Die ganze Art der Behandlung ist vielmehr so, dass
man deutlich erkennt, dass der Verfasser selbst die grössre Anzahl nicht
bloss als unsicher, sondern zum Theil auch als thöricht, verkehrt,
lächerlich hinstellt.
Zunächst ist zu beachten, dass viele durch die Worte (patvzxai,
öoxel, foixs 4 scheint', mögen diese auch bisweilen nur als höfliche, be-
scheidene Redeweisen zu fassen sein , doch auf jeden Fall zu hypotheti-
schen werden, auf keinen Fall diejenige Gewissheit erlangen, welche
nöthig wäre, wenn nachgewiesen werden sollte, dass das aufgestellte
Princip der Richtigkeit auch durchweg oder wenigstens in umfassender
Weise in der wirklichen Sprache herrsche. Man vergleiche z. B. yatvovxai
bei der Etymologie von Ssol 397 C; 413 D bei der von dtxcuov, die ent-
schieden zu den scherzhaft gemeinten gehört; 414 A; totxs 419 D; 420 B
u. sonst. Aehnlich ist es zu fassen, wenn Sokrates sagt, dass er gar
nichts wisse 401 D , wenn eine Etymologie als dunkel und fremdartig
bezeichnet wird 412 B.
Schlagender tritt die Absicht, die Etymologien als unsichre — also
auch das Princip, welches sie in der wirklichen Sprache nachweisen
sollen, als ein in dieser nicht mit Sicherheit nachweisbares — hinzu-
stellen, darin hervor, dass in mehreren Fällen von einem Worte mehrere
gleich berechtigte, oder gleich unberechtigte, Etymologien gegeben wer-
den, vgl. 401C, 407B.C; 409A; 410B; 411D; 415D; 420B. Um /■■:
der Gefahr zu entgehen , gleich berechtigte Etymologien zu häufen , fordert
Sokrates 407 D den Hermogenes auf, gleich nach andern Wörtern zu fragen.
264 THEODOR BENFEY,
Er erkennt ferner ausdrücklich selbst an, dass die ursprüngliche
Gestalt der Benennungen durch das Streben, sie, ohne Rücksicht auf
Richtigkeit (d. h. ohne Berücksichtigung der Gefahr , dass durch derartige
Veränderungen ihr etymologischer Werth und damit also auch ihre Rich-
tigkeit unkenntlich gemacht wird) mundgerecht zu machen (vgl. 404 D;
414 C), so entstellt sei, 'dass auch nicht ein Mensch einzusehen ver-
möge , was in aller Welt der Name will ' l ) , d. h. welchen etymologischen
Werth er hat, also auch in wiefern er dem aufgestellten Princip gemäss
richtig ist oder nicht. Man vergleiche auch 418 A, wo es heisst, 'dass
durch Einschiebung und Ausstossung von Buchstaben der (ursprüngliche
etymologische) Sinn so sehr verändert werde, dass, wenn man nur ein
ganz klein wenig daran drehe, sie bisweilen das Entgegengesetzte (von
dem, was sie ursprünglich durch ihren etymologischen Werth ausdrück-
ten) bezeichnen' 2 ); vgl. auch 414 C (5 /kxxüqis u. s. w. ; 418 D vvv di
u. 8. w. Nach 421 D ist die alte Gestalt der Wörter in Folge der allsei-
tigen Umwandlungen so verändert, dass sie sich von (fremden) barbari-
schen, deren Etymologie, wie 409 E richtig anerkannt wird, im Grie-
chischen gar nicht zu sucjien ist, nicht mehr unterscheiden lassen.
Die Etymologien, welche Sokrates giebt, d. h. das Mittel, durch
welches er die Richtigkeit der Wörter der wirklichen Sprache aufzuweisen
sucht, strotzen von den kühnsten Einschiebungen , Auslassungen und
Veränderungen von Lauten und Sylben (als Beispiele kann man, mit
einigen Ausnahmen, fast alle Etymologien ansehen, man vgl. jedoch
insbesondre 399 A, 402 E, 404 D, 412 E, 417 B; als Grund dieser
Veränderungen wird gewöhnlich das Streben nach Euphonie angegeben,
vgl. z.B. noch 407 C, 408 B, 409 C). Dieses Verfahren wird aber von
Sokrates selbst als eines, womit man alles — also nichts — beweisen
könne, verdammt: 414 D 'Wenn man aber erlaubt, was man will in
1) 414 D: ptjd' äv Iva ävd-Qwn&v cvvsXva* 6 %i novs ßovfercu to övopa.
2) nqotm^ivxeg yQdfApara xal OgaiQOvvTsg dfodqa äXkoiovto tag toov dvofidwoy
duxvoiag, ovtcog (Sau GfJuxQa ndw naqaCXQiipovxsg ivlove zävavria noutv ay-
palveiv.
Ober die aufgäbe des platonischen Dialogs : kratylos. 265
die Wörter einzuschieben und aus ihnen auszustossen , dann ergiebt sich
grosse Leichtigkeit und man kann jedes Wort mit jeder Sache in Ein-
klang bringen' l ). Damit erklärt also Sokrates selbst fast alle seine
Etymologien für völlig ungewiss, somit also auch den Versuch sein
Princip der Richtigkeit in der wirklichen Sprache auf diese Weise auf-
zuweisen für verfehlt.
Dass diese Etymologien weit entfernt sein sollen für gewiss zu gel-
ten — also die geforderte Richtigkeit in der wirklichen Sprache nach-
zuweisen — ergiebt sich zu allem Ueberfluss endlich daraus, dass in
dem dritten Abschnitt dieses Dialogs 436 E ff. ein Hauptgrundsatz , wel-
cher bei einer verhältnissmässig beträchtlichen Anzahl derselben mass-
gebend war, nämlich die Annahme, dass, dem heraklitischen Prii\cip
gemäss (402 A), die Benennungen das Wesen (der Dinge) so bezeichnen,
'als ob alles ginge, bewegt würde und flösse \ d. i. in ewigem Fluss
sei 2 ) , bekämpft und an einzelnen Beispielen (imat^firj im Gegensatz zu
412 A; ߣßcuor 'das Feste', UnoQfa Erkundung, moiov das Zuverlässige,
fLivf\fit] Gedächtniss) nachgewiesen wird, dass eine etymologische Erklä-
rung von dem entgegengesetzten Standpunkt eben so berechtigt sei; vgl.
437 C: 'Ich glaube aber, dass, wenn man es darauf anlegt, man noch
viele andre (Benennungen) finden kann, welche einen zu dem entgegen-
gesetzten Glauben berechtigen könnten, dass der, welcher die Benen-
nungen aufstellte, die Dinge weder als gehende noch bewegte, sondern
als bleibende bezeichne' 3 ). '
Damit fallt aber von den oben angeführten Etymologien wiederum
eine grosse Anzahl in das Meer der Ungewissheit , und wird daraus
1) El d' av T$g idasi xal ivrt&ivai xal QcuqeXv äv* äv ßovXfjjai ng slg tu dvo-
(juxva noXXij sdnoqia sttocu xal näv äv navxi ng Svopa KQaypcm nqotiaQ-
(JH)<f€l€V.
2) 436 E dg xov navwg lovzog %s xal (feqoikivov xal fyiovxog <pay&v GiftialveiV vqv
oiSoiav.
3) OlfMxi <fs xal äXXa noXX' äv ug svqoi, si nQaypaxsvoiTO, i£ vav oly&ely äv av
ndXkV tdv ta dvopam nd-sptvov od%l tdvta oidh (p€Qti(*eva dXXct pivovxa %ä
nQaypata (fqpaivtw.
Bist.-Philol. Ciasse. XII. LI.
>
266 THEODOR BENFEY,
durch das halbe Zugeständniss 439 C — wonach die Namengeber dem
Sokrates selbst dem heraklitischen Princip bei der Beilegung der Namen
gefolgt zu sein scheinen [ipalvovzai y&Q %/uotys xal ctvtol ovtco Siarorj&fjyat) —
um so weniger gerettet, da am Schluss die ganze Erklärung der Wörter
aus dem heraklitischen Princip in Bausch und Bogen verdammt wird 1 ).
Wollte man sich die — in der That überflüssige — Mühe geben, die
Andeutungen zusammenzustellen, welche auch in Bezug auf mehrere
der noch übrigen ihre Ungewissheit ausdrücken, so würden mit Aus-
nahme der beiden richtigen — TIXovnov und tpvzrj — wohl nur sehr
wenige zurückbleiben, von denen sich mit Sicherheit annehmen Hesse,
dass der Verfasser dieses Dialogs sie auch nur als sehr wahrscheinliche
hinstelle.
Das vollständige Bewusstsein dieser Unsicherheit und die Absicht
auch den Leser nicht in Ungewissheit darüber zu lassen, eigiebt sich
ferner auch daraus, dass der sonst so gläubig hingestellte Hermogenes
bisweilen seine Bedenken zu erkennen giebt, z. B. 414 C, wo er eine
etymologische Erklärung als 'sehr schwach' bezeichnet (/udjla ye ytioxQ io s)
und sich über sie lustig macht, vgl. 417 E; 409 C.
Endlich aber auch aus dem, wie schon angedeutet, scherzhaften,
spottenden, höhnenden Charakter dieser Abtheilung.
In unsrer Zeit, wo sich der Gegensatz von Wissen und Glauben
auch in Bezug auf Etymologie geltend gemacht hat, wo sich die Etymo-
logien in zwei grosse Klassen scheiden, deren eine die (vermittelst der
Sprachenvergleichung , der Identität des Differenten in Sprachstämmen,
und vermittelst massenhafter Analogien in den Einzelsprachen) wissen-
schaftlich beweisbaren umfasst, die andre die mehr oder minder wahr-
scheinlichen, hat der Spott, dessen Hauptziel die Etymologie vormals
war, nach und nach beschämt sich immer mehr zurückgezogen und,
wenn eine echt wissenschaftliche Bestrebung je zu hoch geachtet werden
könnte, einer noch nicht verdienten, fast zu hohen Würdigung Raum
1) 440 B El di &m /t*£f del %6 yiyvdooxov .... ov ftoi (pctivercth xavta öpota ivxa
.... Qojj oddiv ot?cfö (pOQq.
ÜBER DIE AUFGABE DES PLATONISCHEN DIALOGS: KRATYLOS. 267
gemacht. So lange sich die Etymologie aber einzig auf dem Gebiet der
Wahrscheinlichkeit, oder vielmehr dem der Unwahrscheinlichkeit , Will-
kühr , Thorheit , ja des baaren Unsinns bewegte , die Momente , auf
welche sich die eine Art der beweisbaren Etymologien begründen liess,
entweder ganz übersah, oder so gut wie gar nicht zu verwenden wusste,
war dieser Spott wohlverdient, ja selbst diesen Bestrebungen von Nutzen,
indem er als ein Ferment diente, welches den sprachforschenden Geist
nicht zur Ruhe kommen liess, ihn aufzustacheln und immer rege zu
erhalten wusste.
Wie muss es nun mit der Etymologie zu der Zeit bestellt gewesen
sein, welcher dieser Dialog entsprang, einer Zeit, wo man, wie aus
ihm hervorgeht, auch nicht die entfernteste Ahnung von grammatischer
Analyse hatte, der Methode, durch welche es allein möglich ist, zu
einer wissbaren Etymologie zu gelangen? Denn so wenig die Wörter
der griechischen Sprache in der Weise zusammengehämmert sind (ovyxQo-
ttlr), wie in den sokratischen Etymologien angenommen wird, eben so
wenig konnte man zu einer richtigen etymologischen Deutung durch die
Art gelangen, wie sie hier, anstatt ihr Gefäge zu suchen, ihre Glieder
zu finden und so eine naturgemässe Sektion zu ermöglichen, auseinander-
gehämmert werden (diaxQOTBir, 421 C).
Wie in der Folgezeit, waren auch diesen im Dunkeln tappenden
Anfängen die Pfeile des Spottes nicht erspart (z. B. bei Aristophanes,
vgl. auch 406 D) ; diesen zu reizen \ hätte es eigentlich nicht einmal der
lächerlichen Resultate bedurft, zu denen man gelangte — wie eben unser
Dialog zeigt — ; schon das Beginnen, sich ohne jegliches Steuer im
schwächst gebauten Boote auf das gewaltige Meer des unergründlichen
Sprachgewoges zu wagen, hätte bei jedem Vernünftigen Scherz, Spott
und Hohn hervorrufen müssen.
Wenn die Etymologen diese Kehrseite ihrer Bestrebungen sonst
andern unbetheiligten zu überlassen pflegen, sie höchstens einer gegen
den andern wenden, so hat der grosse Meister, dem wir diesen Dialog
verdanken , seinen Etymologen selbst damit ausgestattet. Scherz , Spott
und Hohn herrscht in diesem ganzen Abschnitt so sehr vor, dass man
LI 2
268 THEODOR BENFEY,
in Gefahr geräth, auch das zu übersehen, was ernsthaft gemeint ist.
Doch erkennt man, dass sie einzig an die Etymologien selbst gebunden
sind , nicht an den Gedanken , den sie verdeutlichen sollen ; also insofern
nur dazu dienen, die Ungewissheit von jenen und somit die Unmöglich-
keit, die theoretisch geforderte Richtigkeit der Wörter in der wirklichen
Sprache nachzuweisen, nur noch greller hervorleuchten zu lassen.
Dieser scherzhafte, spöttische Charakter ist den Etymologien schon
dadurch aufgedrückt , dass sie in der schon angeführten Stelle 396 D als
Folge einer Unterhaltung mit dem wunderlichen Enthusiasten , oder
vielmehr Fanatiker Euthyphron dargestellt werden ; sie geben sich dadurch
gewissermassen als Folgen eines etymologischen Rausches zu erkennen,
eines anständigen nüchternen Menschen so unwürdig, dass er sich davon,
wie von einem sündigen Beginnen, reinigen lassen muss. Er tritt aber
auch in vielen Einzelheiten hervor, von denen ich nur einige erwäh-
nen will.
So ist es unverkennbarer Scherz und Spott, wenn Sokrates 398 E,
399 A die Finessen rühmt, die er im Kopf hat, und fürchtet, dass,
wenn er sich nicht in Acht nehme, er heute noch weiser werde, als
■
sich geziemt 1 ); ferner S. 399 D, wo er eine • — und zwar die richtige —
Etymologie als extemporisirt bezeichnet (wg /*& xoiwv ix rov nagox^fuz
Jltyeiv), dann aber eine andre ganz wahnsinnige an deren Stelle setzt,
in der Hoffnung, dass sie Euthyphron und seinen Genossen besser zu-
sagen werde, sie von Hermogenes als kunstgerechter [xhxvixaitBQov) loben
lässt und selbst in die Worte ausbricht: 'Es ist wahrhaftig rein zum
Lachen, wie wahr (d. h. wie sehr durch seinen etymologischen Werth
mit dem Wesen des begrifflichen Inhalts übereinstimmend) der Name ist,
der (ihr, nämlich der Seele) beigelegt ward' 2 ). Die Etymologien im
Sinne der heraklitischen Philosophie , welche ganz vorzugsweise verhöhnt
werden , werden zuerst 401 E mit den Worten eingeführt : ' ein ganzer
Weisheitsschwarm schwirrt mir im Kopf {$vvsvör\xa n ourjroi; oo<p(ag),
1) dg xal vvv yi poi (paivopcu xopipdog ivvevorjxivcu , xal xtvdvvBvtim, idv ^
fvJLaßuifjkai, in iijfMQOV aoifciteqog tov diovxog ysv&G&ai.
2) yeXolov pivvoi (faivetai dg dX^&vag dvoftuZdpsPov toc iti&tj , 400 B.
j
ÜBER DIE AUFGABE DES PLATONISCHEN DIALOGS : KRATYLOS. 269
und 402 A : 'Es klingt zwar ganz lächerlich , doch glaube ich , es ist
etwas daran' {ysXtiiov juh> naw eimiv, ol/uai (i&vxoi xivd m&av6vr[ia £70?).
S. 409 C wird die schon erwähnte Form , welche Sokrates als die ur-
sprüngliche für den Namen des Mondes herausgebracht hat: oeAa-sro-
yeo-dei-cc eine dithyrambenartige (dt&vQa/ußcoSss) genannt. S. 418 A
schiebt Sokrates die Verantwortlichkeit für diese von ihm aufgestellten
Wortungethüme von sich ab auf die Wortbildner. Spott ist es natürlich
auch , wenn 398 D die etymologische Basis eines Wortes in diesem
ein wenig geändert sein soll, damit der etymologische Werth räthselhaft
(cclrtyfictTos X*Q lv \ oder, wie es 402 C. 404 C heisst, versteckt, verhüllt sei
{xBXQVfifiivov, ämxQvnrofievos). Auch die etymologische Panacee, diese
Hülfe aus allen Nötjien: ein Wort, welches allen etymologischen Hebeln
trotzen will, für fremd, barbarisch (entlehnt) zu erklären, ist, wenn
gleich sie auf Ernst ruht und in vielen Fällen mit Recht , angewendet
wird, von Sokrates nur zu Scherz und Spott gebraucht; man vergleiche
z. B. 409 D ' Schau her, was ich für ein Mittel bei allem derartigen an-
wende, wo ich mir nicht zu helfen weiss' 1 ); ferner 416 A in Bezug auf
xaxöv 'das Schlechte': 'beim Zeus! diess scheint mir wunderlich und
schwer zu erklären. Ich wende also auch hier jenes Hülfsmittel an.
Herrn. Welches meinst du? So kr. Zu sagen, dass es ebenfalls etwas
von den Barbaren stammendes sei' 2 ); vgl. auch 417 D; 421 D und 419 C,
an welcher letzten Stelle er sich dieser Panacee recht ohne Noth bedient,
also sicherlich nur, um diess von andern wohl recht oft angewandte
Verfahren zu bespotten ; er holt sie nämlich ftlr aXyrfivbv herbei , obgleich
er dieses von dZytivog ableitet, also nur über dessen -dwv in Zweifel
sein dürfte, welches ihm aber in dem sogleich folgenden a/#ijctaJj' zu
keiner derartigen Bemerkung Veranlassung giebt, überhaupt keine Sorge
macht.
Scherz ist es natürlich auch, wenn Sokrates 411 A seine etymologi-
1) axitpeu ovv qv tltfdyco fJM]X av y y ^ni ndvxa xd xoutvxa, & dv dnoQu*.
2) "Atonov u vij Ji' ipoiyc doxtl xai %alsniv SvpßaXstv indym ovv Hai tovtw
ixeivrjy tfv fjtTjxarijv. *EQ(ioy. IJoiav vav-njv; 2<**q. Tijv %ov ßaQßaqi*6v n
xai tovto qtdvai cfvai.
270 THEODOR BENFEY,
sehen Arbeiten gewissermassen mit denen des Herkules vergleicht, 'doch
da ich einmal die Löwenhaut umgehängt habe , darf ich mich nicht feige
zurückziehen 1 ); vgl. auch 410 E u. a.
Der meiste Scherz, Spott und Hohn liegt in den Etymologien selbst.
Wer sie durchgeht, wird sich mit Leichtigkeit davon überzeugen. Ich
hebe nur einige Beispiele hervor. So ist es natürlich Spott, wenn schon
398 E die Heroen vermittelst der Etymologie zu einer Art Sophisten
oder Rhetoren gemacht werden, diesen Hauptstichblättern des platoni-
schen Spotts und Hohns; wenn 400 C zur Erhärtung der Ableitung des
Namens der "Bga von diJQ, worin der Anlaut a an das Ende gesetzt sei,
empfohlen wird , fftta mehremal hintereinander zu sprechen , wo sich
dann vermittelst ifp-a-ijp-a-ijß gleich äfig ergeben werde; wenn 408 A
der als Namenbildner aufgestellte Gesetzgeber (ro/uod irrig) gewissermassen
den Namen Efyt/urjg (angebliche Urform von Hermes) den Menschen an-
befiehlt ; wenn 402 E die Möglichkeit aufgestellt wird , dass Iloosidwv für
ursprüngliches noaCdeo/uog oder gar noXXtöea/iog stehe. Man vergleiche
auch die dialektische oder vielmehr sophistische Entwicklung der Etymo-
logie von xaXöv 'das Schöne'. Endlich kann ich mich nicht enthalten,
als eines der interessantesten Beispiele die bis zur Tollheit übermüthige
Deutung des Tldv anzuführen (408 B ff.). Hier heisst es: 'Auch dass
Pan der doppelgestaltige Sohn des Hermes sei, ist ganz angemessen . . .
Du weisst doch, dass die Bede (Hermes war dicht vorher, von elpetr
und fidco abgeleitet, als 'Erfinder des Redens' gedeutet) das All (näy)
bezeichnet und im Kreise herumdreht und immer bewegt und doppelter
Art ist , wahr und lügenhaft ... So ist denn das Wahre derselben glatt
und göttlich und wohnt oben unter den Göttern, die Lüge abef unten
unter dem grossen Haufen der Menschen und ist rauh und böckisch. . . .
Mit Recht ist also der alles [näv) anzeigende und stets in Bewegung
seiende [ähl noXdbv) Ziegenhirt (afnoXog aus ätl noXwv) Pan (== naii) der
doppelgestaltige Sohn des Hermes, oben glatt, unten aber rauh und
bockgestaltig. Pan ist ja, wenn er Hermes Sohn ist, wie sich von selbst
1) Sfjuag di ine^neQ tfv leovtijp ivdidvxa, otJx änodeikcrdov.
ÜBER DIE AUFGABE DES PLATONISCHEN DIALOGS: KRATYLOS. 271
versteht, die Rede oder der Bruder der Rede; dass aber ein Bruder dem
Bruder ähnlich ist, ist nicht zu verwundern , 1 ).
Ehe ich zur Bestimmung des Zwecks dieser Abtheilung übergehe,
hebe ich noch eine Thatsache hervor. Es ist schon von früheren Erklärern
bemerkt, dass einige der aufgestellten Etymologien nicht von dem Verfasser
dieses Dialogs herrühren, sondern andersher entlehnt sind (vgl. die Müller'-
sche Uebersetzung von Piatons Werken II, 658 Anm. 14); in Bezug auf
Dionysos und Aphrodite wird diess 406 B ausdrücklich bemerkt; auch 4 13 D,
wo Hermogenes sagt: 'diess, o Sokrates! scheinst du mir von Jemand
gehört zu haben und nicht aus dem Stegreif vorzubringen ' 2 ) , scheint anzu-
deuten, dass die lange Exposition über dtxatov sich an etwas fremdes
anlehnt; und die unmittelbar folgenden Worte (So kr. Aber das andre?
Herrn. Das nicht. So kr. So höre denn: vielleicht gelingt es mir auch
bei dem noch übrigen dich zu täuschen , als ob ich aus meinem Kopfe
spräche') *) sollen den Verdacht erregen, dass auch manches andre von
andern entlehnt sei. Wir können natürlich aus diesen wenigen Daten
nicht schliessen, dass alle oder auch nur sehr viele der hier aufgestellten
Etymologien von andern entlehnt sein, aber sicherlich dürfen wir an-
nehmen, dass es mit mehren von ihnen der Fall sein wird, als sich speciell
nachweisen lässt, und dass die vom Verfasser des Dialogs selbst erfun-
denen — trotz alles Hohns und Spotts, mit welchen viele dargelegt
werden — , ganz im Geiste der bekämpften , oder erwähnten Richtungen,
der Erklärer des Homer und andrer Dichter, des theosophischen Euthy-
■
1) Kai %6 ye töv Iläva %6v 'EQpov ehnx* vMv cbgwp $%si td slxög . . . . Ofo&a Su
6 Xoyog td nav aiftMtlvs* xal xvxXet xal noXel delj xal San dmXovg, äXtj&yg
ts xal tpsvö^g . . . . Odxovv td f£v dXfj&tg ccvtov Xslov xal &elov xal äva>
olxovv iv totg &eotg, td di tpevdog xdtw iv totg noXXotg tmv dv&Qtonuv xal
%qa%i xal tQay$x6v . . . . X>Q&u)g äqa & nav (Afjvvoay xal del noXAv Udv
alnoXog eXtj, dupvfjg 'Eq^ov vlo'g, td fiiv ävoa&sv Islog, tä Si xdtm&ev tqa%vg
xal tQayoudijg. xal Souv ijto* Xöyog 1j Xoyov ddeXqtdg b ildv, gItuq *Eqi*ov
vldg iouv. ddsXtpm di ionivai ddsktpdv oddiv &avpaGv6v. -
2) Qalvsi poi, (a Svixqatsg, tavta piv dxtjxotvcu tov xal oix avtoGx*d*dteir.
3) Ti di täXla; 'Eqp. Oi ndw. 2coxq. "Axovt dtj- Xamq ydq äv 0* xal td
iniXoma i%anccTij(fcu(n , dg oix dxfjxotig Xiyco.
272 THEODOR BENFEY,
phron und der Herakliteer erdichtet sind. Man wende dagegen nicht
den Unsinn ein, der den grössten Theil kennzeichnet. Es giebt kein
Feld menschlicher Geistesthätigkeit , welches so vielen und so grossen
Unsinn hervorgebracht hätte — und leider selbst heutiges Tages, wo ein
Hauptgebiet desselben sich sogar wirklich wissenschaftlicher Grundlagen
erfreut, noch hervorbringt — als das der Etymologie.
Wenden wir uns nun zu der Frage , was der Zweck dieser Abthei-
lung sei, so haben wir ins Gedächtniss zurückzurufen, dass sie sich
zunächst nur an Hermogenes Forderung schliesst : anzugeben , worin
nach Sokrates Ansicht die natürliche Richtigkeit der Wörter bestehe
(391 Ä.B). Dieses kann nur durch Beispiele verdeutlicht werden, die
der wirklichen Sprache entnommen werden. Am besten freilich dienen
solche dazu, deren Etymologie sicher ist, indem diese zugleich geeignet sind,
auch wenigstens in einem gewissen Umfang, diese Ansicht zu begrün-
den , als eine sich durch die wirkliche Sprache bestätigende hinzustellen.
Will man z. B. die Ansicht ausführen , dass Zahlwörter dadurch entstan-
den, sind, dass man einer Zahl den Namen desjenigen Gegenstandes gab,
an welchem sie vorzugsweise erscheint, so wird man natürlich am besten
thun, Beispiele zu wählen, in denen die Etymologie diese Ansicht nicht
bloss verdeutlicht, sondern auch bestätigt, z. B. aus* mehreren Sprachen
des malayischen Stammes, wo das Zahlwort für fünf mit dem Namen
der Hand identisch ist 1 ), aus der der Abiponen, wo das Zahlwort für
t>ier Straussenzehen bedeutet 2 ) , weil die Strausse in Paraguay vier Zehen
am Fusse haben.
Ebenso, können wir sagen, dienen auch im Kratylos diejenigen
Etymologien , welche richtig sind , oder dem Verfasser richtig oder sehr
wahrscheinlich schienen, nicht bloss zur Verdeutlichung, sondern auch
zur Rechtfertigung dieser Ansicht.
Allein wozu dient nun die Menge von unwahrscheinlichen, höchst
1) vgl. Humboldt bei Pott, die quinare und vigesimale Zählmethode 121, vgl.
auch 58; 62; 70; 71.
2) Pott a. a. 0. 4.
u
ÜBER DIE AUFGABE DES PLATONISCHEN DIALOGS: KRATYLOS. 273
unglaublichen, verkehrten, kurz zum Scherz, Spott und Hohn hinge-
stellten ?
Kommt es allein auf Verdeutlichung einer Ansicht an, so können
unsichre und selbst falsche Beispiele eben so gut dazu dienen, wie
sichre und richtige, sobald man sie der zu beweisenden Ansicht gemäss
auffasst. Wir würden derartige Auffassungen natürlich als Voraussetzun-
gen bezeichnen. Wenn ich z. B. die oben für die Ansicht über die
Zahlwörter angeführten richtigen Beispiele nicht gleich zur Hand hätte,
so könnte ich meine Ansicht eben so gut an dem ersten besten Beispiel
klar machen, sobald ich bei ihm eine zu dieser Anschauung passende
Etymologie voraussetze. Ich könnte z.B. sagen, gesetzt, das sanskriti-
sche Zahlwort panchan 'fünf wäre von päni 'Hand' abgeleitet, so würde
die Zahl fünf danach bezeichnet sein, dass an der Hand fünf Finger
sind. Ich könnte in der Weise natürlich eine Menge Beispiele bilden;
ich könnte z. B. sagen: 'gesetzt das sanskritische Zahlwort für 'drei' tri
bedeutete eigentlich 'Klee', so würde die Zahl 'drei' danach benannt
sein, dass am Blattstiel des Klees fast ausnahmslos nur je drei Blättchen
erscheinen. Ich könnte derartige Beispiele allein häufen, oder könnte sie
auf einige sichre in grösserer oder geringerer Anzahl folgen lassen. Zur
Verdeutlichung meiner Ansicht würden sie allsammt dienen, aber mit
der Häufung derselben würde sich eine immer grössere Divergenz zwi-
schen dem Zweck und den dazu verwandten Mitteln ergeben. In dem-
selben Verhältniss, in welchem ich die Zahl falscher oder unsichrer
Etymologien vermehrte, würde sich der Glaube an die Richtigkeit der
veranschaulichten Ansicht verringern. Der Zuhörer würde mir bald zu-
rufen : deine Ansicht verstehe ich schon lange , aber je mehr mit Voraus-
setzungen begleitete unsichre Beispiele du vorlegst, desto wahrscheinlicher
wird mir , dass sie zwar wohl in einem oder dem andern Fall richtig sein
möge, im Allgemeinen aber überaus fraglich sei. Ich würde also, wenn
mir mehr an meiner Ansicht, als an ihrer Wahrheit gelegen wäre, vielleicht
besser gethan haben, mich auf ein Paar richtige Beispiele zu beschränken.
Vielleicht hätten sie dem Hörer nicht nur meine Ansicht verdeutlicht,
sondern ihn auch überredet, an die Richtigkeit derselben zu glauben.
Hist- Philo!. Classe. XU. Mm
1
•
274 THEODOR BENFEY,
Derselbe Erfolg tritt natürlich auch dann und selbst in einem noch
höheren Grad ein, wenn, wie im Kratylos, ohne Hinzufügung eines
derartigen 'vorausgesetzt' eine nicht unbeträchtliche Anzahl falscher,
verkehrter und lächerlicher Etymologien zur Veranschaulichung einer
Ansicht beigebracht wird. So muss sich denn hier jeder Hörer und
Leser schon während des Fortgangs der Erörterungen sagen: was für
Forderungen Sokrates an die Wörter einer Sprache stellt, damit sie
natürliche Richtigkeit haben, verstehe ich längst; dass diese aber in der
wirklichen Sprache erfüllt seien, wird mir mit jeder neuen derartigen
Etymologie immer bedenklicher.
Wenn nun aber derartige Etymologien, wie hier, mit vollem Be-
wusstsein absichtlich gewählt und gehäuft werden, wenn sich Scherz,
Spott, Ironie, Hohn und Persiflage — wie keinem der neueren Erklärer
entgangen ist — in ihnen immer mehr steigern, dann muss der Hörer
oder Leser zur Erkenntniss gelangen, dass diese Auffassung nicht von
ihm selbst ausgeht, sondern dass es in der Absicht des Verfassers
lag, sie in ihm hervorzurufen, grade diesen Eindruck auf ihn zu ma-
chen, mit andern Worten, dass er mit Bestimmtheit andeuten wollte,
dass die Erfüllung der von Sokrates gestellten Forderungen, so richtig
diese auch sind, in der wirklichen Sprache nicht nachweisbar sei.
Der nächste Zweck dieser Abtheilung ist also, zu zeigen: so müss-
ten die Wörter einer Sprache beschaffen sein , wenn sie natürliche Rich-
tigkeit haben sollen , dass sie es aber in der wirklichen Sprache sind,
ist nicht nachzuweisen; damit ist denn eine Andeutung gegeben, dass
sie in letzterer vielleicht gar nicht, oder nur in einem beschränkten
Umfang, auf keinen Fall durchweg existire.
So tritt Richtigkeit und Mangel derselben in der Sprache in ein
ganz anderes Verhältniss, als in der Kratylos'schen Auffassung. Trotz
dem, dass im Allgemeinen die Richtigkeit der Wörter der wirklichen
Sprache, d. h. die Eigenthümlichkeit derselben von dem Hörer in dem-
selben Sinn verstanden zu werden, welchen der Sprechende damit ver-
bindet, anerkannt wird, hat Kratylos, um seine Erklärung dieser Rich-
tigkeit aus der naturbedingten Entstehung der Wörter zu retten, nur den
**
ÜBER DIE AUFGABE DES PLATONISCHEN DIALOGS: KRATYLOS. 275
Theil derselben f&r wirkliche Wörter gelten lassen, welche sich als so
entstanden nachweisen lassen, allen andern dagegen den Charakter
'Wörter' zu sein abgesprochen, so dass also nach ihm die wirkliche
Sprache Lautcomplexe enthält, welche der Idee einer Benennung ent-
sprechen, und andre, welche, obgleich eben so gebraucht, damit im
Widerspruch stehen. Bei Sokrates dagegen, welcher ebenfalls für eine
wahrhaftige Richtigkeit der Benennung ein naturgemässes Verhältniss
zwischen ihr und ihrem begrifflichen Inhalt fordert, ist dieser Gegensatz
des der Idee der Sprache entsprechenden und widersprechenden aus
der wirklichen Sprache hinaus verlegt: das, was die Sprache sein müsste,
scheidet er von dem , was sie in Wirklichkeit ist ; an das Ideal einer
Sprache finden sich in der wirklichen höchstens Anklänge.
Wenn diess Euch der Hauptzweck dieser Abtheilung ist, so ist er
doch nicht der einzige. Wie sie durch die Andeutung, dass in der
wirklichen Sprache die Forderung, welche richtige Wörter erfüllen müss-
ten , nicht erfüllt sei , auf den dritten Abschnitt , in welchem dialektisch
bewiesen wird , dass die wirkliche Sprache in der Kratylos'schen Auffas-
sung die natürliche Richtigkeit nicht besitze , im Allgemeinen vorbereitet,
so ragen auch andre Momente in diesen hinüber und dienen zum Ver-
«
ständniss, gewissermassen zur inductiven Begründung, von Sätzen, welche
hier im dialektischen Zusammenhang hervortreten.
Zunächst erhalten wir in diesen grösstenteils lächerlichen Etymo-
logien eine Beleuchtung des so unschuldig auftretenden o n fiäXtata in
439 A. Hier heisst es: 'Wenn man also einerseits die Dinge auch noch
so gut aus den Benennungen derselben kennen lernen kann, andrerseits
aber auch aus ihnen selbst, welche Art, sie kennen zu lernen, wäre
dann wohl die bessere und bestimmtere: aus dem Abbild (d. i. der Be-
nennung) herausbringen zu wollen, ob dieses eine gute Nachbildung sei
und zugleich, wie die Sache, deren Abbild es ist, in Wahrheit be-
schaffen sei, oder aus der wahren Beschaffenheit (der Sache), wie diese
selbst sei und zugleich ob ihr Abbild angemessen gefertigt?' 1 ). Wie
1) El ovv situ p£v o n päliCm <h' dvoi*d%mv tä n^dy^ata pav&dveiv , s&n di
Mm 2
:*
r
276 THEODOR BENFEY,
dieses 'auch noch so gut' zu verstehen sei, darauf hat uns diese etymo-
logische Abtheilung hinlänglich vorbereitet. Denn so sehr auch die
Wahrheit dieses Satzes 'dass es besser sei, einen Gegenstand aus ihm
selbst, als aus seinem Bilde kennen zu lernen', von selbst einleuchtet,
so könnte doch noch Jemand einwenden: es ist zwar wahr, dass man
die Dinge durch sie selbst erkennen kann; doch ist das ein schwerer,
sich in Abstractionen und Dialektik bewegender Weg; handgreiflicheres
gewissermassen scheint die Sprache zu bieten, und wenn sie auch nur
bis zu einem gewissen Grade mit den Dingen bekannt machte, so würde
diese Kenntniss doch leichter und eher auf diese Weise zu gewinnen
sein , als auf jene. Dem gegenüber haben wir in diesen Etymologien
für das, was sich aus den Benennungen lernen lässt, einen Massstab er-
halten; wir wissen nun wie diess, o xt fi&Xuna zu verstehen ist; wissen
nun das in ihm liegende scheinbare Zuges tändniss an Kratylos nach
seiner wahren Bedeutung zu würdigen ; ja man kann sagen , dass , wer
sich der Etymologien erinnert, nicht umhin kann, bei diesem o t# juccAtara
in ein lautes Gelächter auszubrechen.
Ferner: eine Hauptstelle nehmen die etymologischen Deutungen
nach dem Grundprincip der heraklitischen Philosophie ein. Die Kraty-
4»
los'sche Ansicht von der Richtigkeit der wirklichen Sprache stützt sich
eben insbesondre darauf, dass die Wörter derselben nach diesem Princip
gebildet seien. So gewähren jene abenteuerlichen Etymologien auch
schon die richtige Beleuchtung für die Bekämpfung der Kratylos'schen
Ansicht von dieser Seite. Es sind uns schon die Früchte dieser Ansicht
aufgezeigt; danach sind wir schon fast im Stande sie selbst zu würdigen.
Wir erhalten damit gewissermassen die inductive Begründung des Satzes :
'Wenn ... so scheint mir das, wovon wir jetzt sprechen (nämlich die
Benennungen), weder einem Fliessen noch Bewegen zu gleichen' 1 ), mit
xal dt' ccvtcov, notiqa av sUj xaXXlwv xal aacpe(ttiqa rj pd&rjGig; ix trjg sixovog
pavd-dveiv aHztjv %e aitijv, el xaXwg eXxatfraij xal xr\v äXfj&eiav, ijg rjv slxoiv, jj
ix trjg dXtjd-siag adzyv ts adzijv xal vijv elxöva avrfjg, el n^enovrag sXqyaarcu;
1) 440 ß *?.... ov po» (palvfTcu xavta öpoia övra, ä vvv r^hlg Xiyofj&Vj $oij
oiöhv aide <poQq.
t-
ÜBER DIE AUFGABE DES PLATONISCHEN DIALOGS: KRATYLOS. 277
welchem Sokrates sich fast am Ende des Dialogs von jeder Complicität
an heraklitischen Etymologien lossagt. Erinnert man sich ferner der
Persiflage dieser heraklitischen Etymologien, so weiss man auch, was
von 439 C, wo Sokrates selbst zuzugestehen scheint, dass die Wortbildner
von heraklitischen Principien geleitet seien {ipaCvowcu yä(> t/uoiyt xal avrol
ovw) diavori&fpcu) zu halten ist, und weit entfernt darin Ernst zu er-
blicken (wie Steinthal S. 105) , wird man auch dazu nur lächeln können.
In Erinnerung der Weisheit, die sich aus den gegebnen Etymologien
schöpfen Hess, werden wir Sokrates auch vollständig in Bezug auf die
Nutzanwendung 440 C. D beistimmen , wo er seinen Zeitgenossen den
Rath giebt, sich nicht an Worte zu halten.
Endlich glaube ich, dass grade in dieser auf die wirkliche Sprache
angewendeten ironischen Etymologisirung derselben sich jene Verachtung
der wirklichen Sprache kund giebt, welche schon oben S. 207 hervor-
gehoben ist. Eine Richtigkeit im wahren Sinne des Wortes ist in ihr
gar nicht zu erwarten, so dass jede auf eine Nachweisung derselben
verwendete Arbeit lächerlich erscheinen muss.
So angesehen bildet diese Abtheilung, in die Mitte des Dialogs
gestellt, die trocknen dialektischen Erörterungen des ersten und dritten
Abschnitts durch ein brillantes etymologisches Feuerwerk unterbrechend,
in welchem die Blitze des Scherzes, Spotts, Hohns, der Ironie und
Persiflage, wie Raketen nach allen Seiten sprühen, in Wahrheit den
Cardinalpunkt , die Angeln, welche den ersten und letzten Abschnitt
eben so sehr auseinanderhalten, wie verbinden. Sie wirft ihr licht vor-
wärts und rückwärts und ist, in Uebereinstimmung mit ihrer äusseren
Stellung, gewissermassen der Brennpunkt des Ganzen, in welchem in
Ernst und Scherz die Frage, welche vorher und nachher dialektisch zu
Ende geführt wird, inductiv schon fast entschieden ist. In ihr ist trotz
alles Scherzes sicherlich mit einer gewissen Unparteilichkeit in den /■
Hauptzügen alles dargestellt, was der damaligen Etymologie, sowohl
der exegetischen (gewissermassen grammatischen) , als theosophischen und
philosophischen für die Entscheidung derselben entlehnt oder in ihrem
Geiste gesagt zu werden vermochte. Wer ihr mit lebendiger Theilnahme
278 THEODOR BENFEY,
folgt, für den kann schon jetzt kaum ein Zweifel darüber bestehen, dass
die wirkliche Sprache, sowohl rein empirisch gefasst, als auch in der
kratylos - heraklitischen Auffassung, die Forderungen nicht erfüllt, von
welchen Sokrates die natürliche Richtigkeit der Wörter abhängig macht.
Ehe ich diese Abtheilung verlasse, kann ich nicht umhin, darauf
aufmerksam zu machen, dass, wie dieser ganze Dialog, so sie insbe-
sondre dafür zeugt, dass die Zeit, in welcher der Kratylos entstanden
ist, eine zwar unwissenschaftliche, aber rege, lebensvolle und gedanken-
reiche Beschäftigung mit der Sprache voraussetzt. Ferner lässt sich zwar
nicht entscheiden, wie viel der Verfasser dieses Dialogs von Vorgängern
und Zeitgenossen entlehnt, wie viel Eignes er hinzugefügt haben mag,
und für die Würdigung desselben ist das natürlich ein unersetzlicher
Mangel , allein das lässt sich dennoch erkennen , dass , wer seinen Gegen-
stand so launig beherrscht, von den Erincipien, die er bei Behandlung
desselben befolgt, weiss, dass sie mit Mass anzuwenden sind (414 C),
durch die scherzhafte Benutzung derselben andeutet, wo die Gränzen
ihrer Berechtigung liegen mögen, selbstständige und im Verhältniss zu
der Zeit , welcher das Werk angehört , tiefe Betrachtungen über den
Gegenstand desselben angestellt haben muss. So schreibt Niemand, der
eine Sache nur von Hörensagen oder aus Andrer Arbeiten kennt; was
dieser Dialog bietet, setzt eine selbstthätige Theilnahme an den Fragen
voraus, die hier zur Sprache kommen. Auf alles Einzelne einzugehen,
was des Hervorhebens werth wäre, wenn ich nicht bloss die Aufgabe,
sondern auch den Inhalt dieses Dialogs genauer erörtern wollte, würde
mich hier zu weit führen. Ich mache nur auf einige Hauptpunkte auf-
merksam, welche für die Tiefsinnigkeit der Betrachtungen zeugen, die
hier niedergelegt sind.
So zunächst ist es ein kühner, tiefer und richtiger Gedanke, dass
ein Wort am richtigsten sein würde, wenn es seine etymologischen
Elemente vollständig enthielte (vgl. S. 257), so ungethüm und scherzhaft
auch die diesem Princip gemäss als Urformen hingestellten Wörter aus-
fallen. Auch die Erkenntniss, dass die Urformen im Laufe der Zeit
durch Ausfall, Eintritt und Wechsel von Lauten umgewandelt sein
ÜBER DIE AUFGABE DES PLATONISCHEN DIALOGS : KRATYLOS. 279
(414 C; 418 B ff.; 419 A), so willkührlich und scherzhaft sie auch an-
gewendet wird, ist principiell richtig, so wie denn auch die Erklärung
dieser Umwandlung aus dem Streben ein Wort mundgerechter oder auch
wohllautender zu machen, der Wahrheit nahe kommt. Eben so zeugt
die Berücksichtigung dialektischer Formen und die — wenn gleich mehr
zu Scherz und Spott benutzte — Annahme von eingedrungenen Fremd-
wörterii von richtigem sprachwissenschaftlichen Takt. Auch die Bemer-
kung gegen die onomatopoietische Entstehung der Wörter — obgleich
ich sie nicht in dem Umfange abweise, wie von dem Verfasser und
manchen neueren Sprachforschern geschieht — ist auf jeden Fall ein
Zeugniss tiefsinniger Betrachtungen über die Sprache. Vor allem ver-
dient aber Anerkennung die Eintheilung der Wörter in ableitbare und
unableitbare. Wer diese Scheidung auf griechischem Boden zuerst unter-
nommen haben mag , man muss -zugestehen , dass er schon dadurch allein
eine höchst ehrenwerthe Stelle unter den Gründern der europäischen
Sprachwissenschaft verdienen würde und ich kann nicht bergen, dass
die Art, wie sie in diesem Dialog eingeführt wird, auf mich wenigstens
ganz und gar den Eindruck macht, als ob der Verfasser desselben der
erste gewesen sei, der sie aufgestellt hat; ich sage den Eindruck, denn
ich zweifle, ob sich ein Moment findet, aus welchem sich ein irgendwie
entscheidender, affirmativer oder negativer, Schluss ziehen lässt. Es
lässt sich nicht verkennen, dass diese Scheidung, wenn sie mit einem
Talent zur grammatischen Analyse verbunden gewesen oder geworden
wäre, einen wahren Blick in das Wesen der griechischen und der Sprache
überhaupt zu eröffnen vermocht hätte.
Auch die Scheidung der ableitbaren Wörter in abgeleitete und zu-
sammengehämmerte beruht wenigstens auf einer dunkeln Ahnung des
Richtigen. Nur hat der Verfasser keine Ahnung davon, wodurch sich beide
Classen unterscheiden , d. h. keine Ahnung von der Ableitung vermittelst
Suffixe. Diese erklärt er an mehreren Stellen als Vertreter von Wörtern,
als Wortreste, z. B. ßAaßsQov aus ßkänxav (top) §ovv 417 D; inidvfxCa aus
inl (zdv) dvfibv iovocc 419 D; IfisQog aus U/uspog §ei 419 E. Doch hätte
auch diese Unterscheidung in der Hand eines Mannes von mehr sprach-
' . «J
■ i
i
i:.
280 THEODOR BENFEY,
wissenschaftlichem als philosophischem Sinn zur Erkenntniss ihres Prin-
cips führen können.
Wir wenden uns jetzt zu der zweiten Abtheilung dieses zweiten
Abschnitts (421 C — 42 7 D). In dieser setzt Sokrates auseinander, wel-
cher Art die Richtigkeit in den unableitbaren Wörtern sein müsse , d. h.
in denen, auf welche die ableitbaren in letzter Instanz sich reduciren
(vgl. oben S. 252) , während sie selbst auf andre nicht mehr reducirbar
sind (422 C).
Den Weg zu dieser Auseinandersetzung bahnt eine dialektische Be-
gründung: Die Richtigkeit aller Benennungen müsse auf ein und dem-
selben Princip beruhen 422 C. • Ich glaube , dass wir darin übereinstim-
men, dass in jeder Benennung, der ersten wie der letzten, die Richtigkeit
eine und dieselbe ist, und dass sich in Bezug auf das, wodurch sie
Benennung sind , keine von der andern unterscheidet' *) ; in den bisher
(in der ersten Abtheilung dieses Abschnitts) durchgegangenen (den abge-
leiteten , gewissermassen sekundären Benennungen) bestand die Richtigkeit
darin, dass sie die Beschaffenheit der durch sie bezeichneten Dinge kund
thun wollten (422 D 'Aber die Richtigkeit der eben durchgegangenen
Namen wollte der Art sein, dass sie kund thäte, wie jedes der Dinge
sei') 2 ). Diese Aufgabe* müssen also die ersten Benennungen (die Ur-
wörter) eben so gut erfüllen, wie die abgeleiteten (422 D 'Diess (diese
Eigenthümlichkeit) müssen also die ersten nicht minder wie. die späteren
haben, wenn sie Benennungen sein wollen') 3 ). Die abgeleiteten Benen-
1) "Ou fA€V wirvp fila yi t*c ij dQ&OTtjs navrdg ovopawg xal nquiwv xal ititdtov,
xal ovöiy duz(p6(>ew xw Svopa efocu oüdiv advcov^ olpcct, xal aol %vvdoxs%.
\ 2) *AAXä fif)v wv ye vvv d^XtjXv&afAsv x&v dvopdtwv rj dQ&dzTjS touxviij ng ißovlsto
dvou, ola drjlovv olov Ixamov iön tßv övtcov. Vgl. auch 428 E dvopatog • . .
oQ&övqg iariv avtrj, faq ivdsi^srai olov ian tö noäypa. Ferner 423 E, wo die
Wesenheit, ovaia, der Dinge in der Benennung nachgeahmt werden soll.
3) Tovto fktv äqa ovdev tjvrov xal tu noäm dst s%bi,v xal %d voteoa, tmsg dv6-
[Aata Sarai.
ÜBER DIE AUFGABE DES PLATONISCHEN DIALOGS: KRATYLOS. 281
nungen sollten diese Forderung, wie in dem vorhergehenden Abschnitt
verdeutlicht ist, in letzter Instanz vermittelst der unabgeleiteten (zu wel-
chen man durch fortgesetzte Analyse gelangt) erfüllen; diese aber be-
ruhen auf keinen andern; wie werden sie also die Aufgabe erfüllen,
die Dinge so sehr als möglich durch sich kund zu thun? l ).
Der Verfasser stellt nun die mit Recht bewunderte und tiefsinnige
Hypothese auf, dass dieses vermittelst des begrifflichen Werths der Laute
als solcher, an und für sich, herausgelöst aus dem Verband, in welchem
sie in den Wörtern erscheinen, geschehe.
4 Wenn wir weder Stimme noch Zunge hätten', heisst es 422 E,
'dann würden wir die Dinge, wie jetzt die Stummen, durch die Hände,
den Kopf und den übrigen Körper (durch Gesten) bezeichnen'. ... 4 Da
wir nun (aber die Dinge) durch Stimme, Zunge und Mund kund thun
wollen', so findet diese Kundthuung dadurch Statt, dass wir sie mit den
Stimmorganen nachahmen, oder, wie es wörtlich heisst: 'wird uns dann
nicht die durch sie stattfindende Kundthuung jedes Gegenstandes zu
Theil, wenn eine auf was es auch sei sich beziehende Nachahmung ver-
mittelst dieser (der Stimme, der Zunge und des Mundes) Statt findet?' 2 ).
Daraus wird dann gefolgert: 'Benennung ist also, wie sich ergiebt,
Nachahmung desjenigen , was jemand nachahmt , vermittelst der Stimme,
und derjenige, welcher es vermittelst der Stimme nachahmt, benennt
es, -wenn er es nachahmt' 3 ).
1) 422 D 'die späteren (Benennungen) aber waren, wie sich ergab, vermitteist
der ersten (der Urbenennungen) fähig, diess zu leisten'; dXXd xd plv vözsqa,
wg £01X6; did %<2v nooTtocov otd %6 r\v xovto ämQyd&a&cu. Ebds. * Auf welche
Weise aber werden die ersten, denen doch keine andern mehr zu Grunde
liegen, die Dinge so sehr als möglich uns verdeutlichen, wenn sie Benennun-
gen sein wollen?' %d dh drj nowxa, otg ovnoo hxqa vnoxena*, tivi tqomp xatd
%b dvvatdv o %i pdXiaut (pav6od r^kTv noiijtti %d Svta, sinsQ pilXsi Syöpccta elvai;
2) VBmidq di (ptovy ts xal yXoivtfi xal otöptm ßovXdpe&a dtjXovv, äq' od tove
ixdtnov dtjXcopa f^ktv lata* to dnd tovtcop yiyvöpsvov, tixav \ki^f\\ka yivfjtat
d$d tovtoov juql öttovv ; 423 B.
3) "Ovopa äoa ItSxiv , dg 60i*6, piptipa <p<ovrj ixslvov, S pipsUcu xal dvopdfa
6 fufAovfisvog rfj (ptoyjj, Star (HftfJTai.
Hist- Philo L Ciasse. XII. Nn
282 THEODOR BENFEY,
Diese Definition der Benennung scheint aber Sokrates zu weit; man
könnte sagen, dass der, welcher Thiere (Schafe, Hflhner u. s. w.) mit
der Stimme nachahmt, sie dadurch benenne (423 C), was als selbst-
verständlich falsch abgewiesen wird.
Er schliesst damit die onomatopoie tische Entstehung der Wörter
aus, die gewiss schon in der damaligen Zeit von manchen geltend ge-
macht wurde; sonst gedenkt er ihrer so wenig, als der aus Interjektio-
nen, welche übrigens damals vielleicht wohl noch von niemand ange-
nommen sein mochte. Die Nachahmung des Lautes der Dinge ist, wie
er weiter sagt, Sache der Musik, wie die ihrer Gestalt und Farbe der
Malerei, nicht aber der Onomastik (der Kunst die Dinge zu benennen).
Die Dinge haben aber eine Wesenheit und der Benennungskünstler ist
derjenige , welcher diese vermittelst Buchstaben und Sylben kund zu geben
vermag l ).
Wie sich der Verfasser dieses Dialogs vorstellte, dass die Laute
an und für sich fähig sein, das Wesen der Dinge kund zu thun, ist
bekannt. Er nimmt an, dass die Laute durch die Art, wie sie hervor-
gebracht werden , eine Verwandtschaft mit gewissen Begriffen haben und
dadurch sich dazu eignen, diese nachzuahmen und ztf bezeichnen, so
z. B. 'sei bei der Bildung des q die Zunge am wenigsten in Ruhe,
sondern erzittere am meisten' 2 ). Demgemäss schien es dem, welcher
die Benennungen aufstellte, ein passendes Werkzeug zum Ausdruck der
Bewegung, um (die diesem Begriff anheimfallenden Benennungen) der
1) 423 D San totg n%dy\ka<Si gxorij xal (ty^fta ixdtntp, xal xq&pd y* nolXotg. —
v Eoix£ xoivvv oix idv ng tavta [upijicci, ot)dü ticqI tavtag tdg (Hpijföig y t&XPH
övopaOuxf} slvcu. avrcu per ydo eltiiv ij (iiv [tovrtxy, y di yQa<p$xif. 423 E
Ti dal drj rode; oi xal ovaia doxsZ Cot, slvcu sxdtitto, coötuq xal %£<»/*<* etc.
Tl ovv; st ng avtd tovto (ufMTa&cu dvvawo ixdorov, t^v odalav, yodfjLfAaoi ts
xal GvXXaßatg, aQ* ovx dv dtjkoT txatttov o iouv; 424 A Kai %i &v qtaUjg tov
tovto dvvdpsvov . . .; Tovto ipoiye doxsX . . . ., 6 dvofHKGnxdg,
2) 426 E itoQa ydq (nämlich der, welcher die Benennungen beilegte) ... t^v
yXüvtav it> tovtto (bei der Bildung des §io) fauna pivovaav, i*dk<na dl
aeiopivfiv.
ÜBER DIE AUFGABE DES PLATONISCHEN DIALOGS: KRATYLOS. 283
Bewegung ähnlich zu machen .... Zuerst ahmt er in (den Wörtern)
§eJp und §orj durch diesen Buchstaben die Bewegung nach, dann in
TQÖfiog u. s. w. l ). Durch das <pi y tpl, aly/ua und t,r\xa, weil diese
Laute hauchartig sind, hat er alle derartigen (Dinge) nachgeahmt
und benannt, wie rpvxQÖr, &ov, oefco&cu und alles hauchartige,
yvocodeg 2 ). Die Eigen thümlichkeit des Zusammendrückens der Zunge
beim Delta und gleichzeitigen Anstemmens derselben beim Tau schien
ihm nützlich zur Nachahmung des Bindens und Stehens 3 ). Indem er
sah, dass die Zunge beim Labda am raschesten gleitet, benutzte er diese
Aehnlichkeit zur Benennung von glattem und dem Gleiten selbst, dem
Glänzenden u. s. w. ' 4 ).
Hierbei fallt nun die Art und Weise auf, wie der Verfasser diese
seine Hypothese einführt. Auf den ersten Anblick scheint sie sehr un-
behülflich; doch zeigt der Verfasser durchweg eine solche Fertigkeit in
der Behandlung der sehr schwierigen Probleme, denen dieser Dialog
gewidmet ist, dass man sich sagen muss, 4 a &s diese Unbehülflichkeit
nur scheinbar sein könne und der Gang, welcher eingeschlagen ist, ab-
sichtlich gewählt sei.
Um durch Buchstaben und Sylben das Wesen der Dinge nachzuah-
men, heisst es, muss sich der, welcher diese Nachahmung ins Werk
setzen will, zuerst mit dem Stoff, in welchem die Dinge nachgeahmt werden
1) 426 D td d* ovv <5« td titoiyfiXov > iuötuq Xiyoa, xaXdv ido^ev ÖQyavov slvai v^g
xwijtäcog tm tä dvopata Th&spivco nQog td ätpopoiovv tfj fpoqq .... tiqcotov
fiev iv adtw tw §s%v xal §ojj diä tovtov tov yQccpfJMXTOg tyv q>oqäv pifieXiai,
slta iv t(S tQOfjMp etc.
2) 427 A dta tov g>t xal tov \p% xal tov GXypa xccl tov Üfaa, <m nrev^atcSötj td
yQappatcCj ndvta td totavta [itfiifjMjtai adtotg dpopctfav * otov td t/wxQov xal
td ££ov xal td aelea&ai . . . xal Star nov td (fvawdsg pi[jHJtai, navta%ov ...
tä toiatta yQa'ppata imtpiqeiv <palvsta$ ....
3) Trjg d' ai tov diXta avpmifötog xal tov tav xal äjKQsUfsmg tijg ylmttfjg tjjv
dvvafuv xQy a W 0V gxtlvetai ijyfjtfaa&ai rtQog ttjv fjUfjHjGiv tot* dsapov xal tfjg
Ctdfäwg.
4) 427 B Sn di öXiti&dvsi pahaut iv r» Xdßda i} yXmtxa xcmdoov f dcpopoidov
<&vd(taa€ td ts XeXa xal aitd td ibadäveiv xal td hnaqdv etc.
Nn2
r
284 THEODOR BENFEY,
sollen — also den Buchstaben nach ihren verschiednen Classen und
Arten — genau bekannt machen , eben so mit dem , was darin nach-
geahmt werden soll, sehen, ob auch die Dinge, ähnlich wie die Masse
der Laute, sich auf Grundelemente zurückführen lassen, aus denen
man sie selbst erkennen kann, und ob in ihnen Arten existiren in
derselben Weise, wie in den Buchstaben, d. h. wie sich erst aus der
schon mitgetheilten näheren Ausführung klar ergiebt, ob eine Correspon-
denz zwischen den Lauten und Begriffen Statt finde (424 A — D). Dann
heisst es weiter: k Hat man diess alles wohl durchschaut, dann muss
man wissen, jeden (Buchstaben bei Nachahmung und Benennung eines
Dinges) der Aehnlichkeit gemäss anzubringen, sei es nun nöthig einen
bei einem anzubringen , oder bei einem viele mit einander zu vermischen ;
wie die Maler, wenn sie nachbilden wollen, manchmal nur Purpur auf-
tragen, manchmal aber irgend eine andre der Farben, bisweilen aber
auch viele mit einander vermischen, wie wenn sie Fleischfarbe bereiten,
oder etwas andres der Act, je nachdem ein bestimmtes Bild einer be-
stimmten Farbe zu bedürfen scheint : so werden auch wir die Buchstaben
für die Dinge anwenden, einen für eines, wo es nöthig scheint, und
viele; so das machend, was man Sylben nennt, und dann die Sylben
zusammensetzend, aus welchen die Benennungen und Aussagen zusam-
mengesetzt werden. Und aus den Benennungen und Aussagen werden
wir dann schon etwas Grosses, Schönes und Ganzes zusammenstellen,
wie dort vermittelst der Malerei ein lebendes , so hier den Satz vermittelst
der Onomastik oder Rhetorik oder wie diese Kunst sonst heisst. Doch
nein, nicht wir — ich habe mich von der Rede fortreissen lassen.
Denn die Alten haben sie so zusammengesetzt, wie sie verbunden sind.
Wir aber, wenn wir verstehen wollen, alles dieses kunstgerecht zu be-
trachten, müssen es auseinanderlegen und so zusehen, ob die Urbenen-
nungen und die späteren sachgemäss gegeben sind' l ).
1) 424 D — 425 B Tatra ndvxa xaltäg dux&satiaikivovq inUttaö&a* (seil, det)
lmq>4Q€iv Sxaoxor xatd njv o/uotox^ra, idv vs $v svl ö^tj imipiqeiv, idv %s
<toyx€Qawvv%a TioXkd hl, <5<fn€Q ol ^(oyQdtpot ßovXopevo* A<poymovv ivtins yäv
ö<toQ60V povQV in^vsyxav, ivlots de inovv äkko xwv (fctQfidxmr, Am S* Svs
ÜBER DIE AUFGABE DES PLATONISCHEN DIALOGS: KRATYLOS. 285
Man kann nicht umhin sich hier zu fragen: lag irgend eine Noth-
wendigkeit , oder auch nur Angemessenheit zu einer derartigen Darstellung
vor, wo das Bilden der Benennungen nach diesem Princip erst in die
Hand des Sprechenden verlegt wird, und dieser sich dann, wie vom
Redefluss zu dieser Ungehörigkeit fortgerissen, verbessert, die Rede als
fertige überlieferte Schöpfung bezeichnet, aber zugleich auffordert, nach
der angegebenen Methode zu untersuchen, ob die, welche sie gestaltet
haben, dabei sachgemäss verfahren haben?
Ich glaube, jeder wird mit Nein antworten; es gab eine Menge
andrer Wege, durch welche Sokrates zu seiner Hypothese selbst sichrer
hinüber leiten konnte. Er konnte z. B. fragen: Zerfällt die Masse der
Buchstaben nicht in verschiedne , in ihrer Production verwandte Classen ?
Hat nicht jeder einzelne eine bestimmte Art, wie er producirt wird?
Ist nicht andrer Seits auch in den Dingen eine Eintheilung in Classen zu
erreichen? Ist es nicht möglich, eine gewisse Verwandtschaft zwischen
der Art zu erkennen, wie bestimmte Laute hervorgebracht werden und
zwischen dem Wesen bestimmter Begriffe und Begriffsreihen ? Daran
hätte sich dann die Hypothese in derselben Form schliessen lassen, wie
sie 426 C ff. ausgeführt wird. Ja , dass ein ähnlicher Gang der Dar-
stellung nicht eingeschlagen ist, ist um so auffallender, da in Folge
davon der Beweis, dass die Laute den Begriffen correspondiren müssen,
an dieser Stelle, wo man ihn eigentlich erwarten sollte, fehlt, und erst
noXXd GvyxsQccöavtsg , otov özccv dvdQsixsXov GxsvdZwCw ij dXXo n mv totov-
tmv, dg äv s otf*cu ß rfoxj ixd&nj ij eixoiv detö&cu ixdtttov gtaQpdxov ovzm AJ
xal fjpetg %d cvohfpXa inl td nqdyfkata inoUso\ksv s xal $v inl $Vj od äv doxy
detv, xal tivpnoXXaj notovrtsg o Sy övXXaßdg xaXov&j xal OvXXaßdg av Cvm-
$6vx$g, l£ dir %d te Ivöpata xal %ä $q(iata (Wvti&svtai' xal ndfov ix x&v
ivo\kd%w xal ^fjfkdtwv piya tjdfj n xal xaXov xal 8Xov ftotivifioptv s tSoruQ ixet
%o Jiwov rfi yQcuptxjl, ivxav&a %dv Xöyor vjj dvopaonxfi y QipoQtxjj y yng iönv
ij %ijy^ iiäXXov öi oi% i}[*eZg ß äXXd Xiymv i&jvix&W' Wvi&rtav (*iv ydQ
ovvwg, $7i€Q avyx6$wu, ol naXaiot. rji*äg 6t deZ, sinsQ ts£V*xcö£ ijwnutiops&a
cxonsZa&at avtd na'vta, ovtw duXo^vovg, slts xaut tqonov td %b nqüta
dvdfuxzu xstta* xal td vovsqcc, sixs py, ovtw &eätS&ai*
f
#■
»
4 •
286 THEODOR BENFEY,
an einer weit entfernten nachgetragen wird; nämlich 434 A, wo es heisst:
'Wenn also der Name dem Dinge ähnlich sein soll, so ist es nothwendig,
dass die Buchstaben, aus denen man die ersten (die Ur-) Benennungen,
zusammensetzen muss, von Natur den Dingen ähnlich seien. Ich meine
aber so : Könnte wohl Jemand ein Gemälde .... so zusammenfügen , dass
es irgend einem Gegenstande ähnlich ist, wenn nicht Farben, aus denen
die Gemälde zusammengesetzt werden, existirten, die von Natur den
Dingen ähnlich sind , welche die Malerei nachahmt ? . . . . Eben so wür-
den auch die Benennungen niemals irgend einem Gegenstande ähnlich
werden , wenn nicht vornweg jene (Elemente) , aus denen die Benennungen
zusammengesetzt werden, mit jenen (Dingen), deren Abbilder die Be-
nennungen, eine gewisse Aehnlichkeit hätten. Woraus man sie aber
zusammensetzen muss , das sind die Buchstaben 7 *).
Wenn Sokrates statt dieses oder irgend eines andern Weges den
einschlägt, dass er die Benennungen von sich selbst nach dem angedeu-
teten Princip bilden lässt, so gestehe ich, darin eine Andeutung des
Gegensatzes zwischen der idealen Sprache , die er im Sinn hat , und der
wirklichen zu sehen , der schon einen " bedeutenden Schritt weiter geht,
als die, welche ich in der ersten Abtheilung dieses Abschnitts zu er-
kennen glaube. Wenn dort dieser Gegensatz gewissermassen nur negativ
hervortrat, nämlich dadurch, dass die Erfüllung der Forderung, welche
an die ideale Sprache gestellt war, — das Wesen der Dinge durch die
Benennungen kund zu thun — sich in der wirklichen Sprache so gut
wie gar nicht nachweisen lässt, so wird er hier positiv, indem diese
Erfüllung in die Hand der hier philosophirenden gelegt, erst als ein
1) Odxovv elnsQ eorcu rd övopa öfwiov tm nQdypan, dvayxaXov neipvxivcu %d
<S%oiyßia öpoux totg nQayfiatov, ££ (Sv tot TtQWTa dvdfiavd %%g Igvv&tjae*; o]de
de Xiyw • aQtx not 9 äv ng ^vvixh^xev .... C^yQd(ffj(ia opoiov tu) %&v övtcov,
sl (Afj <pvG£* vniJQX 6 <p<xQfKxx€%a ö^oia övxa, i£ äv %vvvi&6Tcu va ^YQaipov^va,
ixclvo$g ä fju(A€tta$ ij yQCccpixtj Ovxovv vogavtcog xal ivopam od* äv
nors SfAOta yivoixo ovdsvi, et prj vndQ^H ixetva nqtaxov dfWtÖT^Tci nvct ixovta
i£ (Sv %vvxi$e%cu %a dvopcna, ixelvoig dv löri %d ovopara iMptjfiara; icn dt s
i% dp %vv&€jtoVj vm%sTa;
«:i •
ÜBER DIE AUFGABE DES PLATONISCHEN DIALOGS: KRATYLOS. 287
Ergebniss der Zukunft angedeutet wird, ausführbar nur durch solche,
welche durch die in der angedeuteten Weise methodisch erforschte Glei-
chung zwischen Laut und Begriff und die weiterhin geforderte richtige
Erkenn tniss der Dinge (wie sie erst durch die Ideenlehre ermöglicht
wird) zur Gestaltung einer wahrhaft richtigen Sprache hinlänglich vor-
bereitet sind.
Für diese Auffassung scheint mir auch der Umstand zu sprechen,
dass , während dort doch noch Versuche gemacht werden , die Erfüllung
dieser Forderung in der wirklichen Sprache aufzuweisen, hier, genau
genommen, auch jeder derartige Versuch fehlt, trotz dem, dass eigentlich
am Schluss der mitgetheilten Stelle ausdrücklich dazu aufgefordert war
(425 B). Im Gegentheil lehnen sowohl Hermogenes als Sokrates selbst
diese Art der Zerfallung von Buchstaben und Dingen, als über ihre
Kräfte gehend", ab (ebds.). Denn, dass die Wörter, welche 426 C —
427 D bei der detaillirten Auseinandersetzung dieser Hypothese angeführt
werden, nicht al3 Beweise oder nur Versuche eines Beweises dafür die-
nen sollen, sondern nur als Beispiele, welche diese Hypothese verständ-
lich, die Möglichkeit einer derartigen Wortbildung vor stellbar machen,
— nicht ganz unähnlich wie in der ersten Abtheilung dieses Abschnitts
die Etymologien zum Verständnis^ dessen dienten, was Sokrates unter
der Bedingtheit der Namen durch die Dinge verstanden haben will —
kann man schon daraus folgern, dass, wenn damit etwas hätte bewiesen
werden sollen, jedesmal auch die Bedeutung der übrigen in diesen
Wörtern erscheinenden Buchstaben und ihr Einfluss oder Nichteinfluss
auf die des ganzen Wortes hätte erklärt werden müssen , z. B. bei tqö/uos,
welches als Beispiel für die dem q zugeschriebene Bedeutung des Be-
wegens (xtrijois) gegeben wird (426 E), hätte gezeigt werden müssen,
warum die dem x zugeschriebene Bedeutung des Stillstehens [atdatg 427
B) hier ohne Wirkung ist. Dass hier eben so wenig, wie bei den ableit- • }
baren Wörtern durch die Etymologien, ein Beweis, dass dieses Princip \
in der wirklichen Sprache zu erkennen sei, gegeben werden soll, zeigt *
auch die scherzhafte Behandlung, welche sich, wie in der vorhergehen-
den Abtheilung, in der Etymologie von xtvtjoig (426 C) wiederholt, und
288 THEODOR BENFEY,
in der Erklärung der Wörter /uiycc (zw fieyäAw), /ufjxog, yoyyiXov aus der
Gestalt der Buchstaben AHO fast noch überboten wird (427 C). Wie in
der ersten Abtheilung dieses Abschnitts sind die Beispiele also auch hier
nur zur Verdeutlichung der Art und Weise gegeben, wie sich der Ver-
fasser die Möglichkeit vorstellt, vermittelst des begrifflichen Werths der
Laute Wörter zu bilden; auch hier dient die eben angeführte scherz-
hafte Behandlung dazu , recht in die Augen fallen zu lassen , dass dieses
Verfahren in den Wörtern der wirklichen Sprache sich nicht nachweisen
lasse, dass sie höchstens Anklänge an dasselbe enthalte.
Aber es fehlt nicht bloss der Beweis, dass Richtigkeit der Benen-
nungen von der Gleichheit der Laute mit dem Wesen der durch sie
nachgeahmten Dinge bedingt sei, sondern im dritten Abschnitt wird
sogar gezeigt, dass in der wirklichen Sprache die Richtigkeit einer Be-
nennung dadurch nicht afficirt werde , dass sie ausser den begriffsgleichen
Buchstaben auch einen dem Begriff entgegengesetzten enthalte, der ei-
gentlich die Bedeutung aufheben müsste (434 C in axXtiQortjg , wo das (>
nach der angenommenen Theorie der Bedeutung des Wortes entspricht,
weil sein begrifflicher Werth * Härte' ist, das X ihm aber widerspricht,
weil dessen begrifflicher Werth Glätte, Weichheit' ist).
Es ist also auch dieses Princip in der wirklichen Sprache nicht
nachweisbar, und wenn Sokrates 426 A folgert, dass wer über die Ur-
namen — die er nach diesem Princip gebildet haben will — nichts weiss,
auch über die auf ihnen beruhenden nichts wissen könne l ) , so schliessen
1) 'Weiss jemand — sei es aus diesem oder jenem Grunde — nicht, warum die
Urnamen richtig sind, so ist es unmöglich, dass er es von den späteren
wisse; denn diese müssen noth wendig aus jenen erklärt werden, von denen
er nichts weiss; es ist vielmehr klar, dass, wer in Bezug auf sie sich für
einen Kenner ausgiebt, im Stande sein muss, vor allen Dingen und auf das
Klarste über die Urnamen Rechenschaft zu geben, sonst möge er nur wissen,
dass er auch über die späteren nur Albernheiten zu Tage bringen wird:
xalroi Sita ng xqönm tcoy ngcitcov dvopdmv tijv dQ&ötijTa (Jtfj olöev, ddvvavdv
nov T<av r* v&üqvov ädivoH, a ££ ixelrcov dvdyxti dijXovö&cu , dy ng niqt
pydiv otdev dXXd dylov ow rdv (pdoxovra mqi aihuov -&xv*xöv streu, mgi
ÜBER DIE AUFGABE DES PLATONISCHEN DIALOGS: KRATYLOS. 289
wir daraus, dass er damit andeute, dass in der wirklichen Sprache das
Princip: dass die Benennungen die Beschaffenheit der Dinge aussagen,
sich weder in den ableitbaren noch unableitbaren aufzeigen lasse.
Allein die Unmöglichkeit, den Nachweis der Verwandtschaft zwi-
schen Buchstaben (Laut) und Sache aus der wirklichen Sprache zu füh-
ren, hindert Sokrates keinesweges dieses Princip, wenn gleich in be-
scheidener und ironischer Form aufzustellen und festzuhalten. 'Es wird
lächerlich scheinen', heisst es (anzunehmen), 4 dass die Dinge, in Buch-
staben und Sylben nachgeahmt, kenntlich werden. Dennoch ist es (die
Annahme) noth wendig. Denn wir haben nichts Besseres als dieses, um
die Bichtigkeit der Urnamen darauf zurückzufahren, man müsste denn
für die Urnamen einen göttlichen Ursprung annehmen — wie die Tra-
gödiendichter * wenn sie sich nicht zu helfen wissen, Götter erscheinen
lassen — , oder behaupten , dass wir (die Hellenen) sie von den Barbaren
überkommen hätten, oder dass sie wegen des Alters etymologisch eben
so unerklärbar seien, wie barbarische. Das alle seien windige Ausflüchte;
wer die Benennungen erklären wolle, müsse vor allem im Stande sein,
die Urnamen zu erklären u. s. w.' l ). Weiter dann : * Was ich über die
Uirnamen mir ausgedacht habe, scheint mir ganz toll und lächerlich
zu sein' 2 ).
Dann folgt die Auseinandersetzung der Hypothese, deren wesent-
lichstes schon mitgetheilt ist. Diese selbst ist nicht zum Scherz gege-
ben; sie ist von allen folgenden Zeiten bis auf den heutigen Tag als
einer der tiefsinnigsten Gedanken anerkannt , die in der Sprachwissenschaft
hervorgetreten sind, und obgleich gewaltiger Missbrauch mit ihr getrieben
ist, ja noch in unsrer Zeit getrieben wird, so ist doch dafür weder ihr
twv nQooTeov dvopdzonv pdXrtid TS xal xccdagcoTccra dsT ix€iv änodetgai, jj sv
eldivai Sn xd y* vauqa tjdfj (pXvccQiJGSi.
1) 425 D TeXoXa ptv olpcu (faveXaticu . . . yQdppato xal ovlkaßaXg xd 7tqdyu,axa
/j,€fxipijp6va xaxddijXa yiyvopeva* opcog ärdyxtj. ov ydq ixo^v xovxov ßiXuov,
flc o n inavev4yx(0(i€V neql trjg dXrj&siag xcov nqmzoav ivopdxwv etc.
2) 426 B *A (Abp toivw iyw jjafrtiitcu neql xcSv nqoixwv Srofidtcop, ndvv po*
doxsl vßquJnxd elvcu xal yeXola.
llist.- Philo!. Classe. XU. Oo
290 THEODOR BENFEY,
Urheber verantwortlich — mag es nun der Verfasser dieses Dialogs oder
sonst irgend Jemand gewesen sein — noch der, durch welchen sie der
Folgezeit literarisch bekannt geworden ist — was unzweifelhaft der Ver-
fasser des Kratylos ist. Dieser letztre hat sie ausdrücklich auf den
Kreis derjenigen Wörter beschränkt, welche nach vollzogener Etymologie
aller übrigen sich als deren Grundlagen erweisen; er würde also weit
entfernt sein, das Verfahren derer zu billigen, welche sie attf nicht
analysirte Wörter anwenden und diese gewissermassen mit Haut und
Haaren aus dem begrifflichen Werth ihrer einzelnen Laute erklären.
Er hat im Gregentheil mehr als zuviel Gewicht auf die historische Um-
wandlung der Laute gelegt und damit hinlänglich zu erkennen gegeben,
dass, wenn man den Versuch machen wolle, dieses Princip auf die
wirkliche Sprache anzuwenden, die Erklärung der Urnamen (nQtßza
dpo/Luxra), wie er sie nennt, nicht eher beginnen könne, als bis man
sie durch Zerhämmerung der abgeleiteten nicht etwa im Allgemeinen,
sondern in ihrer historisch ungetrübten Gestalt aufgefunden habe. Wenn
er bei Entwicklung dieses Gedankens sich auch Wörter bedient, die er
sicher als zerlegbar anerkannte, wie xsQ/uail^sip (426 E), so sollen diese,
wie gesagt, nur dazu dienen , ihn verständlich zu machen; dagegen räumt
er ihm von seinem Standpunkt aus mit Recht eine Berechtigung ein für
die Erklärung von tö iov, xb §£0?, rb dovv (421 C), oder, wie es 424 A
heisst, für §ori, Uvea, oxfotg; denn in diesen Formen soll das Neutrum
des Particip Präsentis , das primäre Abstract {fyoij oxfats) und der Infinitiv
aller vier Verba augenscheinlich dasselbe ausdrücken, nämlich den all-
gemeinen Begriff, so dass man mit Bestimmtheit behaupten darf, dass,
wenn dem Verfasser dieses Dialogs schon die Zurückführung der Wörter
auf Wurzeln, oder in der uns bekannten Phase der indogermanischen
Sprachen auf primäre Verba bekannt gewesen wäre, er, statt dieser Wörter,
die Grundformen der Wurzeln oder vielmehr Verba l 'gehen', §v 4 fliessen\
da) 'geben', ix 'halten', gebraucht und also die Erklärung aus dem
begrifflichen Werth der Laute auf die Fälle beschränkt haben würde,
auf welche besonnenere Forscher, welche die Anfange der Sprache er-
klären zu können glauben , die Anwendung dieser Hypothese auch jetzt
ÜBER DIE AUFGABE DES PLATONISCHEN DIALOGS: KRATYLOS. 291
noch für anwendbar halten. Ja selbst diejenigen, welche es nicht wagen,
die Anfänge der menschlichen Geistesentwicklung historisch erklären zu
wollen, können dennoch nicht umhin, anzuerkennen, dass die Anfange
der Sprache, wenigstens theilweis, von einem naturbedingten Verhältniss
zwischen Laut und Ding (Begriff) beeinflusst gewesen sein müssen , mögen
sie sich auch scheuen, dasselbe näher zu bestimmen, oder gar, wie der
Verfasser dieses Dialogs, einzig aus der Lautbildung zu erklären, und
selbst in unsern den Sprachanfangen so unendlich fern liegenden Sprachen
nachweisen zu wollen.
Doch zurück zu diesem! Nachdem die Hypothese entwickelt ist,
schliesst Sokrates: 'Und auch das andere scheint der Gesetzgeber in
dieser Weise in Buchstaben und Sylben zu bringen, indem er für jedes
der Dinge eine Bezeichnung und Benennung bildet, aus diesen aber
scheint er das übrige denn schon vermittelst eben dieser (Urwörter) zu-
sammenzusetzen v indem er es nachahmt. Darin scheint mir die Rich-
tigkeit der Benennungen bestehen zu wollen' l ).
Für den der den ganzen Inhalt dieser beiden Abschnitte für vollen
Ernst nimmt, ist die Richtigkeit der Benennungen erklärt: sie beruht
darauf, dass die Benennungen das Wesen der Dinge kund thuu , in den
unableitbaren durch die den Dingen entsprechenden Laute an und für
sich — die also deren Wesen durch ihre Laute nachahmen und aus-
drücken — ; in den abgeleiteten durch Zusammensetzung 2 ) aus diesen,
indem diejenigen Urwörter mit einander verbunden werden, deren Be-
deutung mit einander verbunden die Beschaffenheit des zu benennenden
Gegenstandes kund giebt. Das allgemeine Princip der Ricktigkeit ist
demnach aus dem der Beschreibung vermittelst des etymologischen Werths
1) 427 C KcU miXa otfa» (pcävmu rtQOCßrfd&v xa# ucnä rQ<*Pf"*™ *<** *<m*
GvXXaßdq exdarcü xüv Svwv (tfjpttov « xal övopa noiwv 6 vopoMvr]<;, ix <tt
fot/W tri kHnä fidy aiftotg tovjok; awuMva* ccno^iAOv^yo^. avvrj po# g>a(-
vsm* . . . ßovlett&a* tJvcu ij iwv dvopatuv o^5.
2) Wir würden hinzufügen : und Ableitung ; aber deren wesentlichen Unterschied
von der Zusammensetzung kennt der Verfasser dieses Dialogs nicht, da ihm
noch die Suffixe für Repräsentanten , oder vielmehr Reste von Wörtern gelten.
Oo2
292 THEODOR BENFEY,
— wie es in der ersten Abtheilung hervortrat — zu dem der Nachah-
mung erweitert, welche sowohl die Bildung der Urwörter als der ab-
geleiteten unter sich subsumirt.
VL
Es folgt nun der dritte Abschnitt von 427 D bis zu Ende 440.
Während wir in dem . vorhergehenden nur zu ahnen vermochten,
dass das Princip der Richtigkeit, welches Sokrates für die Sprache auf-
stellt, und auch Kratylos billigt, sich seiner Ansicht nach in der wirk-
lichen Sprache nicht nachweisen lasse, wird in dem jetzt beginnenden
der direkte Beweis dafür angetreten. Während in dem ersten und
zweiten Abschnitt dem Hermogenes gegenüber, welcher reine Willkühr
in der Namengebung (wir würden sagen: in der Sprachbildung) annahm,
gezeigt war, dass die Bildung der Wörter von der Natur der. Dinge be-
dingt sein müsse, dass so eine natürliche Richtigkeit entstehen könne
und welcher Art diese seien müsse, und angedeutet, dass diese natürliche
Richtigkeit in der wirklichen Sprache nicht nachweisbar sei, wendet
sich dieser Abschnitt gegen Kratylos und führt dialektisch in einer Art
Klimax aus, dass es höchst unwahrscheinlich, ja unmöglich sei, dass
die wirkliche Sprache in seiner Auffassung derselben, wie wir sie theils
aus dem Anfang des Dialogs , theils aus seiner Beistimmung zu Sokrates
bisherigen Ausführungen - , theils endlich aus diesem dritten Abschnitt selbst
genauer kennen lernen, die für eine natürliche Richtigkeit aufgestellten
Erfordernisse erfülle. Zugleich wird angedeutet , dass dieses nur in einer
auf der Basis der Ideenlehre construirbaren Sprache möglich sein werde.
Hatten wir in den beiden vorhergehenden Abschnitten unsere Auf-
merksamkeit auf die Andeutungen zu richten, die uns ahnen Hessen,
dass die Erfüllung der Forderungen , ' welche Sokrates für eine natürliche
Richtigkeit aufstellte , seiner Ansicht gemäss sich nicht in der wirklichen
Sprache nachweisen lässt, so ist in diesem zu beachten, dass der nun
zu führende dialektische Beweis dieser Ansicht nicht allein nichts ent-
hält, was diese Forderungen aufhöbe, sondern sie vielmehr stets als
feststehend anerkennt und sie grade, zum Nachweis der Nichtrichtigkeit
ÜBER DIE AUFGABE DES PLATONISCHEN DIALOGS : KRATYLOS. 293
der wirklichen Sprache anwendet, so dass die Kluft zwischen dem, was
die Sprache sein mfisste, um richtig zu sein und dem, was sie wirklich
ist, in ihrer vollen Breite hervortritt.
Hermogenes, welcher, wenn gleich bisweilen bedenklich, doch im
Ganzen mit seinem Beifall gegen Sokrates nicht sparsam war, scheint
von Sokrates Entwicklung ganz befriedigt und fordert Kratylos auf zu
erklären, ob sie auch ihm behage, oder , ob er besseres zu sagen habe
(427 E). Auch Sokrates, obgleich er nichts von dem, was er gesiagt
hat , verbürgen will (ovdlv av iaxvQtaal/urjv <&v siQtjxa 428 A) , fordert ihn
in ähnlicher Weise auf, worauf denn Kratylos seine unumwundene Bei-
stimmung ausspricht (428 B. C). Da nun, als ob grade dadurch erst
Bedenklichkeiten bei ihm entständen , findet es Sokrates angemessen,
das Gesagte nochmals in Betracht zu ziehen; es ist als walte in ihm
ein dunkles Gefühl, dass seine bisherige Ausführung zu Missverständ-
nissen führen könne, als ob man aus ihr entnehmen könne, dass die
natürliche Richtigkeit, welche er fordert, in der wirklichen Sprache ver-
wirklicht sei.
Der gegen Kratylos geführte Betoeis zerfallt in mehrere sich, wie
gesagt, climaxartig steigernde Abtheilungen.
Die erste Abtheilung (428 E — 435 D) zeigt, dass die wirkliche
Sprache höchst wahrscheinlich nicht richtig gebildete — d. h. nicht den
für die natürliche Richtigkeit der Wörter gestellten Forderungen ent-
sprechende — , formal unrichtige Wörter* enthalte:
Der Beweis wird dadurch geführt, dass gezeigt wird, dass diejeni-
gen , welche die Benennungen beilegten , gleich andern Künstlern , ihre
Kunst mehr oder minder gut verstehen konnten, folglich auch die Er-
gebnisse derselben , die Benennungen , mehr oder minder richtig — d. h.
den aufgestellten Forderungen entsprechend — ausfallen konnten, speciell
Namen entstehen konnten , in denen — gegen das aufgestellte Princip —
nicht alle zum Ausdruck des begrifflichen Inhalts nöthigen Laute ver-
wendet sind , oder mehr als nöthig (428 E — 433 A).
Diesen Schluss bestreitet Kratylos mit Heftigkeit und giebt Sokrates
dadurch zugleich Gelegenheit, seine sophistische Scheidung des Sprach-
t
294 THEODOR BENFEY,
inventars in Lautcomplexe , die den Namen Benennungen verdienen und
solche, die ihn nicht verdienen, zu widerlegen.
Dass auch die vofio&Ziai, die Gesetz- und speciell Namengeber, wie
andre Künstler, bessere und schlechtere Werke liefern, will er nicht
zugeben. Nachdem Sokrates gefragt hat: 'Fertigen also nicht auch
einige Gesetzgeber ihre Werke besser andre schlechter ?' l ), antwortet er:
'Das will mir noch nicht einleuchten' 2 ). Alle Benennungen, welche
wirklich Benennungen sind — also mit Ausschluss derer, welche, dem.
Anfang des Dialogs gemäss, gar nicht diese Bezeichnung verdienen — t
sind richtig 3 ). Damit diese Unterscheidung recht hervortrete, wird sie
an Hermogenes Namen veranschaulicht. 'Sollen wir sagen', fragt Sokra-
tes, 'dass dieser Hermogenes seinen Namen gar nicht führe, wenn ihm
nichts zukommt, was mit einer Abstammung von Hermes in Beziehung
steht, oder dass er ihn zwar fähre, aber nicht mit Recht?' 4 ). Darauf
antwortet Kratylos: 'Ich bin der Ansicht, dass er ihn gar nicht fährt,
sondern nur zu fähren scheint, dass dieser Name vielmehr einem andern
angehört, der auch die Eigenschaften besitzt, welche den Namen ver-
deutlichen ' 5). Sokrates erweist aber , trotz aller Sophismen , die von
Kratylos entgegengesetzt und oft sehr derbe , bisweilen ironisch 6) zurück-
gewiesen werden, dass man die Wahrheit sagen und lügen könne,
'demnach auch die Benennungen unrichtig zutheilen könne und einem
1) 429 B y Aq 9 ovv xcd vopo&&cat ol püv xaXXloi xd Sqya aiwv naQiypvtm, oi di
2) Ov (tot doxel tovto m.
3) 429 B So kr. Also sind alle Benennungen richtig beigelegt? Erat. Alle die,
welche wirklich Benennungen sind. 2mxq. Uärta äqa tä dvöpam oQ&tog
xsItcu; Kqat. *Oaa ys dvopata iauv*
4) 429 B l EQ[M)y£v€* tri de notsqov (JHjdZ övopa tovto xeta&cu fxdpw, &1 ("j t» crffaS
*EQ(Aoi} fsviöems TtQoöyxsij $ xsTG&cu p£v, od p&vtoi ÖQ&dog y«;
5) Oddi xtlö&cu spoiys öoxet . . . dXXd doxslv xslaScu, elvcu ih ixiqov tovto
lotvopa, ovnsQ xal ij <pv<fig fj to övopa dfjkovGa.
6) 429 D 'Das ist für mich zu fein gefädelt; ich bin zu alt, um mich noch auf
solche Spitzfindigkeiten einzulassen 9 xopipotsQog pb> 6 Xoyog $ tat' i(j£ xai
xazd typ lp$v yfoxiav.
ÜBER DIE AUFGABE DES PLATONISCHEN DIALOGS : KRATYLOS. 295
Gegenstande bald vorenthalten, was ihm zukömmt, bald geben, was ihm
nicht zukomme' 1 ). Die Urwörter sollen nun, gemäss der Forderung,
welche in der 2ten Abtheilung des vorigen Abschnitts gestellt war, das
Wesen der durch sie auszudrückenden Gegenstände vermittelst Buchstaben
und Sylben nachahmen; man kann also auch bei ihnen, wie in Gemäl-
den, alles zukommende anwenden, dann entstehen gut gebildete Benen-
nungen; oder man kann auch einiges (zukömmliche) weglassen, und bis-
weilen andrerseits einiges (nicht zukömmliche) zusetzen, dann entstehen
schlecht gebildete 2 ).
Ehe sich Kratylos ganz darin ergiebt, dass es, in Folge der ver-
schiedenen Begabung der Gesetzgeber, gut und schlecht gebildete Be-
nennungen in der wirklichen Sprache geben werde, macht er noch eine
Einwendung, welche, wenn gleich in andrer Form, doch wesentlich mit
seiner ursprünglichen Beschränkung des Begriffs Benennung 1 auf die
richtig gebildeten Wörter auf eins herauskömmt
Er sagt nämlich: 'wenn man einem Namen die ihm zukommenden
Buchstaben nicht vollständig giebt , oder mehr als ihm zukommen , oder
1) 431 B ei dl xavxo ovxoog e%et, xal San [*fj ÖQ&tag dutyifjtepy *d Svdpata (JHjdl
dnodidovcu xd nQoaijxoyxa exd&m, dW ivUns xd (*q nqo^novzcu
2) 431 CD So kr. 'Wird nun nicht, wer alles (was das Original erfordert, in
einer Abbildung) wiedergiebt, die Zeichnungen und Bilder schön machen,
wer aber zusetzt oder wegnimmt, zwar auch Zeichnungen und Bilder machen,
aber schlechte? Krat. Ja. Sokr. Wie nun, wer in Sylben und Buchstaben
das Wesen der Dinge nachbildet? Wird nicht, auf dieselbe Weise, das
Abbild (d. h. die Benennung) schön sein , wenn er alles zukömmliche wieder-
giebt? wenn er aber weniges auslässt oder bisweilen zusetzt, wird zwar
auch ein Abbild entstehen, aber kein schönes; so dass einige Benennungen
gut, andre schlecht gebildet sein werden?'. 2coxq. Otixovv 6 plv dnodtdovg
ndvta xaXd %d yqd\k\kaxd xe xal tag sixovag dnodldaKfiV , i dl ij nqodnd'Blg
tf dipcuQcov YQditpccza plv xal elxdvag iqyd^exat xal ovxog , dXXd novrjQag;
Kqax. Nat. 2<oxq. Ti dl 6 did xmv OvXXaß&v xe xal yQapiAaxmv xr\v ovaiav
xtov nqay^dxwv dnofjufjuntiievog; aqa ot* xatd xdv adxdv Xoyov, &v (ilv ndvta
dnodw xd nQOtiqxovxa, xaXtj ij slxdv eöta$* xovxo 6* i&rlv üropa* iccv dl
GfiuxQd iXXelnrj % nQoaxt&fj iviots, elxc&v plv ywyösxa*, xccXtj dl oi; wgxs xd
plv xaXtag eiqyatS^iva eoxcu xwv dvopdxcov, xd dl xccxwg;
296 THEODOR BENFEY,
sie in falscher Ordnung anbringt, dann schreibe man einen Namen nicht
allein nicht richtig, sondern ganz und gar nicht; wenn irgend etwas der
Art eintrete, so sei er gleich ein andrer* *). Diesem Vergleich gemäss
stellt er die Forderung, dass ein Wort, um richtig zu sein, alle Momente
seines begrifflichen Inhalts in strictester, lautlicher oder etymologischer,
Correspondenz wiedergeben müsse.
Dem entgegen bemerkt Sokrates, dass das wohl für quantitative
Begriffe gelte, wie z.B. die Zahl 'zehn', sobald man etwas hinzuthue
oder wegnehme, gleich eine andre werde; nicht so sei es aber bei
qualitativen,* noch bei einer Nachbildung. Bei diesen würden die Gegen-
stände durch eine vollständige Nachbildung nicht nachgeahmt, sondern
verdoppelt werden. Man müsse also für ein Bild und das, wovon sie
jetzt sprächen (d. h. die Benennungen), nach einer andern Richtigkeit
suchen und nicht für noth wendig halten, dass etwas aufhöre ein Bild
'zu sein, wenn etwas fehle oder zu viel sei; er wisse ja selbst, wie viel
den Bildern fehle, um dasselbe zu enthalten, was die Gegenstände ent-
halten, deren Nachbildungen sie sind. Würden die Namen in, jeder
Beziehung den Gegenständen gleich gemacht, dann würde sich die Lä-
cherlichkeit ergeben, dass alles verdoppelt wäre und man nicht wisse,
was von beiden die Sache und was die Benennung sei' 2 ).
1) 431 E Sxav xavxa xd yqdppata, xö xs äXcpa xal xd ßtjta xal ixatftov xwv
GtoiXsiwv , xolg Svöfiaatv dnodidtiSpsv tfj yqappauxji xixyfi» idv n difilta^ev
% 7iQOO$iap6V rj fjMta&topiv x§, ov yiyqanxat psv tjplv xd övopa, ov pivxoi
OQ&cog, dXXd xd naqdnav oiSl yiyqamai, äXX* ed&vg ixsqöv ianv, idv u
xovxtav nd$ij.
2) 432 B — D "laoog oaa sx uvog äqi&pov ävayxaXov stvai ij w elvcu, nd<$%oi äv
xovxo .... cSaneq xal adxd xd d&xa . . . . idv ätpiXqg w rj nqoa&^g, Heqog
sv&tig yiyovs* xov de notov uvog xai ^v^nddtjg elxovog (*fj ovx aßtfj fj 17 3q-
&6tijs dq' äv ovo nqdypaxa slij xoidös, otov KqaxvXog xal KqaxvXov
elxoiv , el ng &€(fiv .... ndvxa dneq av sxeig, xotavxa ixeqa xaxaaxyG&e nX^-
aiov aov; noxsqov KqaxvXog äv xal eixoov KqaxvXov xox' eir\ xd xobovxov, t\ ovo
KqaxvXoi; . ... *Oqqg ovv . • . o» äXXfjv XQ*I ^dvog oq&6xi]xa tyxsTv xal wv
vvv dy iXiyofisv, xal oix ävayxdfav, idv n dnrj ij nqoafj, pijxixi aixijv sixova
efvai; rj oix aia&dvei ocov ivdiovaiv al slxdveg xd aixd $%8iv ixelvotg <£v
ÜBER DIE AUFGABE DES PLATONISCHEN DIALOGS : KRATYLOS. 297
An dieser Deduction lässt sich manches aussetzen. Denn eigent-
lich bleibt zwischen Wort und Ding — wenn die Nachahmung auch
noch so weit getrieben wird — doch immer der stoffliche Unterschied»
da festgesetzt ist, dass das Wort eine Nachahmung der Dinge in Buch-
staben und Sylben sein soll, also int einem von ihnen verschiedenen
Stoff, und Sokrates hat nicht das Recht, die Nachahmung eines Dinges
durch Laute mit der durch einen Gott vollzogenen vollständigen, nicht
bloss das äussere, sondern auch alles innere, sogar die Seele u. s. w.
wiedergebenden Nachbildung, wie in der angeführten Stelle geschieht,
auf eine Stufe zu stellen. Doch es ist nicht unsre Aufgabe, diesen
Dialog zu critisiren, sondern nur seinen Zweck zu erkennen, und dabei
ist festzuhalten, wie schon bemerkt, dass Sokrates seine Untersuchung
über die Sprache nicht von einem allgemeinen Standpunkt aus führt,
sondern nur von denen des Hermogenes und Kratylos.
Kratylos, welcher Wort und Ding gewissermassen unvermittelt
coordinirt, fordert deren stricteste Gleichheit; diese greift Sokrates auf
und sagt etwa: wenn du die Forderung der Gleichheit so weit treibst,
dann könntest du ja eben so gut fordern, dass das Wort in jeder Be-
ziehung (also etwa auch im Stoff) seinem Begriff gleich sei, wodurch
dann jene unsinnige Verdoppelung statt Nachbildung entstände. Du
musst dich vielmehr bescheiden , musst anerkennen , dass es nicht in der
Natur eines Bildes liegen könne, alles wiederzugeben, was das Original
enthält , dass also auch nicht die mit einem Bilde auf gleiche Stufe ge-
stellte Benennung die Verpflichtung habe», alle Momente eines Gegen-
standes durch correspondirende , lautliche oder etymologische Elemente
wiederzugeben, vielmehr sowohl einiger ermangeln, als andre zusetzen
dürfe. Wie man in einem Bilde das Original erkennt, wenn auch nicht
alle Momente desselben wiedergegeben sind, sogar ein oder der andre
Zusatz Statt gefunden hat, so giebt auch das Wort seinen begrifflichen
tlndvsg slöiv; . . . reXoXa yovv . . . . vnö xwv dvopdvow nd&o* äv ixtlvcc wp
dpofjuxtd i<Tu xä dvofiaxa, ei ndvxa navxa%^ adxoJg dfkOKad'skj. dixxd yäq äv
nov ndvxa yivoixo, xal odx dv S%ot avxwv tlnelv ovditBqov, onoxsQÖv icu xo
fisy avxd, xö dt opopa.
Hist.-Philol. Classe. XII. Pp
298 THEODOR BENFEY,
Inhalt kund, wenn gleich es in Bezug auf die Wiedergabe der einzelnen
Momente desselben durch lautliche Repräsentanten etwas zu wenig oder
zu viel thut.
Es erfüllt also die Funktion eines richtigen Wortes , wenn gleich
es den Forderungen, welche ein richtig gebildetes Wort erfüllen müsste,
nicht ganz entspricht, formal unrichtig, im Kratylos'schen Sinn gar kein
Wort ist. Kratylos ist also nicht berechtigt, ihm den Namen ovo/ua zu
bestreiten. Damit fallt die sophistische Scheidung des Sprachinventars,
durch welche Kratylos seine Auffassung der wirklichen Sprache als einer
richtigen aufrecht zu halten suchte, zusammen, und es ergiebt sich,
dass diese auch unrichtig gebildete Wörter enthalten kann.
Dabei wird aber doch — in Uebereinstimmung mit dem Ergebniss
des zweiten Abschnitts — festgehalten, dass die Benennung nur dann
gut ist, wenn sie alles enthält, was dem Gegenstand zukommt, schlecht
aber, wenn nur weniges; so heisst es 432 D ff. zum Schluss dieser Unter-
suchung: 'Ergieb dich also nur darein, dass eine Benennung gut bei-
gelegt sei, eine andre nicht, und dringe nicht darauf, dass sie alle
Buchstaben enthalte, um genau so zu sein, wie das, dessen Benennung
sie ist, sondern gestatte, dass auch ein nicht zukommender Buchstabe
hinzugefügt werde und (gestehe zu) dass eine Sache trotzdem benannt
werde . . . solange nur der Typus (Abdruck) der Sache darin enthalten
ist ' (wobei er auf eine frühere Ausführung 393 D — 394 C verweist). . . .
'Denn wenn dieser darin enthalten ist, wird die Sache, auch wenn (die
Benennung) nicht alles zukommende enthält, ausgedrückt sein, gut, wenn
alles, schlecht aber, wenn weniges' l ).
1) ... ia xal övopa %o piv sv xbTö&cu, td de [*ij> * at f**t dvdyxafa ndv% % i%&v
td yqdppaxa, Iva xopiörj fj xoiovxov oUvnsq oi övopd icuv , dll* Sa xal %o
(Atj nQOGJjxov YQappa inupiqew xal (ajdiv fjvwv Svopd&o&a* %ö nQd/fjut
.... fag äv 6 tvnog ivjj tov nQdypazog "Otav ydQ wvw ivjjj x&v [*fj
ndvxa %d 7i{)0<rijxovta $%$, XtXi^erai ys ^ nQäypa, xakag, otav ndv%a 9
xaxwg 64, Stav diiya.
ÜBER DIE AUFGABE DES PLATONISCHEN DIALOGS: KRATYLOS. 299
Kratylos hatte die Lautcomplexe , denen er, da sie nicht richtig
gebildet sind, den Namen 'Benennung' opo/ucc verweigerte, als solche
bezeichnet , deren Werth auf Uebereinkunft beruht (383 A). Es wird
ihm nun nachgewiesen, dass in der wirklichen Sprache auch diese die
Funktion von Benennungen erfüllen, also ebenfalls auf diesen Namen
Anspruch machen dürfen (433 B — 435 C).
Diese Abtheilung dient zunächst dazu wesentlich dasselbe zu beweisen,
was die vorige: nämlich einerseits, dass die wirkliche Sprache auch in
der Kratylos'schen Auffassung formal unrichtige Wörter habe; andrerseits,
dass die Kratylos'sche Scheidung des Sprachinventars in Wörter und
Nichtwörter eine sophistische sei. Hinzukommt aber als drittes, dass in
der wirklichen Sprache nach der Kratylos'schen Auffassung auch Ueber-
einkunft als Element der Richtigkeit anzuerkennen sei.
Der Beweis beruht wiederum auf den im 2ten Abschnitt für die
Richtigkeit der Benennung gestellten Forderungen. Die Benennungen
müssen, um die Dinge richtig zu bezeichnen, auf Urwörtern beruhen,
in denen die Buchstaben durch die Aehnlichkeit mit den Dingen deren
Wesen kund geben. In dem Worte oxAijqotijs 'Härte' drückt das g,
der früheren Annahme gemäss, deren Richtigkeit hier von Neuem zuge-
standen wird, ' Härte ' aus (vgl. 426 E, wo rgaxvs dem oxAtjqottis in
434 C entspricht); X drückte aber (nach 427 B) 'weiches' aus; beide in
einem Worte, wie hier, verbunden, würden sich also eigentlich einander
aufheben; dennoch aber versteht Jeder und Kratylos selbst, was das
Wort bedeutet. Kratylos will das aus der 'Gewohnheit' t&oe erklären.
Sokrates aber wendet dagegen ein: 'Glaubst du, wenn du Gewohnheit
sagst, etwas anderes zu sagen, als 'Uebereinkunft' Jw#i}xi7? Oder nennst
du nicht das Gewohnheit (d. h. willst du nicht damit sagen) , dass ich,
wenn ich diess (ein Wort etwa ax/LijQÖTfjg) ausspreche, ich jenes (seine
Bedeutung, etwa 'Härte') im Sinne habe, du aber verstehst, dass ich
jenes im Sinne habe? .... Wird dir also nicht, insofern du mich ver-
stehst, wenn ich spreche, eine Kundgebung von ihir zu Theil? (vgl.
433 D) . . . Und zwar durch etwas, welches dem, was ich beim Sprechen
im Sinne habe, unähnlich ist, da doch das L dem Begriff der Härte
Pp2
300 THEODOR BENFEY,
unähnlich ist. Wenn sich das aber so verhält, was thust du anderes,
als dass du mit dir selbst eine Uebereinkunft schliessest, und die Rich-
tigkeit der Benennung wird dir zu einem Uebereinkommen, da ja sowohl
ähnliche als unähnliche Buchstaben (einen begrifflichen Inhalt) kund geben,
sobald ihnen Gewohnheit und Uebereinkunft zu Statten kommen? Wenn
aber Gewohnheit aufs höchste verschieden wäre von Uebereinkunft, so
dürfte es nicht mehr angemessen sein zu sagen, dass die Aehnlichkeit
(das Mittel der) Kundgebung sei, sondern Gewohnheit. Denn diese giebt
durch ähnliches sowohl als unähnliches kund. Da wir aber darin fiber-
einstimmen . .., so ist es unabweisbar, dass auch Uebereinkommen und
Gewohnheit etwas zur Kundthuung dessen , was wir bei unsrer Rede im
Sinne haben, beitragen' 1 ).
Es ist also danach erwiesen, dass die wirkliche Sprache in axjLrjQOTtig
ein formal unrichtig gebildetes Wort hat, dem aber, da es ganz die-
selbe Funktion erfüllt, wie andre nach Kratylos Auffassung richtig ge-
bildete, dieser die Bezeichnung oro/ua (Wort) nicht verweigern darf;
zugleich ergiebt sich, dass der Umstand, dass es diese Funktion erfüllt,
aus nichts anderm als Uebereinkunft Jwtfjjtfij oder Gewohnheit S&os
erklärt werden kann, so dass Kratylos auch diese als zur Richtigkeit
der Wörter beitragende Momente anerkennen muss.
Einen weiteren Grund für die Notwendigkeit Uebereinkunft als
Moment der Richtigkeit in der wirklichen Sprache anzuerkennen findet
l) 434 E "E&og de Xiyoap olei n duxyoQOV Xiyeiv %vp&ijxtjg ; ij dXXo %i Xiyeig %d
i&og rj oti iyci, oxav xovto <p&£yytopai 3 diapoovpat ixslvo, cd de yiyvuxsxeig
du diapootpai ixeXpo; . ... Oixovp et yiyptodxeiq ipov (p&eyyopivov dJjXoopd
Goi yiyvsTCu naq* ifiov ; . . . *And wv dpopotov ys % o dtapoovfxepog <p&4yyö(Xcu %
eXneq to Xdßda dpopoiöv i&n %$ fj (pfig 0t) axXijqoTfjn' ei de* rovto ovrcog eyei, xi
äXXo fj avtdg Gavtü £vpe'&ov xai <ro* ylyvezcu y iq^ov^g %ov oPopavog %vpdyxrj t
ineidtf ye dyXoX xai %d opoia xal rot dvopoia yqdppaxa, i&ovg te xai ^vv&rjxfjg
tvypvzay ei d' o n pdXiGra pij icu %6 e&og %vv&tjxi] otix dp xaXwg su i%o*
XiyeiP %i\P öfiotÖTfjta drjXoopa elvai, dXXd tö i&og* ixeXpo ydq, dg soixe, xai
dfioiat xai dpopotw dtjXoX. ineidfj de xavta %vyx<aqovpep .... dpayxaXov nov xai
llvp&tjxtjP n xai e&og %vpßdXXeGt>ai nqbg dijXaxTvp dp diapoovfjbepoi Xiyoftey.
ÜBER DIE AUFGABE DES PLATONISCHEN DIALOGS: KRATYLOS. 301
der Verfasser dieses Dialogs in den Zahlwörtern, indem er bemerkt
435 B.C: 'wenn du dich zur Zahl wenden willst, woher denkst du Be-
nennungen , die jeder einzelnen Zahl ähnlich sind , beilegen zu können,
wenn du nicht zulässt, dass deine Uebereinstimmung und dein Ueber-
einkommen in Bezug auf die Richtigkeit der Benennungen eine gewisse
Herrschaft besitzen?' l ).
Ich habe schon angedeutet, dass §vr&ijxtj 'Uebereinkunft' in diesem
Dialog in drei Beziehungen vorkömmt, 1. in dem Sinn, in welchem sie
Hermogenes nahm 4 reine, numerisch und historisch unbeschränkte Will-
kühr' (als äusserste Consequenz der alleinigen Annahme dieses Princips
für die- Sprachentstehung , s. oben S. 201; 231). 2. gvr&rjxtj eines natur-
gemäss zusammengehörigen Menschencomplexes (385 A). 3. die historisch
geltend gewordene £w&i}*f} (433 E). Die Uebereinkunft , aus welcher
hier die Entstehung der Zahlwörter erklärt wird, gehört ohne Zweifel
unter die Kategorie der Willkühr. Denn es ist sicherlich nicht anzu-
nehmen, dass der Verfasser dieses Dialogs eine Ahnung davon gehabt
habe, dass auch die Zahlwörter auf eine naturgemässe (d. h. der Natur
der Sprache gemässe) Weise gebildet seien ; diese Entdeckung gehört erst
der neueren Sprachwissenschaft. Der Verfasser unsres Dialogs kann sich
augenscheinlich nicht vorstellen, dass man zur Bezeichnung dieser ganz
abstracten Begriffe auf eine andre Weise habe kommen können, als
durch rein willkührliche Fixirung von Lautcomplexen zur Bezeichnung
derselben, mag diese Fixirung nun von einem einzigen oder einer Ge-
meinde ausgegangen sein.
Das Uebereinkommen , gvr&rjxri, dagegen, durch welches axjLrjQonjg
seine Bedeutung hat, ist ein historisches, und zwar scheint es schon
ganz in demselben Sinn aufgefasst zu sein, wie auch wir es heutigen
Tages begreifen. Wo nämlich Sokrates darauf hinweist, dass das X in
demselben das Gegentheil von 'Härte' bedeute, bemerkt Kratylos 434 D
'dass es vielleicht mit Unrecht darin stehe .... und man vielleicht
1) El &4Xetg im tov äqt&^ov iX&elv , no$ev 6Ui $£eiv iSvofkaza Ofioict kvl ixdcnp
twv (xqi&hwv tnsvsyxtXv, idv fifj iqq n x^v Cfjv ipokoyiav xal l^vv^^x^v xvqos
6%siv ttav ovopattap dqltotfjxot tz€qi ;
302 THEODOR BENFEY,
— ähnlich wie sich auch Sokrates, wo es nöthig war, viele Veränderun-
gen mit den Buchstaben erlaubt habe — p statt dessen sagen müsse \
und Sokrates billigt diesen Einwand l ). Nun hat Sokrates jene Buch-
stabenveränderungen vorgenommen, um die ursprüngliche, mit dem an-
genommenen Princip der Richtigkeit übereinstimmende, Form herzu-
stellen. Eben so will also Kratylos auch hier die Urform durch Ver-
änderung des X in p herstellen, und indem Sokrates diess Verfahren als
berechtigt anerkennt , giebt er zu , dass die Urform dieses Wortes eine
richtige war, dass sie aber im Lauf der Zeit durch die in der Sprache
eintretenden Umwandlungen unrichtig geworden ist. Indem das trotz
dieser Umwandlung bewahrte Verständniss dieses Wortes der Ueberein-
kunft zugeschrieben wird, wird dieser dieselbe Macht zugestanden, die
auch wir ihr zuerkennen , nämlich einem ursprünglich etymologisch klaren
und so durch seine Bildungselemente verständlichen Worte auch dann
seine Bedeutung zu bewahren , nachdem , durch die historischen Umwand-
lungen der Laute, Verdunkelung des etymologischen Werthes entstanden,
oder dieser ganz aus dem Sprachbewusstsein geschwunden ist.
Das Hauptbollwerk, hinter welchem sich Kratylos bei der Vertei-
digung der Richtigkeit der wirklichen Sprache verschanzt hat, nämlich
allen Lautcomplexen , die nicht in seinem Sinne richtig sind , den Werth
von Wörtern abzusprechen, ist erobert. Es ist erwiesen, dass die Sprache
schlechtgebildete und solche Wörter hat, die theils nur durch Ueber-
einkunft entstanden, theils nur durch sie verständlich sind. Das Haupt-
resultat dieser Abtheilung ist: die Sprache hat Wörter die in formaler
Beziehung unrichtig sind (vgl. noch Ende der folgenden Abtheilung).
Die zweite Abtheilung (435 D — 437 E) führt aus, dass Sie auch
Wörter habe, die in materieller Beziehung nicht richtig sind, oder ge-
nauer: sie erfüllt die Aufgabe einer richtigen Sprache nicht, indem sie
materiell unrichtige Wörter hat.
1) Yötos yctQ otfx . oq&oh; syxtivcu .... wg7t€Q xai ä vvv dy <ft) nQog 'EQfioydvq
iXeysg QcuQuiv w xai ivn&sig yQafMfjuxta ov dioi, xai oQ&wg iööxeic ipoiye,
xai vvv laoag ärÜTov Xaßda £o> dei Xiysw. 2<axQ. Ev Xiyeig.
ÜBER DIE AUFGABE DES PLATONISCHEN DIALOGS : KRATYLOS. 303
Sokrates beginnt: 'Was ist der Zweck der Wörter? was sollen sie
uns leisten?' l ).
Wie oben (388 B ; 428 E) Sokrates selbst , antwortet auch Kratylos
zunächst: 'Der Zweck der Wörter ist zu belehren' (didcioxew $/ioiys doxsTj;
die Belehrung wollen sie , wie wir aus dem ersten und zweiten Abschnitt
wissen , dadurch geben , dass sie durch ihren Lautwerth , oder, ihre Ab-
leitung, oder die Verbindung der Wörter, die in ihnen zusammenge-
hämmert sind, das Wesen der Dinge kund thun 2 ), die sie bezeichnen.
Da die Wörter nach Kratylos aber das treuste Bild, oder noch
näher die strengste Wiedergabe, Reproduction, der Dinge sind (435 D. E),
so fühlt er sich berechtigt, diese Belehrung als eine absolut zuverlässige
hinzustellen, dem diddoxsiv als nähere Bestimmung hinzuzufttgen , dass»
wer die Benennungen versteht, das heisst, ihren etymologischen Werth
in der Weise , wie im zweiten Abschnitt gelehrt ist , erkannt hat 5 ) , auch
die Dinge kennt 4 ). Ja, da er keine andre Weise kennt, die Dinge zu
erkennen, ist ihm diese die einzige und beste 5 ), und zwar nicht bloss
zum Lernen (d. h. Aneignen von etwas schon sonst, nur nicht dem ler-
nenden , bekanntem) , sondern auch zum Suchen und Auffinden der Dinge
(als etwas unbekannten und nur vermittelst der Worte zu erkennenden) 6 ).
1) Tiva fjffip dvpccfuv S%n xä dvopaxa xal xi qxäpsp avxä xaXov, dn€Qyci£s(f&cu ;
2) wie es schon 388 B heisst: £ nach ihrer Beschaffenheit unterscheiden 9 xä
nqayijkccxa diaxQivoftsv jj i%ei.
3) vgl. insbesondre noch 425 B und 436 B oxonwv otor ixatixov ßovlsxai slva*.
4) Sg äv xä ivopaxa iniöxijxai , imöxatr&a* xal xä nqdypaxa 435 D.
5) Tovxov (seil. xöv xqouov oZofAcu) . • • xul \*6vov xal ßiXxMtxop 436 A.
6) 436 A ' (Glaubst du) dass auch die Auffindung der Dinge dieselbe sei, so
dass wer die Namen gefunden hat auch im Besitz der Dinge sei, deren
Namen sie sind, oder dass man auf eine andre Weise suchen und finden
müsse, auf diese aber lernen? Krat. Ganz im Gegentheil: auch suchen und
finden muss man ganz ebenso auf eben diese Weise 9 . 2m xq. IldxeQor rf£ xal
£VQ€(Hv xwv övxcov xtjv avtTjv lathfjv elvai (seil. oUi), xdv xä ivopaxa siqovxa
xäxslva evQTjxtvat wv $<Tä xä ivojkaxa* fj fyftstv fJtir xal svqUtxsiv Ztsqov dsTv
XQÖnov, fMav&aveiv di xovtor; Kqax. üdvxmv fHxhata xal tfjTeTv xal svqi<rx€M>
xöv avxdv xqonov xovxov xaxä xaixd.
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■ K. ■>'
304 THEODOR BENFEY,
Darauf antwortet Sokrates: * Merkst du nicht, dass, wenn Jemand
so auf etymologischem Wege die Dinge erfahren will, er in die gross te
Gefahr geräth, getäuscht zu werden? Der, welcher den Dingen zuerst
ihre Namen gab, hat ihnen diese doch der Meinung gemäss beigelegt,
welche er von ihnen hegte', was Kratylos zugiebt. 'Wenn diese Mei-
nung nun nicht richtig war, so werden die, welche durch etymologische
Erforschung der danach beigelegten Wörter die Dinge kennen lernen
wollen , getäuscht' l ). Nehmen wir dem Satz seine höfliche Form , so
heisst dass nichts anders, als: Wenn die Meinung nicht richtig war, so
sagt auch der darauf gestützte Name etwas unrichtiges aus, er ist, wie
wir sagen würden, ein materiell unrichtiger, und die wirkliche Sprache
enthält in der Kratylos'schen Auffassung materiell unrichtige Wörter.
Kratylos will diese Folgerung nicht anerkennen ; er wendet zunächst
wieder sein Sophisma ein: der, welcher die Benennungen gegeben habe,
müsse die Dinge gekannt haben, d. h. könne keine unrichtige Meinung
über sie gehabt haben; wäre das nicht der Fall gewesen, so wären es
gar keine Benennungen, d. h. materiell unrichtige lautliche Ausdrücke
gehörten in die Classe von Lautcomplexen , die nach ihm den Namen
Benennungen (Wörter) gar nicht verdienen. Auf diesen Einwand wird
hier nicht weiter eingegangen, da er schon in der ersten Abtheilung
dieses Abschnitts vernichtet ist; so gut Kratylos dort formal unrichtige
Wörter, sobald sie die Funktion von Wörtern in der wirklichen Sprache
erfüllen, als Wörter anerkennen musste, eben so gut muss er auch
materiell unrichtige, sobald sie diese Funktion erfüllen, als solche an-
erkennen. Es bedarf daher keiner wiederholten Widerlegung, und Kra-
tylos, diess gewissermassen selbst einsehend, wendet sich auch, ohne
Sokrates Antwort abzuwarten, zu einem andern Einwand. Dass der
Namengeber nicht gegen die Wahrheit gefehlt habe, dass er, wie Kra-
1) 'Wenn nun jener eine unrichtige Meinung hatte, aber die Namen nach seiner
Meinung beilegte, was glaubst du, dass wir, wenn wir ihm folgen, erleiden
werden? Was sonst, als getäuscht zu werden? El wv ixetvog py Sq&<»$
fiytXtOy i&sto dt ota i\yt%%0 3 vi ofct W*a? *oi>S dKolov&ovwag avuji 7ul<Se<S&ai;
ÜBER DIE AUFGABE DES PLATONISCHEN DIALOGS: KRATYLOS. 305
tylos annimmt, stets das richtige getroffen habe, würde aufs sicherste
durch die vollständige Harmonie bezeugt, die in den Benennungen
herrsche: Sokrates hätte ja selbst (in seinen im 2ten Abschnitt nach
heraklitischen Principien entwickelten Etymologien) gesagt, dass alle
Benennungen nach derselben Weise und in derselben Richtung gebildet
seien 1 ).
Diesem Einwand setzt Sokrates zwei Gründe entgegen: zuerst einen
allgemeinen: es sei natürlich, dass, wenn Jemand zuerst fehlgriff (d. h.
auf ein falsches Princip gerieth) , er auch alles weitere mit Gewalt damit
in Uebereinstimmung bringen werde 2 ). Dann zeigt er inductiv , dass
diese vorausgesetzte Harmonie auch gar nicht so sicher sei. Mit dem-
selben Rechte, mit welchem oben die Benennungen aus 'Fliessen' und
'Bewegen' erklärt sind, lassen sich mehrere aus 'Stehen* und 'Bleiben*
etymologisch deuten; durch dieses etymologische Verfahren werden die
Namen der schlechtesten Dinge denen der besten ähnlich (z. B. ä/uafrCa
wird eine a/ua &eip nogetct). Aus der Etymologie folgt also nichts für
die materielle Richtigkeit der Wörter und da diese von dem Namengeber
zugestandenermassen nur nach seiner Meinung gebildet sind, so kann
diese auf jeden Fall eben so gut eine falsche als richtige gewesen sein.
Kratylos will dagegen nun zwar noch geltend machen, dass doch
die Mehrzahl der Benennungen auf jenem (heraklitischen) Princip beruhe;
dieser Einwand wird aber — da die Richtigkeit sich nicht nach der
Majorität der Fälle feststellen lasse — halb ironisch zurückgewiesen 3 ).
1) Mfyrttov di ao* ictm texfjHJQiov on oix SayaXzcu tijg dXqMas 6 u&tfAevog-
ov yctQ av rnns ovuo gvpqmva yv ad%& änavta* ij oix ivsvosiq aitdg Xiywv
wg nana xatd tovxöv xal im taivov iylyvsxo td ivopaxa; vgl. dazu insbe-
sondre 402 G tavt* ovv axons* on xai dXXijXoig (WpcpcoveT xal nqdg td tov
^HqaxXsixov ndwa ixivsi.
2) 436 C. D si ydq td JiQiawv Gtpalelq 6 u&ifievog täXXcc ijdtj nqig tovt' ißidfrto
xal aixm T£vfMpmv&v yvdyxa&Vj ovdiv ätonov.
3) 'Sollen wir die Wörter wie Stimmsteinchen durchzählen und darin die Rich-
tigkeit finden? soll das richtig sein, was deren Mehrzahl anzudeuten scheint?'
wGtuq ifMJqwvg diccQi&fJHiaöfAe&a %d dvopata, xal iv zovtw iatat ij äQ&ozfjg;
dndvsQa dp nXelco tpalrytat td ivopata Ofifjwdvovra, tavta 6^ fouu tdlq&ij;
Hist.-PhibL Classe. XU. Qq
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306 THEODOR BENFEY,
Es bleibt also dabei , dass die Benennungen , da sie ihren Ursprung
nur der Meinung verdanken, die diejenigen, welche sie den Dingen
beilegten, von diesen hatten (und wie sie zu ihren Meinungen gekommen
sind, ist in der Abtheilung gesagt, welche uns den eigentlichen Brenn-
punkt dieses Dialogs zu bilden scheint l )) , diese Meinung aber eine un-
richtige sein konnte, auch materiell unrichtig sein können.
Wir können diese beiden ersten Abtheilungen so getrennt auffassen,
wie eben geschehen, und haben dann wohl das Recht, aus dieser zwei-
ten Abtheilung, in welcher erwiesen ist, dass die Sprache materiell un-
richtige Wörter enthalten kann, d. h. solche, die auf unrichtiger Auf-
fassung der Dinge beruhen , für den ersten die Voraussetzung einer
richtigen Meinung zu entnehmen. Die Steigerung würde dann darin
bestehen: 1. die wirkliche Sprache nach der Kratylos'schen Auffassung
kann Wörter enthalten, welche trotz dem, dass sie auf einer richtigen
Meinung von den Dingen beruhen , formal unrichtig gebildet sind ; 2. sie
kann sogar Wörter enthalten, welche auf unrichtiger Meinung beruhen.
Gegen diese Auffassung machen zwar die folgenden Steigerungen
bedenklich, die der wirklichen Sprache im Kratylos'schen Sinn jede
Möglichkeit einer richtigen Erkenntniss absprechen und desswegen viel-
leicht verbieten , die erwähnte Voraussetzung aus der zweiten Abtheilung
1) 411 B 'Ich glaube wahrhaftig: ich habe mit dem, was ich schon ersten be-
merkte, nichts übles ausgewittert, nämlich dass die Urmenschen, die die
Benennungen aufgebracht haben, ganz eben so, wie fast alle heutige Philo-
sophen, cfurch das häufige Herumdrehen und Suchen, wie sich die Dinge
verhalten mögen, in ewigem Schwindel sind; und dann scheinen ihnen die
Dinge sich herumzudrehen und allweges sich zu bewegen. Dann erkennen
sie aber nicht das, was in ihnen vorgeht, als den Grund dieser Vorstellung,
sondern meinen, dass diess die Natur der Dinge sei' (Kai ptjv, vij tdv xtfva,
doxa y* t*oi od xax&g (Aavnveti&a* o xal vvv drj ivivovjöa, in ol ndw
nalaiol äv&qoanoi o\ nMpsvo* tä Svöfiava nccvtög päXlov, (S<rnsQ xal tmv
vvv ol noXJüol tmv ooqxov, vnd %ov rcvxvä neQUTTQtyea&a* ^fjtovvug, onj £%€*
tä ovta, de* Ikyywto, xdnsita aitolq tpalvetat mQKpi()6ö9at tä nqdy\kaxa
xal ndvtmq <ptQsö$ai' atoavta* dq od td svöov td nuqä GifU$k nd&og dBuov
elvat tavtqg tfjg d6&]$, dXX' adtä td nqdypata ovta ne(pvxh>ai).
ÜBER DIE AUFGABE DES PLATONISCHEN DIALOGS: KRATYLOS. 307
für die erste zu entnehmen. Allein dieser Grund ist schwerlich ent-
scheidend; selbst wenn im Fortgang der Steigerung die Unmöglichkeit
einer richtigen Erkenntniss für die Sprache im Kratylos'schen Sinn nach-
gewiesen ist, Hess sich dennoch auf der untersten Stufe der Beweisfüh-
rung die Möglichkeit derselben von Sokrates um so mehr für sie voraus-
setzen, als sie, wie wir sogleich sehen werden, von ihm als noth wendiges
Erforderniss verlangt und von Kratylos zugestanden wird, auch ein
wirkliches Zugeständniss von Sokrates durch die Voraussetzung keines-
weges gegeben ist. Ich wage keine volle Entscheidung dieser Frage,
bemerke aber, dass sich bei dieser Auffassung die weiteren Steigerungen,
zunächst die folgende: dass der Namengeber gar keine Quelle für eine
Erkenntniss der Dinge hatte, sehr passend anschliessen. Im Fall man
die Zulässigkeit dieser Voraussetzung leugnet, wird man die beiden ersten
Abtheilungen enger verbinde^ können und als ihren Grundgedanken den
Satz fassen: die wirkliche Sprache im Kratylos'schen Sinn enthält eine
Anzahl sowohl formal als materiell unrichtiger Wörter. Für die Beweis-
fuhrung selbst macht es übrigens keinen Unterschied, ob man die eine
oder die andre Auffassung vorzieht, daher' ich mich nicht länger dabei
aufhalte; doch will ich nicht unbemerkt lassen, dass ich persönlich die
erste Auffassung vorziehe, wonach wir hier schon zwei Steigerungen
haben.
Es folgt nun die dritte Abtheilung (437 E— 438 D). Darin wird
nachgewiesen, dass, wenn man die Kratylos'sche Theorie als richtig
voraussetzt, der Widerspruch entsteht, dass der Namengeber die Dinge
kennen musste, als er ihnen ihre Benennungen gab, und doch kein
Mittel besass, sie kennen zu lernen.
Dass er sie kennen musste , hat Kratylos schon 436 C gesagt : ' es
ist nothwendig, dass- der, welcher die Namen beilegt, sie als ein (die
Dinge) kennender beilege' 1 ); 437 E ff. gesteht er nochmals ausdrücklich
zu und wiederholt auf Sokrates Aufforderung, dass er bei dieser Be-
hauptung bleibe und sie auch auf den ersten Namengeber ausdehne 2 ).
1) 'AXk' dvayxaXov . . . eldöta %l&€(f&cu %6v u&tpsvov %a ovopaxa.
2) 'Sag nun: haben die ersten Gesetzgeber, als sie die ersten Namen gaben,
Qq2
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f
308 THEODOR BENFEY,
Nun hat Kratylos schon in der vorigen Abtheilung (436 A) be-
hauptet, dass es ganz und gar keine andre Weise gebe, die Dinge ken-
nen zu lernen (ov näw r# elvai aXXov seil. TQÖnor) , als ihre Benennungen.
Vor dem, welcher die ersten Namen gab, existirten aber gar keine Be-
nennungen. Es gab also fftr ihn keine Weise, kein Mittel, die Dinge
kennen zu lernen l ).
die Dinge gekannt, denen sie sie beilegten, oder haben sie es gethan, ohne
sie zu kennen 9 ? Erat. So viel ich glaube . . . haben sie sie gekannt
Sokr. . . . Du hast eben gesagt, dass der, welcher die Namen gab, die Dinge
kennen musste, denen er sie gab. Bleibst du auch jetzt noch bei dieser
Ansicht oder nicht? Krat. Ich bleibe auch jetzt dabei. Sokr. Nimmst du
an, dass auch der, welcher die ersten (Namen) gab, sie mit Kenntniss (der
Dinge) beilegte? Krat. Ja, mit Kenntniss 9 . (Aiys drj, ol nowrot vopo&heu
%ä KQÜta dvopaxa notsqov yiyvwaxovteg %d nqdypam, otg Svi&svzo, fotöevw ij>
dyvoovvrsg; Kqcct. Olpak pZv iyai, oo 2<6xqa%sg 9 yiyvritixovreg. 2<oxq
äqn . . . iv toZg nQÖG&ev . . . %6v n&ifuvov %d ovopaxa ävayxaXov iyrja&a slvai
eldÖTCt rt&eo&cu olg irf&szo. notsqov ovv in 001 doxel ovxmq % ov; Kqa%. "Eu.
2(0xq. *H xal top zd nqüza nMpevov eldoxa tpyg titea&cu; Koa%. Eldota.)
1) 'Aus welchen Namen lernte oder fand er denn nun die Dinge, wenn die ersten
doch noch gar nicht existirten, wir aber sagen, dass es unmöglich sei, die
Dinge auf eine andre Weise zu lernen oder zu finden, als, indem man die
Namen (derselben) lernt, oder selbst herausfindet, wie sie (die Namen) be-
schaffen sind ? Auf welche Weise können wir nun sagen , dass jene mit
Erkenntniss Benennungen gaben, oder (wortbildende) Gesetzgeber waren, ehe
auch nur irgend eine Benennung existirte, oder sie (die Dinge) zu erkennen
vermochten, wenn man die Dinge wirklich durch weiter nichts kennen lernen
kann, als durch ihre Namen? 9 (Ex noteov ovv ivopdxwv fj psiAa&fjxujg ij evqtjxdg
fjv xd nqdypaxa, slnsq xd ye nqdiza pij noo sxeivo, passiv d' av qpaftev %d
nqdyfkaxa xal siqetv dövvaxov slvai dXXwg tj xd ovdpaxa (ia&6vxag ij aitovg
i^evQÖvrag otd ionv; .... Tiva ovv xqdnov (fwpsv avrovg eldoxag &6a&cu ij
vopo&itag elveu, nqlv xal önovv dvofta xstc&al xs xal ixslvovg sid&vai, slmq
pij San zd nqdypaxa pa&elv äXX' f( Ix xtav dvofidxcav ;) Mit den letzten Wor-
ten leitet Sokrates schon zu der vierten Abtheilung über, wo der positive
Weg zur Erkenntniss der Dinge aus sich selbst und somit zur Construction
einer im wahren Sinne des Wortes richtigen Sprache angedeutet wird, näm-
lich die Ideenlehre.
ÜBER DIE AUFGABE DES PLATONISCHEN DIALOGS : KRATYLOS. 309
Kratylos, in die Enge getrieben, flüchtet sich zu dem schon früher
(S. 251) angedeuteten göttlichen Ursprung der ersten Benennungen: 'Ich
glaube', sagt er, 'die richtigste Erklärung ist, dass eine übermenschliche
Macht den Dingen die ersten Namen gab, so dass sie noth wendig richtig
sind x ) \ Diesen weist aber Sokrates wegen der Widersprüche zurück,
die sich durch die hier gegebenen gleichberechtigten Etymologien aus
dem Princip des Stillstandes (436 C — 437 C) statt des der Bewegung,
des Fliessens in der 2ten Abtheilung ergaben: solche einander wider-
sprechende (Benennungen) könnte doch kein Gott oder Dämon (den
Dingen) beigelegt haben (438 C). Kratylos kehrt zu seinem alten So-
phisma zurück : die einen möchten gar keine Wörter sein. Sokrates hat
das Sophisma an und für sich schon in der ersten Abtheilung widerlegt;
er bekämpft es daher hier so wenig wie in der zweiten von einem all-
gemeinen Standpunkt, sondern fragt nur: 'welche, die auf das Princip
der. Bewegung oder des Stillstands führenden?' und fügt hinzu: 'nach
der Mehrheit werde man es doch nicht (wie schon in der 2ten Abthei-
lung bemerkt) entscheiden können' 2 ).
Daran schliesst sich nun in der
Vierten Abtheilung (438 D — 439 B) die Andeutung, wie die Dinge
durch sich selbst erkannt zu werden vermögen. 'Da die Namen in
Zwiespalt sind und die einen sagen , sie seien es , die der Wahrheit
ähnlich (d. h. richtig) , die andern , sie seien es , wodurch , oder wozu
unsre Zuflucht nehmend, sollen wir das nun entscheiden 3 )? Zu andern
Wörtern kann man seine Zuflucht nicht nehmen ; denn es giebt keine 4 ).
Man muss also etwas anderes als die Benennungen suchen, welches
1) Olpcu fjbiy iyd vor dty&icFtcctov Xoyov Tuql tovxtov slvcti .... petto) urd dtfra/w?
shcu fj äv&Qconciay vijv &ep4vip> td nqii%a iv6\kam totg nQaypacw, Aon
ävayxaXov rfvcc$ avtd 6q&cos £x €$y *
2) JIotSQa ... td ini v^v (ftdtov äyovta 4j td int vtjv (poQav; od yaQ nov natd
td d(m iex&fr nXijds* xQixhjtetcu.
3) 'Opopdtuv ovv ota&aadvtw ß xal t&v. ftiv <pcusxovrmv iavtd slvai td öpou*
vg äXtj&siq, tcov d' iavtd , tivi h* diaxQirovftev ß ij int tl iX&övtes; 438 D.
4) Od ydg nov int dvopcrtd ys heqcc äXXa tovtwv od ydq ionv.
■
310 THEODOR BENFEY,
uns ohne Benennungen klar machen wird, welche von beiden Auffas-
sungen (die nach dem Princip der Bewegung oder des Stillstands) die
wahre sei, indem sie uns das wahre Wesen der Dinge klar und deutlich
zeigt l ) \ Kratylos gesteht diess zu und Sokrates fahrt dann fort : ' Man
kann also die Dinge auch auf andre Weise als durch die Namen erken-
nen 2 ) , nämlich durch einander, wenn sie irgend verwandt sind, und
durch sich selbst' 3 ).
Die richtigen Namen sind aber, wie im Dialog mehrfach hervor-
gehoben war, den Dingen, die sie bezeichnen, ähnlich, Bilder der Dinge
(eixopeg xdiv nQay/udrcop 439 A): welche Thorheit wäre es nun, die Dinge,
wenn man sie durch sich selbst kennen lernen kann, durch ihre Ab-
bilder kennen lernen zu wollen? oder wie es 439 A heisst: 'Wenn es
also zwar noch so sehr möglich wäre, die Dinge durch die Benennungen
zu erkennen, möglich aber auch durch sie selbst, welche Erkenntniss
wäre dann wohl die schönere und klarere? aus dem Bilde kennen lernen
zu wollen, ob es gut nachgebildet sei und wie das Original sei, dessen
Abbild es ist, oder aus dem Original dieses selbst und ob das Abbild
gut gefertigt seii?' 4 ).
Was es mit dem * auch noch so sehr ' o xi fiaXtaxa für eine Be wandt-
niss habe, darüber haben uns die Etymologien des zweiten Abschnitts
hinlänglich Kunde gegeben. Wir wissen wie gering und unzuverlässig,
oder genauer, wie werthlos die Auskunft über die Dinge ist, die auf
diesem Wege zu erlangen wäre (vgl. S. 275), dass also die Erkenntniss
der Dinge einzig durch sie selbst gewonnen zu werden verdiene.
1) dXXä dijXov 6xt äXX' äxva £ijvqx£a nX^y Svofjuxzcov, ä iJ/uJV iptpavtsl ävsv
övopdmv, onoxsqa tovxmv icril xdXtfxNjj dsl^avxa dijXov Sn zijv äXtj&t$av xmv
övuov.
2) v E<?nv äqa .... dvvaxöv fia&eJv ävsv ivopdxwv tä ovza ....
3) . . . dt' äXXtjXcov ys, et nj[ %vyysvij Sozi, xal aixa dt' ccvtvov.
4) Et oiv etin fJtev o %t (jtdXtcza dt' dvopdxmv xd nqdypaxa pav&dvstv, Sott dt
xal dt* aiiwv, noziqa äv elf] xaXXicop xal aaq>ecviqa ij (tddyötg; ex zijq elxovog
par&dvetv avvtfv xe aixqv, et xajidog eixatnat, xal xi\v äXy&etay, tjg f(V elxtiv,
tj ix irjg äXrj&slag aixqv vs atfvrjv xal rrjv slxova avTrjg, sl nqenovxtag
tiqyactat ;
ÜBER DIE AUFGABE DES PLATONISCHEN DIALOGS: KRATYLOS. 311
Sokrates glaubt, dass es vielleicht über seine und des Kratylos
Kräfte gehe , herauszubringen , in welcher Weise die Dinge gelernt oder
gefunden werden können; man müsse aber schon zufrieden sein, dass
die Dinge nicht aus den Benennungen, sondern bei weitem eher aus
sich selbst sowohl zu erlernen, als zu erforschen sein x ).
Dass dasjenige, was Sokrates als über ihren Kräften liegend be-
zeichnet : die Weise , wie die Dinge durch sich selbst zu erkennen seien,
die Ideenlehre bedeute, bedarf keiner Ausfahrung; es würde sich aber,
wäre es nöthig, aus dem vorhergehenden sowohl als folgenden, mit
Leichtigkeit zeigen lassen; sie ist es ja allein, die das wahre Wesen der
Dinge deutlich und klar zu zeigen vermag (438 D) ; vgl. auch 439 E
fxr\$y i&aräfispor vijg avrov ld(ag, Dittrich de Cratylo Piatonis p. 17. 18.
Wozu aber wird erwiesen, dass die Erkenntniss der Dinge durch
sich selbst der durch die Namen vorzuziehen sei, und angedeutet, dass
sie von der Ideenlehre zu erwarten sei? Geschieht es, wie es auf den
ersten Anblick der Fall zu sein scheint, um der Ideenlehre an und für
sich die Bahn zu brechen?
Dass dieses schwerlich der Fall sei, kann man schon erkennen,
wenn man bedenkt, dass es kein absonderlicher Ruhm, keine grosse
Empfehlung der Ideenlehre wäre, wenn die durch sie gebahnte Erkennt-
niss über diejenige gestellt wird , welche vermittelst der Etymologien (zu-
mal derer im 2ten Abschnitt) zu erlangen wäre.
Der Grund dieses Beweises und der Andeutung ergiebt sich, wenn
wir beachten, zu welchem Zweck der Beweis in der vorhergehenden
Abtheilung geführt ward, an welchen dieser sich anschliesst.
In der 3ten Abtheilung war erwiesen, dass der Namengeber im
Krätylos'schen Sinn keine Quelle der Erkenntniss hat, da nach Kratylos
nur die Benennungen eine solche sind, diese aber ihm fehlten. Dieser
Beweis sollte zeigen, dass demgemäss die wirkliche Sprache auch nach
1) "Ovnvcc fjkiv wlwv tqönov det pavödvHV ij eiqUsxew vä ovm $ fut&v Hft0£ iativ
iyvwx&vcu tf xa% $ ip£ xal ci* dyanyvdv de xal tovto dpoloyijöa&frcUj Su odx
i% dropaTttv dXXd noXö (jkxXAov adtd ££ ctitäv xal pa&trüov xal tynprfov f ix
twv Svofjkdtoov 439 B.
t:
r
**
ü
312 THEODOR BENFEY,
der Kratylos'schen Auffassung^ nicht richtig sein könne , wie diess theils
aus dem Zusammenhang folgt, in welchem dieser Beweis zu denen in
der 1. 2. und 5. 6. 7ten Abtheilung steht, theils daraus, dass Kratylos
anerkennt, dass der Namengeber die Dinge nothwendig kennen musste
(437 E — 438 B), theils endlich aus 438 C, wo Kratylos in seiner Noth
zum göttlichen Ursprung der Sprache flüchtet, um so ihre Richtigkeit
zu retten, also damit eingesteht, dass, wenn der Namengeber keine
Erkenntniss hatte, er keine richtige Sprache schaffen konnte.
Im Gegensatz zu Kratylos Prämissen wird nun in der 4ten Abthei-
lung gezeigt, dass die wahre Quelle der Erkenntniss (eher) in den Din-
gen selbst (als , oder eigentlich : und nicht in deren Benennungen) zu
suchen ist und angedeutet, dass es die Ideenlehre ist, durch welche
man diese Erkenntniss gewinnt. Es ist natürlich, dass aus entgegenge-
setzten Prämissen auch die entgegengesetzte Folgerung zu ziehen ist;
hier also: dass durch die vermittelst der Ideenlehre zu gewinnende
wahre Erkenntniss der Dinge die Möglichkeit einer richtigen Sprache
gegeben ist.
Wenn dieser Schluss nicht ausdrücklich gezogen wird, so ist das
eine natürliche Folge davon, dass die Ideenlehre nicht allein nicht als
etwas fertiges hingestellt wird, sondern ganz im Gegentheil Sokrates sich
so ausdrückt, als ob er noch gar nicht wisse, wie die Erkenntniss ver-
mittelst der Dinge selbst zu gewinnen sei; hätte er dieser Form gemäss
den Schluss gezogen, so würde er in unbehülflicher hypothetischer Form
hervorgetreten sein, etwa: Wenn es aber eine Art giebt, die Dinge
durch sich selbst kennen zu lernen, so erhält der, welcher diese kennt,
die Möglichkeit richtige Wörter zu bilden und könnte nun iti der Weise
verfahren, welche, wie wir glaubten, oben p. 425 A absichtlich unbe-
hülflich ausgedrückt war. Dadurch würde aber die Möglichkeit der
Construction einer idealen Sprache viel unsichrer hingestellt sein, als
der Verfasser, wie mir scheint, beabsichtigte und durch Nichtaufnahme
dieses hypothetischen Schlusses geschieht.
Denn Hörer und Leser wissen, dass, wenn Sokrates die 4te Ab-
theilung mit dem angeführten Satz schliesst : * dass es vielleicht über ihre
ÜBER DIE AUFGABE DES PLATONISCHEN DIALOGS: KRATYLOS. 313
Kräfte gehe, zu erkennen, auf welche Weise man die Dinge lernen
und finden könne', dieses nur eine bescheidne Form ist; dass vielmehr
der Verfasser dieses Dialogs, mag er nun Piaton oder irgend ein andrer
namenloser Schriftsteller sein, die Ideenlehre als diese Weise kennt —
da sie ja in allen Theilen dieses Dialogs, wie mir scheint, vorausgesetzt
wird (vgl. eldog 390 A und sonst, ovata 386 D; 388 B.C; 423 E; 436 E,
id(a 389 E; 439 E; den häufigen Gebrauch von avro, avzd S Hgtiv, ixsJpo
S hovip, s. Susemihl I, 161 und 160 und vgl. auch 439 C)r Hörer und
Leser werden in Betracht der insbesondre im 2ten Abschnitt gegebnen Aus-
führungen und Andeutungen in der bestimmtesten Form den nahegelegten
Schluss ziehen : da die Ideenlehre die wahre Erkennthiss der Dinge gewahrt,
so ist sie auch im Stande, die an eine Sprache, die richtig sein soll,
gestellten Forderungen zu erfüllen, eine richtige Sprache zu schaffen.
In der fünften Abtheilung (439 B — E) folgt eine neue Steigerung,
durch welche sich die Unrichtigkeit der Sprache in der Kratylos'schen
Auffassung ergiebt. In der 4ten sahen wir: sie hat kein Mittel der
Erkenntniss. Diese fünfte zeigt, dass sie nicht im Stande ist, etwas
richtig zu benennen. Der Beweis beruht auf dem von Kratylos ange-
nommenen herakliti8chen Princip von der steten Veränderlichkeit der
Dinge.
Sokrates beginnt: Man solle sich nicht durch die Menge der Be-
nennungen, welche sich aus Gehen und Fliessen erklären, täuschen
lassen, d. h. sich nicht dadurch bewegen lassen, anzunehmen, dass die,
welche sie gaben, sie den dadurch bezeichneten Dingen mit Recht ge-
geben hätten , das Wesen der Dinge dadurch richtig bezeichnet hätten ;
sie hätten zwar, wie auch ihm scheine, diese Ansicht von den Dingen
gehabt und ihnen desshalb diese Namen gegeben — was es mit diesem
scheinbaren Zugeständniss für eine Bewandtniss habe, zeigt der zweite
Abschnitt, wo die Etymologien, die auf dieses Princip basirt sind, ver-
höhnt werden (vgl. oben S. 276) — ; aber diese Ansicht sei irrig. Man I
müsse vielmehr sagen, das Schöne an und für sich, das Gute und jedes f"
der Dinge sei etwas, oder wie er es bescheiden in einer Frage aus-
drückt: 'Sollen wir sagen, dass das Schöne u. 8. w. etwas sei oder
Hist.-Philol. C lasse. XU. Rr
I
314 THEODOR BENFEY,
nicht?' 1 ). Kratylos bejaht dieses und Sokrates fahrt ungefähr fort:
Diese Ideen seien ewig dieselben und nicht mit der sich ändernden
Erscheinung zu verwechseln, wörtlich: Lass uns nun jenes an und für
sich in Betracht ziehen; nicht ob irgend ein Gesicht oder etwas der Art
schön ist und alles dieses in Fluss zu sein scheint« sondern lass uns
sagen, ob das Schöne an und für sich nicht stets so ist, wie es ist?' 2 );
worauf Kratylos antwortet 'Unbedingt' (äväyxri).
Wie könnte man diess nun, wenn es, dem heraklitischen Princip
gemäss, einem stets unbemerkt entschlüpfte (indem es immer ein andres
würde), richtig benennen (ngoostneiv avtb Sq&ws)^ man kann von
ihm dann ja weder sagen , was noch wie es ist ; es würde ja in dem
Augenblick, wo wir etwas darüber aussagen, sogleich etwas andres wer-
den , entschlüpfen und nicht mehr so beschaffen sein 3 ). Was sich
immer verändert ist überhaupt nicht . . . was dagegen stets auf dieselbe
Weise beschaffen und dasselbe ist, kann sich weder ändern noch bewe-
gen, sondern verbleibt stets in seiner Urgestalt*).
Der Gegenschluss ergiebt sich von selbst. Die Ideenlehre stützt
sich auf die Lehre vom ewigen Sein. Sie kann also die Dinge, die ihr
gewissermassen stille halten, richtig benennen, indem sie in deren Be-
nennung — den im 2ten Abschnitt verdeutlichten Principien gemäss —
ausdrückt, was sie sind und wie sie beschaffen sind.
Es folgt die sechste Abtheilung (439 E — 440 A) mit der weiteren
Steigerung: das von Kratylos angenommene Princip ver statte nicht einmal,
1) JIotsQor tpäjUv u slvai ccdxd xaXdv xal dya&ov xal $y ixatnov täv övrtov
otmog, n (hj 439 C.
2) A$%6 totvw ixetvo axstfjaffisd'aj /*t} sl nQÖGwnöv xi i<to naXdv ij n %&v totov-
tüoVj xal doxsX tavta navxa QeXv älX aitö, <p(o(*eVj xo xalöv oi xowvtov dei
&<mv olov icuv}
3) y A$ ovv olov ts tiqoöhtuXv avvo 3q&(o$j et dsl i&Qxsrcu, kqootov pev in
ixstvo ionv, sTtsvca ow toiovxoVj fj äva'yxi] dpa yptov leyovmv dklo aixo
ev&üg ytyvrt&a* xal vnsfyivcu xal pqxin otftoog ix**v;
4) Uwe ovv äv eli] x» ixeXvo, o [Mjds'noTE (böavxoaq $%**> • • • • *l äs äel vooavxtog
Z%h xal td avxö i<Hi, nmg äv xovxo ys (*€xaßdlXo* ij xwoXxo, \M\dlv ifyaxd-
(acvov t% aitov Idiagy
ÜBER DIE AUFGABE DES PLATONISCHEN DIALOGS: KRATYLOS. 315
dass etwas von Jemand erkannt werde. Denn in dem Augenblick, wo
einer hinzuträte, um etwas zu erkennen, würde es etwas andres und
andersartiges, so dass nicht mehr zu erkennen, welcher Art und wie
beschaffen es sei 1 ).
Richtige Erkenntniss ist aber nach allem vorhergegangenen die
Voraussetzung für richtige Wörter. Sie sind demnach auch nach der
Kratylos'schen Auffassung in der wirklichen Sprache unmöglich. Die
Gegenfolgerung: dass sie vermittelst der auf die Ontologie — welche
Erkenntniss möglich macht — gestützten Ideenlehre ermöglicht werden,
versteht sich wiederum von selbst.
In der siebenten Abtheilung (440 A. B) folgt die sich eng an die
vorhergehende schliessende Steigerung, dass das heraklitische Princip
Erkenntniss überhaupt unmöglich mache, also die eigentliche Voraus-
setzung der Sprache. Denn diesem Princip gemäss rnuss ja auch Er-
kenntniss selbst immer etwas andres als Erkenntniss werden 2 ).
Die Gegenfolgerung ist wesentlich wie in der vorigen Abtheilung:
1) "Alld uip ovd' äv yvcacd-tiij yt in' oiäivos- äpu yäq äv emövtof xov yvuao-
fitvov äXXo xai äXlotov ytyvoito, «ff»' oCx äv yvtoüfttii} Ä» bno%6v yi zi itiuv
% Jims sxov.
2) 'Aber wenn alle Dinge sich umwandeln und nichts besteht, so darf man
natürlich auch nicht sagen, dass Erkenntniss existire. Denn wenn grade
dieses, nämlich Erkenntniss, den Charakter: Erkenntniss zu sein nicht auf-
gäbe, dann bliebe ja Erkenntniss immer und wäre Erkenntniss. Wenn aber
auch der Begriff der Erkenntniss selbst sich umwandelt, so geht er zugleich
in einen von Erkenntniss verschiedenen Begriff über und hört auf Erkenntniss
zu sein; ändert er sich aber stete, dann existirt Erkenntniss nie und dem-
gemäss giebt es weder etwas, was erkennen wird (ein Subject der Erkennt-
niss), noch etwas, was erkannt werden wird (ein Object der Erkenntniss)';
'Ali.' eüäi yväcw stvat 'tpdvat slxdc . . ., el ptnxmimsi taxvac xgypaia xai
Utidtv {iiytt. ei f*iv yäq avto tovxo, ij rvtäetg, toß yvma*s etva* pij pera;ii;ni-i.
fiivoi te äv äei tj yvtSois xai eU] yyiSaig- ei 8£ xai adiö vd sJSog futanlirat
tt/s yvwaeas, äpa t' äv fteianimot eis äkXo eWo( yvt6ttei»e xai ovx äv tiq
yvüaig- el d' Sei pemniimt, äei oüx äv aty yvü&e, xai iu tovrov roü Xoyov
ovts TÖ yvmaöfuvQv- ova w yvtaa&^aöptvov äv shj.
Rt2
316 THEODOR BENFEY,
die Ideenlehre hat eine unwandelbare Erkenntniss, also die für Bildung
richtiger Wörter nothwendige Voraussetzung. Sie allein vermag die
Dinge ihrer wirklichen Natur gemäss zu benennen, nicht nach einer
blossen Meinung (vgl. den ersten Abschnitt, insbesondre 387 A).
Die achte Abtheilung (440 B) stellt dem vorhergehenden den onto-
logischen Gegensatz gegenüber und damit sagt sich Sokrates in letzter
und höchster Steigerung, wenn gleich in zweifelnder, d. h. — wenn
wir uns des zweiten Abschnitts erinnern — nur höflicher Form , von der
ganzen kratylos-herakli tischen Auffassung der wirklichen Sprache los.
Ist die ontologische Anschauung die richtige — wir wissen ja aber, dass
sie diess dem Sokrates ist — so scheinen (d. h. sind ihm) sämmtliche
auf dem heraklitischen Princip basirte Etymologien, durch welche man
vom Kratylos'schen Standpunkte die Richtigkeit der wirklichen Sprache
nachzuweisen versuchen möchte, eitel Wind 1 ).
Die neunte Abtheilung (440 C — E Ende) bildet den Schluss. Er
fügt sich ungesucht an das vorhergehende, indem er nochmals die
heraklitischen Worterklärungen, aber viel entschiedener, verwirft, und
daraus eine ganz natürliche Folgerung zieht, die gewissermassen als
Nutzanwendung dieses Dialogs betrachtet werden kann, insofern sie für
die Erkenntniss überhaupt von Wichtigkeit ist (vgl. Polit. 261 E, wo
grössere Einsicht davon abhängig gemacht wird, dass man sich nicht
i
1) 'Ist aber stets das Erkennende (das Subject), stets das Erkanntwerdende
(das Object), das Schöne, Gute und jedes eine der Wesen, dann scheint mir
das, wovon wir jetzt sprechen (d. h. die Benennungen), weder einem Fluss
Doch einer Bewegung ähnlich zu sein (d. h. , — da ja dem vorhergehenden
gemäss die Benennungen den Dingen, die sie ausdrücken, ähnlich sind, in
letzter Instanz durch die Correspondenz der Laute und Grundbegriffe — : sie
drücken weder in den Urwörtern noch den 'abgeleiteten oder zusammenge-
hämmerten aus, dass sie in letzter Instanz auf den Lautwerthen der Begriffe
Fliessen und Sichbewegen beruhen): et dt San ptv del td yiypcütixovj Sau dl
tö wvaHfxopsvov , iön di rd xcdov, Am d£ w dya&dVj &*» de $v txaaxov
twv ovtcov, ov (W$ (paivetai xavxa Spina Svta, ä vvv fjpetg Myoper, £ojf
oddtv ovdi <poqq.
ÜBER DIE AUFGABE DES PLATONISCHEN DIALOGS: KRATYLOS. 317
ängstlich an Worte halte 1 )), vielleicht gegen ein und die andre damalige
philosophische Richtung von Bedeutung war (vgl. Hermann G. u. S. 493).
Da Sokrates seine Verwerfung der kratylos - heraklitischen Auffas-
sung der Sprache in höflicher Form ausgesprochen hat, so leitet er
auch den Schluss mit einer zweifelnden, höflichen Form ein: ob die
heraklitische Ansicht oder die ontologische richtig sei, das sei schwer
zu untersuchen; dann folgt aber in sehr entschiedener Form: doch auf
jeden Fall wäre es sehr unvernünftig, seine Weisheit aus Benennungen
schöpfen zu wollen (vgl. oben 2ten Abschn. Ende) , und im Glauben an
diese und die, die sie gegeben haben, sich darauf zu steifen, als ob
man etwas wisse, und sich selbst und die Dinge zu verachten, als ob an
nichts was gesundes wäre, sondern alles wie Töpfergeschirr rinne, und
die Dinge so beschaffen wären, wie Menschen, die am Schnupfen leiden,
und alles von Fluss und Katarrh geplagt wäre. Kratylos versichert,
dass er an Heraklits Ansicht festhalte. Damit schliesst das Sachliche
des Dialogs.
VII.
Ist die im vorhergehenden gegebene Auffassung dieses Dialogs
richtig , so behandelt er in der That , der alten Ueberschrift gemäss , die
Frage über die Richtigkeit der Wörter, aber in der Weise, dass er
zeigt, wie die Wörter gestaltet sein müssten, um richtig zu sein, dass
die wirkliche Sprache , auch in Kratylos Sinn aufgefasst , keine Richtigkeit
der Wörter besitzen könne, dagegen auf dem Grunde der Ideenlehre
richtige Wörter , d. h. eine richtige Sprache constrüirt zu werden vermöge.
Das eigentliche Hinderniss, wesshalb die wirkliche Sprache keine
oder wenigstens nicht durchgehend richtige Wörter besitzen kann, liegt
darin, dass der vorausgesetzte Schöpfer derselben, der Gesetzgeber vo/io-
&(Tqs ß keine richtige Erkenntniss besitzen konnte. Dieses Hinderniss
fallt für den Schüler oder vielmehr Meister der Ideenlehre weg; er be-
1) Kay dia(pvXd£fis xo prj GTtovddfav inl totg ivopafo, nXovüHütsQog sig tö rJJQ<*S
äva<paviJG€t (pQOVfjtecog.
r l
318 THEODOR BENFEY,
sitzt die wahre Erkenntniss und damit die wesentliche Voraussetzung
für die Bildung richtiger Wörter, d. h. einer richtigen Sprache. Die
Ideenlehre tragt also, wie z. B. den wahren Staat, so auch die wahre
Sprache in ihrem Schooss. Wer durch sie das Wesen der Dinge erkannt
hat, vermag — nach den im Allgemeinen angedeuteten Principien, wie
dasselbe , oder vielmehr nur der Typus der Dinge (432 E) nicht alle
ihre einzelnen Momente, wie Kratylos will, in Buchstaben und Sylben
und weiter durch Ableitung und Zusammenhämmerung in den Benen-
nungen auszudrücken sei — das Ideal einer Sprache zu gestalten.
Die Existenz der wirklichen Sprache, also die Unnöthigkeit , eine
neue ideale zu bilden, kann gegen meine Auffassung dieses Dialogs
keinen Einwand bilden. Hat sich Plato durch die Existenz der wirk-
liehen Staaten nicht davon abhalten lassen, eine ideale Republik zu
construiren, so wird er, wenn er der Verfasser des Kratylos war, oder
ein andrer Anhänger der Ideenlehre, der ihn verfasst haben möchte,
noch weniger Anstand genommen haben , sich die Möglichkeit einer
idealen Sprache zu denken und darüber Andeutungen zu geben. Zeigen
doch auch die folgenden Zeiten, bis in die unsrige hinein, nicht wenige
und keinesweges von unbedeutenden Männern herrührende Versuche
über das Ideal einer Sprache und sind manche Urheber von solcher
selbst so weit gegangen, die Verwirklichung und Einführung ihrer Ver-
suche nicht für unmöglich zu halten.
Indem ich den schon S. 222 gemachten Vergleich des Kratylos mit
dem Politikos ins Gedächtniss zurückrufe , verweise ich zugleich auf das,
was Susemihi (1 , 326) über den Politikos sagt. ' Es kommt allein darauf
an, dass der Herrscher die wahre Erkenntniss besitzt, womit dann die
von uns bereits in Anspruch genommene Identität desselben mit dem
Dialektiker oder Philosophen ausdrücklich ausgesprochen ist 1 1 ). Ganz
1) Dabei erlaube ich mir auch auf das aufmerksam zu machen, was Schleier-
1 macher in seiner Einleitung zum Kratylos (S. 18, 2te Ausg.) über das
* Verhältniss desselben zum Euthydemos bemerkt. Nachdem er kurz hervor-
\ gehoben hat, wie in letzterem die 'königliche Kunst 9 gefasst wird, fährt er
in Bezug auf den Kratylos fort: so wird hier .... vorgestellt die Dialektik
ÜBER DIE AUFGABE DES PLATONISCHEN DIALOGS: KRATYLOS. 319
eben so beruht die richtige Sprache im Kratylos auf der durch die
Ideenlehre möglich gewordenen Erkenntniss, ynSa*;, und der voftoftenfc,
Namengeber, welcher in Bezug auf die wirkliche Sprache, auch in der
Kratylos'schen Auffassung, der wahren Erkenntniss entbehrte, eines
Dialektikers, dsaA&mxog, als Aufsehers, AiiOTcfnj^ bedurfte« ist in Beiug
auf die ideale Sprache selbst Dialektiker, das heisst, wie dieser im
Soph. 253 E erklärt wird, der richtig und rein philosophirende (i(>ihä$
xäi xa&aqwg 9$2ooofdiv) t der wahre Philosoph, der in Folge davon und
vermittelst der Principien, welche über die Bildung der Benennungen
für die richtig erkannten Dinge aufgestellt sind, bei der Gestaltung der
Sprache nicht mehr irre gehen kann. Auch was Susemihl bezüglich
des Politikos (I, 327] über die Staatsverfassung bemerkt: 'Man sieht
daher wohl, dass Piaton im Grunde diese Form selbst nur als ein Ideal
betrachtet', gilt för den Kratylos: die Sprache, welche der mit dem
Dialektiker und Philosophen identificirte Gesetzgeber, yo/uo9tiri<; , zu
schaffen im Stande ist, ist nur Ideal.
Wie sich der Verfasser dieses Dialogs diese ideale Sprache con-
struirt haben möchte, genauer als in dem bisherigen geschehen, nach
den in diesem Dialog hervortretenden Andeutungen bestimmen zu wollen,
scheint mir kaum möglich. Nur auf eines mache ich noch aufmerksam.
Als ein Haupteinwand gegen die Richtigkeit der wirklichen Sprache
war geltend gemacht, dass sie zum Verständniss der Uebereinkunft nicht
entbehren könne, speciell meiner Auffassung gemäss derer, welche be-
wirkte, dass Wörter, deren einst in ihnen hervorgetretene Richtigkeit
als die Kunst, deren Gegenstand das Wahre schlechthin ist in der Identität
des Erkennens und Daxsteilens, alles andre hieher gehörige aber und vorzüg-
lich die Vorstellung und die Sprache nur ihr Organ. Diese Parallele
zieht das Band zwischen jenen .... enger zusammen und eine Stufe höher
gestellt erblicken wir schon deutlicher .... den Philosophen als die Einheit
des Dialektikers und Staatsmanns'. Ich wünsche jedoch nur, dass man diese
Identität beachte; die übrige Auffassung ist, meiner Entwicklung gemäss,
irrig. — Man vergleiche auch, was Susemihl (I, 274) in Bezug auf den
Phädros bemerkt, wo die Redekunst von der Dialektik abhängig gemacht ist
\
320 THEODOR BENFEY,
durch Lautveränderungen aus dem Sprachbewusstsein geschwunden ist
(S. 301). In der idealen Sprache musste es ein Mittel geben, diese
ursprüngliche Richtigkeit zu sichern und also diese Art der Ueberein-
kunft als ein Moment des Verständnisses unnöthig zu machen. Ich
vermuthe fast, dass dieses dem Institut der tpvXaxsg und yvAaxixoixaroi
in der Republik nicht unähnlich gewesen sein würde.
Damit meine Auffassung dieses Dialogs minder auffallend erscheine,
setze ich schliesslich einige Stellen von D e u s c h le und Schaarschmidt
hieher, welche zeigen, dass sie keinesweges so fern liegt, als auf den
• ersten Anblick scheinen möchte. Bei D e u s c h 1 e (die Platonische Sprach-
philosophie S. 47) heisst es: 'Setzte man nun auch wirklich den Sprach-
bildner als Philosophen und Dialektiker , so führte das .... zu ... .
verkehrten Consequenzen .... Weiter würde sich ergeben, dass Jeder,
der sich in den Typus seines (des platonischen) Systems versetzt hätte,
das Recht und die Kraft besässe .... eine neue Sprache zu schaffen'.
S. 50: 'Vermöge seiner Erkenntnisskraft kann er (der Mensch) den ob-
jektiven Standpunkt einnehmen und die Worte zu treuen Reflexen des
Wesens der Dinge machen'; vor allem S. 62: 'es bleibt eine (fvoi^> aber
nur die ideale, sofern sie dargestellt werden soll\
Man vergleiche auch folgende beide Stellen in Schaarschmidts
Abhandlung (über die Unechtheit des Kratylos, im Rheinischen Museum
XX, 3); zunächst S. 325, wo es heisst: 'Der letztere Gedanke im letzten
Capitel (339 C ff.) durchgeführt , ist zwar allgemein gehalten , die Be-
ziehung auf den eigentlichen Gegenstand des Gesprächs indessen so
ausgedrückt, dass damit zugleich die Sprache selbst als eine verfehlte
Bildung bezeichnet zu werden scheint'; dann S. 333, Zeile 1: 'also
wird der wahre Künstler , der die Idee der Sache kennt .... auch alle
einzelnen Exemplare .... darzustellen wissen. Hier liegt Plat. Rep.
X (p. 596 A ff.) zu Grunde , aber da wird nirgends gesagt , dass der
irdische Künstler in seinem Thun die Idee ausdrückt, sondern es wird
\ nur ein idealer Künstler hypothetisch angenommen'.
' Auch im Kratylos wird meiner Darstellung gemäss gewissermassen
ein idealer Künstler angenommen — der Dialektiker und wahre Philo-
«
ÜBER DIE AUFGABE DES PLATONISCHEN DIALOG§: KRATYLOS. 321
1) Hermann Gesch. u. Syst. der plat. Phil. 491 u. 651 n. 458; Deu sohle-, die
plat. Sprachph. 65.
Hist.-Philol. Classe. XU. Ss
1-j
4
soph, der seiner Erkenntniss gemäss nach den für die Bildung richtiger ■■>■■'£
Wörter aufgestellten Principien eine wahrhaft richtige Sprache zu bilden . ^
vermag — und die wirkliche Sprache scheint nicht als eine verfehlte ;
Bildung bezeichnet zu werden, sondern es wird von ihr dialektisch be- -;s
wiesen , dass sie — wenigstens in der Kratylos'schei* Auffassung — der " ä
Richtigkeit entschieden ermangelt.
Habe ich Recht, so haben Deuschle und Schaarschmidt gewisser-
lnaassen den Eckstein in der Hand gehabt« aber selbst wieder wegge-
worfen.
Till. ?
r» :
1
'i
Aehnlich wie im Politikos und in der Republik neben der Hin-
weisung auf einen idealen Staat und der Construction desselben tiefe
Blicke in den wirklichen Staat gethan werden, so finden sich auch im ^
Kratylos in Bezug auf die wirkliche Sprache und speciell auf die in ihr
waltende Richtigkeit tiefsinnige und wesentlich richtige Gedanken. "^
Als eine blosse Nothsprache wird sie zwar keiner eindringenden
philosophischen Betrachtung gewürdigt; nicht de industria, wie Stall- \'j
bäum sich ausdrückt, behandelt, ja es wird ihr gewissermaassen verächt- .'-ja
lieh der Rücken zugekehrt, und es ist desshalb schwer, mit voller
Sicherheit zu bestimmen , wie der Verfasser dieses Dialogs über sie ge-
dacht habe; allein man wird schwerlich irre gehen, wenn man, da ja
die Welt der Erscheinung — der Ideenlehre gemäss — an der Ideenwelt
Theil nimmt , eine Art Nachahmung derselben ist l ) , alles auf sie bezieht,
was in diesem Dialoge über Sprache vorgebracht wird und ihrem Wesen
so wie der Erkenntniss derselben, wie wir sie fü» die damalige Zeit
vorauszusetzen vermögen, nicht widerstrebt. Kurz zusammengefasst,
scheint mir diess etwa folgendes.
Die wirkliche Sprache ist richtig, insofern ihre Wörter von dem
Hörer in demselben Sinn verstanden werden, in welchem der Sprechende
sie gebraucht und verstanden wissen will (s. oben S. 203).
322 THEODOR BENFEY,
Diese Richtigkeit beruht darauf, dass die Wörter nicht nach Will-
kühr gebildet sind, sondern im Allgemeinen in einem natürlichen Ver-
hältniss zu den Gegenständen stehen, welche sie bezeichnen, von ihnen
irgendwie bedingt sind. Davon bilden die Eigennamen im Verhältniss
zu ihren Trägern eine Ausnahme (vgl. 397 B; 384 C) und vielleicht auch
einige Begriffswörter, wie die Zahlenbenennungen, für welche, als all-
gemeinste Abstractionen , der Verfasser diö Möglichkeit einer naturge-
mässen Entstehung sich nicht vorstellen zu können scheint (435 B).
Dieses naturgemässe Verhältniss zwischen Wort und Begriff beruht aber
nicht — wie das in der idealen Sprache der Fall sein würde — auf
richtiger Erkenntniss, ypdioig, der zu benennenden Dinge, sondern auf
der Meinung, Vorstellung, 861;a, welche die Menschen, die ihnen diese
Namen beilegten, von ihnen hatten l ). Diese Vorstellung konnte mög-
licher Weise eine richtige sein, ge wisser maassen also mit Erkenntniss,
ypwoig, identisch, eben so oft und noch öfterer konnte sie aber auch
falsch sein (vgl. 436 B ff). Ausgeprägt in Worten ward sie wesentlich
nach den für die richtige Sprache aufgestellten Forderungen. Die Be-
griffe, welche der Namengeber für elementare nahm, drückte er durch
die begrifflichen Werthe der Laute aus, und bildete so Urwörter; die
1) Vgl. 401 A: nachdem Sokrates — aufgefordert die Richtigkeit der Götter-
namen (auf etymologischem Wege) nachzuweisen — bemerkt hat, dass wir
weder von den Göttern selbst, noch den Namen, welche sie sich selbst geben
und die ohne Zweifel die wahren sein würden, etwas wissen, fährt er fort:
'Wenn es dir also recht ist, so sagen wir gewissermaassen erst den Göttern,
dass wir keine Untersuchung über sie anstellen wollen — denn dazu sind wir,
nach meinem Erachten, nicht fähig — ; sondern wir wollen erwägen, von
welcher Vorstellung geleitet die Menschen ihnen ihre (speciellen) Benennungen
beigelegt haben'; ei ovv ßovXth, cxoncofiep (StfneQ nqosmovrsq votg teotg Ja
nsQl avx&v oidlv fjfMtg OxeyjöjAS&a — od ydg d&ovpep otoi %* dp elpcu axo-
nstv dXXä nsQl %&p dp&QoSnwp, ijpnpd nats do^av $%ovts$ iü&evro avxolg
xä dvopaut. Vgl. auch 411 B; 436 B: 'Es ist klar, dass der, welcher zuerst
die Namen aufstellte, sie nach der Meinung, die er von den Dingen hatte,
aufgestellt hat'; dijJLov ou 6 &4[A€Pog nQwtog td dvopava, ota fjystto slpat zd
nQayfjuzTa, xohavxa fol&eto xal tu ipofiara.
ÜBER DIE AUFGABE DES PLATONISCHEN DIALOGS: KRATYLOS. 323
auf jenen beruhenden bezeichnete er durch Ableitung und Zusammen-
hämmerung aus den Urwörtern. Zu dieser Nachahmung der Dinge
durch Lautcomplexe bedarf es aber nicht einer vollständigen lautlichen
oder etymologischen Wiedergabe aller begrifflichen Momente, sondern
es genügt, wenn ihr Typus in der lautlichen Nachbildung hervortritt
(432 E). Die so gebildeten Wörter sind im Laufe der Sprachgeschichte
den mannigfachsten Lautumwandlungen ausgesetzt, welche die Nach-
weisung und also noch mehr das allgemeine Bewusstsein der ursprüng-
lich in die Benennung gelegten Auffassung des Gegenstandes derselben
nach und nach immer mehr erschwert und vielfach ganz vernichtet.
Dennoch wird aber die ursprüngliche Bedeutung des Wortes geschützt
und zwar durch das geltend gewordene Uebereinkommen, gwfhjxq (433 E
vgl. oben S. 301), gegen welches — im Gegensatz zu Hermogenes Auf-
fassung desselben — Niemand berechtigt ist, sich aufzulehnen, ein
Uebereinkommen , das sich zwar der besonderen Gründe , auf welchen
es in jedem einzelnen Falle beruht, nicht bewusst ist, aber doch das,
wenn auch dunkle, Gefühl hat, dass es Gründe dafür giebt, welche in
der Sache selbst liegen.
So tritt uns schon in diesem ältesten Erzeugniss der europäischen
Sprachwissenschaft im Wesentlichen fast dieselbe Anschauung entgegen,
welche auch wir über die Richtigkeit der Sprache hegen.
Auch für uns steht es fest, dass im Allgemeinen — vielleicht mit
Ausnahme einiger Erscheinungen bei den polynesischen Völkerschaften —
\ie Wörter — selbst die Zahlwörter, die Namen für Farben u. s. w. —
nicht durch Willkühr, sondern auf eine der Natur der Dinge und des
Menschengeistes entsprechende Weise entstanden sind; dass die Benen-
nung unter dem Einfluss der Vorstellungen gegeben sind, welche über
die durch sie bezeichneten Dinge zu der Zeit herrschten, als sie ihnen
beigelegt wurden, dass sie also zu dieser Zeit etymologisch verständlich
waren und ihre Bedeutung Kraft dieser Verständlichkeit besassen. Durch
historische Umwandlung büssen sie zum grossen Theil diese etymologi-
sche Durchsichtigkeit nach und nach ein und wenn ihnen ihre Bedeu-
Ss2
i. ••
324 , THEODOR BENFEY,
tung dennoch verbleibt, so beruht dieses auf der Gewohnheit, tf&og,
welche Sokrates mit dem Uebereinkommen gleich setzt (434 E).
Dass die Gewohnheit durch die Allmählichkeit und Gesetzmässig-
keit der historischen Umwandlung eine bedeutende Stütze erhält, dass
die Bedeutung auch durch Reihen von zusammengehörigen Analogien
geschützt wird, wie manches andre seit den 2200 Jahren, welche seit
Abfassung dieses Dialogs verflossen sind, im Gebiete der Sprachwissen-
schaft erkannte, mochte und konnte dem Verfasser desselben noch nicht
bekannt sein; um so mehr ist es zu bewundern, dass trotzdem das
Verhältniss im Wesentlichen richtig von ihm erfasst ist.
IX.
Es würde nun die Präge zu behandeln sein, ob meine Auffassung
dieses Dialogs sich mit der platonischen Ideenlehre, oder mit einer damit
im Zusammenhange stehenden Modification derselben vereinigen lasse.
Die Beantwortung derselben würde vielleicht auch für die Kritik der von
Schaar schmidt gegen die Echtheit unsres Dialogs erhobenen Zweifel
von Entscheidung sein. Doch meine Kenntniss des Plato, so wie der
alten Philosophie überhaupt, ist, wie ich gern eingestehe, für diese
Aufgabe völlig unzureichend; ich muss sie daher den Männern über-
lassen, welche auf diesem Gebiete bewandert sind und deren Anzahl
jetzt keine geringe ist. Von diesem Gesichtspunkt aus waren mir
Schaarschmidts Bedenken gegen die Echtheit des Kratylos keines weges
unwillkommen. Sie gaben mir die Berechtigung, ja Verpflichtung, ihn
so anzusehen, als ob er unter den platonischen Werken niemals ein^
Stelle eingenommen hätte, ihn von dessen Werken ganz abzutrennen,
frei von jeder Voraussetzung, gänzlich isolirt, und somit unbefangen zu
betrachten, und gewährten mir dadurch die Möglichkeit, meine Auffassung
desselben darzustellen, ohne mich auf das Verhältniss desselben zum System
der platonischen Philosophie einzulassen. Schwerlich aber wäre es mir
verstattet gewesen, dieser Verpflichtung mich zu entziehen, wenn Piatos
Autorschaft für diesen Dialog unbezweifelbar und unbezweifelt fest stände.
ÜBER DIE AUFGABE^DES PLATONISCHEN DIALOGS: KRATYLOS. 325
Excurs
über die Bedeutung von ovo/aa und ^tj/Lta im Kratylos.
Ueber opopa habe ich nur wenig zu bemerken. Es ist so ziemlich allgemein '
angenommen, dass es im Kratylos alle Wörter bezeichnet, keinesweges, wie z.B. im
Soph. 261 E, die Nomina im Gegensatz zu den Verben. Diese Annahme ist un-
zweifelhaft richtig und man sollte meinen, dass, wer nur einige Seiten des Kratylos
gelesen, nicht an ihr zweifeln kann. Dennoch nimmt Schaarschmidt (Rheinisches
Mus. für Phil. 1865, XX, 3, 342) an, dass es nur Nennwort bezeichne, und es ist
darum dienlich, jene umfassende Bedeutung vor zukünftigen Angriffen zu sichern.
Sie ergiebt sich eigentlich schon vollständig aus 385 B.G: 'Ist es möglich, dass
ein wahrer Satz ganz wahr, seine Theile aber falsch sind? Herrn. Nein, auch die
Theile müssen wahr sein. So kr. Müssen nur die grösseren Theile wahr sein, brau-
chen es die kleineren nicht, oder müssen alle Theile wahr sein? Herrn. Alle. Sokr.
Giebt es nun von dem, was du einen Satz nennst, einen kleineren Theil als das
Wort (öpopa)? Herrn. Nein; dieses ist der kleinste' 1 ). Bezeichnet Spopa alle
kleinsten Theile eines Satzes , so bezeichnet es natürlich auch Pronomina , Zahlwörter,
Verba , Partikeln u. s. w. , sämmtliche Wörter.
Zu allem Ueberfluss werden unter den Wörtern, deren Richtigkeit besprochen
wird, auch Infinitive aufgeführt, z.B. 424 A Uvcu, 426 D to §eTp, 427 A rö tfstsa&cu,
427 B to Sfoa&dpsip, und es wird gewiss Niemand annehmen, dass damit nur die
Abstraction des Verbum gemeint sei, sondern vielmehr jeder anerkennen, dass sie,
wie ja auch bei uns, den verbalen Begriff, das Verbum, überhaupt bezeichnen sollen *),
da es bei der Specialisirung desselben in der grossen Fülle der Verbalformen nicht
möglich ist, ihn anders als durch eine Abstractbildung in seiner Allgemeinheit hin-
zustellen. Man wird mir daher gewiss vollständig Recht geben, wenn ich schon
oben S. 290 in <%l<ft? (424 A) das Abstractum als Bezeichnung des verbalen Begriffs
gefasst habe, wofür ich auch die Analogie der indischen Grammatiker geltend machen
kann, welche den Verbalbegriff vorzugsweise durch Ableitungen von dem entspre-
1) c O ioyog d* iarly 6 dbftrjs noTtQOv olog fikv dltj9ys y m poQKt cT avrov ovx dXfj&rj; 'KQfi.
Ovx, dlkd xal xä poQwt. Züjxq. UottQov dt ja (itv fiiydXa jaoqm äii]9rj, rd dt Gfuxqd ov'
rj ndvra; 'BQf** ndvra, oljuat fywyf. 2u)xq. "Bcnv olv o n teyt*; Xoyov GfuxQoTtQov pogtov
äXXo rj ovopa; '/?£/*. Ovx, dXXd tovto CfuXQomtoy.
2) Vgl. auch 397 D dno ravjqg r^g yvrto»? rijs rov totv.
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1
326 THEODOR BENFEY,
chenden Verbum vermittelst des, mit dem griechischen Suffix <ä identischen, sskrit.
ti bezeichnen. Eben so habe ich sicherlich mit Recht auch das Abstract §0$ (424 A),
so wie die Participia Präsentis rd lov 9 %b §£ov und td dovv (421 C) als Bezeichnungen
des Verbalbegriffs gefasst. Es ergiebt sich diese Berechtigung mit Entschiedenheit
daraus, dass <s%iaig und §orj categorisch gleich mit livcu 424 A erscheinen (tisqI
§ofjg %s xal wv Uva* xctl a#£cfea>s) und diese mit §iov, löv, dovv auf gleiche Stufe
gestellt werden, indem Sokrates an der angeführten Stelle angiebt, dass Hermogenes
nach $0^ Uvai, a%iaig gefragt habe, Hermogenes aber 421 C in seiner Frage die
Worte resp. Formen QioVj lov, dovv braucht. Diese aber, augenscheinlich nur
eine vierte Art das Verbum durch ein Abstract zu bezeichnen , werden 42 1 C aus-
drücklich ovopaxa genannt 1 ). Man sieht also hieraus, dass övopa im Kratylos auch
Verba umfasst, und ich hoffe, dass, den beiden Ausführungen gemäss, kein Zweifel
mehr darüber aufkommen kann, dass es hier Wort überhaupt bezeichne.
Wenden wir uns zu £f/w*. Was dieses Wort bedeutet, zeigen insbesondre drei
Stellen; zunächst 399 B, wo der Name Jlcpdog (gewissermassen 'Gottlieb') aus Jit
(piXog ('Gott lieb') erklärt und hinzugefügt wird toiko Iva dvrl QijpaTog Svofia ypTv
y&vrfta*, 'damit dieses (Ja cpiXog) aus einem fäpa zu einem Worte werde'; ferner
421 B, wo äXtj&sia 'Wahrheit' aus äXtj dsla 'göttliche Bewegung' erklärt und
insofern ein Qijfia genannt wird; endlich 399 B, wo äv&Qamog aus ävad^qtav und
einer Ableitung von in 'sehen' erklärt wird im Sinn von civa&Qdiv 3 onwiuv 'über-
legend, was er gesehen' und insofern von diesem Worte ebenfalls gesagt wird, dass
es aus einem Qypcc ein Wort geworden sei (ix ... Qrjfjwcwg ovopa yiyovsv). In ähn-
licher Weise werden aber fast alle Wörter etymologisch erklärt, indem zu zeigen
versucht wird, dass sie aus Wörtern zusammengehämmert sind, die nach Auflösung
dieser Zusammenhämmerung eine gewissermaassen prädikative Aussage über das zu
etymologisirende Wort gewähren, und in Uebereinstimmung damit werden die durch
diese Auflösung gewonnenen Erklärungen §jj(juxta genannt (421 E vgl. S. 253). Bei
einer Etymologie dagegen, wo durch diese Zerhämmerung nicht eine prädicative
Aussage, sondern ein ganzer Satz entsteht, nämlich bei övofia, welches durch öv o
und eine Passivform von fiato erklärt wird: 'seiend, was gesucht wird' = 'das, was
gesucht wird', heisst es (421 A) ioixs ...ix Xoyov ovöpan cvyxexQOtfjfiivw 'es sieht
aus, wie ein Wort, welches aus einem Satz (nicht aus einem Qtjpa), zusammenge-
hämmert ist'. Man beachte auch 396 A, wo die Erklärung von Zeus vermittelst
Jia Zijvaj welches mit d*d Zijva identificirt wird, weder QfjfAcc, noch Xoyog genannt
1) Ei di Tis 01 Zqoito jovto 10 low xal ro (>iov xal to dovv, riva fyt» oQdoiqra ravra ra ovCfAcaa.
ÜBER DIE AUFGABE DES PLATONISCHEN DIALOGS : KRATYLOS. 327
ist, sondern, weil diese Wörter durch Supplirung zu &' ov £jjp vnaQxu erweitert
sind, ohv Xoyoq (gewissermassen ein Satz).
Ich vermuthe daher, dass §ijf*<x zunächst wie in Jit <piXoq, äXij &sia eine Ver-
bindung von Wörtern bedeutet, welche zwar keinen satzlichen, aber einen selbst
ständigen Sinn gewährt, also einen durch sich selbst verständlichen Satztheil, etwa
z.B. im Gegensatz zu dvdqoq, welches nur durch Verbindung mit dem Worte, von
welchem es abhängig ist, einen verständlichen Sinn erhält.
Insofern ein solcher selbstständiger Sinn grösstenteils durch zwei oder mehrere
constructiv zusammengehörige Wörter gebildet wird, scheint mir Qtjfux weiter die
Bedeutung 'grösserer Satztheil' angenommen zu haben (vgl. die S. 325 aus 385 B.C
angeführte Stelle); insofern aber ferner die Verba durchweg einen derartigen selbst-
ständigen Sinn haben, mag die Benutzung des Wortes $tj[*a zur Bezeichnung des
Verbum, wie sie entschieden Soph. 262 A erscheint, wenigstens zum Theil sich an
diesen Gebrauch lehnen, in welchem es wohl eigentlich nur eine selbstständige, aber
nicht satzliche Aussage bezeichnet.
Es entsteht nun die Frage: hat föfta im Kratylos auch die Bedeutung 'Ver-
bum'? Dass es sie an den bisher angeführten Stellen nicht habe, bedarf keiner
weiteren Ausführung; eben so ist diess in allen übrigen unzweifelhaft mit Ausnahme
von zweien, bei denen man wenigstens auf den ersten Anblick schwanken kann. Es
wäre diess einerseits, da q^a später entschieden diese Bedeutung hat, natürlich
nichts weniger als unmöglich, allein andrerseits wäre es doch höchst auffallend,
wenn ein Wort, welches an so vielen andern Stellen in einem andern und entschie-
den technischen Sinn gebraucht wird, an zweien einen ganz abweichenden ebenfalls
technischen haben sollte. Ich erlaube mir daher den Versuch zu machen, jene Be-
deutung auch für diese beiden Stellen in Anspruch zu nehmen.
Die erste Stelle findet sich 431 B, wo alle Erklärer und Uebersetzer, die ich
einsehen konnte, die Bedeutung 'Zeitwort 1 annehmen. Sie lautet: ei di votho ovuog
8%ei, xal &m fwj 3q&<Ss dhavifj^hv %ä dvopaxa /Mfös dnodMvcu %ä nqoGyxovia sxdaxo),
dU. 9 iviots %ä pt} nQOGrjxovra, ety äv xal QtjpaTa tadvdv tovto nohsXv. ei di Qijpata
xal ovöfiaja Scuv ovrca xid-ivat, dvdyxq xal koyovf Xoyoi ydq nov, cog iyaifAai, jj
lointov *%vv$eais ionv. Ich übersetze: 'Wenn es sich so verhält, und möglich ist,
die Benennungen unrichtig zuzutheilen, nicht jedem das ihm zukommende, sondern
bisweilen auch das, was ihm nicht zukommt, so könnte man dasselbe auch- mit den
Aussagen (d. h. 'den begrifflich zusammengehörigen Wortverbindungen im Satz', andre
'mit den Zeitwörtern') thun; kann man aber Aussagen und Benennungen so setzen,
so ergiebt sich dasselbe mit Notwendigkeit auch für die Sätze. Denn Sätze sind
doch, wie mich dünkt, eine Verbindung von diesen'.
Da die Benennungen, Svopava, wie wir oben gesehen, in unserm Dialog ent-
*
328 THEODOR BENFEY
?
schieden Verba mit umfassen, so wäre die besondre Anführung von 'Zeitwörtern 1
schon von diesem Gesichtspunkte unnütz und Qijfiaia könnte also schon desshalb
diese Bedeutung hier nicht haben. Dass es aber auch hier 'Wortverbindungen' be-
deutet, geht auch aus einer genaueren Erwägung des Sinnes dieser Stelle hervor.
Dieser ist: 'kann man unrichtige Benennungen machen, so kann man auch unrichtige
Wortverbindungen machen und endlich auch unrichtige Satze'. Wollte man fäita
durch 'Zeitwort' übersetzen und övo^a natürlich dann durch Nennwort, so entstände
der Sinn: 'kann man unrichtige Nennwörter machen, so kann man auch unrichtige
Zeitwörter machen und unrichtige Sätze'. Um die Unrichtigkeit dieser Auffassung
zu erkennen, braucht man den Satz nur positiv zu wenden. Dann würde es heissen:
ein Satz ist richtig, wenn die Nennwörter und Zeitwörter, welche darin enthalten
sind, richtig sind'; das ist ja aber, wie jeder einsieht, gar nicht wahr; zunächst
giebt es ja im Satz ausser Nennwörtern und Zeitwörtern auch andre Wortarten und
es wird Niemand in Abrede stellen können, dass derjenige, welcher Nennwörter und
Zeitwörter als Elemente des Satzes zu unterscheiden vermochte , auch nicht umhin
konnte, zu erkennen, dass es ausser ihnen noch Wörter gebe, die weder das eine
noch das andre sind; ferner genügt zur Richtigkeit eines Satzes noch keinesweges,
dass Nennwörter und Zeitwörter, oder wie ich, in Uebereinstimmung mit dem im
Kratylos herrschenden Gebrauch, Benennungen, ivopaxa, fasse, alle Wörter an und
für sich richtig sind, dass das dem Begriffe entsprechende Wort gewählt ist, son-
dern auch die constructive Beziehung, das grammatische Verhältniss der Wörter
unter einander muss richtig ausgedrückt sein; erst dadurch wird der Satz zu einem
richtigen und das finde ich eben durch Qtjpa bezeichnet. So z. B. kann in dem
Satz 'der Vater des Sohns ist ein Mensch', jedes Wort, also naz^q vlög äv&Qomog
i&u richtig sein; wenn aber einer anstatt zu sagen 6 narqQ wv vlov i&nv äv&Qu>nog,
sagt 6 vlog wv noaqog itmv äv&Q(onog, so ist der Satz natürlich dennoch falsch.
In 6 natriQ wv vlov finde ich die constructiv zusammengehörigen Wörter, welche
zwar keinen Satz, wohl aber eine durch sich selbst verständliche, gewissermaassen
»
selbstständige Aussage, ein fäita, bilden.
Eine Bestätigung meiner Auffassung dieser Stelle finde ich in der angeführten
Stelle 385 B.C. Hier werden, wie wir oben (S. 325) gesehen haben, als kleinste
Theile (Glieder) des Satzes die Benennungen dvo^ata, Wörter, bezeichnet und zwi-
schen diesen und dem hier, grade wie in der eben behandelten Stelle, Xoyog ge-
nannten Satz, werden grosse \ksydXa Theile (Glieder) erwähnt; was können diese
nun anders sein, als die constructiv oder begrifflich zusammengehörigen Wörter,
mögen sie nun aus wenigen Worten bestehen, oder einen vom Ganzen abhängigen
Untersatz u. s. w. bilden ?
Wir wenden uns zu der zweiten Stelle 325 A, in welcher die Annahmen, dass
ÜBER DIE AUFGABE DES PLATONISCHEN DIALOGS: KRATYLOS. 329
fäpa Verbum bedeute, in der That sebr nahe liegt und schwerer abzuweisen ist.
Dennoch muss jeder, der berücksichtigt, dass diese, der bisherigen Darstellung ge-
mäss, dann allein den vielen Fällen gegenüber steht, wo fäpu im Kratylos diese
Bedeutung entschieden nicht hat, schon darum diese Annahme entweder ganz zurück-
weisen oder wenigstens für äusserst bedenklich halten, und im Fall ihm meine Er-
klärung Dicht genügt, nach, einer andern suchen, ohne dasa es ihm verstattet wäre,
für diese Stelle allein zu der Bedeutung Verbum zurückzugreifen.
Die Stelle ist schon in ihrem ganzen Zusammenhange oben (S. 284 ff.) mitgetheilt;
ich entnehme daraus nur den hier in Betracht zu ziehenden Satz: ö 3^ ovlXaßds
xaXovm, xai GvXXaßäg tw avvn9ivte$, ^| iSv tw u öväftata xai tri föftara avvtt&emu-
xai näXtv ix -näv ivondmav xal Qq/tdiav .... ov(mjoo(*sv .... tdv Xöyov, die Ueber-
setzung lautet an der angeführten Stelle: 'so das machend, was man Sylben nennt
und dann die Sylben zusammensetzend, aus welchen die Benennungen und Aussagen
zusammengesetzt werden. Und aus den Benennungen und Aussagen .... werden
wir .... zusammenstellen .... den Satz'.
Wir haben nur Beispiele gesehen, in welchen ein §iji*a durch mehrere con-
structiv zusammengehörige Wörter gebildet wird. Wer sich daran halt, könnte
sagen, ein (SiJ/*« ist zunächst aus dvopara 'Wörtern' zusammengesetzt; die Angabe,
dasa auch §ij(*ata aus Sylben zusammengesetzt sind, passe nur, wenn auch diese
einzelne Wörter bezeichnen; wenn meine Auffassung richtig wäre, dann müsste es
heissen: 'Benennungen seien aus Sylben zusammengesetzt, Aussagen aus Benen-
nungen, der Satz aus Benennungen und Aussagen'.
Dagegen ist zu bemerken , wie ich schon oben angedeutet habe , dass §iji*a
auch ein einzelnes Wort eines Satzes bezeichnen könne. Dass nur Betspiele vorlie-
gen, in denen gijf*« mehrere Wörter unter sich begreift, entscheidet dagegen nicht.
Der Verfasser des Kratylos will nirgends erklären, was jf/ua bedeutet, diess Wort
setzt er als ein auch in der hier vorkommenden technischen Bedeutung bekanntes
voraus. Der Grund, warum jgpa mehrere conatructiv zusammengehörige Wörter
bezeichnet, liegt — wie mir eben auch durch seine spätere Bedeutung 'Zeitwort'
bestätigt wird — nicht darin, dass diese Wörter mehrere sind, sondern darin, dass sie
im Satz eine Selbstverständlichkeit, eine gewisse Selbstständigkeit besitzen; o vlöf mm"
nazqot; ist nicht darum ein ^/i«, weil es mehrere Wörter sind , sondern weil diese
Wörter gerade wie JA tfiXo; , äX^ &sia , wenn gleich sie keinen Satz bilden , doch
einen in sich abgeaclilossenen begrifflichen Inhalt zur Vorstellung bringen; eben so
ist umgekehrt mv nutQÖg trotzdem, dass es aus zwei Wörtern besteht, kein fäpu,
weil es keinen abgeschlossenen Sinn darbietet. Nun aber entsteht eine derartige
Selbstständigkeit keinesweges bloss durch Verbindung mehrerer Wörter, sondern sie
tritt auch in jeder finiten Verbalform . in jedem Nominativ hervor. Wenn also der
Hisl-Pkiht. Classe. XU. Tt
330 TH. BENFEY, ÜBER D. AUFGABE D. PLATON. DIALOGS: KRATYLOS.
Verfasser unsres Dialogs gesagt hätte , dass die Qijficcm aus ovöfjuata bestehen . so
würde er alle Qifiiata, welche nur aus einem Worte bestehen, damit ausgeschlossen
haben, während er dadurch, dass er auch die fäpata aus Sylben zusammengesetzt
sein läs&t, beide Classen umfasst, da ja auch die aus mehreren Wörtern bestehenden
§ypa%a so gut wie die nur aus einem Worte bestehenden in letzter Instanz aus
Sylben zusammengesetzt sind. Einen Unterschied zwischen beiden Classen zu machen,
war aber an unsrer Stelle, wo es allein auf den Vergleich der Rede mit einem
Gemälde ankömmt, von gar keiner Notwendigkeit oder Erheblichkeit.
Schliesslich bemerke ich, dass bei meiner Auffassung die an dieser Stelle ge-
gebene Schilderung der Entstehung des schönen (d. h. richtigen) Satzes aus iv6pa%a
(Wörtern als kleinsten Satzgliedern, d.h. in jedmöglicher Gestalt, in welchem sie
sich im Satz zeigen können) und fäpaxa (begrifflich selbstständigen Satzgliedern)
ganz in Harmonie steht mit den beiden vorher besprochenen Stellen 431 B und
385 B. C.
Dass aus diesem Gebrauch die Benutzung des Wortes £w*a zur Bezeichnung
des Verbum meiner Ansicht nach hervorgegangen sei, habe ich schon angedeutet.
Diese Benutzung aber scheint mir eben der Grund, weswegen diese tiefsinnige Schei-
dung in övdpata und föftata für die Entwickelung der Sprachwissenschaft spurlos
vorüberging und keinesweges die Früchte trug, die sie — insofern sie eine wahre
Grundlage der ganzen Grammatik enthält — zu tragen fähig gewesen wäre.
Zum Schluss bemerke ich, dass auch Stallbaum über die Bedeutung von £w*a
im Kratylos zu 399 B und 431 B, aber sehr unzulänglich, spricht; viel besser ist
die Ausführung bei Steinthal (Geschichte der Sprachwissenschaft bei den Griechen
und Römern S. 134). Doch schien auch sie mir die wahre Bedeutung noch nicht
ins volle Licht zu setzen.
Druckfehler.
S. 201 Z. 12 corr. Privatmann statt Einzelner (vgl. S. 231).
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